Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert: Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz 9783205791720, 9783205787259


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Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert: Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz
 9783205791720, 9783205787259

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Heinrich Berger, Melanie Dejnega, Regina Fritz und Alexander Prenninger (Hg.)

POLITISCHE GEWALT UND MACHTAUSÜBUNG IM 20. JAHRHUNDERT Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen Festschrift für Gerhard Botz

Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch : BM für Wissenschaft und Forschung

Land Salzburg

Kulturamt der Stadt Wien Nationalfonds der Republik Österreich

Rektorat der Universität Wien Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte

Zukunftsfonds der Republik Österreich Land Oberösterreich Österreichische Nationalbank

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78725-9 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung : Michael Haderer Layout : Eva-Christine Mühlberger Umschlagabbildung : Bundespolizeidirektion Wien Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck  : Generál Druckerei, 6726 Szeged

Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber.. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort von Bundespräsident Dr. Heinz Fischer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heinrich Berger, Melanie Dejnega, Regina Fritz und Alexander Prenninger Perspektiven und Perspektivenwechsel bei der Erforschung politischer Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Helene Maimann 1941. Es gibt nur das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Josef Weidenholzer Querdenken als forschungsleitendes Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Helmut Konrad Von Linz aus. Die Formierung der österreichischen Zeitgeschichte. . . . . . . . . . .

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Josef Ehmer Sozialwissenschaftler/innen oder Zeithistoriker/innen: Wer schreibt die Geschichte des 20. Jahrhunderts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Staatsgewalt und staatliche Gewalt – Beispiele aus dem 20. Jahrhundert António Costa Pinto Ruling Elites, Political Institutions and Decision-Making in Fascist-Era Dictatorships: Comparative Perspectives. . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Peter H. Merkl Die Gewalt des Bürgerkriegs und ihre Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Peter Becker „… dem Bürger die Verfolgung seiner Anliegen erleichtern“. . . . . . . . . . . . . . . 113

2. Nationalsozialismus als Bewegung und Regime Ian Kershaw Wie populär war Hitler?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Gernot Heiss „Wien 1910“ – Ein NS-Film zu Lueger und Schönerer . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Hans Mommsen Österreich im Kalkül der Hitler’schen Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

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Inhaltsverzeichnis

Richard Germann Neue Wege in der Militärgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Klaus-Dieter Mulley Von der NSBO zur Deutschen Arbeitsfront (DAF) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Berthold Unfried Anwendungsorientierter Antisemitismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Tim Kirk Neue Sichtweisen zu Gemeinschaft, Autorität und Widerstand gegen den Faschismus in Österreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

3. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven auf den Nationalsozialismus Edith Saurer Er hat „Ja“ gesagt. Kardinal Theodor Innitzer und Bernhardine Alma im Beichtstuhl. . . 255 Ernst Hanisch Was ein Landpfarrer über die Jahre 1938 bis 1945 in seine Chronik schrieb: Versuch einer ‚dichten Beschreibung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Walter Kissling „Ob Jude oder Christ, ob Hoch oder Nieder – wir wollen nur nach dem Menschen sehen.“ Bruchstücke für eine Geschichte des Wiener Alpinvereins „Donauland“. . . . 287 Kurt Bauer Not, Hunger, Kränkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Traude Bollauf Protokolle der Panik. Die Vierteljahresberichte der deutschen Auswandererberatungsstellen für das letzte Quartal 1938. . . . . . . . . . . . . . . . 337 Hannah Lessing Gerhard Botz und der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

4. Nachwirkungen des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs Johannes-Dieter Steinert Humanitäre Hilfe, Displaced Persons und die deutsche Bevölkerung nach 1945. . . . . 361 Stein Ugelvik Larsen They had to wait to be seen. War children in the progressive restorations after World War II.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Oliver Rathkolb Die „longue durée“ autoritärer Einstellungen der österreichischen Gesellschaft 1978 und 2004/2008. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

Inhaltsverzeichnis

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Christian Fleck Ein paar Fragen, die Aribert Heims Aktentasche aufwirft.. . . . . . . . . . . . . . . 419 Alexander von Plato Die USA, Europa und die Wiedervereinigung Deutschlands. . . . . . . . . . . . . . 427 Bernt Hagtvet Preventing Mass Murder in the 21st Century. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

5. Mündliche Geschichte und die Grenzen des Sagbaren in der Geschichtswissenschaft Mitchell G. Ash Sprachen und Sprachlichkeit der Wissenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Ruth Beckermann „Die Grenzen des Sagbaren erweitern“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Albert Lichtblau Entlang von Grenzen: Tabus und Oral History . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Selma Leydesdorff Looking Back 23 Years Later. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Waltraud Kannonier-Finster, Meinrad Ziegler Soziale Formen des Schweigens bei Michael Pollak. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Wolfgang Neugebauer, Christine Schindler Zur Bedeutung von ZeitzeugInnen für die Aufarbeitung und Vermittlung von Widerstand und Verfolgung. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. . . . . . 515 Eva Brücker AUTO-Biografie: „Erst zwei, dann drei, dann vier“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Claudia Theune Das Gedächtnis der Dinge.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

6. Das Ende der großen Narrative: Gedächtnis und Erinnerung als zentrale Begriffe in der Zeitgeschichtsforschung Heidemarie Uhl Generation of memory.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Dirk Rupnow Zeitgeschichte oder Holocaust-Studien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Sandra Paweronschitz Schuld, Abwehr, Rechtfertigung, Reflex. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585

Inhaltsverzeichnis

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Thomas Lindenberger Kino als Aufarbeitung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Irina Scherbakowa Stalin und kein Ende?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Helga Embacher Holocaustgedenken und muslimische Identitätspolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Carola Sachse Was bedeutet eine Entschuldigung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631

7. Der Historiker in der Öffentlichkeit: politische Interventionen und Kontroversen Ernst Wangermann Linke Intellektuelle, Marxismus und Sozialgeschichte in England . . . . . . . . . . . 653 Georg Schmid „(Hi)storytelling“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Peter Dusek Ein Aufklärer als Demagoge. Gerhard Botz und das Fernsehen. . . . . . . . . . . . . 681 Peter Weinberger Gerhard Botz – A „Non-Agenarian“?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 Lucile Dreidemy Botz verstehen! Verdienst und Grenzen von Provokation und Empathie im Kontext öffentlicher Geschichtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695

Nachwort Mercedes Vilanova Laudatio auf Gerhard Botz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 Hubert Christian Ehalt Bildessay über Gerhard Botz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 Bibliografie von Gerhard Botz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Personen- und Geografisches Register.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber Als wir im Herbst 2009 erstmals am Rande einer Teambesprechung des Mauthausen Survivors Research Project darüber sprachen, eine Festschrift zum 70. Geburtstag unseres Projekt- und Institutsleiters Gerhard Botz herauszugeben, waren wir uns rasch einig, dass die Publikation ein inhaltlich konsistenter Sammelband zu den Forschungsschwerpunkten des Jubilars werden soll. Der Versuch, unsere Aktivitäten vor dem Jubilar geheim zu halten, um ihm mit dem Band eine wirkliche Überraschung zu bereiten, ist nur teilweise gelungen. Zumindest konnten wir einen wesentlichen Teil der Autorinnen und Autoren, den inhaltlichen Aufbau des Bandes und die Ausrichtung der einzelnen Beiträge bis zur Drucklegung geheim halten. Die Realisierung eines so umfangreichen Bandes war nur durch die tatkräftige Unterstützung und den unermüdlichen Einsatz vieler einzelner Personen möglich. All jenen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben, wollen wir unseren herzlichen Dank aussprechen. An erster Stelle sind hier diejenigen zu erwähnen, die uns bei der Zusammenstellung der Autorenliste und bei der Vermittlung von Kontakten behilflich waren, allen voran Edith Saurer, die die Fertigstellung der Publikation leider nicht mehr miterleben konnte. Die Suche nach den Weggefährtinnen und Weggefährten von Gerhard Botz an den verschiedenen Orten, wo er auf seinem wissenschaftlichen Werdegang Station machte, gestaltete sich nicht immer einfach, und wir möchten uns daher bereits an dieser Stelle bei denjenigen entschuldigen, die wir nicht ausfindig machen konnten. Weiters danken wir Frau Verena Tomasik für das Lektorat der englischsprachigen Texte und Frau Martina Lajczak für die Erstellung der Register. Die Drucklegung dieses Bandes war dank der finanziellen Unterstützung seitens des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, des Zukunftsfonds der Republik Österreich, des Kulturamtes der Stadt Wien, der Arbeiterkammer, der Länder Oberösterreich und Salzburg, der Universität Wien und der Oesterreichischen Nationalbank möglich. Den Autorinnen und Autoren dieses Bandes sind wir für die fristgerechte Abgabe und für die Überarbeitung ihrer Beiträge sehr dankbar. Für die kostenlose Zurverfügungstellung des Titelbildes danken wir dem Polizeiarchiv. Beim Böhlau Verlag – insbesondere bei Frau Ursula Huber – bedanken wir uns für die kompetente Betreuung des Bandes. Last, but not least gilt unser Dank Gerhard Botz selbst, der mit seinen eigenen Forschungsarbeiten den wissenschaftlichen Rahmen für die in diesem Band versammelten Beiträge vorgegeben hat und der trotz seiner leidenschaftlichen Natur die Herausgeberinnen und Herausgeber beinahe ungestört arbeiten ließ, auch nachdem er schon vom Entstehen dieses Bandes erfahren hatte. Wien · Salzburg · Bielefeld im September 2011

Heinrich Berger, Melanie Dejnega, Regina Fritz und Alexander Prenninger

Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

Vorwort Es ist oft beschrieben worden, dass das Geistesleben in Österreich, insbesondere in „Wien um 1900“, auf den verschiedensten Gebieten in eindrucksvoller Weise zu Blüte und Höchstleistungen führte. Darauf folgte eine jahrzehntelange Periode der Schwierigkeiten, der Bevormundung, des Verlustes der geistigen Freiheit und der Rückschläge: die Zerrissenheit in der 1. Republik, der Ständestaat und erst recht die nationalsozialistische Diktatur, einschließlich der Vertreibung der jüdischen (und auch sonstigen) Intelligenz. Die Zeit nach dem Ende Hitlers und nach der Wiederherstellung eines selbstständigen, demokratischen Österreich im Jahr 1945 ist ein besonderes Phänomen. Einerseits war der Übergang von der nationalsozialistischen Diktatur zur österreichischen Demokratie ein wirkliches Befreiungserlebnis. Die 2. Republik empfand sich als Antithese zum Hitlerfaschismus. Bundeskanzler Figl und viele andere österreichische Spitzenpolitiker kamen direkt aus den Konzentrationslagern oder aus politischer Haft. Und dennoch ist viel an damaligen Verhaltensweisen, an Stimmungen und Entscheidungen in der Frühzeit der 2. Republik, an personeller Kontinuität über das Jahr 1945 hinweg, nicht oder jedenfalls nicht leicht zu verstehen. Allein der Text eines so wichtigen Dokumentes wie der österreichischen Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 ist in einer Sprache verfasst, die heute eigentlich befremdend wirkt.

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Die vorstehend angesprochene, in vielen Fällen erstaunliche personelle Kontinuität aus der Zeit vor und nach 1945 galt auch im Wissenschaftsbereich, und zwar in der Weise, dass manche Hochschullehrer an den Universitäten verblieben, die das aufgrund ihres Verhaltens vor 1945 nicht verdienten, und andere an Österreichs Universitäten nicht Fuß fassen oder nicht zurückkehren konnten, obwohl sie dies aufgrund ihrer Biografie und aufgrund ihrer wissenschaftlichen Leistungen sehr wohl verdient hätten. Dieses Phänomen konnte nur allmählich, zum Teil nur durch biologische Gegebenheiten, zum Teil durch einzelne kluge und mutige Entscheidungen, überwunden werden. Auch der Bereich der Zeitgeschichte war im ersten Vierteljahrhundert der 2. Republik weitgehend eine vernachlässigte und mit verschiedenen Hypotheken belastete wissenschaftliche Disziplin. Erst nach vielen Anstrengungen konnten neue Ansätze und Sichtweisen sachkundiger und kritischer Historikerinnen und Historiker mehr und mehr in die wissenschaftliche Diskussion und Forschung eingebracht werden. Ihr Credo lautete: Zum Verständnis der Gegenwart sind tabufreie, selbstkritische Untersuchungen der jüngeren österreichischen Vergangenheit unerlässlich.

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Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

Als einer der Kristallisationspunkte dieser Entwicklung erwies sich der aus der britischen Emigration zurückgekehrte Historiker Karl R. Stadler, der Ende der 60er-Jahre aus Nottingham an die Johannes-Kepler-Universität Linz berufen wurde. Da ich Karl Stadler und seine Familie schon Mitte der 60er-Jahre in Großbritannien besucht und kennengelernt hatte, hielten wir nach seiner Rückkehr nach Österreich von allem Anfang an engen Kontakt. Karl Stadler kann als der Begründer einer neuen zeitgeschichtlichen Schule bezeichnet werden, aus der viele bekannte und anerkannte Historikerinnen und Historiker hervorgegangen sind. Darunter befinden sich Namen wie Josef Weidenholzer, Helmut Konrad, Hans Hautmann, Reinhard Kannonier, Brigitte Kepplinger-Perfahl u.a. Und einer dieser jungen, engagierten Forscher der neuen „Bewusstmachungsgeneration“ rund um Karl Stadler war eben Gerhard Botz. Er stürmte geradezu durch die Jahrzehnte der modernen österreichischen Geschichte, befasste sich eingehend mit der 1. Republik, mit dem Phänomen des Nationalsozialismus, aber auch mit den Versäumnissen nach 1945. Österreich wurde dank der scharfen Diagnosen von Gerhard Botz zu neuen Sichtweisen und Erkenntnissen geführt, die aufrüttelnd wirkten und neue historische Einblicke ermöglichten. Seine Aussagen und Schlussfolgerungen, die vielleicht auch durch Erfahrungen in der eigenen Familie geschärft wurden, enthielten immer wieder politischen Zündstoff. Er blieb bei seinen kritischen Haltungen als Wissenschafter auch dann, als durch sein öffentliches Engagement und durch das schmerzhafte Aufwühlen sogenannter Wunden, nämlich individueller Verstrickungen in den Nationalsozialismus, heftige politische und persönliche Polemiken entstanden. Er hat aber durch diese – erhellenden und tabufreien – Untersuchungen sicher dazu beigetragen, dass Österreich einen Reinigungsprozess durchlaufen hat und unsere Geschichte heute präziser und differenzierter gesehen werden kann. Durch Erkenntnisse über die eigene Vergangenheit und den richtigen Umgang mit dieser Vergangenheit wurden Prozesse in Gang gesetzt, die noch nicht abgeschlossen sind, aber offensichtlich in der richtigen Richtung verlaufen. Und wir haben allen Grund, Gerhard Botz und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, ebenso wie seinen Schülerinnen und Schülern für diese Arbeit dankbar zu sein und dies auch öffentlich zu bekunden. Ich tue das umso lieber, als ich Gerhard Botz seit Jahrzehnten gut kenne und auch seine menschlichen Qualitäten schätze. Gerne greife ich immer wieder zu Texten von Univ.-Prof. Dr. Gerhard Botz oder zu Sammelwerken, die er gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen verfasst hat. Sein 70. Geburtstag ist ein guter Anlass, um ihm sehr herzlich zu seinem Lebenswerk zu gratulieren, ihn zu dieser verdienten und schönen Festschrift zu beglückwünschen und ihm für sein jahrzehnte währendes Engagement als verantwortungsbewusster und höchst qualifizierter Wissenschafter zu danken.

Vorwort

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Meine Anerkennung für Univ.-Prof. Dr. Gerhard Botz verbinde ich mit dem Wunsch, dass er seine Arbeiten auch in den vor ihm liegenden Jahren mit Erfolg fortsetzen möge und dafür auch Anerkennung findet. Wien, im September 2011

Heinz Fischer

Heinrich Berger, Melanie Dejnega, Regina Fritz und Alexander Prenninger

Perspektiven und Perspektivenwechsel bei der Erforschung politischer Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert Einleitung Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Geschichtswissenschaft, und mit ihr auch die Geschichtsschreibung, rasant verändert: ereignisorientierte Politikgeschichte wurde um sozialund kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Perspektiven erweitert und zum Teil davon abgelöst. Auch methodisch wurde die Geschichtswissenschaft durch Entlehnungen aus anderen Wissenschaftsdisziplinen bereichert. Durch diesen Perspektivenwechsel konnten von der historischen Forschung bislang unbeachtet gebliebene Aspekte der Vergangenheit ins Blickfeld genommen werden. Die neuen Herangehensweisen lenkten das Interesse auf die Alltagsgeschichte und auf die Geschichte bisher wenig bis gar nicht beforschter sozialer Gruppen wie Frauen, nationale und andere Minderheiten oder auf die Geschichte der Arbeiterbewegung.1 Politische Ereignisgeschichte wurde zu einem Teilaspekt historischer Fragestellungen, und die im 20. Jahrhundert auftretenden Demokratisierungsprozesse konnten durch die Fokusänderung auch in der Geschichtsschreibung ihren Niederschlag finden. Gerhard Botz, dem dieser Sammelband gewidmet ist, gehört jener Generation von Historikern und Historikerinnen an, „die in den 1980er-Jahren ihre wissenschaftliche und gesellschaftliche Prägung erfahren hat“ und für welche die „Bewusstseinsbildung über die Bedeutung des Holocaust und der Perspektivenwechsel auf die NS-Vergangenheit zu einer zentralen Erfahrung [wurde], die auch das disziplinäre Selbstverständnis prägte“.2 Er hat diese Veränderungen nicht nur als „Zeitzeuge“ miterlebt, sondern sie auch aktiv mitgestaltet: Die Diagnose einer der Existenz der Zweiten Republik immanenten „Lebenslüge“,3 die Botz Österreich im Zuge der 1 Siehe z.B. die von Gerhard Botz bearbeiteten Bände der „Linzer Konferenzen“ 1976 und 1978 der Internationalen Tagung der Historiker und Historikerinnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen (ITH) zu den Themen „Arbeiterbewegung und Faschismus“ und „Die Frau in der Arbeiterbewegung“ sowie den von Botz, Hans Hautmann, Helmut Konrad und Josef Weidenholzer herausgegebenen Band: Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien et al. 1978. 2 Vgl. den Beitrag von Heidemarie Uhl in diesem Band. 3 Siehe u.a. Gerhard Botz: Österreich und die NS-Vergangenheit. Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung, in: Dan Diner (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a.M. 1987, S. 141–152 u. 276–279; ders.: „Lebenslüge“ und nationale Identität im heutigen Österreich. Nationsbildung auf Kosten einer vertieften Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, in: History of European Ideas 15.1–3 (1992), S. 85–91; ders.: Lebenslüge. Das stimulierende Prinzip. Eine Auseinandersetzung mit neuen Ver-

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Heinrich Berger, Melanie Dejnega, Regina Fritz und Alexander Inhaltsverzeichnis Prenninger

Waldheim-Affäre stellte, machte ihn nicht nur zum Tabubrecher, sondern auch zum Vorreiter neuer Fragestellungen, Analysekategorien und Narrative in der österreichischen Zeitgeschichte. Er hatte erkannt, dass die historischen Phänomene des 20. Jahrhunderts nicht mit „alten“, traditionellen Methoden der Geschichtswissenschaft zu fassen sind. Die Anwendung neuer, aus den Sozialwissenschaften entlehnter Methoden,4 ermöglichten es ihm seit den 1970er-Jahren, seine Erkenntnisse wissenschaftlich abzusichern und anhand empirischen Materials und nachvollziehbarer Methoden „überprüfbar“ zu machen.5 Mithilfe quantifizierender Methoden konnte er beispielsweise die Sozialstruktur der österreichischen NSDAP-Mitglieder unter neuer Perspektive betrachten.6 Auch durch die Anwendung der Oral History gelang es ihm, die „Grenzen des Sagbaren [zu] erweitern“7 und den Blick auf bisher nicht beachtete Aspekte der KZ-Geschichte zu lenken. So brach er beispielsweise mit der in den 1970er- und 1980er-Jahren in Österreich noch immer üblichen heroisierenden Geschichtsbetrachtung innerhalb der Lagerforschung und ließ nicht nur bisher nicht beachtete Häftlingsgruppen zu Wort kommen, sondern thematisierte auch lange Zeit tabuisierte Aspekte wie die Rolle und Handlungsspielräume der Funktionshäftlinge im KZ.8 Doch auch bildliche und filmische Quellen zog er heran, wenn es darum ging, zu neuen Aussagen und Schlüssen über die jüngste österreichische Vergangenheit zu kommen. Gerhard Botz beschränkte sich in seinen Arbeiten nicht auf die Übernahme und Weiterentwicklung bereits etablierten Methoden, er entwickelte auch selbst eine neue Forschungsmethode: Anhand der Analyse der Schatten auf zeitgenössischen Fotografien konnte er ziemlich genau den Zeitpunkt der Aufnahme der jeweiligen Fotos feststellen und damit bei der Untersuchung des historischen Ablaufs des Justizpalastbrandes völlig neue Ergebnisse erzielen.9   4   5   6

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fechtern der österreichischen Opferthese, in: Europäische Rundschau. Vierteljahresschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte 1 (1996), S. 29–45. Siehe hierzu auch den Beitrag von Josef Ehmer in diesem Band. Vgl. dazu Gerhard Botz, Christian Fleck et al. (Hg.): „Qualität und Quantität“. Zur Praxis der Methoden der Historischen Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. / New York 1988. Gerhard Botz: Arbeiterschaft und österreichische NSDAP-Mitglieder (1926–1945), in: Rudolf G. Ardelt, Hans Hautmann (Hg.): Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. In memoriam Karl R. Stadler, Wien / Zürich 1990, S.  29–48; ders.: Die österreichischen NSDAP-Mitglieder. Probleme einer quantitativen Analyse aufgrund der NSDAP-Zentralkartei im Berlin Document Center, in: Reinhard Mann (Hg.): Die Nationalsozialisten. Analysen faschistischer Bewegungen, Stuttgart 1980, S. 98–136. Vgl. Titel des Beitrags von Ruth Beckermann in diesem Band. Vgl. in erster Linie seine Einleitung in seinem Buch Margareta Glas-Larsson: Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz, hg. u. kommentiert v. Gerhard Botz, unter Mitarbeit v. Anton Pleimer u. Harald Wildfellner, Wien et al. 1981; vgl. aber auch Gerhard Botz: Binnenstruktur, Alltagsverhalten und Überlebenschancen in Nazi-Konzentrationslagern, in: Robert Streibel, Hans Schafranek (Hg.), Strategie des Überlebens. Häftlingsgesellschaften in KZ und Gulag, Wien 1996, S. 45–71; ders., Michael Pollak: Les survivants des camps nazis et le maintien de l’identité sociale, in: Liora Israël, Danièle Voldman (Hg.): Michael Pollak. De l’identité blessée à une sociologie des possibles, Paris / Brüssel 2008, S. 145–154, sowie die großen Oral-HistoryProjekte, die unter der Projektleitung von Gerhard Botz durchgeführt wurden: das „Mauthausen Survivors Documentation Project“ (MSDP) und das „Mauthausen Suvivors Research Project“ (MSRP). Vgl. u.a. Gerhard Botz: Ungerechtigkeit, die Demonstranten, Zufall und die Polizei: der 15. Juli 1927. Bildanaly-

Inhaltsverzeichnis Erforschung politischer Gewalt und Machtausübung

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Dem Zeithistoriker Botz, der Methoden aus den unterschiedlichsten Disziplinen zur Erforschung österreichischer Vergangenheit heranzog, schlug allerdings zunächst rauer Wind entgegen, – wie Gerhard Botz auch gerne anekdotenhaft erzählt. Die Berechnung von sogenannten „harten Daten“ wurde in der Kollegen- und Kolleginnenschaft vorerst eher skeptisch betrachtet. In den Sozialwissenschaften und noch mehr in den Naturwissenschaften zollte man diesem neuen analytischen Zugang in der Geschichtswissenschaft aber Respekt. Nun sei auch die Geschichte „in der Wissenschaft angekommen“. Gleichzeitig war diese von vielen als „Kuriosum“ wahrgenommene Affinität zu quantitativen (aber auch qualitativen) Methoden in der Historischen Sozialwissenschaft, so Botz, auch eine Gelegenheit, die Aussagekraft geschichtswissenschaftlicher Forschung in der Öffentlichkeit neu zu positionieren. So hat er beim Antritt seiner Professur an der Universität Salzburg ziemlich großes Aufsehen erregt, als er und seine Mitarbeiter die Computerressourcen der Universität, die damals vor allem Naturwissenschaftlern (im Zeitalter von Großrechnern und Lochkarten) vorbehalten gewesen waren, derart beanspruchten, dass man seinem Lehrstuhl für den damaligen technischen Entwicklungsstand wirklich leistungsfähige und dementsprechend wertvolle Computerausstattung zugestehen musste.10 Aber was sollte ein Historiker mit Computern anfangen? Gerhard Botz wusste es: In mehreren Forschungsprojekten berechnete er mittels komplexer statistischer Verfahren nicht nur die Verteilung sozialer Schichten in der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich, sondern auch die Zusammenhänge von sozialer Situierung und politischer Positionen in der Ersten Republik. Außerdem wurden die Computerressourcen auch in den von Botz geleiteten Methodenkursen benötigt. Die Anwendung aus den Sozialwissenschaften stammender, nachvollziehbarer Methoden zur Erforschung geschichtlicher Abläufe und Phänomene ermöglichte es ihm (neben vielen anderen Faktoren), der Öffentlichkeit schließlich auch unliebsame historische Zusammenhänge zu vermitteln. Gerhard Botz gefiel und gefällt sich dabei in der Position des Historikers als autorisierter Erzähler von Vergangenem, der der Öffentlichkeit in keiner Weise „gefällig“ ist. Im Gegenteil: Immer wieder „piesackt“, irritiert und provoziert er sie.11

* * * Gerhard Botz wurde am 14. März 1941 in der oberösterreichischen Grenzstadt Schärding geboren. Der Verlust seines Vaters kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollte eine der prägendsten Erfahrungen für ihn werden und spielte eine entscheidende Rolle bei seinem weiteren Lebensweg. Über 60 Jahre später reflektierte er darüber: sen zu einem Wendepunkt in der Geschichte Österreichs, in: Bundesministerium für Justiz (Hg.), 80 Jahre Justizpalastbrand. Recht und gesellschaftliche Konflikte, Wien / Innsbruck 2008, S. 21–57; ders., Der „15. Juli 1927“: Ablauf, Ursachen und Folgen, in: Norbert Leser, Paul Sailer-Wlasits (Hg.), 1927 als die Republik brannte. Von Schattendorf bis Wien, Wien 2002, S. 33–52. Vgl. dazu auch: Werner A. Perger: Der Schattenvermesser. Historiker, Kriminologe, Bürgerkriegsforscher: Wie Gerhard Botz die Geschichte des Justizpalastbrandes rekonstruiert, in: Die Zeit 27 (26. 6. 2007), URL: http://www.zeit.de/2007/27/Portrait-Botz (14.07.2011). 10 Vgl. dazu auch den Beitrag von Josef Weidenholzer in diesem Band. 11 Vgl. dazu den Beitrag von Lucile Dreidemy in diesem Band.

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Heinrich Berger, Melanie Dejnega, Regina Fritz und Alexander Inhaltsverzeichnis Prenninger

Es wurde schon, als ich noch ein Kind war und mit Holzlatten (oder sonst wie) Krieg spielen wollte, von den Ermahnungen der Großmutter und der Mutter begleitet: Krieg ist schlecht! Politik ist schlecht! Ich denke, auch mein Studienwechsel im dritten Semester von der (damals „unpolitischen“) Biologie zur („politischen“) Zeitgeschichte und die Wahl meines Dissertationsthemas sind davon beeinflusst: um dazu beizutragen, dass Gewalt, faschistische Politik und Kriegselend in Hinkunft verhindert werden können.12

Tatsächlich promovierte Botz im Jahr 1967 am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Seine Dissertation trug den Titel „Beiträge zur Geschichte der politischen Gewalttaten in Österreich 1918–1933“.13 Politische Gewalt und die Erforschung von autoritären Regimen – vor allem mit Fokus auf Österreich, aber auch immer wieder im Vergleich mit anderen Ländern – stehen bis heute in Vordergrund seines Forschungsinteresses. Seine berufliche Laufbahn begann er 1966 als Dokumentar im „Tagblatt-Archiv“ des Instituts für Höhere Studien bzw. der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien. Von 1968 bis 1979 war Botz Universitätsassistent am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der damaligen Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz, wo er vor allem durch Karl R. Stadler geprägt wurde.14 1976/77 und 1994/95 war er Alexander von HumboldtForschungsstipendiat in Bochum und Berlin. Nach seiner Habilitation zum Thema „Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel Wiens 1938/39“15 im Jahr 1978 wurde er zunächst außerordentlicher Universitätsprofessor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Linz, um ein Jahr später auf einen eigenen Lehrstuhl an der Universität Salzburg zu wechseln. Nach mehreren Gastprofessuren an ausländischen Universitäten – u.a. an der University of Minnesota, an der Stanford University und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, wo er ebenfalls viele wichtige Kontakte knüpfte – wurde er schließlich nach Wien berufen, wo er 1997 am Institut für Zeitgeschichte die Nachfolge von Erika Weinzierl antrat. Sein Interesse für Themen und Methoden außerhalb des Mainstreams der österreichischen Zeitgeschichtsschreibung brachte Botz nicht nur in Kontakt mit den Sozialwissenschaften – u.a. durch sein Studium der Soziologie und Sozialstatistik Anfang der 1970er-Jahre –, sondern führte auch zu einem kurzen Abstecher an die Akademie für Musik und darstellende Kunst in 12 Gerhard Botz: Nazi, Opportunist, „Bandenbekämpfer“, Kriegsopfer. Dokumentarische Evidenz und Erinnerungssplitter zu meinem Vater, in: ders. (Hg.): Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005, S. 135–159, hier 136. 13 1976 veröffentlicht unter dem Titel: Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1934, München 1976. 14 Siehe dazu die Beiträge von Helmut Konrad und Josef Weidenholzer in diesem Band. 15 Erschienen zunächst unter dem Titel: Wien vom „Anschluß“ zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, Wien / München 1978, später überarbeitet und neu aufgelegt unter dem Titel „Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938/39“.

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Wien, wo er Filmgestaltung studierte. Diese Neugierde an der Interdisziplinarität wurde für ihn, wie bereits erwähnt, zu einem wichtigen wissenschaftlichen Prinzip und mündete schließlich 1978 in der Gründung des legendären „Quant-Kurses“ in Linz,16 der später ergänzt um einen „Qual-Kurs“ und einen „Bild-Kurs“ zur „International Summer School New Methods in History“ ausgebaut wurde.17 1982 gründete Gerhard Botz schließlich das Ludwig BoltzmannInstitut für Historische Sozialwissenschaft (LBIHS) mit Sitz in Salzburg und Wien, das er nun seit beinahe 30 Jahren leitet. Das LBIHS bemüht sich seit der Gründung um die Anwendung elaborierter sozialwissenschaftlich inspirierter Forschungsmethoden in der geschichtswissenschaftlichen Praxis. 2005 wurde vom LBIHS gemeinsam mit drei weiteren Instituten18 der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft der Cluster Geschichte gegründet, dessen Sprecher und Koordinator er 2005/2006 und 2010 war. Neben dieser vielfältigen wissenschaftlichen Tätigkeit brachte Gerhard Botz seine Expertise aber auch in verschiedenen Funktionen in einer Reihe von Kommissionen, Beiräten und Vereinen im Übergangsfeld zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ein. Als wichtigste Beispiele seien hier nur die wissenschaftlichen Beratungsgremien der Gedenkstätte Mauthausen oder die Plattform „Universität und Demokratie“ genannt. * * * Der vorliegende Band versammelt exemplarische Studien von ausgewiesenen Experten zu den Themen Gewalterfahrung, Machtausübung bzw. der öffentlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit im 20. und 21. Jahrhundert und widmet sich damit den thematischen Arbeitsschwerpunkten von Gerhard Botz. Als Beispiele für Gewalt als Instrument der Herrschaftsausübung werden im vorliegenden Band ausgewählte Aspekte des Nationalsozialismus, aber auch anderer autoritärer Regime untersucht. Der zentrale Fokus liegt in der österreichischen Zeitgeschichte, wobei durch einzelne Beiträge zu autoritären Regimen in anderen europäischen Ländern ein innereuropäischer Vergleich der Formen von und der Auseinandersetzung mit politischer Gewalt möglich gemacht wird. So werden die Folgen der gewaltsamen Auseinandersetzungen der Jahre 1918–1934 in Österreich und Aspekte der Gewaltherrschaft autoritärer Regime im Europa vor dem Zweiten Weltkrieg genauso diskutiert wie die Zerstörung der Demokratie in Österreich, der darauf folgende „Anschluss“ an NS-Deutschland, die nationalsozialistische Machpolitik im Inneren und Äußeren und die Konsequenzen der Ausdehnung des nationalsozialistischen Machtbereichs im Rahmen des Zweiten Weltkriegs. Die „Folgen“ dieser Entwicklungen dauern in Österreich, so wie in ganz Europa, bis in die Gegenwart an. In der Zweiten Republik wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren die gewaltsamen Konflikte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die gewaltsamen Auseinan16 Inspririert wurde er dabei von den Summer Schools in Quantitative Methods in History / Social Sciences, University of Essex, Colchester, England, die er 1976 und 1978 besucht hatte. 17 Die Summer School fand seit 1981 jährlich an der Universität Salzburg statt und wurde bis 1994 von ihm geleitet. 18 Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft, Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung und Ludwig Boltzmann-Institut für Gesellschafts- und Kulturgeschichte.

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dersetzungen um den Justizpalastbrand 1927, der kurze Bürgerkrieg von 1934 und schließlich die nationalsozialistische Gewalt seit dem Juliputsch 1934 zum Thema von politischen und wissenschaftlichen Diskussionen.19 Diese mündeten in den 1980er- und 1990er-Jahren in die Auseinandersetzung um die Beteiligung von Österreichern und Österreicherinnen an nationalsozialistischen Verbrechen und die Debatte um eine „österreichische Mit-Verantwortung“.20 Mittlerweile ist die Erforschung von Nationalsozialismus und Holocaust der bedeutendste Bereich der österreichischen Zeitgeschichtsschreibung geworden, was sich auch in der Breite der hier versammelten Beiträge widerspiegelt: Es werden das persönliche Erleben des Nationalsozialismus genauso dargestellt wie die großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen infolge des Nationalsozialismus. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den großen Themen des 20. Jahrhunderts ist aber auch ein Boden für die Diskussion und Weiterentwicklung adäquater Methoden zur Erforschung dieser historischen Entwicklungen. Viele Beiträge kreisen um das Thema Paradigmenwechsel bis hin zu den neuen zeitgeschichtlichen Leitbegriffen „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ und diskutieren die Möglichkeiten und Grenzen der Oral History. Nachdem die großen Konflikte und Verbrechen des 20. Jahrhunderts auch immer wieder öffentlich diskutiert wurden, musste natürlich auch das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit ein Thema dieses Bandes sein, dem sich einige Beiträge widmen. * * * Viele der Personen, die zu dieser Festschrift beigetragen haben, begleiten Gerhard Botz auf seinen Wegen in Wissenschaft und Öffentlichkeit bereits seit Jahrzehnten. Schüler und Schülerinnen von ihm sind genauso unter den Autoren und Autorinnen vertreten, wie Kollegen und Kolleginnen aus seiner Generation. Sowohl die einen als auch die anderen waren ihm stets als Wegbegleiter und Diskussionspartner sehr wichtig. Die Beiträger und Beiträgerinnen stammen allerdings keineswegs lediglich aus seiner eigenen Disziplin, der Geschichtswissenschaft: vielmehr spiegelt die Vielfalt ihrer unterschiedlichen wissenschaftlichen, professionellen und künstlerischen ‚backgrounds‘ auch die Vielfalt und Offenheit im Botz’schen Denken wider. Denn disziplinäre Engstirnigkeit ist für Gerhard Botz etwas, was ihn stets zu heftigem Widerspruch reizt. Neue Ideen schöpft er allerdings nicht nur aus anderen Wissenschaftsdisziplinen, sondern er lässt sich äußerst gern auch von Künstlern bzw. Künstlerinnen und Kulturproduzenten inspirieren, mit denen er sich auch immer wieder gern öffentlich auf kontroversielle Debatten einlässt. So geben die Beiträge nicht nur Aufschluss darüber, zu welchen 19 Auch Gerhard Botz war 1971 bis 1992 Mitglied der „Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Geschichte Österreichs der Jahre 1918 bis 1938“ in Wien. 20 Vgl. dazu Gerhard Botz, Gerald Sprengnagel (Hg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt a. M. / New York 2008 (1. Aufl. 1994).

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Themen Gerhard Botz als Historiker beigetragen, sondern auch darüber, in welchem Umfeld er sich bewegt hat. In diesem Sinne könnte man fast meinen, die gesammelten Beiträge würden einen Mikrokosmos Botz’scher wissenschaftlicher (und auch privater – das war bei Gerhard Botz nie genau zu trennen) Gedankenwelt wiedergeben. Das ist natürlich zu hoch gegriffen – denn der wichtigste Akteur in diesem Mikrokosmos kam nicht zu Wort. Wir hoffen, dass sich der Jubilar darüber freuen kann, von all seinen Gratulanten „übertönt“ worden zu sein, und wünschen Gerhard Botz alles Gute zu seinem Siebziger!

Helene Maimann

1941. Es gibt nur das Leben Hell is empty, and all the devils are here. William Shakespeare, The Tempest Die Kunst besteht darin, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird. Winston Churchill (Pétropolis, Brasilien, Sommer 1941) Ich bin 1881 in einem großen und mächtigen Kaiserreiche geboren, in der Monarchie der Habsburger, aber man suche sie nicht auf der Karte: sie ist weggewaschen ohne Spur. Ich bin aufgewachsen in Wien, der zweitausendjährigen übernationalen Metropole, und habe sie wie ein Verbrecher verlassen müssen, ehe sie degradiert wurde zu einer deutschen Provinzstadt. Mein literarisches Werk ist in der Sprache, in der ich es geschrieben, zu Asche gebrannt worden, in eben demselben Lande, wo meine Bücher Millionen Leser sich zu Freunden gemacht. So gehöre ich nirgends mehr hin, überall Fremder und bestenfalls Gast; auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren. Wider meinen Willen bin ich Zeuge geworden der furchtbarsten Niederlage der Vernunft und des wildesten Triumphes der Brutalität innerhalb der Chronik der Zeiten. Alles Vergangene vorüber, alles Geleistete zunichte – Europa, unsere Heimat, für die wir gelebt, weit über unser eigenes Leben hinaus zerstört. (Stefan Zweig, Die Welt von Gestern)

Im Sommer 1941 trifft Stefan Zweig in New York Carl Zuckmayer, seine Verdüsterung ist mit beiden Händen zu greifen. „Unsereiner muss neunzig oder hundert werden, damit wir noch einmal anständige Zeiten erleben“, sagt Zuckmayer, damals Mitte vierzig. Es scheint eine realistische Schätzung. „Wir werden Heimatlose sein. Wir sind nur mehr Gespenster“, erwidert Zweig. Wenige Wochen später schließt er seine Erinnerungen ab, sein Testament, ein „Spiegelschein meines Lebens, ehe es ins Dunkel sinkt“. Im Februar 1942 geht er in Brasilien mit seiner Frau in den Freitod. Er ist sechzig und erwartet sich nichts mehr, das Leben ist ihm widerwärtig, er fürchtet sich vor dem Altwerden, noch mehr vor der Welt nach diesem Krieg. Dass Zweig sich umbrachte in seinem von allen Kriegswirren unberührten Asyl war ein finsteres Fanal für die Intellektuellen in der noch freien Welt. Sie standen vor einem Rätsel. Ein Großschriftsteller, vermögend, bei bester Gesundheit, neu verheiratet, hoch geehrt, geht in den Tod und löst einen Aufruhr aus.  Die Kriegslage in Europa war niederschmetternd. Millionen standen einem ungewissen Schicksal entgegen, das ahnte, wusste jeder, der den Fall

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Polens, Westeuropas und Westrusslands mitverfolgt hatte. Ein gerettetes Leben hinzuwerfen war obszön, wenn sich zugleich so viele andere Leben an einen Rest Hoffnung klammerten. „Es ist aber nicht an der Zeit, mit dem Tod zu schlafen“, schrieb Carl Zuckmayer nach dem Selbstmord Zweigs. „Wir müssen dieses Leben bis zum äußersten verteidigen, denn es gehört nicht uns allein. Lebt: aus Trotz, lebt: aus Wut! Keiner von uns darf sterben, solange Hitler lebt.“ (Barnard, Vermont, Sommer 1941) Ich hatte nie gemolken, aber ich lernte es, merkwürdigerweise, in einem Tag. Nach zwei bis drei vergeblichen Versuchen bekam ich plötzlich das Gespür in die Finger, wie man die schweren Euter in Fluß bringen muss, dann brauchte ich sie nur anzurühren, und die Milch schoß aus den Zitzen. Bald war ich mit den Geißen so vertraut, dass sie von selbst auf das Melkbrett sprangen, wenn ich sie bei ihren Namen rief. Ich lernte die Ziegen behandeln, wenn sie zuviel nasses Gras gefressen hatten und Blähbäuche bekamen, denn der nächste Tierarzt war schwer erreichbar und überbeschäftigt. Ich merkte jetzt, dass mein Kindheitstraum, Direktor eines zoologischen Gartens zu werden, gar nicht so unvernünftig gewesen war – ich konnte mit Tieren umgehen, vom ersten Farmtag an, als hätte ich nie etwas anderes getan. Was ich nicht liebte, war das Schlachten des Geflügels, doch es gehörte zu meinen unumgänglichen Pflichten – manchmal sogar in großer Anzahl, zum Verkauf. Ich gab unseren Schlachthähnen häßliche Namen, um mir die Sache seelisch zu erleichtern, wir hatten Ribbentrops, mehrere Himmlers, zwei Brüder Goebbels (Paul und Joseph), aber ich hätte auch diese nicht gern selbst geschlachtet. (Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir)

Zuckmayer bezog im Spätsommer 1941 mit seiner Frau Alice die Backwoods-Farm in den Bergen von Vermont, schrieb nichts, las wenig, hielt Ziegen und Schweine, legte Futterwiesen an, zog Enten, Gänse und Hühner auf und war entschlossen, in diesem Land Wurzeln zu schlagen so wie hunderte Jahre vor ihm die ersten Pioniere. Abends todmüde ins Bett, morgens in aller Früh an die Arbeit war das Beste, was er sich wünschte. Er ließ sein altes Leben hinter sich, bekämpfte die verstörenden Nachrichten aus Europa mit erschöpfender Arbeit. Was von dort zu erfahren war, klang schrecklich, Tod und Vernichtung. Innerhalb von fünf Tagen hatte die deutsche Wehrmacht Minsk erobert, die Westukraine, Litauen, Lettland, Estland. Fast alle Freunde und auch seine Frau waren überzeugt, dass dies der Anfang vom Ende der Nazis war. Zuckmayer bezweifelte das. Sein Glauben an die Klugheit des deutschen Generalstabs war schwer zu erschüttern. Er hielt einen Zweifrontenkrieg für undenkbar und den Siegeslauf Hitlers für unaufhaltsam. England verschanzte sich auf seiner Insel, hatte zwar das Empire im Rücken, aber weder Mittel noch Wege, den Deutschen Einhalt zu gebieten. Die wenigsten Amerikaner wollten sich in den neuen europäischen Krieg einmischen. Die Sowjetunion war wahrscheinlich verloren. Zuckmayer richtete sich auf ein langes Leben als Farmer ein.

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Dorothy Thompson, bekannteste Publizistin der USA und eine enge Freundin der Zuckmayers, berichtete nach Washington, dass der einzige Mensch, mit dem sie im Juli 1941 in London zusammengetroffen war und der nicht geglaubt habe, dass die Russen von den Deutschen besiegt würden, Präsident Edvard Beneš gewesen sei, der Chef der tschechoslowakischen Exilregierung. ( Johannesburg, Südafrika, Sommer 1941) In den vierziger Jahren lag Wandel in der Luft. Die von Roosevelt und Churchill unterzeichnete Atlantic-Charta von 1941 bekräftigte den Glauben an die Würde jedes Menschen und propagierte eine Anzahl demokratischer Prinzipien. Im Westen betrachteten manche die Charta als leere Versprechungen, aber nicht wir Afrikaner. Es war mir gelungen, bei meinem Vetter Garlick Mbekeni unterzukommen. Er war ein freundlicher, schüchterner Mann und ich erzählte ihm, mein eigentliches Bestreben sei es, Rechtsanwalt zu werden. Einige Tage später sagte Garlick zu mir, er werde mich zu einem „unserer besten Leute in Johannesburg“ bringen. Wir fuhren mit der Bahn zum Büro eines Immobilienhändlers in der Market Street, einer wimmelnden und verkehrsdichten Durchgangsstraße. Zu jener Zeit war Johannesburg eine Kombination aus Grenzstadt und moderner City. Zwischen 1941, als ich nach Johannesburg kam, und 1946 verdoppelte sich die Anzahl der Afrikaner in der Stadt. Jeden Morgen hatte man das Gefühl, die Township sei größer als am Tag zuvor. Garlick und ich saßen im Wartezimmer des Immobilienhändlers, indes eine hübsche afrikanische Empfangsdame uns bei ihrem Chef im Büro anmeldete. Wenige Minuten später führte sie uns in das innere Büro, wo ich einem Mann vorgestellt wurde, der Ende Zwanzig zu sein schien, mit einem intelligenten und freundlichen Gesicht, heller Hautfarbe, in einen Zweireiher gekleidet. Trotz seiner Jugend wirkte er auf mich wie ein erfahrener Mann von Welt. Er stammte aus der Transkei, sprach englisch mit urbaner Geläufigkeit. Nach seinem bevölkerten Wartezimmer und dem mit Papieren vollgehäuften Schreibtisch zu urteilen, war er ein überaus beschäftigter und erfolgreicher Mann. Sein Name war Walter Sisulu. (Nelson Mandela, Der lange Weg zur Freiheit)

Als Nelson Rolihlahla Mandela, geboren als Sohn von Häuptling Gadla Henry Mphakanyiswa in einem Dorf der Transkei, zugehörig zum Volk der Xhosa, durch Sitte, Ritual und Tabu geprägt, nach Johannesburg kam, war er 23 Jahre alt und keineswegs ein Aufrührer. Walter Sisulu hingegen, wenige Jahre älter und von Jugend an ein Rebell, war 1941 bereits der lokale Führer des African National Congress in Johannesburg. Bevor er Sisulu kennenlernte, hatte Mandela seine Zukunft mit der Transkei verbunden gesehen, als Beamter oder Dolmetscher im Native Affairs Departement. Diesen Traum ließ er fallen. Er begann, enge Kontakte zum ANC und zur kommunistischen Partei zu knüpfen, führte ein aufregendes Leben in der Township Alexandra, traf junge Männer und Frauen, die sich dem Kampf gegen die drückende Ungleichheit widmeten und lernte die politische Bedeutung von Passgesetzen, Mieten und Busfahrpreisen zu verstehen.

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Mandela wurde ein ständiger Gast bei den Sisulus, zeitweise wohnte er bei ihnen und lernte dort seine erste Frau Evelyn Mase, eine Cousine von Sisulu, kennen. Walter Sisulus Haus in Soweto war immer voller Leute. Er hatte bereits als Jugendlicher damit begonnen, schwarze Arbeiter zu organisieren, wurde der Mentor Mandelas und blieb ein halbes Jahrhundert lang sein engster Gefährte. Drei Jahre nach der denkwürdigen ersten Begegnung gründeten er, Mandela und Oliver Tambo die radikale ANC Youth League, organisierten die ersten illegalen Streiks und Massendemonstrationen gegen die Apartheid. Im Juni 1964 wurden Mandela, Sisulu und weitere sechs Angeklagte wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft auf der Gefängnisinsel Robben Island verurteilt. Sie überlebten entgegen aller Voraussicht. Sie überlebten, was Mandela seine schwarzen Jahre nannte: Isolationshaft, Entwürdigung, dreizehn Jahre Zwangsarbeit im Steinbruch, Hungerstreiks, Krankheit, schwere psychische Krisen und unzählige Versuche des Regimes, ihre Willenskraft zu brechen. Sisulu wurde 1989, nach 25 Jahren, Mandela ein halbes Jahr später freigelassen. Später erzählte Sisulu, dass er in dem Moment, als der junge Mandela, groß gewachsen und selbstsicher, 1941 in seinem Immobilienbüro auftauchte, entschieden hatte, dass hier die Antwort auf seine Gebete vor ihm stand. Kein Zweifel: Das war der zukünftige Führer der südafrikanischen Freiheitsbewegung. (Leningrad, Sowjetunion, September 1941) Man kann den ganzen Umfang der Katastrophe von Leningrad nicht ermessen, wenn man nichts über die zu Beginn der Blockade vorhandenen Lebensmittel, die Rationierungsmaßnahmen und nichts über die Schwierigkeiten weiß, unter denen der spärliche Nachschub von außen herangeführt wurde. Als die Deutschen im September ein paar Boote mit Korn im Ladogasee versenkten, wurde ein Großteil des Getreides durch Taucher wieder gehoben. Obwohl dieses verschimmelte Korn normalerweise für den menschlichen Verzehr ungeeignet gewesen wäre, wurde es verwendet. In einem Lagergebäude des Hafens entdeckte man 2000 Tonnen Schafdärme. Daraus stellte man eine entsetzliche Gelatine her, deren Geruch durch den Zusatz von Gewürznelken neutralisiert werden musste. Während der schlimmsten Hungersnot wurde diese Gelatine aus Schafsinnereien an Stelle von Fleisch ausgegeben. Es gab viele Massentragödien im zweiten Weltkrieg. Die Liste ist endlos. Die Tragödie Leningrads aber, die einer Million Menschen das Leben kostete, ist beispiellos. Im September 1941 schlossen die Deutschen hier fast drei Millionen Menschen ein und verdammten sie zum Hungertod. Nahezu ein Drittel starb – aber nicht als deutsche Gefangene. (Alexander Werth, Rußland im Krieg)

Diese Belagerung war die längste und größte, die eine moderne Stadt je ausgehalten hat. Dreißig sowjetische Divisionen hielten Wache vor den Toren der Stadt und versuchten, eine Luftbrücke zu installieren, mit wenig Erfolg. Die furchtbare Hungerblockade dauerte ein halbes Jahr, bevor über den zugefrorenen Ladogasee Lebensmittel in die Stadt transportiert werden

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konnten. Alexander Werth, selbst in St. Petersburg geboren und einer der wenigen Auslandskorrespondenten, die sich während des Krieges in der Sowjetunion aufgehalten hatten, suchte die Stadt noch während der Blockade auf und beschrieb nachdrücklich die unmenschlichen Leiden, die die Leningrader soeben durchgestanden hatten, ein langer, eisiger Winter ohne Strom, ohne Brennstoff, ohne Lebensmittel, ohne Wasser. Im Jänner und Februar 1942 setzte ein schrecklicher Frost ein, nie zuvor war es kälter als minus 30 Grad gewesen, jetzt fiel das Thermometer in schwarze Tiefen. Die Menschen stürzten sich auf alles, was irgendwie essbar erschien, auf Lederriemen, technische Öle, Leinölfirnis, Vaseline, Holzspäne. Sie rissen Tapeten von den Wänden und kratzten den Klebstoff ab, jagten alle Vögel, Ratten, Katzen und Hunde, es gab Leichenfresserei und Kannibalismus.  Den Behörden gelang es dennoch, die strenge Disziplin aufrechtzuerhalten, um die Einkesselung zu überleben. Dies war ein Ausrottungskrieg, die Deutschen machten kein Hehl daraus, und die Leningrader wandelten sich zu glühenden Lokalpatrioten. Auch erbitterte Stalingegner wie die Schriftstellerin Olga Bergholz, die mit ihren Rundfunkreden die Moral aufrechterhielt, taten alles dazu, die Zivilverteidigung und den Zusammenhalt der Menschen zu unterstützen. Neunhundert Tage, bis Mitte Jänner 1943, dauerte die Blockade. Im Westen ist sie fast vergessen. Der Kreml schenkte der Entschlossenheit der Leute, ihr Leben und ihre Stadt um jeden Preis zu verteidigen, wenig Beachtung. Stalin passten die eigensinnigen Leningrader nicht, die nie sein Loblied gesungen hatten, und rächte sich nach Kriegsende mit einer blutigen Säuberung der zivilen und militärischen Führung der Stadt. Das Verteidigungsmuseum mit Dokumenten und Erinnerungen jeder Art, die die Bevölkerung bereits während der Belagerung zusammengetragen hatten, ließ er schließen. Die bis heute unvergessenen Reden von Olga Bergholz, die 1946 publiziert wurden, kamen auf den Index, das Buch wurde verboten. Aber als Hitler seinen Krieg in Stalingrad verlor, gewann ihn Stalin in Leningrad. (Masuren, Deutschland, 1. Oktober 1941) Ich glaube, dass man nirgendwo in ganz Deutschland so viel Gastlichkeit und selbstverständliche Hilfsbereitschaft findet wie in Ostpreußen. Mit einigen Broten und vielen guten Wünschen versehen, brechen wir am nächsten Morgen auf, noch ein Stück Weges begleitet von dem Hausherrn, der ein kleine, fabelhaft drahtige, zwanzig Jahre alte Stute reitet. Die Gegend gefällt uns, seit wir den Kreukler See verlassen haben, gar nicht mehr: Plattes Land, Chausseen, Rübenfelder, und schließlich müssen wir sogar noch ein Stück auf er großen Asphaltstraße Lötzen-Angerburg fahren, während zahllose Autos mit Militär, SS oder irgendwelchen Funktionären heulend an uns vorbeizischen. Sobald die erste Abzweigung auftaucht, biegen wir links ein in Richtung auf den Dargainen-See und haben nun doch noch einen herrlichen Nachmittag mit viel Sand, blauem Wasser, sanften Hügeln und ein paar hübschen Dörfern. An einem sonnigen Wiesenrand verspeisen wir die Butterbrote des letzten Nachtquartiers und halten ein kleines Nickerchen, während die Pferde am lang geschnallten Halfter grasen. Unsere Reise geht ihrem Ende entgegen – es sind nur noch 15 km bis Steinort. Noch einmal

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steigen wir auf eine Erhebung, die zwischen Dargainen- und Gall-See das Land beherrscht, und nehmen Abschied von der Freiheit dieser Tage. Und da sind auch schon die alten Eichen, ein langer silberner Faden – Altweibersommer – zieht über die Koppel, und irgendwo auf dem Hof kräht ein Hahn. (Marion Gräfin Dönhoff, Namen die keiner mehr nennt)

Ende September 1941 unternimmt die einunddreißigjährige Gräfin Dönhoff, Mitglied des widerständigen Kreisauer Kreises, mit ihrer Cousine Sißi von Lehndorff einen fünftägigen Ritt durch die Masuren, um von ihrer Heimat Abschied zu nehmen. Ihr Reisetagebuch, das sie für ihren Bruder Dietrich führt, wird zum Memento mori des verlorenen Paradieses ihrer Kindheit und Jugend. Sie ist nur wenige Tagesritte von der verbrannten Erde Weißrusslands entfernt, unberührt vom Blutgeruch der Front, ahnungslos über das Ausmaß der Vernichtung, die sich durch die westrussischen Dörfer frisst. In diesen Tagen bringen Einsatzgruppen des deutschen Sicherheitsdienstes mehr als 33.000 Juden in der Schlucht von Babij Jar nahe Kiew um. Die 6. Armee unter Generalfeldmarschall Walter von Reichenau unterstützt die Planung und Durchführung der Vernichtungsaktion. Die Realität des Krieges taucht nur in einem Nebensatz in der Schilderung des letzten Tages auf, auch später hat sich Dönhoff nicht auf diese Gleichzeitigkeit eingelassen. Sie schildert einen unsentimentalen Abschied von ihrer Jugend, von weiten Himmeln und endlosen Alleen, von Sonnenblumen, Regenwolken über leeren Stoppelfeldern, Kopfsteinpflaster, Kranichen und Kornblumen. Abschied von einer überschaubaren, streng hierarchisch geregelten Welt, in der ihre Familie sechshundert Jahre gelebt hatte, Abschied von einem Schloss mit fünfzig Sälen und Zimmern, beim Einmarsch der Russen durch Feuer vollkommen zerstört, hineingerissen „in jenes große Chaos, in dem freche Anmaßung, bedenkenlose Brutalität verbrämt mit phantastischen Illusionen zu schlichter Kopflosigkeit und entwaffnender Unfähigkeit geworden waren“, wie Dönhoff kurz vor ihrem Tod schrieb. 1964 veröffentlicht sie ihre Erinnerungen an Ostpreußen und den Bericht über ihren lebensgefährlichen Ritt nach Westen, allein durch den eisigen Winter 1945, quer durch das kriegszerstörte Deutschland, hinter ihr die Rote Armee. Zwei Jahre vor ihrem Tod erlebte Dönhoffs Buch seine einunddreißigste Auflage. (Bourg-Lastic, Frankreich, Sommer 1941) Da ich ein sorgsam und geradezu verzweifelt verhätscheltes Kind war, erhielt ich nur durch Zufall und oft erst im Nachhinein kurze Einblicke in das blutige Chaos, das mich umgab. So fand ich mich, ohne dass ich mich genau daran erinnere, mit vier Jahren in einem Lager wieder, in dem der französische Staat die Juden in der sogenannten freien Zone internierte, um sie an die Nazis auszuliefern. Das Lager befand sich in Bourg-Lastic, einige Kilometer von Vichy entfernt. Wir wurden im Morgengrauen aus einem kleinen Häuschen in einem Ort namens La Bourbole abgeholt. Meine Mutter hatte es geschafft, dass meine ältere Schwester Alisa noch knapp entkommen konnte (sie war aus dem Fenster gesprungen), bevor sie den Befehlen Folge

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leistete und unter strenger Bewachung mit meiner jüngeren, zwölfjährigen Schwester und mir das Haus verließ. Ich war noch ganz verschlafen. Als die Polizei „bei uns“ eingedrungen war, hatte sie mir „Liebling“ ins Ohr geflüstert und behutsam ihre Hand auf meine Wange gelegt, damit ich mich nicht erschrecke. Diese zärtliche Geste habe ich später nie mehr von irgend jemandem ertragen, noch nicht einmal von ihr. Sie verursacht bei mir regelrechte Übelkeit. Kaum waren wir in Bourg-Lastic interniert, klärte Martha alle Leute, mit denen sie Kontakt hatte und die ihren Ohren nicht trauten, umgehend über das endgültige Ziel der Reise auf. Die französischen Polizisten wiesen diese Dame, die wahrlich nicht auf den Mund gefallen war, zurecht und drohten ihr mit dem Schlimmsten. Aber was hätte schlimmer sein können als der Tod, den sie vorhersagte? (André Glucksmann, Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens)

Der Philosoph André Glucksmann, geboren 1937 in Paris und damit nach dem ius soli Franzose, von seinen österreichischen Eltern Joseph genannt (nach Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“, wie mir Martha erzählte, was ihn aber nicht hinderte, ihr zu unterstellen, einen anderen Joseph gemeint zu haben, Stalin nämlich) entging durch die Courage seiner Mutter der Deportation. Die Behörden beschlossen, das schwarze Schaf und seinen Nachwuchs von der Herde zu trennen, bevor im Lager eine Panik ausbrach. Die Familie tauchte in einem kleinen Haus in der Gegend von Lyon unter. Der kleine Joseph Rivière – so hieß er nun – hielt sich mit fünf Jahren bereits an die Regeln der Tarnung unter dem Kriegsrecht. Der Vater war 1940 umgekommen, die Mutter in der Résistance, rundherum verschwanden immer mehr Leute, er verstand, dass träumerische Unachtsamkeit lebensgefährlich war. Als es brenzlig wurde, brachte ihn Martha im katholischen Waisenhaus Croix-Fleurie unter, wo das Kind zu einem Chorknaben mutierte, der fleißig ministrierte und seine Umwelt mit zahlreichen Kreuzeszeichen und dahingenuschelten AveMarias für sich einzunehmen verstand. Viel später wurde Glucksmann klar, dass sich weder der Pfarrer noch die Nonnen über seine zweifelhafte Herkunft täuschen ließen. Nach CroixFleurie steckte Martha ihren Sohn in ein Spital, auch dort spielte er seine Rolle als Kranker tadellos, und das Personal spielte mit. Südfrankreich war das Zentrum der Résistance. Niemand kann sagen, wie viele Gruppen es gab, aber so riskant es war, sich in die widerständigen Netzwerke zu begeben, sie waren eine Überlebensstrategie. Kinder lernen rasch, ein Leben im Untergrund zu führen, wenn rundherum die Werwölfe heulen. Glucksmann hatte eine Mutter, die geübt war in Konspiration und sich keiner Täuschung über die Absichten der Nazis hingab. Aber genauso gut hätte es schiefgehen können. Martha Glücksmann, spätere Kessler, ging einige Jahre nach Kriegsende nach Wien zurück. Sie war schon eine ältere Frau, so schien sie mir damals, und ich ein kleines Mädchen, als sie in mein Leben trat. Ihr Sohn Jojo, ihr Liebling, konnte sie nicht in Frankreich halten. Sie litt unter der Trennung sehr, immer. Zu meinem 13. Geburtstag schenkte sie mir Heines „Buch der Lieder“. Ein Buch für das Leben, sagte sie.

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(Brioude, Frankreich, Herbst 1941) Natürlich wusste mein Vater nichts von den bevorstehenden Deportationen oder gar von der Endlösung, aber gewarnt durch die Verhaftung ausländischer Juden und durch die massiven Razzien vom Mai, August und Dezember 1941 in der besetzten Zone, war er von den düstersten Vorahnungen erfüllt. Seine drei Kinder zu retten war seine Hauptsorge. Erst später habe ich das richtig verstanden. Allein, im hintersten Teil des Gartens, hatte er in mehreren Nächten ein tiefes, unterirdisches Versteck gegraben, in dem wir bei Alarm Zuflucht finden sollten. Eines Tages  – oder vielmehr eines Nachts  – begann die Einübung. Wenn es an der Zeit war, schlafen zu gehen und in den Pyjama zu schlüpfen, blieb unser Vater bei uns und brachte uns bei, unsere Kleidungsstücke in genau der Reihenfolge hinzulegen, in der wir sie wieder anziehen würden. Wir wussten, dass das Läuten der Türglocke uns aus dem Schlaf reißen würde, dass wir fliehen müssten, als ob die Gestapo plötzlich vor dem Haus stünde. Diese Übungen fanden unregelmäßig statt, auch der Zeitpunkt des jähen Gewecktwerdens wechselte, aber das Training zahlte sich aus: Wir erreichten absolute Geschwindigkeitsrekorde und wurden jedes Mal schneller. (Claude Lanzmann, Der patagonische Hase)

Das große Thema von Claude Lanzmann ist der Tod und das Leben, das über dem Erfahrungshorizont des Todes aufsteigt. Geboren 1925 in Paris – der Großvater stammte aus Weißrussland und kämpfte ebenso wie der Vater im Ersten Weltkrieg für Frankreich  –, schloss sich Lanzmann 1943 der Résistance an. Für einen Juden war der Widerstand die beste Möglichkeit, sich zu schützen. Man war nicht ohnmächtig, man hatte eine Chance, alles war besser, als in einer Razzia eingefangen und verschleppt zu werden. Er spürte, dass „irgendwo weit weg im Osten etwas Schlimmes geschehen musste. Aber von daher auf die systematische Vernichtung der Juden zu kommen, das überstieg den Verstand. Dafür gab es kein Beispiel.“ 1985, nach zwölfjähriger Arbeit, brachte Lanzmann den Film heraus, der wie nie zuvor und danach die Judenvernichtung dokumentiert: Shoah, hebräisch: Großes Unheil. Der Begriff taucht in der Bibel mehrfach auf und kann eine Katastrophe, ein Erdbeben, einen Orkan bedeuten, aber erst seit Lanzmanns Film wurde er zum Eponym, zum Namen eines einmaligen, unnennbaren Geschehens. Der Film ohne Leichen, ohne Archivbild, eine Kette von Orten, Namen und Zeugen der Tötung eines Volkes verstört und verfolgt seither jeden in dunklen Träumen und Nächten, der sich ihm aussetzt. Viele verweigern sich, es ist ihnen nicht zu verdenken. Viele empören sich über die neutralen, objektiven, beinahe unbeteiligten Stimmen der Zeugen ebenso wie über ihre Gefühle und Tränen, über die sachliche Beharrlichkeit, mit der Lanzmann seine Fragen stellt. Das Thema des Films ist die Vergegenwärtigung der entsetzlichsten aller Reisen, die Ungläubigkeit über das endgültige Schicksal bis zum letzten Atemzug, das man sich nicht vorstellen kann, die Radikalität des Moments, wenn es keine Rettung mehr gibt, der Kampf ums Leben, um eine Sekunde länger zu atmen, das Niewiedergutzu-

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machende. Der Tod ist ein Skandal, sagt Lanzmann, und selbst die, die wissen, dass ihnen der Tod sicher ist, wollen um jeden Preis leben, weil die ganze Welt lebt. Es gibt nur das Leben. (Hollywood, Kalifornien, Dezember 1941) Renault: Rick, there are many exit visas sold in this café, but we know that you never sold one. That is the reason we permit you to remain open. Rick: I thought it was because we let you win at roulette. Renault: That is another reason. There is a man who’s arrived in Casablanca on his way to America. He will offer a fortune to anyone who will furnish him with an exit visa. Rick: Yeah? What’s his name? Renault: Victor Laszlo. Rick: Victor Laszlo? Renault: Rick, that is the first time I have ever seen you so impressed. Rick: Well, he succeeded in impressing half the world. Renault: It is my duty to see that he doesn’t impress the other half. Rick, Laszlo must never reach America. He stays in Casablanca. Rick: It’ll be interesting to see how he manages. Renault: Manages what? Rick: His escape. He escaped from a concentration camp and the Nazis have been chasing him all over Europe. Renault: This is the end of the chase. Rick: Twenty thousand francs says it isn’t. (Casablanca, Continuity Script)

Am 8. Dezember 1941, als Pearl Harbor bombardiert wurde, erhielten die Warner Brothers Post, ein unveröffentlichtes Theaterstück von Murray Burnett und Joan Alison: „Everybody Comes to Rick’s“. Der zuständige Drehbuchleser Stephen Karnot bewertete es als anspruchsvollen Kitsch, aber einer der Produzenten von Warner, Hal B. Wallis, kaufte den Stoff für eine unüblich hohe Summe, 20.000 Dollar. Ende Dezember änderte er den Titel in „Casablanca“. Das war ein exotischer Schauplatz, was sehr in Mode war, aber welche Geschichte dort überhaupt spielen sollte, war niemandem klar. Zunächst plante Wallis, ein B-Movie daraus zu machen, mit Ronald Reagan in der Rolle des Rick, bis ein Mitarbeiter hinwies, dass sie Humphrey Bogart auf den Leib geschrieben war. Bogart hatte sich einen Namen als Darsteller von harten Burschen mit weichem Kern gemacht, und die schlechte Laune, die er in „Casablanca“ vor sich herträgt, war nicht gespielt, denn er war – wie auch der Rest der Truppe – überzeugt, der Film werde ein totaler Reinfall. Er wurde zum populärsten Propagandafilm aller Zeiten. Ein Script existierte nicht. Mehrere Autoren arbeiteten an dem Stoff, bis die letzte Klappe fiel. Bis heute gibt es nur das Continuity Script, den Text, der tatsächlich im Film gesprochen

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wurde. Viele Dialoge wurden immer wieder umgeschrieben, manchmal improvisiert, während die Kamera lief. Die letzten Sätze entstanden erst im Tonstudio. Die Brüder Julius und Philip Epstein schrieben eine erste Fassung, Howard Koch arbeitete sie um. Wallis, Bogart und der Regisseur Michael Curtiz schrieben mit und erfanden einige der denkwürdigsten Sätze. Ingrid Bergman wusste bis zum Schluss nicht, wie die Geschichte ausging und wen sie nun eigentlich lieben sollte, Paul Henreid oder Humphrey Bogart. Aber „Casablanca“ ist, wie Umberto Eco einmal gesagt hat, nicht nur der Kultfilm schlechthin. Er ist der Inbegriff von Kino. Der Film vereinigt alle Genres, er ist eine Abenteuergeschichte, ein film noir, eine Satire, ein Melodram, ein Thriller. Gesinnungskino mit makelloser Technik, großartigen Schauspielern und einer Regie, die vergessen lässt, dass die Story an den Haaren herbeigezogen ist. Seine Kraft und Emotion schöpft der Film aus seiner politischen Botschaft. Noch heute holen die Menschen tief Luft, wenn in Rick’s Café Américain zwischen Amerikanern, Franzosen, Tschechen und Flüchtlingen aus halb Europa eine Antinazi-Koalition geschmiedet und mit der Marseillaise gegen die Wacht am Rhein angesungen wird. „Casablanca“ ist Hollywoods Antwort auf Pearl Harbor und Leningrad. Ein Jahr später, im Jänner 1943, trafen sich Roosevelt und Churchill auf der Konferenz von Casablanca und beschlossen die Landung der Alliierten auf Sizilien. Damit erhielt der Film, an dessen Erfolg niemand glaubte und dessen Start immer wieder verschoben wurde, eine Extraportion Werbung. Im Februar 1943 kam er in die Kinos. Wenige Tage zuvor war die Schlacht von Stalingrad zu Ende gegangen. (Duluth, Minnesota, Mai 1941) Better stay away from those That carry around a fire hose Keep a clean nose Watch the plain clothes You don’t need a weather man To know which way the wind blows. (Bob Dylan, Subterranean Homesick Blues)

Am 24. Mai 1941, vier Wochen vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, wurde Bob Dylan als erstes Kind von Abraham Zimmerman und seiner Frau Betty in Duluth, Minnesota, geboren. Seine Großeltern waren jüdische Immigranten, die nach der niedergeschlagenen russischen Revolution von 1905 aus Odessa in die USA geflüchtet waren. Sechzig Jahre später brachte Dylan den „Subterranean Homesick Blues“ heraus, bis heute ein Schlüsselwerk seiner skeptischen Generation. Und das erste und wahrscheinlich beste Musikvideo der Geschichte, gedreht in einer Allee hinter dem Londoner Savoy-Hotel. Es sieht dort heute noch so aus wie 1965, als D.A. Pennebaker den Song für seinen Dylan-Film „Don’t look back“ aufnahm. Kurz zuvor war Winston Churchill gestorben. Wenn ich in London bin, gehe ich ins Savoy auf einen

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Tee. Hier pflegte Churchill während des Krieges häufig den Lunch einzunehmen. Ohne ihn wäre ich nicht auf der Welt.

Quellen und Literatur Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Wien 1952. Donald A. Prater: Stefan Zweig. Das Leben eines Ungeduldigen, Frankfurt a. M. 1984. Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Frankfurt a. M. 1966. Nelson Mandela: Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt a. M. 1997. Alexander Werth: Rußland im Krieg 1941–1945, München 1965. Marion Gräfin Dönhoff: Namen die keiner mehr nennt. Ostpreußen – Menschen und Geschichte, München 1964. André Glucksmann: Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens. Erinnerungen, München 2007. Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen, Reinbek  2010. Jonathan Coe: Humphrey Bogart. Take it & like it, London 1991. www.godamongdirectors.com/scripts/casablanca.pdf. www.youtube.com/watch?y=-J402-nsFBA.

Josef Weidenholzer

Querdenken als forschungsleitendes Prinzip Gerhard Botz und der Versuch einer sozialwissenschaftlichen Wendung der Geschichtswissenschaft Diesen Vortrag1 zu halten ist für mich eine große Ehre und eine große Herausforderung. Eine Ehre, weil er von Gerhard Botz, einem Historiker von europäischem Rang, handeln soll, mit dem mich zudem eine jahrzehntelange Freundschaft verbindet. Eine Herausforderung, weil ich kein Historiker bin und daher nicht über die internen Befindlichkeiten der Disziplin Bescheid weiß und wohl auch nicht befugt bin, den Entwicklungsstand des Faches zu qualifizieren. Mein Fach ist die Sozialpolitik. Meine Disziplin ist damit beschäftigt, das zu reparieren, was andere Disziplinen – insofern deren Prinzipien verabsolutiert und dogmatisch verengt zur Anwendung kommen – kaputt machen. Die Sozialpolitik wurde so in den letzten beiden Jahrzehnten zum Reparaturbetrieb der gesellschaftlichen Folgen der in ihrer Methodik neoklassisch und ihrer ideologischen Ausrichtung neoliberal gewendeten Nationalökonomie. Mein Interesse an der Geschichte ist nicht zuletzt aus diesen Gründen wieder erwacht. Vor allem aber auch als Politiker bin ich besorgt darüber, ob sich nicht manches zu wiederholen beginnt. Dieses durchaus praktische Interesse an Geschichte war es auch, das mich Anfang der 1970er-Jahre an das Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte und das mit ihm eng verzahnte Ludwig Boltzmann-Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung an der damaligen Hochschule für Sozial -und Wirtschaftswissenschaften, der heutigen Johannes-KeplerUniversität in Linz, brachte. Seit dieser Zeit war ich in engem Kontakt mit Gerhard Botz, zunächst als Student, später dann als Kollege und Zimmergenosse am Institut. Die 1970er-Jahre waren Jahre der Veränderung und des Wandels. Hätte sich eine neu gegründete Hochschule wohl bessere Startbedingungen wünschen können? Bevor ich zum eigentlichen Kern meines Beitrags komme, der Frage, wie es zur sozialwissenschaftlichen Wendung der österreichischen Geschichtsforschung, insbesondere der Zeitgeschichte kam und welchen Anteil Gerhard Botz daran hatte, darf ich es nicht verabsäumen, die damalige Situation kurz zu skizzieren. Österreich befand sich dank des neuen Schwungs, der mit Kreisky in die gemächlich vor sich hin treibende Politik Einzug gehalten hatte, in einer Aufbruchsstimmung. Das Neue setzte sich gegen das Alte und das Originelle gegen das Einfallslose durch. Zumindest schien 1 Vortrag anlässlich der Eröffnung der neuen Räume des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft am 18.3.2011. Bei dieser Gelegenheit stand der 70. Geburtstag von Gerhard Botz im Mittelpunkt. Ich habe die ursprüngliche Form der Rede beibehalten und nur sehr spärliche Korrekturen vorgenommen.

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es so. Alles war offen, fest gefügte Strukturen begannen zu zerbröseln. Autoritäten wurden kritisch hinterfragt, um dann zumeist als unnötig und überflüssig empfunden zu werden. Der Regent dieser Jahre war die Studentenbewegung, in Österreich vielleicht weniger ausgeprägt als in anderen westeuropäischen Staaten, in Linz mit Sicherheit wirksamer als an anderen österreichischen Hochschulen. Auf besondere Sympathie stießen die kritischen Studierenden beim akademischen Mittelbau, der am meisten an der autoritären OrdinarienUniversität zu leiden hatte. Auch das unter der Führung von Herta Firnberg stehende, neu gegründete Wissenschaftsministerium war an einer Demokratisierung und Modernisierung der Universitäten interessiert. Die Ministerin nahm daran persönlichen Anteil, auch in Linz. Die Linzer Hochschule war eine der ersten Neugründungen nach dem Zerfall der Monarchie und sollte sich nach dem Willen ihrer Gründer vor allem der Förderung der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften annehmen. Diesem Anspruch wurde sie zum Teil auch gerecht. Die Soziologie, vertreten durch Erich Bodzenta, Jakobus Wössner und Friedrich Fürstenberg, geriet sehr bald in den Strudel der Studentenbewegung und verlor sich in den für diese Zeit typischen Auseinandersetzungen. Profil konnte sie nur im Bereich der Industriesoziologie erwerben, ansonsten blieb sie beliebig. Und doch war es möglich, davon zu profitieren, wenn man nur daran interessiert war. An der Linzer Hochschule gab es auch „Orchideenfächer“, wie sie Jahrzehnte später einmal ein Mitglied der österreichischen Bundesregierung zu bezeichnen beliebte. Ein solches war das Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, von den Granden der jungen Hochschule gerne als Nebenfach abqualifiziert, randständig also und skeptisch beäugt. Vor allem von jenen, die der aufstrebenden oberösterreichischen Industrie nahestanden und meinten, künftige Führungskräfte müssten vor allem über exzellente Kenntnisse in Marketing verfügen. Geschichtskenntnisse hatten da keine Relevanz. Die Linzer Zeitgeschichte wurde von Karl R. Stadler2 vertreten, der leider heute weitgehend vergessen ist. Stadler war ein prononcierter Sozialdemokrat, eine Zeit lang Rektor des neu geschaffenen Renner-Instituts und wurde damit beauftragt, in Linz das Ludwig Boltzmann-Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung aufzubauen. Über so manches Projekt, das aus dem Umfeld dieses Instituts hervorging, wird heute noch zu reden sein. Stadler war aus der englischen Emigration zurückgekehrt und brachte einen neuen, unüblichen Stil an die junge Hochschule. Seine Mitarbeiter, zu denen Gerhard Botz, Hans Hautmann, Helmut Konrad und dann später ich zählten, fanden ideale Arbeitsbedingungen vor. Wir waren ein wirkliches Team, es herrschte ein Geist der Toleranz und der Wertschätzung, um den uns viele Kollegen beneideten. Wir mussten nicht für unseren Chef „ghostwriten“, wie das damals gang und gäbe war, wir wurden gefördert, wann immer wir danach verlangten, und es wurde vor allem diskutiert. Rund um die Uhr. Wir wetteiferten um neue Ideen und Projekte und waren davon getrieben, Neues zu entdecken, weiße Flecken in der Landkarte der 2 Vgl. Helmut Konrad (Red.): Geschichte als demokratischer Auftrag. Karl R. Stadler zum 70. Geburtstag, Wien / München / Zürich 1983 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung).

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Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung zu beseitigen. Und vor allem fanden wir auch ein Publikum. Die diversen Publikationen, die alle im Europa-Verlag erschienen, hatten teilweise beträchtliche Auflagen und fanden ihren Weg in die außeruniversitären Bildungseinrichtungen. Es galt eine Welt, die eine Generation zuvor von den Faschisten zerstört worden war, wiederzuentdecken und zu verstehen, warum und wie so etwas überhaupt geschehen konnte. Das Linzer Institut war aber nicht nur an der eigenen Universität randständig, sondern auch in der damals noch wenig etablierten österreichischen Zeitgeschichtsforschung. Sich mit Zeitgeschichte zu beschäftigen bedeutete in den 1970er-Jahren ein nicht kalkulierbares Risiko. Der Schrecken des Vergangenen war noch allgegenwärtig. Im Wirtschaftswunderland schien der glücklich zu werden, der vergessen konnte. Allzu leicht würde der mühsam und teilweise mit viel Selbstverleugnung und dem unbeugsamen Willen zur Beschönigung zusammengekittete Konsens infrage gestellt. Die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit geschah entlang der Interpretationslinien, welche die beiden politischen Lager der Zweiten Republik und einstigen Kombattanten, Schwarz und Rot, gezogen hatten. In großkoalitionärer Eintracht näherte man sich in der von Rudolf Neck und Adam Wandruszka geleiteten „Wissenschaftlichen Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1927 bis 1938“ den strittigen Fragen und versuchte einen Grundkonsens herzustellen. An den Universitäten selbst wich man diesen Fragestellungen weitgehend aus. Lediglich das Wiener Institut für Zeitgeschichte hatte unter Ludwig Jedlicka ein eigenständiges Profil entwickelt. Später gesellten sich die wiedergegründete Universität Salzburg und eben Linz dazu. Die Rolle, die man von Linz erwartete, bestand vor allem auch darin, die sozialdemokratische Position besser zu akzentuieren. So weit meine vielleicht vereinfachende Sichtweise der Ausgangsposition. Ich möchte diese Simplifizierung noch ein paar Sequenzen lang fortführen. Die Zeitgeschichtsforschung war zu diesem Zeitpunkt jedenfalls unterentwickelt, man räumte ihr weder den gebührenden Platz in der Öffentlichkeit ein, noch stattete man sie mit den erforderlichen finanziellen und materiellen Ressourcen aus. Diesem unbefriedigenden Zustand entsprach auch das methodische Selbstverständnis. Das Fach kaprizierte sich auf die Darstellung von Ereignissen, rekonstruierte Ereignisketten und hatte vorrangig Staatsaktionen im Visier. Die Disziplin richtete ihren Fokus auf den Staat beziehungsweise seine Repräsentanten als zentrale historische Akteure, im Mittelpunkt standen Personen, deren Handeln aufgrund ihrer jeweiligen Positionen im formalen Macht- und Herrschaftsgefüge erklärbar war. Sozialstrukturelle Aspekte spielten so gut wie keine Rolle, mitunter kamen milieuorientierte Deutungsversuche zum Tragen, die zumeist eine kulturphilosophische Färbung aufwiesen. ‚Nebendarsteller‘ wurden als solche abgehandelt, im Zentrum standen die großen Männer an den Schalthebeln der Macht. Auch Nebenschauplätze, Regionen und Lebensbereiche, das Periphere generell wurden vernachlässigt. Dies zu erforschen, überließ man Kollegen aus der „Provinz“. Von Frauen war überhaupt nicht die Rede.

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Für theoretische Erklärungsversuche hatte man wenig übrig, es zählten die Fakten, die häufig nichts anderes als Artefakte der Herrschenden waren. Die Geschichte des Widerstandes etwa wurde, wie das in den ersten, bahnbrechenden Darstellungen von Jedlicka und Stadler klar ersichtlich wird,3 auf der Basis der Dokumente verfasst, die von den Verfolgern selbst verfertigt waren und nicht der vorsätzlichen Vernichtung unterlagen. Was nicht aktenkundig war, existierte nicht. Dieser wohlmeinende Positivismus, der die in den Kinderschuhen steckende Zeitgeschichtsforschung wohl vor dem Vorwurf der Parteilichkeit schützen sollte, erschwerte freilich die Anschlussfähigkeit des Faches an die sich zunehmend fundamental kritisch gerierende Sozialwissenschaft, die sich exakt für das Gegenteil interessierte: für die sozialen Strukturen hinter den handelnden Personen, für die Menschen hinter den Mächtigen, für das Periphere, das Provinzielle, das ‚Gemeine‘ und ‚Niedere‘. So, wie sich Sozialwissenschafter Autoritäten gegenüber kritisch gebärdeten, waren sie es auch gegenüber den Quellen der zeitgeschichtlichen Forschung. Den Positivismus verabscheute man und es tobte eine heftige Auseinandersetzung, die vor keinem soziologischen Seminar haltmachte: der Werturteilsstreit. Für die meisten von uns war es durchaus wissenschaftlich, normativ an die Dinge heranzugehen. Theoriegeleitete Forschung wurde zum ultimativen Maßstab. Historiker freilich, zumindest jene, die sich mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigten, wollten auf der Basis der Aktenlage ihre Geschichten erzählen. Soziologen hingegen waren an der großen Geschichte interessiert, in die man die Fakten einbetten konnte. Die große Geschichte, die umfassende Theorie sollte die Erscheinungen in ihrer Totalität einfangen und vor allem die Welt verändern, gemäß dem Motto des wiederentdeckten Marx, wonach es nicht ausreiche, die Welt verschieden zu interpretieren. Eigentlich grundsätzlich unterschiedliche Ansätze: hier die Geschichte, die sich in streng positivistischer Manier bereits abgeschlossenen Vorgängen und Prozessen, die freilich noch in der Erinnerung der Zeitgenossen präsent und damit auch Gegenwart waren, zuwendete, dort die Soziologie, die sich hochmögend daranmachte, die Zukunft gestalten zu wollen, weil sie die kritische Analyse der Erscheinungen des Spätkapitalismus dazu verpflichtete. Trotz dieser konträren Ausgangsposition gab es auch Gemeinsamkeiten. Beide Disziplinen beschäftigten sich mit dem Zeitfaktor, mit dem Phänomen des Wandels und der Veränderung. Das technokratische Selbstverständnis der Sozialwissenschaften in der damaligen Zeit war vorrangig gegenwartsorientiert. Die an der Linzer Hochschule dominanten Betriebswirte dachten den Betrieb als einen geschlossenen Regelkreis, dessen Effizienz man steigern musste, und manche Volkswirte, ausgenommen jene um Kurt Rothschild, waren auch damals schon für ihren Modellplatonismus bekannt. Sowohl der Geschichte und noch mehr der Soziologie sprach man beruflichen Nutzen ab. Warum sollte ein angehender Manager über die europäische Geschichte Bescheid wissen. Erst viel später erkannte man, damit einen großen Fehler begangen zu haben, als man nämlich 3 Ludwig Jedlicka: Der 20. Juli 1944 in Österreich,Wien 1965 (Sammlung Das einsame Gewissen, 2); Karl R. Stadler: Österreich 1938–1945 im Spiegel der NS-Akten, Wien / München 1966 (Sammlung Das einsame Gewissen, 3).

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entdeckte, wie jämmerlich sich so mancher Absolvent auf internationalem Parkett ausmachte, wenn es beim Small Talk genau um jene Kenntnisse ging. Ein gemeinsamer Feind schafft Gemeinsamkeiten, auch bei jenen, die eigentlich nichts Gemeinsames miteinander haben. So auch in unserem Fall. Die Überschaubarkeit des Betriebes an der jungen Hochschule und die Enge des Campus brachten es mit sich, dass man sich für einander zu interessieren begann. Neugierde überwand die mit viel Aufwand hochgehaltenen Fachgrenzen. Gerhard Botzs Beitrag zu einer sozialwissenschaftlichen Wendung der österreichischen Zeitgeschichtsforschung hat hier seinen Ursprung. Er nutzte wie niemand anderer die günstigen Umstände, verwickelte die Vertreter der Sozialwissenschaften in stundenlange Gespräche, besuchte Seminare und Vorträge und eignete sich Kenntnisse in der Datenverarbeitung an. Die Situation glich einem Steinbruch, wo er sich ungehemmt sozialwissenschaftlicher Theorien und Methoden bedienen konnte, um die Basis für ein neues Fachverständnis zu legen. Was Botz damals praktizierte, war keinesfalls blinder Eklektizismus, wie er manchmal bei enthusiasmierten Laienforschern vorkommt. Vielmehr war es im Einklang mit einem kritischen Verständnis von Sozialwissenschaft, das der leider zu Unrecht vergessene amerikanische Soziologe C. Wright Mills in seinem Klassiker „Kritik der soziologischen Denkweise“ als soziologisches Denkvermögen folgendermaßen skizzierte: Denn dieses ist die Fähigkeit, von einer Sicht zur anderen überzugehen, von der politischen zur psychologischen; von der Untersuchung einer einzelnen Familie zur Einschätzung staatlicher Haushaltspläne; vom theologischen Seminar zu militärischen Einrichtungen; von Betrachtungen über die Ölindustrie zu Untersuchungen der zeitgenössischen Lyrik. Es ist die Fähigkeit, von völlig unpersönlichen und fernliegenden Veränderungen zu den intimsten Zügen des menschlichen Wesens gehen zu können […].4

Auf diese Weise wäre es nach Mills möglich, „Geschichte und persönlichen Lebenslauf und ihre Verbindungen in der Gesellschaft zu erfassen“. Ich weiß nicht, ob Gerhard Botz je über diese Passagen gestolpert ist, aber er hat genau dieses soziologische Denkvermögen praktiziert und die Zeitgeschichtsforschung auf diese Weise bereichert. Wer aber war Botz zu jenem Zeitpunkt? Damals war er Assistent am Linzer Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte bei Karl R. Stadler, Aktivist in der Mittelbauvertretung, leidenschaftlicher Forscher und Teilnehmer an den vielen Debatten, die das Campusleben beherrschten. Man musste viel Zeit haben, wenn man sich mit ihm auf eine Diskussion einließ. Damals gab es viele, die das gerne taten. Ich gehörte auch dazu. Erstmals begegnet bin ich ihm allerdings schon viel früher: Ende der 1950er-Jahre bei einem Konzert der Schärdinger Musikschule. Ich spielte Geige und kratzte „Üb immer Treu und Redlichkeit“ oder das „Ännchen von Tharau“. Recht viel weiter brachte ich es nicht. Gerhard, damals schon Maturant, gab den großen Pianisten. Das Stück und der Komponist sind mir 4 C. Wright Mills: Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied / Berlin 1963 (Soziologische Texte, 8), S. 44.

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nicht mehr geläufig, aber es war ein großer Auftritt. Ich habe diese Episode nicht erzählt, weil ich in Erinnerungen schwelgen will, sondern weil sie zwei Schlüsselelemente enthält. Gerhards Vielseitigkeit: Gerhard Botz hat sich nicht nur im Klavierspiel versucht, er absolvierte einen Lehrgang für Filmgestaltung an der Akademie für Musik und darstellende Kunst und an der Wiener Universität belegte er neben der Geschichte auch Geographie und Biologie. Gerhard Botz war und ist ein Vielleser, immer hinter Informationen her und an allem interessiert. Er ist einer der wenigen Menschen in der akademischen Landschaft Österreichs, die man als ‚Polyhistor‘ bezeichnen darf. Das alles wirkt sich natürlich auf einen Forscher aus. Niemals die Dinge nur mit einer Brille zu betrachten und mit einer Methode zu analysieren, sondern sich ihnen aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern. Gerhard Botzs Einzigartigkeit besteht auch darin, dass er häufig die ungewöhnlichen Zugänge wählt und die ausgetretenen Pfade anderen überlässt. Zum ersten Mal wurde dieses Talent in seiner Dissertation über Gewalt in der Politik in der Ersten Republik sichtbar, als er den Ablauf der Ereignisse des 15.Juli 1927 zu rekonstruieren versuchte. Das Wochenmagazin „Die Zeit“ hat ihn wegen der von ihm gewählten Methode „den Schattenvermesser“ genannt.5 Ein zweites zentrales Element der von mir erzählten Anekdote ist der Ort der Handlung: Schärding. Gerhard Botz wurde in eine kleinbürgerliche Familie hineingeboren. Der Vater fiel im Krieg – erst spät sollte sich Gerhard damit auseinandersetzen –, die alleinerziehende Mutter arbeitete beim dortigen Bezirksgericht. Vielleicht rührt daher seine Skepsis gegenüber Akten als alleiniger Quelle historischer Forschung. Die Kleinstadt Schärding liegt im oberösterreichischen Innviertel. Hier sind ‚einfache‘ Menschen zu Hause, die freilich nicht einfach sind. Eine Region, wo nach wie vor die Stimmung präsent ist, nicht (mehr) Bayern und (doch noch) nicht Österreich zu sein. Eine Region, die man vielleicht als das Irland Österreichs bezeichnen kann, wo Trinkfestigkeit und Standhaftigkeit zählen, das Raufen bis vor wenigen Jahrzehnten die einzige sportliche Betätigung der Jugend darstellte und ein atavistischer Gerechtigkeitssinn zu finden ist. Wo es Heilige vom Schlage eines Franz Jägerstätter gibt. Eine Region, die – wie das Beispiel des Schriftstellers Richard Billinger zeigt – anfällig für nationalsozialistische Blut und Boden-Ideologie ist, ohne freilich gänzlich in ihr aufzugehen. Eine Region, wo Nazis Sozialrebellen und Sozialrebellen Nazis sind und die Nazis so gar nicht so sind wie der berühmteste Sohn der Gegend, der im nicht weit entfernten Braunau Geborene. In so einer Gegend aufzuwachsen kann Menschen sensibel machen für die vielen Facetten des Nationalsozialismus. Gerhard Botz waren die vielen kritischen Fragen, anhand derer er sich immer wieder und wieder dem Phänomen des Nationalsozialismus näherte, gleichsam in die Wiege gelegt. Zwei zentrale Kernfrage seiner langjährigen Forschungstätigkeit blieben über Jahrzehnte hinweg bestehen: Wer waren die Nazis? und: Wieso war das alles möglich? Fragen, denen man sich in den 1970er-Jahren erst vorsichtig zu nähern begann. Zumeist be5 Werner A. Perger: Der Schattenvermesser, Historiker, Kriminologe, Bürgerkriegsforscher: Wie Gerhard Botz die Geschichte des Justizpalastbrandes rekonstruiert, Die Zeit 27 (28. Juni 2007), URL: http://www.zeit.de/2007/27/ Portrait-Botz (7. 6. 2011).

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antwortete man sie ideologisch, man könnte auch doktrinär sagen. Nazis waren Kleinbürger oder Bauern, Bourgeois natürlich, Klassenfeinde allemal. Und die Frage, warum es so weit kommen sollte, wurde gerne im Sinne der Dimitroff ’schen Faschismus-These beantwortet: „Der Faschismus ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“6 Man hätte auch sagen können, die Erde ist eine Scheibe. Gerhard Botz wollte sich damit nicht abfinden und ganz im Sinne C. Wright Mills’ weiter vordringen, sich dem Phänomen mit soziologischem Denkvermögen nähern. Damit war er nicht allein. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Karl R. Stadler, der während des Ständestaates mehrmals mit den Nazis in Konflikt geriet und deswegen nach dem ‚Anschluss‘ emigrieren musste. Auf die Frage, was in seinem Leben das Wichtigste gewesen wäre, antwortete er: „Dass ich als Favoritener Arbeiterkind das große Glück hatte, kein Nazi zu werden.“ Karl Stadler war dafür verantwortlich, dass um 1977 gemeinsam mit jungen Kollegen vom soziologischen Institut und dem IFES eine von der Oesterreichischen Nationalbank geförderte, großangelegte Studie zum Thema „Vergangenheitsbewältigung in Österreich“ durchgeführt werden konnte. Die Ergebnisse waren besorgniserregend und nahmen das vorweg, was heute Realität ist. Niemand wollte ihren Befund akzeptieren, wonach rechtsextreme Parteien in Österreich ein Potenzial von 20 bis 25 Prozent hätten. Auch das Ergebnis, wonach vor allem in der Exekutive eine auffällige Häufung derartiger Einstellungen aufträte, wurde von den Verantwortlichen als Panikmache abgetan. Man ignorierte unsere Schlussfolgerungen und negierte die Studie, so gut es ging.7 Gerhard Botz erging es ähnlich, wann auch immer er wieder seine bereits erwähnten Fragen stellte. Ich erinnere mich an erregte Auseinandersetzungen, als es darum ging zu diskutieren, warum im Gefolge der Niederschlagung des Februaraufstandes nicht wenige Sozialdemokraten zu den illegalen Nazis fanden. Da ging es ihm nicht darum, eine Nähe der Sozialdemokratie zum Nationalsozialismus zu konstruieren, das können nur Dummköpfe tun, vielmehr sollte die Beantwortung dieser Frage zur Beantwortung der Frage beitragen, warum das alles möglich war. Es ging darum, darzustellen, wie sich die Menschen damals in der konkreten Situation wirklich verhielten. Es ging natürlich auch um Komplizenschaft und um Mitschuld, ja um die Revision der großen Illusion, wonach Österreich in erster Linie Opfer gewesen wäre. Das alles war lange vor der Waldheim-Debatte, in der Gerhard Botz eine Schlüsselrolle zukommen sollte, das war lange vor Vranitzkys Schuldeingeständnis in der Knesseth. 6 Diese Definition prägte Dimitroff in seiner Rede: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampfe für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus, in: Protokoll des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Bd. 1–2, Moskau / Leningrrad 1935, Bd. 2, S. 985. 7 Institut für empirische Sozialforschung (IFES): Vergangenheits-Bewältigung oder Wie autoritär ist der Österreicher? Ein empirischer Bericht, 2 Teile, Wien 1978 (IFES-Bericht, 565/78). Vgl. dazu den Beitrag von Oliver Rathkolb in diesem Band sowie Josef Weidenholzer: Rechtsextreme und autoritäre Tendenzen im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung, in: Siegwald Ganglmair (Hg.): Rechtsextremismus in Österreich nach 1945, hg. v. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien ³1979, S. 392–404.

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Botz wollte seine Fragen nicht ideologisch beantworten, auch nicht auf der Basis moralischer Postulate, hier blieb er der positivistische Schattenvermesser. Empirische Untersuchungen sollten den Beweis liefern. In der Wahl der Methode blieb er kreativ, besessen arbeitete er an zwei Fronten gleichzeitig: ‚Quant‘ und ‚Qual‘. Der Einsatz der in den Sozialwissenschaften bereits üblichen elektronischen Datenverarbeitung sollte der Zeitgeschichtsforschung neue, auf der Basis von sozialstrukturellen Merkmalen generierte, ‚objektive‘ Quellen erschließen, die sich vor allem im Zeitverlauf auswerten ließen. War dies in den Augen vieler Historiker schon nahe an der Ketzerei, so schien der Einsatz von Computern vielen geradezu ein Sakrileg darzustellen. Gerhard Botz war in dieser Frage äußerst unsentimental, konsequent und visionär. Bei seiner Antrittsvorlesung an der Universität Salzburg im Mai 1981, zu einem Zeitpunkt, als vieles von dem, was wir heute an elektronischen Hilfsmitteln in unserer Arbeit benutzen, noch gar nicht vorstellbar war, beschrieb er, was er in dieser Hinsicht auf die Geschichtsforschung zukommen sah: Über Bildschirme eingegebene, elektronisch gespeicherte und ebenso übermittelte Daten könnten dann die schriftlich auf Papier fixierten Informationen der herkömmlichen Akten in ihrer Bedeutung stark reduzieren, allerdings können durch neu auftretende technische Möglichkeiten die Herstellung von immer massenhafter auftretenden Schriftsätzen und Kopien noch mehr begünstigen. Die technischen Medien Computer, Bildschirminformation und Tonband- beziehungsweise Videogeräte stehen heute bereits zur Verfügung.8

Die Verarbeitung von mithilfe der neuen Methoden generierter Daten gehörte fortan zum Markenzeichen Botz’scher Arbeiten. Der Staat und seine Institutionen, die bisher, wohl auch wegen der Fixierung der historischen Zunft auf die Evidenz des Geschehens in Verwaltungsakten, übermäßig ausgeleuchtet waren, gerieten als historische Akteure nun in den Hintergrund. Sie wurden gewissermaßen zu Exemplaren von Veränderungsprozessen, die sich auf der Makroebene der Gesellschaft und der Ebene ihrer sozialen Schichtung, der Sozialstruktur, ereigneten. Auf diese Weise kamen der Geschichtsschreibung die Helden und Schurken abhanden. Was die Fixierung auf die überragende Bedeutung von Personen bewirken kann, zeigte sich im Mitte der 1980er-Jahre tobenden deutschen Historikerstreit. Hier hatten vor allem Ernst Nolte und Joachim Fest versucht, den Nationalsozialismus auf einen Hitlerismus zu reduzieren. Für die Geschichtspolitik bedeutete dies die Befürchtung, auf diese Weise den Nationalsozialismus zu verharmlosen, indem man ihn zu einem singulären, sich auch nicht prozessartig wiederholbaren Vorgang kleinredete. Auf der anderen Seite bestand natürlich auch die Gefahr, dass eine gleichsam vom persönlichen Faktor gereinigte Geschichtsforschung das Fach in der 8 Gerhard Botz: Neueste Geschichte zwischen Quantifizierung und „Mündlicher Geschichte“, Überlegungen zur Konstituierung einer sozialwissenschaftlichen Zeitgeschichte von neuen Quellen und Methoden her, in: Konrad (Red.), Geschichte als demokratischer Auftrag, S. 13–36.

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öffentlichen Diskussion seiner Bedeutung berauben und es zu einer speziellen Soziologie herabstufen würde. Ich will hier nicht diese Diskussion nachzeichnen. Da gibt es besser Befugte. Gerhard Botz war sich dieser Problematik einer soziologischen Verengung bewusst. In Anlehnung und in engem Kontakt mit der Bielefelder Schule vertrat er mit Verve das Konzept der historischen Sozialwissenschaft. Sein 1982 gegründetes und zunächst an der Salzburger Universität beheimatetes Ludwig Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft verstand und versteht sich nach wie vor primär als ein historisches Institut. Auch wenn in alle Richtungen hin systematisch ausgewertete Daten zur Verfügung stehen und vieles zu erklären vermögen, so sind es dennoch die Individuen oder Gruppen von Individuen, die, Max Weber folgend, sinnorientiert handelnd Geschichte schreiben. Nicht nur jene freilich, die in den Akten vorkommen. Gerade die für die österreichische Geschichtspolitik so wichtige Frage des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus lässt das Dilemma erkennen: Oberste Devise für Menschen im Widerstand war es doch nicht, aktenkundig zu werden. Ein Dilemma für die Geschichtsforschung also, aus dem sie mit den herkömmlichen Methoden nicht wirklich herauskommen kann. Historiker und Historikerinnen, die mehr über den Widerstand erfahren wollen, werden auf diese Weise zu Sozialforschern und Sozialforscherinnen. Solange Zeitzeugen und Zeitzeuginnen noch leben, kann man sie zumindest noch interviewen Die Ergebnisse sind freilich subjektiv und haben auch ein schwindendes Erinnerungsvermögen zu berücksichtigen. Mit diesen Tücken hatte schon die bislang nolens volens praktizierte Akzeptanz autobiografischer Aufzeichnungen zu kämpfen.9 Die Oral History-Schule, der sich Gerhard Botz verpflichtet fühlte und zu deren Popularisierung in Österreich er entscheidend beitrug, versuchte das Dilemma offensiv zu lösen und setzte die Befragung von Zeitgenossen als pro-aktives Instrument ein. Die methodologische Neuorientierung der Zeitgeschichtsforschung, die Gerhard Botz maßgeblich beeinflusste, stand also auf zwei Beinen: „Quant–Qual“, und führte zu einem beachtlichen Qualitätszuwachs hinsichtlich der methodologischen Kompetenz und zu einer Erweiterung des Forschungshorizonts. Die Linzer Jahre, das an dieser Hochschule existierende Nebeneinander von Sozialwissenschaften und Zeitgeschichtsforschung, das er zu einer produktiven Synthese zu verknüpfen verstand, waren eine wichtige Voraussetzung für die mit der Gründung des Salzburger Boltzmann-Instituts einsetzende sozialwissenschaftliche Öffnung der Geschichtsforschung in Österreich. ‚Linz‘ brachte Gerhard Botz aber auch mit interessierten Laienforschern – dem Schrecken aller Archivare und professionellen Historiker – zusammen. Angelockt vom Thema und angeregt durch die jährlich mit der regionalen Arbeiterkammer durchgeführten „Internationa9 Vgl. Gerhard Botz, Josef Weidenholzer (Hg.) Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung, Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte „geschichtsloser“ Sozialgruppen, Wien / Köln 1984 (Materialien zur Historischen Sozialwissenschaft, 2).

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len Tagungen der Historiker der Arbeiterbewegung“ wurde das Institut zu einer Anlaufstelle für Interessierte. Insbesondere Peter Kammerstätter hatte umfangreiches Material zusammengetragen, indem er Hunderte Zeitzeugen zu historisch bedeutsamen Vorgängen wie dem 12.Februar 1934, der „Mühlviertler Hasenjagd“ oder der Widerstandstätigkeit im inneren Salzkammergut befragt hatte.10 Diese Vorarbeiten waren für Gerhard Botz der Anstoß für eine Reihe von Feldforschungen, beispielsweise im Ausseerland. Sie führten aber auch zu einer grundsätzlichen theoretischen und methodologischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, wie etwa im 1984 erschienenen Sammelband über „Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung“. Die Bilanz war durchaus kritisch und Gerhard Botz meinte in seinem Einleitungsbeitrag, dass es sich um ein „potentiell zweischneidiges Instrument“ handle, das den Missbrauch durch den Forscher oder die Forscherin nicht ausschließe. Dass ein korrekter Umgang mit dem Forschungsinstrument möglich ist, zeigte er mit einer Befragung der Auschwitz-Überlebenden Margareta Glas-Larson, die 1981 unter dem Titel „Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz“ erschienen ist. Diese Publikation erlangte internationale Aufmerksamkeit und trug viel zu einem besseren Verständnis von Überlebensstrategien in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern bei.11 Ein Verständnis, das sich auf traditionelle Weise nicht hätte herstellen lassen. Mit diesen beiden Publikationen endete die Linzer Phase endgültig. Die Johannes-Kepler-Universität Linz, wie sie damals bereits hieß, verließ Gerhard Botz bereits 1980, um einem Ruf an die Universität Salzburg als Nachfolger Erika Weinzierls zu folgen. 1997 folgte er ihr abermals nach und übernahm ihre Professur am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. In der österreichischen Geschichtswissenschaft wurde Gerhard Botz zu einer herausragenden Persönlichkeit. Den Grundstein dazu legte er in Linz, geprägt hat ihn die Atmosphäre einer kleinen Hochschule, an der das Fach Geschichte eine Nebenrolle spielte. Als mittlerweile große Universität vermissen wir diesen Geist der frühen Jahre. Interdisziplinarität wird immer weniger wertgeschätzt, weil sie bei den diversen Rankings nicht von Relevanz ist. Grenzüberschreitungen zwischen den Disziplinen lohnen sich für junge WissenschafterInnen nicht mehr. Mehr denn je wäre gerade dieses notwendig. Die auf die Spitze getriebene Spezialisierung einzelner Disziplinen hat in eine Sackgasse geführt, aus der wir nur schwer herauskommen werden. Gerade jetzt wäre aber eine neue Zusammenschau gefragt. Die Menschen verlieren den Überblick. Unsicherheit greift um sich. In dieses Vakuum stoßen jene, die mit einfachen Botschaften nur eines erreichen wollen, nämlich die Macht zu erlangen. Emotionen verdrän10 Vgl. Hubert Hummer, Reinhard Kannonier, Brigitte Kepplinger (Hg.): Die Pflicht zum Widerstand, Festschrift Peter Kammerstätter zum 75. Geburtstag, Wien 1986 (Veröffentlichung des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung). 11 Margareta Glas-Larsson: Ich will reden, Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz, hg. u. kommentiert v. Gerhard Botz, Wien et al. 1981.

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gen Argumente und das Wissen um die Geschichte verliert an Relevanz. Gerade jetzt aber wäre das Wissen darüber gefragt, warum damals, in den krisenhaften 1930er-Jahren, in vielen Teilen Europas die junge Demokratie zerbrach und warum sich die Menschen massenhaft den Zerstörern anschlossen. Es genügt nicht, wenn wir wissen, was wann geschah. Es geht um das Warum. Historische Sozialwissenschaft, wie sie Gerhard Botz vertritt, kann uns die notwendigen Informationen liefern. Im Linzer Entstehungszusammenhang spielte vor allem ein Element eine wichtige Rolle, nämlich die Fähigkeit, über das Fachpublikum hinaus Menschen für Geschichte zu interessieren. Nicht bloß als passive Konsumenten und Konsumentinnen, sondern auch als Forschende und als Beforschte. Menschen, die sich für Geschichte interessieren, verstehen auch die Gegenwart. C. Wright Mills’ Analyse, wonach „krankhafte Niedergeschlagenheit“ und „schleichendes Unbehagen“ und „Angst“ die Menschen von politischem Engagement abhalten, ist mehr denn je gültig. Um dies zu überwinden, brauchen die Individuen Perspektiven, in die sie ihr individuelles Empfinden einordnen können. Dies wäre eine wichtige Aufgabe von Sozialwissenschaft: Ohne Berücksichtigung der Geschichte und ohne historisches Verständnis psychologischer Fragen kann der Sozialwissenschaftler niemals diejenigen Probleme in den Griff bekommen, die heute im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses stehen sollten.12

Die historische Sozialwissenschaft und ihre nicht zuletzt dank Gerhard Botz in großer Fülle vorliegenden Ergebnisse bilden auf diese Weise eine unschätzbare und unverzichtbare Basis, auf der die notwendige Debatte über die überfällige Reform unserer politischen Konzepte ansetzen muss.

12 Mills, Kritik, S. 192.

Helmut Konrad

Von Linz aus Die Formierung der österreichischen Zeitgeschichte Ein Festschriftbeitrag für Gerhard Botz kann nicht einfach eine kleine Pflichtübung sein. Zu sehr waren und sind sein und mein Lebens- und Berufsweg verschachtelt, zu oft haben wir uns herzhaft (und laut) gestritten und zu sehr sind wir von einem gemeinsamen Umfeld, gemeinsamen Ersatzeltern und gemeinsamen Verantwortungen geprägt. Wenn ich gefragt werde, was mich im akademischen Leben so gelassen macht, wieso man mich nie laut erlebt und wieso mir alle Probleme und Konflikte lösbar erscheinen, so antworte ich oft, dass fast ein Jahrzehnt in einem gemeinsamen Arbeitszimmer mit Gerhard Botz zur Entwicklung eines absolut kratzfesten Hitzeschildes führen muss. Ob dies umgekehrt auch bei ihm der Fall ist, mag er selbst beurteilen, aber die Diskussionen, die spielerischen bis ernsten Debatten, die ideologischen Streitgespräche, die wir praktisch täglich führten, waren eine harte, aber gute Schule wohl nicht nur für mich. Das kleine Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, mit dem in Personalunion verbundenen Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung an der Universität Linz, an dem Gerhard Botz als erster Assistent eine Zentralfigur war, erhält retrospektiv für die Entwicklung des Faches Zeitgeschichte in Österreich eine Bedeutung, die zeitnah nicht zu erkennen war. In eine Zeit der prinzipiellen Veränderungen des akademischen Lebens (und des gesamten Werte- und Normensystems der Gesellschaft) hineingestellt, haben sich dort gesellschaftliche Prozesse exemplarisch verdichtet und konnten von dort als Ferment in die österreichischen Universitäten zurückwirken.

Der Beginn Obwohl „Zeitgeschichte“ in Österreich etwas älter ist als das Linzer Institut, kann man dieses der Gründergeneration zurechnen. Älter sind zwei zeitgeschichtliche außeruniversitäre Forschungsstätten, nämlich der Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (1959) und das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (1963). Das Salzburger Institut für kirchliche Zeitgeschichte am Internationalen Forschungszentrum Salzburg (1964) war zumindest an die Universität angebunden. Den ersten Lehrstuhl für Zeitgeschichte gab es schließlich 1966 an der Universität Wien. Aber schon 1968 folgte Linz. Die Generation der Gründer der österreichischen Zeitgeschichtsforschung hatte eine Zusammensetzung, aus der sich viel für die weitere Entwicklung ablesen lässt. Karl R. Stadler,

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Jahrgang 1913, ist davon der Älteste. 1938 als einer jener jungen Intellektuellen, die sich 1934, enttäuscht von der österreichischen Sozialdemokratie, nach links gewendet hatten, war er mit seiner Lebens- und Politikgefährtin, die zudem aus einer jüdischen Familie stammte, im letzten Augenblick den Nazis nach England entkommen. 1968 hatte er 30 Jahre im Exil verbracht. Als Historiker in Nottingham, der Labour Party verbunden, hatte er aber gute, ja enge Kontakte nach Österreich. Er unterrichtete an der Wiener Diplomatischen Akademie, und in seinem englischen Haus verkehrten viele prominente österreichische Sozialdemokraten, darunter Heinz Fischer. Die engsten Kontakte persönlicher Art verbanden ihn mit Christian Broda, was für die Zeitgeschichte noch wichtig werden sollte, Stadler übernahm 1968 die Zeitgeschichte-Professur in Linz. Ludwig Jedlicka stand von 1945 an auf der Gegenseite. 1916 geboren, war er bereits „Illegaler“, 1938 Mitglied der NSDAP und 1941 HJ-Stammführer. Nach 1945 war er allerdings einer der Gründer des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (das ganz den Allparteienanspruch erhob: Herbert Steiner für die KPÖ, Paul Schärf für die SPÖ, August Maria Knoll für die ÖVP und Ludwig Jedlicka zumindest als Verbinder ins „Dritte Lager“), und 1966 wurde er der Vorstand des neuen Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Deutlich jünger war Erika Weinzierl. 1925 in Wien geboren, studierte sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit und war sodann als Archivarin tätig. Nach der Habilitation 1961 wurde sie Leiterin des Instituts für kirchliche Zeitgeschichte (und blieb es bis 1992). 1967 wurde sie Professorin an der Universität Salzburg, um schließlich 1979 dem 1977 verstorbenen Ludwig Jedlicka am Lehrstuhl in Wien nachzufolgen. Sie war tief im katholischen Milieu verwurzelt, entwickelte sich aber, nicht zuletzt über ihre Forschungen, nach links. Jedlicka und Weinzierl waren Gegensätze, Stadler, der mit beiden konnte, das „Scharnier“ dazwischen. Jedlicka prägte Ernst Jagschitz, Karl Stuhlpfarrer, Anton Staudinger u.a., Stadler prägte Gerhard Botz, Helmut Konrad, Gabriella Hauch u.a., Weinzierl formte Ernst Hanisch und Rudolf Ardelt, der allerdings große Affinitäten zu Linz hatte und hat. Die erste Generation und ihre „Kinder“: das schaut nach einem klaren Familienstammbaum aus. Das ist es aber keinesfalls, er ist kein harmonisches Familienbild, das man eingerahmt über dem Kamin aufstellt. Da gibt es Brüche, da gibt es Spannungen, da gibt es innere Gegensätze und auch von außen hineingetragene Widersprüche. Zeitgeschichte vollzieht sich, deutlicher als die meisten anderen geistes- bzw. kulturgeschichtlichen Disziplinen, in einem politisch verdichteten Umfeld. Stärker als andere Fächer wird sie instrumentalisiert, protegiert oder behindert, jedenfalls aber in die aktuellen politischen Diskussionen gezogen, zumindest als Steinbruch zum Gewinn der Pflastersteine für politische (Totschlag-)Argumente. Die österreichische Politik war in den späten 1960-Jahren in einem großen Ausmaß „versäult“. Zwei Jahrzehnte große Koalition hatten zur Aufteilung von politischen Einflusssphären geführt, die jede, sogar jede private Aktivität politisch konnotierte. Man war dann eben

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Arbeiterfischer (was nicht bedeutet, dass man Arbeiter zu fischen hatte, wie ein Forellenfischer Forellen fängt), Naturfreund, Arbeiterradfahrer auf der Linken, und in spiegelgleichen Organisationen galt das für das christlich-konservative Lager. Wohnungen, Jobs, Studierendenheimplätze etc. wurden nach Parteibuch vergeben. Da kam es schon mal vor, dass eine politische Vorfeldorganisation (im mir bekannten Beispiel die sozialistischen Lehrer) regional mehr Mitglieder als Wähler hatten, weil die Anstellung in einer bestimmten Region und die Mitgliedschaft beim SLÖ, also den Sozialistischen Lehrern, direkt korrespondierten. Reste dieses Systems finden sich in Österreich bis heute, und sie reichen noch immer tief ins akademische Milieu. Bildungseinrichtungen der Parteien verfügen auch heute noch über nicht unbeträchtliche Mittel, und aus dem politischen Umfeld kommt großzügige Unterstützung von (durchwegs nicht evaluierter) Antrags- oder Auftragsforschung, die den akademischen Wettbewerb politisch verzerrt. Aber ohne Zweifel war das vor einem halben Jahrhundert deutlich ausgeprägter. Die Zeitgeschichte in Österreich war in ihren Anfängen vorerst vor allem österreichische Zeitgeschichte. Im überparteilich konstruierten, aber (durch die Zahl der Betroffenen) stark kommunistisch orientierten Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, trafen in dieser Gründungsphase Widerstandskämpfer und -kämpferinnen, Überlebende aus den Konzentrationslagern bzw. Emigranten und Emigrantinnen mit jenen jungen Forscherinnen und Forschern zusammen, die einerseits auf der Suche nach einer alternativen Familiengeschichte waren oder die anderseits aus der kleinen Zahl der Kinder der Opfergeneration, also der Kinder aus jüdischen Familien oder aber aus dem Widerstandsmilieu, stammten. Mit hohem Engagement wurde dort an der Bewahrung der Erinnerung an ein „anderes“ Österreich gearbeitet. Teile der damals jungen Forscherinnen und Forscher wurden hier geprägt, vor allem jene, denen die Suche nach dem „anderen“ Österreich nicht nur wissenschaftliches, sondern auch emotional-persönliches Anliegen war. An der Universität hingegen war Zeitgeschichte vorerst stark auf die Konfliktlinien der Ersten Republik fixiert. Das galt zumindest für die „offiziellen“, also als Zeitgeschichte benannten Einrichtungen. Zeithistorische Fragen wurden allerdings auch an anderen historischen Instituten und Abteilungen, wie etwa jenen der Osteuropäischen Geschichte oder der Wirtschafts- und Sozialgeschichte betrieben. Das reichte dann natürlich über Österreich hinaus. (So entstand meine Dissertation, die den kommunistischen Widerstand in der „Ostmark“ und im „Protektorat Böhmen und Mähren“ verglich, an der Osteuropäischen Geschichte mit dem Nebenfach Wirtschaftsgeschichte und dem Prüfungsstoff „Industry and Empire“ von Eric Hobsbawm, für jene Zeit ein außergewöhnliches Studienprogramm. Doch auch der Klagenfurter Zeithistoriker Willibald Ingo Holzer durchlief einen parallelen Bildungsweg.) Aber insgesamt dominierten innerhalb der „Zeitgeschichte“ die Republikgeschichte (jene der Ersten, noch nicht die der Zweiten) und jene des Widerstands und des Exils. 1918 bis 1945, das waren die Eckpunkte, Österreich (oder Österreicher und Österreicherinnen) der Gegenstand der Forschung.

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Erstaunlich ist vor allem, wie sehr der Monolith Auschwitz für Jahrzehnte den Blick auf den Ersten Weltkrieg verstellte, ein Krieg, dessen Aufarbeitung vorerst vollständig der Militärgeschichte überlassen wurde. Und die späte Monarchie hatten andere wissenschaftliche Fachdisziplinen (Kunstgeschichte, Musikwissenschaft oder Germanistik) viel deutlicher im Fokus als die Zeithistoriker, die nur entlang der Ideen- und Organisationsgeschichte der politischen Lager die Spur zurück ins späte 19. Jahrhundert fanden. Der Zeitraum 1918 bis 1945 war (und ist) politisch von hoher Brisanz. Da gab es heiße Konflikte, die in der politischen Gegenwart noch immer zumindest für verbale Auseinandersetzungen sorgten. Der Juli 1927, der Februar 1934, der Juli 1934 und der März 1938 eröffneten Fragestellungen, die meist schon durch das erkenntnisleitende Interesse eine Antwortrichtung intendierten. Daher verwundert es auch nicht, dass Zeitgeschichte öffentlich als politiknahe wahrgenommen wurde. Und es ist auch nicht erstaunlich, dass sie, allein durch die angedeuteten Fragestellungen, als links galt, hatte die Linke doch bei den Konfliktfeldern vor 1938 jene Position, die nach 1945 deutlich leichter zu rechtfertigen war. Warum aber nahm gerade Linz im Fach Zeitgeschichte eine Sonderstellung ein? Vorerst: es gab wenig Konkurrenz. Graz und Innsbruck hatten noch keine entsprechenden Lehrkanzeln. Klagenfurt war als Universität erst in der Planungsphase und Salzburgs kirchliche Zeitgeschichte hatte eine Sonderposition. Verglichen mit Wien hatte Linz aber ein paar leicht zu benennende Vorzüge: • Das Institut in Linz wurde von Karl R. Stadler aufgebaut, der 1968 immerhin schon 55 Jahre alt war, der aber durch die „Ehrenjahre“, die der Opfergeneration des Nationalsozialismus zugestanden wurde und die an die Emeritierung anschlossen, gut anderthalb Jahrzehnte kontinuierlich und gezielt Aufbauarbeit leisten konnte. • Stadler brachte aus England das Prinzip der flachen Hierarchien mit. Das Assistenten- bzw. Assistentinnenschicksal, das andere Universitäten kannten, das Zuarbeiten, das Tragen der Tasche, das Löschen der Tafel, all das gab es in Linz nicht. Jedes Mitglied des Instituts war vom ersten Tag an eigenverantwortlich für Forschung und Lehre. • Mit dem Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, das Karl R. Stadler in Personalunion leitete und dem alle übrigen Institutsmitglieder verbunden waren, gab es sehr gut etablierte Publikationsmöglichkeiten in drei Buchreihen und jährlichen Neuerscheinungen, die insgesamt über die Jahre die Zahl 100 überschritten. • Da Neuere und Zeitgeschichte „nur“ ein Wahlfach an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät waren, war die Lehrbelastung gering. Es gab keine Historiker bzw. Historikerinnen auszubilden, sondern die Lehre konnte spannende Aspekte aufgreifen, ohne auf Erfordernisse eines Curriculums Rücksicht nehmen zu müssen. Dazu war die Institutsausstattung sehr gut (z.B. zwei Sekretariatsstellen) und durch das LBI waren etwa Anschaffungen leichter als bei anderen vergleichbaren Instituten.

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• Da Karl R. Stadler in der Sozialdemokratie eng vernetzt war, wurde ihm auch die Gründung und Leitung des Renner-Instituts übertragen, ebenso die Präsidentschaft im Verband der österreichischen Volkshochschulen. Damit gab es breite Vortragsmöglichkeiten und nationale und internationale Kontakte für alle Personen am Institut. • Geschichte der Arbeiterbewegung erfuhr in jenen Jahren eine ganz spezielle Förderung und in Linz auch eine institutionelle Verankerung. Dazu aber später noch ausführlicher. • Linz musste wenig auf akademische Tradition achten. Neben Stadler war auch Kurt W. Rothschild aus der Emigration nach drei Jahrzehnten zurückgekehrt. Er setzte als Rektor etwa das Talarverbot durch (das später in peinlicher Form überwunden wurde), reduzierte akademische Feiern und formte an seinem Institut für Volkswirtschaftslehre die intellektuellen Partner zur Zeitgeschichte, darunter Ewald Nowotny. • Die Campusuniversität Linz und die mit ihr verbundenen Wohnformen (praktisch alle wohnten im Umkreis von wenigen Gehminuten) verdichteten die Kommunikation, das damals in Linz weitgehend fehlende kulturelle Alternativangebot ließ der fachlichen Kommunikation ebenfalls einen hohen Stellenwert zukommen. All das hat sich natürlich längst verändert. Linz bot also die Vorzüge eines „Biotops“, in dem in den 1970er-Jahren manches schneller wachsen konnte als an der Massenuniversität der Hauptstadt. Aber vor allem bot sich Linz für österreichische Zeitgeschichte geradezu an. Denn einerseits hatte es eine erkennbare und nicht geleugnete Prägung durch den Nationalsozialismus erfahren (unlängst im europäischen Kulturhauptstadtjahr durchaus kontroversiell aufgearbeitet in der Großausstellung „Kulturhauptstadt des Führers“). Anderseits hatte die Arbeiterbewegung hier zentrale Erinnerungsorte, vom „Linzer Programm“ bis zum Hotel Schiff im Februar 1934. Und Linz war die wichtigste österreichische Industriestadt, geprägt vom Rauch der VOEST und vom Geruch der Chemie Linz. Hier wäre ein „österreichisches Ruhrgebiet“ zu verorten gewesen.

Geschichte der Arbeiterbewegung als Motor Es waren die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre, in denen sich ganz spezielle Rahmenbedingungen für das Fachgebiet „Geschichte der Arbeiterbewegung“ herausbildeten. Und Linz sollte dabei eine zentrale Rolle zufallen. Da sind vorerst die politischen Voraussetzungen zu nennen. Die SPÖ, von 1966 bis 1970 in Opposition, gab sich mit Bruno Kreisky einen Vorsitzenden, dem es einerseits gelang, große Teile der aufmüpfigen akademischen Jugend für sein Modernisierungsprogramm an die Sozialdemokratie zu binden, der anderseits aber lebensgeschichtlich durch den Februar 1934, den Ständestaat und den März 1938 geprägt war. Sein historisches Interesse, das er auch zum Abkanzeln unliebsamer Reporterfragen („Lernen Sie Geschichte, junger Mann!“) nutzte, führte

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zu einer Förderung des Fachs. Verstärkt wurde dies durch Herta Firnberg, die 1970 das neu gegründete Wissenschaftsministerium übernahm und die selbst aus der Sozialgeschichtsforschung kam. Mit Christian Broda ( Justiz und Zeitgeschichte) war ein weiterer Minister nachhaltiger Förderer des Fachs. Neben der parteipolitischen Landschaft ist der gesellschaftliche Umbruch jener Jahre zu nennen. Der weltweite studentische Protest, die Verschiebung der Werte- und Normensysteme, ließen eine jüngere Generation nicht nur die Fragen im Generationskonflikt stellen (Was hast du gemacht? ,Wo warst du?, Warum hast du dich nicht gewehrt? etc.), sondern nach den anderen Biografien suchen, was zur Widerstandsforschung und damit, da der linksgerichtete Widerstand schon rein quantitativ dominant war, zur Geschichte der Arbeiterbewegung führte. Und Linz war in jenen Jahren entschlossen, ein sichtbarer Universitätsstandort mit mehreren Fakultäten zu werden. So war die Stadt ein großzügiger Förderer. Aufbauzulagen für die Gründergeneration, was später scharf kritisiert wurde, Häuser für die Gründungsprofessoren und -professorinnen, Hochschulfondswohnungen für jene, die damals als Assistentinnen, Assistenten oder in sonstiger Funktion nach Linz zogen. So wurde auch die ITH, damals „Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung“ genannt, die 1964 gegründet worden war, wenige Jahre später nach Linz geholt, wo sie, gefördert durch die Stadt und durch die Arbeiterkammer, am Jägermayrhof bis heute ihre Heimstätte fand. Der Jägermayrhof war eine der Kampfschauplätze im Februar 1934, daher symbolisch hoch aufgeladen. Die ITH hatte weit über die Geschichtswissenschaft hinaus eine Sonderstellung in der europäischen Wissenschaftslandschaft, wobei ihre Bedeutung weniger in fachspezifischen Großtaten als vielmehr in der wissenschaftspolitischen Bedeutung gelegen ist. Das neutrale Österreich bot sich als Standort für Begegnungen zwischen West und Ost an, das Feld „Geschichte der Arbeiterbewegung“ hatte im Osten die höchsten politischen Absegnungen, im Westen Spitzeninstitute (Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, Archiv für Sozialgeschichte, Amsterdam, Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Linz u.a.) und Spitzenforscher (Eric Hobsbawm, Felix Kreissler u.a.) aufzuweisen. So war ein Terrain definiert, auf dem Begegnungen stattfinden konnten, besonders zwischen der BRD und der DDR, aber durchaus auch zwischen Israelis und Arabern und ansatzweise auch zwischen Konfliktparteien im Fernen Osten. Linz bot ein window of opportunity, genau, wenn auch völlig naiv, staatspolizeilich überwacht (wie mein Staatspolizeiakt bis zur Lächerlichkeit bestätigt). Für das Institut an der Universität brachte die ITH entscheidende Netzwerke: nach England, nach Frankreich, nach Japan, in die USA und natürlich in die Staaten Ost- und Südosteuropas. Und es brachte die Chance, noch viele Zeitzeugen und Zeitzeuginnen hautnah zu sehen und zu hören: Da wurden die Konflikte innerhalb der Linken im Spanischen Bürgerkrieg nochmals emotional nachvollzogen, da traten Exilpositionen mit ihren Vertretern ans Pult und da ging es schon zwischen den unterschiedlichen Hütern von Reliquienschreinen des Marxismus ganz heftig zur Sache. Bernstein oder der Revisionismusdiskurs waren da nicht nur historische Untersuchungsgegenstände, sondern aktuelle Konfliktfelder.

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Dieses Milieu befruchtete das Linzer Hochschulinstitut, zumal hier die Protokolle der Konferenzen bearbeitet und für die Veröffentlichung vorbereitet wurden. Und in gewisser Weise setzten sich die Diskussionen auch innerhalb des Instituts fort, das ja in der Belegschaft auch die gesamte Bandbreite der österreichischen Linken spiegelte. Noch wichtiger für die entscheidende Rolle, die das Linzer Institut in der österreichischen Zeitgeschichtslandschaft spielte, war allerdings das Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, das Karl R. Stadler leitete und das allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bzw. natürlich vielen anderen praktisch uneingeschränkt Publikationsmöglichkeiten bot. Als Höhepunkt kann der 1978 erschienene und von Gerhard Botz, Hans Hautmann, Helmut Konrad und Josef Weidenholzer edierte Band „Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte“ gelten. Auf über 800 Seiten vereinte der Band die meisten der damals handelnden Personen. Herta Firnberg und Karl Stadler leiteten ein, und anschließend meldeten sich alle Generationen zu Wort: aus der „Vätergeneration“ etwa Herbert Steiner und Rudolf Neck, von den Söhnen neben den Herausgebern Ernst Hanisch, Rudolf Ardelt, Willibald I. Holzer, Reinhard Kannonier, Helene Maimann, Edith Saurer, John Bunzl und viele andere. Das Institut hatte sich nach Salzburg ausgeweitet (wo später mit Ardelt und Ingrid Bauer eine Zweigstelle errichtet wurde) und hatte in Klagenfurt und in Wien die jüngere Generation angesprochen. Diese „Hoch- und Blütezeit“ des Faches wurde symbolisch zu Karl R. Stadlers 70. Geburtstag und der Festschrift „Geschichte als demokratischer Auftrag“ abgeschlossen, in dem das genannte Team letztmals eine von allen getragene Publikation vorlegte und damit auch anderthalb Jahrzehnte Wissenschaftsgeschichte dokumentierte. Der Band (dem ein Jahrzehnt zuvor eine traditionelle Festschrift zu Karl R. Stadlers 60. Geburtstag kontrastierend gegenübersteht, die noch voll den „alten“ Festschriften – bekannte Kolleginnen und Kollegen liefern Ladenhüter ab – entsprach) unternahm den Versuch, fachlich und wissenschaftspolitisch Wegmarken einzuschlagen, ein Fach in seiner Eigenständigkeit zu definieren, es gleichzeitig aber auch in den Geistes- und (vor allem) den Sozialwissenschaften zu verorten und die gesellschaftspolitischen Verpflichtungen und Begrenzungen zu definieren. Das kann wohl als Weichenstellung gelten, denn die notwendigen inhaltlichen und organisatorischen Änderungen zeichneten sich schon ganz deutlich ab. Gerhard Botz war 1983 schon drei Jahre Ordinarius an der Universität Salzburg. Ich selbst war seit drei Jahren habilitiert, hatte zwei Semester in Innsbruck einen Lehrstuhl vertreten und verhandelte meinen Ruf nach Graz. Und Karl Stadler stand, nach den Ehrenjahren, die ihm als Emigranten zustanden, vor der Emeritierung. Es war eine Situation des Umbruchs, von außen begleitet durch neue Fragestellungen im Fach, die vom Konstruktivismus ausgelöst worden waren und die die „großen Erzählungen“, denen die StadlerSchule verpflichtet war, infrage zu stellen begannen, Jahre vor den sogenannten politischen „Wenden“.

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Die Durchsetzung des Fachs und seine erste Krise Die institutionelle Etablierung in ihrer flächendeckenden Form erfuhr die Zeitgeschichte in Österreich praktisch zeitgleich mit ihrer ersten Identitätskrise. Um die Mitte der 1980er-Jahre waren alle Zeitgeschichte-Lehrstühle in Österreich besetzt: Erika Weinzierl in Wien, Gerhard Botz in Salzburg, Rudolf Ardelt in Linz, Helmut Konrad in Graz, Rolf Steininger in Innsbruck und Norbert Schausberger in Klagenfurt. So politisch homogen sich das Bild auch darstellt, so war es dies weder administrativ noch inhaltlich. Wien hatte ein eigenständiges Institut und einen klar erkennbaren Schwerpunkt in der Geschichte des Nationalsozialismus. Eigenständige Institute gab es auch in Linz (zwangsläufig, da ein historisches Institut fehlte), in Innsbruck und in Klagenfurt. Linz war inhaltlich Vorläufer neuer Zugänge (Gender, Psychologie etc.), Klagenfurt hatte ein stark didaktisches Konzept und Innsbruck eine (west-)europäische Perspektive. In Salzburg war der Lehrstuhl in das Institut für Geschichte integriert und Gerhard Botz gab ihm sein Profil mit den Themen Gewalt und Nationalsozialismusforschung, dazu war aber auch ganz stark die methodische Interessenlage (in den inzwischen legendären „Quant“- und „Qual“-Kursen) ausgeprägt. Graz war als Abteilung im Rahmen des Instituts für Geschichte organisiert und musste sich inhaltlich breit aufstellen. Erika Weinzierl war die integrative Figur, aber Gerhard Botz gab die Schlagzahl vor. Er machte das Fach zum Frontrunner im methodischen Bereich, und gleichzeitig band er die österreichische Nationalsozialismusforschung in den internationalen Diskurs ein. Und er setzte dies als Nachfolger von Erika Weinzierl am Wiener Lehrstuhl konsequent fort. Überall war die Zeitgeschichte personell gut ausgestattet. Gleichaltrige, die (zumindest vorläufig) bei der Lehrstuhlvergabe nicht zum Zug gekommen waren, aber auch die nächste Generation setzten bemerkenswerte fachliche Akzente. Hier wären gut zwei Dutzend Namen zu nennen, die von damals bis heute das Fach mitgestaltet und verändert haben. An der Position eines Faches „Zeitgeschichte“ gab es daher innerhalb der Universitäten nichts mehr zu rütteln. Zweifel an der Notwendigkeit waren ausgeräumt und der massenhafte studentische Zulauf legitimierte das Wachstum des Faches, dessen Lehrkanzeln zur Hälfte von den sogenannten „Stadler-Boys“ besetzt waren und dessen prägende Inhalte ebenfalls gutteils einen Linzer Ursprung hatten. Allerdings hatte die österreichische Zeitgeschichte ihre Fragestellungen und ihre Themenfelder bis in die Mitte der 1980er-Jahre praktisch vollständig in „große historische Erzählungen“ eingebettet. Der Geschichte der Arbeiterbewegung war der teleologische Anspruch ohnehin immanent, aber auch die anderen Untersuchungsgegenstände waren sorgsam den Modernisierungstheorien verbunden und gesellschaftsgeschichtlich der letztendlichen Dominanz von ökonomisch-sozialen Rahmenbedingungen verpflichtet. Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, wurde als gegeben vorausgesetzt. So trafen das Fach die sogenannten turns der Geistes- und Kulturwissenschaften heftig und erschütterten das inhaltliche Selbstverständnis schwer. Dazu kam die tiefe Identitätskrise des Fachs „Geschichte der Arbeiterbewegung“ Ende der 1980er-Jahre, die durch die Implosion

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des Sowjetimperiums ausgelöst wurde. Damit war die Linzer Drehscheibenfunktion hinfällig, Geschichte der Arbeiterbewegung hatte aber darüber hinaus den Charme des nicht ganz angepassten jugendlichen Forschungsfeldes eingebüßt und sah ganz plötzlich alt und grau aus. Die „große Erzählung“ schien nicht mehr zu funktionieren. Der cultural turn bot sich als Rettungsanker an. In der neuen Kulturgeschichte konnte Platz gefunden werden, der Anspruch der Fortschrittlichkeit konnte aufrechterhalten werden. Und die alten Kleider streifte man ab. Aus dem Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung wurde ein Ludwig Boltzmann-Institut für Gesellschafts- und Kulturgeschichte, wobei der neue Name immerhin noch einen klar erkennbaren gesellschafts(-politischen) Anspruch erhob, um nicht ganz im „Überbau“ zu verschwinden. Gerhard Botz, der sich auch in Linz die größte Eigenständigkeit in seiner Themenwahl bewahrt hatte, konnte sich vom „turn“ weitgehend fernhalten. Seine Themen, die methodische Schärfung des Faches und die internationale Vernetzung der Nationalsozialismusforschung, konnten unbeirrt auf Kurs bleiben. Andere, darunter Reinhard Kannonier und ich selbst, bündelten ihre kulturbezogenen Interessen nunmehr in neuen Forschungsgegenständen, etwa in den Arbeiten zu „urbanen Leitkulturen“, die später in den Spezialforschungsbereich „Moderne“ mündeten, der über ein Jahrzehnt lang die Geisteswissenschaften an der Universität Graz prägte. Trotz dieser inhaltlichen Bruchlinie hatte das Fach keine akademischen Legitimationsprobleme. Im Gegenteil, es wurde erneut Trendsetter in Fragen der Gender History und in jenen Bereichen, die in den neuen Kulturwissenschaften den ästhetischen Annäherungen jener Wissenschaftsbereiche, die der Kunst unmittelbar verpflichtet sind (Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte, Musikwissenschaften), einen sozialen und ökonomischen Bereich und eine gesellschaftliche Wirkungsgeschichte gegenüberstellten. Der cultural turn war also nicht nur eine Erschütterung des Fachs, sondern auch ein fruchtbarer Neustart. Dabei ist es bemerkenswert, dass der turn eigentlich kein Generationenkonflikt war und die Neuorientierung im Wesentlichen mit konstanten handelnden Personen erfolgen konnte. Die wirklich harte Kritik (vielleicht mit Ausnahme der zu harten Auseinandersetzung um das opus magnum von Ernst Hanisch), die in anderen Ländern den turn begleitete und zu wissenschaftlichen Verwerfungen führte, blieb in Österreich weitgehend aus.

Der Marsch durch die Institutionen Die starke Prägung durch Linz und durch Karl R. Stadler hatte aber auch noch einen anderen Effekt, der die Wissenschaftslandschaft nachhaltig mitformen sollte. Der angelsächsische Umgang mit Hierarchien hatte die Gesprächsbasis zu den unterschiedlichen Gruppen an den Universitäten („Kurien“ im klassischen Verständnis) um vieles leichter gemacht und das Standesbewusstsein reduziert. Gepaart mit dem wachen Interesse für gesellschaftliche Pro-

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zesse und mit dem Willen, Neues zu versuchen, war das kleine Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte eine Brutstätte für akademische und politische Gestalter. Die gute Hälfte des Linzer Stammpersonals mischte sich administrativ-gestaltend in den verschiedensten Institutionen ein. Reinhard Kannonier wurde Musikdirektor des Linzer Brucknerhauses und dann Langzeitrektor an der Kunstuniversität Linz, ich selbst Dekan und später Rektor an der Universität Graz, Rudolf Ardelt Rektor in Linz und Josef Weidenholzer Präsident der Volkshilfe und schließlich Europaabgeordneter. Rechnet man noch die Bedeutung dazu, die Gabriella Hauch in Fragen der Geschlechterforschung erlangte, oder die Medienpräsenz von Helene Maimann und Raimund Löw, so ergibt das eine Konzentration an Mitgestaltung und Meinungsbildung, die keinen Vergleich zu scheuen braucht, sondern unzweifelhaft ein Unikat im österreichischen Universitätsbetrieb darstellt. Die theoretische Rechtfertigung des „langen Marsches durch die Institutionen“ ist da wohl nur augenzwinkernd anzuwenden und es ist auch völlig klar, dass die Institutionen die jeweils betroffenen Akteure stärker verändert haben, als sie durch die Individuen letztlich weiterentwickelt oder geprägt wurden. Dennoch, ein gewisser Grad an Veränderung ist dadurch in der österreichischen akademischen Welt erreicht worden. Dieser Prozess ist auch der Zeit zuzurechnen, aber die handelnden Personen waren dafür ganz sicher nicht unwesentliche Fermente. Der akademisch-administrative Bereich forderte von den Beteiligten auch einen Preis. Es galt, temporär oder endgültig von einer aktiven Mitwirkung im Fach Abschied zu nehmen und zu erkennen, dass wissenschaftliche Arbeit in einem dynamischen Fach mit hohem methodischem und theoretischem Anspruch keine Nebenbeschäftigung sein kann. Der Weg zurück von der Administration ins Fach, wie ich ihn nach einem guten Jahrzehnt zu gehen versuchte, ist ein harter. Gerhard Botz hatte diese Sorgen nicht. Ihm kam keine Verlockung durch gesamtuniversitäre Leitungspositionen in die Quere. Dazu war und ist sein Temperament auch wenig geeignet. Noch immer kann er aufbrausen, seinem Ärger Luft machen, und noch immer ist er kein Mann des Kompromisses. Er hält Kurs, charakterlich und fachlich. Die hohe Fokussierung in seinen Fragestellungen auf die genaue, quantitative und qualitative Erfassung der Phänomene des Nationalsozialismus, sein Verständnis vom 20. Jahrhundert als einem Jahrhundert der Gewalt und sein demokratischer Anspruch, dass nur eine genaue Kenntnis der Mechanismen von Unmenschlichkeit eine Gesellschaft zumindest teilweise wachsam gegen neue Formen von Gewalt und Ausgrenzung immunisieren kann, hat bei ihm zu einem stringenten Forscherprofil geführt. Hierin unterscheidet er sich von den anderen handelnden Personen, deren Interessen und Forschungsfelder sehr viel breiter aufsetzen und die daher auch partiell das Fach verlassen konnten. Aber gerade diese Stringenz machte und macht Gerhard Botz zur herausragenden Figur in der österreichischen Zeitgeschichtelandschaft, durchaus auch als Reibebaum für die anderen. Und in konsequenter Fortführung seiner Ansätze wurde auch seine Nachfolge an der Universität Wien einschlägig ausgeschrieben und besetzt.

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Es ist ein historischer Zufall, dass am Ende der universitären Laufbahn Gerhard Botz erstmals den Versuch unternommen hat, ein Gemeinschaftsprojekt auf die Beine zu stellen, das in einem Forschungsverbund sein Ludwig Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaften mit den drei anderen Boltzmann Instituten, die sich mit Zeitgeschichte beschäftigen (geleitet von Siegfried Mattl, Stefan Karner und Helmut Konrad), zusammenführen und weitere Partnerinstitutionen einbinden hätte sollen. Es war den „Räumen der Gewalt“ gewidmet und sollte auf mehrere Jahre ein Netzwerk zu den zentralen Fragen unserer Geschichte im 20. Jahrhundert bündeln. In der Zwischenzeit ist das Projekt an den Hürden gescheitert, die vor den Geisteswissenschaften derzeit in der österreichischen Großprojektförderlandschaft errichtet werden. Aber die intensiven Diskussionen haben dennoch zweierlei gezeigt: einerseits die zentrale Bedeutung der Forschungsfelder von Gerhard Botz und anderseits, was angesichts des bisher Ausgeführten doch eher verblüfft, seine Fähigkeit, größere Gruppen mit teils kontroversiellen Positionen zu leiten und auch anzuleiten. Umso stärker ist das Scheitern dieser Zusammenführung, welche auch ein Auffrischen alter Diskussionen und ein Anknüpfen an die 70ger-Jahre bedeutet hätte, zu bedauern.

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Sozialwissenschaftler/innen oder Zeithistoriker/innen: Wer schreibt die Geschichte des 20. Jahrhunderts? Im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts haben die historischen Wissenschaften eine Serie von grundlegenden Veränderungen ihrer Themen, Fragestellungen und Methoden durchlaufen, von denen einige im Rückblick als „Revolutionen der Historiografie“ wahrgenommen wurden.1 In allen diesen „Revolutionen“ spielte das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft im Verhältnis zu anderen Sozial- und Humanwissenschaften eine wesentliche Rolle. Die disziplinäre Identität der Historiker schwankte zwischen der Betonung der Besonderheit ihres Fachs und dem Bedürfnis nach Abgrenzung zu benachbarten Disziplinen auf der einen Seite und der Suche nach Gemeinsamkeiten, Verknüpfungen und Kooperationen auf der anderen. Den vielfältigen Versuchen einer Modernisierung der historischen Forschung, die in den 1960er- und 1970er-Jahren die westliche geschichtswissenschaftliche Landschaft erfassten, war der „Wunsch nach enger Zusammenarbeit und bisweilen gar nach einer Verschmelzung von (Teilen der) Geschichtswissenschaft und (Teilen der) Sozialwissenschaften“ gemeinsam.2 Im deutschen Sprachraum fanden diese Bemühungen bekanntlich in dem von Hans-Ulrich Wehler geprägten Programm und Begriff einer „Historischen Sozialwissenschaft“ ihren Ausdruck.3

Historische Sozialwissenschaft im Wandel Die Geschichte der Historischen Sozialwissenschaft wird in der Regel aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften – und nicht aus jener der Sozialwissenschaften – geschrieben. Der vorherrschende Blickwinkel – fast schon eine „Standarderzählung“4– ist der einer partiellen Modernisierung der historischen Forschung durch eine Öffnung zu den systematischen Sozialwissenschaften, die im deutschen Sprachraum vor allem in den 1970er-Jahren stattfand. 1 So sinngemäß Eric Hobsbawm mit Bezug auf den – von ihm mitgestalteten – weltweiten Wandel der Historiografie zwischen den 1930er- und den 1970er-Jahren. Vgl. dazu Hobsbawms abschließendes Resümee: Eric J. Hobsbawm: Geschichtswissenschaft: Impulse für Menschen, nicht nur Fußnoten, in: Gerhard Botz et al.: Geschichte. Möglichkeit für Erkenntnis und Gestaltung der Welt. Zu Leben und Werk von Eric J. Hobsbawm, Wien 2008 (Wiener Vorlesungen, 138), S. 69–78, hier 74. 2 Jürgen Kocka: Historische Sozialwissenschaft zu Anfang des 21. Jahrhunderts, in: ders.: Arbeiten an der Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 78–93, hier 79 f. 3 Paradigmatisch ausformuliert erstmals bei Hans-Ulrich Wehler: Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a.M. 1973. 4 Den Begriff „Standarderzählung“ hat Jürgen Kocka im Zusammenhang mit der Geschichte der Arbeit geprägt.

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Für Jürgen Kocka, der nicht nur zu den Begründern dieses Paradigmas zählt, sondern seine Entstehung und weitere Entwicklung immer wieder reflektierte, kam die „Annäherung von Geschichte und Sozialwissenschaften“ in drei Veränderungen zum Ausdruck: Erstens in einer „sozialgeschichtlichen Umorientierung“, die in Abgrenzung zur bisherigen Staats-, Politik-, Geistes- und Ideengeschichte den Begriff der „Gesellschaft“ ins Zentrum rückte; zweitens in einer „strukturgeschichtlichen Akzentverschiebung“, die den forschenden Blick weg von den „Absichten, Handlungen und Erfahrungen“ der historischen Akteure und hin zu überindividuellen Prozessen und Strukturen lenkte; und drittens in einer „analytischen Wende“, die auf expliziten Fragestellungen und klar definierten Begriffen sowie auf der Anwendung von Methoden und Theorien bestand, und in der Darstellung auf die Form der Erzählung zugunsten der Argumentation verzichtete.5 Das Projekt einer Historischen Sozialwissenschaft entstand in einer spezifischen gesellschaftlichen Situation und war zugleich auch ein Generationenprojekt, auch wenn es keineswegs eine gesamte Historikergeneration erfasste, sondern – wieder in der Interpretation Jürgen Kockas  – „immer ein Minderheitenphänomen geblieben ist“.6 Aus österreichischer Perspektive hat Ernst Hanisch, einer der besten Kenner der österreichischen Geschichtsforschung, eine Typologie der österreichischen Historiker des 20. Jahrhunderts versucht und die „Historische Sozialwissenschaft“ mit dem „Typus der 68er-Generation“ (der Geburtsjahrgänge 1938 bis 1948) verknüpft: Der 68er-Typus hatte die Historie zu den systematischen Sozialwissenschaften hin weit geöffnet. Eine Euphorie der Theoriedebatten brach aus. Auf breiter Ebene wurden undogmatische marxistische Positionen rezipiert. […] Wie nie zuvor in der Historiografie des 20. Jahrhunderts setzten methodische Innovationen ein: Quantifizierung, Oral-History, Semiotik, Psycho-Historie. Wie die ‚Volksgeschichte‘ einst, strebte der 68er-Typus eine kämpfende, politisierte Wissenschaft an, nun mit einer basisdemokratischen, emanzipatorischen Absicht. Die Leitfigur war Gerhard Botz, der in dieser Phase neue Pfade eröffnete.7

Tatsächlich hat Gerhard Botz als Professor für Zeitgeschichte in Linz (1979–1980), Salzburg (1980–1997) und Wien (1997 bis zur Emeritierung 2009) in Forschung und Lehre und nicht zuletzt mit seinen Publikationsreihen wesentlich zur Etablierung der Historischen Sozialwissenschaft in Österreich beigetragen.8 Angeregt von den Summer Schools in Quantitative Me5 Kocka, Historische Sozialwissenschaft, S. 82–83. 6 Ebda., S. 82. 7 Vgl. dazu seinen Eröffnungsvortrag zum 22. Österreichischen Historikertag in Klagenfurt 1999: Ernst Hanisch: Der forschende Blick. Österreich im 20. Jahrhundert: Interpretationen und Kontroversen, in: Carinthia I 189 (1999), S. 567–583, hier 576. 8 In den Jahren 2001 und 2006 hatte ich die Ehre und das Vergnügen, bei wissenschaftlichen Veranstaltungen zum 60. und zum 65. Geburtstag von Gerhard Botz sprechen zu dürfen. Im folgenden Beitrag führe ich einige Überlegungen weiter, die ich zu diesen beiden Anlässen mündlich vorgetragen habe.

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thods in History / Social Sciences an der University of Essex, Colchester, die er in den Jahren 1976 und 1977 besuchte, organisierte Botz ab 1978 jährliche Sommerkurse zu neuen Methoden in der Geschichtswissenschaft (ab 1989 ERASMUS Summer School New Methods in History), die er bis 1994 leitete. 1982 gründete er das Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft und die Buchreihe „Materialien“, später „Studien zur Historischen Sozialwissenschaft“. Alle diese Aktivitäten waren mit seinen Lehrstühlen für Zeitgeschichte in Linz, Salzburg und Wien verknüpft. Seit damals haben sich die Geschichtswissenschaften wie auch die Sozialwissenschaften dynamisch weiterentwickelt und neue „Revolutionen“ durchlaufen. Beiden Disziplinen (-bündeln) gemeinsam sind die Expansion in der Zahl der Wissenschaftler und die Tendenz zu Pluralismus, methodischer und thematischer Vielfalt. Die „kulturelle Wende“ (oder eine Vielzahl von cultural turns9) hat das Denken und die Praxis von Historikern wie auch von Sozialwissenschaftlern nachhaltig beeinflusst. Wenn Historiker in den 1970er-Jahren von ‚den‘ Sozialwissenschaften sprachen, dann dachten sie an die kleine Gruppe der als ‚systematisch‘ wahrgenommenen Disziplinen Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft. Für die neue Kulturgeschichte der 1980er-Jahre bildeten, im Gegensatz zur Historischen Sozialwissenschaft, Kultur- und Sozialanthropologie, Ethnologie, Literaturwissenschaften, Philosophie und innerhalb der Soziologie die Kultursoziologie die wesentlichen Referenzdisziplinen.10 „Kultur“ wurde  – teils neben, teils explizit gegen „Gesellschaft“ als Analysekonzept  – zum neuen Leitbegriff, die „Kulturwissenschaften“ versprachen eine neue transdisziplinäre Integration. In den Debatten unter Historikern spielte weniger eine Rolle, ob sich die Geschichte gegenüber anderen Disziplinen öffnen sollte, sondern vielmehr gegenüber welchen. All dies sind internationale Entwicklungen, die zugleich spezifische Ausprägungen in nationalen Wissenschaftskulturen finden. Welche Folgen hatte dies aber für das Verhältnis von Geschichts- und Sozialwissenschaften? Auf den ersten Blick könnte es scheinen, dass das Programm einer Historischen Sozialwissenschaft von der „kulturellen Wende“ der 1980er- und 1990er-Jahre völlig verdrängt worden wäre. Dies übersieht jedoch einerseits die Modifikationen des ursprünglichen Programms in Richtung Selbstreflexivität und Anerkennung von Subjektivität sowie auch die Fülle und Vielfalt an realer historiografischer Praxis.11 Andererseits strahlt die fortdauernde Beschäftigung der Sozialwissenschaften mit aktuellen gesellschaftspolitisch relevanten Themen, wie zum Beispiel dem Strukturwandel sozialer Ungleichheit oder dem Wandel der Ar  9 Vgl. dazu Doris Medick-Bachmann: Cultural turns.  Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. 10 Vgl. dazu Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001; Friedrich Jäger et al. (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, 3 Bde., Stuttgart et al. 2004. 11 Vgl. dazu Kocka, Historische Sozialwissenschaft, S. 86 ff.; sowie – am Beispiel eines der Flaggschiffe der deutschen Historischen Sozialwissenschaft – Lutz Raphael: Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht: Die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft“ in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5–37.

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beitsverhältnisse, auch auf die Geschichtswissenschaft aus. Der folgende Beitrag formuliert einige Überlegungen und Fragen zum Wandel des Verhältnisses von Geschichts- und Sozialwissenschaft und konzentriert sich dabei auf die Zeitgeschichte, vor allem in Österreich. Diese Beschränkung liegt nicht nur deswegen nahe, weil in Österreich Gerhard Botz gerade als Zeithistoriker wesentliche Impulse für eine Historische Sozialwissenschaft gab, sondern weil das 20. Jahrhundert ein Forschungsfeld darstellt, in dem Historiker und Sozialwissenschaftler gleichermaßen agieren. Gerade hier stellen sich Fragen nach Arbeitsteilung, Kooperation und Konkurrenz.12

Wo liegt der Platz der Historiker in der Geschichte des 20. Jahrhunderts? Der große Beitrag von Sozialwissenschaftlern beim Schreiben der Geschichte des 20. Jahrhunderts tritt besonders für die zweite Jahrhunderthälfte zutage. Das lässt sich an einem Beispiel illustrieren: Der früheste ambitionierte Versuch einer umfassenden Geschichte der Zweiten österreichischen Republik ist der von Reinhard Sieder, Heinz Steinert und Emmerich Tálos herausgegebene Band „Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur“.13 Der Band präsentiert sich als interdisziplinäres Projekt mit dem Anspruch, die „fachliche Kompetenz der Geschichts- und Sozialwissenschaften“ zu einer „historisch-sozialwissenschaftlichen Analyse“ zusammenzuführen.14 Von den drei Herausgebern ist einer Historiker, der zweite Soziologe, der dritte Politikwissenschaftler. Von den insgesamt 46 Beiträgen des Bandes stammt weniger als ein Drittel aus der Feder von Historikern.15 Wenn sich dieses Beispiel verallgemeinern ließe, könnte man zu dem Schluss kommen, dass Historiker am Schreiben der Geschichte des 20. Jahrhunderts durchaus teilnehmen, in diesem Forschungsfeld jedoch nur eine Minderheit darstellen. Dies wirft die Frage nach dem spezifischen Platz von Historikern bei der Erforschung des 20. Jahrhunderts auf. Im Verhältnis von Geschichts- und Sozialwissenschaften zeichnet sich dabei weniger Kooperation oder gar Verschmelzung ab als vielmehr Arbeitsteilung, die dazu führt, dass Historiker in bestimmten Nischen dominieren. In Österreich ist dies vor allem 12 Für Ernst Hanisch ist es eine „Tatsache, dass Sozial- und Kulturwissenschaften mit den Geschichtswissenschaften um das Forschungsfeld Zeitgeschichte konkurrieren“. Siehe Ernst Hanisch: Die Dominanz des Staats. Österreichische Zeitgeschichte im Drehkreuz von Politik und Wissenschaft, in: Alexander Nützenadel, Wolfgang Schieder (Hg.): Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, S. 54–77, hier 71. 13 Dies. (Hg.): Österreich 1945–1995. Gesellschaft – Politik – Kultur, Wien 1995. 14 Ebda., S. 32. 15 Trotz aller methodischen Ansprüche auf Integration entspricht auch dieser Band eher dem von Ernst Hanisch beschriebenen Typus von interdisziplinären Sammelbänden, „in denen Texte von Zeithistorikern und Sozial- und Kulturwissenschaftlern relativ beziehungslos nebeneinander stehen“. Siehe Hanisch, Die Dominanz des Staats, S. 72.

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eine thematische Nische. Der Schwerpunkt der Zeitgeschichte und ihr spezifisches Profil liegen in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen geht es um die Herrschaft des Nationalsozialismus selbst, um die Periode von 1938 bis 1945, zum anderen aber auch um seine Nachwirkungen in der österreichischen Gesellschaft nach 1945, um den Umgang mit ihm und die Reflexion über ihn. Die beschränkte „Entnazifizierung“, die heftigen Debatten über Waldheim und die Wehrmachtsausstellung seien hier nur als Stichworte genannt. Diese doppelte Thematisierung des NS-Regimes in Österreich kann man zusammenfassend mit dem der populären Geschichtskultur entstammenden Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichnen. Die gerade in der deutschen Historischen Sozialwissenschaft so wichtige Frage nach der Vorgeschichte des Nationalsozialismus und seinen Ursachen in der deutschen Geschichte, ist in Österreich weniger ausgeprägt. Wie sehr die österreichische Zeitgeschichte von diesem doppelten Blick auf den Nationalsozialismus geprägt ist, lässt sich am Beispiel der Geschichte der Österreichischen Zeitgeschichtetage illustrieren.16 Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts fanden insgesamt vier dieser großen Tagungen statt. Der 5. Zeitgeschichtetag (Klagenfurt 2001) umfasste 16 Panels, von denen neun, also mehr als die Hälfte, dem Nationalsozialismus und seinen Nachwehen in der Zweiten Republik gewidmet waren. Ein Jahrzehnt später, am 8. Zeitgeschichtetag (Wien 2010) beschäftigten sich neun von 42 Panels ausschließlich, 13 weitere teilweise mit „Vergangenheitsbewältigung“ im weiteren Sinn (einschließlich Zweiter Weltkrieg, Erinnerung, Aufarbeitung), zusammen also ebenfalls knapp über die Hälfte. Der 6. (Salzburg 2003) und 7. Zeitgeschichtetag (Innsbruck 2008) standen unter den spezifischen Themenfeldern „Kunst, Kommunikation, Macht“ (2003) sowie die „1960er- und 1970er-Jahre“ (2008) und zeigten so eine etwas geringere Präsenz der Forschungen zum Nationalsozialismus. Aber auch 2003 war ein Teilbereich explizit dem Verhältnis von „Kunst, Kommunikation und Macht im Nationalsozialismus“ gewidmet. 2008 spielte „1968“ (einschließlich des Prager Frühlings und seines Endes durch die Intervention des Warschauer Pakts) die zentrale Rolle und verlieh dem Kongress eine relativ starke internationale Orientierung. Aber auch unter diesen Bedingungen beschäftigten sich 13 von insgesamt 47 Panels ausschließlich und sechs teilweise mit dem Nationalsozialismus und seiner Nachgeschichte, zusammen also rund 40 Prozent. Andere faschistische Herrschaftsformen, einschließlich des ‚Austrofaschismus‘, sind demgegenüber im Themenspektrum der zeitgeschichtlichen Forschung wesentlich schwächer vertreten. Auch die Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen in der europäischen Geschichte 16 Zeitgeschichtetage werden in Österreich seit 1993 organisiert. Im Unterschied zum traditionellen „Österreichischen Historikertag“, der aus fixen „Sektionen“ besteht und sich damit in ein enges und hierarchisches Korsett zwängt, weisen die Zeitgeschichtetage eine offene Struktur auf und bieten gerade auch Nachwuchswissenschaftlern Raum. Sie bilden damit die tatsächliche Forschungspraxis relativ gut ab. Eine systematische Auswertung der Inhalte aller bisherigen Zeitgeschichtetage steht aus, sie würde aber zweifellos einen fundierten Einblick in die Entwicklung der österreichischen Historiografie der letzten beiden Jahrzehnte ermöglichen. Die folgenden Bemerkungen beschränken sich auf die Auswertung der Programme der Zeitgeschichtetage 2001–2010.

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des 20. Jahrhunderts stößt erst langsam auf Interesse. Oft wird sie durch Kontakte und Kooperationen mit Historikern aus den ehemals kommunistischen Nachbarländern angeregt.17 Die starke Präsenz der „Vergangenheitsbewältigung“ ist natürlich seit Längerem Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Schon 2001 hatte Ernst Hanisch ein Panel auf dem Klagenfurter Zeitgeschichtetag zum Thema „Perspektivierung der Zweiten Republik. Ist die Geschichte der Zweiten Republik nur eine Geschichte der unaufgearbeiteten österreichischen NS-Vergangenheit?“ organisiert. Dort herrschte Übereinstimmung, dass in dieser Schwerpunktsetzung ein starker und später Nachholbedarf zum Ausdruck kommt. Das sich allmählich auch in Österreich gesellschaftlich durchsetzende Bedürfnis einer Auseinandersetzung mit dem NS-Regime war ein wesentlicher Motor der Institutionalisierung der universitären Zeitgeschichte von den 1960er-Jahren an. Es bleibt ein wesentlicher Verdienst der Zeithistoriker, die Themen von Faschismus und Nationalsozialismus dem Verschweigen, Verdrängen oder der folkloristisch-anekdotischen Erinnerung entrissen zu haben. Erst damit wurden sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung mit Ansprüchen auf Rationalität und Objektivität. Auch mit zunehmender zeitlicher Distanz wird die Bedeutung dieses Themas nicht verblassen. Der Zivilisationsbruch des NS-Systems als angewandter Rassismus in seiner extremsten Form ist so nachhaltig, dass er aus dem historischen Denken Europas nicht mehr verschwinden wird, auch wenn der historische Abstand wächst. Zugleich bedeutet diese Schwerpunktsetzung allerdings, dass viele andere Fragen und Themen vernachlässigt werden, dass die Zeitgeschichte zu vielen aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen wenig zu sagen hat und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen den Sozialwissenschaften überlassen bleibt. Umgekehrt scheinen Sozialwissenschaftler die Zuständigkeit und Kompetenz von Historikern für das NS-System und seiner Vor- und Nachgeschichte nicht infrage zu stellen.

Wo liegen die spezifischen Kompetenzen von Historikern für die Geschichte des 20. Jahrhunderts? Ich sehe die spezifischen geschichtswissenschaftlichen Kompetenzen vor allem in den in der Geschichtswissenschaft üblichen Methoden und Arbeitstechniken, die zwischen zwei Polen stehen: auf der einen Seite sehr traditionelle, aus dem Historismus des 19. Jahrhunderts stammende Methoden, auf der anderen Seite die Übernahme von bzw. Kombination mit neueren Methoden, die (zum kleineren Teil) aus den Sozialwissenschaften und (zum größeren Teil) aus den Kulturwissenschaften stammen.

17 Von den 42 Panels des Zeitgeschichttages 2010 beschäftigte sich nur eines mit dieser Thematik, an dem Historiker aus Budapest, Krakau und Wien referierten (Panel 12: Everyday life in the communist bloc: towards a [post-] totalitarian understanding of communist dictatorships).

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1. Politische Geschichte mit traditionellen Methoden Zum Ersten: Die historische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist auch eine Auseinandersetzung mit Zeitzeugen (und zunehmend: deren Nachfahren), deren Erinnerungen oft stark voneinander abweichen, dabei aber Anspruch in sich tragen, authentisch und in der Folge historische ‚Wahrheit‘ zu sein. Zeithistoriker bewegen sich häufig in einem Feld heftig umkämpfter Erinnerung. Oft stehen sie vor der Herausforderung, in konkreten Fällen über Schuld oder Unschuld einzelner Menschen oder Gruppen entscheiden zu müssen, nicht nur in moralischer Hinsicht, sondern mit handfesten juristischen Konsequenzen. Sie stehen damit der Justiz nahe und tatsächlich sind viele von ihnen als Gutachter vor Gerichten tätig. Der Prozess der Wahrheitsfindung hat bei Zeithistorikern besonderen Anforderungen zu genügen. Dass sie derartige Erwartungen einzulösen vermögen, hängt damit zusammen, dass in der Zeitgeschichte eine traditionelle Konzeption historischer Tatsachen verbreitet ist. Tatsachen lassen sich, in dieser Konzeption, durch die sorgfältige, methodisch einwandfreie und kritische Auswertung von Quellen erschließen. Das „Vetorecht der Quellen“, wie es Reinhart Koselleck genannt hat, entscheidet letztendlich über die Stichhaltigkeit einer historischen Aussage.18 Einer der wenigen Historiker, die diesen Zusammenhang explizit thematisiert haben, ist der Engländer Richard Evans. Einem größeren Publikum wurde er als Gutachter gegen den Hitler-Fan und Holocaust-Leugner David Irving in einem 2000 abgeschlossenen Londoner Gerichtsverfahren bekannt. Evans ist es in diesem Prozess gelungen, die Öffentlichkeit und das Gericht davon zu überzeugen, dass Irving tatsächlich ein bewusster Geschichtsfälscher sei.19 Einige Jahre zuvor hat Richard Evans aber ein anderes Buch veröffentlicht, in dem er das Konzept des auf Quellen beruhenden historischen Faktums gegen postmoderne Dekonstruktionen verteidigte.20 Diese Variante von Zeitgeschichte unterscheidet sich von sozialwissenschaftlichen Zugängen, die – in der Regel – weniger am einzelnen Fall interessiert sind als an einer Generalisierung. Ihre Stärke, und vermutlich auch ihre gesellschaftliche und politische Akzeptanz, bezieht sie aus ‚traditionellen‘ Methoden, aus akribischer und quellenkritischer archivalischer Forschung, und gerade nicht aus den methodischen Innovationen, die mit dem Konzept einer Historischen Sozialwissenschaft verbunden waren.

18 Reinhart Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Wolfgang J. Mommsen, Jörn Rüsen (Hg.): Objektivität und Parteilichkeit, München 1977 (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, 1), S. 17–46. 19 Richard J. Evans: Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess, Frankfurt a. M. 2001. 20 Richard J. Evans: In defence of history, London 1997.

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2. Sozial- und kulturgeschichtliche Erweiterung Dies schließt natürlich die Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden und Theorien für die Erforschung des Nationalsozialismus in keiner Weise aus. Viele Aspekte des NS-Systems, beginnend mit der Sozialstruktur seiner Wähler, Anhänger oder Gegner bis hin zu Fragen des Lebensstandards und der sozialen Mobilität, lassen sich nur mit sozialgeschichtlichen Methoden untersuchen. Seit den 1970er-Jahren ist die Sozialgeschichte (und auch die Wirtschaftsgeschichte) des Nationalsozialismus, auch unter Anwendung quantifizierender Methoden, eine etablierte Forschungsrichtung. Die verschiedenen Kontroversen über die Charakterisierung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems (Intentionalisten vs. Strukturalisten, Zentralismus vs. Polyzentrismus, Charisma des Führers etc.) sind Musterbeispiele für die Anwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft. In der neueren österreichischen Forschung ist das Großprojekt „Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich“, an dem 1998 bis 2004 mehrere Dutzend überwiegend jüngere Historiker (und auch einige Rechtswissenschaftler) teilnahmen, ein Beispiel der Kombination von traditionellen Methoden und quantitativ-sozialstrukturellen Analysen.21 Trotzdem scheint mir, dass als Ergänzung bzw. Alternative zur politikgeschichtlich orientierten, mit traditionellen Methoden arbeitenden Zeitgeschichte zumindest in den letzten beiden Jahrzehnten nicht sozialwissenschaftliche, sondern kulturwissenschaftliche Ansätze dominieren. Dies trifft im internationalen Rahmen auch auf die Erforschung des Nationalsozialismus zu. Das Interesse verlagerte sich von Strukturen und Prozessen hin zu individuellen Akteuren, zu den Opfern, zu den Widerständlern und zu den Tätern, und zwar weniger zu den großen ‚Führern‘, sondern einerseits zu den „ganz normalen Männern“ (Christopher Browning), die zu Massenmördern wurden, und andererseits zu den mittleren Ebenen der Hierarchie, den „Vordenkern der Vernichtung“ (Götz Aly/Susanne Heim) in der Wissenschaft und den Experten ihrer Umsetzung in der Verwaltung. Damit gewannen auch biografische Studien eine neue Bedeutung. Diese Ansätze sind in aller Regel theoriegeleitet, wobei auch Psychologie und Wissenschaftstheorie ins Spiel kommen, sie bemühen sich um Erklären und Verstehen und sie wenden vielfältige Methoden an, u.a. auch Oral History einschließlich ihrer neuesten Variante, der Video History. Noch deutlicher dominieren kulturgeschichtliche Ansätze bei der Erforschung des Umgangs mit der Nachgeschichte des Nationalsozialismus. „Erinnerung“, „Gedächtnis“, „Geschichtskultur und Geschichtspolitik“ sind hier zentrale Begriffe. Den Medien  – und zunehmend den visuellen Medien  – gilt besondere Aufmerksamkeit. „Gender“ hat sich als Analysekategorie 21 Die Ergebnisse dieses Projekts wurden in 49 Bänden veröffentlicht. Vgl. insbes. Clemens Jabloner, Brigitte BailerGalanda et al. (Hg.):Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen. Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich, Wien / München 2003. Beispiele für sozialstrukturell orientiert Studien sind etwa die Bände über „Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen“ (Band 26/1, 2004), über „Jüdische Vermögen“ (Band 8, 2003) oder über „Berufsschädigungen in der nationalsozialistischen Neuordnung der Arbeit“ (Band 16, 2004).

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etabliert. Ein Blick auf die Programme der österreichischen Zeitgeschichtetage des letzten Jahrzehnts zeigt auch die große Rolle dieser neuen Ansätze für die Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Nachgeschichte: „Europäische Erinnerungskulturen“, „Erinnerungsorte“, „Kulturen und Politiken der Erinnerung“, „Gedenkstättisierung der Erinnerung“22 sind Begriffe, die zur Analyse der „NS-Nachgeschichte“ dienen und zugleich auch darüber hinaus gehen. Identität, Konsum und Konsumkultur, Popular Culture, Sexualität, Visualität, Film und anderes mehr bezeichnen weitere Themen oder Konzepte der neueren zeitgeschichtlichen Forschung, insbesondere für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neben einer vorrangig an der politischen Dimension der Geschichte interessierten und mit traditionellen Methoden arbeitenden Historiografie spielen also neuere kulturgeschichtliche Ansätze eine große Rolle beim Schreiben der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Während für Vertreter der ersten Strömung ihr disziplinäres Selbstverständnis als Historiker nicht infrage steht, scheint die zweite Strömung quer zu den traditionellen Grenzen zwischen Geschichtsund Kulturwissenschaften zu liegen. Bezeichnungen von Forschungsfeldern wie Cultural Studies oder Gender Studies, Austrian Studies oder European Studies drücken eine Tendenz zur Ablösung traditioneller disziplinärer Zugehörigkeiten aus. Wenn wir die disziplinäre Identität von Wissenschaftlern nicht in der formellen bzw. institutionellen Zugehörigkeit zu historisch entstandenen Disziplinen sehen, sondern – mit Helga Nowotny – in der „Fähigkeit, zu erkennen, welche Fragen es lohnen, gestellt zu werden (und) welche Methoden für welche Fragen zur Verfügung stehen“, dann öffnet dies den Blick für die Dynamik des Wandels von Fächergrenzen.23 Zu einer Verschmelzung oder Amalgamierung zwischen Geschichts- und Sozialwissenschaften, wie es einige (wenige) Historiker und Sozialwissenschaftler in den 1970er-Jahren anstrebten oder zumindest für wünschenswert und möglich hielten, ist es offensichtlich nicht gekommen. Der Begriff der Historischen Sozialwissenschaft hat keine umfassende, beide Disziplinen integrierende Bedeutung erlangt, sondern blieb auf ein spezifisches Paradigma innerhalb der Geschichtswissenschaften beschränkt. Eine Verschmelzung von verschiedenen Strömungen der kulturhistorisch orientierten Zeitgeschichte und der Kulturwissenschaften scheint mir dagegen durchaus möglich zu sein. Die klassischen Konzepte einer Historischen Sozialwissenschaft, wie sie international in den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelt wurden, spielen in der gegenwärtigen österreichischen Zeitgeschichtschreibung eine geringere Rolle. Allerdings wurde in Österreich die Grenze zwischen Historischer Sozialwissenschaft und neuer Kulturgeschichte weniger scharf gezogen als etwa in Deutschland. In den von Gerhard Botz in den 1980er-Jahren organisierten 22 So Titelworte von Panels des Zeitgeschichtetages 2010. 23 Hybride Wissenschaften: Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichte. Ein Gespräch zwischen Helga Nowotny und Albert Müller, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7.1 (1996), S. 119– 133, hier 122. Zur disziplinären Identität durch bewusste oder unbewusste Teilnahme an fachspezifischen Diskursen vgl. auch Chris Lorenz: Postmoderne Herausforderungen an die Gesellschaftsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 617–632, hier v.a. 630.

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Sommerschulen zu neuen Methoden in der Geschichtswissenschaft wurden nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Methoden gelehrt und gelernt. Neben Statistik und elektronischer Datenverarbeitung waren auch Oral History und Semiotik in den Kursprogrammen vertreten. Auch in den gesellschaftsgeschichtlichen Arbeiten von Ernst Hanisch werden sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven integriert. (Siehe unten Abschnitt 3.3.)

3. Gesellschaftsgeschichte In einem spezifischen Beitrag von Historikern zum Schreiben der Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich aber doch der Einfluss der Historischen Sozialwissenschaft erkennen. Wie bereits erwähnt, bildete in den Konzepten der 1970er-Jahre der Begriff der „Gesellschaft“ den Leitbegriff. In der Entwicklung von der social history zur history of society24 kam der umfassende, auf Integration der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären zielende Anspruch der Historischen Sozialwissenschaft zum Ausdruck. Der Begriff der Gesellschaft stammt aus den Sozialwissenschaften und bildet bis heute einen Fluchtpunkt des sozialwissenschaftlichen Begriffsrepertoires. Gerade in der Soziologie dienen Begriffe wie „Arbeitsgesellschaft“ (Arendt 1958, Dahrendorf 1982), „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) oder „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1992) dazu, die jeweils als prägend angesehenen Dimensionen gesellschaftlichen Wandels auf den Punkt zu bringen. Abseits dieser zugespitzten Gesellschaftsdiagnosen wurden und werden aber doch die Möglichkeiten und Probleme gesellschaftsgeschichtlicher Synthesen am intensivsten unter Historikern diskutiert. Die Geschichte erscheint dabei als „letzte synthesefähige Disziplin unter den Sozialwissenschaften“.25 In der Tat ist im letzten Jahrzehnt eine Reihe von Gesellschaftsgeschichten des 20. Jahrhunderts veröffentlicht worden, die allesamt von Historikern verfasst wurden. Sie folgen einer globalen, europäischen oder nationalstaatlichen Perspektive.26 Manche Autoren sprechen explizit das Verhältnis von Geschichte und Sozialwissenschaften an: „Until very recently historians have mostly left the subject of post-war Western Europe to social scientist. It is still hard to see it as a period of history rather than as a series of contemporary social, political and eco-

24 Eric J. Hobsbawm: From social history to the history of society, in: Daedalus 100 (1971), S. 20–45. 25 So – wenn auch in kritischer Absicht – Reinhard Sieder: „Gesellschaft“ oder die Schwierigkeit, vernetzend zu denken. Die Zweite Republik Österreich, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 199–224, hier 223. 26 Mit globalem Anspruch: Eric J. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995; mit europäischem Anspruch Mark Mazower: Dark continent. Europe’s twentieth century, London 1998. Dazu kommt eine Reihe von nationalen Gesellschaftsgeschichten. Als besonders anregende Beispiele vgl. für Ungarn Ignác Romsics: Hungary in the 20th century, Budapest 1999; für Italien (wenn auch nur für die zweite Hälfte des Jahrhunderts) Paul Ginsborg: A history of contemporary Italy. Society and politics 1943–1988, London 1990; für Deutschland Band 4 (1914–1949) und Band 5 (1949–1990) von Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München 2008; sowie für Österreich Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994.

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nomic issues“, schreibt Mark Mazower in seinem Buch über „Europe’s Twentieth Century“.27 Trotz aller postmodernen Skepsis gegenüber „großen Erzählungen“ hat sich die Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts gerade in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelt und sie ist eine Domäne der Historiker geblieben. Ihre leitenden Fragestellungen und Ideen sind allerdings sehr unterschiedlich. In Österreich hat Ernst Hanisch eine Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben, die verschiedene neue methodische Ansätze miteinander verknüpft.28 Seine beiden leitenden Konzepte sind einerseits die Dominanz „staatlich-bürokratischer Traditionen“ über die „bürgerliche Gesellschaft“, andererseits der Wandel der individuellen „Lebenschancen“.29 Im Unterschied zu der von Hobsbawm und Wehler getroffenen Entscheidung für ein „kurzes 20. Jahrhundert“, das im Ersten Weltkrieg die entscheidende Zäsur erblickt, lässt Hanisch seine Gesellschaftsgeschichte in den 1890er-Jahren beginnen und begründet dies mit den „Leitfossilien“ Automobil, Elektrizität, Film und Kunst.30 Sein Konzept integriert damit politische, soziale und kulturelle Dimensionen der Geschichte des 20. Jahrhunderts.  Zugleich zeigt Hanisch – wie dies auch in den Gesellschaftsgeschichten von Hobsbawm und Wehler zum Ausdruck kommt – eine Vertrautheit mit langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Besonderheit von Zeithistorikern im Vergleich zu Sozialwissenschaftlern könnte gerade darin bestehen, dass sie nicht – oder nicht nur – Zeithistoriker sind, sondern Allgemeinhistoriker, die über das 20. Jahrhundert hinauszublicken vermögen.31

Welche Auswirkungen hat die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ auf das Verhältnis von Geschichts- und Sozialwissenschaften? Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der – wie es Lutz Raphael genannt hat – „Verwissenschaftlichung des Sozialen“.32 Teil dieses Prozesses ist das enorme Wachstum und die vielfältige 27 28 29 30

Mazower, Dark continent, S. 478. Hanisch, Der lange Schatten. Ebda., S. 13–16. Hanisch, Forschende Blick, S. 567. Vgl. dazu Lutz Raphael mit seinem Plädoyer dafür, „als kleinste Zeiteinheit der Zeitgeschichte, die gesellschaftsgeschichtlichen Fragestellungen folgt, ein langes 20. Jahrhundert zu wählen, dessen Anfänge in den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und intellektuellen Entwicklungsschüben der letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts liegen“ und das bis zu den aktuellen Fragen der Gegenwart reicht. Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. 31 Auch eine weit zurückreichende historische Perspektive weist in der österreichischen Zeitgeschichte bestimmte Traditionen auf. Die wichtigsten Mitarbeiter von Gerhard Botz auf seinem Salzburger Lehrstuhl für Zeitgeschichte und seinem Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft hatten ursprünglich folgende Arbeitsschwerpunkte: Spätmittelalter (Albert Müller); Klassenstrukturen des 19. Jahrhunderts (Gerald Sprengnagel); Migrations- und Integrationsgeschichte des 19. Jahrhunderts (Albert Lichtblau). 32 Raphael, Verwissenschaftlichung.

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Ausdifferenzierung der Sozialwissenschaften, die sich vom 19. Jahrhundert an immer mehr Kompetenzen für die verschiedensten gesellschaftlichen Lebensbereiche eroberten. Welche Konsequenzen hat dies für das Verhältnis zwischen Geschichts- und Sozialwissenschaften? Darüber wurde erst wenig nachgedacht. Zwei Konsequenzen möchte ich ansprechen. Zum Ersten: Eine traditionelle Sicht auf die Arbeitsteilung zwischen den Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie und der Geschichtswissenschaft, besteht in der Annahme, dass Historiker die Soziologie als „Theorien- und Methodensteinbruch“ benützen und Soziologen die Geschichte als „Fakten- und Datensteinbruch“.33 Die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ hat diese Arbeitsteilung grundlegend modifiziert. Sozialwissenschaftler haben für das 20. Jahrhundert – und insbesondere für dessen zweite Hälfte – eine kaum überschaubare Masse an Daten produziert. Insbesondere die amtliche Statistik und die zeitgenössische Sozialforschung haben die Art und die Menge historischer Quellen dramatisch verändert. Sie liefern ökonomische, demografische oder soziale Statistiken genauso wie Daten zu politische Meinungen, zu gesellschaftlichen Werten, zur Arbeitswelt und zum Freizeitverhalten, zu Konsumgewohnheiten und Lebensstilen und so weiter und so fort. Mit der Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung in den letzten Jahrzehnten wurden immer mehr derartige Datenbestände elektronisch erschlossen und zugänglich gemacht. Viele von ihnen – wie zum Beispiel Daten der Rentenversicherungen – reichen bis in die Zwischenkriegszeit zurück und erfassen damit fast das gesamte 20. Jahrhundert. Für Sozialwissenschaftler bedeutet dies, dass sie in zunehmendem Maß auf den von Historikern geschaffenen „Fakten- und Datensteinbruch“ verzichten können. Sie können sich immer mehr auf in ihren eigenen Disziplinen produzierte Daten beschränken und erlangen damit eine spezifische Kompetenz zum Schreiben der neuesten Geschichte. Umgekehrt stellen für Historiker die sozialwissenschaftlichen „Daten- und Faktensteinbrüche“ neue Herausforderungen dar. Sie brauchen die Fähigkeit zur kritischen Beurteilung sozialwissenschaftlicher Daten, also zu einer spezifischen Quellenkritik, die Entstehungsbedingungen und Konstruktionsprinzipen derartiger Daten einbezieht. Zugleich brauchen sie mehr denn je die Fähigkeit zur theoriegeleiteten Selektion, die es vor dem Hintergrund expliziter Fragestellungen und offengelegter Methoden ermöglicht, aus der Fülle der Evidenz auszuwählen und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Beide Fähigkeiten sind bisher wenig entwickelt. All dies könnte für Historiker den Rückzug auf das vertraute Terrain traditioneller Quellen und Methoden oder auf die Erzählung anstelle des Arguments fördern und die Arbeitsteilung zwischen Historikern und Sozialwissenschaftlern beim Schreiben der Geschichte des 20. Jahrhunderts stärken. Zum Zweiten: Eine entgegengesetzte Perspektive zeichnet sich allerdings in der neueren Wissenschaftsgeschichte oder „Sozialgeschichte der Wissenschaft“ ab. Ein Aspekt der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ besteht darin, dass die Sozialwissenschaften selbst zu sozialen Akteuren werden, die Problemzonen definieren, staatlich-politisches Handeln konzipieren 33 Christian Fleck, Albert Müller: ‚Daten‘ und ‚Quelle‘, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8.1 (1997), S. 101–126, hier 101, 108, 111.

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und soziale Praxis legitimieren.34 Damit gewinnt die Wissenschaftsgeschichte eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Zeitgeschichte. Sie verkörperte in den letzten Jahren auch ein Feld besonders produktiver interdisziplinärer Forschung, in der Historiker mit – in der Regel kritischen – Vertretern der jeweiligen Disziplin zusammenarbeiten.35 Über diese Kooperationen hinaus könnte die Entwicklung hin zur „Wissensgesellschaft“ auch zum Leitmotiv einer Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts werden.36 Die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ wird sicherlich großen Einfluss auf das zukünftige Verhältnis von Geschichts- und Sozialwissenschaft nehmen. Sie enthält das Potenzial für eine Vertiefung der Arbeitsteilung und eine schärfere Grenzziehung zwischen beiden Disziplinen(-bündeln), sie enthält aber auch das Potenzial für eine neuerliche Annäherung, wenn auch unter anderen Vorzeichen als in den 1970er-Jahren.

34 Raphael, Verwissenschaftlichung, S. 188. 35 Meine eigenen positiven Erfahrungen mit diesen neuen Entwicklungen von Interdisziplinarität stammen vor allem aus dem Schwerpunktprogramm der DFG zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaften. Vgl. dazu etwa Josef Ehmer, Werner Lausecker et al. (Hg.): Historische Bevölkerungskonstruktionen in konkurrierenden wissenschaftlichen Praktiken 1920–1960. International vergleichende Perspektiven, Köln 2006 (Historical Social Reserach / Historische Sozialforschung, 31); Josef Ehmer, Ursula Ferdinand et al. (Hg.): Herausforderung Bevölkerung. Zur Entwicklung des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem ‚Dritten Reich‘, Wiesbaden 2007; Jürgen Reulecke, Rainer Mackensen et al. (Hg.): Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts ‚Bevölkerung‘ vor, im und nach dem ‚Dritten Reich‘, Wiesbaden 2009. 36 Vgl. dazu insbes. Margit Szöllösi-Janze: National Socialism and the sciences. Reflections, conclusions, and historical perspectives, in: dies. (Hg.): Science in the Third Reich, Oxford 2001, S. 1–35, hier 17 ff.; dies.: Redefining German contemporary history. The concept of the knowledge society, in: The Research Council of Norway (Hg.), Bilanz eines Jahrhunderts. Bericht über das 10. deutsch-norwegische Historikertreffen in Bergen/Norwegen, Oslo 2001, S. 95–104. Margit Szöllösi-Janze war – leider nur kurz – Nachfolgerin von Gerhard Botz auf seinem Salzburger zeitgeschichtlichen Lehrstuhl.

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Ruling Elites, Political Institutions and Decision-Making in Fascist-Era Dictatorships: Comparative Perspectives A comparative analysis of the institutions, elites and political decision-making in the rightwing dictatorships of inter-war Europe highlights some of the characteristics that were to dominate twentieth-century dictatorships. While Italian Fascism and German National Socialism provided powerful institutional and political inspiration for other regimes, their types of leadership, institutions and operating methods already encapsulated the dominant models of the twentieth-century dictatorship: personalized leadership, the single or dominant party and the ‘technico-consultative’ political institutions.1 The fascist regimes were the first ideological one-party dictatorships situated on the right of the European political spectrum, and their development, alongside the consolidation of the first communist dictatorship, decisively marked the typologies of dictatorial regimes elaborated during the 1950s.2 While Carl J. Friedrich and Zbigniew Brzezinski recognized, that the single party played a more modest role within fascist regimes than it did within communist regimes, part of the classificatory debate over European fascism continued to insist – eventually excessively – on this point and the theories of totalitarianism ‘deformed’ their role, often without any empirical support.3 On the other hand, many historians looking at the ideology and political activities of the fascist parties examined the transformation of these parties as institutions of power within the new dictatorships with simplistic analyses stressing the contradictions between the revolutionary nature of the ‘movement’ phase (prior to taking power) and the ‘regime’ phase.4 In the transition to authoritarianism that occurred during the 1920s and 1930s there is no strict correlation between the abrupt and violent break with democracy in Portugal and Spain and the ‘legal’ assumption of power in Germany and Italy, or with the extent of the break with the liberal institutions following the consolidation of their respective dictatorial regimes. Salazar, who came to power after a coup d’état, and Franco, whose ascension was the result of a civil war, both had much greater room for manoeuvre during the transition than either Mussolini or Hitler, who both achieved their positions through ‘legal’ routes and with the support of a conservative right less inclined towards radical adventures.5 The type of transition does not seem to explain the extent of the break with the liberal institutions and the innovation of the 1 2 3 4 5

António Costa Pinto (ed.): Ruling elites and decision-making in fascist-era dictatorships, Boulder 2009. Paul Brooker: Non-democratic regimes, Basingstoke 2009. Carl J. Friedrich, Zbigniew Brzezinski: Totalitarian dictatorship and autocracy, Cambridge, Mass. 1956. Renzo De Felice: Intervista sul fascismo, ed. by Michael A. Ledeen, Bari 1975. Juan J. Linz, Alfred Stepan (eds.): The breakdown of democratic regimes, Baltimore / London 1978; Juan J. Linz: Authoritarian and totalitarian regimes, Boulder / London 2000; Dirk Berg-Schlosser, Jeremy Mitchell (eds.): The conditions of democracy in Europe, 1919–1939, Basingstoke 2000.

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new institutions created by the subsequent dictatorships. The differences between the regimes lay not so much in the nature of the transition but rather in the role of the party and in its relationship with the leader who dominated the transitional process. The dictatorships associated with fascism during the first half of the twentieth century were personalized dictatorships.6 It is interesting to see that even those regimes that were institutionalized following military coups, and which passed through a phase of military dictatorship, gave birth to personalist regimes and more or less successful attempts to create single or dominant parties.7 In the majority of these cases the inherent dilemma in the transformation of the single party as the dictatorship’s ‘ruling institution’ into the leader’s ‘instrument of rule’ is somewhat different than it was for the socialist dictatorships.8 Some authors, in the case of the communist parties in power, speak of the degeneration of the party as a ruler organization to becoming an ‘agent of the personal ruler’.9 In the dictatorships associated with fascism the single party was not the regime’s ‘ruling institution’ – it was one of many. It was only in the paradigmatic cases of Italy and Germany that this question was raised and resolved during the regimes’ institutionalization phase. In the cases of Franco’s Spain and Salazar’s Portugal, the single parties were created from above as ‘instruments of rule’ for the leader. In the dictatorships of Central and Eastern Europe, such as Austria and Romania, and also Marshall Petain’s Vichy France, some fascist movements emerged either as rivals to or unstable partners in the single or dominant party, and often as inhibitors to its formation, making the institutionalization of the regimes more difficult for the dictatorial candidates. The boundaries of these regimes were fluid, demonstrating fascism’s amazing ability to permeate the authoritarian right during the 1920s and 1930s. The most paradigmatic case was, without doubt, that of early Francoism, although Salazarism in Portugal also emulated some aspects of Italian Fascism. Italian Fascism and German National Socialism represented attempts to create a new set of political and para-state institutions that were in one form or another present in other dictatorships of the period. After taking power, both the National Socialist and the Fascist Party became powerful instruments of a new order, agents of a ‘parallel administration’: transformed into single parties they flourished as breeding grounds for a new political elite and as agents for a new mediation between the state and civil society, creating tensions between the single party, the government and the state apparatus in the process. These tensions were also a consequence of the emergence of new centres of political decision-making that transferred power from the government and the ministerial elite and concentrated it in the hands of Mussolini and Hitler.10   6 Stanley G. Payne: A history of fascism, 1914–1945, Madison 1996; Roger Griffin: The nature of fascism, London 1991.   7 The military played a central role in Portugal in 1926, and then in Spain, where a failed military coup led to a civil war. See also Bernd Jürgen Fischer: Balkan strongmen. Dictators and authoritarian rulers of southeast Europe, London 2006.   8 António Costa Pinto, Roger Eatwell et al. (eds.): Charisma and fascism in interwar Europe, London 2007.   9 Paul Brooker: Twentieth-century dictatorships. The ideological one-party states, Basingstoke 1995. 10 António Costa Pinto: Elites, single parties and political decision-making in fascist-era dictatorships, in: Contem-

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While taking power was only possible with the support of other conservative and authoritarian groups, the nature of the leadership and its relationship with the party was an important variable. As some historians have observed, a crucial element is ‘to what extent the fascist component emancipated itself from the initial predominance of its traditional conservative sponsors and to what degree it departed  – once in power  – from conventional forms and objectives of policy-making to take a more radical direction’.11 This tension may be illustrated by the eventual emergence of a weaker or stronger ‘dualism of power’ that appears to be the determining factor for the typological and classificatory variations used to qualify those dictatorships historically associated with fascism and which have been defined in different ways, as ‘authoritarian’ and ‘totalitarian’, or as ‘authoritarian’ and ‘fascist’.12 The interaction between the single party, the government, the state apparatus and civil society appears fundamental if we are to obtain an understanding of the different ways in which the various dictatorships of the fascist era functioned. The party and its ancillary organizations were not merely parallel institutions; they were also central agents for the creation and maintenance of the leader’s authority and legitimacy. While their impact on the functioning of the political system may be difficult to assess, the personality of the leader is of particular importance within dictatorial regimes, because, without wanting to underestimate the role of the institutions, this is central for the definition of the respective style of rule.13 For this very reason, the type of leader-single-party axis appears to be fundamental to explaining the diminution (or not) of the government, and the opening that favoured (or not) ‘dualism’ in the nature of power and decision-making: or in other words, the extent of the ‘de-institutionalization of norms’ and the bypassing of bureaucratic authoritarianism (here expressed by the dictator-cabinet-state apparatus axis) by the leader and his followers.14 This contribution analyses the relationship between the single parties and the political decision-making institutions within those dictatorships associated with fascism, focusing on the relationship between the dictators, the single parties, the cabinet and the governing elites, while also seeking to identify the locus of decision-making power and the main institutional veto players.15

porary European History 11.3 (2002), pp. 429–454. 11 Aristotle A. Kallis: The “regime-model” of fascism. A typology, in: European History Quarterly 30.1 (2000), pp. 77–104. 12 Juan J. Linz: Fascismo, autoritarismo, totalitarismo. Conessioni e differenze, Rome 2003. 13 Jean Blondel: Political leadership. Towards a general analysis, London 2007; Fred I. Greenstein: Personality and Politics. Problems of evidence, inference, and conceptualization, Princeton 1987. 14 M. Rainer Lepsius, The model of charismatic leadership and its applicability to the rule of Adolf Hitler, in: Pinto et al. (eds.), Charisma and fascism, pp. 37–52. 15 As both Iberian dictatorships continued long after the end of the fascist era, this contribution will consider these regimes from their creation during the 1930s to the end of the Second World War in 1945.

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Single party, cabinet and political decision-making: locating power in fascist-era dictatorships The political engineering of Italian Fascism in power While Mussolini gained power as the leader of the National Fascist Party (Partito Nazionale Fascista – PNF), the subsequent dismantling of the democratic regime was slow and the reduced social and political influence of the party and/or the political will of Mussolini made him accept compromises with the king, the armed forces and with other institutions, such as the Catholic Church. Consolidation of the dictatorship meant that a greater degree of discipline had to be imposed within the party, whose actions during the initial phase of Mussolini’s regime could threaten the compromises essential for its institutionalization. The Italian case is an example of seizure of power by an united political elite whose base was a fascist party transformed into the primary motor for the dictatorship’s institutionalization; however, for several years Mussolini had to work with a parliament, and until the end of his regime he also had to work with a senate. Securing political control of the parliament was not easy during the 1920s, and the entire legislative process had to pass through both it and, until the end of the regime, the king. Didier Musiedlak notes that “the powerful Fascist leader of Italy had to behave as the classical prime minister of a liberal system […] appealing for votes and fearing abstention”.16 Securing political control of the senate was a slow and complex process that involved the PNF infiltrating the institution and encircling the royalist conservative elite.17 Nevertheless, while he needed the party to control institutions and strengthen his personal power Mussolini remained suspicious of some of its sections. Unlike Hitler, Mussolini did not view the party as an army of followers: he feared its autonomy could threaten his authority. The ambition of the single party to control society also collided with state bureaucracy, so much so that it was not until the 1930s that Mussolini allowed the PNF to extend its control over the state apparatus. Mussolini did at times use the party to abandon his concessions to bureaucratic-legal legitimacy. Although he lacked the opportunity to eliminate the diarchy he inherited, he never abolished the monarchy.18 When what remained of the liberal legacy was eliminated during the latter half of the 1930s and when, under its secretary Starace, the PNF proposed the conquest of civil society, Mussolini’s attempts to enhance his personal and charismatic authority through the party, state and propaganda apparatus culminated in the creation of the cult of Il Duce.19 This represented the zenith of a movement several historians of fascism suggest signals the passage from an authoritarian to a totalitarian fascism, tendencies of both of which had co-

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Didier Musiedlak: Mussolini, charisma and decision-making, in: Pinto (ed.), Ruling elites, pp. 1–16. Didier Musiedlak: Lo stato fascista e la sua classe politica, 1922–1945, Bologna 2003. Pierre Milza: Mussolini, Paris 1999. Emilio Gentile: The sacralization of politics in fascist Italy, Cambridge, Mass. / London 1996.

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existed during the consolidation of Mussolini’s dictatorship.20 In 1926, the PNF became the de facto single party. The 1928 transformation of the Fascist Grand Council – the PNF’s supreme body since 1923 – into a state institution under Mussolini’s leadership marked the fusion of the party and the state at the very peak of the fascist political system without subordinating the former to the latter. As one student of Italian fascism noted: The Fascist Grand Council retained a political importance that was greater than that of the cabinet […] In this aspect, however, the theoretical supremacy of the state over the party cannot be interpreted as the subordination of the party’s organs to those of the government.21

The main reforms of the Italian political system began with the Fascist Grand Council, although this body – even while technically more important than the council of ministers – was formally a consultative body that met only infrequently after the consolidation of Fascism. One of the last reforms was the creation of the Fascist corporatist chamber in 1938, which the leaders of the PNF became automatic members of. The Grand Council consequently lost its right to draw up the list of deputies with the abolition of the liberal parliament. The secretary of the PNF, who was also the secretary of the Grand Council and a government minister, was to become the second most important figure of Italian Fascism.22 During the first years of his regime, Mussolini was afraid the party’s radicalism and indiscipline would compromise the consolidation of Fascist power. Purges, the closure of the party to new members and limiting its access to both the state and to the government were all characteristics of the dictatorship during the 1920s.23 However, throughout the 1930s the PNF, which was by then under Starace’s leadership and had been imbued with a structure that was more ‘disciplined [both] horizontally and vertically’, became a powerful machine used both to shape civil society and promote the ideological socialization of the Duce leadership cult. Mussolini was the ruler of an often unstable balance between the party, the government and the administration, and reserved political decision-making power to himself while subordinating both the party and the governmental elite to his sole authority. Salvatore Lupo illustrated this well when he wrote, “the group of leaders that emerged from the Fascist mobilization took important steps towards the conquest of power on a path that was blocked to them by both conservative resistance and by the jealousy and paranoia of Il Duce that quickly transformed into tyranny”.24 From this perspective, Mussolini accumulated a large part of the political de20 Emilio Gentile: La via italiana al totalitarismo. Il partito e lo stato nel regime fascista, Rome 1995. 21 Adrian Lyttelton: La dittatura fascista, in: Giovanni Sabbatucci, Vittorio Vidotto (eds.), Storia d’Italia. Vol. 4: Guerra e fascismo, 1914–1943, Bari 1998. See also H. Arthur Steiner: Government in fascist Italy, New York / London 1938. 22 Gentile, La via italiana al totalitarismo. 23 Ibid., pp. 168–198. 24 Salvatore Lupo: Le fascisme italien. La politique dans un régime totalitaire, Paris 2003.

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cision-making power for himself. His cabinet was undoubtedly formally devalued in relation to the Grand Council; however, the relationship between Mussolini (who often took direct responsibility for up to six ministries) and his ministers was still a determining element of political decision-making, while the council of ministers survived as an institution. Some other institutions inherited from the liberal regime that remained largely ‘un-fascistized’, such as the council of state, were also to act as legislative filters.25 The significant reduction in the number of meetings held by both the Grand Council and the council of ministers from the mid-1930s was indicative of the increasing concentration of power to Mussolini’s person: the Grand Council did not meet at all between 1939 and 1943, “without affecting the regime’s ability to function”.26 However, this was the reservoir of the fascist ruling elite that dismissed Mussolini in 1943, and while the council of ministers also held significantly fewer meetings, at least the decisions taken there were ratified.27 At the meeting of the Grand Council at which Mussolini was removed from office, Dino Grandi, the president of the Fascist corporatist chamber, accused him of having a personalist management style that bureaucratized and stifled the party and paralysed the regime.28 This first accusation was not far from the truth, while the second only served to highlight the progressive reduction of the General Council’s once significant political decision-making authority. Despite having been transformed into a centralized ‘party-state’ machine (as was the case for other official single parties) 80 per cent of the PNF elite had joined the movement before the March on Rome and they did not like latecomers.29 The militia was the first institution to be removed from the party’s control and placed under Mussolini’s direct command. The political police was never independent of the state, although several of the mass organizations – particularly those involving youth, women and the working classes – were subjected to many different transfers. The PNF took control of the popular mass organizations, even though these organizations were initially dependent upon the ministries.30 The national recre­ ation club (Opera Nazionale Dopolavoro – OND, a cultural organization within the ministry of economic affairs), was the object of some rivalry between the ministry of corporations and the PNF before responsibility for it was finally placed with the latter in 1927 when it was the regime’s largest mass organization.31 25 Guido Melis: Le istituzioni italiane negli anni trenta, in: idem (ed.), Lo Stato negli anni trenta. Istituzioni e regime fascisti in Europa, Bologna 2008, pp. 91–107. 26 Goffredo Adinolfi: Political elite and decision-making in Mussolini’s Italy, in: Pinto (ed.), Ruling elites, pp. 17–52. 27 Ibid., p. 49. 28 Paul H. Lewis: Latin fascist elites. The Mussolini, Franco, and Salazar Regimes, Westport 2002, p. 51. 29 Gentile, La via italiana al totalitarismo, p. 183; Marco Palla: Lo stato-partito, in: idem (ed.), Lo stato Fascista, Milano 2001, p. 17. 30 It is interesting to see that a great deal of recent empirical research confirms much of the pioneering working hypotheses on the PNF in power originally posited by Dante L. Germino in 1959. 31 Victoria De Grazia: The culture of consent. Mass organization of leisure in Fascist Italy, Cambridge 1981, pp. 33–59.

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A similar event happened with the youth organizations.  Originally they were voluntary organizations within the PNF and now, in 1929, responsibility for them was transferred to the ministry of education. A few years later, with Starace at its head, the party regained control of them and in 1937 they were amalgamated into a single youth movement, the Italian Fascist Youth (Gioventù Italiana del Littorio– GIL). The monopoly over the political socialization of youth was not only a source of tension between the PNF and the state, it also involved the Catholic Church, which saw its independent Catholic Action youth organizations alternately tolerated and dissolved.32 The PNF was also involved in the trade unions. During the initial period, the PNF had its own unions which it maintained indirect control over. The complementary nature of the relationship between the state and the party was significant for the women’s organizations, from Fascist Women’s Section (Fasci Femminili– FF) to Rural Housewives (Massaie Rurali– MR), which the party after many hesitations invested heavily in throughout the 1930s.33 Despite the lack of success with its attempts to ‘fascistize’ the bureaucracy, political control over access to the civil service was strengthened progressively following the transfer of the Fascist civil service association to the PNF in 1931 and the introduction of obligatory membership of this association in 1937. In 1938, membership of the PNF became a necessary precondition for admission to the state apparatus.34 Several other examples can be given to demonstrate the party’s increasing influence within the state and of the privileges it could extend to its professional members. Newly appointed judges, whether members of the PNF or not, were obliged to attend courses on fascist culture at the party’s political education centres before they could take up their posts, while trainee lawyers were allowed a reduction of their training period, but only if they joined the PNF before they qualified.35 We should not forget that alongside the central state apparatus a large para-state sector linked to the coordination of the economy and to the corporatist system was developed, a true ‘parallel administration’ where there was greater flexibility in the nominations, but where the nominees for positions came not only from professional civil servants, but increasingly from within an elite closely associated with the Fascist movement and its leader.36 In Italian Fascism not only did the locus of political decision-making power begin to diverge from the classical dictator-government binomial as a result of the existence of the Grand Council; the single party was transformed into the only route into government and controlled civil society through its parallel political organization, which was at the service of the dictator and his regime and which increasingly interfered in the workings of both the state apparatus 32 Tracy H. Koon: Believe, obey, fight. Political socialization of youth in fascist Italy, 1922–1943, Chapel Hill 1985. 33 Victoria De Grazia: How fascism ruled women. Italy, 1922–1945, Berkeley 1993, pp. 234–271; Perry L. Willson: Peasant women and politics in fascist Italy. The Massaie rurali, London 2002. 34 Guido Melis: La burocrazia, in: Angelo Del Boca, Massimo Legnani, et al. (eds.), Il regime Fascista, Bari 1995, p. 264. 35 Paolo Pombeni: Demagogia e tirannide. Uno studio sulla forma-partito del fascismo, Bologna 1984, p. 256. 36 Jean-Yves Dormagen: Logiques du fascism. L’état totalitaire en Italie, Paris 2007.

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and the bureaucracy. The concentration of seven or eight portfolios in Mussolini’s hands and the erratic and volatile nature of a ministerial elite that could be (and which was) dismissed at any moment resulted in the appointment of indecisive ministers and left a shadow over direct relations between Il Duce and the senior bureaucracy.

Hitler and the deinstitutionalization of the Nazi dictatorship The Nazi dictatorship was much closer to the model of charismatic leadership and the Nazi Party (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei– NSDAP) and militias like the Schutzstaffel (SS) exercised a greater influence over the political system. Both factors make it much more difficult to identify the location of political decision-making in Nazism. One of the most fruitful interpretations of the Nazi political system is the one which defines it as a polyocracy – a political system that consists of several decision-making centres, all of which mediated individually by Hitler.37 Such a system has many tensions – for example, between the party and its bureaucratic apparatus and the local and central administrations; however, we should not exaggerate them, since in many cases they complemented each other. This investigation has variegated some of the interpretations that have bequeathed us an image of forced coherence where there was little.38 It is also clear the war acted as a catalyst driving events that under different circumstances would probably have followed a different path. Hitler’s dictatorship was, in every aspect of its existence, more like a charismatic regime than any other, and this had significant implications for the operation of the Nazi political system.39 The Nazi leader was at the head of the most powerful fascist party, and although Hitler had to overcome some opposition from elements within the NSDAP’s militia – the Sturmabteilungen (SA) – in the immediate aftermath of his rise to power, he soon made the party his ‘instrument of rule’. Hitler’s style of rule caused a weakening of the authoritarian state’s decision-making structure, resulting in Hitler’s rise to absolute power at the head of a system where the “coexistence [of ] and conflict [between] uncoordinated authorities very often undermin[ed] solidarity and uniformity in the exercise of power”.40 Whether as part of a deliberate strategy or merely as a consequence of Hitler’s leadership personality, this also provoked a multiplication of ad hoc decisions and ensured there would be no real or formal limits to his authority.41 37 Ernst Fraenkel: The dual state, New York 1942. 38 Friedrich Brzezinski: Totalitarian dictatorship. 39 Ian Kershaw: Hitler. Vol. 1: 1889–1936: Hubris, London 1998; idem: Hitler. Vol. 2: 1936–1945: Nemesis, London 2000. 40 Martin Broszat: The Hitler state. The foundation and development of the internal structure of the Third Reich, London 1981, p. 351. 41 Hans Mommsen: From Weimar to Auschwitz, Princeton 1991, pp. 163–188.

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Despite this concentration of power, Hitler’s style of rule led him to immerse himself in such matters as the military and the strategic defence and expansion of the Third Reich, and to underestimate the ‘command and control’ dimension of the administration and of day-to-day domestic politics. As in the other dictatorships analysed here, the Nazi cabinet was quickly transformed into a bureaucratic body totally subservient to Hitler. However, even in this state of compliance the cabinet ceased to exist as a collegiate body, and political power in the Nazi regime was simultaneously concentrated in Hitler and dispersed throughout the various autonomous institutions – severely undermining the government. Regular meetings of the cabinet ceased in 1935, with even the symbolic meetings that remained coming to an end just three years later.42 In 1937, with Hans Heinrich Lammers at the head of the Reich Chancellery, ministerial access to Hitler became more difficult as he deliberately reduced the cabinet’s status.43 At the same time, the office of the deputy-Führer, headed by Rudolf Hess and later by Martin Bormann, and which represented the NSDAP, moved closer to Hitler. One important biographer of the German Führer noted: Whichever way one viewed it, and remarkable for a complex modern state, there was no government beyond Hitler and whichever individuals he chose to confer with at a particular time. Hitler was the only link of the component parts of the regime.44

The status associated with ministerial rank diminished as both a de facto and symbolic position of power within National Socialism with the rapid emergence of various para-state structures with parallel powers. While the ministerial elite was more politically homogeneous, the initial pressure from several Nazi ministers to create a centralized dictatorship based on the control of the administration led to its swift weakening under pressure from the party, the SS and other parallel institutions—very often with Hitler’s support. According to the German historian Martin Broszat in National Socialism three distinct centres of power began to emerge within a structure that was in a tense and unstable balance: the single party monopoly, the centralized governmental dictatorship and the absolutism of the Führer […] undermin[ed] the unity of the government and the monopoly of government by the Reich cabinet.45

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Broszat, The Hitler state, p. 280. Edward Norman Peterson: The limits of Hitler’s power, Princeton 1969, pp. 26–33. Kershaw, Hitler, vol. 2, p. 227. Broszat, The Hitler state, pp. 262–264.

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Special authorities under Hitler’s direct control soon developed alongside the ministries at the same time as several political and police organizations, some controlled by the NSDAP and others by the SS, began to act independently of the government. These ‘leader-retinue structures’ were not only tolerated by Hitler: he actually encouraged them. Among the former were organizations such as the German Road System, the Labour Service and others, the most important of which were either more overtly political or repressive. The Hitler Youth, which remained under the party’s control, was transformed into a Reich authority independent of the ministry of education, with the objective of becoming a counterweight to both the ministry and the armed forces in political and ideological education. In a complex manner that generated innumerable tensions, the gradual move of the police from the interior ministry into the hands of Himmler’s SS is yet another example. It was transformed into an institution that was at least formally dependent upon the party and the state, but “which had detached itself from both and had become independent”.46 Frick’s interior ministry was thus emasculated of any practical authority over the police, just as the position of the minister of labour was also partially weakened with the independence of the German Labour Front (Deutsche Arbeitsfront – DAF).47 If the Nazification of the administration was at times more superficial than real, the creation of the organizations viewed as parallel administrations represent the most extreme examples of the subversion of an authoritarian concept of government and state among the collection of dictatorships that have been associated with fascism. Even though it had been subordinated, the appointment of NSDAP leaders to ministerial offices was – in much the same way as in the other dictatorships – a symbol of the Nazi Party’s victory as it represented the diminution of the government. It is also worth noting that while the Reichstag survived as an institution, albeit with much of its legislative authority removed and controlled by the NSDAP, it was seldom used as a legitimizing institution. The tensions created by the legality of the NSDAP’s rise to power and the rapid development of Hitler’s charismatic leadership were resolved by the publication of a series of decrees conveying total power to his person. The NSDAP, while experiencing internal crises, created a parallel structure in the process of which they multiplied and upset the spheres of decisionmaking power in several areas of national and regional authority. The existence of a large administration of NSDAP functionaries was symbolic of a revolutionary strategy in the face of a controlled bureaucracy, although according to several studies “the Nazi leadership always relied on the old elite to maintain the essential functions of government”, particularly on German territory, given that the party was more important in the eastern occupied territories.48 Neverthe46 Ibid. p. 272. 47 Peterson, The limits of Hitler’s power, p. 77; Norbert Frei: L’état hitlérien et la société allemande, 1933–1945, Paris 1994, p. 171. 48 Michael H. Kater: The Nazi Party. A social profile of members and leaders, 1919–1945, Cambridge 1983, p. 238.

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less, the increasing legislative confusion that sought to interpret the leader’s will represents the most extreme subversion of the traditional methods of political decision-making in the four dictatorships studied. The NSDAP, while not achieving its ambition to secure political and ideological control of the administration, did obtain for itself a much stronger position before the government.49 Not only did Bormann’s office of the deputy Führer become the most important channel to Hitler, it also secured some political control over the government, for example, through its power to veto civil service promotions. Simultaneously, the party achieved political and financial autonomy, and developed as a parallel state apparatus.50 The Nazi Party in power was transformed into a complex organization, and many studies have pointed out that the leaders of the party “became stuck midway through their journey toward the creation of a truly innovative, even revolutionary elite”.51 While the formal rigidity of many of the typologies labelling National Socialism as an example of where ‘the party commands the state’ cannot be verified, it was in Nazi Germany that the single party obtained its greatest autonomy and was the leading force in the drive to reduce the importance of the governmental and administrative elites and in the progressive and unstable subversion of ‘bureaucratic authoritarianism’ in political power and decision-making. As a single party, the NSDAP represents the strongest ‘shadow state’ of the cases under study.

Portugal’s New State: the primacy of bureaucratic authoritarianism The Portuguese New State, which was institutionalized in 1933, emerged from the military dictatorship that overthrew the liberal First Republic in 1926. António de Oliveira Salazar, a young university professor and Catholic leader, was appointed prime minister in 1932 by the president of the republic, General Óscar Carmona, whose position was legitimized in an election held in 1928. Despite the fact the president decided not to assume the position of prime minister or to declare himself dictator, he did appoint military officers to the position of prime minister until 1932. Salazar played no role in the 1926 coup, nor was he listed as a candidate for dictator during the final years of the parliamentary regime. Salazar’s expertise was in finance and his backing by the Catholic Church and the small Catholic party made him a natural candidate for the post of finance minister, and it was in that capacity that he joined the cabinet in 1928. His rise in government was made possible by the concessions he was able to demand from the dictatorship as a condition for accepting the ministerial post. 49 Jane Caplan: Government without administration. State and civil Service in Weimar and Nazi Germany, Oxford 1989, pp. 131–188. 50 Dietrich Orlow: The history of the Nazi Party, 1933–1945, Pittsburgh 1973. 51 Kater, The Nazi Party, p. 33.

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The New State’s political institutions resulted from the often difficult negotiations that took place between Salazar and the military leaders – the majority of whom were conservative republicans – both in government and in the framework of limited pluralism within the dictatorship. Curiously, the first institution to be created was the National Union (União Nacional– UN) in 1930, a single party formed by the government at the ministry of the interior that served to legitimate the elimination of the political parties which had survived the First Republic – even those that supported the dictatorship, such as the Catholic Party (Partido Católico– PC). Initially composed of local conservative republican notables, the UN was soon attracting monarchists, Catholics and even some dissident fascists from Rolão Preto’s National Syndicalism Movement (Movimento Nacional-Sindicalista– MNS), a movement that had challenged Salazar before he banned it in 1934. It was also during the final days of the military dictatorship that the republican opposition made several serious and violent attempts to overthrow it. Once appointed prime minister, Salazar set about the task of legitimating the regime through the promulgation of a new constitution. The resulting constitution of 1933 heralded an early compromise with the conservative republicans, but its liberal principals were weak while the corporatist and authoritarian ones were strong. Rights and liberties were formally maintained but were actually eliminated by government regulation. De jure freedom of association existed, but parties were effectively eliminated. Formally the UN never became a single party, although it functioned as such after 1934. As president of the UN, Salazar had a final say in the nominations for parliamentary deputies, a task he took great care over during the first phase of the regime. Adopting a methodology that he was to refine, he asked for lists of names and suggestions from his informal group of advisers and from the UN leadership, often personally inviting candidates to the list.52 The president, who chose and to whom the prime minister was responsible, was elected by universal male suffrage. During the first years of Salazar’s rule only the president and the army posed any constitutional or political threat to his position. While the constitution retained the classic separation of powers, the chamber of deputies had few powers and the corporatist chamber had only ‘advisory’ functions. Before the creation of the corporations, members of the corporatist chamber were chosen by the corporatist council, which consisted of Salazar and the ministers and secretaries of state of the sectors involved. Above all else, Salazar was a master whose manipulation of a perverted rational-legal legitimacy meant he had little need to seek recourse to a charismatic style that could rise above bureaucratic and governmental mediation between himself and the nation. Moreover, the military origins of his regime ensured his position was linked to that of President Carmona. Salazar’s single party was established within an authoritarian regime and the impetus for its formation came from the government with assistance from the state apparatus. State dependency marked the life of the party and, once its leaders had been appointed and the national 52 José Manuel Tavares Castilho: Os deputados da Assembleia Nacional, 1934–1974, Lisbon 2009, pp. 213–230; Rita Almeida De Carvalho: A Assembleia Nacional no pós-guerra, 1945–1949, Oporto 2002.

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assembly representatives chosen, the UN practically disappeared. In 1938 the dictator himself recognized that the single party’s activity had ‘ ”progressively diminished to a near-vanishing point”.53 Its internal structure was weak and it lacked the propaganda, socio-professional and cultural departments other single parties had; however, it did strengthen Salazar’s authority, limited pressure groups and the ‘political families’ and integrated them into the regime while also keeping a rein on the president. Students of the New State have emphasized the impact the outbreak of the Spanish civil war had on the nature of the regime. In response to the ‘red threat’ from Spain, Salazarism developed a new political discourse and symbolism, and set up two militia organizations. These steps have often been interpreted as the ‘fascistization’ of the regime, although the single party was not a part of the new dynamics. Several organizations, such as the regime’s militia the Portuguese Legion (Legião Portuguesa– LP), the Portuguese Youth organization (Mocidade Portuguesa– MP) and the political police (Polícia de Vigilância e Defesa do Estado– PVDE), were kept entirely dependent on the ministers. The National Propaganda Secretariat (Secretariado de Propaganda Nacional– SPN) was a general directorate within the state apparatus, equipped with its own autonomous leadership that was responsible to Salazar directly rather than to the party. The National Foundation for Happiness at Work (Fundação Nacional para a Alegria no Trabalho– FNAT), a modest Portuguese version of Mussolini’s OND and Hitler’s DAF, was dependent upon the undersecretary of state for corporations.54 Salazar’s extensive centralization of decision-making authority clearly justifies the use of the expression strong dictator in any characterization of the power exercised by him. However, it is important to stress that the place of power and political decision-making was always with the dictator and his ministers, as it was through these that the great majority of decisions passed. In several other dictatorships single parties functioned at least as parallel political apparatuses; however, this never happened in Salazarism, where political control was mainly effected through administrative centralization rather than through the single party. Not only was there no tension between Salazar’s UN and the cabinet-state apparatus, but neither the dictatorial system nor the political decision-making process were ever challenged by the existence of autonomous political institutions directly subordinated to the dictator.

Early Francoism and the fascist appeal While during their long existence the two Iberian dictatorships eventually converged as forms of authoritarianism, their markedly different origins were clearly evident during the period 53 Manuel Braga da Cruz: O partido e o estado no Salazarismo, Lisbon 1980, p. 140. 54 José Carlos Valente: Estado Novo e alegria no trabalho. Uma história política da FNAT (1935–1958), Lisbon 1999.

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studied.55 The main characteristic of Francoism was its radical break with the Second Spanish Republic. The product of a protracted and bloody civil war in which there were far more political purges and executions than during the overthrow of any other democratic regime following the First World War. Francoism as a political system rejected the fundamentals of the liberal legacy and was inspired by Italian Fascism to a much greater degree than Salazarism was.56 Franco set about establishing his embryonic political system in the areas that had been occupied by his Nationalists: it was a system marked by a reactionary and militaristic coalition of conservative Catholics, monarchists and fascists. In order to create his single party, Spanish Phalanx of the Assemblies of the National Syndicalist Offensive (Falange Española Tradicionalista y de las Juntas de Ofensiva Nacional-Sindicalista– FET-JONS) – which was based around the small Spanish fascist movement – Franco forced the Falange’s fusion with the Catholics and the monarchists.57 During the civil war, the Falange lent Franco the support of its political militants and its ideology as well as its modest fascist militia in the hope the imposed ‘unification’ would ensure for it ‘a genuinely fascist role in the implementation of a mobilized society’.58 However, the fascists saw their position weaken as a result of their inclusion in a single party that incorporated several ‘political families’. The Francoist single party was a heterogeneous union maintaining several identities, particularly at the intermediate levels.59 Nevertheless, Franco and the victors of the civil war initially outlined the creation of a Spanish new state: one that lacked the palliatives and compromises of its Portuguese counterpart, even though the tentative outlines of its proposed totalitarian tendencies were rapidly eliminated as the defeat of German Europe became more predictable.60 Franco’s concessions to Spain’s liberal past were few and far between, and the dictator did not have to deal with either a president or a king, subordinate or not, nor did he have to pervert a parliament as Mussolini had. As Stanley Payne noted, in 1939 the Spanish dictator “was the European ruler who, both formally and theoretically, retained the most absolute and uncontrolled power”.61 55 Stanley G. Payne: The Franco Regime, 1936–1975, Madison 1987; Antonio Cazorla Sánchez: Las políticas de la victoria. La consolidacíon del Nuevo Estado franquista (1938–1953), Madrid 2000. 56 Javier Tusell: La dictadura de Franco, Madrid 1988; Javier Tusell, Emilio Gentile, Giuliana Di Febo (eds.): Fascismo y franquismo cara a cara. Una perspectiva histórica, Madrid 2004; Ismael Saz Campos: Fascismo y franquismo, Valencia 2004. 57 Stanley G. Payne: Fascism in Spain, 1923–1977, Madison 2000. 58 Ricardo Chueca: El fascismo en los comienzos del régimen de Franco. Un estudio sobre la FET-JONS, Madrid 1983, p. 401. 59 Juan J. Linz: From Falange to Movimiento-Organización. The Spanish single party and the Franco regime, 1936– 1968, in: Samuel P. Huntington, Clement Henry Moore (eds.), Authoritarian politics in modern societies. The dynamics of established one-party systems, New York 1970, pp. 128–203; Glicerio Sánchez Recio: Los quadros politicos intermedios del régimen franquista, 1936–1959, Alicante 1996. 60 Joan Maria Thomàs: La Falange de Franco. El proyecto fascista del régimen, Barcelona 2001. 61 Payne, Fascism in Spain, p. 487.

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Some of Franco’s personal characteristics and his relationship with the institutions that constituted the base of his victory were to influence the nature of the new political system. Franco was a conservative military man expressing values of order, anti-communism, traditionalist Catholicism and an obsession with the ‘liberal-Masonic conspiracy’.62 His relationship with FET-JONS was also more utilitarian than ideological – he was not the original party leader and neither was the Falange to be a determining factor in his seizure of power – sensitive as he was to both the armed forces and the Catholic Church (the other powerful institutions involved in founding the new regime). Despite Franco’s support for the Axis during the Second World War his intellectual background and his professional career make it difficult to position him as a fascist leader once he was in power. Franco placed the single party under his and his government’s strict control. Nevertheless, FET-JONS not only managed to create a party apparatus and ancillary organizations that were much more powerful than those enjoyed by its Portuguese counterpart, but its access to both the national government and the local administrations was also greater. Despite being subordinate FET-JONS was initially integrated into certain administrative bodies within the state apparatus: for example, by uniting the position of civil governors with those of the party’s regional secretaries.63 One important struggle immediately lost was the attempt to retain an independent militia, which, as in Portugal, was placed under military control. However, the party did control a considerable number of ancillary organizations, such as the Youth Front (Frente de Juventudes– FJ), the Spanish University Union (Sindicato Español Universitario – SEU), the Women’s Section (Sección Feminina – SF), the Syndical Organization (Organización Sindical– OO.SS) and the Spanish equivalent of Italy’s OND, the Education and Recreation Syndical Organization (Organización Sindical de la Educación y Descanso – OSED).64 More importantly, the party retained responsibility for propaganda within the regime.65The intertwining of party and state notwithstanding, the coinciding of ministerial charges with respective sections within the party is certainly worthy of greater attention. The party’s national education delegate was responsible for the various youth organizations, and as the occupant of this post was also always the minister of education this minister effectively headed these organizations.66 Propaganda, which in 1938 was the responsibility of an 62 Paul Preston: Franco. A biography, London 1993. 63 For an interesting comparison between the Spanish civil governors and the Italian Fascist prefects see D. A. Gonzàlez Madrid: Le relazioni tra il partito e lo stato. Il prefetto e il Gobernador civil (1922–1945), in: Giuliana Di Febo, Renata Moro (eds.), Fascismo e Franchismo. Relazioni, immagini, rappresentazioni, Soveria Mannelli 2005, pp. 455–467. 64 Juan Sáez Marin: El Frente de Juventudes Política de juventud en la España de la posguerra (1937–1960), Madrid 1988; Miguel Ángel Ruíz Carnicer: El Sindicato Español Universitário (SEU), 1939–1965, Madrid 1996; Carme Molinero: La captación de las masas. Política social y propaganda en el régimen franquista, Madrid 2005. 65 Francisco Sevillano Calero: Propaganda y medios de comunicación en el franquismo, 1936–1951, Alicante 1998. 66 Chueca, El fascismo, p. 401.

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under-secretary of state in the Nationalist government, was transferred to the single party until 1945, when it became a government task once more. During Serrano Suñer’s short spell as the leading party figure he was also the party’s propaganda delegate, and when he was appointed interior minister he took the party’s propaganda specialists with him, further blurring the boundaries and increasing the confusion as to where the party ended and the state began.67 The syndicalist apparatus was without doubt “an area of power reserved to the Falangists”, but they were regulated by the ministry of labour. It was in this area that some of the Falangists experimented with the language of social demagogy in a way that created tensions with the government and which led to some dismissals.68 Generally, at least until 1945,“ the predominance of the Falange elite and military officials was obvious”, particularly at the governmental level.69

Single parties and the ministerial elites of fascist-era dictatorships The main divergence in the characteristics of the ministerial elite of the four dictatorships examined can be found in their political origins. In both National Socialism and Italian Fascism the hegemony of the PNF’s and NSDAP’s professional politicians is overwhelming as a condition for obtaining ministerial office. We should note that there were a greater number of fulltime politicians in Nazi Germany and Fascist Italy than there were in either Portugal or Spain, where bureaucrats and military officials constituted the larger proportion of both Salazar’s and Franco’s ministers (Table 1). While in the Portuguese New State only a small number of the single party’s leaders served in Salazar’s governments, in the other three dictatorships the party leaders had a very strong presence in government (Table 2). The ministerial elite of consolidated Italian Fascism was dominated by men who had been Fascists from the very early days, almost all of whom, with the exception of military officers, were also members of the Fascist Grand Council.70 According to the French historian Pierre Milza, “the inner circle of [Fascist] power was made up of about 30–40 people whose names also figure in the list of members of the Grand Council for most of this period”.71 Ministers, under-secretaries and presidents of both parliament and senate – almost all occupants of these positions came from this inner circle. Before they became members of government the main emblematic figures of Italian Fascism, men such as Dino Grandi, Italo Balbo and Guiseppe Bottai, who were PNF ras (bosses) in Bologna, Ferrara and Rome respectively, had all partici-

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Cazorla-Sánchez, La consolidacíon, p. 40; Chueca, El fascismo, pp. 287 f.; Molinero, La captación, pp. 73–185. Cazorla Sánchez, La consolidacíon, pp. 112–263; Chueca, El fascismo, pp. 341–348. Miguel Jerez Mir: Elites políticas y centros de extracción en España, 1938–1957, Madrid 1982. Emilio Gentile: Fascismo e antifascismo. I partiti italiani fra le due guerre, Florence 2000; Adinolfi, ‘Political elite’. Milza, Mussolini, p. 521.

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pated in the squadristi-led violence of the early-1920s.72 Of the few, mainly conservative and monarchist officers of the armed forces who rose to ministerial rank during Fascism, many followed a path similar to that of Emilio de Bono, who joined the PNF in 1922 and then served in the Fascist militia before receiving a ministerial post.73 Other main entry points to a ministerial position until the 1930s were either through the ranks of the PNF or through the provincial federations within which the PNF occupied a dominant position. The corporatist apparatus was another source for ministerial recruitment, and one that came to dominate during the second half of the 1930s: of the 28 presidents of Fascist federations 14 were to become under-secretaries of state or ministers.74 The least important recruiting ground was the civil service and the few who did come by this route still had to be vetted by the various Fascist organizations involved in public administration (Table 2). Ministerial reshuffles were common and it was rare for any minister to serve more than three years. There were very few like Guiseppe Bottai who was moved from one ministry to the other. Mussolini tended to accumulate ministries to his own person, and at times was responsible for up to six portfolios. He was inclined to place loyal Fascists he could trust in the important interior and foreign ministries, but he remained wary of the PNF’s power, subordinating it to his control and limiting its access to him whilst simultaneously allowing it a substantial degree of freedom in the framing of civil society. Nevertheless, the party-state tensions, whether latent or open, were almost always resolved in favour of the latter, especially within the local administrations.75 The opinion that ministers “were only technical collaborators with the head of government” was progressively promoted, although as we have seen this does not mean an exclusively bureaucratic career had been somehow transformed into a preferential route to ministerial office.76 As Emilio Gentile noted, “the political faith that had been demonstrated through an active membership of the PNF and by obedience to the party’s orders, always prevailed over the principle of technical competence”.77 The PNF and its para-state organizations were to remain determining factors for access to a ministerial career, even when the power of the ministries was limited by the dictator. The promotion of the secretary of the party to the position of minister without portfolio in 1937 was a potent symbol of the party’s importance.78 72 Paolo Nello: Dino Grandi, Bologna 2003; Claudio G. Segre: Italo Balbo. A fascist life, Berkeley 1990; Paul Corner: Fascism in Ferrara, Oxford 1974. 73 Franco Fucci: Emilio de Bono. Il maresciallo fucilato, Milan 1989. 74 Lyttelton, La dittatura fascista, p. 210. 75 For example, of the 115 prefects nominated by Mussolini between 1922 and 1929 only 29 came from within the party, the remaining 86 were professional administrators. See Gentile, La via italiana, p. 173. 76 Renzo De Felice: Mussolini il Duce. Vol. II: Lo stato totalitário, 1936–1940, Turin 1981, p. 89. 77 Gentile, Fascismo e antifascismo, p. 240. 78 Steiner, Government in fascist Italy, p. 65.

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Table 1: Ministers’ occupational background (%)* Occupational categories Military Army Navy Air Force Judge or public prosecutor Diplomat Senior civil servant Middle civil servant Officer of state corporatist agencies University professor Teacher Employee Writer or journalist Lawyer Doctor Engineer Manager Businessman, industrialist or banker Landowner or farmer Full-time politician Other N

Portugal

Spain

Italy

Germany

26.7 20.0 6.7 0.0 3.3 3.3 10.0 0.0 0.0 40.0 0.0 0.0 0.0 10.0 0.0 0.0 0.0 10.0 6.7 0.0 3.3

41.2 35.3 5.9 0.0 0.0 0.0 11.8 0.0 2.9 2.9 2.9 0.0 2.9 17.6 0.0 14.7 0.0 2.9 5.9 0.0 0.0

8.0 5.3 2.7 0.0 0.0 5.3 2.6 1.3 1.3 26.6 0.0 0.0 6.6 6.6 0.0 3.9 9.3 0.0 0.0 70.7 0.0

10.8 5.4 2.7 2.7 13.5 8.1 18.9 0.0 10.8 2.7 0.0 0.0 2.7 5.4 0.0 2.7 0.0 2.7 0.0 56.8 2.7

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75

37

Occupations immediately before the first ministerial appointment. Multiple coding has been applied. Percentages do not, therefore, total 100. N = Number of ministers. Source: ICS database on the fascist elite, University of Lisbon, 2009. *

The political origins of the Nazi regime’s ministers were probably the most homogeneous in the four dictatorships. If we disregard the initial coalition period we see that “active, official and publicized membership of the Nazi Party became a condition sine qua non” for access to ministerial office.79 No fewer than 90 per cent of Hitler’s ministers were NSDAP leaders, and 78 per cent of these had been party members prior to Hitler taking power.80 79 Max E. Knight: The German executive, 1890–1933, New York 1971, p. 21. 80 Ana Mónica Fonseca: Ministers and centres of power in Nazi Germany, in: Pinto (ed.), Ruling elites, pp. 55–82, here 69.

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Table 2: Political offices held by ministers (%)* Political offices None Mayor or local councillor Prefect Colonial governor Parliamentarian Deputy Peer or senator Member of corporatist chamber Secretary or under–secretary of state Member of cabinets ministériels Ministerial director Local or national leader of the single party Youth movement Militia Para–state corporatist institutions Party officers N

Portugal 56.7 16.7 3.3 0.0 16.7 16.7 0.0 3.3 26.7 0.0 0.0 16.7 0.0 3.3 3.3 0.0 30

Spain 14.7 8.8 14.7 8.8 32.4 26.5 5.9 8.8 5.9 – 5.9 62.1 – – 0.0 0.0 34

Italy 6.6 12.0 1.3 5.3 82.7 76.0 6.7 – 41.3 0.0 0.0 34.7 1.3 10.7 22.7 61.3 75

Germany 21.6 16.2 0.0 0.0 51.4 51.4 – – 21.6 3.1 10.8 13.5 0.0 2.7 13.5 48.7 37

Before first appointment to cabinet. Multiple coding has been applied when ministers had held different political offices. N= Number of ministers. Source: ICS database on the fascist elite, University of Lisbon, 2009. *

However, more impressive are the 56.8 per cent of Hitler’s ministers who had been political officials within the NSDAP (Table 1). The usual examples were Hitler, Goebbels and Hess; however, ministers such as Bernhard Rust at the ministry of science and education had been party officials before the regime took power.81 Although it was not until 1937 that Hitler established the rule according to which all ministers also had to be party members, the NSDAP professionals had soon established their hegemony within the government. Although the ministerial elite came from within the NSDAP, there were significant differences in the paths followed. Once nominated, many of the ministers were to create tensions between themselves and the party’s institutions, increasing feelings of mutual mistrust either as a result of party interference in the ministries or through the impression that some of the ministers had only recently joined the party for opportunistic reasons. Hans Heinrich Lammers, who was responsible for coordinating the ministries, was viewed with mistrust despite the importance of his 81 Ibid., p. 68.

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role within the state. The minister of agriculture, Walther Darré, was also a latecomer to the party, although he was more ‘ideological’.82 Wilhelm Frick was an early member of the party, but these distinctions were to become increasingly irrelevant as such criteria were often no more than ‘positional’, that is, they were used in defence of ministerial authority before agencies that were either autonomous or linked to party institutions. With efforts to create a centralized dictatorship, such as that attempted by Frick, being blocked by Hitler, there followed a succession of conflicts between ministers and the parallel structures, even when the minister also occupied the equivalent department within the party, as Goebbels did. Secondary ministers very soon lost their access to Hitler and enjoyed more autonomy as a result. There was a great deal of stability in Hitler’s ministries and very limited mobility between portfolios; however, the large majority of his ministers lost access to him as a result of which their power in the overall political system and their authority to make decisions was greatly diminished. The rise in the number of ministers without portfolio, often to represent the party, was a form of compensation for those who had lost their ministerial position and was symbolic of their lack of function. Nevertheless, despite the frequent conflicts between the NSDAP and ministerial structures, the party was not a centralized political actor; rather, it was a collection of several autonomous institutions that came together to fulfil their para-state duty. The main characteristics of the Portuguese New State’s governing elite was that it was formed by a small and exclusive political and bureaucratic group of men who almost completely dominated the senior ranks of the armed forces, the senior administration and the universities where the legal profession was strongly represented (Table 1). Very few of Salazar’s ministers had been active in politics during the First Republic and almost none had occupied any position in the republican regime. Because of their youth some had only become involved in politics after the 1926 coup and almost all were ideologically and politically affiliated to Catholic conservatism and monarchism. While the dual affiliation of ‘Catholic and monarchist’ was shared by some members of the elite the fundamental issue, particularly in relation to the military dictatorship, was the steady drop in numbers within the ministerial elite of those who had been affiliated to the conservative-republican parties, and a corresponding increase in the number of those whose roots were in the monarchist camp, and particularly those who had been influenced during their youth by the Action Française-inspired royalist movement Lusitanian Integralism (Integralismo Lusitano – IL). Those whose connections were with Catholicism also saw their numbers increase slightly. A large number had no previous affiliation and only a small minority had come from Preto’s MNS following its prohibition in 1934.83 The remainder may be identified by their connections to conservative ideas associated with the more pragmatic and inorganic ‘interest’ based right-wing.84 82 Anna Bramwell: Blood and soil. Walther Darré and Hitler’s ‘green party’, Bourne End 1985. 83 António Costa Pinto: The Blue Shirts. Portuguese fascism and the New State, New York 2000. 84 Pedro Aires Oliveira: Armindo Monteiro. Uma biografia política, Lisbon 2000, p. 56.

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The use of the classifications ‘military’, ‘politician’ and ‘technician’ allows us to illustrate an important comparative dimension in the study of authoritarian elites, and to know their sources of recruitment and the extent of the more ‘political’ institutions’ access to the government.85 Given the conjunction of a technically competent political elite with institutions, such as an armed service containing several politicized officers, as well as participants in the regime’s political organizations, in parliament and as militia leaders in the LP, Salazarism offers some complex boundary cases. Nevertheless, despite the Portuguese example confirming the tendency towards the greater presence of ‘politicians’ in the institutionalization and consolidation phases of dictatorships, followed by a process of routinization that strengthened the technical-administrative elements, the governing elite during the 1930s was one of technicians (40 per cent) rather than of politicians (31 per cent).86 These results, when complemented with an analysis of other indicators of the ministerial elite’s cursus honorum, clearly indicate the diminished presence of the truly political institutions of the regime as a central element for access to government. However, it should be noted that even the ‘politicians’ were tightly woven into the university elite. As a dictator, Franco’s managerial style differed from that of Salazar: the Caudillo was much less concerned with the minutiae of day-to-day government.87 A military officer with no desire to become bogged down by the day-to-day affairs of government, Franco concentrated his attention on the armed forces, domestic security and foreign policy. In the remaining areas of government, he practised “a transfer of power to his ministers”, although they remained subordinate to him.88 With respect to the more technical areas of governance, particularly following the consolidation of the regime, Franco’s interventions became even rarer as he adopted the more pragmatic attitude of result management.89 Franco’s ministerial elite was relatively young in political terms and although a substantial number had been members of conservative and fascist organizations during the Second Republic the regime’s break from its predecessor was almost total.90 85 In the classifications adopted here, the following distinctions are used: military – those ministers who prior to their nomination had spent the majority of their professional life as officers in the armed forces; politicians – those who were activists and leaders of official regime organizations or, previously, of other political organizations prior to taking office; and technicians – those ministers who had previously been professional administrators or specialists, and who had not been active in the regime’s political organizations or who had been actively involved in politics prior to becoming ministers. 86 Paul Lewis reaches a similar conclusion for the period 1932 to 1947. See Lewis, Latin fascist elites, and Pedro Tavares de Almeida, António Costa Pinto et al. (eds.): Who governs southern Europe? Regime change and ministerial recruitment, 1850–2000, London 2003. 87 Amando de Miguel: Sociologia del franquismo. Análisis ideologica de los ministros del régimen, Barcelona 1975; Preston, Franco. 88 Carlos R. Alba: The organization of authoritarian leadership. Franco’s Spain, in: Richard Rose, Ezra N. Suleiman (eds.), Presidents and prime ministers, Washington, D.C. 1980, p. 267. 89 Juan Pablo Fusi, Franco. A biography, London 1987, pp. 43 f. 90 Carles Viver Pi-Suñer: El personal político de Franco (1936–1945). Contribución empírica a una teoría del régimen franquista, Barcelona 1978, p. 191.

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The socio-professional composition of Franco’s ministers also points towards a significant degree of social exclusiveness and the near hegemony of civil servants. A significant number of ministers were involved in the legal profession, with the university elite also being present in large numbers, although not on the same scale as in Portugal.91 Another divergence from the Portuguese dictatorship can be found in respect of ministers who were officers in the armed forces. While the military presence within the Portuguese regime had not completely disappeared with the consolidation of Salazarism – where it continued within institutions such as the censorship, the political police and the militia – the Spanish regime continued to count on a large number of military officers both in the single party and in the governing elite, with 41.2 per cent of all ministers having a military background (Table 1). By classifying Franco’s ministers as ‘politicians’, ‘technicians’ and ‘military’ we are presented with a significant swing towards the ‘politicians’ who accounted for more than 40 per cent of all ministers during this period, the remainder fairly evenly split between ‘technicians’ and ‘military’.92 This preponderance of politicians suggests the single party had an important presence within the political system and in particular in the composition of the ministerial elite. The promotion of the secretary of FET-JONS to ministerial rank was an immediate indication that this represented a formal means of access to the government. The co-option of FETJONS’ leaders into the ministerial and state elite was significant: during the period in question, FET-JONS was the principal recruiting ground for the government.93 As one student of the Franco elite notes: “before occupying a ministerial post during the first decade of the Franco regime, [the candidate] had occupied six positions within FET”.94 The second main means of access, and the only route that did not require promotion through the single party (although it did not preclude it), was through the military. A third possible route was through the bureaucracy, although it was “rare for anyone to become a minister as a result of an administrative career”.95 When we analyse the ‘political families’ (Falangists, Catholics and monarchists) inside the single party we see that until 1944, the Falange had 66 per cent of the leadership positions under its control, thereby dominating the party. The Catholics were the second largest ‘family’, followed by the military.96 During this period the number of leaders whose origins were with the Falange or the military outnumbered those of the Catholics.97As Pi-Suñer notes, “the existence of a single party that was quite clearly subordinate was a notable counterweight” to other means of access to the government during this period.98  91  92  93  94  95  96  97  98

Ibid., p. 117. Lewis, Latin fascist elites, p. 119. Miguel Jerez Mir: Executive, single party and ministers in Franco’s regime, 1936–45, in: Pinto (ed.), Ruling elites, pp. 164–211. Viver Pi-Suñer, El personal político de Franco, p. 193. Ibid., p. 197. Ibid., pp. 163 f. Jerez Mir, Elites politicas; Viver Pi-Suñer, El personal político de Franco, p. 202. Viver Pi-Suñer, El personal político de Franco, p. 202.

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Despite FET-JONS’ origins in the enforced unification of several heterogeneous movements, the Falange managed to exert its supremacy and ensured its position as the dominant force with the new Francoist political elite. Tensions between the party and the state were infrequent and largely episodic and the domination of the dictator-government axis was almost total.99

Conclusions As monocratic regimes, dictatorships have been characterized as being “a selectorate of one”: the dictator, whose patronage powers remained significant.100 However, the different approaches towards the resolution of what Robert Paxton has called the “four-way struggle for dominance” (between the leader, his party, the regular state functionaries and institutions like the church, the army and elite interest groups), depends fundamentally on the dictator-single party axis.101 The promotion of secretaries of the single parties to ministerial positions was an expression of the parties’ symbolic value as well as an important element of political control. Only Salazarism made no mention of any superiority in the relationship between the dictator-government and the party. In Francoism, Italian Fascism and Nazism the presence of these party secretaries signified both their increased legitimacy before the government and their pretentions of superiority, or at the very least their equality with their ‘technico-bureaucratic’ institutions and governmental components.  Their presence also underlined the parties’ pretensions to be an exclusive route to ministerial office and to other senior positions within the state apparatus; however, the single party’s ability to become an institution capable of vetoing and subverting bureaucratic authoritarianism can be found at the roots of their diversity. With respect to the recruitment methods and political composition of the ministerial elite in the four regimes the differences are clear. The NSDAP and PNF emerge as the only source of recruitment to the government in Germany and Italy respectively. In each country the governing elite was chosen from a reservoir of Fascist and Nazi leaders, with few concessions being made to other avenues for promotion following the consolidation of the respective regimes. This provided the PNF and the NSDAP with the legitimacy they required. Under Franco FET-JONS remained the dominant element, although it was much more sensitive to the other institutions, particularly the armed forces and the Church. Salazarism, which had a single party with limited influence and access to the government, despite that being its main political function, is the dictatorship that most closely resembles ‘bureaucratic authoritarianism’. As Clement Moore notes:  99 100 101

Antonio Cazorla Sánchez: Family matters. Ministerial elites and the articulation of the Francoist dictatorship, in: Portuguese Journal of Social Science 3.2 (2004), pp. 73–89. Robert D. Putnam: The comparative study of political elites, Eaglewood Cliffs 1976, pp. 52 f. Robert O. Paxton: The five stages of fascism, in: The Journal of Modern History 70.1 (1998), p. 18.

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The party cannot establish its legitimacy, it would seem, unless it acquires some autonomy as an instrument for recruiting top political leaders. Thus, dictators who attain power through other bases of support often have difficulties creating a party to legitimate their regimes.102

Salazar created a party, but he gave it very limited functions.  The Portuguese case appears thus to confirm Juan Linz’s assertion that when the single party is weak the opportunities to become a member of the governing elite are limited “without belonging to one of the senior branches of the administration” or to one of the interest organizations, since the party is only a complementary guarantee.103 Moreover, this is the generic tendency for all political systems: in fact, “when the parties and the private sector are weak, public and semi-public organizations become natural sources of recruitment”.104 The dependence of the mobilizing political organizations, of the party or of the government and the ministries constitutes yet another extremely interesting indicator as it highlights the important tensions existing in the dictatorships associated with fascism. In the case of the militias, their direct dependence on the German, Italian and Spanish dictators disguises a wide variety of situations. Once again, Salazarism made the LP dependent on the ministry of the interior and ensured it was always headed by a member of the armed forces. It was only under Nazism that the SS achieved significant autonomy from both the state apparatus and the armed forces. With respect to the organizations dedicated to mass socialization, the various youth, worker, dopolavoro and women’s organizations, the tension between the government and the party was an important factor in Francoism, Fascism and Nazism, with the party winning important battles, although, as we have noted above, with significant variations. The balance made above leads us to a critique of the typological rigidity that is based in party-state relations. In the dictatorships analysed here the single party was never transformed into a dominant institution within the new regimes – not even in Nazi Germany. In the Portuguese case, not only was the government the place of power, taking political decision-making authority for itself, but the single party had less influence either as a means of access to the government or as an instrument for controlling civil society. Mussolini was very distrustful of the PNF for the simple reason that his leadership over it was much more fragile than Hitler’s was over the NSDAP. Nevertheless, in Fascist Italy the Grand Council and the PNF succeeded in becoming important actors in the relocation of the government’s political decision-making authority – something that did not happen in either Franco’s Spain or Salazar’s Portugal. It is only in Nazi Germany that the most important relocation of decision-making power to the axis leader and autonomous-politico-administrative organizations is visible. However, more than the domination of the party over the state, what is seen is a radicalization scale char102 103 104

Clement H. Moore: The single party as a source of legitimacy, in: S. Huntington, C. Moore (eds.), Authoritarian politics, p. 51. Viver Pi-Sunyer, El personal político de Franco, p. 69. Jean Blondel, Government ministers in the contemporary world, London 1985, p. 62.

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acterized by the diminution of the government through the construction of parallel organizations and by the limited relocation of political decision-making power. In the German case the party did not have any centralized decision-making structures ‘and lacked a leading body which could replace the cabinet’ that was always blocked by Hitler who was subject to very few institutional constraints.105 The most appropriate explanatory hypothesis for the variations in the composition of the ministerial elite, its importance in the political decision-making process and as a means of access to ministerial office within the dictatorships associated with fascism is the presence or absence of an independent fascist party during the period of transition to a dictatorial regime and, once the regime is institutionalized, inside the single party. The greater and more exclusive the role of the dictator-party axis, the lesser that of the ministerial elite in the political decision-making process. Also resulting from this is the diminished importance of the large administrative corps in the composition of the elite and the cabinet in the political decisionmaking process.

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Yoram Gorlizki, Hans Mommsen: The political (dis)orders of Stalinism and National Socialism, in: Michael Geyer, Sheila Fitzpatrick (eds.), Beyond totalitarianism. Stalinism and Nazism compared, New York 2009, p. 55.

Peter H. Merkl

Die Gewalt des Bürgerkriegs und ihre Folgen Ein historischer Vergleich Das gesamte 20. Jahrhundert war weltweit durch zahlreiche Bürgerkriege auf vielen Kontinenten geprägt und auch in diesem Jahrhundert sehen wir uns wieder mehreren sehr blutigen Bürgerkriegen gegenüber, im Nahen Osten, besonders im Irak, im Sudan, auf Sri Lanka usw. Ich möchte hier der Frage nachgehen, was wir durch den Vergleich von Bürgerkriegen an übergreifenden Erkenntnissen gewinnen können.1 In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf Bürgerkriege im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vergleiche bürgerkriegsähnliche Erscheinungen und mutmaßliche Folgen der damit verbundenen politischen Gewalt am Beispiel von Österreich, Spanien und Griechenland. Diese drei Beispiele werden zudem mit dem besonders verlustreichen Bürgerkrieg in Russland verglichen. Dieses Quartum comparandum erweitert den Blick für allgemeine Schlüssigkeit, der sonst womöglich in der Partikularität der kleinen Auswahl verloren gehen kann.2 Die im Anhang dieses Beitrags befindliche Tabelle bietet eine zusammenschauende Übersicht der meines Erachtens relevanten Faktoren. Die Tabelle erstreckt sich waagrecht über die genannten vier Länder und senkrecht über sechs Aspekte: Zuerst werden die Organisationen und Gruppen genannt, die die Hauptakteure dieser historischen Ereignisse waren. In allen vier Fällen können relativ ähnliche Gegner identifiziert werden und die Spaltung verläuft zwischen links und rechts. Auf der einen Seite handelt es sich hauptsächlich um sozialistische Bewegungen und ihre Anhänger und Verbündeten, Industriearbeiter und ihre Gewerkschaften, auch Landarbeiter und landlose Bauern, modernisierende Intellektuelle und Künstler, vielleicht die säkulare Moderne selbst. Für Spanien kommen auch Anarchisten und Anarchosyndikalisten hinzu. Auf der anderen Seite der dramatis personae stehen nicht immer so klar identifizierbare Verteidiger der alten Ordnung, nicht nur Unternehmer und adlige Gutsbesitzer, sondern auch Monarchisten, die Kirche, Offiziere der Armee und Verteidiger der althergebrachten Vorstellungen von Kultur und Moralität. Die Tabelle ist waagrecht zu lesen und wir finden hier herausragende Ähnlichkeiten zwischen den vier Fällen. Das Ziel dieses historischen Vergleichs ist 1 Eine vergleichende, internationale Untersuchung von Bürgerkriegen im Zeitraum von 1960 bis 1999 wurde im Auftrag der Weltbank veröffentlicht. Paul Collier, Nicholas Sambanis (Hg.): Understanding civil war. Evidence and analysis, 2 Bde., Washington, D.C. 2005. 2 Vgl. Enzo Traverso: Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914–1945, München 2008. Traverso grenzt sich deutlich ab von Ernst Noltes revisionistischer Interpretation. Vgl. Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, München 62000 [1987]. Dagegen Dan Diners These eines Weltbürgerkriegs: Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999.

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die Feststellung der Grundlinien, welche allen vier Fällen gemeinsam ist, der Kampf zwischen Links und Rechts, zwischen politischen Mentalitäten und weniger ihrer materiellen Basis, wie sie etwa der historische Materialismus sehen mag. Die Feststellung einer materiellen Basis im Einzelnen mag durchaus relevant gewesen sein, besonders wenn sie im Verlauf gewalttätiger Proteste und Konflikte in Gefahr kam, zerstört oder expropriiert zu werden. Eine solche materielle Basis kann aber genauso gut nicht perzipiert werden und daher nicht die polarisierten Mentalitäten der Bürgerkriege hervorrufen.3 Die zweite Kategorie vergleicht die direkten Einflüsse der großen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts auf die politische Gewaltentfaltung in diesen Ländern. Dass derartige Kriege massive Gewaltanwendung in vielleicht sonst eher gewaltarme gesellschaftliche Konflikte tragen, ist ja wohl unbestritten. Unter anderem bringen sie den Kontrahenten den Waffengebrauch nahe, lehren so manchen friedfertigen Menschen das Töten und stellen ihnen Vernichtungswaffen wie Bomben und Maschinengewehre zur Verfügung. Nicht selten brachten Kriegsteilnehmer ihre Handwaffen mit heim oder wussten wenigstens, wie man die Waffen gebraucht, die oft aus Armeebeständen und in unzureichend gesicherten Waffenlagern zur Verfügung standen. In manchen Fällen wie in Griechenland kamen selbst Panzer oder Flugzeuge in die Hände der Bürgerkriegsarmeen, besonders auf der Seite der Rechten oder bei den Truppen der Staatsgewalt. Die Erfahrungen mit Waffengewalt und massenhafter Tötung gaben den einander entgegengesetzten Mentalitäten die Schärfe ihres Vorgehens im Bürgerkrieg. Die Zivilisationsschranken, die sonst feindliche Parteigänger davon abhalten, einander zu töten, fielen weg. In Spanien bestand zudem die Bürgerkriegsarmee des General Franco zum großen Teil aus Kolonialtruppen, die an tödliche Gewaltanwendung und Waffengebrauch gegen einheimische Widerstände gewöhnt waren und deren Brutalität bald von den Loyalisten nachgeahmt wurde, soweit sie nicht schon von Anfang so geneigt waren. Unter dem üblichen Staatsmonopol auf Gewalt bedeuten der Besitz und Gebrauch von kriegsähnlichen Waffen natürlich auch, dass dieses äußerst wichtige Staatsmonopol nun durchbrochen und vielleicht vollkommen aufgehoben ist. Die wichtige Rolle des Militärs im Vorfeld von Bürgerkriegen, ob es sich nun um heimkehrende Kriegsteilnehmer oder Berufssoldaten handelt, liegt auch zum Teil in der Mentalität des Militärs. Es ist nicht nur die zwingende Gewalt des potenziellen Waffengebrauchs, sondern vor allem die weit verbreitete Abneigung von Militärs gegenüber Konzessionen und Kompromissen, die sonst im Frieden innenpolitische Konflikte mildern und eine gewaltarme Politik überhaupt möglich machen. Für viele Militärs sind oft selbst taktische Konzessionen und Kompromisse Zeichen der Schwäche oder gar der Kapitulation, die den männlichen Stolz und die Solidarität der Gruppe infrage stellen. 3 Zum Begriff der mentalité und seinem Gebrauch bei französischen Historikern der Annales-Schule siehe jetzt auch die ausgezeichnete Rezension von Richard J. Evans: Cite ourselves!, in: London Review of Books (03.12.2009), S. 12–14; allgemein: André Burguière: The Annales School. An intellectual history, Ithaca / London 2009.

Sozialwissenschaftler/innen Ruling Die Gewalt Elites, desPolitical Bürgerkriegs Institutions oder und ihre Zeithistoriker/innen andFolgen Decision-Making in Fascist-Era Dictatorships

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Die dritte Kategorie spricht von exogenen oder externen Einwirkungen auf die Politik eines Landes, wie z.B. vom externen Druck der unmittelbaren Nachkriegszeit oder von der großen sozialistisch-kommunistischen Welle, die im Jahr 1917 europäische Länder in ihren Bann schlug, ganz gleich ob sie nun selbst im Krieg waren und ob sie daran waren, ihn zu gewinnen oder zu verlieren. Kriegsmüdigkeit und Pazifismus spielten natürlich eine große Rolle in Russland und wohl auch in Österreich und vor allem in Griechenland, wo der König und seine Anhänger Land und Leute aus dem großen internationalen Konflikt heraushalten wollten. In Spanien, das nicht am Krieg teilnahm, drückte sich die sozialistische Welle in einem starken Anstieg von Mitgliedern der anarchistischen CNT und der sozialistischen Gewerkschaft UGT und in einer großen Streikwelle aus. Zugleich warfen die Russische Revolution und ihr endgültiger Erfolg gegen das mächtige Zarenreich einen ominösen Schatten auf die Zukunft der spanischen Brotherren in den Fabriken und auf dem flachen Land, von der Kirche ganz zu schweigen. Das russische Drama in der Form panischer Bolschewikenfurcht der Besitzenden und woanders von König und Adel erweckte auch leidenschaftliche antirevolutionäre und antisozialistische Reaktionen, die sich über die Köpfe der Streikenden entluden. Dieselbe sozialistische Welle traf gegen Kriegsende auch Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien und weitere Länder, wenn auch mit verschiedenen Auswirkungen. Während sich in Deutschland und Ungarn vorübergehend Räterepubliken bildeten und in Italien Fabriken und gewisse Landgüter von Arbeitern und Landarbeitern unter dem Schutz von Rotgardisten übernommen wurden, gab es dafür in der österreichischen Rumpfrepublik und besonders in Wien eher ein sozialdemokratisches Regime, wenn auch seine rechten Gegner es später als bolschewismusverdächtig hinstellen wollten, um ihre eigenen extrem antidemokratischen Reaktionen zu rechtfertigen. Gegen Ende der 1920er-Jahre kam eine zweite große sozialistische und diesmal auch kommunistische Meinungswelle – die siegreichen Bolschewiken hatten ja mittlerweile eine Kommunistische Internationale gegründet, die ihre Revolution durch kommunistische Parteien überall hin exportieren sollte. Die linke Welle war auch noch von einer schweren, weltweiten Wirtschaftsdepression begleitet, die wenigstens dem Publikum in den Industrieländern das historische Ende des Kapitalismus zu verkünden schien. Und wieder wuchs der Zustrom auf sozialistische und kommunistische Parteien und militante Gewerkschaften, deren Mitgliederzahlen und Streiks – und auch Gewalttaten – einen kommenden Machtwechsel vermuten ließen. Und bald darauf kam auch die große Gegenwelle des Faschismus, der in verschiedener Form und oft durch rücksichtslose Gewalt und Errichtung von Diktaturen die vermeintliche kommunistische Bedrohung unterdrücken wollte. In Italien waren die Faschisten ja schon längst an der Macht und Mussolini erfreute sich eines heute erstaunlichen Renommees in den Industriestaaten des Westens. Die 1930er-Jahre wurden das Jahrzehnt der Rechtsdiktaturen, vom korporativen Staat Seipel’scher Prägung und Militärdiktaturen bis zum brutalsten Faschismus – mit Gestapo, Terrorakten und mörderischen Konzentrationslagern.

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Die Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten der Rechtsdiktatur sind weitgehend von der einschlägigen Literatur, z.B. den Schriften von Stanley Payne oder Walter Laqueur, behandelt.4 Dasselbe gilt auch von meinen Gewaltstudien von frühen NSDAP-Mitgliedern und SA-Leuten, in welchen der Fortschritt der einzelnen Aktivisten von gemäßigten Ansichten und Taten zu immer extremeren wie etwa Straßenkampf und Terrorakten empirisch verfolgt wird.5 Von der nächsten Kategorie an wird die Vergleichsbasis viel schwieriger. Erstens lässt sich oft der im Nachhinein sichtbare Auftakt oder die Probe nicht so leicht vom konfliktreichen Vorfeld oder von Revolution und Bürgerkrieg abheben. Zweitens sind selbst die genaueren Definitionen von Revolution und Bürgerkrieg keineswegs so klar, dass man sie wie selbstverständlich anwenden könnte. Und drittens ist die allgemeine Geschichte der politischen Gewalt in diesen Ländern zur entsprechenden Zeitperiode derartig turbulent, dass wir zu besseren Ergebnissen kommen würden mit der Annahme, dass es eben dauernd ziemlich gewalttätig zuging und daher die Begriffe von Auftakt und Bürgerkrieg die Wirklichkeit nicht immer zwingend greifen. Aber nehmen wir doch einmal wie im russischen Beispiel an, dass es in der Tat ein Vorspiel gab – vielleicht sogar zwei –: die Revolution und fehlgeschlagene Reformen von 1905 und den ebenfalls fehlgeschlagenen Revolutionsversuch vom Februar 1917. Die wirkliche Revolution folgte darauf in einer einzigen Woche im Oktober – nach dem Gregorianischen Kalender: November – desselben Jahres, als die Bolschewiken die Macht an sich rissen und eine mögliche verfassungsrechtliche Entwicklung unterdrückten. Daran anschließend kam dann der verlustreiche Bürgerkrieg von 1918–1920, in welchem die zwei Bürgerkriegsheere (und regionaler Widerstand) und die alliierten Expeditionstruppen eine Unzahl von Menschen töteten oder gefangen nahmen. Auf das Vorspiel oder den Auftakt der Revolution folgt die Revolution selbst, über welche es weniger Zweifel gibt. In diesem Stadium spielt das Militär eine erhebliche Rolle, sowohl das regierungstreue, die kriegserfahrenen Veteranen unter den Aufrührern und auch neue revolutionäre Formationen, wie sie etwa Leo Trotzki für den erwarteten Bürgerkrieg zusammenstellte. Der alte illusionäre Traum von der aus Freiwilligen bestehenden Volksrevolution ist längst verblichen – er mag kaum je der Wirklichkeit entsprochen haben. Auf die Revolution folgt dann der Bürgerkrieg zwischen den erfolgreichen Revolutionären und der von der Revolution überwältigten Seite, die die Revolution wieder zurückzurollen sucht. Leider ist das Bild in den anderen drei Ländern nicht halb so klar wie in Russland. In allen dreien gab es massive und gewaltsame Zusammenstöße und oft mehrmals eine Rechtsdiktatur, bevor die einschlägige Literatur überhaupt erst von linksrevolutionären Aktivitäten oder 4 Die Literatur über faschistische Bewegungen ist so umfangreich, dass man gut tut, sie durch Überblicksdarstellungen anzugehen. Vgl. etwa Walter Laqueur: Fascism. A reader’s guide. Analysis, interpretations, bibliography, Berkeley / Los Angeles 1978; Stanley G. Payne: A history of Fascism 1914–45, London 1995; ders.: Fascism. Comparison and definition, Madison 1980; A. James Gregor: Interpretations of Fascism, New Brunswick 2009; Stein Ugelvik Larsen et al. (Hg.): Who were the Fascists? Social roots of European Fascism, Bergen / Oslo / Tromsø 1980. 5 Meine Hauptarbeiten zu diesem Thema sind: Peter H. Merkl: Political violence under the swastika: 581 early Nazis, Princeton / Oxford 1975, und ders.: The making of a stormtrooper, Princeton / Oxford 1980.

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gar Bürgerkrieg spricht. Die erstgenannten waren gewiss gewalttätig, aber unter Revolution versteht man doch eher eine in Machtergreifung vonseiten der Revolutionäre endende Reihe von Handlungen. Da müsste auch noch mit dabei sein, dass die Revolutionäre bisher unterlegene und unterdrückte Volksteile repräsentieren und ihr Sieg ihnen Freiheit von ihren Unterdrückern, womöglich sogar Macht über sie verspricht. Das Wort Revolution bedeutet doch eine Umwälzung, durch welche die Unteren nach oben kommen und umgekehrt. In allen drei Staaten wollten die Unteren in der Tat die Herrschaft der Oberen abwerfen und hofften vielleicht sogar, die Macht zu ergreifen – z.B. die österreichischen und die griechischen Kommunisten durch Gewalt, die Sozialdemokraten eher durch Streiks und demokratische Wahlen. In Spanien wollten die Anarchisten und Anarchosyndikalisten (und regionale Befreiungsbewegungen) auch ihre Bedrücker abwerfen. Die Wahlen von 1936 und die resultierende Volksfrontregierung wären der demokratische Weg zum Ziel gewesen, wenn sich die verschiedenen Teilnehmergruppen daran nur über Ziel und Verfahren hätten einigen können – und wenn sie nicht von Franco und seinen Truppen so schnell überrollt worden wären. In Spanien und Griechenland gab es auf jeden Fall mehrere blutige Revolutionsversuche (und nicht nur auf einer Seite), wenn auch nur einen Bürgerkrieg. In allen drei Fällen endete der Bürgerkrieg – soweit er sich präzisieren lässt – in einer äußerst repressiven Rechtsdiktatur. Soweit wir also die Folgen dieser Bürgerkriege vergleichend untersuchen wollen, ist das erste Problem eben diese unklare Präzisierung. Und zweitens müssten wir auch die Folgen jedes Bürgerkrieges inmitten andauernder Gewalttätigkeiten von den Folgen der vorhergehenden Zusammenstöße unterscheiden können, bevor wir die verschiedenen Auswirkungen den Bürgerkriegen zuschreiben können. Ich habe also unter den Bürgerkriegsfolgen erst einmal einige Dimensionen erwähnt, die überall vorliegen, besonders die Rechtsdiktaturen, die meist alle Weiterungen, alle Reaktionen der Verlierer des Bürgerkriegs in Blut und Kerkerdrohungen erstickten. Das wären also die innenpolitischen Konsequenzen wie z.B. die endlosen Erschießungen in Spanien nach dem Bürgerkrieg oder der Große Terror und der Gulag in der Sowjetunion, die erst ein Jahrzehnt nach dem Bürgerkrieg in voller Stärke einsetzten. Die diktatorische Machtergreifung ist wohl unvermeidlich, damit sich die Unterlegenen nicht ihrerseits blutig rächen. Dazu kommen der Hass und die Rache, die zu derartigen Erschießungen und Konzentrationslagern führen. Man hat immer die Ausrede, die Verlierer würden sicher das Gleiche tun, wenn sie gewonnen hätten. In Spanien gab es auch zu bestimmten Orten und Momenten eine Umkehrung der Perspektive: Die franquistischen Rächer behaupteten oft und manchmal mit Recht, sie müssten erst einmal die Gräueltaten der Linken rächen, die unter der demokratisch gewählten (nicht unbedingt von ihr gebilligten) Volksrepublik so manchen Landbesitzern und Würdenträgern der Kirche und alten Ordnung angetan wurden. Die mörderische Bitterkeit auf beiden Seiten des Bürgerkrieges spiegelt sich in der Härte der Behandlung der Verlierer, wodurch natürlich wieder neue Wunden geschlagen werden, die sich vielleicht einmal rächen werden. Dieses generationsgebundene böse Spiel könnte ewig so weitergehen, solange Gewinner und Verlierer nicht aussterben.

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Die gesellschaftlichen Spannungen der Industrialisierung und Modernisierung, die den gewalttätigen Auseinandersetzungen, Revolutionen und Bürgerkriegen aller drei Länder zugrunde lagen, wurden von den Diktaturen bestimmt nicht aufgelöst  – eher verschärft –, auch wenn sie sich noch so korporatistisch gaben. Auch Religion und Antisemitismus – nach dem geflügelten Wort vom „Sozialismus der Dummen” (August Bebel) – oder totalitäre rassistische Träume konnten das nicht. Eine politische Sozialpartnerschaft wie etwa der österreichische Proporz und gemäßigter Kapitalismus mit starken Gewerkschaften und breitem Wohlstandsanwuchs konnte schon eher diese gesellschaftlichen Wachstumsschwierigkeiten lindern, welche in sozialpsychologische Dimensionen deuten. Der relative Wohlstand des heutigen Spaniens, Griechenlands und der österreichischen Republik stehen hinter ihrer relativen demokratischen Stabilität. Aber wir sollten nicht die sozialpsychologischen Verkrampfungen aus der Bürgerkriegszeit vergessen, die z.B. die zurückkehrende spanische äußerste Linke dazu brachte, sich in so manchen Fragen zur Rechten der Sozialdemokraten zu verorten. In Griechenland war es der erstaunliche Rückfall nach Jahrzehnten in eine repressive Militärdiktatur, in Österreich in die Waldheim-Affäre und die Wiederauferstehung der äußersten Rechten. Sodann wurden auch die unmittelbaren außenpolitischen Folgen der Bürgerkriege verglichen, meistens eine weitgehende Ächtung und Isolation unter den demokratischen Nationen, obwohl es in den 1930er-Jahren leider so viele grimmige Rechtsdiktaturen gab, dass eine neue Ausgabe davon wie etwa Francos Spanien damals kaum allein dastand. Dann kommen auch die kulturellen und weitere sozialpsychologische Folgen zur Sprache, besonders die langfristigen Entwicklungen nach Jahren der schlimmsten Unterdrückung, oder auch in der Diaspora. Im Exil wurden ja die schlimmen Erinnerungen von Bürgerkrieg, Revolution und Diktatur nicht nur festgehalten, sondern auch weiter verbreitet und mitunter auch maßlos übertrieben. Die Exilanten kehrten auch manchmal nach Überwindung der Diktatur in ihr Land zurück, brachten alle ihre Erinnerungen mit sich, vergaben ihren Feinden und Peinigern und  – im besten Fall – zeigten den Weg in eine bessere Zukunft ohne das schmerzhafte Gewicht der Vergangenheit. Und schließlich waren da auch die wirtschaftlichen Konsequenzen von Revolutionen und Bürgerkriegen: die unmittelbaren, enormen Schäden und Verwüstungen, der Verlust, die Flucht oder Auswanderung wertvoller Bevölkerungsteile und die allgemeine Regression der Wirtschaft zu einem Status der Unterentwicklung, während viele vergleichbare Staaten mittlerweile erhebliche Fortschritte erfahren hatten. Spanien und Griechenland waren typische Beispiele der überwältigenden Retardierung der wirtschaftlichen Entwicklung durch Revolution und Bürgerkrieg, Russland für die fast ausschließliche Konzentration auf geplante Überwindung der wirtschaftlichen Unterwicklung, die auf die Jahre der Gewalt folgten. In langfristiger Perspektive sehen wir hier auch die außerordentliche Rolle der Einordnung in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft, durch welche Länder an der Peripherie der neueren europäischen Wirtschaftsentwicklung – wie etwa Griechenland und Spanien – endlich dazu kamen, sich von chronischer Armut und verschärften Sozialkonflikten zu befreien. Auch die

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österreichische Republik war aufgrund des Zerfalls des Habsburgerreiches ein peripherer Fall von Armut und Wirtschaftsmisere geworden, von welcher sie schließlich ihre Schlüsselrolle gegenüber Ost- und Südosteuropa, aber auch die europäische Integration befreite. Bürgerkrieg und Diktaturen haben dies gewiss nicht bewerkstelligen können. In dieser tentativen Aufstellung fehlt noch der Stellenwert der kulturellen Vergangenheitsbewältigung. Irgendwann nach den blutigen Auseinandersetzungen, nach dem „Blutrausch“ des Massenmords der eigenen Landsleute kommt der „Kater“, vieleicht sogar Schuldgefühle über die schrecklichen Verbrechen von Bürgerkrieg und Diktatur. Oder eine Nostalgie über eine Zeit, in der es angeblich nur Helden und Untermenschen gab. In der abstoßendsten Form der Erinnerung baute da etwa General Franco im Valle de los Caidos ein Mausoleum im Gedenken an die Gefallenen beider Seiten (von welchen weit über die Hälfte auf seinen Befehl von seinen Schergen umgebracht wurden). Oder Kirchenmänner fühlen womöglich Reue und Bedauern über die mit ihrem Segen begangenen Gräueltaten. Oder junge Historiker unternehmen es, die Schreckensgeschichte von Bürgerkrieg und Diktatur genauer zu beleuchten. Die Reaktion breiter Kreise auf derartige Enthüllungen wie auch auf didaktische Behandlungen relevanter Themen in Literatur und Kunst kann uns viel davon berichten, wann und wie solche schlimmen Erinnerungen überhaupt verdaut werden können. Das Fazit dieses Vergleichs hängt natürlich sehr davon ab, in welche Richtung man die Fragen stellt. Ist die Betonung auf wirtschaftliche Schäden eingestellt, dann war die gesamte Entwicklung im 20. Jahrhundert durch Kriege, Revolutionen und revolutionäre Umtriebe und schließlich Bürgerkriege und Diktaturen eine einzige große Verschwendung von Menschen und Kapital auf Kosten der wirtschaftlichen Entwicklung dieser drei Länder. Vor allem relativ unterentwickelten Ländern zu Anfang dieser turbulenten Periode, wie Spanien und Griechenland, wurde durch diese dauernden Zusammenstöße und schweren politischen Krisen bestimmt nicht dabei geholfen, ihre Unterentwicklung zu überwinden. Selbst für das gegenwärtige Griechenland sind die immer wiederkehrenden Zypern-Krisen mit ihrer ultranationalistischen Aufwiegelung für die sonst durchaus florierende wirtschaftliche Entwicklung ausgesprochen dysfunktional, nicht nur Ablenkungen. Vor Jahren habe ich einmal eine statistische Studie der Wirtschaftsentwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert gesehen, die auf eine lange Wachstumskurve hinauskam: Das Wirtschaftswachstum war von der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs an etwa vierzig Jahre lang fast vollkommen ausgefallen, bis Mitte der 1950er-Jahre die deutsche Wirtschaft wieder ihre eigene, lang berechnete und vorhergesagte Kurve einholte. Dazwischen lagen Jahrzehnte des Leergangs, die den damals Lebenden einfach abgingen. Sind die Fragen in Richtung auf Gewaltanwendung oder auf die sozialpolitischen Kosten der Gewalt in Krieg, Revolution und Bürgerkrieg noch relativ einfach zu beantworten, dann sind die sozialpsychologischen Folgen weniger leicht zu messen, es sei denn in der Unzahl der Toten, Verwundeten und Gefangenen sowie von Menschen, deren Leben durch Gewalt, Vorurteil und Wahn deformiert oder ganz zerstört wurde. Derartige Krisen ganzer Generati-

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onen waren gewiss nicht weniger schmerzlich, besonders wenn man an die oben beschriebene Wiederkehr von Gewalt und Erniedrigung durch die den Bürgerkriegen folgenden Diktaturen denkt. Sie erheben auch die Frage, wie lange es wohl dauern muss, bis man die zugefügte Gewalt vergessen und sich miteinander aussöhnen kann. Wenn ein Partisan für eine Sache erst einmal durch die in meinen Forschungen festgestellte Radikalisierung ging und zum Straßenkämpfer und schließlich vielleicht sogar zum Folterer oder Henker der vermeintlichen Feinde in Gefängnissen und Konzentrationslagern wurde, ist so ein Mensch überhaupt noch zu rehabilitieren? Es stellt sich die Frage, ob ein Mensch, der anderen Menschen zum „reißenden Wolf “ geworden ist, „lupus homini lupus“, jemals wieder als normaler Staatsbürger und Mitglied der demokratischen Bürgerschaft fungieren kann, ohne jemanden anzufallen.

3. Externe Einwirkungen und Bewegungen

c) Nach 1945

d) Zweiter Weltkrieg

c) Zwischenkriegszeit

b) Erster Weltkrieg

2. Kriegseinwirkungen a) vor 1914

b) rechts

Faktoren 1. Die Akteure a) links Sozialdemokratische Partei, Kommunistische Partei

Sozialdemokratische Partei im Untergrund (1898), Bolschewiki (ab 1903)

Sowjethegemonie in Osteuropa, Weltmacht, Kalter Krieg „1917 Frieden von Brest-Litowsk: deutsch-österr. Griff nach Polen, Ukraine, Weißrussland, Odessa 1918 Dt. Waffenstillstand im Westen ändert alles 1920 Westliche militärische Intervention in Nord-, Süd-, Ostrussland ( Japan) ab 1920 Komintern: Export der kommunist. Revolution 1929–1935: Depression und europäische Welle von Sozialismus/Kommunismus 1933–43 faschistische Gegenwelle“

1905 Revolution und Reformen (nach russ.japanischem Krieg) „Niederlage führt zu Abdankung des Zaren, Zerfall des Zarenreiches, Verlust von Gebieten u. Bevölkerung, wirtschaftlicher Niedergang (von Unterentwicklung zu Hungersnöten). 1917 Meuterei und Revolution“

„1918–20 Revolutionäre Welle trifft Ö. abgeschwächt Steiermark: Heimwehr organisiert geg. Slowenen und befürchteten „Bolschewistenangriff “. Später noch Einfluss von autoritären und faschist. Regimen in Italien u. Ungarn, später vom 3. Reich Westliche Alliierte u. Völkerbund verbieten Anschluss. Genfer Anleihe ist auch daran gebunden.“

1918/19 Hungerwinter, Inflation, wirtschaftl. Elend; 1919 Verbot des Anschlusses an Deutschland im Frieden von Saint-Germain

„Niederlage führt zu Zerfall der Zerfall der Monarchie u. k.u.k. Armee u. Abdankung des Kaisers; Gebiets- u. Bevölkerungsverluste. 1917/18 Streiks“

Traditionalisten im Heer (Gen. Kornilov, Deni- Christlich-Soziale Partei/Lueger in Wien; kin, Kolchak); Großgrundbesitz, Kosaken (Don NSDAP, Heimwehr, Deutschnationale, k.u.k. u. Kuban), Unternehmer, Groß- und Mittelbau- Militär, Adel, Monarchisten ern, orthod. Kirche

Österreich

Russland

„1918–20 Einfluss der Russ. Revolution und sozialist. Welle, revolutionäre Krise, Anwachsen d. Gewerkschaften u. Aktivisten der Linken. Terrorakte. Bolschewistenfurcht und Mobilisierung der Rechten, bes. Kapital, Kirche, Großgrundbesitzer, Adel, Militär u. Traditionalisten (nach langer Kulturkrise, 1890–1914) Unruhen in Katalonien, Baskenland, Andalusien.“

„Nicht im Krieg, doch wirtschaftl. Folgen: Teuerung, Arbeitslosigkeit, Armutssteigerung, Klassenkampf. 1917 Streik von CNT u. UGT von Armee brutal niedergeworfen, PistolerosBanditen ermorden viele „cenetistas“ “

Anarchisten (ab 1868), Anarchosyndikalisten (CNT ab 1911), Sozialisten (UGT; PSOE), Kommunisten, Trotzkisten (POUM) Carlisten, Alfonsiner, Renovación Española, Falange (Primo de Rivera), CEDA (Gil Robles), kath. Kirche

Spanien

Anhang: Bürgerkriege im 20. Jahrhundert und ihre Folgen

„Englische (auch franz. u. bulgarische) Einmischungen, bes. in Mazedonien; gespanntes Verhältnis mit der Türkei; Gr. Republik 1933–36: Militärputsch gegen das Parlament. Georg II. u. Metaxas: Machtergreifung geg. angebliche kommunistische Bedrohung Während des 2. Weltkrieges, griech. Exilregierung in Ägypten. 1941 deutsch-ital. Angriff auf Jugoslawien, Albanien, Griechenland u. schließlich Sowjetunion. 1945 Jaltakonferenz: Gr. zur westl. Hemisphäre geschlagen; kommunist. Interventionsversuch, amerik. Gegenintervention (1947 TrumanDoktrin). Abhängigkeit von Großbritannien, später Amerika“

„1940 ital. Invasion in Albanien 1941–44 dt./ital. Invasion u. Besetzung„ Sowjet. Hegemonie in den Balkanstaaten

1920–23 Krieg gegen Türkei: große Flüchtlingsströme (1,2 Mill.) aus Türkei, Wirtschaftsmisere

Spaltung: Venizelos erklärt Krieg, König nicht; Alliierte Blockade

Venizelisten (u. Volksfront 1936), Sozialisten/ PASOK, KKE (Kommunisten) und Sowjetunion, slawophone Bevölkerung (im Norden) Traditionalisten (Monarchisten), Militär, Kirche, England

Griechenland

5. Verlauf

Faktoren 4. Auftakt

Russland „1905: Duma-Parlament, liberale Reformbestrebungen gegen Zar und Revolution, revolutionäre Pläne der Sozialrevolutionäre, Bolschewisten und Menschewiki gespalten. 1917 Julirevolution: Bolsch. Aufstand geg. Zar, Provisorische Regierung u. Heer, niedergeschlagen von Gen. Kornilov (Möchtegern-Diktator). Anarchie: Bauern übernehmen Land, Arbeiter Fabriken. Lenin verspricht Frieden, Landverteilung und Räterepublik. Verbirgt seine diktat. Absichten hinter den Räten (wie Kornilov hinter Kerenskis Provisorischer Regierung). Lenins Flucht nach Finnland; Kerenski feuert Kornilov u. kann sich daher nicht mehr gegen die Revolution wehren. 1917 Oktoberrevolution: bolsch.-freundliche Truppen besetzen St. Petersburger Garnison u. vorläufige Regierung im Winterpalast. Neue Regierung unter Lenin: Rat der Volkskommissare. Freundliche Truppen unterdrücken Moskauer Kadettenaufstand, lösen Konstituante auf. Brest-Litowsk: Der Friede kommt, aber um hohen Preis. Die Revolution hat in einer Woche gesiegt“ „1918–1920 Bürgerkrieg: Tscheka gegründet für Roten Terror (ab 20. Dez. 1917). Rote Armee (ab 22. Feb. 1918) unter Trotzki u. ehem. zarist. Offizieren. Requisition von Nahrungsmitteln für Städte und Heer. Weiße Armee: Hauptquartier Samara (Kuybischew), Gen. Denikin, Wrangel (Süd), Adm. Kolschak (Sibirien), Kosaken, in der weißen Armee sind zarist. Offiziere, Beamte, Adel, obere Klassen, Unternehmer, Bauern (Kulaken). Auf der weißen Seite: die Provisorische Regierung, 10.000e alliierter Truppen (engl., amer., franz., jap.), Tschechenarmee auf dem Weg nach Osten. Regionale Unabhängigkeitsbewegungen. Nach über 1 Million Toten auf beiden Seiten u. Flucht der Weißen ins Exil endet der Bürgerkrieg 1920“

Österreich „Otto Bauers sozialdem. Gegenmodell zur russ. Revolution u. Räterepubliken (1918–19), dann Jahre der Lagerpolitik, 1919–27 unter ChristlichSozialen Mehrheiten und sporadischer Gewaltanwendung (bes. ab 1922). Republikanischer Schutzbund (RSB) geg. die christl.-soziale Heimwehr und die Staatsgewalt (Polizei und Heer). Hinter dieser weißen Allianz stehen Großgrundbesitz, Unternehmer (Industriehauptverband), Kirche, Kleinbürgertum. 1927: Aufruhr über Schattendorfer Gerichtsurteil: Brand im Justizpalast. Heimwehr und Staatsgewalt unterdrücken sozialistischen Protest. 1927–1934 Ständestaatliche (christl.-soz.) Hegemonie beginnt Angriff auf das soz.dem. Modell und seine Anhänger mit legalen Mitteln und gewalttätigen Übergriffen. Ignaz Seipel wird starker Mann, fast Diktator, sucht das Modell schrittweise zu zerstören, seine Anhänger zu verfolgen. Heimwehr gestärkt, massiv bewaffnet. 1928–30 „Bürgerkrieg im Kleinen“: Aufmärsche und Gewaltaktionen auf beiden Seiten. SPÖ bekommt 41,1% in den Nationalratswahlen von 1930.“ „Ab 1931 allmählicher Niedergang der Heimwehr (zuletzt Pfrimerputsch der steirischen Heimwehr) und Aufstieg der NSDAP. NS wird unterstützt von vielen Arbeitslosen, rekrutiert von Heimwehr, Landbund, Großdeutschen; gewinnt 17,4% in Kommunalwahlen 1932: Saalschlachten, Angriffe auf SPÖ in Wien. NS-Übergriffe auf Juden. 1933: Staatsstreich von Kanzler Dollfuß, Diktatur, KPÖ u. NS unterdrückt. Feb. 1934: Bürgerkrieg: SPÖ, RSB, KPÖ gegen Heimwehr u. Armee, 100e Tote, 1000e verhaftet und verurteilt, 100e ins Anhaltelager Wöllersdorf. 1933/34 NS-Terrorkampagne. Juli 1934: NS-Putsch u. Mord an Dollfuß, 260 Tote (133 NS, 56 Heimwehr, 38 Polizei u. Armee), 13 Rebellenführer zum Tod verurteilt, („Blutzeugen“), 5300 vor Gerichten, 13.300 in Gefängnissen. 1934–38 Kanzler Kurt von Schuschnigg, NS-Terrorkampagne. 1938: „Anschluss“ an NS-Deutschland“

Griechenland „1936–41: quasifaschistische Metaxasdiktatur unterdrückt die Linke, verfolgt KKE (die im Untergrund rüstet). 1941–44: ital.-deutsche Invasion u. Besatzung erweckt eine nationale Befreiungsbewegung (linke EAM und rechte EDES) im Untergrund. Viel Gewaltanwendung u. intensiver Kampf (bes. 1943–44). Deutscher Abzug wandelt Befreiungskampf in Bürgerkrieg um. Sowj. Offensive geg. Achsenmächte erreicht Balkan, bes. Jugoslawien: EDES trennt sich v. EAM/ELAS (400.000 Mitglieder i. Untergrund, meist KKE).“

„Dez. 1944 Dekemvriana: EAM/ELAS versucht Athen einzunehmen, wird v. schwer bewaffneten Polizei- u. britischen Truppen (mit Tanks u. Flugzeugen) niedergeworfen. 1000e von Toten. EAM hoffte auf sowj. Waffenhilfe. Schwere Verfolgungen von KKE u. ELAM. Feb. 1945 Varkiza-Abkommen versucht Entwaffnung u. Demobilisierung der EAM. 1946–1949: Bürgerkrieg u. Weißer Terror geg. die Demokratische Armee (DSE) u. verbleibende EAM in den Bergen: 300.000 Soldaten u. Polizei, sowie weiße Banden i.d. Bergen geg. ca. 40.000 DSE (auch rote Banden); etwa 70.000 Tote. Bürgerkrieg in den Bergen: ganze Dörfer ins flache Land umgesiedelt u. ihre Bevölkerung in befestigten Lagern konzentriert. Bürgerkrieg endete nach dem Abfall Titos von Moskau (1948/49).“

Spanien „1923–30: Primo de Riveras Militärputsch gegen Parlament, gemäßigt-autoritäre Diktatur, Sympathien mit Mussolinis Faschismus. Radikalisierte Politik: polit. katholische Massenbewegung (CEDA u. Jugend JAPS), Monarchisten (Carlisten u. Alfonsiner) u. Faschismus ( JONS, Ledesma, José Antonio). 1931/32 Aufstände von CNT, UGT für soziale Revolution statt Wahlen, unterdrückt von Heer u. Polizei in Andalusien, Barcelona, Rioja, Saragossa. Nov. 1933 Mehrheit der Rechten in den Wahlen. 1934–36: Bienio Negro. Okt. 1934: Bergarbeiterstreik in Asturien von CNT, UGT, libertarischen Kommunisten; von Gen. Franco brutal niedergeworfen (1300 Tote, 3000 Verletzte) mit Tercio (Fremdenlegion) u. marokkanischen Regulares. Metzeleien, 3040.000 Gefangene, Folterungen. Feb. 1936: heterogene Volksfrontkoalition gewinnt Wahlen; weit auseinander gehende Absichten, wenig Kooperation (und kaum Waffen, wie 1934).“ „Juli 1936 Militärisches pronunciamiento gegen die Republik. 1936–1939 Bürgerkrieg: Gewinner ist Gen. Franco, sowie Armee, Kirche, Großgrundbesitzer, Unternehmer, Traditionalisten (kaum die Monarchisten) gegen Anarchisten, cenetistas, Sozialisten UGT, kommunist. POUM u. ausländische Brigaden für die Republik. Gewinner sind auch die faschistischen Expeditionen u. ihre Interventionen (Portugal, Italien, Deutschland, Griechenland) auf Francos Seite, Non-interventionisten in Frankreich, England und Amerika. Bürgerkrieg ohne Schonung: über 1 Million span. Tote, plus 10.000 ausländische Freiwillige.“

d) kulturell

d) wirtschaftlich

c) sozialpsychologisch

b) außenpolitisch

Faktoren 6. Folgen a) politisch

Nazifizierung der Bevölkerung, großdeutsche Ausrichtung, Imperialismus. Später Ernüchterung, Schuldgefühle über Genozid, Abstand von Deutschland

„Blutige Bürgerkriegsmentalität bis etwa 1950. Langsame „moralische Erholung“ inmitten weltweitem Antifaschismus. Linke Guerillas 1945–48. Auswanderung der Kultureliten, Sehnen nach Kultur und Respekt der Außenwelt. Franco baut Mausoleum des Todeskults im Valle de los Caidos für alle Opfer des Bürgerkriegs. 1950er-Jahre: Ende der Erschießungen und begrenzte Anpassung an das demokr. Nachkriegseuropa. 10 Jahre vor Francos Tod erhebliche Entwicklung (gesellschaftlich, wirtschaftlich, kulturell) in Richtung Europa und Amerika. Nach seinem Tod (1975) schnelle und widerstandslose kulturelle Anpassung und Mitgliedschaft in Westeuropa, EU“ Verwüstung, Entvölkerung, Auswanderung, „Wirtschaftlich auf Stand vor 1914 zu„Wirtschaftlich auf Stand von 1914 zurückgeblieben, unHungersnöte. Daher „neues Wirtschaftspro- rückgeblieben und vom Abfall der habs- terentwickelt, vom Bürgerkrieg verwüstet und von USA gramm“ (kurzfristig), 5-Jahrespläne (Moder- burg. Länder verkrüppelt. Ständestaatl. abhängig. Auswanderung und Hungerjahre (1940er-Jahre). nisierung), Aufrüstung zur Verteidigung und Korporatismus, dann zentralisierte Nach 1950: Gastarbeiter in Westeuropa schicken erhebliche Kriegswirtschaft. Weltmachtrolle Ersparnisse heim. Massentourismus und große Nachfrage Nach 2. Weltkrieg: Schlüsselstellung zu nach Südfrüchten-, Wein,- und Olivenexporten. Nach 1975 Osteuropa, Wiederaufbau und Wohlwirtschaftlich schnell entwickelt und in EG erfolgreich stand in EU“ integriert; große regionale Probleme durch ungleiche Entwicklung, Arbeitslosigkeit, aber steigender Wohlstand. Einwanderungsprobleme vom Süden“ Abstand von Deutschland, Wiederaufblü- Seit 1976, säkulare Liberalisierung hen von Kunst und Kultur, bes. Literatur

Von außenpol. Einfluss von Italien und Zunehmende Isolation im 2. Weltkrieg und 1945–1976, Ungarn zur vollkommenen Abhängigkeit militär. Kooperation mit USA (Luftstützpunkte) vom 3. Reich, inkl. Kreuzzug gegen Osten und Südosten im 2. Weltkrieg, Genozid, totale Niederlage und Besetzung. Isolation unter Präs. Waldheim.

Wirtschaftlich auf dem Stand von 1914, unterentwickelt und zum Teil entvölkert. Auswanderung nach Jugoslawien, Westeuropa, USA. Gastarbeiter schicken Ersparnisse heim. Massentourismus. Internationale Wirtschaftshilfe, ab 1981 v.a. von EG. Ablenkung durch Reaktion auf Zypernkrisen, erhöhte Militärausgaben, labile Politik. Steigender Wohlstand, aber auch große materielle Klassenunterschiede.

„Erst antikommunistische Militär- und Rechtsdiktatur geg. Linksverdächtige, viele politische Gefangene. Langer Weg zur Demokratie für das Geburtsland der Demokratie. Brit. u. amerikanische Unterstützung geg. Reste von EAM und DSE. (König u. Militär widerstreben d. parlamentarischen Demokratie unter G. Papandreou). Obristenputsch (1967–74) geg. höhere Offiziere, scheitert über Zypernkrise. Seit den 1970er-Jahren rapide demokratische Konsolidierung und Normalisierung.“ „Abhängigkeit von England, dann von USA (Trumandoktrin). Zypernkrisen 1955–60, 1964, 1967 u. ultranationalistische Reaktion“

„Reaktionäre Diktatur (nicht massenmobilisierend wie in Sowjetunion od. im 3. Reich) rollt liberale Reformen eines ganzen Jahrhunderts zurück: 40.000 Erschießungen, synkretist. Ideologie: Opus Dei, Militär, konservativ-autoritär (kaum Falangist). Korporativer bürokratisch-autoritärer Staat. Weiter Ausbeutung von Arbeitern, Bauern und Landarbeitern. Terror der bask. ETA usw. Die Falange wurde immer schwächer, bes. vis-à-vis Kirche u. Militär (bes. ab 1956). Nach 1975 erfolgreicher Aufbau von Verfassung, Demokratie, regionale Devolution.“

„Totalitäre, rassistische Diktatur, mit Gestapo, SS, viel schärferen Verfolgungen als im „Reich“, bes. Judenverfolgung, KZs. Nach Krieg und Besetzung Demokratisierung, Parteienproporz. Sozialdemokratie gegen Volkspartei, Klerikalismus, Waldheimaffäre. Wiederaufleben der extremen Rechten“

70 Jahre proletarischer Diktatur geg. Weiße, Bourgeoisie und Kulaken, Kirchen, Dissidenten. Überwachung durch Geheimpolizei, Arbeitslager in Sibirien. Parteienmonopol der KPdSU u. Massenorganisationen beherrschen das Volk. Ideologiemonopol und Propagandaregen.

Komintern: Export von Revolution und Inspiration für weltweite Revolutionen. Internationale Isolation und Diskriminierung (bis 1941), Erst Schwäche und Exponiertheit geg.über Großmachtpolitik und Erpressung. Nach Sieg im 2. Weltkrieg Ausdehnung, regionale Hegemonie, Quasikolonialpolitik u. Unterstützung kolonialer Befreiungsbewegungen. Atommacht u. Kalter Krieg Meinungsklima unter Exilanten. Sieger des Bürgerkriegs sind erst entschlossen, die alte Gesellschaft nie wieder emporkommen zu lassen, aber doch ihren kulturellen Ruf und Talente auszunützen. 20 Jahre später beginnt eine Wiederaufwertung. Schließlich (seit Putin) Wiederanerkennung der Kirchen

Griechenland

Spanien

Österreich

Russland

Peter Becker

„… dem Bürger die Verfolgung seiner Anliegen erleichtern“ Zur Geschichte der Verwaltungsreform im Österreich des 20. Jahrhunderts Solche fixierte Punkte, in denen das Gleichgewichtszentrum einer Person mit dem Gleichgewichtszentrum der Welt übereinfällt, sind zum Beispiel ein Spucknapf, der sich durch einen einfachen Griff schließen läßt, oder die Abschaffung der Salzfässer in den Gasthäusern, in die man mit den Messern fährt, wodurch mit einem Schlag die Verbreitung der die Menschheit geißelnden Tuberkulose verhindert würde, oder die Einführung des Kurzschriftsystems Öhl, das durch seine unvergleichliche Zeitersparnis gleich auch die soziale Frage löst, oder die Bekehrung zu einer naturgemäßen, der herrschenden Verwüstung Einhalt gebietenden Lebensweise, aber auch eine metapsychische Theorie der Himmelsbewegungen, die Vereinfachung des Verwaltungsapparats und eine Reform des Sexuallebens.1

Robert Musil stellt in diesem Zitat aus „Der Mann ohne Eigenschaften“ die Reform der Verwaltung als einen von vielen möglichen Weltverbesserungsplänen vor, mit denen sich missverstandene Heilsbringer für Staat und Gesellschaft beschäftigten. Es steht hier am Beginn, weil es einen für meinen Zugang zur Verwaltungsreform des 20. Jahrhunderts wichtigen Punkt anspricht: diese Reform war kein ausschließlich verwaltungstechnisches und politisches Projekt, mit dem sich Planungsstäbe in den Ministerien, reformfreudige Praktiker und wissenschaftliche Experten befassten. Sie war schon zur Zeit der Jahrhundertwende in die Wunsch- und Angstvorstellungen von Bürgerinnen und Bürgern verwoben. Die Reformprojekte fanden Eingang in das politische Imaginäre über die Vermittlung von Medien und über eine politische Sprache, die auch in utopische Visionen übersetzbar war. Direkte Verbindungen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und der Verwaltungsreform ergaben sich außerhalb des Imaginären durch Netzwerke, die Experten und Interessenvertreter in die Debatte einbanden.2 In den Auseinandersetzungen mit der Verwaltungsreform lässt sich die von Musil skizzierte Leidenschaft sehr gut nachvollziehen, mit der idiosynkratische Vorstellungen von der guten Verwaltung verteidigt wurden. Ein zeitgenössischer Beobachter, der Wiener Verwal1 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, S. 140. 2 So wurde der Jahresbericht der Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform aus dem Jahr 1912 in zahlreichen Stellungnahmen in Fachzeitschriften intensiv diskutiert. Die Dokumentation der Mediendebatte ist in dem Nachlass eines Kommissionsmitglieds erhalten, den Gernot Hasiba auswerten konnte: Gernot D. Hasiba: Die Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform (1911–1914), in: Helfried Valentinitisch (Hg.), Recht und Geschichte. Festschrift für Hermann Baltl zum 70. Geburtstag, Graz 1988, S. 237–262, hier 249.

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tungsrechtsexperte Karl Brockhausen, beklagte den Wildwuchs an politischen Ideen und Zielsetzungen. In seinen Vorträgen machte er unreflektierte parteiliche Vorstellungen verantwortlich, wodurch sich „jeder eine Förderung seiner Interessen vor[stellt], und das Wort Verwaltungsreform alle sogenannten frommen Wünsche umfasst, sie ist eine Flagge, die alle möglichen Waren und sehr viel Konterbande deckt“.3 Drei große Reformprojekte – zur Zeit der Jahrhundertwende, in den 1920er-Jahren und seit den späten 1960er-Jahren – zielten im Österreich des 20. Jahrhunderts auf eine radikale Umgestaltung der öffentlichen Verwaltung. Die jeweiligen Schwerpunktsetzungen hingen dabei von der Problemdefinition, der politischen Konstellation und der wirtschaftlichen, rechtlichen und technologischen Situation ab.4 In Konsultation mit stakeholdern, dem Parlament und den Parteien betrieb eine dafür speziell eingerichtete Fachabteilung die Reorganisation von Behörden, Verfahren und Geschäftsordnungen sowie die Veränderung von Verwaltungskultur, Aufgaben und Besoldung. Die Verwaltungsreform sollte aus der Sicht der Akteure im Reformprozess jedoch nicht nur reagieren, sondern gestaltend in das gesellschaftliche Leben eingreifen. Ich möchte dafür ein Beispiel aus der Regierungserklärung von Bruno Kreisky aus dem Jahre 1979 anführen, in der die Verwaltungsreform einen prominenten Platz einnahm: „Je besser und je leichter sich der Bürger in der Verwaltung zurechtfindet, desto eher wird er das Gefühl der Hilflosigkeit und Ratlosigkeit verlieren.“5 Dieser Wandel von einem obrigkeitlichen Subjekt zum selbstbewussten Akteur, zum „informierten Bürger“ stand bei Kreisky wie auch bei dessen Vorgänger Josef Klaus im Kontext einer umfassenden Demokratisierung. Die Verwaltung sollte dazu ihren Beitrag leisten – nicht zuletzt, indem sie zum Partner für den kompetenten Bürger und zunehmend auch die kompetente Bürgerin wurde. Die Verwaltung sollte „dem Bürger die Verfolgung seiner Anliegen erleichtern“, wie die im Titel meines Beitrags zitierte Regierungserklärung von Kreisky forderte. Im ironischen Blick Musils auf zivilgesellschaftliche Akteure erscheint die intensive Beschäftigung mit der Verwaltungsreform als Obsession, die zur Kakophonie der Expertenstimmen, wie sie Brockhausen skizziert hatte, noch ihre eigenen Misstöne hinzufügte. Als politische und institutionelle Außenseiter reklamierten diese Akteure Expertise und Kompetenzen, 3 Karl Brockhausen: Österreichische Verwaltungsreformen. Sechs Vorträge in der Wiener freien Staatswissenschaftlichen Vereinigung, Wien / Leipzig 1911, S. 1. Vgl. dazu Gernot D. Hasiba: Ein Meisterwerk österreichischer Gesetzgebungskunst. Die Genesis der Verwaltungsreformgesetze von 1925, in: Geschichte und Gegenwart 6 (1987), S. 163–186, hier 165. 4 Vgl. Wolfgang Müller: Aspetti della modernizzazione dell‘amministrazione centrale austriaca: dalla disponibilità nei confronti dei cittadini alla marketizzazione, in: Yves Meny, Vincent Wright (Hg.), La riforma amministrativa in Europa, Bologna 1994, S. 291–316, bes. 291. Müller macht in seinen einleitenden Bemerkungen den sozio-ökonomischen Kontext stark, hebt im Laufe seiner weiteren Argumentation zusätzlich die Bedeutung der politischen Konstellation hervor. Aus einer stärker kulturwissenschaftlichen Perspektive darf auch die Rolle der Technologien nicht außer Acht gelassen werden. 5 Regierungserklärung vom 19. Juni 1979, in: Heinz Fischer et al. (Hg.), Kreisky. Reden, Bd. 1, Wien 1981, S. 796.

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die nicht institutionell legitimiert waren; sie beanspruchten eine Rolle in einem politischen Prozess, die ihnen nicht zugestanden wurde. Für die historische Auseinandersetzung mit der Verwaltungsreform stellt Musils literarischer Kommentar eine willkommene Anregung bereit, sich mit den Inklusions- und Exklusionsstrategien bei der Bildung von Expertennetzwerken auseinanderzusetzen. Im Blick auf die user, für die eine neu konfigurierte öffentliche Verwaltung hauptsächlich gedacht war, und auf die Wissensbestände, die für die Reform der Verwaltung mobilisiert wurden, werden im Rahmen des folgenden Beitrags erste Überlegungen zu einer Gesellschaftsund Kulturgeschichte der österreichischen Verwaltungsreform formuliert. Dieses Vorhaben ist zahlreichen Anregungen verpflichtet, die den Perspektivenwechsel hin zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung möglich machten.6 Für die Möglichkeit des Sichtwechsels stehen exemplarisch das Werk von Gerhard Botz und seine vielfältigen Bemühungen um die Schaffung von Plattformen wie den Quant- und Qual-Kursen, wo neue geschichtswissenschaftliche Zugänge erprobt und vermittelt wurden.7

Verwaltungsreform als Netzwerkprojekt Verwaltungen sind institutionalisierte Formen des Agierens und als solche einem dauernden Wandel und einer kritischen Reflexion unterworfen. Die Expansion wirtschaftlicher Aktivitäten, die Debatten um die Einrichtung eines Verwaltungsgerichtshofes 1875 sowie das Bewusstsein politischer Akteure – von Ernest von Koerber bis Josef Redlich – von dem Missverhältnis zwischen Aufgaben, Struktur und Verfahren waren maßgeblich dafür, dass im Zuge einer systematischen Verwaltungsreform der Wandel institutionell verdichtet und neu strukturiert wurde. Die Publikation einer Denkschrift zur Reform der inneren Verwaltung durch die erste Regierung Koerber, die Karl Brockhausen als „Anklageschrift gegen die Verwaltung“ bezeichnete,8 bemängelte die Ineffizienz in materieller und prozeduraler Hinsicht. Veraltete Normen, fehlende Regelung neuer Rechtsmaterien, Kompliziertheit des Verwaltungsaufbaus, Umständlichkeit und Langwierigkeit der Verfahren sowie unzureichende Regelung der Parteienstellung von Bürgern – das alles erschwerte aus Koerbers Sicht die Wahrnehmung der eigentlichen Funktion der öffentlichen Verwaltung: den Schutz der Rechts- und Interessensphären des Einzelnen und die Förderung seiner wirtschaftlichen Existenz. Verstärkt würden diese strukturellen Probleme durch ein bedrohliches Missverständnis der Bürger über Staat und Verwaltung sowie von einem nicht zeitgemäßen Amtsverständnis der Beamten: 6 Vgl. Peter Becker: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 15 (2003), S. 311–336. 7 Vgl. dazu Gerhard Botz: ,Quantkurs‘ am Scheideweg, in: Historical Social Research 29 (1984), S. 86–94. 8 Brockhausen, Verwaltungsreformen, S. 7.

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Die politische Verwaltung und die Bevölkerung stehen sich vielfach fremd gegenüber, und verfügt der politische Beamte zumeist nicht über jenen Kontakt mit der Bevölkerung, welcher die erste Voraussetzung für eine zweckdienliche Lösung der Aufgaben der öffentlichen Verwaltung bilden würde […] Gerade so wie ein großer Teil der Staatsbürger im Staate zunächst eine feindselige Macht oder eine fremde, rücksichtslos auszubeutende Geldquelle erblicken, so hält der Bureaukrat die öffentliche Wohlfahrt oft für ein von der Gesamtheit der Bevölkerung getrenntes selbständiges Wesen, dem die Interessen der einzelnen unter allen Umständen schonungslos zum Opfer gebracht werden müssen.9

Die weitreichenden Reformpläne Ernest von Koerbers redeten zwar einer Verwaltungsreform das Wort, zielten aber letztlich auf eine Staatsreform ab.10 Sie reichten von der Neugestaltung der Behörden und ihrer Kompetenzen, der Reorganisation der Verwaltungsrechtspflege und der Neuverteilung von Aufgaben zwischen autonomer und staatlicher Verwaltung bis hin zur Revision der Stellung und Aufgaben der Beamten. Koerbers Vorschläge fanden große Beachtung, führten jedoch unter seiner Regierung zu keinen konkreten Maßnahmen. Erst der Antrag von Josef Redlich im Abgeordnetenhaus zur Einsetzung einer außerordentlichen Kommission zur Vorbereitung der Verwaltungsreform war erfolgreich im Hinblick auf die institutionelle Verankerung des Reformprozesses.11 Am 22. Mai 1911 richtete Kaiser Franz Joseph mit „Allerhöchstem Handschreiben“ eine Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform ein, die sich vor allem mit der Reform und Organisation der Behörden und ihrer Geschäftsordnungen befassen sollte.12 Ihre Anbindung erfolgte an das Ministerium des Inneren bzw. den Ministerrat. Es war eine Besonderheit der österreichischen Verwaltungsreform des 20. Jahrhunderts, dass das Finanzministerium zwar in dem Reformprojekt vertreten war, darauf aber keinen gestaltenden Einfluss ausüben konnte.13 Eine wesentliche Neuerung betraf die Schaffung eines Büros im Sinne eines public administration reform unit, das unter der Leitung von Robert Davy als Informations- und Organisationszentrale fungierte. Es war für die Vorbereitung der Sitzungen, für die Drucklegung der Berichte und für die Erhebung von wissenschaftlichem und praxisrelevantem Wissen über Verwaltung sowie über inländische und ausländische Reformprojekte zustän-

  9 Ernest von Koerber: Studien über die Reform der inneren Verwaltung, Wien [1904], S. 4. Zum Reformprogramm von Koerber vgl. Gernot D. Hasiba: Verwaltungsreform in kleinen Schritten, in: ders. (Hg.), 20 Jahre Institut für Europäische und Vergleichende Rechtsgeschichte, Weiz 1989, S. 77–98, bes. 82–85. 10 Brockhausen, Verwaltungsreformen, S. 7 f. 11 Koerber, Studien, S. 23 f.; vgl. dazu Hasiba, Kommission, S. 240 f. 12 Vgl. dazu Hasiba, Kommission, S. 241. 13 Zur Verortung der österreichischen Verwaltungsreform im internationalen Vergleich vgl. Seppo Tiihonen: The role of central budget agencies and other main government actors’ functional equivalent to them as drivers for government reforms. Guidelines for national papers. Helsinki 2009 (unpubl. Diskussionspapier der IIAS-Arbeitsgruppe History of Public Administration).

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dig.14 Die Orientierung an Erfahrungen anderer Länder spielte in dieser ersten Hochphase der Internationalisierung eine wichtige Rolle – sowohl in der Arbeit der Kommission als auch in Vorschlägen von Praktikern für eine nachhaltige Reform. Die Kommission sollte Vorschläge zur Reform der gesamten inneren Verwaltung erarbeiten. Im Mittelpunkt standen die Organisation der Behörden, die Kanzleiordnung, die Aufgaben der Verwaltung sowie die Ausbildung und Arbeitsleistung der Beamten. Die wesentlichen Nutzer der Verwaltung wurden auf unterschiedlichen Ebenen in das Reformprojekt involviert, z.B. durch die direkte Kontaktaufnahme von Beamten mit der Kommission15 und durch die Abhaltung einer groß angelegten Enquete im Jahr 1912. Ergänzt wurde die Beschaffung von Informationen durch ein systematisches Literaturstudium, die Auftragserteilung an die österreichischen Botschaften und Konsulate zur Beschaffung von Informationen über die Verwaltungsorganisation in ihrem Wirkungskreis und schließlich durch Informationsreisen von Robert Davy, der sich in deutschen Staaten für den inneren Betrieb der Behörden und die Anstellung, Ausbildung und Verwendung von Beamten interessierte.16 Die wichtigste Gruppe von usern waren Beamte aus unterschiedlichen Behörden, die nach einem langen Tauziehen zur direkten Kontaktaufnahme mit der Kommission ermächtigt waren. Sie kannten aus eigener Erfahrung die Unzulänglichkeit der Kanzleiordnung, die Probleme der Aufgabenverteilung zwischen akademisch gebildeten Beamten und Subalternbeamten sowie die mühsame Doppelgleisigkeit zwischen staatlicher und autonomer Verwaltung in den Ländern. Die zweite Hauptgruppe von usern waren die Vertreter von wirtschaftlichen Interessengruppen. Es handelte sich dabei in der Zeit des „organisierten Kapitalismus“ (Hanisch) um die Verbände der Unternehmer und Großagrarier. Sie waren Experten in der Nutzung der Verwaltung und wussten um die Nachteile des Fehlens von einheitlichen Verfahrensgrundsätzen, von exzessiver Schriftlichkeit und von langwierigen Bewilligungsverfahren. Das hatte lange Wartezeiten bei der Genehmigung von Produktionsstätten zur Folge, worauf bereits Koerber in seiner Studie hingewiesen hatte.17 Den Grund für diesen Missstand sah der 14 Vgl. Hasiba, Kommission, S. 243–246. Die Einrichtung solcher Büros, die von Fachbeamten geführt wurden und die Tätigkeit von Experten koordinierten, folgte dem Modell der Verwissenschaftlichung verschiedener Politikbereiche auf nationaler wie internationaler Ebene. Zur Verwissenschaftlichung des Sozialen vgl. Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. 15 Erst nach längeren Verhandlungen erhielten die Beamten das Recht, mit der Kommission im Einvernehmen mit dem Ministerpräsidenten direkt in Kontakt zu treten. Zuvor mussten Bedenken im Hinblick auf Amtsgeheimnis und Insubordination ausgeräumt werden. Zur Kontaktaufnahme vgl. Hasiba, Kommission, S. 242 u. 247 f. 16 Vgl. Hasiba, Kommission, S. 248. Eine zweite Informationsreise nach Italien, Schweiz, Frankreich, England, Belgien und erneut in das Deutsche Reich wurde durch den Ausbruch des Krieges unterbrochen (Hasiba, Kommission, S. 261). 17 Koerber, Studien, S. 3: „Als Beispiel sei auf die Verhandlungen über gewerbliche Betriebsansiedlungen hingewiesen, die sich oft durch Jahre hinziehen, so daß die endgültige Entscheidung unter Umständen erst zu einem Zeitpunkt erfolgt, in welchem die durch das Unternehmen auszunützenden Konjunkturen längst überholt sind.“

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Wiener Staatsrechtler Karl Brockhausen nicht nur in einer unzureichenden Geschäftsordnung sondern in dem strukturellen Problem, dass der Ort der staatlichen Willensbildung in diesem komplizierten Entscheidungssystem nicht eindeutig zu bestimmen war.18 Die große Enquete des Jahres 1912 unter der Leitung von Josef Redlich sollte der Kommission die Gelegenheit geben, die Anliegen der „beteiligten Kreise der Bevölkerung“ zu ermitteln. Wie auch bei anderen Hearings war die Enquete nicht darauf ausgerichtet, einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung einzubeziehen.19 Die Einladungen ergingen an sorgfältig ausgewählte „Experten“, die im Namen der Bevölkerung sprechen sollten. Die Fragen bezogen sich auf auf Problemstellungen, die bestimmte Berufs- und Sozialgruppen besonders betrafen. Frage zwei versuchte etwa festzustellen, ob „für die Bevölkerung ein Bedürfnis nach Errichtung einer neuen staatlichen Zwischeninstanz […] vor[liegt]“.20 Ein solches Bedürfnis hatten eher die Wirtschaftstreibenden mit ihren Konzessionsansuchen als die bäuerliche Bevölkerung und die Arbeiter. Graf Leinsdorf, der Leiter der sogenannten „Parallelaktion“ in Musils Roman, stand vor ähnlichen Problemen wie die Mitglieder der Kommission zur Reform der Verwaltung: Sie wollten die Bevölkerung an dem Projekt teilhaben lassen, aber nur in klar vorgegebenen Bahnen. Musil konfrontierte seinen Graf Leinsdorf mit „unzähligen anderen Menschen“, die sich im Besitz „des Wahren wähnen, das uns not tut“.21 Die Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform erhielt in ganz ähnlicher Form Eingaben von Verbänden, Beamtenvereinen und einzelnen Beamten, die sich berufen fühlten, für die Bevölkerung der Habsburgermonarchie und ihre Anliegen an die Verwaltung zu sprechen. Eine dieser Organisationen war die Ingenieurkammer des Königreichs Böhmen. Sie wähnte sich angesichts der „heutzutage hochentwickelten modernen technischen Wissenschaften voll berechtigt“, einen Beitrag zur Diskussion zu leisten.22 Dieser Hinweis auf die technischen Wissenschaften verpuffte, weil die Kommission die Frage der Technologienutzung innerhalb der Verwaltung nicht in ihre Überlegungen einbezog. Die Erwartung der Kommission an die Expertise der Bevölkerungsvertreter bezog sich auf deren Erfahrungen mit den Behörden und ihren Verfahren. In dieser Hinsicht traf der „Bund österreichischer Industrieller“ in seinem Schreiben vom 3. April 1912 an Erwin Freiherr von Schwartzenau, den Vorsitzenden der Kommission, besser den Ton. Der „Bund“ bot seine 18 Brockhausen, Verwaltungsreformen, S. 14 f. 19 Vgl. Martin Schaffner: The figure of the prose versus the prose of the answers. Lord Devon’s inquiry in Skibbereen, 10 September 1844, in: Peter Becker, William Clark (Hg.), Little tools of knowledge. Historical essays on academic and bureaucratic practices, Ann Arbor 2001, S. 237–257, hier 239–244. 20 Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv (ÖStA-AVA), Inneres, MR-Präsidium, Verwaltungsreformkommissionsakten, Karton 2, AZ 227/S: Vorläufiger Entwurf eines Fragebogens, betreffend die Reform der inneren und Finanzverwaltung. 21 Musil, Mann ohne Eigenschaften, S. 140. 22 ÖStA-AVA, Inneres, MR-Präsidium, Verwaltungsreformkommissionsakten, Karton 2, Nr. 1098: Eingabe der Ingenieurkammer vom 20. Mai 1912. Zu den Eingaben von einzelnen Beamten vgl. Hasiba, Kommission, S. 244.

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Mitarbeit bei der Enquete an und rückte dabei seine langjährigen Erfahrungen mit dem „Funktionieren der Verwaltung“ in den Vordergrund: Es liegt gewiss im Wunsche der Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform, hierbei auch Vertreter der Industrie heranzuziehen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu gewähren. Die Industrie ist ja in hervorragender Weise an dem klaglosen Funktionieren der Verwaltung interessiert und infolge ihrer engen Beziehungen zu fast allen Verwaltungszweigen besonders befähigt, Anregungen zur Verbesserung der derzeitigen Verwaltungseinrichtungen zu geben. Unter den industriellen Korporationen nimmt der Bund Oesterreichischer Industrieller durch die Zahl seiner Mitglieder und seine über das ganze Reich ausgedehnte reichgegliederte Organisation einen ersten Rang ein […].23

Zur Organisation der Enquete wurde aus den Mitgliedern der Kommission ein eigener Ausschuss gebildet, der die einzuladenden Experten und den Inhalt des Fragebogens zu bestimmen hatte. Der Ablauf der Expertenbefragung während der Enquete folgte einem festgelegten Schema,24 nämlich dem Fragebogen, der gemeinsam mit der Einladung verschickt worden war. Fragen konnten nur von den Mitgliedern des Ausschusses gestellt werden. Alle anderen Anwesenden konnten mit den Experten nur über Vermittlung der Ausschussmitglieder kommunizieren. Während der Befragung befanden sich immer mehrere Experten im Raum, wobei nur einer das Wort erhielt. In Ausnahmefällen konnten gerade anwesende Experten Fragen oder Ergänzungen zu den Ausführungen ihrer Kollegen einbringen. Die Experten durften keine vorbereiteten „schriftlichen Operate“ vorlesen, sondern mussten – gut vorbereitet – in freier Rede antworten.25 Für die Experten waren nicht nur Organisation und gesetzliche Programmierung der Verwaltungstätigkeit reformbedürftig. Auch Vorschläge für die Verbesserung der konkreten Verfahren, wenn auch nicht deren technologische Fundierung, wurden von ihnen im Rahmen der Befragung thematisiert. Ludwig Wokurek, stellvertretender Direktor der Arbeiter-UnfallVersicherungsanstalt in Mähren mit Sitz in Brünn, regte in seiner Anhörung vom 26. Oktober 1912 etwa die teilweise Aufhebung der Schriftlichkeit an – ein Thema, das noch im Reformprozess der Ersten Republik eine wichtige Rolle spielen sollte: Ich werde den Vorschlag machen, die Schreibarbeiten tunlichst zu reduzieren. Das ließe sich auch jetzt schon im kurzen Wege machen. Es steht ja nirgends geschrieben, daß diese Gutachten schriftlich abgegeben werden sollen. Wenn der betreffende Beamte der Bezirkshaupt23 ÖStA-AVA, Inneres, MR-Präsidium, Verwaltungsreformkommissionsakten, Karton 2, AZ 209/M: Schreiben vom 3. April 1912. 24 Vgl. dazu auch Schaffner, Figure of the prose, S. 251–255. 25 Vgl. den Entwurf der Geschäftsordnung für die Abhaltung der Enquete: ÖStA-AVA, Inneres, MR-Präsidium, Verwaltungsreformkommissionsakten, Karton 2, AZ 227/S, 30. 4. 1912.

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mannschaft ein moderner Mensch ist, wäre es durchführbar, daß er sich die Leute in sein Bureau vorlädt und diese Angelegenheit in einer kollegialen Besprechung mündlich durchführt. Er könnte einen Tag der Woche für derartige Dinge festsetzen und an diesen Tagen alles erledigen; dadurch wäre es möglich, daß die größte Zahl dieser Agenden in kollegialer Beratung auf Grund mündlicher Erörterung protokollarisch erledigt wird. Damit würde eine endlose Schreiberei aufhören. Man findet ja heute niemand, der Vorstand einer Genossenschaft werden will, weil er sich einen Sekretär halten soll, der die Gutachten schreibt.26

Mit seiner Kritik an der schon im 19. Jahrhundert häufig beklagten Vielschreiberei rannte Wokurek offene Türen ein. Die Kommission regte in ihren Beschlüssen zusätzlich zur Verminderung der Beamtenzahl und zum Ersatz von Juristen durch speziell geschulte Kanzleibeamte auch die verstärkte Nutzung von mündlichen Verfahren an.27 Die Reformen im Bereich der Geschäftsordnung zielten darüber hinaus auf die Vereinfachung des inneren Kanzleibetriebs, die Erhöhung der Produktivität von Beamten und insgesamt die Einführung von gemeinsamen Verfahrensgrundsätzen.28 Damit sollte die Verwaltung, wie von Koerber bereits angemahnt, effizienter auf die Anliegen der Bürger reagieren und kostengünstiger funktionieren. Wenn man die Verwaltungsreform als Netzwerkprojekt versteht, stellt sich die Frage nach den Akteuren, die in das Netzwerk aufgenommen wurden, und nach jenen, die ausgeschlossen blieben. Wie bereits erwähnt, bemühten sich zahlreiche Verbände um Aufnahme in die Kommission bzw. um Einladung zur Enquete. Auffällig ist beim Blick auf das Netzwerk, dass Arbeiter nicht durch die Gewerkschaften, sondern durch Experten aus dem Sozialversicherungswesen vertreten waren. Das Fehlen der Arbeitervertreter in der Enquete ist umso bemerkenswerter, als die paritätische Zusammenarbeit beim Gewerbegericht, der Sozialversicherung sowie dem arbeitsstatistischen Amt im Handelsministerium und später in den Beschwerdekommissionen der Kriegsindustrie gut funktionierte.29 Aus der Perspektive der Behörden, die zum Innen- und Finanzministerium gehörten, waren Arbeiter aber keine beteiligten Kreise, sondern wirtschaftliche und politische Subjekte, die der Autorität von Behörden zu Recht unterworfen waren. Ich habe bisher mit dem ‚neudeutschen‘ Begriff der user bewusst operiert, um die Rolle der Wirtschaft in diesem Reformprozess darzustellen. Ein Charakteristikum der österreichischen Reformdebatte bestand in der eingeschränkten Rolle, die man den Erfahrungen der Wirt26 Anhörung des Experten Wokurek am 26. Oktober 1912, in: Enquete der Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform, veranstaltet in der Zeit vom 21. Oktober bis 9. November 1912 zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung in bezug auf die Reform der inneren und Finanzverwaltung, Wien 1913, S. 173. 27 Vgl. Hasiba, Kommission, S. 252. 28 Die statistischen Erhebungen zur Arbeitsproduktivität machten die geringe Produktivität der Ministerialbeamten offensichtlich. Mehr als ein Drittel der Beamten bearbeiteten im Schnitt weniger als einen Akt pro Tag. Vgl. dazu die Bemerkungen bei John W. Boyer: The end of an old regime. Visions of political reform in late imperial Austria, in: Journal of Modern History 58.1 (1986), S. 159–193, hier 177 f. 29 Vgl. Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 186.

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schaftstreibenden zugestand. Ihre Expertise bestand in der praktischen Erfahrung mit der behördlichen Reglementierung und Konzessionierung von wirtschaftlichem Handeln. Das in den USA zu beobachtende Interesse der öffentlichen Verwaltung an Management- und Organisationsmethoden der Wirtschaft fehlte im Österreich der Jahrhundertwende.30 Die Verwaltungspraktiker wussten um technologische Neuerungen und wollten diese auch einsetzen. Es gab vereinzelt auch Forderungen nach betriebswirtschaftlicher Kompetenz, aber nicht zur Reform der Verwaltung, sondern für das Rechnungswesen. Für die Reform der Geschäftsprozesse blieb der praktische Blick als Ergebnis langjähriger Erfahrung maßgeblich. Die systematische Berücksichtigung von neuen Ansätzen in der Büroorganisation findet sich nicht einmal im Argument von Karl Brockhausen, obwohl er die Verwaltung mit einer Dampfmaschine verglich.31 Dennoch beschränkte er sich in seinen Überlegungen zur „Mechanisierung der Arbeit“ auf eine Neuverteilung der Aufgaben zwischen Konzepts- und Subalternbeamten, wobei Routinefälle „an eine untere, billiger arbeitende Beamtenstufe abgegeben, das heißt mechanisiert“ werden sollten.32 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedeutete ein vorzeitiges Ende für die Tätigkeit der Kommission, die von führenden politischen Akteuren mit Skepsis verfolgt wurde.33 Sie wurde mit allerhöchstem Handschreiben vom 25. Januar 1915 aufgelöst. Das Büro und damit auch die Erfahrung und wissenschaftliche Expertise der Mitarbeiter blieb noch bis 1917 bestehen. Nach 1917 ging es schließlich in einem Kompetenzzentrum des Innenministeriums auf – als Ständiges Komitee für Verwaltungstechnik und Verfahren.34

Internationaler Druck und verfahrensrechtliche Innovation Die Umsetzung der von der Kommission erstellten Reformvorschläge zur Ausbildung der Beamten, zur Geschäftsordnung der Bezirkshauptmannschaften und zur Kanzleiordnung scheiterte am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Der Grazer Rechtshistoriker Gernot Hasiba hat mit einer treffenden Formulierung das Ende dieser Reformen charakterisiert: „Auch eine 30 In den USA fand der Taylorismus, vermittelt über die neuen Bürotechniken der Wirtschaft, auf zwei Wegen Eingang in die öffentliche Verwaltung. Im Bereich der Bundesverwaltung stellten Kommissionen wie die Taft Commission einen entsprechenden Brückenschlag dar; im Bereich der Verwaltung von rasch expandierenden Großstädten waren städtische Forschungseinrichtungen wie das New York Bureau of Municipal Research maßgebend. Vgl. Jos C. Raadschelders: Administrative history of the United States. Development and state of the art, in: Administration & Society 32 (2000), S. 499–528, bes. 509 f. 31 Brockhausen, Österreichische Verwaltungsreformen, S. 62. 32 Brockhausen, Österreichische Verwaltungsreformen, S. 77. Vgl. dazu auch seine Ausführungen während der Enquete: „Nicht das Geringfügige, wie es hier heißt, sondern das Typisierte, das wiederholt Durchdachte kann ohne besondere Gefahr abgestoßen werden.“ (Enquete der Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform, veranstaltet in der Zeit vom 21. Oktober bis 9. November 1912 zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung in bezug auf die Reform der inneren und Finanzverwaltung, Wien 1913, S. 16.) 33 Vgl. Boyer, The end of an old regime, S. 182 f. 34 Vgl. Hasiba, Kommission, S. 262.

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Verwaltungsreform verlor angesichts des Umstands, dass die politische Verwaltung an die Höchstkommandierenden der Streitkräfte übergegangen war, jede Berechtigung.“35 Der „bürokratische Kriegsabsolutismus“ (Otto Bauer) führte alle Reformbestrebungen ad absurdum. Der Wiederaufbau der Verwaltung in der Ersten Republik begann unter schwierigen politischen Bedingungen – der noch nicht gänzlich beseitigten Hypothek von Kriegswirtschaft und Reorganisation der Wirtschaftsräume, einer seit dem Bruch der Koalition 1920 sich verschärfenden politischen Polarisierung, einer galoppierenden Inflation und einem riesigen Budgetdefizit. Zusätzlich wurde die Reorganisation erschwert von einem Wildwuchs an Gesetzen und Vorschriften aus der Zeit der Monarchie, des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit, die „nicht selten überhaupt bloß einem Augenblicksbedürfnis entsprungen [waren] […] und keineswegs immer den Grundsatz [verfolgten], einen angestrebten Verwaltungserfolg mit den einfachsten Mitteln zu erreichen“.36 Verschärft wurde die normative Unübersichtlichkeit und die „unrationelle Belastung“ (Mannlicher) der Verwaltung schließlich auch noch dadurch, dass das Bundesverfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 „sich in einer Reihe von wichtigen verfassungsrechtlichen Fragen mit bloß provisorischen Anordnungen beholfen und deren definitive Lösung der Zukunft überlassen [hatte]“.37 Teil dieses Provisoriums war die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern in Gesetzgebung und Verwaltung – ein Thema, das bereits die Kommission zur Reform der Verwaltung vor Ausbruch des Krieges beschäftigt hatte und das einer dringenden Regelung bedurfte: Mit diesen provisorischen in weitere Wirksamkeit gesetzten älteren Kompetenzbestimmungen […] musste aber die Praxis […] die denkbar schlechtesten Erfahrungen machen. Diese Verfassungsbestimmungen […] konnten ja begreiflicherweise zu einer ganzen Reihe von im damaligen Zeitpunkt noch nicht zur Geltung gelangten, nach dem heutigen Stand der Entwicklung aber außerordentlich wichtigen Erscheinungen des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens keine Stellung nehmen, wie beispielsweise zu den Angelegenheiten des Elektrizitätswesens, den sozialpolitischen Fragen […].38

Die – unter dem Druck der alliierten Reparationskommission erneut in Angriff genommene – Reform der Verwaltung wurde zur Chefsache und von einer Abteilung für Verwaltungsreform und einer Ersparungskommission betrieben. Das Verwaltungsproblem war zum Finanzproblem geworden, wie der Wiener Staatsrechtler Adolf Merkl im Jahr 1921 kritisch anmerkte. Eine Lösung dieses Problems sah er nur in der radikalen Vereinfachung der Verwaltungsme35 Hasiba, Meisterwerk österreichischer Gesetzgebungskunst, S. 163 f. 36 Egbert Mannlicher: Die österreichische Verwaltungsreform des Jahres 1925, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 5.3 (1926), S. 1–38, hier 3. 37 Ludwig Adamovich: Die Reform der österreichischen Bundesverfassung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 5.2 (1925), S. 1–53, hier 1. 38 Adamovich, Reform, S. 3.

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thoden und nicht in einem kosmetischen Beamtenabbau.39 Die Abteilung für Verwaltungsreform – angegliedert an das Bundeskanzleramt – verfolgte eine solchen umfassenderen Ansatz und ging über die an sich begrenzte Aufgabenstellung hinaus. Sie ermittelte nicht nur Einsparungspotenziale, sondern erstellte Grundsätze zur Reorganisation der Verwaltung.40 Die Verwaltungsreform sollte einen wichtigen Beitrag zur Sanierung der Staatsfinanzen leisten und war Teil der Auflagen, die der Völkerbund an die Gewährung der Anleihe von 1922 geknüpft hatte. In diesem Sinn wurde sie von Egbert Mannlicher, dem für die Reform zuständigen Beamten im Bundeskanzleramt, als „ein Kind der Sanierungszeit“ bezeichnet.41 Unter dem Druck dieser Vorgaben erhielt das mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges sistierte Reformprojekt wieder Schwung und wurde organisatorisch neu strukturiert. Die Abteilung für Verwaltungsreform wanderte vom Bundeskanzleramt an das Ministerium für Inneres und Unterricht. Die Ersparungskommission stellte ihre Tätigkeit ein. Der Leiter des Büros dieser Kommission – Egbert Mannlicher – wurde zum Leiter der Verwaltungsreformabteilung. Das Bundesministerium für Finanzen erhielt dafür die Stelle eines Ersparungskommissärs.42 Im Vergleich zum Reformprojekt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges war das Netzwerk für die Verwaltungsreform nun offener angelegt. Die verhältnismäßig lange Zeitspanne zwischen der öffentlichen Präsentation und der Beschlussfassung im Parlament ermöglichte es „allen interessierten Kreisen“, sich einzubringen, auch wenn sie nicht wie die Landesregierungen, die Interessenvertretungen, die Spitzenbeamten, die rechtswissenschaftlichen Fakultäten und die Kammern im Rahmen der Vorarbeiten als Experten gehört worden waren.43 Eine weitere Besonderheit des Reformprozesses in der Zwischenkriegszeit war die Präsenz eines Vertreters des Völkerbunds als Aufsichtsorgan in diesem Netzwerk. Der Rotterdamer Bürgermeister Dr. Alfred Zimmermann, selbst ein Verwaltungsfachmann, übersiedelte nach Wien und hielt den Druck auf die Regierung aufrecht, indem diese monatlich über die Reformmaßnahmen berichten musste. Der Völkerbund forderte vor allem Reformen im großen Maßstab, Zimmermann selbst achtete aber auch auf Einsparungspotenziale im Kleinen: Er inspizierte selbst Kleinbahnen, um überflüssige Schrankenwärterstellen zu ermitteln und forderte die Einhaltung der gesetzlichen Arbeitsstunden bei Ämtern.44 39 Hasiba, Meisterwerk österreichischer Gesetzgebungskunst, S. 166 f. 40 Vgl. Gerhard Holzinger, Ilona Schuster: Die österreichische Verwaltungsreformkommission, in: Die Verwaltung 17.3 (1984), S. 319–328, bes. 320. 41 Mannlicher, Verwaltungsreform, S. 1. 42 Vgl. dazu Hasiba, Meisterwerk österreichischer Gesetzgebungskunst, S. 169. 43 Der großdeutsche Abgeordnete Heinrich Clessin betonte in seiner Einlassung den Vorteil einer langen und intensiven öffentlichen Diskussion: „Es ist außerordentlich wünschenswert, daß die interessierten Kreise in Österreich Gelegenheit bekommen, noch rechtzeitig […] Stellung zu nehmen.“ (Stenographisches Protokoll der 108. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich, II. Gesetzgebungsperiode, 21. Juli 1925, S. 2594.) Zur heftigen fachlichen und innenpolitischen Debatte der frühen Reformansätze in der Ersten Republik vgl. Hasiba, Meisterwerk österreichischer Gesetzgebungskunst, S. 168 f. 44 Vgl. dazu Hasiba, Meisterwerk österreichischer Gesetzgebungskunst, S. 170.

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Das Resultat des Reformprojektes war eine umfassende Verwaltungs- und Verfassungsreform, die auf Vereinheitlichung, Vereinfachung und Einsparung abzielte, wie Vizekanzler Felix Frank von der Großdeutschen Volkspartei bei der Vorstellung des Gesetzesentwurfes in der 43. Sitzung des Nationalrates am 5. Juni 1924 betonte. Er stellte dieses Projekt als einen Gewinn für alle im weitesten Sinn Beteiligten dar: „ein außerordentlich wichtiger Schritt auf dem Weg der Sanierung, ein Schritt, der niemanden Lasten auferlegt […] ein Schritt, der allen, den Beamten, den Behörden, aber insbesondere auch der Bevölkerung Vorteile bringt […]“.45 Der propagierte Vorteil für die Verwaltungssubjekte lag einerseits in der erhöhten Transparenz und in der Beschleunigung der Verfahren, andererseits in der verbesserten Rechtssicherheit. Die Verwaltungsreformgesetze wurden von Franz Schumacher, einem international anerkannten Verwaltungsjuristen und Berichterstatter für die Christlichsozialen in der Sitzung des Nationalrats vom 16. Juli 1925 daher als ein „Fortschritt auf dem Wege des Ausbaues unseres Staates zum Rechtsstaat“ gefeiert.46 Für die Verwaltung wurde erstmals ein Verwaltungsverfahren normativ festgelegt – und damit eine mehr als fünfzigjährige Reformdiskussion in einer Art zum Abschluss gebracht, die laut Egbert Mannlicher beispielgebend für die internationale Verwaltungsreform war.47 Für die möglichst vollständige Zusammenfassung aller Formalvorschriften hatte es kein „fremdes Vorbild“ gegeben, sie hatte sich aufgrund der widersprüchlichen Bestimmungen in der bestehenden Praxis nicht auf die Kompilation vorhandener Regelungen beschränken können und auch die Zusammenstellung der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes war nicht zielführend gewesen. Für Arnold Eisler, den Berichterstatter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, stellte dieser neue Weg der Kodifikation des Verwaltungsverfahrens eine wichtige Diskontinuität zur früheren Verwaltung und ihren Reformanstrengungen dar: Wir haben uns bei der Mitarbeit an dieser Verwaltungsreform immer vor Augen gehalten, daß wir die Verwaltung eines Obrigkeitsstaates neu zu regeln haben und daß wir sie so einzurichten haben, daß sie auch das Verfahren vor den Behörden in einem demokratischen Staate regeln kann.48 45 Stenographisches Protokoll der 43. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich, II. Gesetzgebungsperiode, 5. Juni 1924, S. 1217. 46 Stenographisches Protokoll der 107. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich, II. Gesetzgebungsperiode, 16. Juli 1925, S. 2568. 47 Reginald Parker schrieb noch 1965 im American Journal of Comparative Law, dass Österreich das einzige Land der ‚westlichen Zivilisation‘ sei, „that has codified its law of administrative procedure“. Reginald Parker: Administrative procedure in Austria, in: American Journal of Comparative Law 14.2 (1965), S. 322–336, hier 322. 48 Arnold Eisler, der für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei die Gesetzesvorlage in der 108. Sitzung des Nationalrats (21. 7. 1925) vorstellte, sah die Zusammenfassung von Formalvorschriften als Alleinstellungsmerkmal der österreichischen Verwaltungsreform. Stenographisches Protokoll der 108. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich, II. Gesetzgebungsperiode, 21. Juli 1925, S. 2588. Zum negativen Bild einer repressiven Bürokratie der Habsburgermonarchie in der Zeit der Ersten Republik vgl. Boyer, The end of an old regime, S. 160 f.

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Aus der Sicht von Eisler waren die am 21. Juli 1925 im Nationalrat verabschiedeten Gesetze zur Vereinfachung der Verwaltung allerdings nur ein erster Schritt weg von einer „bureaukratischen“ und hin zu einer demokratischen Verwaltung.49 Als erster Versuch verstanden, fanden diese Gesetze die Unterstützung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Die Gesetze verbesserten die Rechtssicherheit für den Bürger, indem sie alle bestehenden Verfahrensvorschriften aufhoben und einheitliche Vorgaben zum Verwaltungsverfahren, zum Verwaltungsstrafverfahren und zum Verwaltungsvollstreckungsverfahren festlegten. „Die Klarheit über sein Recht“ war das Beste, was die Politik laut Eisler dem Staatsbürger geben konnte.50 Klarheit wurde geschaffen über die Zuständigkeit von Behörden, über die möglichen Formen von Befangenheit, über die Stellung von Parteien und Beteiligten, über die Beweisaufnahme und über das Verfahren einschließlich der Bestimmungen über erforderliche Merkmale eines schriftlichen Bescheides.51 Im Bereich der Verwaltungsverfahren wurden die Behörden verpflichtet, ihre Entscheidungen mit einem klar definierten Bescheid kundzumachen, welcher explizit als solcher bezeichnet werden und den Spruch und die Rechtsmittelbelehrung enthalten musste.52 Im Fall von Verwaltungsübertretungen, für die Geldleistungen in einem gesetzlich definierten Umfang festgelegt waren, wurde ein abgekürztes Mandatsverfahren eingeführt. Es berechtigte die Verwaltungsorgane ohne vorausgegangenes Ermittlungsverfahren einen Bescheid zu erlassen, gegen den jedoch Einspruch eingelegt werden konnte.53 Der großdeutsche Abgeordnete Heinrich Clessin begrüßte die Einführung des Organmandats als eine bedeutende Entlastung der Behörden wie auch der Bevölkerung, weil damit „die Verpflichtung zu mehrfachen Gängen und Vorladungen bei den Behörden entfällt“.54 Als weitere Verfahrenserleichterung wurde im Verkehr zwischen den Behörden und den beteiligten Bürgern die mündliche Kommunikation stärker betont – ein Anliegen, das bereits in der Reformdebatte während der Monarchie präsent gewesen war. Mündliche Kommunikationen mussten jedoch als Niederschriften oder Aktenvermerke verschriftlicht und in den bürokratischen Prozess eingespeist werden.55

49 Stenographisches Protokoll der 108. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich, II. Gesetzgebungsperiode, 21. Juli 1925, S. 2589. 50 Stenographisches Protokoll der 108. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich, II. Gesetzgebungsperiode, 21. Juli 1925, S. 2590. 51 Mannlicher, Verwaltungsreform, S. 6 f; Bundesgesetz vom 21. Juli 1925 zur Einführung der Bundesgesetze über das allgemeine Verwaltungsverfahren, über die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsstrafrechts und des Verwaltungsstrafverfahrens sowie über die Vollstreckungsverfahren in der Verwaltung, BGBl. 1926, Nr. 273–277, hier bes. 273. 52 Bundesgesetz vom 21. Juli 1925 über das allgemeine Verwaltungsverfahren, BGBl. 1925, Nr. 274, §§ 56–62. 53 Bundesgesetz vom 21. Juli 1925 über das allgemeine Verwaltungsverfahren, BGBl. 1925, Nr. 274, §§ 57. 54 Stenographisches Protokoll der 108. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich, II. Gesetzgebungsperiode, 21. Juli 1925, S. 2595. 55 Bundesgesetz vom 21. Juli 1925 über das allgemeine Verwaltungsverfahren, BGBl. 1925, Nr. 274, §§ 13–16.

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Zur Finanzierung der Verwaltung führten die Verwaltungsverfahrensgesetze gemeinsam mit entsprechenden Bestimmungen im Bundesverfassungsgesetz erstmals einheitliche Verwaltungsabgaben ein. Sie sollten die bestehende Praxis der Behörden, unter verschiedenen Titeln Entschädigungen für den eigenen Aufwand bei der Durchführung von Verwaltungsakten einzuheben, beseitigen. Aus psychologischen Gründen war ein solcher Beitrag nur dann vorgesehen, wenn die Behörde sichtbar zugunsten der Parteien tätig wurde, wie Egbert Mannlicher erklärte.56 In organisatorischer Hinsicht umfasste die Verwaltungsreform eine Kanzleiordnung für die Bundesministerien, die Trennung der Betriebsverwaltung des Bundes von der Hoheitsverwaltung und damit die Ausgliederung der Bundesbahnen in einen eigenen Wirtschaftskörper sowie einen radikalen Abbau von 100 000 Stellen im öffentlichen Sektor.57 Der wichtigste Teil der neuen Organisationsstruktur war die Zuweisung der politischen Verwaltungsbehörden an die Länder. Im Zusammenhang mit dieser Verländerung stand auch die Bildung eines einheitlichen Amtes der Landesregierung. Das führte zur Integration der autonomen und staatlichen Verwaltung in einer Landesbehörde, deren Personal jedoch gleichermaßen aus Landes- und Bundesbediensteten bestand. Im Zuge dieser Neugestaltung wurden die Bezirkshauptmannschaften zu Landesbehörden; ihr Tätigkeitsbereich erstreckte sich jedoch weiterhin auf die Geschäfte der mittelbaren Bundesverwaltung und der Landesverwaltung.58 Das beeindruckende Reformwerk entstand in einem Netzwerk zahlreicher Akteure, in dem die Verwaltungsreformabteilung unter Egbert Mannlicher und der Völkerbundkommissar Alfred Zimmermann eine wichtige Rolle einnahmen. Die Reform war jedoch kein Diktat aus Genf, sondern das Resultat eines durch den Druck aus Genf beschleunigten Aushandelungsprozesses mit einer Vielzahl von usern. Angesichts der radikalen Umgestaltung der Behördenorganisation waren die Beamten, die Ministerien, die Länder und die politischen Parteien maßgeblich involviert. Sie wurden sekundiert von Interessenvertretungen, von rechtwissenschaftlichen Fakultäten und Anwaltskammern. Mit diesen zuletzt genannten Akteuren habe ich bereits den zweiten Gesichtspunkt angesprochen – die Frage nach dem Wissen, das für die Reformen maßgeblich war. Trotz der radikalen Umbrüche in politischer, gesellschaftlicher, kultureller und technologischer Hinsicht blieben auch im österreichischen Reformprozess der Zwischenkriegszeit juristische Kompetenz und praktische Verwaltungserfahrung dominant. Das hing sicherlich mit der Schwerpunktsetzung auf die Erarbeitung von allgemein gültigen Grundsätzen für die Verwaltungsverfahren zusammen. Doch auch die lokalen und regionalen Ansätze zu einer Kanzleireform gingen von juristisch gebildeten Beamten wie Odo Neustädter-Stürmer aus.59 56 Mannlicher, Verwaltungsreform, S. 22 f. 57 Vgl. Holzinger, Schuster, Verwaltungsreformkommission, S. 320, vgl. dazu auch Hasiba, Verwaltungsreform in kleinen Schritten, S. 91 f. 58 Vgl. Adamovich, Reform. S. 12 f. u. 22–25. 59 Als Leiter der Bezirkshauptmannschaft Braunau führte der Verwaltungsbeamte und spätere Ideologe des Stän-

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Mit dieser Fokussierung auf den juristisch geschulten praktischen Blick und sein Innovationspotenzial hinkte das österreichische Projekt hinter den Reformanstrengungen in Deutschland her. Dort folgte man unmittelbar nach dem Krieg dem amerikanischen Vorbild und orientierte sich an den Neuerungen der Wirtschaft im Bereich von Büroorganisation und Management.60 Bereits im Jahre 1919 wurde der Ausschuss für Büroorganisation zur Übertragung von Steuerungsmethoden und Technologien aus der Wirtschaft in die Verwaltung gegründet, der später in den Ausschuss für wirtschaftliche Verwaltung beim Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit aufging. Gemeinsam mit dem Deutschen Institut für wirtschaftliche Arbeit in der öffentlichen Verwaltung entstanden Plattformen, die Unternehmer, Wissenschaftler, Verbände und Ministerien zusammenbrachten, um Konzepte für die Rationalisierung der Verwaltungsarbeit zu entwickeln.61 Im Österreich der Zwischenkriegszeit erfolgte dieser Transfer erst im Jahre 1930 im Zeichen von Weltwirtschaftskrise und Einsparungsplänen. Zu diesem Zeitpunkt wurde das zwei Jahre zuvor nach deutschem Vorbild gegründete Kuratorium für Wirtschaftlichkeit zur Mitarbeit in der kurzlebigen Kommission für die Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung eingeladen.62 Mit dem Bundesverfassungsgesetz des Jahres 1934 wurde Österreich zum ständisch-autoritären Staat auf christlicher Grundlage, der gleichzeitig ein „autoritärer Bürokratiestaat“ war, wie Ulrich Kluge betont.63 Der Charakter des Bürokratiestaates zeigte sich deutlich in der Verlagerung des politischen Gewichtes hin zu Bundeskanzler und Regierung. Für Kluge drückte die Schaffung einer „staatsbürokratischen Expertokratie“ das gering entwickelte Problembewusstsein der ständestaatlichen Ideologen und Politiker im Hinblick auf die mangelnde soziale Integration in Österreich aus, die ja durch die proklamierten berufsständischen Vertretungen nicht überwunden werden konnte.64 Denn die in Aussicht gestellte Einrichtung von vorberatenden und beschließenden Organen, die von Berufsständen be-

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destaats Odo Neustädter-Stürmer eine Kanzleireform durch, die sich bewährte. Sie wurde 1924 bei sämtlichen Behörden erster Instanz eingeführt. Vgl. Harry Slapnicka: Hans von Hammerstein (1881–1947). Bezirkshauptmann, Sicherheitsdirektor und Minister in der Zeit des österreichischen Bürgerkriegs, in: Die Verwaltung 16.3 (1983), S. 341–352, hier 343. Vgl. dazu den als eigenständige Publikation erschienenen Vortrag des preußischen Regierungspräsidenten Hermann Haussmann: Die Büroreform als Teil der Verwaltungsreform, Berlin 1925. Vgl. Walther Gärtner: Die Aufgaben des DIWIV bei der behördlichen Büroreform, Berlin 1931; vgl. auch die vom Deutschen Institut für wirtschaftliche Arbeit in der öffentlichen Verwaltung herausgegebenen „Beiträge zur technischen Verwaltungsreform“ (1928–1931); Richard Couvé: Das Schrifttum über die Bestgestaltung der Arbeit im Behördenbüro, Berlin 1932, sowie die Publikation der Verwaltungsakademie München: Wirtschaftliche Arbeit in der öffentlichen Verwaltung. Ein Beitrag zur Verwaltungs- und Büroreform, München 1929. Vgl. Josef Moser: Oberösterreichs Wirtschaft 1938–1945, Wien / Köln / Weimar 1995, S. 88 f; Franz Berner: Verwaltungsreform, in: Karl Heinz Ritschel (Hg.), Demokratiereform. Die Existenzfrage Österreichs, Wien / Hamburg 1969, S. 262–299, hier 265. Ulrich Kluge: Der österreichische Ständestaat 1934–1938. Entstehung und Scheitern, Wien 1984, S. 98. Kluge, Ständestaat, S. 60.

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schickt werden sollten, scheiterte am Unvermögen der Regierung, diese Stände einzurichten. Die Mitglieder dieser Organe wurden bis zum Ende des Ständestaates vom Bundeskanzler vorgeschlagen.65 Innerhalb des Verwaltungsaufbaus gab es keine radikalen Veränderungen. Die Mittel- und Unterbehörden sowie die Teilung in unmittelbare und mittelbare Bundesverwaltung wurden beibehalten. In der Fortsetzung der Neuverteilung von Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern in der Bundesverfassungsnovelle von 1929 erfuhr der Föderalismus jedoch einen erheblichen Bedeutungsverlust. Dadurch nahm der Einfluss der Bundesregierung auf die Gesetzgebung und Vollziehung der Länder zu; im Bereich der Behördenorganisation gab es eine verstärkte bundesstaatliche Kontrolle des Polizeiwesens.66 Die von den Protagonisten des Ständestaates in Aussicht gestellte Entlastung der Verwaltung durch die selbstständige Wahrnehmung der Angelegenheiten durch die Berufsstände wurde nicht realisiert.67 Die Eingliederung Österreichs in das nationalsozialistische Deutschland erfolgte nach der Auflösung der bestehenden Verwaltungseinheiten. Das Land wurde  – „ohne Bedachtnahme auf die historischen und wirtschaftlichen Beziehungen […] zwischen den einzelnen Ländern“ – in sieben Reichsgaue geteilt, die administrativ nicht zusammengeschlossen, sondern dem Deutschen Reich unmittelbar eingeordnet wurden. Sie unterstanden jeweils einem Reichsstatthalter, der zugleich Gauleiter der NSDAP war. Die österreichische Behördenorganisation wurde beseitigt und durch die preußisch-deutsche Ordnung abgelöst. Diese politischadministrative Gleichschaltung wurde bereits von Gerhard Botz umfassend kommentiert.68

Der diskrete Charme der Bürokratie Die Nachkriegszeit begann mit der Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Situation der Zeit vor dem Ständestaat und mit der Wiedereinrichtung der entsprechenden Behörden. Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit stellten jedoch die hohen Verwaltungsaufwendungen eine Herausforderung für das Budget dar. Ersparungskommissäre in den 65 Ein knapper Überblick über Verfassung und Verwaltung des Ständestaates findet sich bei Oskar Lehner: Österreichische Verfassung- und Verwaltungsgeschichte mit Grundzügen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Linz 1992, S. 287–312; Kluge, Ständestaat, S. 73–100; Emmerich Tálos, Walter Manoschek: Aspekte der politischen Struktur des Austrofaschismus, in: Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus.  Politik, Ökonomie, Kultur, 1933–1938, Wien 2005, S. 124–160; Emmerich Tálos: Das austrofaschistische Herrschaftssystem, in: Tálos, Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus, S. 394–420, bes. 401–404. 66 Vgl. Ernst C. Hellbling: Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Wien ²1974, S. 456 f.; Tálos, Herrschaftssystem, S. 403. 67 Vgl. Tálos, Manoschek, Aspekte der politischen Struktur, S. 136. 68 Gerhard Botz: Stufen der politisch-administrativen Gleichschaltung Österreichs 1938 bis 1940, in: Die Verwaltung 13.2 (1980), S. 173–212; vgl. dazu auch Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 462.

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Bundesministerien sollten die Kosten der Verwaltung senken. Weiter reichende Reformprojekte wurden von der Arbeitsgemeinschaft für Verwaltungsreformmaßnahmen diskutiert, die seit 1952 Experten aus den Ministerien, der Post und Bahn, des ERP-Zentralbüros, der Interessenvertretungen und schließlich auch der Länder und des Kuratoriums für Wirtschaftlichkeit zusammenbrachte. Ihre weitreichenden Vorschläge zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren, zur Personalbewirtschaftung, zur Steigerung des Qualifikationsniveaus und zur erhöhten Mobilität der Beamten wurden jedoch nur in stark reduzierter Form umgesetzt.69 Die eigentliche Reform der Verwaltung begann im Jahr 1966 mit der Einsetzung eines Arbeitskomitees für Fragen der Verwaltungsreform, das – ähnlich wie das von Bundeskanzler Klaus zwei Jahre zuvor nominierte Expertengremium  – von der Sichtung der vorliegenden Vorschläge zur Reform der öffentlichen Verwaltung ausging. Die auf die Erarbeitung von konkreten Rationalisierungsvorschlägen bezogene Aufgabenstellung verlagerte sich rasch auf die Erarbeitung von generellen Reformkonzepten.70 Dieses Reformprogramm sollte zwei Probleme lösen: erstens die rasch steigenden Ausgaben für Verwaltung im expandierenden Wohlfahrtsstaat reduzieren und zweitens der Empörung der Bürger über die langsame Aufgabenbewältigung und das Auseinanderklaffen von moderner Betriebsführung in der Privatwirtschaft und schleppender Verwaltung in den Behörden begegnen, indem man den Verwaltungsapparat in einen engeren Kontakt mit den Bürgern bringen wollte.71 Es kam nun erstmals in der Verwaltungsreform des 20. Jahrhunderts der Bürger und zunehmend auch die Bürgerin als user in den Blick. Das hatte weitreichende Konsequenzen, nämlich den Wandel von einem obrigkeitlichen nicht zu einem fürsorgenden, wie es noch Arnold Eisler 1925 gefordert hatte, sondern hin zu einem dienstleistungsorientierten Aufgaben- und Selbstverständnis der Verwaltungsbehörden. Der Ursprung für diese radikale Umgestaltung der Behörden lag in Österreich in der Demokratisierungsbewegung der späten 1960er- und der 1970er-Jahre,72 wie die Regierungserklärung von Bruno Kreisky vom 5. November 1975 deutlich macht:

69 Vgl. Holzinger, Schuster, Verwaltungsreformkommission, S. 320 f. 70 Vgl. ebda., S. 321 f. 71 Vgl. dazu Müller, Aspetti della modernizzazione, S. 291: „Naturalmente, nei programmi ufficiali, erano menzionati anche i tradizionali obiettivi di un’amministrazione efficiente, semplice e contenuta nelle spese, ma l’accento era chiaramente posto sull’avvicinamento fra l’amministrazione e il pubblico.“ 72 Ein knapper Überblick über die Geschichte und transnationale Dynamik der Verwaltungsmodernisierung im Zeichen des neuen Steuerungsmodells, des New Public Management und des ‚Schlanken Staates‘ findet sich bei: Klaus König, Natascha Füchtner: Von der Verwaltungsreform zur Verwaltungsmodernisierung, in: dies. (Hg.), ‚Schlanker Staat‘ – Verwaltungsmodernisierung im Bund. Zwischenbericht, Praxisbeiträge, Kommentare, Speyer 1998, S. 3–152, hier 5–30; zum Konzept des aktivierenden Staates vgl. die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung: Wolfram Lamping et al.: Der Aktivierende Staat. Positionen, Begriffe, Strategien. Studie für den Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2002, bes. S. 27–36.

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Ein sich wandelndes Demokratieverständnis verändert in grundlegender Weise das Verhältnis des Staatsbürgers zum Staat. An die Stelle der obrigkeitlichen Behördenfunktion tritt mehr und mehr der Dienst an der Öffentlichkeit, dem Bürger. Daher kommt einer permanenten Verwaltungsreform unter diesem Gesichtspunkt besondere Bedeutung zu.73

Für Josef Klaus und Bruno Kreisky stand die Reform des Behördenapparats eben im Zusammenhang mit einem gewandelten Demokratieverständnis – mit einer „Verlebendigung der Demokratie“ ( Josef Klaus), die vor allem eine Aufwertung des Parlaments erreichen wollte und sich gegen eine außerparlamentarische Demokratisierungsbewegung wandte,74 und einer weit darüber hinausgehenden „Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie“ (Bruno Kreisky), die in jedem Bereich der Gesellschaft die demokratischen Grundsätze verankern wollte. Beide Großparteien reagierten damit in einer jeweils spezifischen Form auf politische Herausforderungen – auf die Integration von Jugendlichen und ihrer Jugendkultur,75 auf das erste Aufbrechen der parteipolitischen Versäulungen und einer konfliktscheuen politischen Kultur,76 auf das Demokratiedefizit der Sozialpartnerschaft und die zaghaften Ansätze einer „Single-Issue-Politik“ in Form von Umweltbewegungen,77 auf die Veränderungen der Medienlandschaft78 und für Kreisky auch auf die von John Kenneth Galbraith beschworene Machtkonzentration in bürokratischen Strukturen von Wirtschaft und Verwaltung.79 Die Gefahr einer politischen Entfremdung von Bürgerinnen und Bürgern schien gerade durch den expandierenden Staatsapparat gegeben. Der visionäre Elan, wie er sich in den Bemerkungen von Arnold Eisler bei der Vorstellung der Reformgesetze von 1925 ausgedrückt hatte, war einer nüchternen Einschätzung gewichen. Eisler hatte in den 1920er-Jahren ein neues Verwaltungsleitbild gefordert: „Umwandlung der Verwaltung aus einer Einrichtung der obrigkeitlichen Gewalt in eine Fürsorgeeinrichtung“. Eine solche Verwaltung, setzte er fort,

73 Regierungserklärung vom 5. November 1975, in: Fischer et al. (Hg.), Kreisky. Reden, Bd. 1, S. 534. 74 Josef Klaus: Macht und Ohnmacht in Österreich. Konfrontationen und Versuche, Wien / München / Zürich 1971, S. 141–182, bes. 179; zur ,gebremsten‘ Reform unter der Regierung Klaus vgl. Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005, S. 182–184. 75 Vgl. dazu Reinhard Sieder: ,Gesellschaft‘ oder die Schwierigkeit, vernetzend zu denken. Die Zweite Republik Österreichs, in: Geschichte und Gesellschaft 24.2 (1998), S. 199–224, hier 215 f. 76 Oliver Rathkolb beschreibt die Veränderungen der politischen Kultur als eines der Paradoxe in der österreichischen Nachkriegsgeschichte. Vgl. Rathkolb, Die paradoxe Republik, S. 416 f.; vgl. dazu auch Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 42 f. 77 Vgl. Herbert Gottweis: Neue soziale Bewegungen in Österreich, in: Herbert Dachs et al. (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs, Wien ³1997, S. 342–368, bes. 345–348 mit weiteren Nachweisen. 78 Vgl. Rathkolb, Die paradoxe Republik, S. 253–261. 79 John Kenneth Galbraith: The new industrial state, Boston 41985, S. 406 f.; Kreisky verwies mehrfach auf Galbraith, in diesem Zusammenhang in seiner Regierungserklärung vom 5. November 1971, in: Fischer et al. (Hg.), Kreisky. Reden, Bd. 1, S. 185; vgl. dazu auch seine Rede „Bereit für die achtziger Jahre“ am 13. Oktober 1977 in Graz, in: ebda., S. 693.

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„kann gar nicht umfangreich genug sein […]“.80 In den späten 1970er-Jahren sprach Bruno Kreisky in seiner Regierungserklärung die Gefahren einer solchen Expansion an. Sie könnte dem Bürger ein „Gefühl der Ohnmacht“ vermitteln. Dagegen setzte Kreisky erneut  – wie schon seine Parteigenossen in den 1920er-Jahren – auf Klarheit und Transparenz der Verfahren, auf empowerment, wie man später in neudeutscher Sprache sagen wird.81 Dazu gehörte der Abbau von Bevormundung ebenso wie die Erleichterung des Zugangs zu den Behörden: „Wirtschaftliche und soziale Ungleichheit darf nicht zu rechtlicher Benachteiligung führen“, wie er in derselben Regierungserklärung ausführte. Sein Ziel war der „informierte Bürger“ und zur Erreichung dieses Zieles sollte das bereits in der Regierungserklärung vom 5. November 1975 eingeforderte Netz von Auskunftsstellen bei Behörden weiter ausgebaut werden.82 Es zeigt sich hier die Sorge um eine mögliche Delegitimation des Staates durch nicht hinreichend bürgerorientierte Verfahren. Das bekannte Diktum von Niklas Luhmann  – Legitimation durch Verfahren – wurde damit zwar nicht grundsätzlich infrage gestellt, aber im Hinblick auf die Qualität der Verfahren differenziert. In einem deutschen Handbuch für Verwaltungssprache ist dieses Szenario auf die Kommunikation der Behörden mit dem Bürger umgelegt: „Eine einzige mangelhaft begründete Entscheidung kann die betroffene Person zu einem Michael Kohlhaas, zu einem Querulanten oder zu einem Ämterfeind werden lassen.“83 Dieses Szenario war auch den österreichischen Akteuren nicht fremd. Ich möchte dazu zwei Initiativen beispielhaft herausgreifen. Die erste beschäftigte sich in den 1970er-Jahren mit einer grundlegenden Revision der Formulare, um dieses wichtige Kommunikationsmittel zwischen Behörden und Bürgern effizienter und ansprechender zu gestalten.84 80 Stenographisches Protokoll der 108. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich, II. Gesetzgebungsperiode, 21. Juli 1925, S. 2588. 81 Vgl. Guy Peters, Jon Pierre: Citizen versus the new public manager. The problem of mutual empowerment, in: Administration & Society 32.1 (2000), S. 9–28, hier 10 f. 82 Regierungserklärung vom 19. Juni 1979, in: Fischer et al. (Hg.), Kreisky. Reden, Bd. 1, S. 795 f. Regierungserklärung vom 5. November 1975, in: ebda., S. 508. Zur Einrichtung dieser Auskunftsstellen in den 1970er-Jahren vgl. Müller, Aspetti della modernizzazione, S. 295. 83 Ulrich Daum: Fingerzeige für die Gesetzes- und Amtssprache. Rechtssprache bürgernah, Wiesbaden 111998, S. 74; vgl. dazu auch Hedwig Schlink-Arnold, Michael Ronellenfitsch: Methoden und Techniken geistiger Arbeit in der Verwaltung, Regensburg 1980, S. 79. Zum Problem der Verwaltungssprache und ihrer Reformen vgl. Peter Becker: ‚Das größte Problem ist die Hauptwortsucht.‘ Zur Geschichte der Verwaltungssprache und ihrer Reformen, 1750–2000, in: ders. (Hg.), Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011, S. 219–244, bes. 235–239. Zur Verständlichkeit von Verwaltungs- und Rechtssprache vgl. Ruth Wodak: Bürgernahe Gesetze. Soziolinguistische Bemerkungen zur Verständlichkeit von Gesetzen, in: Theo Öhlinger (Hg.), Recht und Sprache. Fritz Schönherr-Gedächtnissymposium 1985, Wien 1986, S. 115–128; Oskar Pfeiffer, Ernst Strouhal, Ruth Wodak: Recht auf Sprache. Verstehen und Verständlichkeit von Gesetzen, Wien 1987. 84 Vgl. Müller, Aspetti della modernizzazione, S.  295; zur Diskussion um die Revision der Formulare vgl. Peter Becker: Formulare als ,Fließband‘ der Verwaltung? Zur Rationalisierung und Standardisierung von Kommunikationsbeziehungen, in: Peter Collin, Klaus-Gert Lutterbeck (Hg.), Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.), Baden-Baden 2009, S. 281–298, bes. 290–296.

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Die zweite Initiative setzte sich die Optimierung von maschinell erstellten Bescheiden zum Ziel. Dabei ging es weniger um die grundsätzlichen Fragen nach Verantwortung und Fehlerkontrolle, die Niklas Luhmann am Beginn der Automatisierungswelle aus systemtheoretischer Perspektive aufgeworfen hatte.85 Die Optimierung zielte eher auf die Kommunikationsfunktion des Bescheides.  Der Entwicklungsstand der Datenverarbeitung führte in den 1980erJahren zur Produktion von unpersönlichen Schriftstücken, die für den Laien oft nur schwer verständlich waren. Die Kommission sollte hier innerhalb des von der Technologie und den Verfahrensnormen gesetzten Rahmens Abhilfe schaffen.86 Der Reformprozess wurde auch in der Zweiten Republik aus dem Bundeskanzleramt organisiert  – von einem Staatssekretär bzw. einem Minister. Fachliche Unterstützung wurde durch eine Arbeitsgruppe bereitgestellt, die mit den Rationalisierungskommissionen in den einzelnen Ressorts eng zusammenarbeitete.87 Die Arbeitsgruppe bestand nach einer ersten Ausweitung Anfang der 1970er-Jahre aus etwa 30 Mitgliedern, die in vier Arbeitsgruppen die Verwaltungsreform vorantrieben. Zu ihren Mitgliedern zählten Parteienvertreter, Sozialpartner und vor allem Wissenschaftler aus dem Bereich der Betriebswirtschaftslehre und der Rechtswissenschaft.88 Im Jahr 1979 wurde die Gruppe auf 13 Mitglieder reduziert. Sie setzte sich nun ausschließlich aus verwaltungsexternen Experten zusammen; bei der Erörterung von Spezialfragen konnten jedoch Sachverständige aus den betroffenen Ressorts beigezogen werden.89 Ihre Aufgabe war die Beratung der politischen Entscheidungsträger – des Bundeskanzlers bzw. der für die Reform zuständigen Minister. Grundsätzliche Reformansätze wurden zuerst innerhalb der Kommission diskutiert, bevor sie in politische Entscheidungen übersetzt wurden.90 Die Expertengruppe verstand Verwaltungsreform nicht als einmalige Reorganisation. Sie wollte laut dem Verwaltungsexperten Franz Berner „ein ganzes System, eine Denkweise Schritt für Schritt umändern“.91 Der Weg zu dieser radikalen Umgestaltung führte über die Reorganisation der gesamten Verwaltungsstruktur, einschließlich der Kompetenzaufteilung zwischen den Ministerien, die Evaluierung der staatlichen Zuständigkeiten, die Rationali-

85 Niklas Luhmann: Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung. Eine verwaltungswissenschaftliche Untersuchung, Berlin 1966, S. 72–74, 100. 86 Zu dieser Kommission vgl. Holzinger, Schuster, Verwaltungsreformkommission, S. 327. 87 Vgl. ebda., S. 322. 88 Vgl. ebda., S. 324. 89 Vgl. ebda., S. 326. 90 Müller, Aspetti della modernizzazione, S. 293 f. 91 Berner, Verwaltungsreform, S. 283. Zu diesem Verständnis von Reform vgl. auch die Stellungnahme von Bruno Kreisky in der Budgetdebatte vom 2. Dezember 1970: „Diese Kommission ist seit 1966 an der Arbeit. Sie wird jetzt ihren Bericht erstatten. Ich bitte aber, zu verstehen, dass es sich hier um eine Arbeit handelt, die nicht ganz einfach ist […].“ Stellungnahme von Bruno Kreisky bei der Diskussion des Budgetkapitels ,Bundeskanzleramt‘ vom 2. Dezember 1970, in: Fischer et al. (Hg.), Kreisky. Reden, Bd. 1, S. 75.

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sierung von Verwaltungsverfahren92 und die Neuordnung der Personalverwaltung.93 Dieser ,globale Ansatz‘ entsprach dem Verständnis der politischen Akteure, wie eine Stellungnahme von Bruno Kreisky belegt. Für ihn war Verwaltungsreform ein „ununterbrochen wirkender Prozess der Modernisierung“, für den fachliche Expertise von außerhalb der Verwaltung notwendig war.94 Kreisky hat in dieser Stellungnahme einen Punkt angesprochen, der zum Verständnis des Reformprozesses von entscheidender Bedeutung ist: die Rolle externer Expertise. Das Wissen, das für den Reformprozess notwendig ist, wurde zunehmend von international tätigen Beraterfirmen bereitgestellt. Ende der 1970er-Jahre bezeichneten Richard Pattenaude und Larry Landis die externe Beratertätigkeit in den USA als „biggest growth industry in the public sector“.95 In den 1960er-Jahren wurde eine solche Kompetenz noch gering geschätzt – der Verwaltungsexperte Franz Berner: „Was aber soll man mit einem Beratergremium beginnen, das sich mit hochtrabenden, in der unmittelbaren Praxis unverwertbaren Gedanken befasst, sich aber für die vor den Füßen liegenden Probleme unzuständig erklärt?“ Er bezog sich dabei auf seine Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit einer privaten Beratungsgruppe bei der Reform der Verwaltung. Als er versuchte, die theoretischen Ausführungen über kybernetische Verwaltungssteuerung und Funktionsanalyse auf das konkrete Problem der Einsparungen bei Bezirksgerichten zu beziehen, stieß er bei dieser Arbeitsgruppe auf Ratlosigkeit.96 Es ging in dieser Kritik nicht um eine Abwertung der Organisations- und Managementkompetenzen aus Wirtschaft und Industrie, die ja auch in der Verwaltungsreformkommission über die Experten aus dem Bereich der Betriebswirtschaftslehre vertreten waren, sondern um die allzu starke theoretische Orientierung der Beratungsfirmen.97 Heute – nach der Einführung von Steuerungs- und Leitungsmethoden der privaten Wirtschaft – haben die Beraterfirmen auch eine Zuständigkeit für die damit verbundenen Organisations- und Praxisfragen

92 Wolfgang Müller zitiert in seiner Analyse des Reformprozesses die Genehmigungsverfahren für Dienstreisen, deren Komplexität mehr als 68 % der durchschnittlichen Kosten der Reise ausmachten: Müller, Aspetti della modernizzazione, S. 303. 93 International vergleichbare Initiativen wie die Schaffung eines Efficiency Unit unter Margaret Thatcher (vgl. Donald J. Savoie: Thatcher, Reagan, Mulroney. In search of new bureaucracy, Pittsburgh 1994, S. 203–205) und das Reinventing Government Programm in den USA ( Jeffrey L. Brudney et. al.: Reinventing government in the American states: measuring and explaining administrative reforms, in: Public Administrative Review 59.1 [1999], S. 19–30) galten als nicht übertragbar auf die österreichische Politik. Vgl. Müller, Aspetti della modernizzazione, S. 294. 94 Rede am Parteitag der Sozialistischen Partei Österreichs vom 11. Juni 1970, in: Fischer et al. (Hg.), Kreisky. Reden, Bd. 1, S. 41. 95 Richard L. Pattenaude, Larry M. Landis: Consultants and technology transfer in the public sector, in: Public Administration Review 39.5 (1979), S. 414–420, hier 414. 96 Berner, Verwaltungsreform, S. 285. 97 Die öffentliche Verwaltung in einem Industrie- und Wirtschaftsstaat benötigte laut Rudolf Neck „eine Exekutive, die nicht schlechter, sondern besser ist als das Management in Wirtschaft und Industrie“. Rudolf Neck: Archiv und Verwaltungsreform, in: Scrinium 5 (1971), S. 43–48, hier 44.

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erreicht.98 Der Wissens- und Kompetenztransfer aus der Wirtschaft in die Verwaltung, wie er von den Beraterfirmen vorangetrieben wird, ist heute nicht mehr darauf beschränkt. Das Bundeskanzleramt hat spezielle Plattformen wie das Reichenauer Führungsforum entwickelt, um den direkten Dialog zwischen Führungskräften aus Wirtschaft und Verwaltung zu intensivieren.99 Der Einsatz neuer Technologien ist ein wesentlicher Bestandteil von Reformprojekten. Vor überzogenen Erwartungen an das Rationalisierungspotenzial im Hinblick auf Stelleneinsparungen wurde schon im Rahmen der Verwaltungsreform von 1966 gewarnt. Neue Technologien wie die EDV erforderten zuerst die Einstellung von Spezialisten, während die Beamten, deren Aufgaben durch maschinelle Bearbeitung erledigt wurden, mit neuen, zusätzlichen Aufgaben betraut würden.100 Aus einer systemtheoretischen Perspektive hatte bereits Niklas Luhmann vor falschen Erwartungen an das Einsparungspotenzial der Automation gewarnt: Sie befreit uns zugleich von der Illusion, dass die Verwaltung durch Vereinfachung einfacher würde. Verwaltungsvereinfachung kann, will man die Leistung mindestens konstant halten, lediglich eine verwaltungsinterne Umschichtung und Verlagerung von Schwierigkeiten bedeuten.101

Die österreichische Verwaltungsreform der Nachkriegszeit nahm die Herausforderung von neuen Technologien ernst. Österreich wurde zum Modellfall einer erfolgreichen Umsetzung der E-Government- und E-Inclusion-Strategie, die auf europäischer Ebene als Teil der Lissabon-Reform aus dem Jahr 2000 ins Leben gerufen wurde. Die österreichische Regierung setzte eine eigene Arbeitsgruppe und Stabsstelle ein, um entsprechende Richtlinien und Vorschläge zu erarbeiten. Sie arbeitete eng mit den Ministerien, Landesregierungen und städtischen Verwaltungen zusammen, um die Synergien zwischen den Initiativen zu optimieren. Die dabei gefundenen Lösungen sind beispielhaft. Im Jahr 2007 belegte Österreich zum zweiten Mal in einer Vergleichsstudie zum E-Government den ersten Platz und erreichte als erster europäischer Staat den Wert von 100 Prozent in der Kategorie full online availability. Als einen wichtigen Faktor für diesen Erfolg sehen Rodousakis und Mendes dos Santos die Bürgernähe und die unproblematische Benutzbarkeit dieser Angebote.102 Das wird durch die Übersetzung von Verwaltungsakten in die lebensweltlichen Bezugspunkte der Bürgerinnen und Bürger möglich gemacht. In der mehrfach ausgezeichneten Plattform help.gv.at, die mit zehn  98 Pattenaude, Landis, Consultants.  99 Vgl. Bundeskanzleramt (Hg.): Turn Around in Wirtschaft und Verwaltung (Reichenauer Führungsforum 2005/2006), Wien 2006. 100 Berner, Verwaltungsreform, S. 287 f. u. 293. 101 Luhmann, Recht und Automation, S. 9. 102 Niki Rodousakis, Antonio Medes dos Santos: The development of inclusive e-government in Austria and Portugal: a comparison of two success stories, in: Innovation. The European Journal of Social Science Research 21.4 (2008), S. 283–316, hier 289–296.

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Millionen Zugriffen pro Monat zum häufig genutzten Online-Amtshelfer wurde, finden sich grundlegende Informationen und Formulare zum Download nach Lebenssituationen strukturiert, was den Zugang für Bürger und Bürgerinnen ohne spezialisierte Vorkenntnisse erheblich vereinfacht.103 Die Verwaltungsreform der Nachkriegszeit setzte auf einen langfristig wirksamen Technologietransfer, der die Übernahme moderner Führungs- und Planungstechniken zur Verbesserung der Kosten-Nutzen-Relation staatlicher Maßnahmen ebenso umfasste wie die verstärkte Anwendung moderner Informationstechniken und die Ausbildung von Führungskräften in modernen Managementmethoden.104 Die Reorganisation des Apparats nach dem Vorbild privatwirtschaftlicher Systeme erforderte eine Umstrukturierung des bestehenden Leistungsund Karrieresystems. Die Einführung von leistungsabhängiger Besoldung und Beförderung und die Schaffung von Anreizen für den Aufstieg zu neu definierten Leitungsfunktionen waren Teil dieser Projekte, die von vielen leitenden Beamten in den Ministerien skeptisch gesehen wurden.105 Was den Reformprozess seit den späten 1960er-Jahren auszeichnet, ist das Nebeneinander von globalen Reformperspektiven und die Ermutigung von einzelnen Behörden und ihren Beschäftigten, Reformen in kleinen Schritten vorzunehmen. Einen ersten Versuch zur Mobilisierung dieses Rationalisierungspotenzials gab es mit dem Aufruf der Bundesregierung vom 23. Mai 1967 an die öffentlich Bediensteten zum Einreichen von Vereinfachungsvorschlägen, der zwei Jahre später auch an alle Staatsbürger erging.106 Im November 2005 gab es mit dem Projekt Ideenmanagement einen erneuten Anlauf. Er griff Anregungen aus der Privatwirtschaft auf und verband die Aufforderung zur Mitteilung von Verbesserungsmöglichkeiten mit der Einrichtung eines objektivierten Begutachtungsverfahrens, das Widerstände seitens der Dienstvorgesetzten ausschalten sollte, damit „keine Idee – etwa aufgrund eines internen Spannungsverhältnisses – verloren geht“.107 103

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Vgl. Bundeskanzleramt: Das Verwaltungsinnovationsprogramm der Bundesregierung. Ziele – Maßnahmen – Ergebnisse. Bilanz 2006, Wien 2006, S. 28 f. Zur Bedeutung der „elektronischen Verwaltung“ vgl. Harald Mehlich: Electronic Government. Die elektronische Verwaltungsreform. Grundlagen – Entwicklungsstand – Zukunftsperspektiven, Wiesbaden 2002. Vgl. dazu die Regierungserklärung von Bruno Kreisky vom 27. April 1970, in: Fischer et al. (Hg.), Kreisky. Reden, Bd. 1, S. 5 f. In seiner Regierungserklärung vom 5. November 1971 konkretisierte Kreisky die Vorhaben einer informationstechnologischen Aufrüstung. Er stellte einen mehrjährigen EDV-Plan in Aussicht, um „einen koordinierten und entscheidungsorientierten Einsatz dieser Maschinen sicherzustellen“. Ein solcher Technologieeinsatz sollte auch bei zukünftigen Gesetzesvorhaben berücksichtigt werden (ebda., S. 183). Müller, Aspetti della modernizzazione, S. 306–309, 311–313. Schuster, Holzinger, Verwaltungsreformkommission, S. 323. Bundeskanzleramt, Verwaltungsinnovationsprogramm, S. 40. Zu einem mehrfach ausgezeichneten Informationsmanagement in der Wirtschaft vgl. Martin Baldinger, Barbara Wimmer, Kurt Gaubinger: Fallstudie Pöttinger Maschinenfabrik GmbH. Organisation des Innovationsmanagements, in: Kurt Gaubinger, Thomas Werani, Michael Rabl (Hg.), Praxisorientiertes Innovations- und Produktmanagement. Grundlagen und Fallstudien aus B-to-B-Märkten, Wien / New York 2009, S. 371–380, bes. 376–379.

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Das behördeninterne Potenzial zur Entwicklung von neuen Strategien wird durch Best Practice-Modelle zusätzlich gefördert. In der Verbindung von persönlichem Engagement, kritischer Reflexion über die eigene Praxis und der Rezeption neuer Ideen sollte in den einzelnen Behörden die Effizienz des Verwaltungshandelns gesteigert werden. Die daraus hervorgehenden Innovationen wurden durch den Internationalen Speyer Qualitätswettbewerb und durch den Amtsmanager Wettbewerb der Wirtschaftskammer ausgezeichnet und in der Fachöffentlichkeit verbreitet. Die Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See erhielt etwa 2007 einen Hauptpreis beim Wettbewerb Amtsmanager für das Projekthandbuch zur Verfahrens- und Terminkonzentration verliehen, mit dem die Bescheide zu Großprojekten in längstens vier bis sechs Wochen erstellt werden können. Die Behörde selbst sieht sich in ihrer Entwicklung hin zu einem „öffentlichen Dienstleistungsbetrieb im Sinne des New Public Management“ durch diesen Preis und die Anerkennung der Bevölkerung bestätigt: Steuerung durch Ziele – Kooperation als Erfolgsfaktor, Mitarbeiterinnengespräche, Zielvorgaben, Erledigung von Aufgaben in Projektform, Produktkatalog und laufende Prozessoptimierung, Qualitätsmanagement, eine Vielzahl von Maßnahmen im Bereich der Personalentwicklung und dem Personalmanagement haben zur Erweiterung der Leistungsfähigkeit beigetragen und gleichzeitig auch zur Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der ReferatsleiterInnen und MitarbeiterInnen, geführt. Dadurch ist es auch gelungen, die Organisationsziele und die positiven Rückmeldungen an die MitarbeiterInnen zu verdeutlichen und damit die Motivation zu erhöhen. Erfolgsfaktor dabei ist unsere Kooperation einerseits nach innen mit den MitarbeiterInnen andrerseits nach außen mit den BürgerInnen (zum Beispiel: Kundenforen) und Partnern (Notare, NGOs, …).108

Dieses Zitat aus der Selbstdarstellung einer Behörde, die sich neu positioniert hat, verdeutlicht den radikalen Wandel in der Verwaltungskultur.109 Die Abkehr von einem obrigkeitsstaatlichen Verwaltungsmodell, das in den 1920er-Jahren der sozialdemokratische Kommentator des Verwaltungsreformgesetzes so nachdrücklich gefordert hatte, ist nun vollzogen. Die Demokratisierung beschränkt sich nicht auf die zaghafte Öffnung der Behörden für die legitimen Beratungswünsche der Bevölkerung. Sie hat sich an der Wende zum 21. Jahrhundert in einem neuen Selbstverständnis und vor allem einer neuen Selbstdarstellung der Verwaltung niedergeschlagen: effizientes, modernes Management nach innen, kooperative Kommunikati108 109

Vgl. dazu die Informationen zu den Best Practices auf der Webseite des Bundeskanzleramtes, URL: http://www. bka.gv.at/site/cob__28734/currentpage__0/5917/default.aspx#startContent (18.04.2011). John Hopton hat am Beispiel der britischen Verwaltung darauf hingewiesen, dass die Einführung von privatwirtschaftlichen Leitbildern die Verwaltungskultur zwar verändert, aber die grundlegenden patriarchalen Machtstrukturen nicht antastet, weil das militärische Männlichkeitsideal einem ebenfalls männlich kodierten Managerideal gewichen ist: John Hopton: Militarism, masculinism and managerialisation in the British public sector, in: Journal of Gender Studies 8.1 (1999), S. 71–82. Zu der Beziehung zwischen Verwaltung und Geschlecht vgl. Gaia di Luzio: Verwaltungsreform und Reorganisation der Geschlechterbeziehungen, Frankfurt a.M. 2002.

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onsformen nach außen und die Umdefinition der Verwaltungsakte in einen kundenorientierten Produktkatalog.110 Die Vermarktwirtschaftlichung der Verwaltung stößt aber ganz offensichtlich an ihre Grenzen – die in dieser Selbstdarstellung nicht sichtbar werden. Das entspricht ganz den Strategien der Verwaltung im Banne der New Public Administration, die eigene Stellung zum Bürger zu entpolitisieren, was bereits in der Bezeichnung Kunde anstelle von Bürger zum Ausdruck kommt. Dem zur Privatperson bzw. zum Klienten gewordenen Bürger wird die Möglichkeit einer politischen Kritik an der Definition von Interventionen und Leistungen genommen – als Partner in einem ungleichgewichtigen Austausch reduziert sich sein Einspruchsrecht gegen die politischen Prämissen dieses Austausches. Sein empowerment drückt sich eben nicht in einer verstärkten Mitsprache an der Entwicklung von Programmen und ihren politischen Prämissen aus, sondern in mehr Bürgernähe bei deren Umsetzung.111 Es ist dies die Ironie der Demokratisierung, dass sie den informierten Bürger zur Teilhabe einlädt und dafür letztlich den politisch mündigen Bürger aus den Amtsstuben der Verwaltung verbannt.

Schluss Verwaltungsreform ist Chefsache in Österreich. Sie ist organisatorisch an das Bundeskanzleramt bzw. war an den Ministerrat angebunden, was im europäischen Vergleich ungewöhnlich ist. Die Reformen erfolgten seit dem frühen 20. Jahrhundert innerhalb eines Netzwerks von institutionellen Akteuren mit einer starken internationalen Ausrichtung. Die Zusammensetzung dieses Netzwerks reflektiert und gestaltet die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen Österreichs in den letzten hundert Jahren. Der Kreis der in die Verwaltungsreform involvierten user erweiterte sich von Beamten und Wirtschaftstreibenden hin zu den einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Diese Veränderungen waren nicht nur getragen von einem neuen Verwaltungsleitbild (Stichwort: New Public Administration) sondern ebenso vom Ausbau der Demokratie seit den 1960er-Jahren – ein Punkt, der meistens unberücksichtigt bleibt. Verwaltungsreform als Projekt erfordert hoch spezialisiertes Fachwissen im Bereich des öffentlichen Rechts, des Verfassungsrechts und der Praxisformen von Verwaltung. Deshalb waren und sind Fachjuristen und Praktiker wichtige Akteure in diesem Prozess.  Im Laufe 110

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Zur Einrichtung von Servicestellen in der öffentlichen Verwaltung vgl. Klaus Grimmer, Martin Wind: Wandel des Verhältnisses von Bürger und Staat durch die Informatisierung der Verwaltung, in: Georg Simonis, Renate Martinsen, Thomas Saretzki (Hg.), Politik und Technik. Analysen zum Verhältnis von technologischem, politischem und staatlichem Wandel am Anfang des 21. Jahrhunderts, Wiesbaden 2001 (PVS Sonderheft, 31), S. 232–247, bes. 237; zum Zusammenhang zwischen dem Leitbild einer bürgernahen Verwaltung, ihrer Dienstleistungsorientierung und der Einrichtung von Servicestellen vgl. Kai Wegrich: Steuerung im Mehrebenensystem der Länder. Governance-Formen zwischen Hierarchie, Kooperation und Management, Wiesbaden 2006, S. 77–80. Vgl. Peters, Pierre, Citizens versus the new public manager, S. 16.

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des 20. Jahrhunderts sieht man jedoch eine deutliche Zunahme von betriebswirtschaftlicher Organisationskompetenz als Ergänzung zum praktischen und juristischen Blick. Die Zusammenarbeit mit dem Kuratorium für Wirtschaftlichkeit war ein erster zaghafter Versuch der Integration dieser Perspektive Anfang der 1930er-Jahre. Die Einbeziehung von privaten Beratungsgruppen in den späten 1960er-Jahren setzte diesen Trend mit anfangs geringem Erfolg fort. Der weitreichende Einfluss von Beratungsfirmen in der heutigen Verwaltungsreformdebatte wird durch die Rezeption der New Public Administration und die allgemeine Wertschätzung ihrer betriebswirtschaftlichen Kompetenz ermöglicht. Es drückt sich darin ein Versuch der Politik aus, die drängende Frage der Umgestaltung des gesamten Behördenapparats zu einem Thema für Expertenberatungen zu machen und ihr dadurch auszuweichen. Die Verbannung des politisch mündigen Bürgers wird somit komplementiert von dem Rückzug der Politik aus der Verwaltung.

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Wie populär war Hitler? Jeder Gegner des NS-Regimes musste nicht nur tagtäglich mit Angst vor dem Unterdrückungsapparat leben, sondern sich auch als Außenseiter fühlen in einer Gesellschaft, die dem öffentlichen Schein nach geschlossen und vereint hinter Hitler und seinem Regime stand. Dieses auf Hitler fokussierte Image der Geschlossenheit und Einheit zu schaffen war sicherlich ein großer Erfolg der NS-Propaganda. Ganz abgesehen von diskriminierten und verfolgten Minderheiten waren diejenigen, die dem Regime ablehnend gegenüberstanden, dadurch in die Isolierung gezwungen. Auch die Männer und Frauen des 20. Juli waren sich voll bewusst, dass ein Attentat auf Hitler mit keiner Unterstützung von der Masse der Bevölkerung rechnen konnte. Mitglieder des Kreisauer Kreises1 waren schon lange sehr pessimistisch über ihren möglichen Rückhalt in der Bevölkerung selbst im Falle eines gelungenen Umsturzes.  Vorsichtige Sondierungen hatten auf anhaltende Loyalität zum NS-Regime bei großen Teilen der Bevölkerung auch unter der Arbeiterschaft hingewiesen. Die angegebenen Gründe dafür waren die Angst vor den Folgen einer drohenden Niederlage im Krieg und die andauernde Popularität Hitlers.2 Ab 1933 blieb, wie wir wissen, keine Anstrengung in der Suche, einen Konsens hinter dem neuen Regime herzustellen, aus. Schon am 15. März 1933 erklärte der zwei Tage zuvor ernannte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, dass es nicht genüge, diejenigen, die von dem neuen Staat nicht überzeugt waren, durch Terror zum passiven Einverständnis zu zwingen. Eher müsste man die Menschen so lange bearbeiten, „bis sie uns verfallen sind“.3 Die Resultate der auf allen Fronten sich entfaltenden, umfassenden Propagandaarbeit – in deren Mitte die Betonung der ‚historischen Leistungen‘ des ‚großen Führers‘– waren beeindruckend. Wir kennen alle die Bilder von jubelnden Massen bei Hitlers öffentlichen Auftritten. Die zahllosen skurrilen Objekte des Führerkultes sind uns ebenfalls bekannt. Wir wissen von der naiven Unterwürfigkeit des Volkes, die zur Einsendung von jährlich Tausenden von Bittbriefen an Hitler führte. Alles deutet darauf hin, dass Hitler von der Machtübernahme bis zur Kriegsmitte ein außerordentlich populärer Staatsführer war  – eventuell sogar in diesen Jahren das populärste Staatsoberhaupt auf der Welt. Eine starke Führerbindung unter beträchtlichen Teilen 1 Eine Widerstandsgruppe von etwa 40 Personen, die sich aus dem Freundeskreis von Helmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg bildete und Pläne für die Überwindung des Nationalsozialismus durch eine ethisch begründete Staats- und Regierungsform entwickelte. Der Name ging auf Moltkes Gut Kreisau in Niederschlesien zurück. 2 Hans Mommsen: Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes, in: Walter Schmitthenner, Hans Buchheim (Hg.), Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Vier historisch-kritische Studien, Köln / Berlin 1966, S. 73–167, hier 75 f. 3 Paul Meier-Benneckenstein (Hg.): Dokumente der deutschen Politik, Bd. 1, Berlin 21937, S. 263 f.

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der Bevölkerung lässt sich kaum leugnen. Eindrucksvolle Bilder von strahlenden Gesichtern, von begeisterten Zuschauern, von den riesigen Massen auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, beim Bauerntag auf dem Bückeberg bei Hameln oder nach großen ‚Triumphen‘ wie dem Einmarsch in das Rheinland 1936, dem Anschluss 1938 oder bei der Rückkehr von dem siegreichen Westfeldzug 1940 sprechen, wie es scheint, eine eindeutige Sprache von Hitlers immenser Popularität. Diese wird von der heutigen Forschung weitgehend akzeptiert, ja zum Teil sogar als selbstverständlich angenommen. Das Dritte Reich wird als eine durch höhere Sozialleistungen auf Kosten der ausgebeuteten und geplünderten Völker Europas erkaufte ‚Zustimmungsdiktatur‘ oder als eine durch die Ausgrenzung von diskriminierten Minderheiten erfolgreich integrierte Volksgemeinschaft gesehen.4 Trotz viel Desillusionierung gegen Kriegsende soll diese Volksgemeinschaft weitgehend intakt geblieben sein. „Eine starke Identifizierung mit dem Dritten Reich“ hielt nach Meinung einiger Historiker bis zum Kriegsende an.5 Diese Interpretationstendenz fasste ein Historiker folgendermaßen lapidar zusammen: „Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung ergab sich bald Hitler und unterstützte ihn bis zum bitteren Ende im Jahre 1945.“6 Wie wissen wir aber, wie viele Deutsche (und Österreicher) sich Hitler tatsächlich ergaben oder ihn bis zum Schluss unterstützten? Ist es überhaupt möglich, annähernd genau einzuschätzen, wie populär Hitler war? Für den Zeitraum vor 1933 in Deutschland, in den Jahren von pluralistischen Wahlen, lässt sich seine Popularität noch statistisch ermessen. Doch selbst zu dieser Zeit sind die meisten Wahlen nicht personenbezogen gewesen, auch wenn man davon ausgehen kann, dass die Popularität von Hitler und die von der NSDAP – allgemein als ‚Hitlerbewegung‘ bekannt – eng miteinander verbunden waren. Aber im April 1932 bei der Reichspräsidentenwahl stimmte man nicht für die NSDAP, sondern für Hitler persönlich. Der Sieger war zwar Hindenburg, aber Hitler konnte ohnehin die Stimmen von 37 Prozent der Wähler, von über 13 Millionen Deutschen, für sich verbuchen. Das war eigentlich an sich keine geringe Leistung, zeigte aber deutlich, dass nur wenige Monate vor der Machtübernahme bei freien Wahlen fast zwei Drittel der Bevölkerung keine Hitler-Anhänger waren. Und bei der letzten pluralistischen Reichstagswahl im März 1933, nachdem Hitler schon fünf Wochen lang das Reichskanzleramt bekleidet hatte, stimmte in einem Klima von ungezügeltem Terror gegen die Linke noch immer weniger als die Hälfte der Wähler für Hitlers Partei. Die katholische Subkultur und die organisierte Linke – sowohl Sozialdemokraten wie auch Kommunisten  – behaupteten sich trotz terroristischer Zugriffe und Masseninhaftierungen 4 Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005; der.: Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen, Frankfurt a.M. 2003, S. 246; Frank Bajohr, Michael Wildt (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2009. 5 Peter Fritzsche: Life and death in the Third Reich, Cambridge, Mass. / London 2008, S. 271. 6 Robert Gellately: Backing Hitler. Consent and coercion in Nazi Germany, Oxford 2001, S. 1.

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von linken Gegnern erstaunlich gut. Es lässt sich schwer vorstellen, dass diese beiden Subkulturen in den darauffolgenden Jahren in eine durch den Nationalsozialismus überzeugte Volksgemeinschaft völlig integriert werden konnten, zumal sie sich nach 1945 so rasch wieder etablierten. Diejenigen, die der vollen Wucht der neuen Machthaber 1933 ausgesetzt waren, stellten sicherlich nur den Gipfel eines Eisbergs von Eingeschüchterten dar. Immerhin waren etwa 150.000 Kommunisten und Sozialdemokraten zwischen 1933 und 1939 in Konzentrationslagern inhaftiert und weitere 12.000 wegen Hochverrats verurteilt, während 40.000 für andere politische ‚Delikte‘ im Gefängnis saßen.7 Dies zeigt, dass die einseitige offizielle Darstellung der fast monolithischen Popularität des Regimes und insbesondere von Hitler selbst kaum anders als eine grobe Verzerrung der tatsächlichen Vielfalt von Einstellungen in der Bevölkerung sein kann, auch wenn man akzeptiert, dass viele von denen, die 1932 und Anfang 1933 gegen die NSDAP stimmten, nicht alles im Nationalsozialismus fundamental ablehnten und sich sogar vielfach im Falle von anfänglichen Erfolgen für das Regime begeistern konnten. Als dann im März 1933 der Vorhang auf pluralistische Politik für zwölf lange Jahre fiel, war für Andersdenkende die Atmosphäre durch Einschüchterung, Angst und notwendiges Schweigen gekennzeichnet. Und für den späteren Historiker verschwand jede Möglichkeit, das Ausmaß von Hitlers Popularität genau feststellen zu können. Ab März 1933, will man ein ungefähres Bild von Hitlers Popularität bekommen, muss man hauptsächlich von den Aussagen mehr oder weniger gefärbter Berichte ausgehen – entweder von ‚offiziellen‘ Berichten staatlicher Behörden und Parteidienststellen oder von den ins Ausland herausgeschmuggelten Berichten, die von illegalen sozialistischen oder kommunistischen Widerstandsgruppen zusammengestellt wurden. Natürlich gibt es auch die Ergebnisse der vier Volksabstimmungen in den Jahren 1933 (nach dem Austritt aus dem Völkerbund), 1934 (bei der Bestätigung von Hitler als Staatsoberhaupt nach dem Tod von Hindenburg), 1936 (nach dem Einmarsch in das Rheinland) und 1938 (nach dem Anschluss Österreichs). Die Ergebnisse sind aber offensichtlich absurd. Bis 1936 erreichte man das für Diktaturen wohl perfekte Ergebnis von 99 Prozent Ja-Stimmen. Der Gauleiter von Köln soll es sogar fertiggebracht haben, 103 Prozent Ja-Stimmen zu melden.8 Fälschung, wie dieses Beispiel eindrücklich zeigt, Manipulation großen Stils und heftige Einschüchterung begleiteten die Abstimmungen. Und drei aus den vier Volksabstimmungen betrafen schon vollendete Schritte in der Außenpolitik, deren Popularität wohl weit über die Schwelle der üblichen Unterstützung für die NSDAP reichte. Interessant ist trotzdem, dass das schlechteste Ergebnis ausgerechnet bei der Volksabstimmung im August 1934 zu verzeichnen war, wo es direkt um das persönliche Vertrauen zu Hitler ging, nachdem er das Amt des Reichspräsidenten abgeschafft und selber die Stelle des Staatsoberhauptes übernommen hatte. Nach offiziellen Angaben lehnten über 15 Prozent der Bevölkerung – in manchen Arbeitergegenden sogar bis 7 Martin Broszat:The Third Reich and the German people, in: Hedley Bull (Hg.): The challenge of the Third Reich, Oxford 1986, S. 93. 8 Fritz Wiedemann: Der Mann, der Feldherr werden wollte, Velbert/Kettwig 1964, S. 74.

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zu fast einem Drittel der Wähler  – diese, Hitlers zweite, Machtübernahme, ab  – unter den Umständen ein beachtliches Indiz, dass Hitlers Popularität ganz und gar nicht uneingeschränkt war. In der ehemals „roten“ Hochburg von Wedding in Berlin z.B. weigerten sich 28,3 Prozent, im überwiegend katholischen Stadtkreis Trier 24,3 Prozent der Wähler, für Hitler zu stimmen.9 Dass manche Arbeiter- und auch katholische Gegenden hohe Prozentsätze an Dissidenz hatten, zeigt außerdem, dass diese beiden Subkulturen, die vor 1933 für die Nationalsozialisten schwer zu durchdringen gewesen waren, weiterhin der Tendenz nach oppositionell blieben. Der Dissens, selbst wenn er sich kaum ausdrücken konnte, war hinter der öffentlichen Fassade der ‚Zustimmungsdiktatur‘ weiterhin als echte politische Haltung vorhanden. Aber um das eigentliche Ausmaß von Zustimmung oder Ablehnung zu ermessen, sind die Volksabstimmungen nutzlos. Wir sind daher völlig auf indirekte Andeutungen angewiesen. Sebastian Haffner zufolge gehörte zu Hitlers größten ‚Leistungen‘, dass es ihm bis 1938 gelungen war, „die große Mehrheit der Mehrheit, die 1933 noch gegen ihn gestimmt hatte, für sich zu gewinnen“.10 Die Aussage leuchtet ein. Wir wissen aber von heutigen Meinungsumfragen, dass die Popularität eines Präsidenten oder Premierministers meistens häufigen Schwankungen unterliegt, also nicht einheitlich ist, sondern von einer Reihe von verschiedenartigen Faktoren bestimmt wird. Bei heutigen führenden Politikern wird oft in Meinungsumfragen die Leistung in manchen Bereichen relativ mäßig eingeschätzt, in anderen sehr hoch. Da wir für Hitler über keine Meinungsumfragen verfügen, können wir solche Nuancen nicht ermessen und Fluktuationen nur indizienweise beobachten. Es lässt sich dennoch vermuten, dass auch bei Hitler manche Faktoren seine Popularität wesentlich verstärkten, während andere sie wahrscheinlich schwächten. In den 1930er-Jahren waren es vor allem zwei Bereiche, die heftige – wenn auch häufig notgedrungen unterschwellige – Kritik am NS-Regime hervorriefen: der Kirchenkampf und die Sozialpolitik. In beiden Bereichen wurde Hitler selbst bei öffentlichen Äußerungen gegen jegliche Kritik weitgehend geschützt. Die Schuld für empfundene Missstände wurde eher in die Schuhe seiner Unterführer geschoben. Hitler direkt zu kritisieren war gefährlich. Viel einfacher und weniger riskant war es, die Handlungen von Parteifunktionären zu beanstanden. Die Überheblichkeit, Korruption und Inkompetenz von vielen örtlichen Vertretern der NSDAP, im Volksmund die ‚kleinen Hitlers‘ genannt, war offensichtlich. Als vielfach lokale Verstärker von Angriffen auf kirchliche Traditionen und Einrichtungen sowie oft auf den ortsgebundenen und respektierten Klerus gerieten sie leicht in die Schusslinie der Kritik beim Kirchenvolk. Auf einer höheren Ebene galt die Kritik eher Goebbels, der Stimme der anti-kirchlichen Hetzkampagnen und Alfred Rosenberg, allgemein bekannt als dem antichristlichen Chefideologen der Partei. Es ist trotzdem schwer zu glauben, dass auch Hitlers Popularität nicht teilweise zumindest in Miteidenschaft gezogen wurde. Anzeichen dafür lassen sich bereits in amtlichen Berichten   9 Siehe Karl Dietrich Bracher: Stufen der Machtergreifung, in: Karl Dietrich Bracher, Gerhard Schulz et al., Die nationalsozialistische Machtergreifung, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1974, Bd. 1, S. 487 f. 10 Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 43.

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finden. „Wir haben bisher an Hitler geglaubt“, hieß es beispielsweise in mancher katholischen Gegend‚ „wenn er aber dies duldet, dann glauben wir ihm nichts mehr.“11 Ein bayerischer Priester meinte 1935, dass sogar 60 Prozent der katholischen Bevölkerung in seiner Pfarrei das Vertrauen zu Hitler verloren hätten.12 Eine Übertreibung? Wahrscheinlich. Aber vielleicht nicht, solange es unmittelbar um die Kirchenpolitik ging. Aus der ganzen Komplexität der NS-Sozialpolitik muss hier ein einziges Beispiel reichen, um ebenfalls Andeutungen von beträchtlicher Kritik an Hitler zu verdeutlichen. In einem GestapoBericht über die Stimmung der Bevölkerung in Berlin im Januar 1936, wies man auf „eine direkt negative Einstellung zu Staat und Bewegung“ hin, die unter einem „erschreckend hohen Prozentsatz der Bevölkerung“ vorhanden wäre. Als Ursache dafür wurden der empfindliche Mangel an Lebensmitteln und die hohen und ansteigenden Preise genannt. Einige Wochen später verzeichnete die Gestapo „eine ausgesprochene Verbitterung in weiten Kreisen der Bevölkerung“. Der ‚Heil Hitler‘-Gruß sei fast völlig verschwunden, und es war vielfach die Rede von der Notwendigkeit einer Militärdiktatur, die „den Aufbau einer von Grund auf neuen und sauberen Staatsführung und Staatsverwaltung unter maßgebendem Einfluss der Wehrmacht“ herbeiführen würde. Die weitreichende Unzufriedenheit, so führte der Bericht weiter aus, sei das Symptom eines tief liegenden Vertrauensverlusts in die Staatsführung, der nicht vor dem Führer selbst haltmache. Die Hauptursache des Missmuts sei die große Disparität zwischen der Armut der Massen und dem verschwenderischen und korrupten Lebensstil der Partei-Bonzen gewesen. „Ein wahrheitsgetreuer Stimmungsbericht kann auch nicht an der Tatsache vorbeigehen“, hieß es, „dass das Vertrauen der Bevölkerung zu der Persönlichkeit des Führers z.Zt. eine Krise durchmacht.“13 Auch wenn Berlin natürlich nicht repräsentativ für das ganze Reich ist, lässt sich die Aussage von solchen Berichten kaum mit Vorstellungen von Hitlers fast unbegrenzter Popularität vereinbaren. Der Missmut war außerdem im Winter 1935/36, wie ähnliche Berichte beweisen, ziemlich weit verbreitet. Hitler war sich der wachsenden Unzufriedenheit vor allem in der Arbeiterklasse wohl bewusst, denn entsprechende Lageberichte wurden ihm zu dieser Zeit regelmäßig zugeleitet. Ein Zeichen seines Unbehagens war die Entscheidung, auf die Einführung von Fettrationen zu verzichten und dem Import von Lebensmitteln anstelle des Rüstungsbedarfs die Priorität zu geben – eine Entscheidung, die wenige Monate später unmittelbar zum ‚Vierjahresplan‘ führte. Außenminister Konstantin von Neurath meinte sogar, dass selbst die Entscheidung zur Remilitarisierung des Rheinlandes auf interne Ursachen zurückzuführen sei und von Hitlers Bedürfnis, die Massen zu einer Zeit von zunehmendem Missmut wieder anzufeuern, geleitet worden wäre.14 11 Staatsarchiv München, LRA 61614, Bericht der Gendarmerie-Station Mittenwald, 30. Juni 1936. 12 Walter Ziegler (Hg.): Die kirchliche Lage in Bayern 1933–1943, Bd. IV, Mainz 1973, S. 356. 13 Bundesarchiv Berlin, R58/567, Bl. 84f, Bericht der Stapo Berlin für Januar 1936; R58/3044a, Bericht der Stapo Berlin, 6. März 1936. 14 Esmonde Robertson: Zur Wiederbesetzung des Rheinlandes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10.2 (1962), S. 178–205, hier 203 f.

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Ob dies in der Tat Hitlers primäre Motivation war, mag bezweifelt werden und ist auch nicht von größter Bedeutung. Wichtig war allerdings, dass schon innerhalb von drei Wochen nach der Erstattung von dem durchaus negativen Gestapo-Bericht aus Berlin Hitler bei der Volksabstimmung am 29. März 1936, wie schon gesagt, 99 Prozent Ja-Stimmen zu dem schon vollzogenen Einmarsch in das Rheinland errang. Es war bis dahin sein größter außenpolitischer Triumph. So absurd das eigentliche Ergebnis auch war, lässt sich wohl kaum daran zweifeln, dass nach dieser von dem Gros der Bevölkerung unerwarteten und spektakulären Tat, die mit einem Schlag die Versailler und Locarno-Verträge beseitigte, Hitlers Popularität über Nacht in die Höhe schoss. Wenn nicht gerade 99 Prozent, waren es wohl eine überwältigende Mehrheit der Deutschen, die die Remilitarisierung des Rheinlandes begeistert begrüßten. Wenn es also um außenpolitische ‚Erfolge‘, um Deutschlands nationalen Stolz und internationales Ansehen ging, ragte Hitlers Popularität über interne Zwistigkeiten und Angelegenheiten, die die Bevölkerung eher spalteten, weit hinaus. Erwartungsgemäß berichteten regimeinterne Apparate über neue Wellen von Begeisterung für den Führer, auch bei der streng katholischen Bevölkerung und in der Arbeiterschaft. Auch die illegale Opposition musste konstatieren, dass Hitlers Ansehen in einst zweifelnden Teilen der Bevölkerung stark angestiegen sei. In deprimierter Stimmung meldete z.B. ein ehemaliger SPD-Anhänger im Ruhrgebiet: Es „finden sich [...] einfache Bürger und hysterische Arbeiterfrauen ein, Leute mit engem Denkvermögen, für die es keine Problematik des Dritten Reiches gibt. Ihre Zahl ist groß genug. Der ,Führer‘ kommt zu ihnen!“15 Jubelnde Zustimmung selbst zu Hitlers großen außenpolitischen ‚Erfolgen‘ war aber keineswegs universal, auch wenn diejenigen, die den allgemeinen Jubel nicht teilen konnten, gut daran taten, sich mit kritischen Äußerungen zurückzuhalten. Die Propaganda wirkte wohl trügerisch. Die große Kundgebung auf dem Wiener Heldenplatz am 15. März 1938, gleich nach dem Anschluss z.B. sollte den Eindruck vermitteln, dass die ganze österreichische Bevölkerung geschlossen hinter dem ‚Führer‘ stünde und seine ‚große Tat‘ begeistert begrüßen würde. Gemessen an der nationalsozialistischen Anhängerschaft in Österreich unmittelbar vor dem Anschluss war das schlechthin unmöglich. Der Begeisterungstaumel der etwa 250.000 Österreicher, die auf dem Heldenplatz versammelt waren, war zwar zweifelsohne echt. Aber zu diesem Zeitpunkt zählten die Hitler-Anhänger wahrscheinlich kaum eine Mehrheit der österreichischen Bevölkerung, und viele, die sich auf dem Heldenplatz befanden, waren nicht unbedingt freiwillig dort, sondern wurden aus ihren Betrieben und Büros auf Kommando geschlossen hinmarschiert.16 Obwohl der vollzogene Anschluss auch von vielen Österreichern, 15 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1934–1940, 7 Bde., Salzhausen 1980, Bd. 3, S. 304, 2. April 1936. 16 Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938/39, Buchloe 3 1988, S. 73 f. Botz schätzte, dass nur 25–35 % der österreichischen Bevölkerung den Anschluss begeistert unterstützten. Gerhard Botz: Der 13. März 38 und die Anschluß-Bewegung. Selbstaufgabe, Okkupation und Selbstfindung Österreichs 1918–1945, Wien 1978, S. 27.

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die dem Nationalsozialismus vorher abseits gestanden hatten, begrüßt wurde, entsprach das Image der fast totalen Hitler-Begeisterung also keineswegs der Wahrheit. Dabei wurden schon bei diesem großen Triumph Hitlers wie auch ganz besonders wenige Wochen später während der Sudetenkrise viele Stimmen laut, die die weit verbreitete und steigende Angst zum Ausdruck brachten, dass Hitler Deutschland in einen neuen furchtbaren Krieg verwickeln würde. Im Sommer 1938 wurde sogar wiederholt von einer ‚Kriegspsychose‘ gesprochen, bis Hitler schließlich durch das Münchner Abkommen noch einmal einen großen ‚Triumph ohne Blutvergießen‘ verbuchen konnte. Inwieweit Hitlers außenpolitische ‚Erfolge‘ die Unzufriedenheit und empfundene Missstände des grauen Alltags oder die Angriffe auf die Kirchen kompensieren vermochten, lässt sich nur spekulieren. Die regimeinterne Berichterstattung deutete in den Jahren 1938/39 immer wieder auf die niedrige Moral in der Arbeiterklasse und die stete Angst vor einem neuen Krieg hin. Berichten aus dem sozialdemokratischen Milieu zufolge war aber die Einstellung von vielen jüngeren Arbeitern angesichts der Vollbeschäftigung, der guten Löhne im Rüstungsboom und des Leistungsethos viel positiver dem NS-Regime gegenüber als bei den älteren Arbeitern, die in den tradierten Werten der Linken geschult worden waren. Und bei jungen Arbeitern wie bei dem Gros der Bevölkerung, wie es scheint, waren die Restaurierung von ‚Ordnung‘, das Gefühl des nationalen Stolzes und der militärischen Macht sowie die intensivierte Ausgrenzung von unbeliebten Minderheiten, allen voran von Juden, durchaus populär. Jedenfalls dienten Hitlers außenpolitische ‚Erfolge‘ sicherlich auch dazu, das Image des unfehlbaren Staatsführers zu stärken und jegliche Kritik an ihm persönlich zu unterhöhlen. Wenn alle Zeichen nicht trügen, wuchs seine Popularität in den Vorkriegsjahren unaufhaltsam an. Ausschlaggebend dafür war in erster Linie der unaufhörliche propagandistische Aufbau des Führermythos, aber zweifelsohne auch die vorhandene Bereitschaft bei beträchtlichen Teilen der Bevölkerung, nach der Misere der Weimarer Jahre und dem Elend der Weltwirtschaftskrise an den ‚starken Mann‘ und dessen ‚Errungenschaften‘ zu glauben. Alle angeblichen Erfolge und Leistungen des Regimes wurden Hitler zugeschrieben. Er stellte sozusagen die Sonnenseite des Regimes dar. „Wenn das nur der Führer wüsste“, waren geflügelte Worte, die den naiven Glauben an Hitlers Unkenntnis der empfundenen Missstände widerspiegelten und gleichzeitig als ein gutes Alibi für ihn dienten. Seine Popularität baute weitgehend auf verschiedenen Bestandteilen des manipulierten Führer-Bildes. Demnach galt er als die Verkörperung der überparteilichen nationalen Interessen, der Schöpfer des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs, der Wiederhersteller von Deutschlands Größe, der Vertreter des ‚gesunden Volksempfindens‘, der Garant von Recht und Ordnung und nicht zuletzt als das Bollwerk gegen die internen und externen Feinde des Reiches. Dass dieses Image völlig verkehrt war, versteht sich von selbst. Ein öffentliches Gegenbild gab es aber damals nicht. Und dass die eskalierende Verfolgung von Juden und anderen sogenannten ‚Rassenfeinden‘ von den meisten Bürgern angesichts des großartigen nationalen Aufschwungs wenn nicht geradezu begrüßt, dann zumindest in Kauf genommen wurde, scheint ebenfalls klar zu

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sein. Auch die sogenannte ‚Reichskristallnacht‘, der reichsweite Pogrom am 9./10. November 1938, beeinträchtigte allem Anschein nach Hitlers Popularität kaum, selbst wenn heftige Kritik an dem Randalieren und der Brutalität der Parteiaktivisten gang und gäbe war. Hitlers Popularität hielt, soweit man beurteilen kann, in den ersten Kriegsjahren an. Eine von Adam von Trott – der eine aktive Rolle im Widerstand spielte und als Folge seiner Beteiligung im Attentat 1944 hingerichtet wurde – stark beeinflusste wenn nicht unmittelbar verfasste geheime Denkschrift vom Herbst 1939 an das amerikanische State Department betonte dennoch eher die Depolitisierung der Massen als echten Enthusiasmus für Hitlers Regime. „Nimmt man Deutschland insgesamt“, lautete die Denkschrift, „wird Hitlers Herrschaft jetzt lediglich unterstützt von der direkten Notwendigkeit des Deutschen Volkes, sich zum Regime zu bekennen in seinem Krieg gegen die behauptete Ansicht der alliierten Mächte, Deutschland wieder zu zerstören.“17 Die Aussage unterschätzte wohl das Ausmaß der echten Unterstützung für das Regime und für Hitler persönlich zu diesem Zeitpunkt, erkannte aber zweifellos ein wesentliches Motiv für anhaltende Loyalität. Obwohl eine Begeisterung wie 1914 nirgends spürbar und Angst überall vorhanden war, fehlte die Bereitschaft in einem Krieg zu kämpfen keineswegs, der, so meinten sehr viele, dem Deutschen Reich aufgezwungen worden war. Dabei kam dem Regime Ende der 1930er-Jahre zugute, dass einige frühere Konfliktherde inzwischen neutralisiert worden waren. Der Kirchenkampf war mittlerweile weitgehend abgeflaut, nachdem Hitler wissen ließ, dass er im Krieg keine internen Zwistigkeiten wollte. Rüstungsarbeiter wurden durch den Rückzieher des Regimes von der ursprünglichen Absicht, Zuschläge für Überstunden, Nachtarbeit und Feiertage zu streichen, beschwichtigt. Und bald kehrten Wehrmachtsoldaten nach einem kurzen, triumphalen Feldzug in Polen zurück. Der amerikanische Zeitungskorrespondent in Berlin, William Shirer, notierte zutreffend in seinem Tagebuch: „Solange die Deutschen erfolgreich bleiben und nicht zu viel Verluste erleiden, wird dies kein unpopulärer Krieg sein.“18 Nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung hätte es also aller Wahrscheinlichkeit nach begrüßt, wenn das vom schwäbischen Schreiner und Alleingänger Georg Elser verübte Attentat auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller am 8. November 1939 gelungen wäre. Nach dem spektakulären Sieg über Frankreich erreichte Hitlers Popularität wohl ihren Höhepunkt. Die Zeit von ‚Triumphen ohne Blutvergießen‘ war zwar vorbei. Aber die Menschenverluste in der ersten Phase des Krieges hielten sich im Lichte der gewaltigen militärischen Triumphe noch durchaus in Grenzen. Und der Endsieg schien greifbar nahe zu sein. Hitler konnte als der ‚größte Feldherr aller Zeiten‘ gefeiert werden. Der scheinbare Beweis, den der Westfeldzug brachte, dass Hitler in der Tat ein genialer Feldherr war, wurde nun von bislang eher skeptischen Generälen und zweifellos auch von unzähligen Landsern hingenommen. Gegner des Nationalsozialismus hatten einen schweren Stand. 17 Hans Rothfels (Hg.): Adam von Trott und das State Department, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7.3 (1959), S. 318–332, hier 324 (Originalzitat in englischer Sprache). 18 William Shirer: Berliner Tagebuch. Aufzeichnungen 1934–1941, hg. v. Jürgen Schebera, Leipzig 1991, S. 208.

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Bald war aber dieser Zenit Hitlers Popularität vorüber. Die großen Sorgen häuften sich wieder im Sommer 1941 nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Sie wurden zwar kurzfristig durch den raschen Vormarsch der Wehrmacht und die Reihe von frühen Erfolgsmeldungen zeitweise gedämpft. Dennoch ging Hitlers Popularität nach den letzten großen Siegen im Sommer 1941, insbesondere nach dem ersten Russland-Winter relativ steil bergab. Ab 1943, nach Stalingrad, nahm sie dann angesichts dauernder militärischer Rückschläge, der Zerstörung von Städten durch alliierte Bombardierung, der steigenden, massiven Menschenverluste an den Fronten und der sich anbahnenden unabwendbaren totalen Niederlage lawinenartig ab. In den Gefallenenanzeigen der Tageszeitungen stand immer seltener der Spruch: ‚Gefallen für Führer und Vaterland‘. Eltern gaben ihrem neugeborenen Sohn immer weniger oft den Namen ‚Adolf ‘.19 In Städten, die direkt unter zunehmenden schrecklichen Bombenangriffen litten, wurde der ‚Heil Hitler‘-Gruß vielfach ostentativ mit ‚Guten Morgen‘ erwidert, während Führerbilder aus vielen Wohnungen verschwanden.20 Diese und andere Indikatoren weisen deutlich auf die absinkende Popularität Hitlers ab Kriegsmitte hin. Selbst die regimeinterne Berichterstattung konnte, auch wenn die Ausdrucksweise naturgemäß vorsichtig blieb, nicht verkennen, dass Hitler nun persönlich in die Schusslinie der Kritik an der wachsenden Katastrophe gezogen wurde. Die Führerbindung war natürlich nicht gänzlich zerrüttet. Es hielten starke Reserven von Loyalität noch an – vornehmlich, wie es scheint, bei Jugendlichen, bei einfachen Soldaten, die häufig den Glauben an den Führer als letzten Strohhalm ergriffen, und bei langjährigen Parteianhängern. Das Vertrauen zu Hitler, echt oder vorgetäuscht, war zwar stark abgesunken, aber immer noch vor allem – und aus eigenem Interesse – bei denjenigen vorhanden, die starke Macht in den eigenen Händen behielten. Ein kurzes Aufflackern von Hitlers Popularität folgte dem misslungenen Attentat im Juli 1944. Im Zeichen des Anschlags arbeitete die Propaganda auf vollen Touren, um die ‚Liebe zum Führer‘ und Ergüsse der Dankbarkeit für seine ‚Rettung‘ zu demonstrieren, wobei die organisierten öffentlichen Kundgebungen selbstverständlich keine Einsicht in die wahre Volksmeinung geben. Aber nicht alles war künstlich. Private Quellen bezeugen oft ebenfalls die noch stark anhaltende Führerbindung bei der Bevölkerung. Feldpostbriefe z.B. und auch manche Tagebucheintragung bringen die Bestürzung und das Entsetzen über das Attentat und die Dankbarkeit, dass Hitler überlebte, unverkennbar zum Ausdruck, auch wenn man hier ebenfalls keine Maßstäbe hat, um die echten Dimensionen der Popularität zu ermessen. Dass es jedenfalls nicht wenige gab, die ein Gelingen des Attentats begrüßt hätten, kann man an erhalten gebliebenen unvorsichtigen Äußerungen und anderen Andeutungen feststellen. Rationales Verhalten zwang aber jetzt erst recht zum Schweigen und zum Verstecken der wahren Meinung. 19 Oliver Lorenz: Die Adolf-Kurve 1932–1945, in: Götz Aly (Hg.): Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2006, S. 22–37, hier 27 f.; Oliver Schmitt, Sandra Westenberger: Der feine Unterschied im Heldentod, in: ebda., S. 96–115. 20 Heinz Boberach (Hg.): Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938–1945, 17 Bde., Herrsching 1984, Bd.17, S. 5356 f., SD-Berichte zu Inlandsfragen vom 17. Juni 1943.

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Trotzdem wuchs nun unaufhörlich auch die öffentliche Kritik an Hitler selbst. Einer Meldung der SD-Hauptaußenstelle Stuttgart zufolge hätten z.B. kaum mehr als zwei Wochen nach dem Stauffenberg-Attentat „die meisten Volksgenossen, auch diejenigen, die bisher unerschütterlich glaubten, jeden Glauben an den Führer verloren“.21 Gegen Ende 1944 registrierte die gleiche SD-Hauptaußenstelle eine angeblich häufig zu hörende Bemerkung: „Der Führer wurde uns von Gott gesandt, aber nicht um Deutschland zu retten, sondern um Deutschland zu verderben. Die Vorsehung hat beschlossen, das Deutsche Volk zu vernichten und Hitler ist der Vollstrecker dieses Willens.“22 Man kann nicht wissen, wie repräsentativ solche Äußerungen waren. Aber als das Elend wuchs und die unausweichliche militärische Katastrophe sich näherte, konnte man trotz der zunehmenden Gefahr bei jeder unvorsichtigen Äußerung unverhohlene Kritik an Hitler häufig vernehmen. „Der Führer wird täglich stärker in die Vertrauensfrage und in die Kritik einbezogen“, hieß es in einer zentralen Zusammenfassung von SD-Meldungen Ende März 1945.23 Das war milde ausgedrückt. Auf der unteren Ebene des SD war die Sprache häufig unverblümter. Ein Bericht aus Wien z.B. an SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Mitte des gleichen Monats, schilderte nicht nur eine tief gehende feindliche Einstellung gegenüber der Partei bei der Wiener Arbeiterschaft, sondern wies auch darauf hin, dass Hitler von einer schonungslosen Kritik nun direkt getroffen wurde. „Während vor einigen Monaten bei irgendwelchen Äußerungen gegen Partei und Führung die Person des Führers noch aus dem Spiel gelassen wurde“, lautete die Meldung, „wurden in jüngster Zeit gehässigste Schmähungen gegen den Führer erfasst, z.B.: ,Wegen diesem Menschen müssen wir so viel Unglück über uns ergehen lassen, ja findet sich denn niemand, ihn zu beseitigen?‘“24 Im gleichen Monat in der Nähe von Berchtesgaden, wohin einst Tausende von begeisterten ‚Volksgenossen‘ gepilgert waren, um dem ‚Führer‘ zu huldigen, wurde der ‚Sieg Heil‘-Ruf am Kriegerdenkmal vor einer stationierten Einheit der Wehrmacht weder von den Soldaten noch von der zum ‚Heldengedenktag‘ angesammelten Zivilbevölkerung erwidert. Das Schweigen sprach Bände. Nach Meinung des SD-Berichterstatters spiegelte es „wohl am besten die tatsächliche Einstellung des Volkes“.25 Bis zum Ende des Regimes und darüber hinaus gab es selbstverständlich noch viele treue Hitler-Anhänger. Es ist dennoch nach allen Indizien durchaus klar, dass sie in der letzten Kriegsphase in einer schwindenden Minderheit waren – allerdings, wie gesagt, in einer Min21 Imperial War Museum, London, ‚Aus deutschen Urkunden‘, unveröffentlichte Dokumentation, c.1945–6, S. 264, Bericht der SD-Hauptaußenstelle Stuttgart, 8. August 1944. 22 Ebda., ‚Führungsbericht‘ an den SD-Leitabschnitt Stuttgart, 6. November 1944. 23 Boberach (Hg.), Meldungen aus dem Reich, Bd.17, S. 6734, Bericht aus Akten der Geschäftsführenden Reichsregierung Dönitz vom Ende März 1945. 24 Bundesarchiv Berlin, NS6/756, Bl. 7–9, Vermerk für Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Parteifeindliche Einstellung der Wiener Arbeiterbevölkerung nach den Luftangriffen, 10. März 1945. 25 Staatsarchiv München, LRA 29656, Bl. 576, 592, Monatsbericht des Amtsvorstandes Berchtesgaden vom 4. April 1945; Monatsbericht des Gendarmerie-Postens Schellenberg vom 25. März 1945.

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derheit, die noch große Macht über Leben und Tod in ihren Händen besaß. Gewiss glaubte eine Minderheit von Frontsoldaten noch als letzte Hoffnung an Hitler. „Ich glaube fest an eine entscheidende Wendung“, schrieb in einem Brief ein im Kurland abgeschnittener Unteroffizier Anfang April 1945. „Die Vorsehung, die uns den Führer geschickt hat, wird nicht zulassen, dass all die furchtbaren Opfer umsonst waren und wird die Welt nie dem vernichtenden Terror des Bolschewismus überlassen.“26 Dies war aber inzwischen nur etwas fast Abergläubisches – kaum mehr als der Traum von einem Wunder in allerletzter Minute  – und entsprach keineswegs der Einstellung von den meisten Frontsoldaten, deren Motivation vielmehr Heimat, Familie, Kameraden und schließlich der Rettung des eigenen Lebens galt. Jedenfalls scheint klar zu sein, dass Hitlers Popularität in den letzten Monaten vor der Niederlage auf den Tiefpunkt sank. Vielleicht gab es noch zehn Prozent Hitler-Gläubige, vielleicht sogar weniger. Wie immer bleibt es bei Vermutungen. Das NS-Regime war vom Anfang an ein terroristisches Regime. Mit dem Verfall von Hitlers Popularität wurde die Konsensbasis des Regimes weitgehend unterhöhlt  – abgesehen davon, dass es bis zum Ende eine breite Bereitschaft gab, weiterhin die Heimat bis zum Äußersten zu verteidigen. Bei dem fehlenden Konsens wuchs quasi automatisch der Terror. Auch wenn nach wie vor Juden, andere verfolgte Minderheiten, ausländische Arbeiter und bekannte Regime-Gegner die Hauptopfer darstellten, richtete sich der Terror nun mehr als je zuvor auch gegen die mehrheitliche deutsche Bevölkerung. Im Gegensatz zu der anfangs zitierten Aussage kann keine Rede davon sein, dass die Bevölkerung sich noch bis zum bitteren Ende an Hitler geklammert hat. Eine einzelne Bemerkung im März 1945 entsprach sicherlich der Meinung von sehr vielen Deutschen gegen Kriegsende: „Hätte man 1933 geahnt, dass sich die Ereignisse so zuspitzen würden, wäre Hitler nie gewählt worden.“27 Auch die proklamierte Volksgemeinschaft war schon längst zur Chimäre geworden. In der letzten Kriegsphase waren es hauptsächlich negative Faktoren, die angesichts der nun fehlenden Führerbindung die Bevölkerung mehr oder weniger zusammenhielten und das Durchhalten förderten: Furcht vor Repressalien, Angst vor den Russen, umfassende brutale Kontrollmechanismen der Partei und Wehrmacht und, nicht zuletzt, Mangel an Alternativen. Nach der Kapitulation gaben natürlich die wenigsten zu, einst glühende Hitler-Gläubige gewesen zu sein. Hitler wurde nun rasch von dem fast vergötterten genialen Staatsführer und Feldherrn in die Verkörperung des Bösen verwandelt. Dennoch meinte immerhin mindestens die Hälfte der Befragten in Meinungsumfragen der Westalliierten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, dass der Nationalsozialismus eine gute, wenn auch schlecht durchgeführte Idee gewesen sei und auf jeden Fall dem Kommunismus vorzuziehen wäre. Über ein Fünftel dachte 1952 noch, dass, obwohl Hitler ‚manche Fehler‘ – wohl gehörten der Krieg und die Judenvernichtung dazu!  – begangen habe, er ein hervorragendes Staatsoberhaupt gewesen sei. Und noch 1955 vertraten 48 Prozent der Befragten bei einer Umfrage die Meinung, dass, wenn es 26 Bibliothek für Zeitgeschichte, Stuttgart, Sammlung Sterz, Uffz. Werner F., 1. April 1945. 27 Staatsarchiv München, LRA 29656, Bl. 573, Bericht der SD-Außenstelle Berchtesgaden vom 7. März 1945.

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nicht den Krieg gegeben hätte, Hitler einer der größten deutschen Staatsmänner aller Zeiten gewesen wäre. Erst das Wirtschaftswunder setzte in Deutschland jeglicher impliziten Bewunderung für Hitler, jenseits einer kleinen Minderheit von Rechtsradikalen, langsam ein Ende.28 Aber Hitler hat einen langen Schatten. Wie er es vermochte, große Teile der Bevölkerung einer modernen Kulturnation zu faszinieren, und – durch Massenakklamation verstärkt – in der Lage war, einen genozidalen Krieg zu entfachen, der eine in der Weltgeschichte einmalige Katastrophe für die Menschheit herbeiführte, bedarf heute noch einer Erklärung.

28 Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart 1999, S. 323–325.

Gernot Heiss

„Wien 1910“ – Ein NS-Film zu Lueger und Schönerer „Es gibt in Wien eine radikale politische Clique, die diesen Film zu Fall bringen will. Ich werde das nicht zulassen.“ ( Joseph Goebbels 1942)

Im Folgenden geht es um die Planung und die parteiinterne Auseinandersetzung während der Produktion des Films „Wien 1910“ aus den Jahren 1942/43, nicht um eine Filmanalyse.

Das Projekt „Lueger und Schönerer“ Bereits am 17. März 1940 schrieb Joseph Goebbels in sein Tagebuch: „Wienfilm plant einen Film über Luegerer [sic!]. Ich begrüße den Plan sehr.“1 Im Programm der Wien-Film wurde im Herbst 1940 schließlich der Film „Lueger“ angekündigt.2 Die Idee, im nationalsozialistischen Wien einen Film zum legendären Wiener Bürgermeister zu drehen, ist nicht erstaunlich: der populäre Politiker ‚Dr. Karl Lueger‘, der vom Kaiser abgelehnte und von einem großen Teil der Bevölkerung bejubelte Redner, Gegner des Hofadels, der Alt-Liberalen ebenso wie der Sozialdemokraten und nicht zuletzt der Juden  – wird in Adolf Hitlers „Mein Kampf “ mehrmals sehr positiv erwähnt: Hitler sah in Karl Lueger einen „wahrhaft genialen Bürgermeister“, der „eine unerhörte Leistung nach der anderen auf, man darf sagen, allen Gebieten kommunaler Wirtschafts- und Kulturpolitik hervorzauberte“3  – er sah in ihm „den gewaltigsten deutschen Bürgermeister aller Zeiten“.4 So schien der Wiener Bürgermeister als Protagonist eines Historienfilms im Rahmen des NS-Führerkults durchaus geeignet zu sein. Im „Filmarchiv Austria“ liegen mehrere Drehbuchentwürfe bzw. Drehbücher aus der NSZeit für einen Film über Karl Lueger: Hanns Sassmann (1882–1944), Verfasser zahlreicher

1 Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, München 1993–2008 [fortan: Goebbels Tagebücher], hier: Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, Bd. 7: Juli 1939–März 1940, München 1998, S. 353 (17.03.1940). 2 Boguslav Drewniak: Der deutsche Film 1938–1945. Ein Gesamtüberblick, Düsseldorf 1987, S. 302. 3 Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1933, S. 74. 4 Dieses Zitat aus „Mein Kampf “, in dem es noch hieß, er sehe diese Bedeutung Luegers heute noch mehr als früher (d.h. in den 1920er-Jahren noch mehr als in seiner Wiener Zeit), dient als Motto des Textes: Ein Film über Lueger, in: Bild- und Text-Information der Wien-Film: Wien 1910, S. 8 (kleines Heft mit 24 Seiten), Bundesarchiv (BA), Abt. Filmarchiv. Das Zitat findet sich auch eingeblendet im Vorspann der nicht endgültigen Drehbuchversion von Gerhard Menzel, die im Filmarchiv Austria Wien (FAA) liegt (Signatur N242/1).

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realisierter Drehbücher,5 schlug einen Film mit dem Titel „Der Bürgermeister von Wien“ und dem Untertitel „Ein Film aus dem Wien der Rothschildzeit“ vor. Er sollte in „Wien von 1875 bis 1906“ spielen und die Kommunalpolitik Luegers als gegen das ‚jüdische Kapital‘ gerichtet verherrlichen.6 In die gleiche Stoßrichtung gegen das durch Louis Rothschild verkörperte ‚jüdische Kapital‘ ging der Vorschlag von Erich Knud zu „Lueger und Schönerer“; die Spielhandlung sollte ebenfalls vor 1900 beginnen.7 Auch nach dem Entwurf von Rudolf Oertel zu „Lueger und Schönerer“ sollte die Handlung mit ca. 1875 beginnen, nun aber mit einer Zukunftsvision des deutschnationalen Georg von Schönerer von Adolf Hitler als Retter des deutschen Volkes und zweiter Bismarck enden.8 Gerhard Menzel, einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren jener Zeit,9 konzentrierte sich in seinem Vorschlag auf die letzten Tage im Leben Luegers vom 7. bis 10. März 1910 und, in seiner Endversion, auf eine Gegenüberstellung Luegers und Schönerers, die in einer fiktiven Aussprache kulminiert. Schönerers zentrale Rolle war von Gerhard Menzel freilich nicht von Anfang an vorgesehen, denn in seinem kurzen Exposé spricht zwar Schönerer mit seinen Parteifreunden über den sterbenden Lueger, trifft ihn jedoch nicht. Im Drehbuchexposé heißt es an dieser Stelle: „Auch er, Schönerer, will, wie Adler, die Parteigänger Luegers einfangen. Jeder bemüht sich eben, ihn zu beerben, seine Volkstümlichkeit anzukaufen.“10 Dramaturgisch hat die Version Menzels wohl in ihrer zeitlichen Konzentration überzeugt und sie wurde schließlich in den Jahren 1941/42 in Wien und Berlin realisiert. Ende 1940 scheint allerdings noch Hanns Sassmanns Drehbuch favorisiert worden zu sein. So wurde in einem „Bericht über die Produktion der Wien-Film GmbH per 25. November 1940“ in der Planung des Films Nr. 123 „Lueger“ der Ablieferungstermin mit „ca. 30. 6. 41“ angegeben und erwähnt, dass das Drehbuch von Hanns Sassmann in Arbeit sei.11   5 Z.B. „Großfürstin Alexandra“ (A 1933, Regie: Wilhelm Thiele) mit der Sängerin Maria Jeritza in der Titelrolle; „Die ganze Welt dreht sich um Liebe“ (A 1935, Regie: Viktor Tourjansky) mit Martha Eggerth, Hans Moser, Leo Slezak u.a.; „Zirkus Saran“ (A 1935, Regie: E.W. Emo) mit Leo Slezak und Hans Moser; „Der Mann, von dem man spricht“ (A 1936, Regie: E.W. Emo) mit Heinz Rühmann, Hans Moser und Theo Lingen; „Der Berg ruft“ (D 1938) und„Liebesbriefe aus dem Engadin“ (D 1938) sowie „Der Feuerteufel“ (D 1940), jeweils Regie und mit Luis Trenker; „Der liebe Augustin“ (D 1940, Regie: E.W. Emo) mit Paul Hörbiger und Maria Andergast.   6 „Film-Manuskript“ von Hanns Sassmann, FAA, N242/4 (100 Seiten); ohne Schönerer.   7 „Eine Filmnovelle (nach dem historischen Stoff: Das Leben Schönerers und Luegers) von Erich Knud“, FAA, 242/5 (91 Seiten).   8 „Lueger und Schönerer. Filmexposee von Dr. Rudolf Oertel (zweiter Entwurf )“, FAA, 242/8 (79 Seiten). Vgl. unten bei Anm. 49 das Schönerer-Zitat als Motto der Wiener Schönerer-Ausstellung von 1942.   9 Z.B „La Habanera“ (D 1937, Regie: Detlef Sierk) mit Zarah Leander; „Schicksal“ (D 1942, Regie: Géza von Bolváry) mit Heinrich George; „Heimkehr“ (D 1941, Regie: Gustav Ucicky) mit Paula Wessely; und später „Die Sünderin“ (D 1951, Regie; Willi Forst) mit Hildegard Knef und Gustav Fröhlich. 10 „Lueger-Film“ von Gerhard Menzel. Exposé, FAA, 242/12 (28 Seiten), S. 4. 11 BA, R 2/4815a, fol. 137–144, hier 141 und 144  – Mikrofiche 3–4. Es war auch der Verleih bereits geplant, der vom Verleih der Ufa übernommen werden sollte. Lt. Protokoll der Aufsichtsratssitzung der Wien-Film vom 22.5.1940 (BA, R2/4817, fol. 209 – Mikrofiche 5) sollte der „Lueger-Film“ in Wien im Jänner-Februar 1941 ge-

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Das lässt darauf schließen, dass vorerst ein Film über Luegers Kommunalpolitik und Gegnerschaft zu den jüdischen Bankiers geplant war. Erst Ende 1940 dürfte die Entscheidung gefallen sein, eine Gegenüberstellung des christlich-sozialen Wiener Bürgermeisters und des ‚Führers‘ der deutschnationalen Partei Georg von Schönerer zum zentralen Thema des Filmes zu machen. Sassmann ergänzte sein Drehbuch in einer überarbeiteten Fassung um eine Einstellung, in der nun auch Schönerer auftrat.12 Menzel ging ebenfalls auf diese neue Schwerpunktsetzung ein und rückte den Konflikt der politischen Vorstellungen Luegers und Schönerers nun deutlich ins Zentrum der Filmerzählung. Er überzeugte damit, denn die Entscheidung fiel nun für sein Drehbuch.13 Durch die lange Planung und vermutlich auch wegen des Wechsels der Drehbuchautoren beliefen sich die Ausgaben für die Vorbereitung des Films, nun mit dem Projekttitel „Schönerer-Lueger“, bereits auf 171.642,83 Reichsmark.14 Vom Drehbuch Menzels sind mehrere Versionen überliefert. Bis zur Realisierung des Filmes wurde vor allem an der Präsentation Schönerers gearbeitet.15 Die Handlung konzentriert sich nun stark auf die Gegenüberstellung der beiden Personen und ihrer Politik und entspricht damit auch der Schilderung, die Adolf Hitler in „Mein Kampf “ von seinen ‚Vorbildern’ aus der Wiener Zeit gab:16 Rein menschlich genommen ragen sie, einer wie der andere, weit über den Rahmen und das Ausmaß der sogenannten parlamentarischen Erscheinungen hinaus. Im Sumpfe einer allgemeinen politischen Korruption blieb ihr ganzes Leben rein und unantastbar. Dennoch lag meine persönliche Sympathie zuerst auf Seiten des Alldeutschen Schönerer, um sich nur nach und nach dem christlich-sozialen Führer ebenfalls zuzuwenden. In ihren Fähigkeiten verglichen, schien mir schon damals Schönerer als der bessere und gründlichere Denker in

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dreht werden. Ebda.: Beilage zum Bericht über die Produktion vom 25.11.1940, Wien, 27.11.1940. Hier wurde der Etat für den Film mit 1,2 Millionen Reichsmark angegeben, d.h., es war von Anfang an vorgesehen, aufwändig zu produzieren. „Lueger“. Ein Film von Hanns Sassmann, FAA, N242/14, 199–202; fehlt noch in „Lueger“. Ein Film von Hanns Sassmann, FAA, N242/13. Im „Bericht über die Prüfung des Jahresabschlusses zum 31. Juni 1941 der Wien-Film […]“ der Neuen Revisionsund Treuhandgesellschaft M.B.H., Berlin vom 16. März 1942 (BA, R2/4817, fol. 253 – Mikrofiche 6) wurde vermerkt, dass „Wien 1910“ – also die Version Menzels –, wie auch die Filme „Wiener Blut“ und „Brüderlein fein“, auf das Produktionsjahr 1941/42 verschoben würden. Ebda., fol. 286 – Mikrofiche 7. Dieser Betrag war deutlich höher als die Ausgaben für die anderen Filme, die nun ebenfalls in Planung waren, z.B. „Wiener Blut“ (45.709,47 RM), „Ferdinand Raimund/Brüderlein fein“ (24.778,35 RM), „Die heimliche Gräfin“ (12.810 RM). Vgl. besonders in der Version des Menzel-Drehbuchs (FAA, N242/10) mit vielen und umfangreichen handschriftlichen Ergänzungen, so auch zum Treffen Schönerers mit Lueger (Einstellung 305–318, S. 254–259). Die dramaturgisch geschickte Reihung des Treffens nach der sehr emotionalen Sequenz mit den Wiener Waisenkindern findet sich erst in der Versionen FAA, N242/3. Vgl. die Kopfzeile „Schönerer und Lueger“ in: Hitler, Mein Kampf, S. 108f.

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prinzipiellen Problemen zu sein. Er hat das zwangsläufige Ende des österreichischen Staates richtiger und klarer erkannt als irgendein anderer. […] Allein wenn Schönerer die Probleme ihrem inneren Wesen nach erkannte, dann irrte er sich umso mehr in den Menschen. Hier lag wieder die Stärke Dr. Luegers. Dieser war ein seltener Menschenkenner, der sich besonders hütete, die Menschen besser zu sehen, als sie nun einmal sind. Daher rechnete er auch mehr mit den realen Möglichkeiten des Lebens, während Schönerer hierfür nur wenig Verständnis aufbrachte. Alles, was der Alldeutsche auch dachte, war, theoretisch genommen, richtig, allein indem die Kraft und das Verständnis fehlte, die theoretische Erkenntnis der Masse zu vermitteln, sie also in solche Form zu bringen, dass sie damit der Aufnahmefähigkeit des breiten Volkes, die nun einmal eine begrenzte ist und bleibt, entsprach, war eben alles Erkennen nur seherische Weisheit, ohne jemals praktische Wirklichkeit werden zu können.17

Zusammenfassend meinte Hitler in den 1920er-Jahren über die beiden Protagonisten: Was er [Lueger, GH] als Bürgermeister der Stadt Wien geleistet hat, ist im besten Sinne des Wortes unsterblich; die Monarchie aber vermochte er dadurch nicht mehr zu retten – es war zu spät. […] Was Schönerer wollte, gelang ihm nicht, was er befürchtete, traf aber leider in furchtbarer Weise ein.18

Gerhard Menzel folgte dieser Charakterisierung der beiden Politiker durch Hitler. Einzelne antisemitische Szenen im Drehbuch Menzels wurden etwas gekürzt. Da es im Film aber noch viele und drastische antisemitische Szenen gibt, dürften diese Streichungen aufgrund dramaturgischer Überlegungen vorgenommen worden sein und nicht aufgrund der im Rahmen des Krieges geänderten Filmpolitik, die mehr auf Unterhaltung, sanfte Indoktrinierung und weniger auf offene antisemitische Propaganda setzte. Diese Wende in der nationalsozialistischen Kulturpolitik, nicht mehr rein antisemitische Propagandafilme zu machen, könnte jedoch durchaus zum Wechsel von Hanns Sassmanns zu Gerhard Menzels Drehbuch beigetragen haben. Während in den anderen Vorschlägen die ‚jüdischen Kapitalisten‘ als Hauptfeinde im Zentrum stehen,19 gibt es in „Wien 1910“ mehrere Feinde: den Hofadel, den altliberalen (nicht jüdischen!) Kapitalisten und Börsenspekulanten und den jüdischen Sozialdemokraten und Journalisten. Damit wurde „Wien 1910“ ein Lehrfilm über die – deutschnationale, antikapitalistische, antihabsburgische, antidemokratische und (nicht allein) antisemitische – Ideologie 17 Ebda., S. 107 f. 18 Ebda., S. 111 f. 19 Im Drehbuch von Hanns Sassmann sind als Personen der Handlung – neben Lueger und Kaiser Franz Josef – Albert und Nathaniel Rothschild sowie die beiden Söhne Alberts, Alfons und Luis Rothschild, in wichtigen Rollen vorgesehen; Schönerer sollte hingegen nicht auftreten („Der Bürgermeister von Wien. Ein Film aus der Wiener Rothschildzeit. Film-Manuskript von Hanns Sassmann“, 100 Seiten, FAA, N242/4).

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der beiden Protagonisten aus der Sicht Adolf Hitlers. Der Erzählung über die Anfeindungen des sterbenden Helden Lueger durch asoziale Höflinge, Spekulanten und jüdische Journalisten und über seine Liebe zu Wien, den Wiener Waisenkindern, den Wienern und Wienerinnen sowie zu einer liebenden, aber auf die Liebe Luegers zugunsten Wiens verzichtenden Frau gab aber breiten Raum für Mitgefühl und Empathie – in der filmischen Ausführung befördert durch den weichen ‚Wiener Ton‘ und die Besetzung der Regie mit dem auf Wiener Komödien spezialisierten Regisseur E. W. Emo.

Realisierung Im Tagebuch von Joseph Goebbels findet sich zum 8. August 1941 folgender Eintrag: Abends lese ich ein neues Filmmanuskript der Wien-Film über Dr. Karl Lueger durch. Es ist von Menzel geschrieben, der ein wirklicher Filmdichter ist. Das Manuskript ist außerordentlich spannend, psychologisch raffiniert durchgearbeitet und gibt einen Querschnitt durch das Wien von 1910.20 Ich verspreche mir davon einen außerordentlich wirkungsvollen Film.21

Im Monatsbericht der Wien-Film GmbH für November 1941 wurde der Film Nr. 123 „Lueger“ zum ersten Mal (und dann in den folgenden Monatsberichten bis Juni 1942) als Film „in Arbeit“ erwähnt.22 Da auf „Verfügung des Ministeriums […] der Zarah-Leander Film der Ufa ‚Die große Liebe‘ in den Ateliers der Wien-Film am Rosenhügel hergestellt werden“ musste, musste der Film „Wien 1910“ 1941/42 „in Berliner Ateliers ausweichen“, was zu von der WienFilm beklagten Mehrkosten führte.23 Außenaufnahmen wurden in Wien gefilmt, so etwa Szenen in „Großbauten z.B. im Rathaus“.24 Während der Produktion kam es nicht nur zu diesen technischen, sondern auch zu massiven ideologischen Problemen. Es dürfte bereits in Zusammenhang mit Einwänden aus der Wiener NSDAP gegen die Realisierung eines Lueger-Films gestanden haben, dass die Leitung der Wien-Film die Gauleitung über den Film informierte: Der Direktor der Wien-Film, Fritz Hirt, übersandte am 12. November 1941 – mit Bezug auf ein Gespräch am Vortag – an „Ge20 21 22 23

Zum Bild von Wien 1910, wie es Goebbels aus den Beschreibungen durch Adolf Hitler kannte, s. Anm. 35. Goebbels Tagebücher, Teil II: Diktate 1941–1945, Bd. 13: Juli bis September 1941, S. 196 (8.8.1941). BA, R 55/1324, Mikrofiche 8. Die folgenden Monatsberichte: Dezember 1941 ebda., die folgenden R 55/1326. „Bericht [der Wien-Film GmbH] über das erste Halbjahr des Geschäftsjahres 1941/42“, BA, R 55/496, fol. 204 und 207 – Mikrofiche 7. Lt. Aufgliederung der veranschlagten und der endgültigen Produktionskosten im „Bericht über die Prüfung des Jahresabschlusses zum 31. Mai 1943 […]“ durch die „Neue Revisions- und Treuhandgesellschaft m.b.H.“ Berlin waren die Kosten für Atelier und Ausstattung von 30 % (lt. Kostenvoranschlag) auf 37,3 % der Produktionskosten gestiegen (BA, R2/4815a, fol. 353 – Mikrofiche 8). 24 „Technischer Bericht zur Aufsichtsrats-Sitzung“ der Wien-Film vom 18. 7. 1942, BA, R 2/4817, Mikrofiche 13.

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bietsführer“ Günther Kaufmann, Pressesprecher beim Reichsstatthalter Baldur von Schirach, „das Drehbuch ‚Wien 1910‘ von Gerhard Menzel“, „mit dessen Abdrehen in den nächsten Tagen in Berlin begonnen“ werde.25 Im März 1942 war Joseph Goebbels in Wien und diktierte zum 15. März 1942 in sein Tagebuch: Ich spreche mit Schirach auch den kritischen Fall des Lueger-Films durch. Es gibt in Wien eine radikale politische Clique, die diesen Film zu Fall bringen will. Ich werde das nicht zulassen. Der Film soll zuerst einmal gedreht werden, und dann kann man sagen, ob daran noch Korrekturen vorgenommen werden müssen oder ob er zur Gänze zu ändern ist. Zweifellos ist Lueger hier etwas heroisiert worden. Aber das schadet nicht so sehr, da ja die Vorgänge, die sich um seine Person abgespielt haben, schon so weit zurückliegen, dass sie abgesehen von einem kleinen Kreis von Interessierten, gänzlich unbekannt sind.26

Zur im Zitat erwähnten „radikalen politischen Clique“ gehörten die Alt-Schönerianer, die den Lueger-Film in Erinnerung an die politische Gegnerschaft von einst verhindern wollten.27 Alleine waren sie jedoch gewiss nicht mächtig genug, um dem Filmprojekt die hier geschilderten Probleme zu bereiten. Auch andere Wiener Nationalsozialisten waren gegen einen Film mit einer positiven Erinnerung an den christlich-sozialen Politiker Lueger, der im klerikalen Ständestaat glorifiziert worden war.28Anfang Mai 1942 schrieb der oben genannte Günther Kaufmann nach der Lektüre des Drehbuchs an den Pressedienst der Wien-Film über einen Artikel, den er zur Verteidigung des Filmprojekts „Wien 1910“ geschrieben hatte: Ich habe einen ganz anderen Aufsatz geschrieben, der weniger den Charakter einer Filmbesprechung trägt, als vielmehr eine Rechtfertigung für die Aufnahme dieses Filmthemas überhaupt sein will. Ich habe versucht, unseren Engherzigen die Auffassung auszutreiben, dass man den Lueger dem Dollfuss und seinem Gesindel überlassen soll, die sich ihn ganz zu Un25 Direktion der Wien-Film, Fritz Hirt, an Gebietsführer Günther Kaufmann, Wien, 12. 11. 1941, Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Archiv der Republik (ÖStA-AdR], Reichsstatthalter Wien (RStH Wien), Karton 24, Nr. 131 (Korrespondenz Kaufmann, Allgemeine Serie St-Z). Im „Finanz- und Produktions-Bericht“ der Wien-Film zur Aufsichtsratssitzung am 7. 11. 1941 wird davon berichtet, dass „der letzte der Überläufer [Bezeichnung wegen der Verschiebung der Produktion, GH] ‚Wien 1910‘ […] am 10. November 1941 in der Nordhalle von Babelsberg begonnen werden“ soll. 26 Goebbels Tagebücher, Teil II: Diktate, Bd. 3: Jänner bis März 1942, S. 473 (15.03.1942). Vorher – Goebbels ist in Wien – zum Film „Operette“ und zur Fähigkeit der Wiener Filme im Gegensatz zu den Berliner Filmen, für Wien Propaganda zu machen. 27 Nach Brigitte Hamann bezog sich Goebbels hier auf Proteste des Schönerer-Gefährten-Stellvertreters-Fortführers, des Gründers der „Deutschen Arbeiter Partei“ Franz Stein, siehe Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München / Zürich 1996, S. 435 (ohne Quellenzitat zu Franz Steins Protesten). Zu „Franz Stein und die alldeutsche Arbeiterbewegung“: ebda., S. 364–375. 28 In der Führung der NSDAP in Wien waren die antiklerikalen Nazis mächtig.

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recht als einen Kronzeugen ihres Regimes seiner Zeit angemaßt haben. Ich hoffe aber, dass meine Arbeit, gerade weil sie so grundsätzlichen Charakter trägt, dem Film nützen wird.29

In der Aufsichtsratssitzung der Wien-Film am 18. Juli 1942 berichtet Erich von Neusser, der den künstlerischen Direktor Karl Hartl vertrat, über den Film „Wien 1910“, „dass es sich hier um einen sehr guten Film handle, der bestimmt dem Publikum gut gefallen werde. Für das Altreich bestünden keine Schwierigkeiten, doch was die Ostmark anbelangt, müsse erst versucht werden, die Spielfreiheit [die Zulassung, GH] zu bekommen. Der Film werde nächste Woche gemischt und eine Kopie sodann unverzüglich Herrn Reichsminister Dr. Göbbels [sic!] zugestellt, der beabsichtigte, diesen Film dem Führer persönlich vorzuführen.“ 30 Der kaufmännische Direktor Fritz Hirt „gibt zu diesem Film [wohl in Richtung der Schönerianer, GH] bekannt, dass die Gestalt des Schönerer, der übrigens durch einen der größten deutschen Darsteller, Heinrich George verkörpert wird, sehr groß herausgearbeitet ist“31. Nach Korrekturen wurde der Film am 23. Oktober 1942 abgeliefert.32 Die Uraufführung, die für Ende Jänner 1943 geplant war,33 verzögerte sich noch um weitere sieben Monate. Joseph Goebbels sah den Film – wohl in einer ersten Version – bereits am 16. Juni 1942 und war begeistert: Abends sehe ich den neuen Film der Wien-Film „Wien 1910“, in dem das Lueger-Thema abgehandelt wird. Gott sei Dank hat dieser Film die Klippen, die ihm drohten, siegreich umschifft. Das Verhältnis zwischen Lueger und Schönerer ist außerordentlich glücklich und vor allem auch historisch richtig dargestellt worden. Die Darstellungskraft von George und Forster überwindet auch hier manche Schwierigkeiten.34

Mit der „historischen Richtigkeit der Darstellung“ waren hier freilich nicht die Fakten gemeint, sondern die Charakterisierung des politischen Klimas, der politischen Konflikte in der Habsburgermonarchie vor dem Ersten Weltkrieg und ihre Darstellung auf der Folie der maßgebenden Interpretation durch Adolf Hitler. Zu Hitlers Wien-Bild schrieb Goebbels am 17. Oktober 1939 in sein Tagebuch: 29 Kaufmann an den Pressedienst der Wien-Film, z. Hd. Herrn Hülsdell, [Wien], 5. 5. 1942, Durchschlag im ÖStAAdR, RStH Wien, Karton 23, Mappe 125: Er hoffte auf eine vollständige Veröffentlichung des Artikels in der Zeitschrift „Reich“. Vgl. die Antwort Hülsdell an Kaufmann, Wien, 9. 5. 1942, ebda., in der er für diese Arbeit dankt, „die sicher dazu beitragen wird, den Film ‚Wien 1910‘ in ganz Deutschland verständlich zu machen“, und hofft, den Text auch für seine Pressearbeit erwerben zu können. 30 „Protokoll über die Aufsichtsratssitzung der Wien-Film Gesellschaft m.b.H., Wien VII., Straße der Julikämpfer 31, vom Samstag, den 18. Juli 1942“, BA, R 55/1326, fol. 276 – Mikrofiche 4. 31 Ebda. 32 Auflistung zur „Abwicklung der Produktionsvorhaben 1942/43“ für die Aufsichtsratssitzung der Wien-Film am 9. 1. 1943, BA, R 55/1326, fol. 299 – Mikrofiche 7. 33 Ebda. 34 Goebbels Tagebücher, Teil II: Diktate 1941–1945, Bd. 4: April bis Juni 1942, S. 525 (14.06.1942).

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[Der] Führer schildert nochmals [die] Brüchigkeit des ehem. Habsburger Reiches. Wie verlassen das deutsche Element war. Der schlechte und widerwärtige Charakter Franz Josephs. […] Wie er selbst [Hitler, GH] erst in Wien Antisemit wurde. Wie sein Vater nur antiklerikal und antihabsburgisch war. [Der Führer schildert d]ie großen Verdienste Luegers.35

Zur Gegenüberstellung des pragmatischen, von der Masse bejubelten und politisch erfolgreichen Lueger und des „bessere[n] und gründlichere[n] Denker[s] in prinzipiellen Problemen“36 Schönerer in Hitlers Erinnerung wurde bereits oben aus „Mein Kampf “ zitiert. Goebbels griff nicht nur das Bild vom Wien vor dem Ersten Weltkrieg auf, wie es ihm die Erzählungen Hitlers und der Film lieferte, er zog aus diesen Erzählungen auch die entsprechenden, die eigene Politik bestätigenden historischen Schlüsse: In der bereits oben zitierten Tagebucheintragung vom 16. Juni 1942 hieß es: An diesem Film kann man wieder einmal sehen, in welchem desolaten Zustand sich die Habsburger Monarchie vor dem Weltkrieg befand. Es ist kein Wunder, dass die Mittelmächte den Weltkrieg verloren haben; es wäre eher ein Wunder gewesen, wenn sie ihn gewonnen hätten. Ihre damalige Führung war so unter aller Kritik schlecht, dass sie auch einer schlechten alliierten Führung nicht gewachsen war. Unsere Sicherheit des Sieges beruht vor allem auf der Qualität der deutschen Führung. Das deutsche Volk hat auch während des Weltkrieges nicht versagt. Nur seine Führung hat es nicht verstanden, die ihm innewohnenden Kräfte richtig auszunutzen und einzusetzen. Was damals versäumt wurde, das haben wir jetzt nachzuholen. Es wird uns gelingen, aus der Niederlage von 1918 nach unendlichen Opfern und Leiden einen stolzen Sieg zu gestalten.37

Projektion Einflussreiche Nationalsozialisten in Wien blieben bei ihrem ablehnenden Urteil über den Lueger-Film und suchten weiterhin die Aufführung des Films zu verhindern. Joseph Goebbels diktierte dazu am 11. September 1942 in sein Tagebuch: Eine Zusammenstellung von Urteilen führender Wiener Parteigenossen gibt mir Aufschluss über die dortige Stimmung dem von uns gedrehten Lueger-Film gegenüber. Der Film wird allgemein rundweg abgelehnt, und zwar aus lokalen Wiener Erwägungen heraus. Ich werde 35 Vgl. Goebbels Tagebücher, Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, Bd. 7: Juli 1939 bis März 1940, S. 157 (17.10.1939). 36 Siehe oben das Zitat bei Anm. 17. 37 Goebbels Tagebücher, Teil II: Diktate 1941–1945, Bd. 4: April bis Juni 1942, S. 525 (14.06.1942).

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den Film in anderen Städten in der Ostmark im geschlossenen Kreis vorführen lassen, um auch dortseits die Stimmung zu erkunden.38

Schließlich setzten sich die Gegner des Lueger-Films unter den Wiener Nazis durch. In einem Bericht der Wien-Film vom 29. Dezember 1942 heißt es: Der Film „Wien 1910“ stand unter keinem günstigen Stern. Die politischen Einflüsse führten zu Drehbuchänderungen und Nachaufnahmen. Auf Einspruch der Parteistellen in Wien kann dieser Film in der Ostmark, den Sudetengebieten und einigen anderen Teilen des Reiches nicht vorgeführt werden.39

Der manchmal in der Literatur genannte Wiener Uraufführungstermin 16. April 1943 fand nicht statt.40 Der Film wurde in Berlin am 26. August 1943 uraufgeführt41 und kam in der ‚Ostmark‘ nicht in den Verleih, obwohl er bereits ein Jahr zuvor von der Berliner Film-Prüfstelle „zur öffentlichen Vorführung im Deutschen Reiche, auch vor Jugendlichen vom vollendeten 14. Lebensjahr ab, zugelassen“ war.42 In einer Liste der Einspielergebnisse vom 12. Jänner 1945 wird „Wien 1910“ mit nur 2,1 Millionen Reichsmark an letzter Stelle genannt.43 Die Produk­ tionskosten waren mit 2.317.529,02 Reichsmark deutlich höher gewesen.44 „Wien 1910“ zeichnete Lueger sehr positiv als Liebling des Volkes und vor allem als Kommunalpolitiker, der sich erfolgreich und zum Wohle der Stadt sowohl gegen die Kapitalisten und Spekulanten durch38 Goebbels Tagebücher, Teil II: Diktate 1941–1945, Bd. 5: Juli bis September 1942, S. 480 (11.09.1942). 39 Wien-Film „Bilanz nebst Gewinn- und Verlust-Rechnung per 30. November 1942“, Wien, 29. 12. 1942, BA, R 55/1326, fol. 233 – Mikrofiche 5. 40 Weder in der Wiener Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ noch im „Neuen Wiener Tagblatt“wird an diesen Tagen eine Aufführung erwähnt. Wenn in der Aufstellung der Wien-Film GmbH zu „Filme in Auswertung (1942/43 uraufgeführt)“ als Beilage zur Prüfung des Jahresabschlusses vom 31.5.1943 (BA, R 2/4815a, fol. 446 – Mikrofiche 9) der Uraufführungstermin 16.4.1943 genannt wird, so bedeutet das, dass entweder die Aufführung unangekündigt stattfand  – was unwahrscheinlich ist – oder dass der Eintrag in dieser Aufstellung noch ohne Wissen um die Verschiebung gemacht wurde. 41 Vgl. handschriftliche Aufschrift auf „Das Programm von Heute“ zu „Wien 1910“ mit der Abbildung von Lil Dagover, URL: http://film.virtual-history.com/program.php?id=957 (03.05.2010). 42 Zensurkarte Prüf-Nr. 57502 im BA, Abt. Filmarchiv. 43 Drewniak, Der deutsche Film, S. 631. 44 Lt. Aufstellung der Wien-Film GmbH „Filme in Auswertung“ als Beilagen zum Jahresabschluss der Wien-Film GmbH zum 31. 5. 1943 (BA, R 2/4815a, fol. 446 u.a. – Mikrofiche 9). In der Aufstellung der Herstellungskosten der acht Filme des Produktionsjahres 1941/42 der Wien-Film (Bilanz per 30. November 1942, BA, R 55/1326, fol. 5) lagen die Kosten für fünf der Filme deutlich unter 2 Millionen RM. Nur „Wiener Blut“(mit 2.670.565,30 RM) und vor allem „Heimkehr“ (mit 3.517.767,53 RM) hatten nach dieser Bilanz höhere Kosten. Im Protokoll der Aufsichtsratssitzung der Wien-Film vom 9.1.1943 (BA, R 55/1326, fol. 252 – Mikrofiche 6) werden die großen Steigerungen der Produktionskosten in diesem Jahr darauf zurückgeführt, „dass der Dokumentarfilm ‚Heimkehr‘ besondere Aufwendungen erforderte“. Die Bezeichnung Dokumentarfilm dürfte für Propagandafilm stehen oder die als besonders realistisch gelobte Filmsprache dieses Films bezeichnen.

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setzte, wie auch gegen die jüdisch geführte Sozialdemokratie und ihre Presse. Der LuegerDarsteller Rudolf Forster wurde mithilfe des Maskenbildners und durch seine Sprache und Gestik zum Ebenbild des Volkstribuns. Sympathie und Mitgefühl des Publikums wurden auf ihn gelenkt, auf den vom Tod gezeichneten, erblindeten Freund der Kinder und der einfachen Leute, der auch in seiner Sterbestunde nur um das Wohl seiner Wienerstadt besorgt war. Heinrich George als Schönerer gibt den unbeirrbaren Visionär und hat keine emotionalen, nur ideologische Mittel, um das Publikum für sich zu gewinnen. Wenn ihm das freilich beim heutigen Publikum nicht gelingt, so ist doch deutlich, dass der hier gezeichnete Schönerer 1943 die einzig ‚richtige‘ Auffassung vertrat: Er war damals nicht das ‚negative Gegenbild‘ zu Rudolf Forsters ‚Lueger‘,45 sondern die starke, ‚männlich‘-konsequente, mit Autorität ausgezeichnete Führerpersönlichkeit. So hieß es in der Werbebroschüre zum Film: Lueger hat den vergeblichen Versuch gemacht, die absterbende Monarchie zu retten. Schönerer weiß, dass es zu spät ist. Nicht Luegers Werk, sondern Schönerers Idee gehört die Zukunft. Unversöhnlich scheiden die beiden, aber sie können sich die gegenseitige Achtung nicht versagen.46

Auch in der Besprechung im „Völkischen Beobachter“, Berliner Ausgabe, wird der „mit scharfen Klingen und in einer schönen Geistigkeit und mit leidenschaftlichem Herzen ausgefochtene Meinungsstreit der Männer [Lueger und Schönerer]“ betont, sowie „die menschliche Stärke der Persönlichkeit“ der beiden.47 Für die „radikalen“48 Wiener Nazis sollte Lueger wohl überhaupt nicht zum Filmhelden werden und schon gar nicht so positiv und emotional gewinnend gezeichnet werden wie in „Wien 1910“. Im Jahr der Produktion des Films, 1942, war von den beiden Alt-Schönerianern Eduard Pichl und Franz Stein in Wien zum 100. Geburtstag Schönerers eine große Ausstellung gemacht worden, unter dem Titel „Georg Ritter von Schönerer, Künder und Wegbereiter des Großdeutschen Reiches“. Als Devise galt der Ausstellung das Schönerer-Zitat: „Alldeutschland ist und war mein Traum und ich schließe mit einem Heil dem Bismarck der Zukunft, dem Erretter der Deutschen und dem Gestalter Alldeutschlands!“49 Für die Schönerianer war ihr Held der einzige Vorkämpfer und Künder Adolf Hitlers. Im Film waren hingegen Lueger 45 So Hamann, Hitlers Wien, S. 435. Er ist damals vielmehr der konsequente Denker, die durch Autorität ausgezeichnete Führerpersönlichkeit; im Film wird der Mythos dementsprechend bereits aufgebaut, bevor Schönerer/ George persönlich auftritt; als er schließlich – sehr spät im Film – auftritt, wird er meist so ins Bild gesetzt, dass wir als Publikum zu ihm aufschauen. 46 Inhalt des Films, in: Bild- und Text-Information der Wien-Film: Wien 1910, S. 3, BA, Abt. Filmarchiv. Vgl. das oben bei Anm. 18 angeführte Zitat aus „Mein Kampf “. 47 Robert Volz: „Wien 1910“. Ein Film über Wiens Bürgermeister Karl Lueger im Tauentzienpalast, in: Völkischer Beobachter [Berliner Ausgabe] (04.09.1943), Zeitungsausschnitt im BA, Abt. Filmarchiv. 48 Vgl. Goebbels-Zitat bei Anm. 26. 49 Hamann, Hitlers Wien, S. 364.

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und Schönerer Vorläufer.50 Die Schönerianer kannten noch „die Vorgänge, die sich um seine Person [d.h. um Lueger in Bezug auf Schönerer, GH] abgespielt haben“ (seine Distanzierung von Schönerer u.Ä.), die in der Auffassung Goebbels’ schon vergessen und für die Aufnahme des Films beim Publikum nicht mehr relevant gewesen sind.51 Auch die antiklerikalen österreichischen Nazis waren gegen Lueger als Filmhelden und sie störte einiges an der positiven Rolle, die dem christlich-sozialen Bürgermeister im Film gegeben wurde. Das Lueger-Bild der antiklerikalen Gruppen unter den Wiener Nazis entsprach nicht dem, das Hitler seit den 1920er-Jahren in „Mein Kampf “ und in Gesprächen vermittelte und welches Goebbels im Film als ‚richtig‘ und hervorragend wiedergegeben lobte. Im Wiener Rathaus gab es in der NS-Zeit jedoch auch Bewunderer Luegers. So schreibt Alexander Spitzmüller52 in seinen Memoiren, Bürgermeister Neubacher habe in der Diskussion um die arisierte Ankerbrotfabrik „den durchaus sachlichen Vorschlag“ gemacht, „die Gemeinde solle einen Teil der Aktien übernehmen und auf diese Art die Wirtschaftspolitik Dr. Luegers fortsetzen, da ja eine Mitwirkung bei der Versorgung der Bevölkerung mit Brot offenbar im Gemeindeinteresse liege“53. Neubacher knüpfte damit kommunalpolitisch explizit an die Lueger-Tradition an. Auch die Anbringung der Gedenktafel am Hauptgebäude der Technischen Universität am Karlsplatz im Oktober 1944, die nach Rückfrage bei der Gemeinde Wien erfolgte und an die Geburt von „Wiens großem Bürgermeister Dr. Karl Lueger“ in diesem Haus am 24. Oktober 1844 heute noch erinnert, verweist auf das positive Bild des Kommunalpolitikers bei einem Teil der Wiener Nationalsozialisten.54 Weder der Luegerring, noch der Luegerplatz in Wien wurden in der NS-Zeit umbenannt – wie auch bis heute nicht.

‚Nachleben‘ Nach 1945 wurde in biografischen Notizen, die zu runden Geburtstagen oder öffentlichen Ehrungen Rudolf Forsters in Wiener Zeitungen erschienen und die in der Zeitungsdoku-

50 Vgl. Martin Rohlik: Die Luegerzeit im Licht des nationalsozialistischen Propagandafilms „Wien 1910“, Diplomarb. Univ. Wien 1997, S. 75 f. 51 Vgl. das Zitat oben bei Anm. 26. 52 Alexander Spitzmüller (1862–1953), 1916/17 österreichischer Handelsminister, 7. 9.–4. 11. 1918 österreichischer Finanzminister, 1919/23 Gouverneur der Österreichisch-Ungarischen Bank bei ihrer Auflösung, 1910/15 und wieder in der Krise 1931/32 Generaldirektor der Credit-Anstalt, 1931/38 Präsident der Ankerbrotfabrik. Vgl. Charlotte Natmeßnig: Alexander Bernhard Julius Frh. Spitzmüller v. Harmersbach, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 24, Berlin 2010, S. 724 f. 53 Alexander Spitzmüller: „… und hat auch Ursach, es zu lieben“, Wien et al. 1955, S. 399. Ich danke Lothar Höbelt für den Hinweis. 54 Vgl. Juliane Mikoletzky: Anekdota. Der Doktor Karl Lueger und die „Technik“: Gedanken zu einer Gedenktafel, in: frei.haus. Zeitschrift für MitarbeiterInnen der Technischen Universität Wien 14 (April 2010). Zur Argumentation des Antragstellers em. Prof. für Geodäsie Eduard Dolezal für die Gedenktafel fand sich keine Quelle.

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mentation der Wien-Bibliothek gesammelt sind, nur der Titel des Films ohne Kommentar genannt.55 In den Zeitungsnotizen aus der gleichen Zeit und zu ähnlichen Anlässen des Regisseurs E. W. Emo (1898–1975) fehlt selbst der Titel dieses NS-Propagandafilms. Lil Dagover (1887–1980)  – sie spielte die Rolle der Marie Anschütz, im Film die große Liebe des Bürgermeisters – schrieb in ihren 1979 publizierten Memoiren über ihre Mitarbeit an dem NSPropagandafilm und rechtfertigte diese damit, dass es erst während der Dreharbeiten zur Politisierung des anfänglich ‚harmlosen‘ Projekts kam:56 der ‚Stoff ‘ nach dem Drehbuch Gerhard Menzels und mit dem für seine Lustspiele beliebten Regisseur Emo sollte „ursprünglich […] eine heitere, wenn auch menschlich bewegende Grundtendenz erhalten“, „die Handlung“ sei jedoch „im Laufe der Arbeit […] in eine höchst politische Affäre umfunktioniert“ worden. Dadurch sei „die ursprüngliche Musikalität und Leichtigkeit des Stoffes verloren“ gegangen und „Rudolf Forster, Heinrich George, Otto Treßler [als Graf Paar, GH] und der junge O. W. Fischer [als Lechner jun., als deutschnationaler Sohn des korrupten altliberalen Gegenspielers von Lueger, GH]“ hätten deshalb ebenso wie sie, „bald den Spaß an der Sache“ verloren.57 Die Wiener Erstaufführung des Films, der nach einem Werbetext der Wien-Film (1943), „die Wiener in besonderem Maße“ anging,58 dürfte tatsächlich erst am 22. November 1970 im Bellaria-Kino gewesen sein. Gegen die Vorführung kam es zu „einer handfesten antifaschistischen Demonstration“.59 Rund 20 Jugendliche [„jüdische Hoch- und Mittelschüler“60] protestierten gegen die Aufführung des Nazifilms „Wien 1910“. […] Die Jugendlichen warfen aus Protest gegen die nunmehr erfolgte österreichische Erstaufführung des Nazimachwerkes mehrere mit Farbe gefüllte Plastiksäckchen auf die Kinoleinwand. Im Kino entstand durch die verspritzte Farbe 55 Es war Rudolf Forsters (1884–1968) erster Film nach seiner Rückkehr 1940 aus den USA. Zu seiner Reise 1939/40 von der Westküste der USA über Japan, China, Moskau nach Wien, mit deren Schilderung seine Autobiographie endet, Vgl. Rudolf Forster: Das Spiel mein Leben, Frankfurt a. M. 1967. Hier finden sich freilich – im Gegensatz zu den Schilderungen in den Wiener Zeitungen 1940, die in der Wien-Bibliothek, Bestand „Tagblattarchiv“, gesammelt sind – keine Spitzen gegen die USA. 56 Sie spielte damit auf die oben erwähnte Veränderung in der Themenstellung an: vom Film über Luegers Kommunalpolitik und seinen Kampf gegen das jüdische Kapital – der Antisemitismus Luegers wird von ihr als parteipolitisch motiviert verharmlost – zum Film über die Politik Luegers und Schönerers in einer Gegenüberstellung. 57 Lil Dagover: Ich war eine Dame, München 1979, S. 230 f. 58 Ein Film über Lueger, in: Bild- und Text-Information der Wien-Film: Wien 1910, S. 8, BA, Abt. Filmarchiv. 59 Wirbel bei Nazifilm „Wien 1910“, in: Volksstimme. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs Nr. 272 (24.11.1970), S. 4. Vgl. auch Drewniak, Der deutsche Film 1938–1945, S. 303. Drewniak berichtet als „Zeitzeuge“, da er zufällig zu dieser Zeit in Wien war. 60 Film „Wien 1910“ zurückgezogen, in: Volksstimme Nr. 274 (26.11.1970), S. 1: „Die israelitische Kultusgemeinde teilt mit: ‚Der im Jahre 1942 gedrehte Nazifilm ›Wien 1910‹, dessen Aufführung am Sonntag den 22. November durch jüdische Hoch- und Mittelschüler im Bellaria-Kino gestört wurde, wurde nach Interventionen der Kultusgemeinde bei Innenminister Rösch, Justizminister Dr. Broda und Polizeipräsident Holaubek zurückgezogen und wird nicht mehr aufgeführt werden.‘“

Sozialwissenschaftler/innen „Wien 1910“ oder Zeithistoriker/innen

beträchtlicher Sachschaden. Durch ein größeres Aufgebot von Polizisten konnte die ‚Ruhe und Ordnung wiederhergestellt‘ werden. Neun Personen wurden festgenommen und nach einer Verwaltungsstrafe beziehungsweise Einvernahme wieder entlassen.61

61 Wirbel bei Nazifilm „Wien 1910“, in: Volksstimme Nr. 272 (24. 11. 1970).

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Österreich im Kalkül der Hitler’schen Außenpolitik In der zeitgeschichtlichen Forschung besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass die Außenpolitik Adolf Hitlers durch ein hohes Maß an Zielgerichtetheit und planmäßiger Voraussicht bestimmt war. Darüber tritt die Frage, worauf spezifische Fixierungen des Diktators gerade im außenpolitischen Bereich zurückzuführen sind, häufig in den Hintergrund. Gerade wenn man die ideologischen Vorprägungen durch sein Österreichertum in Betracht zieht, erhebt sich die Frage nach der Entstehung der den späteren Diktator kennzeichnenden außenpolitischen Denkmuster. Dies hängt mit dem Problem zusammen, inwieweit die zeitgenössische Sicht des Zerfalls der Habsburgermonarchie Hitlers ostpolitische Vorstellungen beeinflusst hat. Im Gegensatz zum Hauptstrom des deutschen Nationalismus der Weimarer Zeit betrachtete Hitler das Bündnis des Deutschen Kaiserreichs mit der österreichisch-ungarischen Monarchie als Kardinalfehler des Spätwilhelminismus. Als erklärter Anhänger des österreichischen Alldeutschtums vermochte er der viel apostrophierten „Nibelungentreue“ nichts abzugewinnen. Er bezog sich auf Otto von Bismarck, wenn er die starre Bindung des Reiches an Österreich-Ungarn als fundamentale außenpolitische Fehlentscheidung hinstellte, verkannte jedoch die friedenssichernde Funktion des Rückversicherungsvertrags. Er beklagte, dass deutsches Blut vornehmlich zu dem Zweck vergossen worden sei, der zum Untergang verurteilten habsburgischen Monarchie eine Galgenfrist zu gewähren. Das Versagen der österreichischen Armee habe immer wieder deutsche Kräfte gebunden, die an anderer Stelle überlebensnotwendig gewesen seien. Sein Hass gegen die alte Monarchie veranlasste ihn zu grotesk anmutenden Schlussfolgerungen: Statt wegen der Eisenvorkommen von Longwy und Brie Frankreich anzugreifen, wäre es besser gewesen, die deutschen Gebiete Österreichs zurückzuerobern. Das Ressentiment des Auslandsösterreichers Hitler gegen die habsburgische Dynastie und das angeblich mit ihr verbündete Tschechentum wirkte noch nach, als er 1924 öffentlich gegen die Aberkennung seiner österreichischen Staatsbürgerschaft protestierte.1 Noch bei der Niederschrift von „Mein Kampf “ wiederholte er den Vorwurf, dass sich das Deutsche Reich durch das Bündnis mit Österreich-Ungarn unnötige Feinde geschaffen habe. Sogar der Konflikt mit Russland wäre vermieden worden, wenn das Deutsche Reich aktiv auf die Auflösung der Donaumonarchie hingearbeitet hätte. „Würde Deutschland selbst an der Aufteilung des unmöglichen Habsburgerstaates teilgenommen haben“, heißt es im „Zweiten Buch“, und „hätte es diese Aufteilung aus nationalpolitischen Gründen als eigenes politisches Ziel aufgestellt“, würde die europäische Entwicklung einen anderen Verlauf genommen und Deutschland nicht die Feindschaft all jener Völker auf sich gezogen haben, die darauf aus waren, den Vielvöl1 Adolf Hitler: Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, hg. v. Eberhard Jäckel, Stuttgart 1980, S. 1246 f.

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kerstaat zu beerben. Dadurch hätte auch vermieden werden können, dass der deutsche Teil Südtirols an Italien fiel.2 Was Hitlers außenpolitische Spekulationen der 1920er-Jahre angeht, erscheinen allein seine dogmatisch anmutende Option für Italien und die daraus folgende Preisgabe Südtirols einigermaßen originell. Allerdings war der Südtirol-Verzicht, den er nur mit Mühe in seiner Gefolgschaft durchsetzte, noch 1922 nicht völlig fixiert.3 Es war ungewöhnlich, dass Hitler die in Österreich-Ungarn allenthalben vorherrschende ethnische Geringschätzung der Italiener nicht oder nicht nennenswert teilte. Offenbar wirkte die Reminiszenz an die antislawische Einstellung der italienischen Volksgruppe in der Monarchie nach. Hitlers skizzenhafte Erwägungen über die Zukunft derjenigen slawischen Gebiete der Monarchie, die aus seiner Sicht weder Deutschland noch Italien oder Ungarn zuzuschlagen waren, wurden nicht zu Ende gedacht, wie bei ihm überhaupt ein konzises Konzept für die angestrebte Neugliederung des Donauraums fehlt. Zum Dogma wurde jedoch die These, dass das Deutsche Reich sich auf ein Bündnis mit England und Italien abstützen müsse, um eine Wiederholung der Einkreisung zu verhindern.4 Was die innere Politik der Donaumonarchie angeht, unterstrich der künftige Diktator, dass das Bündnis mit Wien dem Deutschen Reich nicht nur ohne Not die Feindschaft des zaristischen Russland eingetragen, sondern auch die habsburgischen Kabinette in die Lage versetzt hätte, „in aller Ruhe und ohne Sorge vor deutschen Einmischungen das Deutschtum in Österreich auszulöschen“,5 womit er nun die Wahrheit auf den Kopf stellte. In die gleiche Richtung zielte das wiederholt geäußerte Argument, die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts habe zur Ausschaltung des deutschen Elements geführt. Das war ein Reflex der deutschnationalen Kritik an der relativen Zurückdrängung der deutschen Vorherrschaft, die in der Ära Taaffe eingesetzt hatte.6 Hitler erblickte in der habsburgischen Monarchie einen rassischen Schmelztiegel, der das Deutschtum mit Verschweizerung und rassischer Durchmischung bedrohte. Er neigte dazu, sie mit der Hauptstadt Wien zu identifizieren. Diese „Riesenstadt“, heißt es in „Mein Kampf “, sei eine „Verkörperung der Blutschande“, und er überzog sie mit bitterer Verachtung.7 Ähnlich spricht er von Österreich im „Zweiten Buch“ als einem künstlich zusammengeleimten, in sich aber unnatürlichen Gebilde, das vom „wurzellosen Geist“ Wiens, „jener Mischlingsstadt von   2 Adolf Hitler: Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928, hg. v. Gerhard L. Weinberg, Stuttgart 1961, S. 88 ff.   3 Vgl. Jens Petersen: Hitler-Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin–Rom 1933–1936, Tübingen 1973, S. 65.   4 Vgl. Axel Kuhn: Hitlers außenpolitisches Programm 1919–1939, Stuttgart 1970, S. 44 f. und 72 ff.; Klaus Hildebrand: Deutsche Außenpolitik 1933–1945. Kalkül oder Dogma, Stuttgart 51990; vgl. auch Günter Wollstein: Vom Weimarer Revisionismus zu Hitler, Bonn / Bad Godesberg 1973, S. 74.   5 Hitlers Zweites Buch, S. 90 f.   6 Vgl. Robert A. Kann: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, Bd. 2, Wien 1964; ders.: Werden und Zerfall des Habsburgerreiches, Graz 1962.   7 Adolf Hitler: Mein Kampf, 67. Aufl., München 1933, S. 135.

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Orient und Okzident“ geprägt sei.8 An anderer Stelle spricht er vom „Bastardkessel Wien“, aus dem „nichts Großes mehr herauswachsen könne“.9 Es würde kaum weiter führen, die durchaus widersprüchlichen Äußerungen Hitlers zum alten Österreich und zur Vorkriegspolitik auf Konsistenz abzuklopfen. Es ist unverkennbar, dass ein tief sitzender Hass gegen die habsburgische Monarchie auch späterhin das außenpolitische Denken des Diktators beeinflusst hat. Jedenfalls finden sich die auf die Monarchie bezogenen Vorbehalte in wenig veränderter Form auch in seinen Urteilen über die Republik Österreich wieder. Sein Klischee von Wien änderte sich im Verlauf der 1920er-Jahre nicht, nur trat das antisemitische Ressentiment noch stärker in den Vordergrund. Er unterstellte den österreichischen Eliten, zumal der legitimistischen „Partei“, eine profranzösische Tendenz und meinte, dass der französische Einfluss in Wien „ein wesentlich ausschlaggebenderer“ sei als selbst der deutsche. Das gelegentliche Liebäugeln der österreichischen Führungsschichten mit dem Anschluss entspringe eigentlich dem Bedürfnis, sich finanzielle Kompensationen durch Paris zu verschaffen.10 Er behauptete sogar, dass eine Eventualität bestünde, dass Österreich als Satellit Frankreichs einen Keil zwischen Deutschland und Italien zu treiben versuche. Aus diesem reichlich konstruierten Zusammenhang heraus verstieg sich Hitler dazu, rückhaltlos und gegen starke Widerstände in der eigenen Bewegung für den Verzicht auf Südtirol und für ein deutsch-italienisches Zusammengehen zu plädieren. Mit der Preisgabe der Brennergrenze hoffte er, Italien zur Nachgiebigkeit in der Anschlussfrage bewegen zu können. Um das französische Bündnissystem in Europa zu durchkreuzen, werde es letzten Endes für den Anschluss „eintreten“ müssen, schon um die Stoßrichtung des deutschen Nationalismus nach Süden abzulenken.11 Dieses Wunschdenken ließ Hitler im Juli 1934 die außenpolitischen Implikationen unterschätzen, welche die reichsdeutsche Intervention in die innere Politik Österreichs bis zum Juliputsch auslöste. Analog zu seiner Beurteilung der habsburgischen Monarchie sprach Hitler der Republik Österreich jegliche Lebensfähigkeit ab. Er gab sich der Vorstellung hin, dass sich die Österreich-Frage durch innenpolitischen Druck von selbst lösen werde, zumal er den politischen Rückhalt von Bundeskanzler Dollfuß für verschwindend gering einschätzte und davon sprach, dass der österreichische Staat nur von Frankreich, der Tschechoslowakei und Italien gestützt würde.12 Er war nicht gesonnen, Österreich im Falle einer Eingliederung als regionale Einheit zu erhalten. Ein Anschluss war für ihn gleichbedeutend mit der Eliminierung der Rolle Wiens als politischem und kulturellem Zentrum. Die Gaueinteilung der späteren Ostmark folgte daher der lang gehegten Absicht, die auf Wien bezogene österreichische Identität auszulöschen.13   8   9 10 11 12

Hitlers Zweites Buch, S. 132. Zit. nach Rainer Zitelmann: Hitler. Eine politische Biographie, Göttingen 1989, S. 266. Hitlers Zweites Buch, S. 208. Ebda., S. 209. Akten der Reichskanzlei, Die Regierung Hitler, Bd. I: 1933/34, Teilbd. 2, hg. v. Karl Dietrich Erdmann, Boppard 1983, S. 868. 13 Vgl. Karl Stadler: Nachwort: Provinzstadt im Dritten Reich, in: Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien.

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Er betrachtete Wien nach wie vor als einen Fremdkörper und ging von der Vorstellung aus, dass die Wiener Führungsschicht, die er für durch und durch jüdisch beeinflusst glaubte, eine Art Fremdherrschaft über das übrige Österreich ausübte. Nicht zufällig äußerte er in der durch die Hoßbach-Niederschrift bekannt gewordenen Besprechung mit den Oberbefehlshabern der Wehrmacht vom 5. November 1937, dass im Falle einer Eingliederung eine zwangsweise Ausbürgerung von einer Million Menschen aus Österreich erfolgen müsse. Dabei bezog er sich keineswegs nur auf den jüdischen Bevölkerungsteil.14 Die merkwürdige Wendung in Hitlers Schreiben an Benito Mussolini vom 11. März 1938, wonach in Österreich „eine verschwindende Minderheit die Mehrheit misshandelt, die nationale Ideen hat“,15 gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die Formulierung, dass er sich entschlossen habe, „den Millionen Deutschen in Österreich nunmehr die Hilfe des Reiches zur Verfügung zu stellen“.16 In dieselbe Richtung zielte der Vorwurf gegen das Kabinett Schuschnigg, dass es den Aufmarsch einer fremden Macht an der Grenze zu Deutschland zulasse. Er spitzte 1943 diese Polemik mit der von Baldur von Schirach überlieferten Äußerung zu, dass Wien eigentlich nie in den Verband des Deutschen Reiches hätte eingegliedert werden dürfen.17 Die gegenüber Österreich verfolgte Strategie war von dem Grundwiderspruch geprägt, dass Hitler einerseits an der großdeutschen Orientierung festhielt, andererseits aber den Primat guter Beziehungen zum faschistischen Italien nicht aufopfern wollte. Offenbar glaubte er, die Außenpolitik des Reiches und die Strategie der mit Berlin kooperierenden österreichischen NSDAP voneinander trennen zu können. Während er die österreichischen Parteigenossen zu radikalerem Vorgehen ermutigte, erklärte er nach außen hin, dass an einen Anschluss Österreichs einstweilen nicht gedacht sei, und gab er sich der Hoffnung hin, unbequeme Optionen vermeiden zu können. Der Versuch, die Donaurepublik als rein innenpolitisches Problem hinzustellen und auf diese Weise den italienischen Protest zu unterlaufen, scheiterte bekanntlich auf der ganzen Linie. Hitler erkannte widerstrebend, dass sein Zusammentreffen mit Mussolini an dessen reservierter Haltung in der Österreich-Frage nichts geändert hatte. Die Folge bestand in einem schweren internationalen Prestigeverlust der deutschen Politik. Seine Mitverantwortung für den Juliputsch und die Ermordung von Dollfuß war nicht abzuleugnen. Dieses diplomatische Desaster entsprang einer unkoordinierten und mehrgleisigen Politik. Hitler war über

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Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, überarb. u. erw. Neuaufl., Wien 2008, S. 677– 689, hier 679 f. Friedrich Hoßbach: Zwischen Wehrmacht und Hitler 1934–38, Göttingen ²1965, S. 181–189. Vgl. Alfred Kube: Pour le mérite und Hakenkreuz. Hermann Göring im Dritten Reich, München 1986, S. 239. Vgl. Walter Bußmann: Zur Entstehung und Überlieferung der Hoßbach-Niederschrift, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 16.4 (1968), S. 373–384, sowie Akten zur deutschen auswärtigen Politik (ADAP), Serie D: 1937–1945, Bd. 1: Von Neurath zu Ribbentrop (Sept. 1937–Sept. 1938), hg. v. Walter Bußmann, Göttingen 1950, S. 469. Stadler, Nachwort, S. 679.

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die Putschvorbereitungen nur unzureichend unterrichtet gewesen. Es entsprach seinem politischen Stil, Initiativen von unten zu ermutigen, sofern seine persönliche Autorität dadurch nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Nach dem Debakel des Juliputsches trat Hitlers Interesse an der Österreich-Frage zurück. Bezeichnenderweise entsandte er Franz von Papen und nicht einen Exponenten der NSDAP zur Schadensbegrenzung nach Wien. Das Anschluss-Problem verlor schon im Herbst 1934 die bisherige Dringlichkeit, zumal es sich als Illusion herausstellte, einen raschen Prestigeerfolg erringen zu können. Hitler tröstete sich mit der Erwartung, dass es sich im Lauf der Zeit von selbst lösen würde. Spätestens 1936 war Hitler bereit, die Österreich-Frage auf Jahre hinaus aufzuschieben, wollte aber eine öffentliche Festlegung, die als persönliches Zurückweichen hätte aufgefasst werden können, vermeiden. Er mochte dabei hoffen, dass die inzwischen eingetretene Wendung der faschistischen Politik zugunsten der italienischen Expansion in Nordafrika und das Ausscheren Roms aus der Stresa-Front die direkte und indirekte Penetration Österreichs durch das Deutsche Reich begünstigte. Jedenfalls untersagte Hitler vor dem Abschluss des Juliabkommens mit Wien jedes militante Vorgehen der österreichischen Parteigenossen mit dem Argument, dass die außenpolitischen Interessen des Reiches in den nächsten zwei Jahren keine Initiative in Österreich zuließen.18 In der Tat erwies sich die durch von Papen eingeleitete evolutionistische Taktik als wesentlich erfolgreicher als die Aktionen der in sich zerstrittenen und durch die Illegalisierung geschwächten österreichischen NSDAP. Indessen trat mit Hermann Göring, inzwischen Chef des Vierjahresplans, ein neuer Spieler auf den Plan. Die bislang von Baron Konstantin von Neurath bestimmte amtliche Außenpolitik hatte sich darauf beschränkt, die Politik der Präsidialkabinette fortzusetzen und auf lange Sicht den Einfluss des Deutschen Reichs in Südosteuropa auszubauen. Hermann Göring, dessen außenpolitische Ambitionen in der Regel nicht mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt waren, machte sich nunmehr zum Anwalt einer verstärkten wirtschaftspolitischen Penetration der südosteuropäischen Staaten, die er aus rüstungspolitischem Interesse voranzutreiben suchte. Er nahm dabei bewusst in Kauf, das Deutsche Reich in einen Konflikt mit Mussolini zu verwickeln, während Hitler das unter allen Umständen zu vermeiden suchte. Damit wurde Göring nach 1936 zum eigentlichen Motor der Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich, die er, im Unterschied zu Hitler, gegenüber ausländischen Diplomaten und selbst gegenüber Vertretern der österreichischen Regierung offen als natürliches Ziel der reichsdeutschen Politik hinstellte. Im Unterschied zu der zunächst von Hitler verfolgten Strategie, den Anschluss auf dem Wege der politischen Unterminierung der Alpenrepublik durch die österreichische NSDAP zu erreichen, beabsichtigte Göring, durch wohldosierten ökonomischen Druck eine partielle Gleichschaltung Wiens herbeizuführen. Er griff dabei auf die Zielsetzung zurück, die Hein18 Vgl. Norbert Schausberger: Ökonomisch-politische Interdependenzen im Sommer 1936, in: Ludwig Jedlicka, Rudolf Neck (Hg.), Das Juliabkommen von 1936. Vorgeschichte, Hintergründe und Folgen, Wien 1977, S. 287.

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rich Brüning und Julius Curtius mit dem Zollunionsplan 1932 verfolgte hatten, nur dass die nun von Göring angewandten Methoden an Rüdheit nicht mehr zu überbieten waren. Neben der Forderung einer Währungsunion drängte das Reich unter Berufung auf die Bestimmungen des Juliabkommens zu Maßnahmen, die auf eine gemeinsame Außen- und Militärpolitik hinausliefen, an deren Ende der „Anschluss“ stehen sollte.19 Hitlers Beweggründe und Absichten sind sehr viel schwerer zu bestimmen. Persönlich war er an den Problemen Südosteuropas nur in untergeordnetem Maße interessiert. In seinen Programmschriften finden sie nahezu keine Erwähnung. Sympathien bekundete er gegenüber Ungarn, dessen „natürlicher“ Gegensatz zu Jugoslawien die Chance zu bieten schien, Horthy zum Beitritt zu der angestrebten „Interessengemeinschaft“ Deutschlands, Italiens und Englands zumindest inoffiziell zu bewegen.20 Anders als Göring dachte er an eine Aufteilung der Interessensphären, die den Südosten gänzlich Italien überließ, während sich das Deutsche Reich auf einen umfassenden Territorialerwerb „im Osten“ konzentrieren sollte. Für Hitler stand die „Lösung“ der tschechoslowakischen Frage im Vordergrund. Aus seinen Ausführungen vor den Befehlshabern der Wehrmachtsteile am 5. November 1937 geht hervor, dass in seinem Zeitplan die Unterwerfung der Tschechoslowakei vor der Anschluss-Frage rangierte. Während Göring bereits die Minen für eine Aufsprengung des Ständestaats legte, erwog Hitler, die Annexion Österreichs möglicherweise bis zum Tode Mussolinis aufzuschieben.21 Offensichtlich war er zu diesem Zeitpunkt nicht hinreichend über den Entwicklungsstand der Österreich-Frage informiert.22 Tatsächlich fiel die Initiative vollends Göring zu, der zunehmend an die Spitze der deutschen Außenpolitik trat, zumal Hitler ihn zu seinem Polenbeauftragten machte. Görings selbstherrliche Balkandiplomatie rief die wachsende Missbilligung durch Mussolini hervor, der durch die Verkündung der Achse Berlin–Rom versuchte, die drohende Isolierung zu vermeiden. Görings Offerten gegenüber Jugoslawien und Rumänien riefen erhebliche Befürchtungen in Budapest und Rom vor einer Annäherung des Deutschen Reiches an die Kleine 19 Vgl. Stefan Martens: Hermann Göring. „Erster Paladin des Führers“ und „Zweiter Mann im Reich“, Paderborn 1985, S. 91 ff. 20 Vgl. Hitlers Zweites Buch, S. 92 f. sowie S. 177 und 187, und Kube, Pour le Mérite, S. 78 f. 21 Vgl. Hitlers Zweites Buch, S.  239 ff. Die Argumente, mit denen Georg Christoph Berger Waldenegg: Hitler, Göring, Mussolini und der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, in: VfZ 51.2 (2003), S. 147–182, die Analysen von Kube, Pour le mérite, S. 156, zurückweist, sind nicht überzeugend, auch wenn er sich dabei auf eine Reihe von Autoren beruft, die ebenfalls die Möglichkeit a limine zurückweisen, dass Hitler sich im Schlepptau Görings bewegte, die mit der vorherrschenden Hitler’schen Interpretation in der Tat nicht in Übereinstimmung gebracht werden kann. Die Vorstellung, dass Hitler erst schrittweise in die Anschlusspolitik hineingetrieben wurde, passt nicht zu der Interpretation, die den Diktator in allen wesentlichen Punkten als Initiator der politischen Entscheidungen begreift, während erst die Konstellation nach dem Anschluss Hitler dazu veranlasste, die bisher eingenommene außenpolitische Zurückhaltung aufzugeben. 22 Hitlers Zweites Buch, S. 245. In der Besprechung mit den Führern der österreichischen NSDAP am 26. Februar erklärte sich Hitler ausdrücklich dafür, „dass der evolutionäre Weg gewählt werde“ und dass er wünsche, dass eine „gewaltmäßige Lösung“ vermieden werden. Vgl. Waldenegg, Hitler, S. 169 ff.

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Entente hervor, eine Folge seiner chaotischen Amateurdiplomatie, die gegen Hitlers Willen die Beziehungen zu Rom schwer belasteten. Hitler selbst war völlig fixiert auf die tschechoslowakische Frage, wobei deren strategische Bedeutung und militärisches Gewicht den Ausschlag gaben, während die Berufung auf die angebliche Unterdrückung der Sudentendeutschen bloß taktischen Charakter besaß. Bezeichnenderweise bemühte sich Hitler darum, die Stoßrichtung der ungarischen Außenpolitik gegen die Tschechoslowakei zu lenken. Seit der Konsolidierung des NS-Regimes stellte sie das Hauptangriffsziel dar, und die Polenpolitik war aus seiner Perspektive in erster Linie darauf gerichtet, die ČSR zu isolieren. Wie wenig Hitler mit den südosteuropäischen Initiativen Görings befasst war und wie wenig Interesse er der Schaffung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsraums entgegenbrachte, ging nicht zuletzt aus Görings Ernennung zum Sonderbeauftragten zur Lösung der polnischen Frage hervor, die von Neurath und Göring nur auf dem Umweg über die angestrebte südosteuropäische Penetration aufzurollen gedachten.23 Göring verschärfte hingegen kontinuierlich den ökonomischen und diplomatischen Druck auf Österreich und die Einladung von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg auf den Obersalzberg kam seiner Absicht, die ÖsterreichFrage definitiv aufzurollen, entgegen. Für Göring besaß der Anschluss Österreichs, den er frühzeitig als demnächst vollendete Tatsache ansah, eine sowohl ökonomische wie nationalpolitische Funktion, auch im Hinblick auf die kritische Rohstoffversorgung des Reiches.24 Für Hitler handelte es sich primär um eine Frage des persönlichen Prestiges. Sein primäres Ziel bestand darin, einen Konflikt mit Italien trotz der entgegengesetzten Interessen in Südosteuropa möglichst zu vermeiden. Er war daher nicht die treibende Kraft zur Erzwingung der Annexion Österreichs, obwohl er das Erpressungsmanöver gegenüber Schuschnigg, das die Wendung zum Anschluss brachte, selbst inszeniert hatte. Bis zu seinem spektakulären Auftritt in Linz scheute Hitler vor einer förmlichen Aufhebung der staatlichen Unabhängigkeit zurück und erwog, Österreich in Form einer Personalunion mit dem Deutschen Reich zu verbinden.25 Für das bis zuletzt anhaltende Zögern des Diktators ist die überschäumende Dankbarkeit kennzeichnend, die er Benito Mussolini für dessen Einlenken in der Anschluss-Frage bezeugte. Dazu gehörte auch die ausdrückliche Zusicherung der Brenner-Grenze und die Erwägung, die Südtiroler deutscher Minderheit abzusiedeln.26 Es war charakteristisch, dass sich Hitler bei den letzten Schritten der Österreich-Politik von Baron von Neurath beraten ließ und den in London weilenden neuen Außenminister von Ribbentrop nicht hinzuzog. Gleichwohl vollzog sich in diesen Wochen ein grundlegender Wandel des außenpolitischen Stils in Berlin, indem Hitler seine bis dahin dominierende Handlungs23 Kube, Pour le mérite, S. 109 f. 24 Vgl. Hans Mommsen: The position of Hitler and Göring, in: Thomas Childers, Jane Caplan (Hg.), Reevaluating the Third Reich, New York / London 1993, S. 86–97. 25 Vgl. Ian Kershaw: Hitler 1936–1945, Stuttgart 2000, S. 126–129; Nikolaus von Below: Als Hitlers Adjutant 1937–1945, Mainz 1980, S. 92. 26 Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMG), 42 Bde., Nürnberg 1947–1949, hier: Bd. 31, Dok. 2949 PS, S. 354–384; Vgl. Kube, Pour le mérite, S. 245.

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scheu aufgab.27 Dies hing mit einer unausgesprochenen Rivalität mit Hermann Göring zusammen, der die entscheidenden Schritte zum „Anschluss“ vollzogen hatte. Bezeichnenderweise blieb Göring als sein bevollmächtigter Vertreter in Berlin zurück, während Hitler sich als Befreier des Deutschtums in Österreich feiern ließ; dies entsprang auch dem Motiv, dessen Anteil an dem überwältigenden außenpolitischen Erfolg nicht zu sehr hervortreten zu lassen.28 Mit Recht hat Alfred Kube festgestellt, dass von einem planmäßig und zielstrebig herbeigeführten „Anschluss“ nicht die Rede sein kann, dieser vielmehr eher akzidenziell herbeigeführt wurde. Bis zum letzten Moment legte Hitler ein hohes Maß an „Unentschlossenheit“ an den Tag und musste förmlich von Göring vorangetrieben werden, der darauf drängte, die Schwäche der österreichischen Regierung zur Herbeiführung der von ihm seit langem angestrebten „Totallösung“ zu nutzen, und dem zögernden Diktator die Initiative aus der Hand nahm.29 Zwar war Göring an der Einladung Kurt Schuschniggs nach Berchtesgaden nicht beteiligt, aber er war es, der dessen Ankündigung des Plebiszits und dann dessen Rücktritt nützte, um die deutsche Intervention in Gang zu setzen.30 Es war bezeichnend, dass Hitler erst im letzten Moment auf das bereits rollende Fahrzeug des Anschlusses aufsprang und die Losung ausgab, dass die „Bereinigung der tschechischen Frage“ nicht mehr so eilbedürftig sei, ohne jedoch die Vorbereitungen für den Fall Grün, die Besetzung der ČSR, zu unterbrechen. Es kostete ihn keine große Überlegung, um sogleich wieder zu diesem vorrangigen außenpolitischen Ziel zurückzuwechseln.31 Mit dem Anschluss schien eine definitive Abgrenzung der Interessensphären erreicht, die Hitler instand setzte, gegen Prag gewaltsam vorzugehen, wenn eine günstige Konstellation dafür eintrat. Der ungeheure Prestigegewinn, den der Anschluss trotz der fragwürdigen Umstände, unter denen er zustande gekommen war, zeitigte, bestärkte ihn in dem Glauben an den Erfolg seiner Vabanque-Politik und in dem Entschluss, die Initiative in der äußeren Politik wieder an sich zu ziehen. Die passive Reaktion der Westmächte gegenüber einer Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich erleichterte ihm den Entschluss, die tschechoslowakische Frage nicht mit den Mitteln der Diplomatie, sondern von Anfang an durch militärisches Eingreifen zu lösen. Bei dieser Willensbekundung Hitlers spielte nicht zuletzt die hintergründige Rivalität mit dem so erfolgreichen Hermann Göring, dem er 1933 das diplomatische Parkett, auf dem er sich nicht sicher fühlte, vorübergehend überlassen hatte, eine wichtige Rolle. Dessen „Vorbehalte gegenüber einer überstürzten militärischen Aktion“ anlässlich der Wochenendkrise vom Mai 193932 leiteten den Abstieg seiner politischen Karriere ein.33 27 Vgl. Kershaw, Hitler, S. 58 f. und 153 f. 28 Bezeichnend war, dass Görings Unterschrift unter das Wiedervereinigungsgesetz erst nachträglich auf Betreiben Paul Körners eingefügt wurde. Vgl. Kube, Pour le mérite, S. 248. 29 Kube, Pour le mérite, S. 239, 242 ff. 30 Ebda., S. 246 ff.; Martens, Hermann Göring, S. 126 ff. 31 Kershaw, Hitler, S. 158 f. 32 Vgl. Kube, Pour le mérite, S. 267 und 301 ff. 33 Vgl. Martens, Hermann Göring, S. 135 ff., 140 ff. und 169 f.

Richard Germann

Neue Wege in der Militärgeschichte Regionale Zusammensetzung „ostmärkischer“ Einheiten am Beispiel dreier Kompanien Anlässlich der Tagung „Terror und Geschichte“ des Clusters Geschichte der Ludwig BoltzmannGesellschaft an der Universität Graz im Dezember 2009 hielt Gerhard Botz in der Beschreibung des von ihm moderierten Panels „Erfahrungsgeschichte des Zweiten Weltkrieges“ fest, dass „Kriegsgeschichte“ als ein emerging market für die Geschichtsforschung gilt. Zweifelsohne trifft diese Einschätzung insbesondere für Österreich zu, wo wissenschaftliche Militärgeschichte für lange Zeit nur knapp über der Wahrnehmungsgrenze gelegen hat. Das Thema „Österreicher“ im Zweiten Weltkrieg wurde hierbei bislang nur gelegentlich angestrahlt und ist insgesamt schwach durchleuchtet. Dies überrascht, zumal nicht weniger als 1,3 Millionen Soldaten österreichischer Provenienz in den Reihen der deutschen Streitkräfte freiwillig oder unfreiwillig eingereiht waren, was immerhin 40,5 Prozent der männlichen Bevölkerung (1939) entsprach.1 Die regionale Zusammensetzung von „ostmärkischen“ Truppenteilen der Wehrmacht ist eine interessante Forschungsfrage. Zwar wird in der Literatur Bezug auf „ostmärkische“ Divisionen2, Regimenter etc. Stellung genommen; verlässliches Zahlenmaterial – ob und inwieweit diese regionale Zuschreibung mit der regionalen Herkunft der Personals korreliert  – liegt hingegen ausgesprochen selten vor. Überlieferungen in Ego-Dokumenten, die regionale Herkunft des Personals betreffend – wie beispielsweise Erlebnisberichte von Kriegsteilnehmern, Divisionsgeschichten etc. –, sind hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Datenmaterials größeren Schwankungen unterworfen und nur mit Vorsicht zu verwenden.3 Die Auswertung der ein1 Rüdiger Overmans: Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 22000, S. 219, Tabelle 24. 2 Es standen keine österreichischen Truppen auf der Seite der Wehrmacht im Felde oder in der Heimat, wie auch keine Österreicher an der Seite der deutschen Streitkräfte kämpften. Ohne jegliche Relativierung entstünde unzulässigerweise ein souverän österreichischer Eindruck. Zwar kämpften in den deutschen Streitkräften Soldaten österreichischer Provenienz – aber als deutsche Reichsbürger. Die Anführungszeichen, welche „Österreicher/österreichisch“ umklammern, stellen gewissermaßen einen Kompromiss zwischen Ausweisung der regionalen Herkunft und Abhängigkeit zum Deutschen Reich dar. Der Terminus „ostmärkisch“ ist am ehesten zur Bezeichnung von Militäreinheiten, die auf dem Gebiet des ehemaligen Österreichs aufgestellt wurden, zu verwenden. 3 Aus quellenkritischer Sicht ergibt sich die Gefahr eines induktiven Schlusses; also wenn Wehrmachtsangehörige die Wahrnehmungen ihrer „näheren“ Umgebung, welche zumeist nicht über die Kompanieebene hinausreichen wird, auf größere Verbände unreflektiert übertragen. Eine Ausnahmesituation stellen u.a. die Überlieferungen von Militärgeistlichen dar, deren Tätigkeitsgebiet sich auf den gesamten Divisionsbereich erstreckte – wenngleich determiniert durch die Konfession (katholisch/evangelisch) – und die sich nach dem Zweiten Weltkrieg des Öfteren als Divisionschronisten betätigten. Siehe dazu: Rudolf Gschöpf: Mein Weg mit der 45. Infanterie-Division, Linz 1955, oder Alois Beck et al.: Bis Stalingrad…, Ulm 1983.

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schlägigen deutschen Militärakten fördert über die Zusammensetzung „ostmärkischer“ Verbände wenig Verwertbares ans Tageslicht und beschränkt sich in ihrer Aussage in der Regel auf die Divisionsebene.4 Mithilfe der von der Forschung bisher kaum beachteten Erkennungsmarkenverzeichnisse,5 die an der Deutschen Dienststelle in Berlin (ehemalige Wehrmachtsauskunftsstelle) lagern, ist es jedoch möglich, die regionalen Konstitutionsverhältnisse bis auf die Kompanieebene zu erschließen. In diesem Beitrag wird nun der Versuch unternommen, eine Aussage über die regionale Zusammensetzung am Beispiel dreier ausgewählter „ostmärkischer“ Einheiten vorzunehmen.6

  4 Die wenigen bis dato aufgefundenen Schriftstücke sind more than less „Zufallsfunde“ und vornehmlich publiziert bei: Thomas R. Grischany: The Austrians in the German Wehrmacht, 1938–45, Ph.D. Diss. Univ. of Chicago 2007; Richard Germann: „Österreichische“ Soldaten in Ost- und Südosteuropa 1941–1945. Deutsche Krieger – Nationalsozialistische Verbrecher  – Österreichische Opfer?, phil. Diss.  Univ. Wien 2006; Walter Manoschek, Hans Safrian: Österreicher in der Wehrmacht, in: Emmerich Tálos et al. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2002, S. 123–158.   5 Innovative, auf die Auswertung von Erkennungsmarkenverzeichnissen basierende Beiträge wurden vornehmlich von Christoph Rass vorgelegt, der den Wert dieser Quelle erkannte und geeignete Methoden entwickelte, um diese für die wissenschaftliche Forschung zu erschließen. Siehe dazu: Christoph Rass, René Rohrkamp (Hg.): Deutsche Soldaten 1939–1945. Handbuch einer biographischen Datenbank zu Mannschaften und Unteroffizieren von Heer, Luftwaffe und Waffen-SS, 2. erg. Ausgabe, Aachen 2009, URL: http://darwin.bth.rwth-aachen.de/opus3/volltexte/2009/2992/ (09.12.2010); Christoph Rass: Sampling military personnel records. Data quality and theoretical uses of organizational process generated data, in: Historical Social Research 34 (2009), S. 172–196; ders.: Biographie und Sozialprofil – Neue Wege zu einer Sozialgeschichte der Wehrmacht, in: Michael Epkenhans et al. (Hg.), Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, Paderborn 2006, S. 188–211; ders.: Das Sozialprofil von Kampfverbänden des deutschen Heeres 1939 bis 1945, in: Jörg Echternkamp (Hg.), Die Deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben, München 2004 (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 9/1), S. 641–741; ders.: „Menschenmaterial“. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945, Paderborn et al. 2003 (Krieg in der Geschichte, 17).   6 Diese Untersuchung wurde durch folgende Personen und Zuwendungen möglich: Mein besonderer Dank gilt PD Dr. Christoph Rass (RWTH Aachen) für den uneigennützigen Wissenstransfer, seine wissenschaftliche Kollegialität und seine stets gewährte Hilfsbereitschaft. Ebenfalls zu danken habe ich den engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutschen Dienststelle. Für ihre Beratung und ausgezeichnete Betreuung danke ich stellvertretend für viele Frau Angelika Mielke (Leiterin des Referates II/B), Frau Christine Klenke und Herrn Bernd Gericke (Leiter des Referates II/A). Meine Ehefrau Karin opferte manche Sonntage für Dateneingabe und Datenkontrolle (4-Augen-Prinzip) und fand am Ende trotz der technisch eintönigen Tätigkeit noch immer Gefallen an dieser wissenschaftlichen Untersuchung. Dem Autor dieses Beitrages wurde 2005 der Theodor KörnerFörderungspreis für den Projektplan „Erschließung personenbezogener Quellen zu ,österreichischen‘ Angehörigen der Deutschen Wehrmacht“ verliehen. Das Preisgeld bildete den finanziellen Grundstock, mithilfe dessen die Erforschung des zentralen Projektzieles – die regionale Zusammensetzung ausgewählter Truppenkörper – möglich wurde und dessen Ergebnis ich nun in dieser Festschrift vorlege.

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1. Untersuchungsdesign 1.1. Quellenbeschreibung Erkennungsmarkenverzeichnisse wurden von den Einheiten des Heeres und der Luftwaffe angelegt,7 um im Falle des Todes eines Soldaten die Identifizierung zu ermöglichen und die Angehörigen zu benachrichtigen. Diese Verzeichnisse bestehen aus einer Urliste mit den Namen des Personals, aus dem sich die Einheit bei Mobilmachung oder Aufstellung (ab September 1939) erstmals formiert hatte und aus fortlaufend nachgereichten Veränderungsmeldungen (Zugänge/Abgänge).8 In der Regel wurden erfasst: Nummer der Erkennungsmarke, Vorname (fallweise), Nachname, Dienstgrad (fallweise), Geburtsort und -tag, Heimatadresse sowie gegebenenfalls Bemerkungen (Versetzung, Todesfall).9

Abb. 1: Anonymisierter Auszug aus einem Erkennungsmarkenverzeichnis

  7 Die Marineunterlagen sind hingegen völlig anders organisiert.   8 So zum Beispiel bei Versetzungen (einschließlich abgebender bzw. aufnehmender Einheit) oder bei Todesfall. Bei früh aufgestellten und lange bestehenden Einheiten können diese Verzeichnisse mehrere Hundert Seiten umfassen.   9 Siehe zur Thematik der Erkennungsmarkenverzeichnisse: Rass, Rohrkamp, Soldaten, v.a. S. 56, und Overmans, Verluste, v.a. S. 156 f.

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1.2. Fragestellungen Im „Rot-Weiß-Rot-Buch“ von 194610 wird behauptet, dass es keine „ostmärkischen“ Truppen gegeben habe. Demnach sollten im Herbst 1938 bei den neu formierten Truppenkörpern in der „Ostmark“ zirka 30 Prozent der Offiziere, 70 Prozent der Unteroffiziere und 50 Prozent der weiterdienenden Mannschaften aus dem „reichsdeutschen“ Gebiet11 gekommen sein. De facto käme dies einer „reichsdeutschen Dominanz“ gleich. In weiterer Folge, so im „Rot-Weiß-RotBuch“ weiter, verschoben sich die Prozentsätze der Vermischung noch weiter zugunsten des Übergewichtes des „reichsdeutschen“ Personals, weshalb die Behauptung, es wären „ostmärkische“ Truppen im Kampfe gestanden, völlig unberechtigt wäre.12 Diese Publikation hat für den wissenschaftlichen Gebrauch freilich zwei Schwachstellen: Das Fehlen von qualitativen Quellenbelegen und zweitens die politische Zielsetzung.13 Wie eingangs ausgeführt, besteht in der scientific community dagegen mittlerweile Einigkeit darüber, dass gewisse Wehrmachtstruppenteile als „ostmärkisch“ zu sehen sind. Darunter versteht man in der Regel Truppenkörper, die in der „Ostmark“ aufgestellt wurden, deren Friedensund Personalergänzungsstandorte (mehrheitlich) auf dem Gebiet der „Ostmark“ lagen und sich, der regionalen Personalallokationspolitik der Wehrmacht14 folgend, überwiegend – wenngleich nicht ausschließlich – aus „Österreichern“ konstituierten. Da entsprechendes Zahlenmaterial (derzeit noch) weitgehend fehlt, lässt sich diese regionale Homogenität selten in Prozentzahlen, sondern bislang nur sprachlich mit „überwiegend“, „größtenteils“ etc. ausdrücken. 10 Österreichische Bundesregierung (Hg.): Rot-Weiß-Rot-Buch. Gerechtigkeit für Österreich. Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation Österreichs (nach amtlichen Quellen). 1. Teil, Wien 1946. 11 Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937. 12 Rot-Weiß-Rot-Buch, S. 113 f. 13 Ziel des Rot-Weiß-Rot-Buches war es u.a., den Opferstatus Österreichs zu dokumentieren und zu festigen. Anstatt der in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 für null und nichtig erklärten Annexion Österreichs, schwenkte man nun auf den Terminus Okkupation um, was im Bezug auf die Wiederherstellung der Souveränität Österreichs günstiger schien. Der großen Strategie folgend mussten auch die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen aus Österreich Opfer gewesen sein. Aus dieser Perspektive heraus bot sich ein vitales Interesse, den Eindruck, es hätte „ostmärkische“ Einheiten gegeben, zu verwischen. Siehe dazu auch: Erwin A. Schmidl: Generalmajor Anton Kienbauer über das Bundesheer 1938. Anmerkungen zum Rot-Weiß-Rot-Buch, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 46 (1998), S. 473–480 und Anhang. 14 Die Wehrmachtsführung stattete ihre (Heeres-)Einheiten mit Soldaten, die einen ähnlichen soziokulturellen und insbesondere den gleichen regionalen Hintergrund aufwiesen, aus und erhoffte sich dadurch eine gewichtige Grundlage für Zusammenhalt und Leistungsfähigkeit. Um diese personelle Homogenität aufrechterhalten zu können, erfolgten die Ersatzgestellungen für die jeweiligen Truppen aus Rekrutierungsbezirken, die sich über einen verhältnismäßig eng begrenzten Raum in der Nähe des Truppenstandortes erstreckten. Möglichst zwei Drittel des Gesamtersatzbedarfs sollten aus dem jeweilig vorgesehenen Rekrutierungsbezirk stammen und  – wenn möglich – eine Mischung aus städtischer und ländlicher Bevölkerung darstellen. Vgl. Walter Hedler: Aufbau des Ersatzwesens der Deutschen Wehrmacht, Berlin 1938, S. 136 f. Siehe weiters: Edward A. Shils, Morris Janowitz: Cohesion and disintegration in the Wehrmacht in World War II, in: Public Opinion Quarterly 12 (1948), S. 280– 315, sowie Rass, Sozialprofil.

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Die nunmehr vorgelegte Untersuchung soll am Beispiel dreier in der „Ostmark“ aufgestellten Einheiten Auskunft auf folgende Fragen geben: • Wie gestaltet sich die regionale Herkunft des Personals der zu untersuchenden Einheiten? • Bestehen Unterschiede bei der regionalen Herkunft zwischen Führungspersonal (Unteroffiziere, Offiziere) und Geführten (Mannschaften)? • Welche Altersstruktur weisen die Soldaten der Einheiten auf?

1.3. Auswahl der Truppenkörper Die Auswahl der zu untersuchenden Truppenkörper war neben der grundlegenden Einengung auf „ostmärkische“ Einheiten von folgenden Parametern geprägt: •• Wehrmachtsteil Heer: Bekanntlich gab es drei Wehrmachtsteile: die Marine, die Luftwaffe und das Heer. Die Marine führte keine Erkennungsmarkenverzeichnisse im eigentlichen Sinne. In der vorliegenden Untersuchung empfahl sich die Reduktion auf einen Wehrmachtsteil, um komparative Betrachtungen zwischen sehr ähnlich organisierten Truppenkörpern zu ermöglichen. Aufgrund der besseren Quellenlage fiel die Entscheidung auf das Heer, wo zudem die überwiegende Mehrzahl der Soldaten österreichischer und (reichs-)deutscher Provenienz eingereiht war.15 •• Frühe Aufstellung: Eine große Zahl von Verbänden wurde erst während des Kriegsverlaufes (v.a. im Zuge der Heeresvermehrung im Vorfeld des Krieges gegen die Sowjetunion) aufgestellt. Um die im „Rot-Weiß-Rot-Buch“ dargelegten Positionen für 1938 verifizieren oder falsifizieren zu können, wurde auf Einheiten zurückgegriffen, die unmittelbar nach dem „Anschluss“ 1938 aufgestellt wurden. •• Wehrkreise: Auf dem Gebiet der ehemaligen Republik Österreich wurden die Wehrkreise XVII und XVIII etabliert.16 Die Einziehungsstärken berücksichtigend wurden zwei Kompanien aus dem Wehrkreis XVII und eine Kompanie aus dem Wehrkreis XVIII ausgewählt. 15 83,2 Prozent aller „österreichischen“ Wehrmachtsangehörigen (zwischen 1938 und 1945) wurden zum Heer eingezogen. Im gesamtdeutschen Kontext waren beim Heer 78,61 Prozent der Wehrmachtssoldaten (oder 13,6 von 17,3 Millionen) eingereiht. Overmans, Verluste, S. 224, Tabelle 29. 16 Die Wehrkreise waren das regional verankerte militärisch-administrative Netz, in denen die Ausbildung der Soldaten, die Aufstellung der Verbände und die Materialaufbringung geregelt wurden. Der bevölkerungsstärkere Wehrkreis XVII (Wien) umfasste die „Reichsgaue Oberdonau, Niederdonau“ und Wien, der Wehrkreis XVIII (Salzburg) erstreckte sich auf die „Reichsgaue“ Steiermark, Kärnten, Salzburg, Tirol und Vorarlberg. Das Burgenland wurde aufgelöst und dessen südliche Gebiete der Steiermark zugeschlagen, während das Nord- und Mittelburgenland in den Verband von „Niederdonau“ zu treten hatte. Gerhard Botz: Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938–1940), Wien 1972, S. 124 f. Siehe auch: Othmar Tuider: Die Wehrkreise XVII und XVIII 1938–1945, Wien 1975 (Militärhistorische Schriftenreihe, 30).

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•• Angabe des Dienstgrades, Vollständigkeit, Lesbarkeit: Bei der Auswahl konnten nur jene Truppenkörper berücksichtigt werden, in deren Erkennungsmarkenverzeichnisse die Dienstgrade der Kompanieangehörigen (aktueller Dienstgrad des Erhebungstages!) vermerkt sind, um die Offiziere und Unteroffiziere aus der Masse der Soldaten herausdestillieren zu können. Die Vollständigkeit und Lesbarkeit der Verzeichnisse (vielfach handschriftliche Ausfertigungen) waren naturgemäß ein entscheidender Auswahlgrund. Unter Berücksichtigung der angegebenen Kriterien fiel die Auswahl auf: • die 9. Kompanie des Infanterieregiments 133 (9./IR 133) Diese Einheit war im Verband des III. Bataillons des Infanterieregimentes 133 eingereiht, welches wiederum der 45. Infanteriedivision (ID) unterstellt war. Die Friedensstandorte der Regimenter der 45. Infanteriedivision, welche aus Truppenteilen des Österreichischen Bundesheeres am 1. April 1938 in Linz aufgestellt wurde, lagen seit dem Frühjahr 1939 in „Oberdonau“ (Budweis [České Budějovice], Linz, Ried und Steyr). Der Friedensstandort des III. Bataillons des IR 133 war in Wels.17 • die 8. Kompanie des Infanterieregiments 134 (8./IR 134) Diese Einheit war im Verband des II. Bataillons des Infanterieregiments 134 eingereiht, welches wiederum der 44. Infanteriedivision unterstellt war. Die Friedensstandorte der Regimenter der 44. Infanteriedivision, welche aus Truppenteilen des Österreichischen Bundesheeres am 1. April 1938 in Wien aufgestellt wurde, lagen seit dem Frühjahr 1939 in Wien und „Niederdonau“ (Nikolsburg [Mikulov], Brünn [Brno], Wien und Znaim [Znojmo]). Der Friedensstandort des II. Bataillons des IR 134 war in Wien-Strebersdorf.18 • die 1. Kompanie des Gebirgsjägerregiments 138 (1./GJR 138) Diese Einheit war im Verband des I. Bataillons des Gebirgsjägerregimentes 138 eingereiht, welches wiederum der 3. Gebirgsdivision (GD) unterstellt war. Die Friedensstandorte der Regimenter der 3. Gebirgsdivision, welche aus Truppenteilen des Österreichischen Bundesheeres am 1. April 1938 in Graz aufgestellt wurde, lagen in der Steiermark und in Kärnten (Leoben, Klagenfurt und Graz). Der Friedensstandort des I. Bataillons des GJR 138 war in Leoben.19

17 Georg Tessin: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939– 1945. Die Landstreitkräfte 31–70, Bd. 5, Frankfurt a. M. o. J., S. 124; Georg Tessin: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939–1945. Die Landstreitkräfte 131–200, Bd. 7, Osnabrück 1973, S. 12. 18 Tessin, Verbände, Bd. 5 (31–70), S. 116 und Bd. 7 (131–200), S. 16. 19 Georg Tessin: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939–1945. Die Landstreitkräfte 1–5, Bd. 2, Osnabrück o. J., S. 169, und Tessin, Verbände, Bd. 7 (131–200), 31.

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1.4. Anmerkungen zur Datenbank Ausgewertet wurden die – unmittelbar zu Kriegsbeginn erstellten – Urlisten in den Erkennungsmarkenverzeichnissen20 der oben beschriebenen Kompanien. Somit geben die Untersuchungsergebnisse ausschließlich Auskunft über Sachverhalte zum Monatswechsel August/ September 1939. Die vom Autor dieses Beitrages erstellte Datenbank besteht aus Originaldatensätzen und daraus generierten Subsumtionen. Originaldatensätze: In die Datenbank wurden kompanieweise die laufende Nummer der Erkennungsmarke (Spalte 1), Dienstgrad (Spalte 2), Nachname (Spalte 3; bei Namenshäufungen auch Vorname), Geburtsort (Spalte 4), Geburtstag (Spalte 5) sowie die Heimatadresse (Spalte 6; nur Ort) jedes einzelnen Einheitsangehörigen aus den Erkennungsmarkenverzeichnissen eingespeist. Subsumtionen: Daran anschließend wurden die Originaldaten (Spalten 1–6) für die Auswertung in Überbegriffe subsumiert (Spalten 7–10). Die einzelnen Dienstgrade wurden den Dienstgradgruppen „Mannschaften“, „Unteroffiziere“ und „Offiziere“ zugewiesen (Spalte 10) und die Geburtsorte sowie Heimatadressen den entsprechenden Staaten zugeordnet (Spalten 7 und 9).21 Lag der Geburtsort in Österreich, wurde zusätzlich erhoben, in welchem Bundesland (nach heutigem Gebietsstand)22 ebendieser liegt (Spalte 8). Tabelle 1: Anonymisierte Datenbankzeile Spalte 1

Spalte 2 Spalte 3

EMNr: 9./133/

Dienstgrad

Name

90

Schtz

Gs[…]

Spalte 4

Spalte 5

Spalte 6

Geburtsort Geburtstag Heimatadresse Linz

1914-10-24

Linz

Spalte 7 Spalte 8 Spalte 9 Spalte 10 GO

GO-BL

HA

DG

Ö



Ö

Man

20 Deutsche Dienststelle (ehem. Wehrmachtsauskunftsstelle) [WASt] Berlin, Erkennungsmarkenverzeichnisse, Bd. Nr. 75336, fol. 1–10 (9./IR 133); Bd. Nr. 75373, fol. 1–12 (8./IR 134); Bd. Nr. 75476, fol. 1–10 (1./GJR 138). 21 Die Zuordnung der Geburtsorte erfolgte in Korrespondenz mit dem Geburtsdatum gemäß dem jeweiligen Gebietsstand, was am Beispiel Brünn/Brno demonstriert werden soll: Österreich-Ungarn > Geburtsdatum: 28.10.1918 ≥ ČSR. Geburtsorte (und Geburtsjahr 1918 oder früher) in Österreich (heutige Grenzen) wurden davon abweichend nicht unter „Österreich-Ungarn“ subsumiert, sondern unter „Österreich“. Hier wurde der territorial-pragmatische Klassifizierungsansatz zugunsten der besseren Lesbarkeit der Untersuchung gekrümmt. Der zusammenführende Überbegriff „Österreich-Ungarn“ wurde aus dem gleichen Grund verwendet, nicht zuletzt auch um in der „Bosnischen Frage“ (Geburtsort Sarajevo) einer weiteren Verästelung zu entkommen. 22 Lediglich bei Wien könnte es fallweise durch die Gebietsstanderweiterungen („Groß-Wien“) zu Verzerrungen gekommen sein, da im Gegensatz zur ausführlichen Heimatadresse (Bezirk, Straße etc.) beim Geburtsort nur die Stadt (ohne Nennung des Bezirkes etc.) angeführt ist. Somit ist nicht eruierbar, ob ein Soldat, der in den Wien zugeschlagenen niederösterreichischen Gebieten geboren worden war, nicht ex post zum in Wien Geborenen wurde.

182 182

Richard Hans Mommsen Germann

Die Originaldatensätze (Sp. 1–6) der oben angeführten Datenbankzeile sind wie folgt zu lesen: Der Schütze Gs[…], geboren in Linz am 24. Oktober 1914, gab eine Heimatadresse (ebenfalls) in Linz an und trägt die Erkennungsmarke Nr. 90 der 9. Kompanie des Infanterieregimentes 133. Die Zuordnungsmöglichkeit der Geburtsorte/Heimatadressen zu einer Region oder zu einem Land hing naturgemäß von der hinterlassenen Informationsdichte des Schreibers der Erkennungsmarkenverzeichnisse ab. Bedauerlicherweise benennen die Originaleinträge gelegentlich nur Katastralgemeinden, Siedlungsgebiete oder Stadtgebiete ohne jegliche weiterführenden Angaben. In einem ersten Schritt wurden die Online-Recherchemöglichkeiten der Statistik Austria23 und des Statistischen Bundesamts Deutschland24 genutzt, um die Ortsangaben einwandfrei lokalisieren zu können. Gegebenenfalls wurden weiters die bundesländerweise aufgeschlüsselten Ortsverzeichnisse der Statistik Austria25 beziehungsweise „Dr. Rademachers deutschösterreichisches Ortsbuch 1871–1990“26 herangezogen, um so Hinweisen auf Streusiedlungen (etc.) respektive historischen Ortsnamen nachzugehen. Mehrfach existierende Ortsnamen wie Kirchberg, Annaberg, Neukirchen, Neumarkt  – wenn sie ohne weitere regionale Angaben blieben  – bedurften einer speziellen Betrachtung (z.B. Überprüfung via Straßenname). Im Zweifelsfall wurde auf „?/unbekannt“ entschieden. In Summe wurden 617 Personen erfasst. Die Datenbank umfasst ca. 6000 Datensätze, davon etwa 3600 Originaldatensätze.

2. Analyse 2.1. Basisinformation, Altersstruktur und Korrelation zwischen Geburtsort und Heimatadresse Die hierarchische Gliederung der Kompanien entspricht grob den SOLL-Verhältnissen einer Infanteriedivision 1. Welle, deren Personalstand (ca. 17.700 Mann) sich aus Offizieren (ca. drei Prozent), aus Beamten (weniger als ein Prozent), aus Unteroffizieren (ca. 15 Prozent) und aus Mannschaften (ca. 81 Prozent) konstituierte.27

23 URL: http:// www.statistik.at / web_de/ statistiken / regionales / regionale_gliederungen / gemeinden / index. html (Nov./Dez. 2010). 24 URL: http://www.destatis.de/gv/suche_gv2000.htm (Nov./Dez. 2010). 25 URL: http://www.statistik.at/web_de/services/publikationen/21/index.html (Nov./Dez. 2010). 26 URL: http://www.verwaltungsgeschichte.de/ortsbuch39.html (Nov./Dez. 2010). 27 Burkhart Mueller-Hillebrand: Das Heer 1933–1945, 3 Bde., Darmstadt 1954 – Frankfurt a.M. 1969, hier Bd. 1, S. 73. Zitiert nach: Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42, München 2009, S. 30 f.

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Tabelle 2: Hierarchische Gliederung 9./IR 133 Dienstgradgruppe

8./IR 134

1./GJR 138

Anzahl

Prozent

Anzahl

Prozent

Anzahl

Prozent

Mannschaften

165

86,84%

161

81,31%

189

82,53%

Unteroffiziere

21

11,05%

35

17,68%

36

15,72%

4

2,11%

1

0,51%

4

1,75%

Offiziere Unbekannt Summe





1

0,51%





190

100,00%

198

100,00%

229

100,00%

Tabelle 3: Altersstruktur 9./IR 133 Geburtsjahr

Anzahl

8./IR 134

Prozent

Anzahl

1./GJR 138

Prozent

Anzahl

Prozent

1900 und früher

4

2,11%

1

0,51%

1

0,44%

1901–1905

1

0,53%

0

0,00%

4

1,75%

1906–1910

11

5,79%

4

2,02%

4

1,75%

1911–1915

89

46,84%

59

29,80%

128

55,90%

1916–1920

85

44,74%

131

66,16%

92

40,17%

1921 und später





2

1,01%





Unbekannt





1

0,51%





190

100,00%

198

100,00%

229

100,00%

Summe

Im Zusammenhang mit dem Erhebungsjahr (1939) ergeben sich dem hohen Mannschaftsstand folgend (Tabelle 2) entsprechend junge Jahrgänge. Bei der 9. Kompanie des Infanterieregiments 133 und bei der 8. Kompanie des Infanterieregiments 134 ist der häufigste Jahrgang 1916 mit 52 respektive 70 Soldaten, bei der 1. Kompanie des Infanterieregiments 138 hingegen ist es mit 61 Personen der Jahrgang 1914. Das Durchschnittsalter der Offiziere (bis auf einen Hauptmann waren dies Leutnante und Oberleutnante; 3 Monate = 0,25 Jahre) betrug 39,5 Jahre (9./IR 133),28 46,25 Jahre (8./IR 134)29 und 32,25 Jahre (1./GJR 138)30. Hier liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den erhobenen Offizieren 28 n = 4: 1895/1895/1897/1912. 29 n = 1!: 1893. 30 n = 4: 1896/1901/1913/1916.

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mehrheitlich um Reserveoffiziere gehandelt haben musste, wenngleich hierzu in den Erkennungsmarkenverzeichnissen keine Anmerkungen angeführt sind. Im Jahr 1939 lag das durchschnittliche Lebensalter von Leutnanten bei 23 Jahren und 2 Monaten und bei Oberleutnanten bei 25,5 Jahren.31 Der Geburtsort und der Ort der Heimatadresse befinden sich zu 98 Prozent in demselben Land (Ö/D). In 14 Einzelfällen (von 579 zuordenbaren Personen) gibt es Abweichungen, bei denen der Geburtsort und die Heimatanschrift in verschiedenen Ländern liegen.32 Einige Wechsel ergaben sich bei Personen mit Geburtsorten im Südteil der Monarchie (z.B. Sarajevo). Sechs Soldaten, vier Mannschaften und zwei Hauptfeldwebel (Unteroffiziere), deren Geburtsort in Deutschland liegt, hatten eine Heimatadresse in der „Ostmark“ angegeben. Kein Soldat österreichischer Provenienz hatte eine Heimatadresse in Deutschland.33 Für die Soldaten österreichischer Provenienz ist anzumerken, dass in den allermeisten Fällen Geburtsort und Heimatadresse im gleichen Bundesland liegen.

2.2. Regionale Herkunft der Kompanieangehörigen Tabelle 4: Regionale Herkunft der Kompanieangehörigen nach Geburtsort34 9./IR 133 8./IR 134 1./GJR 138 Geburtsort Anzahl Prozent bereinigt34 Anzahl Prozent bereinigt Anzahl Prozent bereinigt Unbekannt 9 4,74% – 9 4,55% – 20 8,73% – Deutschland 33 17,37% 18,23% 30 15,15% 15,87% 29 12,66 % 13,88% Österreich 143 75,26% 79,01 155 78,28% 82,01% 177 77,29 % 84,69% Österr.-Ung. 5 2,63% 2,76% 2 1,01% 1,06% 3 1,31 % 1,44% Großbritan. – – – 1 0,51% 0,53% – – – ČSR – – – 1 0,51% 0,53% – – – Summe

190 100,00%

181/100%

198 100,00% 189/100%

229 100,00% 209/100%

31 Bernhard R. Kroener: Die personellen Ressourcen des Dritten Reiches im Spannungsfeld zwischen Wehrmacht, Bürokratie und Kriegswirtschaft 1939–1942, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939–1941, Stuttgart 1988 (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 5/1), S. 903. Durchschnittliches Lebensalter, ermittelt ohne Einbeziehung der E-Offiziere. 32 Vier Fälle blieben unberücksichtigt, da sich ein Staatenwechsel ausschließlich durch administrative Änderungen ergab. (Konkret Orte in Südböhmen, die in der österreichisch-ungarischen Monarchie, ab 1918/19 im tschechoslowakischen Nationalitätenstaat und ab Herbst 1938 im Deutschen Reich lagen.) 33 Ein Fall tritt auf bei der 3. Schwadron (Kompanie-Äquivalent) des Aufklärungsregimentes 9 (Wehrkreis XVII, Friedensstandort in Krems, am 1. August 1938 aufgestellt aus Truppenteilen des Österreichischen Bundesheeres; der „ostmärkischen“ 4. leichten Division, der späteren 9. Panzerdivision, unterstellt [Georg Tessin: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939–1945. Die Landstreitkräfte 6–14, Bd. 3, Frankfurt a. M. o. J., S. 140]). Diese Einheit (3./AufklR 9) wurde nach denselben Kriterien wie die drei vorgestellten Kompanien ausgewählt und (teilweise) ausgewertet. WASt, Erkennungsmarkenverzeichnisse, Bd. Nr. 44163, fol. 227–243 (3./AufklR 9). 34 Bereinigt um die unbekannten Fälle: N_neu (100%) = N_alt – N_unbekannt. [181 (100%) = 190 – 9].

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Diese Zahlen zeigen deutlich, dass Angehörige, deren Geburtsort in Österreich lag, eine deutliche Mehrheit von 75 Prozent und mehr in den ausgewählten Kompanien einnahmen. Bereinigt um die nicht eindeutig zuordenbaren Fälle weitet sich diese Mehrheit in Nuancen noch weiter aus. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass nur knapp jeder fünfte (9./IR 133) bis siebente Soldat (1./GJR 138) in Deutschland geboren wurde. Tabelle 5: Regionale Herkunft „österreichischer“ Kompanieangehöriger nach Bundesländern (Geburtsort) Bundesland Burgenland Kärnten Niederösterreich Oberösterreich Salzburg Steiermark Tirol Vorarlberg Wien Unbekannt Summe

9./IR 133 Anzahl Prozent 1 0,70 – – 4 2,80 % 112 78,32 % 3 2,10 % 9 6,29 % 1 0,70 % – – 12 8,39 % 1 0,70 % 143 100,00 %

8./IR 134 Anzahl Prozent 20 12,90 % – – 17 10,97 % 2 1,29 % – – 5 3,23 % 1 0,65 % – – 107 69,03 % 3 1,94 % 155 100,00%

1./GJR 138 Anzahl Prozent 2 1,13 % 4 2,26 % 8 4,52 % 3 1,69 % 2 1,13 % 152 85,88 % – – – – 4 2,26 % 2 1,13 % 177 100,00%

Die regionale Herkunft des Personals steht im direkten Zusammenhang mit den Aufstellungsorten/Friedensstandorten der Einheiten, wodurch jede Kompanie ein besonders dominierendes Bundesland (nach heutigen Grenzen) bei Mannschaften und Unteroffizieren aufweist. Bezieht man die Angehörigen mit Geburtsort Deutschland, Österreich-Ungarn etc. mit ein, so ist festzustellen, dass zwischen 54 Prozent (8./IR 134) und 66 Prozent (1./GJR 138) aller Kompanieangehörigen aus nur einem Bundesland kamen. Die Einziehungen erfolgten mehrfach lokal-schwerpunktmäßig, was aus der Häufung von Geburtsorten – auch solchen mit niedriger Bevölkerungszahl – hervorgeht. Die Rekrutierten hatten zudem oftmals das gleiche Geburtsjahr, wodurch neben örtlicher Nachbarschaft auch eine gemeinsam erlebte Jugend möglich gewesen sein kann. Die Geburtsorte der jeweiligen „deutschen“ Kontingente liegen bei den Unteroffizieren über das ganze Reichsgebiet verstreut, während bei den „reichsdeutschen“ Mannschaften immerhin einige Konzentrierungen vorlagen. Dies waren bei der 9. Kompanie des Infanterieregiments 133 drei Soldaten aus Wattenscheid und vier aus Berlin, bei der 8. Kompanie des Infanterieregiments 134 vier Soldaten aus Düsseldorf und bei der 1. Kompanie des Gebirgsjägerregiments 138 vier Angehörige aus Essen.35 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Geburtsorte des „reichsdeutschen“ Mannschaftspersonals tendenziell im Westen Deutschlands lagen. 35 Bei der 1. Kompanie des Gebirgsjägerregiments 138 kamen die „reichsdeutschen“ Mannschaften mehrheitlich aus dem Flachland (Ruhrgebiet, Berlin, Danzig) und zumindest ein Drittel der „reichsdeutschen“ Unteroffiziere aus Brandenburg, Niedersachsen und Ostpreußen, was für ein Gebirgsjägerregiment doch sehr bemerkenswert ist.

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2.3. Regionale Herkunft des Führungskorps Tabelle 6: Regionale Herkunft von Mannschaften, Unteroffizieren und Offizieren nach Geburtsort Truppenteil

Dienstgradgruppe Mannschaften

9./IR 133

Unteroffiziere

Offiziere

Mannschaften

8./IR 134

Unteroffiziere

Offiziere

Mannschaften

1./GJR 138

Unteroffiziere

Offiziere

Geburtsort Österreich Deutschland sonst./unbekannt Österreich Deutschland sonst./unbekannt Österreich Deutschland sonst./unbekannt Österreich Deutschland sonst./unbekannt Österreich Deutschland sonst./unbekannt Österreich Deutschland sonst./unbekannt Österreich Deutschland sonst./unbekannt Österreich Deutschland sonst./unbekannt Österreich Deutschland Österreich-Ungarn

Anzahl 127 25 13 12 8 1 4 0 0 130 19 12 25 9 1 0 1 0 156 16 17 19 12 5 2 1 1

Prozent 76,97% 15,15% 7,88% 57,14% 38,10% 4,76% 100,00% 0,00% 0,00% 80,75% 11,80% 7,45% 71,43% 25,71% 2,86% 0,00% 100,00% 0,00% 82,54% 8,47% 8,99% 52,78% 33,33% 13,89% 50,00% 25,00% 25,00%

Verhältnis Ö zu D 5,1 : 1

1,5 : 1

1:0

6,8 : 1

2,8 : 1

0:1

9,7 : 1

1,6 : 1

2:1

Die Dienstgradgruppe der Offiziere eignet sich aufgrund der geringen Fallzahl nur sehr eingeschränkt für die Auswertung. Die zentrale Erkenntnis liegt darin, dass seitens der Wehrmacht offensichtlich keine Einwände bestanden, dass („ostmärkische“) Kompanien von Offizieren mit (mehrheitlich) österreichischer Provenienz geführt wurden. Darin lässt sich eine tragfähige Vertrauensbasis erblicken. Die Konzentration von „österreichischen“ Wehrmachtsangehörigen des Mannschaftsstandes (zumindest 77 bis 83 Prozent pro Kompanie, da nicht um „unbekannte“ Fälle bereinigt) stieß auf keinen Widerstand seitens Berlins.

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Differenziert man die Gruppe der Mannschaften, so ergibt sich die Erkenntnis, dass die Soldaten mit deutschem Geburtsort beinahe durchgehend höhere Mannschaftsdienstgrade (Gefreiter, Obergefreiter) innehatten, d.h., dass zwischen 48 und 88 Prozent der „reichsdeutschen“ Mannschaften bereits längere Zeit Militärdienst versah und sich (stellvertretend) zur Führung kleinster militärischer Formationen (Trupp oder Gruppe) eignete. Bei den „österreichischen“ Mannschaften lag dieser Prozentanteil zwischen 16 und 44 Prozent und damit deutlich niedriger. Aufgrund der überdeutlichen Mehrheit von „Österreichern“ in den drei untersuchten Kompanien (in absoluten Zahlen), dominierten „Österreicher“ dennoch auch das Segment der höheren Mannschaftsdienstgrade mit 62,5 Prozent (9./IR 133; 20 von 32), 70,89 Prozent (8./IR 134; 56 von 79) und 75,82 Prozent (1./GJR 138; 69 von 91).36 Bei den Unteroffizieren – also dem Rückgrat einer Kompanie – kippte die überdeutliche „österreichische“ Dominanz hin zu einer „einfachen Mehrheit“. Bei der 9. Kompanie des Infanterieregiments 133 hatten die Unteroffiziere mit 57 Prozent, bei der 8. Kompanie des Infanterieregiments 134 immerhin noch mit 71 Prozent und bei der 1. Kompanie des Gebirgsjägerregiments 138 mit 53 Prozent einen Geburtsort in Österreich. Anders herum gesehen hatte ein Viertel bis ein Drittel der Unteroffiziere einen Geburtsort in Deutschland. Als deutlichstes Beispiel sei an dieser Stelle die 1. Kompanie des Gebirgsjägerregiments 138 angeführt: Kamen auf einen „reichsdeutschen“ Mannschaftssoldaten noch zehn „Österreicher“, so standen in der gleichen Einheit drei „österreichische“ Unteroffiziere zwei „reichsdeutschen“ Pendants gegenüber. Bei der 8. Kompanie des Infanterieregiments 134 in Wien verteilte sich das Verhältnis bei den Mannschaften auf 6,8:1 und bei den Unteroffizieren auf 2,8:1. Betrachtet man die Dienstgradgruppe der Unteroffiziere differenziert, so erbringt die Analyse die Erkenntnis, dass sich bei den höheren Unteroffiziersgraden (Unteroffiziere mit Portepee; das sind Feldwebel, Ober- und Stabsfeldwebel) zwischen „Österreichern“ und „Reichsdeutschen“ grob ein nummerisches Gleichgewicht eingestellt hatte. Die herausgehobene Dienststelle des Hauptfeldwebels,37 umgangssprachlich auch als „Spieß“38 bekannt, fungiert für gewöhnlich als Schnittstelle der Macht innerhalb der Kompanie. In allen dreien der hier untersuchten Kompanien bekleidete diese Stelle eine Person mit Geburtsort in Deutschland. Die in diesem Unterkapitel destillierten Parallelen in den Untersuchungsergebnissen bestätigen sich auch bei der Auswertung der 3. Schwadron des Aufklärungsregimentes 9. Die Geburtsorte ihrer drei Offiziere liegen in Salzburg (Stadt), Breslau und London (Heimat­ 36 Der Anteil „Reichsdeutscher“ an den höheren Mannschaftsdienstgraden lag unter Beibehaltung derselben Truppenabfolge bei: 37,50 %–20,25 %–15,38 %. Die fehlenden Prozentsätze sind Personen zugeordnet, deren Geburtsort nicht eindeutig klassifiziert werden konnte (unbekannt) oder auf dem Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie oder der Tschechoslowakei liegt (sonst.). 37 In der Wehrmacht kein Dienstgrad, sondern Bezeichnung für eine Dienststellung, die von einem Unteroffizier mit Portepee bekleidet wurde. 38 Heute in der deutschen Bundeswehr der Kompaniefeldwebel und im Österreichischen Bundesheer der Dienstführende Unteroffizier.

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adresse: Horn, Niederösterreich). Von den 29 Unteroffizieren hatten ihren Geburtsort 19 (65,52 Prozent) in Österreich, acht (27,59 Prozent) in Deutschland bzw. zwei (6,89 Prozent) einen unbekannten; sprich auf sieben „österreichische“ kamen drei „reichsdeutsche“ Unteroffiziere (Verhältnis 2,4:1). Bei den höheren Unteroffiziersgraden stellt sich auch an diesem Beispiel das nummerische Gleichgewicht ein. Der Hauptfeldwebel ist hier nicht als solcher ausgewiesen, jedoch kam der ranghöchste Unteroffizier aus Berlin-Steglitz, was als Indiz für den „Spieß“ gelten kann.39

2.4. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse „Österreicher“ repräsentierten in allen untersuchten Kompanien und in allen Dienstgradgruppen (bei den Offizieren40 eingeschränkt) eine eindeutige Mehrheit. Teilt man die Kompanieangehörigen auf Dienstgradgruppen auf und unterteilt diese wiederum, wird mit Anstieg des Dienstgrades (unter Ausschluss der Offiziere) eine prozentuelle Zunahme von Soldaten mit deutschem Geburtsort ersichtlich. Das „reichsdeutsche“ Personal bestand mehrheitlich aus militärisch qualifizierten und bereits länger gedienten Soldaten (höhere Mannschaftsdienstgrade, Unteroffiziere). Bei der zentralen Dienststellung des Hauptfeldwebels endete im September 1939 der „österreichische“ Einfluss. Zwei Kompanien wurden mehrheitlich von „österreichischen“ Offizieren geführt, bei einer ergab sich eine „Patt-Situation“ (3./AufklR 9), und bei einer anderen Kompanie war der einzige nachweisbare Offizier in Leipzig geboren, wo auch seine Heimatadresse angegeben war. Bei den Offizieren ist anzumerken, dass ihr Lebensalter gemessen an dem innehabenden Dienstgrad, beträchtlich fortgeschritten war, was sich schlüssig nur dadurch erklären lässt, dass es sich um Reserveoffiziere gehandelt haben musste. Während sich die „Österreicher“ bei den Mannschaften und den Unteroffizieren jeweils vornehmlich aus einem (ehemaligen) österreichischen Bundesland rekrutierten, lagen die Geburtsorte der dazu supplementären „deutschen“ Kontingente  – abgesehen von Ausnahmen  – verstreut. Aufgrund der lokal-schwerpunktmäßigen Rekrutierung der „Österreicher“ im gleichen/ähnlichen Lebensalter, mussten zwangsläufig viele Eingezogene in den jeweiligen Kompanien auf (bereits bekannte) Personen stoßen, die einen gleichen regionalen und ähnlichen soziokulturellen Hintergrund aufwiesen.

3. Anmerkungen und Interpretation Die Aussagekraft der vorgelegten Ergebnisse ist durch folgende Faktoren eingeschränkt. Sie begrenzen sich nur auf den Wehrmachtsteil „Heer“, wurden aus der Auswertung von drei, fall39 Alle Daten aus: WASt, Erkennungsmarkenverzeichnisse, Bd. Nr. 44163, fol. 227–243. 40 Die Dienstgradgruppe der Offiziere eignet sich – wie bereits angemerkt – aufgrund der niedrigen Fallzahlen nur sehr eingeschränkt für eine Auswertung.

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weise auch vier Kompanien gewonnen und beziehen sich punktuell auf den Monatswechsel August/September 1939. Zu den ersten beiden Einschränkungen ist anzumerken, dass 83 Prozent der 1,3 Millionen „Österreicher“ zum Heer eingezogen wurden,41 die Kompanieauswahl objektiv nachvollziehbaren Parametern folgte und die Daten von 600 bis 800 Individuen in die Datenbasis eingeflossen sind. Alle Ergebnisse sind jedoch einschränkend unter Berücksichtigung der zeitlichen Begrenzung (Kriegsbeginn) zu lesen. Um Aussagen für eine Zeitperiode (1939–1945) zu erhalten, müssten zu den Urlisten auch die fortlaufend nachgereichten Veränderungsmeldungen in eine komplexe Datenbank eingespeist werden. Je nach Truppenkörper würden die Datenbankeinträge um das Zehn- bis Zwanzigfache ansteigen. Neben der Ausweitung des Analysezeitraumes würde die Faszination eines solchen ausgeweiteten Unternehmens darin liegen, Omer Bartovs These von der Zerstörung der regionalen Primärgruppen im Winter 1941/4242 anhand neuen Materials prüfen zu können. Bei einer stichprobenartigen Auszählung mehrerer Hundert Veränderungsmeldungen der 9. Kompanie des Infanterieregiments 133 aus den Jahren 1941–1944 konnte für diese Einheit ein Erodieren des regionalhomogenen Gefüges erst für 1944 beobachtet werden.43 Im eingangs erwähnten „Rot-Weiß-Rot-Buch“ von 1946 wurde ohne entsprechende Quellenbelege festgehalten, dass im Herbst 1938 zirka 30 Prozent der Offiziere, 70 Prozent der Unteroffiziere und 50 Prozent der weiterdienenden Mannschaften aus dem „reichsdeutschen“ Gebiet gekommen sein sollen und sich dieses Verhältnis immer mehr zuungunsten der „Österreicher“ verschlechtert hätte. Diese vermeintlich „reichsdeutsche“ Dominanz war ein solider Baustein in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als der Spagat zwischen der Implementierung der Opferthese und den 1,3 Millionen Wehrmachtsangehörigen österreichischer Provenienz, die vielfach militärisch verlässlich und teils bis zuletzt gekämpft hatten, geschafft werden musste. Die „reichsdeutsche“ Vorherrschaft im Führungskorps, unterstützt durch die drakonische Militärgerichtsbarkeit – so die Gleichung – waren die Hauptgründe, warum „Österreicher“ kämpften. Die „Österreicher“ – so im „Rot-Weiß-Rot-Buch“ weiter – wurden von „den Deutschen“ besonders hart und zurücksetzend behandelt, mussten regelrecht zum Kampf im „verhassten Hitlerkriege“ gezwungen werden, woher man selbst bodenständige Militärformationen mit „ […] ,Altreichlern‘ so schwer durchsetzte, dass die Österreicher verlässlich in der Minderzahl blieben und überwacht werden konnten“.44 Daher wurde in der great idea der Kriegseinsatz von „Österreichern“ als eine zusätzliche furchtbare Erschwerung der österreichischen Okkupationslast im Vergleich zu anderen okkupierten Ländern dargestellt.45 41 Overmans, Verluste, S. 224, Tabelle 29. 42 Omer Bartov: Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Hamburg 1999, S. 51–92. 43 Eine Gesamterhebung der 1. Kompanie des Infanterieregimentes 464 (ab Oktober 1942 in Grenadierregiment 464 umbenannt) der 253. rheinisch-westfälischen Infanteriedivision ergab ein signifikantes Absinken der landsmannschaftlichen Homogenität bis Mitte 1944. Rass, Sozialprofil, S. 728. 44 Rot-Weiß-Rot-Buch, S. 114. 45 Ebda., S. 7, 95, 113f. En passant erinnerte man gerade Frankreich, dass auch Elsässer und Lothringer zur Wehr-

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Die hier vorgelegte Analyse falsifiziert das exakt klingende Zahlenmaterial der Nachkriegszeit, indem eine von der Wissenschaft lange Zeit vernachlässigte Quelle – die Erkennungsmarkenverzeichnisse – systematisch ausgewertet wurde. Tatsächlich waren die Angaben bezüglich der „reichsdeutschen“ Unteroffiziere und weiterdienenden Mannschaften im „Rot-Weiß-RotBuch“ um etwa das Doppelte zu hoch gegriffen. Dadurch schwindet die nummerische „reichsdeutsche“ Mehrheit zu einer Minderheit, oder aber eine weitere Argumentationskette des österreichischen Opferdiskurses erweist sich als unzutreffend.46 Es konnte nachgewiesen werden, dass die Rekrutierung der Heerestruppen in der „Ostmark“ auf regionaler Basis erfolgte. Wie bei „reichsdeutschen“ Einheiten hielt sich die Wehrmachtsführung auch in der „Ostmark“ an ihre eigenen Vorgaben, wonach das Personal zu zwei Dritteln aus dem Kernrekrutierungsgebiet stammen sollte.47 Durch diese Erkenntnis und das dargebrachte Zahlenwerk, wonach nur jeder fünfte bis siebente Soldat der untersuchten Kompanien einen Geburtsort in Deutschland hatte, wird dem einschlägigen Argumentationsmuster, dass die „Österreicher“ aufgrund einer vermeintlichen Unzuverlässigkeit notwendigerweise der „reichsdeutschen“ Unterdrückung bedurften, die Grundlage entzogen. Die Bedeutung des „reichsdeutschen“ Personals in den „ostmärkischen“ Kompanien lag nicht in einer erdrückenden Quantität, sondern in dessen militärisch-fachlichen Qualifikation begründet, worin auch deren naheliegender Aufgabenbereich zu erblicken ist; nämlich den inneren Betrieb und den Gefechtsdienst schrittweise von österreichischem auf deutsches Reglement umzustellen.48 Betrachtet man die in Deutschland geborenen Soldaten der Untersuchung (rund 30 Mann pro Einheit) und vergegenwärtigt man sich, dass eine Kompanie in mehrere Züge49 und Trupps gegliedert war, so ist eine kompanieinterne Zerstreuung der „reichsdeutschen“ Soldaten naheliegend.50 Unter dieser Annahme waren die „reichsdeutschen“ Kontingente in absoluten Zahlen gerade groß genug, um eine noch wahrnehmbare Gruppe zu bilden und gegebenenfalls als Refugium und mentale Stütze zu dienen, wenn ihnen seitens der „Österreicher“

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macht eingezogen wurden, beließ es bei der impliziten Andeutung und führte aus, dass eben auch jene von den Deutschen mit dem gleichen Misstrauen wie die Österreicher überwacht worden wären, womit man Franzosen und Österreicher in die gleiche Schicksalsgemeinschaft zu gruppieren versuchte. Zum Nachkriegs(opfer)diskurs in Ostbelgien und Luxemburg, von wo zusammen 20.000 Männer zur Wehrmacht eingezogen wurden, siehe: Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. Eupen-Malmedy und Luxemburg als Rekrutierungsgebiet der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, Aachen 2008. Hedler, Ersatzwesen, S. 136 f. Unmittelbar nach dem „Anschluss“ wurde die erste Umschulungsphase von „reichsdeutschen“ Lehrabteilungen vorgenommen, was tatsächlich zu beträchtlichen Spannungen führte. Die militärischen Zentralstellen schritten jedoch energisch gegen Übergriffe ein, um die aufkeimende harte Disharmonie – eine solche wäre ausschließlich kontraproduktiv für die Wehrmacht gewesen – baldigst zu zerstreuen. Siehe dazu: Germann, Soldaten, S. 47–59. Ein Zug ist eine militärische Formation, die in den untersuchten Einheiten in der Regel eine Personalstärke von rund 50 Soldaten aufwies und aufgrund der überschaubaren Größenstruktur in der Regel eine vitale Bezugsebene darstellte. Eine Konzentrierung der „reichsdeutschen“ Soldaten innerhalb der „ostmärkischen“ Kompanien würde aus der Sichtweise der Umschulungsaufgabe wie auch aus der Sichtweise der „Dominanzaufgabe“ keinen Sinn machen.

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der Wind scharf ins Gesicht blies.  Es waren nicht nur „Österreicher“, die sich fallweise von „reichsdeutschen“ Ausbildnern schnoddrig und herabsetzend behandelt fühlten; dieses beleidigende Verhalten funktioniert(e) auch vice versa. Am Beispiel der 1. Kompanie des Gebirgsjägerregimentes 138 konnte gezeigt werden, dass die Geburtsorte der „reichsdeutschen“ Mannschaften und Unteroffiziere zu einem hohen Teil im deutschen Flachland lagen. Waren dies Soldaten, die (in Urlauben oder beim Militär) zwischenzeitlich alpine Fertigkeiten erwerben konnten oder von den Bergen begeisterte Freiwillige, die – wie ein österreichischer Zeitzeuge51 in den 1980er-Jahren amüsant bemerkte – „von vornherein keine besonderen Gebirgskenntnisse hatten und daher auf die Unterstützung der Österreicher angewiesen waren“52? Eine Frage, die sich mit diesem Quellenmaterial nicht überprüfen lässt. Dazu müssten entsprechende personenbezogene Quellen (z.B. Wehrstammbuch, Wehrpass etc.) erschlossen und qualitativ-inhaltlich ausgewertet werden.53 Zweifelsohne ist wissenschaftliche Militärgeschichte – und hier sei der Bogen zum Anfang dieses Beitrages geschlagen  – ein emerging market. Diese Untersuchung konnte militärischrelevante Eckpfeiler der Opferthese falsifizieren, indem in methodischer Hinsicht ein neuer Weg eingeschlagen wurde. Freilich ist damit – Gerhard Botz würde an dieser Stelle von der „neuen Militärgeschichte“ sprechen  – erst ein Anfang gesetzt, weitere Etappenziele (Langzeitbeobachtungen der regionalen und sozialen Zusammensetzung und Vergleich mit Omer Bartovs Primärgruppenthese) zeichnen sich jedoch klar ab.

51 Damals Leutnant beim Gebirgsjägerregiment 140. 52 Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Nachlässe, B/1576 (Donation Erwin A. Schmidl), Sammlung „März 38“, Br, Aufzeichnungen, S. 4. 53 Hier wird auf Quellen (Erkennungsmarkenverzeichnis, Wehrstammbuch etc.) zurückgegriffen, die in einem engen inhaltlichen Zusammenhang stehen, aber räumlich und institutionell getrennt sind. Für Wehrmachtsangehörige österreichischer Provenienz sind die personenbezogenen Unterlagen im Österreichischen Staatsarchiv verwahrt, während die korrespondierenden Erkennungsmarkenverzeichnisse an der Deutschen Dienststelle in Berlin aufliegen.

Klaus-Dieter Mulley

Von der NSBO zur Deutschen Arbeitsfront (DAF) Bemerkungen zur Liquidierung der Arbeiterkammern 1938 Die folgende Abhandlung gibt einen kurzen Überblick über die im Rahmen der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich 1938 durchgeführte Liquidierung der 1920 als gesetzliche Interessenvertretung errichteten Arbeiterkammern, womit die wegweisende Studie von Gerhard Botz über die „Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938–1940)“1 für den Bereich der Arbeitsordnung ergänzt werden soll. Ausgehend von einigen Anmerkungen zu den Arbeiterkammern vor 1938 und der Gründung der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) stehen die Zerstörung der bereits vom Austrofaschismus als Geschäftsstelle des (Einheits-)Gewerkschaftsbundes ihrer demokratischen Legitimation entkleideten gesetzlichen Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Aufbau der „Deutschen Arbeitsfront“ im Rahmen der Einführung der nationalsozialistischen Arbeitsverfassung im Mittelpunkt nachfolgender zum Teil noch kursorischer2 Überlegungen.

Die Arbeiterkammern 1920 bis 1938 Mit den 1920 im Rahmen der damals vorbildlichen Sozialgesetzgebung unter Ferdinand Hanusch als gesetzliche Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – ein Pendant zu den seit um die Mitte des 19. Jahrhunderts bestehenden Handelskammern – errichteten Arbeiterkammern sowie dem Betriebsräte- und dem Kollektivvertragsgesetz wurde 1 Gerhard Botz: Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938–1940), Linz 1976, sowie zuletzt die überarbeitete und erweiterte Neuauflage von Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien 2008; vgl. auch Radomir Luža: Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, Wien et al. 1977. 2 Zum Teil kann die Arbeit auf die – leider eine mangelhafte Zitierung aufweisende – Schrift von Walter Göhring und Brigitte Pellar zurückgreifen: Anpassung und Widerstand. Arbeiterkammern und Gewerkschaften im österreichischen Ständestaat, Wien 2001, in der jedoch offenbar nur Bruchstücke der im Österreichischen Staatsarchiv, Archiv der Republik (ÖStA-AdR), befindlichen Materialien aufgearbeitet wurden. Darüber hinaus harren noch eventuell im Bundesarchiv Berlin (BA) zur vorliegenden Thematik befindliche Akten einer Sichtung. Zu Aufbau und Tätigkeit der DAF in den ‚Ostmarkgauen‘ 1938–1945 fehlen bislang historische Studien, wiewohl zum Teil umfangreiches gedrucktes Material vorliegt. Der Verfasser arbeitet an einer umfassenden Darstellung der DAF 1938 bis 1945 in Österreich, weiters ist ein Beitrag des Verfassers über die personellen (Dis-)Kontinuitäten in den Arbeiterkammern 1933–1946 für ein Publikationsprojekt von Gertrude Enderle-Burcel über „Verwaltung im Umbruch 1938/1945“ in Vorbereitung.

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das Grundgerüst der österreichischen Arbeitsordnung geschaffen.3 Die Arbeiterkammern wurden als demokratisch strukturierte Selbstverwaltungskörper eingerichtet und mit einem umfassenden Vertretungsauftrag ausgestattet.4 In Befolgung der Rechtsvorschriften (Arbeiterkammergesetz, Wahlvorschriften etc.) unterstanden die Arbeiterkammern der Aufsicht des Bundesministeriums für Soziale Verwaltung.5 In ihrer Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gegenüber dem Staat stützten sie sich auf die Gewerkschaften, „deren zwangsmäßige straffe Organisation die wertvolle Vorbedingung für ihr Wirken bietet“.6 Das sogenannte „Parlament der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ wurde 1921 und 1926 durch Wahlen gebildet, wobei in allen acht Länderkammern die (sozialdemokratischen) Freien Gewerkschaften die Mehrheit und somit auch den Präsidenten stellten. Von 421 möglichen Mandaten erzielten die Freien Gewerkschaften österreichweit 1921 341 und 1926 322 Mandate.7 Die geringe Resonanz, welche die Christlichen Gewerkschaften in der Arbeitnehmerschaft fanden, wurde von ihren Repräsentanten unter anderem auch auf die sie benachteiligende Wahlordnung zurückgeführt. Der Konflikt über die AK-Wahlordnung wurde von den bürgerlichen Regierungen der Ersten Republik ab den späten 1920er-Jahren zum Anlass genommen, die ihnen politisch unangenehme – weil oppositionelle sozialdemokratische Positionen vertretende – Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmer-Vertretung zu schwächen. Die unter Dominanz der Christlichsozialen Partei stehenden Regierungen der Ersten Republik vertraten eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die den Forderungen von Gewerkschaften und Arbeiterkammern fundamental widersprach.8 Sozialabbau und Einschränkung der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dominierten – zum Unterschied von der Förderung von Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft. Es gab zwar immer wieder „sozialpartnerschaftliche Ansätze“ in Form von Industriekonferenzen, Enqueten und gemeinsame Besprechungen, doch letztlich kam es im politisch konfliktorischen Klima der Ersten Republik nur selten zu gemeinsamen, von allen großen Interessengruppierungen des Landes getragenen Beschlüssen.9   3 Dazu grundlegend: Karl Pribram: Die Sozialpolitik im neuen Österreich, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 48 (1920/21), S. 615–680 sowie Franz Borkowetz: Wesen und Wirken der Arbeiterkammern. Eine Erläuterung, in: Österreichischer Arbeiterkammertag (Hg.): Die Kammern für Arbeiter und Angestellte 1945 bis 1965. Zwei Jahrzehnte ihres Wirkens festlich gewürdigt, Wien 1965, S. 7–50.   4 § 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 26. Februar 1920, StGBl. Nr. 100, über die Errichtung von Kammern für Arbeiter und Angestellte (Arbeiterkammern) lautet: „Zur Vertretung der wirtschaftlichen Interessen der im Gewerbe, in der Industrie, im Handel, Verkehr und im Bergbau tätigen Arbeiter und Angestellten und zur Förderung der auf die Hebung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Arbeiter und Angestellten abzielenden Bestrebungen werden Kammern für Arbeiter und Angestellte (Arbeiterkammern) errichtet.“   5 Vgl. Edmund Palla: Die Kammern für Arbeiter und Angestellte. Eine Zusammenschau aller einschlägiger Vorschriften und Behelfe mit Anmerkungen und einer Einleitung, Wien 1923.   6 Palla, Kammern, S. 6.   7 Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien (Hg.): Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch 1926, Wien 1927, S. 69.   8 Vgl. Gewerkschaftskommission Österreichs: Die Arbeiterkammern in Österreich 1921/1926, Wien 1926.   9 Die Forderung nach einem Anschluss an Deutschland wurde sowohl von den Handelskammern wie auch von den Arbeiterkammern (bzw. dem Österreichischen Arbeiterkammertag) vertreten.

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Die kammerinterne Opposition (christlichsoziale und deutschnationale Gewerkschaften) trug zwar anfangs bemerkenswert viele Beschlüsse mit, kritisierte jedoch, dass sie des Öfteren in die Beschlussfindung nicht eingebunden wurde, weil die Vorberatung sowie die Verhandlungen mit Regierungsvertretern bei diversen Stellungnahmen durch Vertreter der Freien Gewerkschaften geführt wurden, verteidigte die Regierungspolitik und gab ab 1929/30 meist eigene Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben ab.10 Anfang der 1930er-Jahre verschärften die christlichsozialen und deutschnationalen Gewerkschaften den Kampf gegen das AK-Wahlrecht und forcierten den Erlass einer neuen AKWahlordnung, zu dem es jedoch infolge von Regierungswechseln nicht kam. Vielmehr wurden 1931 die anstehenden AK-Wahlen bis 1. Oktober 1933 verschoben.11 Dies bot dem nach der Ausschaltung des Nationalrates am 4. März 1933 „autoritär“ regierenden Regime unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nach dem Verbot der Wahlen in die Landtage, dem Verbot des Republikanischen Schutzbundes, der KPÖ, der NSDAP und der Einführung der Pressezensur im Zuge der beginnenden „ständischen Neuordnung“ auch die Möglichkeit, die Arbeiterkammern als letzten Hort demokratischer Willensbildung zu zerstören. Bereits am 19. September 1933 erklärte Sozialminister Richard Schmitz, „dass ein Fortbestand der bisherigen Arbeiterkammern in Hinblick auf das bereits einsetzende große Werk der Neuordnung unserer Gesellschaft nicht in Frage kommt“, und wenige Tage später gab der Generalsekretär der Christlichen Gewerkschaften Johann Staud bekannt, „dass seine Gewerkschaft den Weiterbestand der Arbeiterkammern in ihrer gegenwärtigen Form‚ als den derzeitigen Verhältnissen nicht mehr entsprechend‘ ablehnen müsste“.12 Nachdem mit Verordnung der Bundesregierung Ende September die Mandatsperiode in den Arbeiterkammern erneut, „jedoch längstens bis zum 31. Dezember 1933“ verlängert worden war,13 unterstellte die Regierung die Arbeiterkammern durch die – wie immer aufgrund des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes erlassene – Verordnung vom 21. Dezember 1933 den sogenannten Verwaltungskommissionen, die fortan die Aufgaben der demokratisch gewählten Gremien (Vollversammlung und Vorstand) zu erfüllen hatten.14 Die Mitglieder der Verwaltungskommissionen waren vom Bundesminister für soziale Verwaltung zu bestellen. Zusätzlich wurde für jede Länderkammer ein Aufsichtskommissär mit weitreichenden Befugnissen bestellt, der an den Sitzungen der Verwaltungskommission teilzunehmen hatte. Die 10 Die Berichte über die Vollversammlungen der AK Wien sind online abrufbar. URL: http://anno.onb.ac.at/cgicontent/anno-plus?aid=bak (30.04.2011). 11 Bundesgesetz vom 15. Juli 1931 über die Verlängerung der Tätigkeitsdauer der Kammern für Arbeiter und Angestellte, BGBl. 211/1931. 12 Zit. nach Göhring, Pellar, Anpassung. S. 24. 13 Verordnung der Bundesregierung vom 29. September 1933 über die Verlängerung der Tätigkeitsdauer der Kammern für Arbeiter und Angestellte, BGBl. 448/1933. 14 Verordnung der Bundesregierung vom 21. Dezember 1933 über die Bestellung von Verwaltungskommissionen bei den Kammern für Arbeiter und Angestellte, BGBl. 572/1933. Am 23. März 1934 kam es zu einer Neubesetzung der Verwaltungskommissionen: BGBl. 199/1934.

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Bestimmungen waren – wie in Artikel I § 1 unmissverständlich ausgeführt – als Vorbereitung für die Regelung der Interessenvertretung der Arbeiter und Angestellten „nach berufsständischen Grundsätzen“ gedacht. Wollte man vonseiten des Regimes anfangs noch Vertreter der Freien Gewerkschaften in den Verwaltungskommissionen haben, standen diese zu Recht auf dem Standpunkt, dass ihnen – trotz der umfangreichen Befugnisse des Aufsichtskommissärs – die Leitung der Arbeiterkammern zustünde, und konnten sich – so scheint es – die Christlichen Gewerkschaften damit zumindest für einige Kammern abfinden, so machte die Regierung allen Einigungsbemühungen ein abruptes Ende. Am 31. Dezember 1933 teilte der Bund der Freien Gewerkschaften dem Sozialminister mit: In der Tat ist es zu unserer Befriedigung gelungen, mit den Vertretern der christlichen Gewerkschaften zu einer Einigung zu gelangen. […] [Dann haben] Sie, Herr Minister, uns mitgeteilt, die Regierung müsse darauf bestehen, dass in den Verwaltungskommissionen die der Regierung nahestehenden Organisationen, nämlich die christlichen Gewerkschaften und die sogenannten „Unabhängigen“, eine Mehrheit gegenüber den freien Gewerkschaften und deutschnationalen Gewerkschaften zusammen haben müssen.15

Wurde damit faktisch der letzte Rest einst noch demokratisch gewählter Funktionärinnen und Funktionäre aus den Arbeiterkammern entfernt und wurden die Freien Gewerkschaften trotz zahlreicher Proteste aus den Betrieben völlig aus der Politikgestaltung der Arbeiterkammern ausgeschieden, so übernahmen in der Folge die Vertreter der christlichen und unabhängigen Gewerkschaften die Leitung der Arbeiterkammern. Am 2. März 1934 wird der „Gewerkschaftsbund der österreichischen Arbeiter und Angestellten“ als öffentlich-rechtliche Körperschaft errichtet. In § 12 der Verordnung werden die Kammern für Arbeiter und Angestellte „als Geschäftsstellen des Gewerkschaftsbundes“ bestimmt.16 Einige Tage später bestellte Sozialminister Neustädter-Stürmer den Vorstand des Gewerkschaftsbundes.  Unter dem Vorsitz von Johann Staud und seinem Stellvertreter von den Unabhängigen Gewerkschaften, Johann Lengauer, wurden der ehemalige Erste Sekretär der Wiener Arbeiterkammer Edmund Palla, Fritz Lichtenegger, Karl Untermüller und Adolf Vesely „vorläufig“ in den Vorstand berufen.17 Obwohl es in den folgenden Jahren bis 1938 noch zu mehreren Änderungen in der personellen Zusammensetzung des Vorstandes des Gewerkschaftsbundes sowie der Verwaltungskommissionen der Arbeiterkammern kam und  – was hier unerwähnt bleiben musste  – Teile des überwiegend der sozialdemokratischen Partei 15 Faksimiliert abgedruckt in Göhring, Pellar, Anpassung. S. 28–29, Abb. 10. 16 Verordnung der Bundesregierung vom 2. März 1934 über die Errichtung des Gewerkschaftsbundes der österreichischen Arbeiter und Angestellten, BGBl. 132/1934. 17 Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 8. März 1934, betreffend die Bestellung des Vorstandes des Gewerkschaftsbundes der österreichischen Arbeiter und Angestellten, BGBl. 140/1934.

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nahestehenden Expertinnen- und Expertenapparats durch Vertrauensleute der christlichen Gewerkschaften ersetzt wurden, blieb die Struktur der austrofaschistischen Einheitsgewerkschaft inklusive der eingegliederten Kammern bis 1938 in der skizzierten Form erhalten.18 Politisch beabsichtigte das austrofaschistische Regime für die Arbeiter und Angestellten eine weitgehende Entpolitisierung durch eine Einebnung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit bei gleichzeitigen Versuchen einer Mobilisierung für die Maßnahmen der „ständestaatlichen“ Herrschaft, insbesondere im kulturellen und bildungspolitischen Bereich.19 Während der Gewerkschaftsbund im Rahmen des Diskurses über eine durchgängig ständestaatlich gegliederte Organisation des Staates immer wieder um seine Existenz zu kämpfen hatte,20 kamen bis zuletzt alle Versuche der Freien Gewerkschaften, mit dem Regime und dem Gewerkschaftsbund eine gemeinsame Kampffront gegen den Nationalsozialismus zu bilden, über Ansätze nicht hinaus.21

Die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) Österreich Die völkischen Gewerkschaften, die sich 1924 im „Deutschen Gewerkschaftsbund“ zusammen schlossen,22 führten innerhalb der österreichischen Gewerkschaftsbewegung ein kümmerliches Dasein. In den Arbeiterkammern hielten sie 1926 42 (von 421) Mandaten,23 gemessen an der Gesamtzahl der in Österreich in den drei großen Gewerkschaftsblöcken Organisierten erreichten sie 1921 mit rund 40.000 Mitgliedern 3,35 Prozent. Durch die deutliche Abnahme der in den Freien Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und einen Mitgliederzuwachs von rund 25 Prozent in den Jahren 1921 bis 1931 konnten die „völkischen Gewerkschaften“ zu Beginn der 1930er-Jahre ihren Anteil an allen österreichischen Gewerkschaftsmitgliedern auf rund 6,7 Prozent steigern.24 Prozentuell betrachtet waren sie mit einem 14- bis 16-Prozent-Anteil aller Organisierten in Salzburg, Kärnten, Tirol und Vorarlberg am 18 Vgl. dazu ausführlich Göhring, Pellar, Anpassung, S. 51ff. 19 Vgl. insbes. auf die Bildungsorganisation von Arbeiterkammer und Einheitsgewerkschaft eingehend Göhring, Pellar, Anpassung. S. 87ff. 20 Vgl. Anton Pelinka: Stand oder Klasse. Die christliche Arbeiterbewegung Österreichs 1933–38, Wien 1972, S. 106–109. 21 Vgl. grundlegend über die Gewerkschaften 1934 bis 1938 die ausgezeichnete und materialreiche Studie von Paul Pasteur: Unter dem Kruckenkreuz. Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen in Österreich 1934–1938, Innsbruck 2008. 22 Eine umfassende Darstellung der nationalen Gewerkschaften ist nach wie vor ein Desiderat. Einen (selbstdarstellenden) Überblick gibt Leo Haubenberger: Der Werdegang der nationalen Gewerkschaften, Wien 1932. Zur Gründung des „Deutschen Gewerkschaftsbundes für Österreich“ aus der „Umbildung“ des (nationalen) Reichsgewerkschaftsrates Vgl. ebda., S. 51ff. 23 Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien (Hg.): Jahrbuch 1926, S. 69. 24 Berechnung nach den Mitgliederzahlen in: Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien (Hg.): Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch 1931/32, Wien 1933, S. 164.

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stärksten vertreten, jedoch kam allein ein Drittel ihrer insgesamt fast 50.000 Mitglieder aus Wien. Ihre soziale Basis fanden die völkischen Gewerkschaften vor allem bei den Angestellten am Lande und bei den Verkehrsbediensteten. Nimmt man die Mandatsgewinne bei den Arbeiterkammerwahlen 1926 als Maßstab, so zeigt sich, dass sie in der Angestelltensektion in Salzburg und Kärnten mit jeweils vier von möglichen sieben Mandaten sogar die Mehrheit und in Oberösterreich mit fünf von möglichen elf Mandaten ein eindrucksvolles Ergebnis erzielten. In Wien erreichten sie in der Sektion der Verkehrsangestellten, die sich vorwiegend aus Post- und Bahnbediensteten zusammensetzte, 1926 über zehn Prozent der Stimmen.25 Abgesehen von ihrem Kampf gegen die „marxistischen“ Gewerkschaften und Parteien und ihrem Eintreten für einen Anschluss an Deutschland lehnten die im Reichsbund zusammengeschlossenen, strikt antisemitischen nationalen Gewerkschaften jede Form des „Klassenkampfes“ ab und verfochten ein weitgehend sozialharmonisches Konzept, welches sich etwa in den Forderungen nach der Errichtung eines „Wirtschaftsparlaments“ und nach staatlichen Regulierung der Arbeitsverhältnisse fand, denn die ausschließliche und ungehemmte machtpolitische Austragung von Wirtschaftskämpfen zwischen Kapital und Arbeit bleibt die unerschöpfliche Quelle, aus der der Klassenkampfgedanke und die marxistische Klassenhetze ihre Nährstoffe ziehen.26

Es war denn nur folgerichtig, dass sich die völkischen Gewerkschaften gegen den sozialen Wohnbau als „kulturschädliche Kasernierung der arbeitenden Schichten“27 wandten und für die Förderung der Eigenheimbewegung sowie für die Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiterbeteiligung an Betrieben eintraten. Die völkischen Gewerkschaften, repräsentiert vor allem durch Ferdinand Ertl und Leo Haubenberger, standen in einem Naheverhältnis zur „alten“ österreichischen NSDAP unter ihrem Obmann Karl Schulz. Nachdem sich 1925/26 die radikal antidemokratische, offensiv antisemitische, sich der deutschen NSDAP unter Adolf Hitler unterstellende „NSDAP (Hitlerbewegung)“ von der österreichischen NSDAP abgespaltet hatte, zunehmend Mitglieder der alten Schulz-Partei aufsaugen konnte und bei den Nationalratswahlen 1927 in einigen Wahlkreisen als „völkisch sozialer Block“ allein und nicht wie etwa auch vom „Deutschen Gewerkschaftsbund“ gewünscht mit den Christlichsozialen auf einer „Einheitsliste“ kandidierte, kam es in der Folge zu größeren Spannungen im immer schon sehr heterogen zusammengesetzten „völkisch-nationalen Lager“. Gegen Ende der 1920er-Jahre wurden innerhalb der österreichischen „NSDAP (Hitlerbewegung)“ im März 1930 sogenannte „Gau-Betriebszellen-Abteilungen“ gegründet. Im Sommer 25 Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien (Hg.): Jahrbuch 1926, S. 66 ff., Tabelle 39. 26 Einstimmig vom 3. Deutschen Gewerkschaftstag 1929 angenommene Entschließung zum Schlichtungswesen. Zit. nach Haubenberger, Werdegang. S. 60. 27 Haubenberger, Werdegang. S. 59.

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1930 bestanden solche in Wien, Niederösterreich, Kärnten und im „Westgau“.28 Offenbar um das Verhältnis zu den deutsch-völkischen Gewerkschaften nicht zu sehr zu belasten, betonte der Wiener Gauleiter der NSDAP, Alfred Eduard Frauenfeld, in der ersten Nummer der Zeitschrift „Die Arbeitsfront“, die ein „Kampfblatt für die Arbeiter der Stirn und Faust in den Betrieben“ sein wollte, dass die nun im Aufbau befindliche Betriebsorganisation „keine Gefährdung oder einen Gegensatz zur Gewerkschaft darstellt, solange diese eben Gewerkschaft ist und nicht Zahlstelle für eine parlamentarische, politische Partei“.29 Die Zusammenarbeit mit den deutsch-völkischen Gewerkschaften zeigte sich in einer am 21. Juni 1931 stattfindenden NS-Versammlung der Postangestellten, in welcher der Obmann des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Leo Haubenberger, sprach und unter anderem betonte, dass die Betriebszellen nicht als Konkurrenz zu den Gewerkschaften aufgefasst werden dürften, sondern vielmehr „die politische Plattform zur Erreichung der politischen Idee“, nämlich des „nationalen Sozialismus“ darstellten.30 Im Frühjahr 1931 wurde mit Verweis auf eine „Verfügung der Reichsleitung“ die NSBO in Österreich offiziell gegründet und „alle Parteigenossen“, soweit sie „der Hand- und Kopfarbeiterschaft (im Sinne der Hauptberufe) angehören und in Betrieben beschäftigt sind“, wurden aufgefordert, ihr beizutreten.31 Die NSBO32 versuchte in Österreich, sich auf betrieblicher Ebene von den deutsch-völkischen Gewerkschaften, soweit diese mit den christlichen und anderen Gewerkschaften eine „antimarxistische Einheitsfront“ bildeten, abzugrenzen und allein bei Betriebswahlen zu kandidieren. So etwa bei den Personalvertretungswahlen der Postbediensteten im Frühjahr 1931.33 Gegen wen sich der Aufbau der Parteiorganisation in den Betrieben richtete, wurde offensichtlich, wenn die Zeitung etwa von „marxistischen Parteien und ihren Zutreibergewerkschaften“ schrieb oder das Ableben eines „treuen Mitglieds“ bedauerte, das „seinerzeit den Terror der roten Gewerkschaften am eigenen Leib zu spüren bekommen“ habe.34 Noch im August 1930 erschien eine Sondernummer der „Arbeitsfront“, da angeblich Kommunisten einen in den Siemens-Schuckert-Werken angestellten 25-jährigen Nationalsozialisten, SA- und NSBOMitglied, auf dem Heimweg von einer SA-Veranstaltung ermordet hätten.35

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Die Arbeitsfront 1.1 (1930), S. 8. Die Arbeitsfront 1.1 (1930), S. 1 (Titel) und 2 (A.E. Frauenfeld: An die Arbeit!). Die Arbeitsfront 2.2 (1932), S. 4. Die Arbeitsfront 2.2 (1931), S. 6 („Anordnung über die Betriebszellen“). Zur Geschichte der NSBO siehe vor allem Gunther Mai: Die nationalsozialistische Betriebszellenorganisation. Zum Verhältnis von Arbeiterschaft und Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31.4 (1983), S. 573– 613; Martin Broszat: Die Ausbootung der NSBO-Führung im Sommer 1934, in: Manfred Funke, HansAdolf Jacobsen et al. (Hg.): Demokratie und Diktatur, Düsseldorf 1987, S. 198–215; Volker Kratzenberg: Arbeiter auf dem Weg zu Hitler? Die nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation, Frankfurt a.M. 1987. 33 Die Arbeitsfront 2.5 (1931), S. 2. 34 „Ein Stück marxistischer Betrugspolitik bei den Wiener Straßenbahnen“ und „Todesfall“, in: Die Arbeitsfront 1.1 (1930). 35 Die Arbeitsfront, Unentgeltliche Sonderausgabe (04.08.1930).

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Um die Arbeiterschaft für sich zu gewinnen, war den nun offensiv im Bereich von öffentlichen Betrieben, Bahn, Post und Straßenbahn sowie in metallverarbeitenden Unternehmungen wie Siemens-Schuckert und im Versicherungssektor auftretenden NS-Aktivisten das Mittel der Verunglimpfung recht: Freie Gewerkschafter wurden als „Oberbonzen“ oder „Gewerkschaftsbonzen“ beschimpft, die sozialdemokratischen Vertrauensmänner in den Betrieben als „‚Proletarierführer‘, die die Arbeiter eines Betriebes gegeneinanderhetzen“ ausgemacht, „marxistische“ Gewerkschaftspolitik als schädlich bezeichnet, da sie nur dazu diene „dass die Gewerkschaft zu ihrem notwendigen Gelde kommt“.36 Der militante gegen die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) und die kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) gerichtete Antimarxismus wurde von einem offensiven Antisemitismus begleitet. In der Gewerkschaft der Lebensmittelarbeiter wurde die Anstellung eines „Ostjuden“ als Verwalter mit dem Kommentar versehen: „Wie lange werden die Arbeiter noch so dumm sein und ihre Parasiten und Schmarotzer füttern, anstatt diese Judasse mit nassen Fetzen zum Teufel jagen.“37 Unter dem Titel „Warum sind wir Judengegner?“ bekannte das NS-Blatt: „Wir sind Judengegner, weil wir Verfechter der Freiheit des deutschen Volkes sind. Der Jude ist Ursache und Nutznießer unserer Sklaverei.“38 Zumindest in einigen Betrieben zeigten die Propaganda der Betriebszellenorganisation und das Werben um Mitglieder und Sympathisanten durchaus Erfolge: So etwa wurde am 23. September 1930 in der Maschinenfabrik Leopoldau der Siemens-Schuckert-Werke ein „Pg. Neugebauer“ zum Betriebsrat gewählt. Zum Jahreswechsel 1930/31 behauptete der Betriebszellenleiter Kroyer als „Leiter d. B. Z.O. d. Gaues Wien“, „dass wir in den meisten großen Betrieben heute schon nationalsozialistische Betriebszellen haben“.39 War die NSBO in Österreich bis 1933 noch gewerkschaftlich ausgerichtet und suchte durch Kampf in den Betrieben die Dominanz der Freien Gewerkschaften zu brechen, so änderte sich die politische und ideologische Ausrichtung nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Die Besetzung der Gewerkschaftshäuser in Deutschland wurde vorbehaltlos begrüßt. In der „Arbeitsfront“ stellte ein Herr Hans Biallas unmissverständlich fest: Um es klipp und klar zu sagen: Wir werden es nicht bei der polizeilichen Besetzung bewenden lassen, sondern werden auch in Zukunft jede marxistische Betätigung von sogenannten „Arbeiterführern“ zu unterbinden wissen.40

Zu Beginn der 1930er-Jahre wurde auch  – trotz sozialdemokratischer Dominanz  – in der Wiener Arbeiterkammer eine Betriebszelle der NSBO gegründet, die ab 1934 von Dr. Karl Wenzel, ab 1935 Leiter der arbeitsrechtlichen Abteilung, geführt wurde.41 36 37 38 39 40 41

Aus den Betrieben, in: Die Arbeitsfront 1.2 (1930). Die Arbeitsfront 1.3 (1930), S. 8. Die Arbeitsfront 1.4 (1930), S. 3. Die Arbeitsfront 2.1 (1931), S. 2. Die Arbeitsfront 4.6 (1933), S. 3. Karl Stubenvoll: 75 Jahre Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien 1921–1996, Wien 1997, S. 58.

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Konnte somit in den Jahren 1931 bis 1933 die NSBO in vielen größeren Betrieben Betriebszellen gründen und in kleineren zumindest Sympathisanten gewinnen, so beendete das Verbot der NSDAP im Juni 1933 den begonnenen Einstieg in den Kreis der Arbeitnehmerschaft. Einem später verfassten Bericht über Niederösterreich ist jedoch zu entnehmen, dass sich zumindest in den größeren Industrieorten NSBO-Zellen hielten.42 Nach einer Reorganisation der illegalen NSDAP nach dem Juliputsch 1934 musste sich auch die NSBO sowohl personell als auch organisatorisch neu formieren. Die Landesleitung der illegalen NSBO übernahm 1935 Franz Marisch.43 Nachdem es in den Betrieben kaum möglich war, propagandistisch tätig zu werden, beschränkte sich die NSBO darauf, in den Betrieben zumindest einzelne Sympathisanten zu finden. Allerdings: Trotz allem was geschehen war und trotz der offensichtlich arbeiterfeindlichen Haltung des Systems stand die große Masse der Arbeitnehmer dem Nationalsozialismus noch immer feindlich gegenüber.44

1936 schwenkten Teile der „Unabhängigen“ Gewerkschaft sowie einzelne Funktionäre der Einheitsgewerkschaft zum Nationalsozialismus.45 Ziel der illegalen NSBO war die personelle Unterwanderung des Gewerkschaftsbundes.46 Gelang es der NSBO nach 1936 in zahlreichen Betrieben Sympathisanten zu werben, so konnte mit einer offensiven Werbung jedoch erst nach Lockerung des Verbots der nationalsozialistischen Betätigung im Februar 1938 begonnen werden. Für die Aktivisten der NSBO ging es nun darum, diverse Unterstützungserklärungen für Resolutionen des Einheitsgewerkschaftsbundes in den Betrieben zu verhindern und damit neue Mitglieder zu gewinnen.47 An der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 nahmen die Mitglieder und Sympathisanten der NSBO als Mitglieder der NSDAP bzw. der SA oder SS teil.

Die Liquidierung der AK im Frühjahr 1938 Noch teilweise am Freitag, den 11. März 1938, jedenfalls in den folgenden Tagen, bemächtigten sich Funktionäre der NSBO der Dienststellen von Gewerkschaftsbund und Arbeiterkammern. Das Haus des Gewerkschaftsbundes und der Wiener Arbeiterkammer in der Ebendorferstraße 7 wurde von SA- und SS-Leuten handstreichartig in Besitz genommen. Ähnlich 42 Alois Forst: Die Deutsche Arbeitsfront und ihr Aufbauwerk im Gau Niederdonau. Halbjahresbericht, [Wien 1939], S. 10. 43 Göhring, Pellar, Anpassung. S. 151. 44 Forst, Arbeitsfront, S. 10. 45 Göhring, Pellar, Anpassung. S. 155. 46 Ebda., S. 156. 47 Forst, Arbeitsfront, S. 11.

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in Salzburg, wo der Vorsitzende der (austrofaschistischen) Verwaltungskommission noch am 11. März befahl, „das Kammergebäude in Verteidigungszustand zu setzen“, wozu es allerdings nicht mehr kam.48 Auch in Innsbruck wurde das Haus der Arbeiterkammer von NSBO-Mitgliedern noch am 12. März besetzt.49 In Vorarlberg übernahmen angeblich kommissarische Beauftragte die Arbeiterkammer und teilten bereits am 13. März der verdutzten Belegschaft mit, „dass eine neue Zeit angebrochen ist, die Arbeiterkammer und die Gewerkschaft aufgelöst würden“.50 Im Rahmen des allgemeinen Chaos der ersten Tage des ‚Anschlusses‘ versuchten Mitglieder der bislang illegalen NSBO ihren Einfluss auf die weitere Gestaltung durch Besetzung und Übernahme von Gewerkschaftsbund und Arbeiterkammern geltend zu machen: Es war die Zeit der ‚kommissarisch‘ eingesetzten Führer. NSBO-Aktivisten ließen sich von ihrem regional zuständigen Gauleiter der NSDAP zu „Führern der deutschen Arbeitsfront“ erklären, wiewohl diese Organisation in Österreich noch nicht konstituiert war. So wurde etwa vom Landesleiter der NSDAP, Hubert Klausner, am 13. März 1938 Josef Nemec zum „Arbeitsfrontführer“ mit der Aufgabe der kommissarischen Leitung von Gewerkschaftsbund und Arbeiterkammer erklärt.51 Einige Tage später wurde für kurze Zeit der ehemalige Vizepräsident des Gewerkschaftsbundes und der Arbeiterkammer, Josef Lengauer, der sich als „unabhängiger“ (ehemaliger Heimwehr-)Gewerkschafter längst der NSDAP angedient hatte,52 zum „kommissarischen Leiter“ der Wiener Arbeiterkammer bestellt, jedoch bald wieder seines Posten enthoben.53 Im Zuge der Übernahme der Kammergeschäfte durch vorläufig nicht bestätigte kommissarische Leiter zwischen 11. und 13. März 1938 wurden eine Reihe von Kammer- und Gewerkschaftsmitarbeiterinnen und Gewerkschaftsmitarbeitern in Haft genommen und mit sofortiger Wirkung, jedoch unter Weiterzahlung ihrer Bezüge „beurlaubt“. Der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes und der Verwaltungskommission der Wiener Arbeiterkammer, Johann Staud, wurde am 12. März von der Gestapo verhaftet und mit dem ersten Transport in das KZ Dachau deportiert.54 In Wien wurde am 14. März auch der Bildungsreferent der Arbeiterkammer, Viktor Matejka, verhaftet und in der Folge in das KZ Dachau abgeschoben.55

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Göhring, Pellar, Anpassung, S. 259. Ebda., S. 285. Zit. nach ebda., S. 304. „Deutsche Arbeitsfront in Österreich“, in: Neue Freie Presse (14.03.1938).Vgl. dazu etwas detaillierter Stubenvoll, 75 Jahre. S. 58 f. Vgl. zu Lengauer: Gertrude Enderle-Burcel: Christlich – Ständisch – Autoritär. Mandatare im Ständestaat 1934– 1938, Wien 1991, S. 143 f. Stubenvoll, 75 Jahre. S. 58. Göhring, Pellar, Anpassung, S. 177. Ebda., S. 177.

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Um den zahlreichen „wilden“ Ab- und Umbesetzungen einen Riegel vorzuschieben, ordnete Reichsstatthalter Seyß-Inquart am 16. März an, dass alle personellen Veränderungen „nur als vorläufig zu betrachten“ und ihm „zur kommissarischen Bestätigung schriftlich vorzulegen“ seien.56 In Oberösterreich wurden der Erste Sekretär, Dr. Alfred Maleta, zwei Gewerkschaftssekretäre sowie die Amtsstellenleiter von Schärding und Schwertberg in Haft genommen und weitere sechs Angestellte beurlaubt. Ende April wurden Maleta und der Vorsitzende des Landeskartells des Gewerkschaftsbundes, Franz Kriz, wegen angeblicher „Vertuschung und Verschleierung der Unterschlagungen“ sowie die Sekretäre Karl Auberger, Leopold Bauer und Karl Kokesch wegen angeblicher finanzieller Unkorrektheiten fristlos entlassen.57 Der am 1. April 1921 als stellvertretender Erster Sekretär eingetretene Dr. Franz Liefler übernahm am 12. März 1938 die Leitung des Kammerbüros und „outete“ sich als Mitglied der NSDAP seit März 1933, was er „als einziger Angestellter aller österreichischen Arbeiterkammern“ gewesen sei.58 Letzteres dürfte nicht zutreffend sein, zumal auch der bisherige stellvertretende Büroleiter der burgenländischen Kammer als langjähriges NSDAP-Mitglied bezeichnet wurde. In Eisenstadt übernahm der Gaubetriebszellenleiter Landesrat Dr. Friedrich Schirck die kommissarische Leitung der burgenländischen Arbeiterkammer und des Landeskartells des Gewerkschaftsbundes. Der bisherige Vorsitzende der AK und des Landeskartells, Landesrat a.D. Michael Berthold, der Erste Sekretär Dr. Alois Hazivar und der Leiter der Bauarbeitergewerkschaft Josef Thomasitz wurden in „Schutzhaft“ genommen und nach ihrer Entlassung „beurlaubt“.59 Hazivar wurde am 29. März vom kommissarischen Leiter der Kammer per 30. Juni 1938 gekündigt, wogegen er im Mai bei der zuständigen Abteilung des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit Einspruch erhob, zumal – wie er ausführte für seine Kündigung kein Grund im Sinne der Dienstordnung der Kammerangestellten vor [läge], da er sich keines Disziplinarvergehens schuldig gemacht habe und sich auch keiner Handlung während der Zeit seiner Dienstleistung bewusst sei, die seine Weiterverwendung im Kammerdienst untragbar erscheinen ließe.60 56 ÖStA-AdR, Bundesministerium für soziale Verwaltung (BMSV), A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 28.644–5/1938: Erlass d. Reichsstatthalters v. 16. März 1938, Zl. 2391–Pr/1938. 57 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 28.644–5/1938: Mitteilung der AK Oberösterreich v. 29. April 1938. 58 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z.557.180–5/1938 v. 22. September 1938 betr. Ludwig Gross und Dr. Franz Liefler; Anträge auf Wiedergutmachung. 59 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 26.684–5/1938: Mitteilung der AK Burgenland v. 31. März 1938 sowie MinfWuA G.Z. 28.644–5/1938: Mitteilung der AK Burgenland v. 23. März 1938. 60 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 28.644–5/1938: Information an das Präsidium betr. Dr. Alois Hazivar v. Mai 1938.

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Obwohl es zu diesem Zeitpunkt offiziell noch keinen „kommissarischen Landesführer der Deutschen Arbeitsfront“ gab, wurde der bisherige Stellvertreter des Ersten Sekretärs, Dr. Otto Wahsianowicz, der nun die Bürogeschäfte der burgenländischen Arbeiterkammer führte, zum „DAF-Beauftragten für das Burgenland“ ernannt. Wahsianowicz, der bereits 13 Jahre in der Kammer Dienst versah, wurde in diesem Zusammenhang als Mitglied der NSDAP „seit der Verbotszeit“ bezeichnet.61 In der AK Steiermark wurden ab 11. März 1938 27 Bedienstete, darunter der Erste Sekretär Dr. Peter Krauland, der Zweite Sekretär Alois Maitz, zwei Referenten aus den Bereichen Sozial- und Bildungspolitik sowie 20 weitere Bedienstete aus – wie es hieß – „politischen Gründen beurlaubt“.62 Darüber hinaus verloren der Amtsgehilfe Heinrich Lausch „als Jude“ und zwei weitere Bedienstete aus anderen Gründen ihren Posten. In Salzburg verblieben vorerst alle Bediensteten mit Ausnahme des Kammeramtsstellenleiters von Hallein, dem Veruntreuung von Kammer- bzw. Gewerkschaftsgeldern vorgeworfen wurde, auf ihren Posten.63 Anfang Juni 1938 wurden dann der Erste Sekretär, Dr. Hans Baltinester, sowie drei weitere Angestellte ihres Dienstes enthoben.64 Im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme in Vorarlberg bezeichnete sich die AK in Feldkirch bereits im März 1938 als Teil der Deutschen Arbeitsfront. Am 16. März wurde Landesrat Meinhard Hämmerle von der Landeshauptmannschaft zum „provisorischen Kommissär“ bestimmt und Ing. Franz Eberl mit der Führung der Bürogeschäfte beauftragt. Der bisherige Leiter, Dr. Hermann Winter, wurde mit dem Hinweis, dass „auf diesem wichtigen Posten gegenwärtig ein Sozialdemokrat nicht erwünscht ist“, beurlaubt.65 Nachdem es in Tirol bis Ende März 1938 zu keiner Bestätigung der kommissarischen Leitung durch das Wiener Ministerium kam, wurde keine Vereidigung der Angestellten vorgenommen, alle66 jedoch bereits am 12. März „mittels Handschlag“ auf die neuen Machthaber verpflichtet.67 Auch in der Kärntner Kammer blieben alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorerst auf ihren Posten.68 61 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 28.644–5/1938: Mitteilung der AK Burgenland v. 23. März 1938. 62 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 26.684–5/1938: Mitteilung der AK Steiermark v. 1. April 1938. 63 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 26.684–5/1938: Mitteilung der AK Salzburg v. 29. April 1938. 64 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 28.844–5/1938: Mitteilung der AK Salzburg v. 14. Juni 1938. 65 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 28.644–5/1938: Mitteilung der AK Feldkirch v. 24. März 1938. 66 Am 28. Mai 1938 teilte die Tiroler AK mit, „dass bei der gefertigten Kammer kein nicht eidfähiger Bediensteter beschäftigt war“. ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 26.684–5/1938: Mitteilung der AK Tirol v. 28. Mai 1938. 67 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 26.684–5/1938: Mitteilung der AK Tirol v. 31. März 1938. 68 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 26.684–5/1938: Mitteilung der AK Kärnten v. 31. Mai 1938 sowie MinfWuA G.Z. 28.644–5/1938: Mitteilung der AK Kärnten v. 28. März 1938.

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In der Hauptgeschäftsstelle des Gewerkschaftsbundes wurde „als Jude“ Otto Ernst „mit 30. September 1938 gekündigt und aufgrund seiner dienstordnungsgemäßen Ansprüche pensioniert“.69 Für den ehemaligen Ersten Sekretär der Wiener AK und späteren Leiter der Freien Berufe im Gewerkschaftsbund, Dr. Edmund Palla, intervenierte die Deutsche Arbeitsfront im Sommer 1938 für eine Verwendung im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit. Als es jedoch zu einer Festlegung über die Abfertigung und eine Einmalzahlung über die Pensionsansprüche kam und diese auch ausbezahlt wurden, zeigte die DAF kein Interesse mehr an einer weiteren Verwendung im Ministerium.70 Palla wurde dann von der Apothekerkammer in Dienst gestellt, wie aus einem späteren Schreiben hervorgeht.71 Die „Beurlaubung“ der Angestellten der Arbeiterkammern und des Gewerkschaftsbundes wurde vorerst unter Fortzahlung der Bezüge durchgeführt. Erst im Mai 1938 machte Dr. Palla das Präsidium des Ministeriums darauf aufmerksam,72 worauf die Beurlaubten „ordnungsgemäß gekündigt wurden“. Im Laufe des Aprils 1938 wurden die NSBO-Funktionäre als kommissarische Verwalter der Geschäftsstellen des Gewerkschaftsbundes und der Arbeiterkammern erneut – diesmal von der Dienststelle des Beauftragten für die Vorbereitung der Volksabstimmung Josef Bürckel73 – bestätigt.74 Oft jedoch wussten im allgemeinen Chaos der „Anschlusstage“ und der nachfolgenden Wochen die, welche nun selbstherrlich die Führung der Geschäftsstellen des Gewerkschaftsbundes und mithin der Arbeiterkammern übernommen hatten, nicht, an welche der übergeordneten Stellen sie sich zu wenden hatten: War es der Reichsstatthalter SeyßInquart, war es das alte Sozialministerium, die Parteileitung der NSDAP in Österreich bzw. in den Bundesländern oder war es die Dienststelle des Beauftragten für die Volksabstimmung? Der Schriftverkehr jener Tage und Wochen zeigt jenes Kompetenzchaos, auf das bereits Gerhard Botz hingewiesen hat.75 Bereits am 16. März 1938 wurde vom „Beauftragten für die Durchführung der Volksabstimmung“, Josef Bürckel, das Ruhen jeglicher Tätigkeit von Vereinen und Organisationen angekündigt und wenig später Alfred Hoffmann als „Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände“ eingesetzt.76 Das Vermögen des Gewerkschaftsbundes und

69 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 26.684–5/1938: Mitteilung des Gewerkschaftsbundes v. 7. Juni 1938. 70 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA G.Z. 569.454–IV/1/1938: Hofrat Dr. Edmund Palla, Abfertigung v. 1. Oktober 1938. 71 Wienbibliothek, Tagblattarchiv, Mappe Edmund Palla: Undatiertes handschriftliches Schreiben (Fotokopie). 72 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/2: MinfWuA: Aktennotiz des Präsidiums v. 13. Mai 1938. 73 Helfried Pfeifer: Die Ostmark. Eingliederung und Neugestaltung, Wien 1941, S. 22–23. 74 ÖStA-AdR, Bürckel, Anordnung Nr. 1/38 v. 27. April 1948. 75 Botz spricht von der Polykratie der Eingliederungsinstanzen: Botz, Eingliederung, S. 49. 76 Verena Pawlowsky, Edith Leisch-Prost, Christian Klösch: Vereine im Nationalsozialismus. Vermögensentzug durch den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände und Aspekte der Restitution in Österreich nach 1945. Wien / München 2004 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, 21/1), S. 26.

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der Arbeiterkammer wurde dem Stillhaltekommissar zur Verwaltung zugewiesen.77 Davon unabhängig kam es – wie Karl Stubenvoll eindrucksvoll beschrieben hat – zu einem sich über Monate hinziehenden Kampf um die wertvollen Bestände der wissenschaftlichen Bibliothek der Wiener Arbeiterkammer.78 Mit 13. Juni 1938 gab der Stillhaltekommissar bekannt, dass auf Grund des Gesetzes über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden vom 17. Mai 1938, G.Bl. Nr 136/38 […] im Einverständnis mit dem Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich Gauleiter Bürckel […] mit dem 10. Juni 1938 […] 7. Gewerkschaftsbund der österreichischen Arbeiter und Angestellten, Wien, 1. Bez., Ebendorferstraße 7, einschließlich Fachgewerkschaften, Landesfachausschüsse und Kammern

aufgelöst worden sei. Das Vermögen wurde unter Ausschluss der Liquidation der Deutschen Arbeitsfront überschrieben.79 Nach der Liquidierung der Arbeiterkammern und des Gewerkschaftsbundes durch den Stillhaltekommissar und der Einweisung ihrer Vermögen in die DAF kam es im Sommer 1938 zu einer Diskussion über die arbeitsrechtliche Behandlung der ehemaligen Dienstnehmerinnen und Dienstnehmer sowie Pensionistinnen und Pensionisten der Kammern, deren Rechte nach der Bekanntmachung des Stillhaltekommissars „zu wahren“ waren. Diese wurden am 30. Juni 1938 von der Auflösung ihres Dienstverhältnisses mit dem Hinweis verständigt, dass „ihnen nur noch die Auszahlung des Juligehalts gewährt werde“.80 Die Bediensteten wiesen in der Folge darauf hin, dass in diesem Schreiben mit keinem Wort die ihnen laut Dienst- und Bezugsordnung und den Vorschriften über die Überführung des österreichischen Berufsbeamtentums zustehenden Rechte erwähnt wurden: Die Angestellten, die Altpensionisten und eine Reihe von Gewerkschaftsbeamter [sic], die sich ihr ganzes Berufs- und Privatleben mit allen seinen Verpflichtungen auf diesen Rechtsgrundlagen aufgebaut haben, stehen demnach in Monatsfrist vor dem Nichts. Die Betroffenen können aber dies noch immer nicht glauben, dass das der Wille unseres Führers sein kann, sondern sind der Überzeugung, dass diese Verfügung nach nochmaliger Feststellung der rechtlichen Verhältnisse eine Abänderung erfahren müsste.81 77 78 79 80

ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Aufruf des Stillhaltekommissars v. 19. Mai 1938. Stubenvoll, 75 Jahre, S. 57–64. Wiener Zeitung (14.06.1938), S. 15. ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/I: MinfWuA G.Z. 569082/IV/1/38: Arbeiterkammern und Gewerkschaftsbund, Ansprüche der Angestellten. Abschrift eines Schreibens („Im Namen meiner Kollegen“ Edmund Palla) v. 30. Juni 1938. 81 ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/I: MinfWuA G.Z. 569082/IV/1/38: Arbeiterkammern und Gewerkschaftsbund, Ansprüche der Angestellten. Abschrift eines Schreibens („Im Namen meiner Kollegen“ Edmund Palla) v. 30. Juni 1938.

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Diese von Edmund Palla am 30. Juni 1938 verfasste Eingabe war die Reaktion auf eine offenbar einigen Bediensteten bereits mündlich mitgeteilte Rechtsmeinung der DAF, nach der durch die Auflösung der Arbeiterkammern und des Gewerkschaftsbundes „das Vermögen dieser Organisationen gewissermaßen herrenlos geworden“ war und die DAF weder Rechtsnachfolgerin sei noch Verpflichtungen gegenüber den Bediensteten übernehmen konnte.82 Nachdem sich rechtlich kaum Chancen für die Geltendmachung der Ansprüche der Bediensteten ergaben, kam es – wie in einer Aktennotiz vermerkt wurde – durch Interventionen des Justizministers und des inzwischen für die ‚Ostmark‘ bestellten Reichstreuhänders der Arbeit, Alfred Proksch, am 16. September 1938 zu einer Besprechung beim Stillhaltekommissar, bei der sich die DAF dann doch bereit erklärte, unter Ausschluss etwaiger Rechtsansprüche „im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach billigem Ermessen Abfertigungen zu leisten“.83 Wie es scheint, wurde ein entsprechendes – allerdings weit unter den tatsächlichen Ansprüchen liegendes – Angebot der DAF von den ehemaligen Bediensteten und Pensionistinnen und Pensionisten der AK und des Gewerkschaftsbundes angenommen. Interessant ist die in diesem Zusammenhang vom Stillhaltekommissar gemachte Bemerkung, „dass das der Deutschen Arbeitsfront zugewiesene Vermögen zum Teile aus Baulichkeiten bestehe, die fast wertlos seien und daher große Investitionen erfordern, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen“.84 Insgesamt soll das der DAF zugesprochene Vermögen der Arbeiterkammern und des Einheitsgewerkschaftsbundes einen Wert von rund 40 Millionen RM gehabt haben.85

Aufbau der Deutschen Arbeitsfront Nachdem sich die NSBO-Aktivisten, ab den Märztagen die Gebäude und Räume des Gewerkschaftsbundes und der Arbeiterkammern einverleibt und zu Büros der NSBO gemacht hatten, fühlten sie sich bereits als Amtswalter der Deutschen Arbeitsfront. Klaus Selzner musste in seinen Funktionen als Reichshauptamtsleiter der NSDAP, Reichsobmann der NSBO und Leiter des Organisationsamtes der DAF am 27. April 1938 denn auch alle Gau-, Kreis- und Betriebsstellenobmänner darauf hinweisen, dass die „Deutsche Arbeitsfront in Österreich bisher nicht konstituiert wurde“.86 Wurden bis zum 10. April 1938 die NSBO-Mitglieder und mithin die Geschäftsstellen des Gewerkschaftsbundes und der Arbeiterkammern für die propagandistische Vorbereitung der Volksabstimmung benötigt sowie vorerst die regionale Einteilung der NSDAPGaue in der ‚Ostmark‘ abgewartet, so wurde unmittelbar nach der erfolgten Einrichtung der 82 83 84 85 86

ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/I: MinfWuA G.Z. 569082/IV/1/38: Aktenvermerk. ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/I: MinfWuA G.Z. 569082/IV/1/38: Aktenvermerk. ÖStA-AdR, BMSV, A 24/e/I: MinfWuA G.Z. 569082/IV/1/38: Aktenvermerk. Göhring, Pellar, Anpassung, S. 189. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie 4700: Anordnung Nr. 1/38 v. 27. April 1938.

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sieben Gaue der NSDAP und der Besetzung der Gauleitungen87 durch die Beauftragung von Dr. Theo Hupfauer88 am 27. Mai 1938 mit der Einrichtung der Deutschen Arbeitsfront begonnen.89 Der Aufbau der DAF90 in der ‚Ostmark‘ erfolgte unter Verantwortung der politischen Leiter der NSDAP auf Gau-, Kreis- und Ortsgruppenebene mit Rückgriff auf die bislang illegalen Funktionäre, Mitglieder oder Sympathisanten der NSBO in den Betrieben: Es zeigte sich, dass der NSBO-Apparat aus der illegalen Zeit der brauchbarste organisatorische Apparat der Partei war. Bei der Machtübernahme konnte eine Organisation gemeldet werden, die sich netzartig über das ganze Land und durch sämtliche Betriebe erstreckte und zu diesem Zeitpunkt etwas über 60.000 Männer und Frauen in ihren Reihen zählte.91

Sie hatten unter der Leitung eines Betriebsstellenobmannes „betriebliche Vertretungen“ zu bilden und waren gemeinsam mit dem jeweiligen Betriebsführer für alle betrieblichen Aufgaben verantwortlich.92 In der Folge wurden die Kreisbetriebsstellenleitungen der NSBO über die Gauleitung von der DAF mit Material versorgt93 und auch bei der Ausstellung der DAFMitgliedskarten wurde auf die Kreisbetriebsstellenleitungen zurückgegriffen.94 Entscheidend war die enge Anbindung der Organisation der DAF an die Organisation der NSDAP.95 Der jeweilige politische Hoheitsträger der Partei (Gauleiter, Kreisleiter, Ortsgruppenleiter der NSDAP) wurde zum „Obmann der DAF“ erklärt, dem für die Durchführung der Aufgaben ein „Beauftragter der DAF“ unterstellt wurde. Sollten vorderhand die wichtigsten Ämter der DAF (Organisation, Propaganda, Presse) in Personalunion zwischen Partei und DAF besetzt werden, so führte das in der Folge zu Irritationen zwischen der Parteiorganisation und der DAF. Von der NSDAP wurde die Ansicht vertreten, dass „innerhalb der DAF nunmehr eine Organisations-Abteilung, eine Schulungs-Abteilung und eine PersonalAbteilung nicht mehr bestünde“.96 Inwieweit diese den Gauleitungen zugeschriebene Auf 87  88  89  90

 91  92  93  94  95  96

Vgl. Botz, Eingliederung, S. 86f. Zu Hupfauer vgl. URL:http://de.wikipedia.org/wiki/Theo_Hupfauer (07.06.2011). ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Anordnung zum Aufbau der Arbeitsfront v. 27. Mai 1938. Zur DAF vgl. allgemein Rüdiger Hachtmann: Ein Koloss auf tönernen Füßen. Das Gutachten des Wirtschaftsprüfers Karl Eicke über die Deutsche Arbeitsfront vom 31. Juli 1936, München 2006; ders.: Chaos und Ineffizienz in der Deutschen Arbeitsfront. Ein Evaluierungsbericht aus dem Jahr 1936, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53.1 (2005), S. 43–78. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Bericht Hupfauer an Bürckel und Ley v. 31. August 1938. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Anordnung Nr. 3/38. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Anordnung Nr. 4/38 v. 30. Mai 1938 betr. Durchführung der Aufnahmeaktion in die Deutsche Arbeitsfront. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Arbeitsanweisung Nr. 2 betr. Ausfertigung der Mitgliedskarten v. 28. Mai 1938. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Anordnung Nr. 5/38. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Schreiben Hupfauer an Bürckel v. 21. Juni 1938.

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fassung auf Bürckel zurückgeht und als Tendenz zur Eindämmung des Einflusses der DAF zu interpretieren wäre, kann nicht schlüssig beantwortet werden. Jedenfalls bedurfte es eines scharfen, umfangreich begründeten Protestes von Hupfauer, um das Aufgabengebiet der DAF nicht völlig der NSDAP zu überlassen: Der Reichsorganisationsleiter Dr. Ley hat mich beauftragt, Ihnen zu erklären, dass er genauso wie Sie den Willen habe, die DAF aufs engste mit der NSDAP zu verknüpfen, er glaubt in der Ostmark die Verbindung dadurch gesichtet, dass laut Ihrer Anordnung der Gauleiter der NSDAP zugleich Gauobmann der DAF ist.97

Es sei – so Hupfauer –„die Verantwortung, die die DAF hinsichtlich des Arbeitsfriedens und der fachlichen Betreuung der schaffenden Menschen gegenüber der NSDAP trägt“, welche eine eigenständige Organisation notwendig macht, damit „auch wirklich alle Aufgaben, die die DAF im Rahmen ihres Zuständigkeitsgebietes zu erfüllen hat, erledigt werden“.98 Letztlich gelang es Hupfauer und dem Führer der deutschen Arbeitsfront Robert Ley99 die eigenständige Organisation der DAF sowie ihre finanzielle Unabhängigkeit zu erhalten. Doch erst im Oktober 1939 wurden die bisherigen Gau-, Kreis und Ortsbeauftragten der DAF – wie im übrigen Deutschen Reich – zu Amtsleitern der jeweiligen Parteiorganisation mit der Bezeichnung Gauobmann, Kreisobmann und Ortsobmann der DAF.100 Die ersten Monate des Aufbaus der DAF in der ‚Ostmark‘ standen neben dem Organisationsaufbau im Zeichen der Schulung der haupt- und nebenberuflichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie der Mitgliederwerbung. Durch Propaganda, Druck und kollektive (Zwangs-)Beitritte ganzer Betriebsbelegschaften konnte die DAF binnen kurzer Zeit die Arbeiterschaft zu einem hohen Prozentsatz erfassen. Die folgende Tabelle gibt den Stand der DAF-Aufnahmen mit 2. Juli 1938 wieder.101 Rund 50 Prozent der DAF-Aufnahmen stammten aus dem geschlossenen Beitritt der Belegschaften von rund 14.000 Betrieben.

 97  98  99 100 101

ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Schreiben Hupfauer an Bürckel v. 21. Juni 1938. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Schreiben Hupfauer an Bürckel v. 21.6.1938. Zu Ley vgl. Robert Smelser: Robert Ley. Hitlers Mann an der „Arbeitsfront“. Eine Biographie, Paderborn 1989. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Schreiben Ley an Bürckel v. 7.10.1939. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Anordnung Nr. 25/38 der Dienststelle für Parteiaufbau beim RK f. die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich v. 5. Juli 1938. In der Anordnung wird erklärend festgestellt: „Da die gemeldeten Zahlen über die voraussichtlich zu erfassenden Mitglieder nach einheitlichen Gesichtspunkten aufgestellt wurden, ergibt sich aus vorstehender Aufstellung, dass die Gaue Kärnten und Oberdonau mit der Aufnahmeaktion noch weit zurück sind und die Gaue Tirol und Niederdonau mit ihrer Mitgliederziffer noch unter dem Durchschnitt liegen. Der Gau Steiermark dagegen hätte mit der ursprünglich angegebenen Ziffer von 92.100 sein Soll bereits beträchtlich überschritten. In diesem Falle ist offensichtlich die Zahl der voraussichtlich zu erfassenden Mitglieder viel zu gering angenommen worden.“

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210 210

Tabelle 1: Stand der DAF-Aufnahme mit 2. Juli 1938 Gauwaltung

Voraussichtlich zu erfassende Mitglieder

1. Kärnten

Bisher aufgenommene Mitglieder

75.000

%

35.054

46,74

2. Niederdonau

186.000

127.437

68,51

3. Oberdonau

207.000

103.238

49,89

44.500

36.840

82,89

101.687

101.687

100

4. Salzburg 5. Steiermark 6. Tirol

102.850

68.495

66,59

7. Wien

439.000

338.047

77

1.156.037

810.798

70,23

Wie eine Aufstellung über „Groß-Wien“ von Ende des Jahres 1938 zeigt,102 lagen ursprünglich die Annahmen der zu erfassenden DAF-Mitglieder weit unter den tatsächlich– durch korporative Beitritte und Zwang – erreichbaren Beitritten. Tabelle 2: DAF-Mitglieder in „Groß-Wien“ (Ende 1938) Bezirke 1,6,7,8,9

Kreis

Einwohner

DAFMitgl.

In % d. Einw.

DAFWalter

in % d. Einw.

I

276.047

164.197

78,94

10.983

3,98

II

233.676

46.237

31,55

2.198

0,94

3,4,5

III

287.077

94.164

36,76

6.815

2,37

10,11,23

2,2

IV

247.405

61.619

25,47

3.259

1,32

24,25

V

107.724

27.218

25,6

3.697

3,43

12,13

VI

153.042

29.761

20,62

2.484

1,62

VII

384.518

77.429

20,91

6.384

1,66

14,15,16 17,18,19,26 21,23

VIII

249.256

48.894

21,16

4.473

1,8

IX

148.070

33.205

22,93

2.676

1,81

2.086.815

582.724

27,92

42.969

2,06

Eine zeitgenössische Darstellung des DAF-Mitgliederbestandes von „Groß-Wien“103 zeigt auch, dass in den „Arbeiterbezirken“ bzw. in den Kreisen mit der höchsten industriellen Dichte die Anzahl der DAF-Mitglieder weit geringer war als in den sogenannten „bürgerlichen Bezirken“. 102 103

ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: NSDAP-Gauleitung Wien. Die Deutsche Arbeitsfront. ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: NSDAP-Gauleitung Wien. Die Deutsche Arbeitsfront.

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Abbildung 1: DAF-Mitgliederstand in „Groß-Wien“ (31. 12. 1938)

Während auf Gau-, Kreis- und Ortsgruppenebene die verschiedenen Verantwortungsbereiche zur umfassenden Einbeziehung der Arbeiterschaft in das NS-Regime festgelegt wurden, versuchte die DAF, die sich 1938 auch auf Reichsebene gegen Angriffe vonseiten der Wirtschaftstreibenden zu wehren hatte,104 im Rahmen der Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich Einfluss auf die Lohngestaltung zu nehmen. Durch die Einführung deutscher sozialrechtlicher Vorschriften, mit welchen das bereits durch das ständestaatliche Regime zu einem Torso verkommene und austrofaschistisch umgestaltete österreichische kollektive Arbeitsrecht außer Kraft gesetzt wurde, erlangte das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20. Jänner 1934 (AOG) und damit die Institution des „Reichstreuhänder der Arbeit“ in der nunmehrigen ‚Ostmark‘ Gültigkeit.105 Der Arbeitnehmer wurde zu einem – wie Rüdiger Hachtmann feststellt – „gesichtslosen Glied des rassischen Körpers ‚Volk‘“.106 Die unter der Führung des Betriebsführers stehende „Betriebsgemeinschaft“ stellte gleichsam eine Teilmenge der sogenannten  – nur aus 104 105 106

Vgl. Gerhard Beier: Dokumentation. Gesetzesentwürfe zur Ausschaltung der Deutschen Arbeitsfront im Jahre 1938, in: Archiv für Sozialgeschichte 17 (1977), S. 297–335. Pfeifer, Die Ostmark, S. 339 ff. Rüdiger Hachtmann: Die rechtliche Regelung der Arbeitsbeziehungen im Dritten Reich, in: Dieter Gosewinkel (Hg.): Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur, Frankfurt a.M. 2005, S. 136.

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„arischen Menschen“ bestehenden  – „Volksgemeinschaft“ dar, die als „Leistungsgemeinschaft“ den Herrschaftsplänen der nationalsozialistischen Führung zu dienen hatte. Alle „sozialen Bestrebungen“ der DAF waren – wie es in der Arbeitsrichtlinie vom November 1938 hieß – „von der gesamten politischen und gesamten wirtschaftlichen Zielsetzung nicht zu trennen“ und mussten „auf das Intensivste auf Leistungssteigerung ausgerichtet“ sein: „Der Führer hat dem Volk große Aufgaben gestellt, daher hat das Volk unter allen Umständen seine letzten Kräfte einzusetzen, um diese Aufgaben zu erfüllen.“107 Dienten alle in der Folge in den Gauen der ‚Ostmark‘ eingeführten Einrichtung der DAF – vom Berufserziehungswerk bis hin zu „Kraft durch Freude“ – der „offenen Militarisierung der Arbeitsverhältnisse“ sowie der umfassenden Kontrolle der Arbeitswelt und Freizeit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, so durfte die zur Leistungssteigerung und Erhaltung der Höchstbeanspruchung der Arbeitskraft als notwendig angesehene Erhöhung des Lebensstandards der vormals österreichischen Arbeiterschaft nicht „von der Lohnseite“ angegriffen werden.108 Die DAF versuchte vielmehr – gestützt auf Studien ihres „Arbeitswissenschaftlichen Instituts“ (AWI),109 welches sich nicht nur die Akten, Unterlagen und Arbeitsbehelfe der Arbeiterkammern, sondern auch Teile ihrer Bibliothek einverleibte  – eine reichseinheitliche Tarifgestaltung durchzusetzen und den für die Lohnpolitik zuständigen „Reichstreuhänder der Arbeit“ auf sozialrichterliche Funktionen zurückzudrängen.110 Dazu dienten die ab Juni 1938 mit NSBO-Aktivisten aus den Betrieben besetzten „Arbeits- und Sachverständigenausschüsse“, durch die beim Reichstreuhänder entsprechende tarifliche Anordnungen erreicht wurden. Die DAF drängte darauf, bei der Erlassung der von ihr ausgearbeiteten Tarifordnungen durch den Reichstreuhänder eingebunden zu werden.111 Versuchte im betrieblichen Bereich im ‚Altreich‘ 1938 das deutsche Arbeitsministerium die Treuhänder der Arbeit näher an die Betriebe heranzubringen, somit die DAF von der Gestaltung der Arbeitsbedingungen auszuschalten, was im Übrigen durch das AOG durchaus gedeckt schien, so galt es in der ‚Ostmark‘, diesen Bestrebungen Einhalt zu gebieten. In einem internen Schreiben Hupfauers an das Organisationsamt der DAF in Berlin wurde diese Gefahr unmissverständlich angesprochen: 107

ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Arbeitsrichtlinien an alle Gaubeauftragten der Ostmark v. 3. November 1938 (gez. Hupfauer). 108 Ebda. 109 Vgl. grundlegend zum AWI Karl Heinz Roth: Intelligenz und Sozialpolitik im „Dritten Reich“. Eine methodisch-historische Studie am Beispiel des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront, München 1993. 110 Vgl. dazu Rüdiger Hachtmann: Wiederbelebung von Tarifparteien oder Militarisierung der Arbeit? Kontroversen um die Grundlinien der nationalsozialistischen Tarifpolitik und die „künftige Gestaltung der NS-Arbeitsverfassung“ 1936 bis 1944, in: Karl-Christian Führer (Hg.), Tarifbeziehungen und Tarifpolitik in Deutschland im historischen Wandel, Bonn 2004, S. 114–140. 111 Vgl. etwa ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4705: Schreiben der Abt. II-NSBO-DAF an den Reichstreuhänder der Arbeit v. 3. September 1938; sowie v. 15. Juli 1938 betr. einer Angestellten-Manteltarifordnung für den Erdölbergbau, in dem die DAF für die ‚Ostmark‘ eine Änderung gegenüber dem „Reichstarif “ wünschte, in welchem nur Mindestlöhne ausgewiesen waren.

Von der NSBO zur Deutschen Arbeitsfront (DAF)

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Zur Zeit und wohl auch für die Zukunft ist Großangriff der Treuhänder der Arbeit auf die Deutsche Arbeitsfront. Anordnungen des Reichsarbeitsministeriums bringen klar zum Ausdruck, dass der Treuhänder der Arbeit immer näher an den Betrieb heran muss. Diese Bestrebungen widersprechen unserem Grundsatz der „Sozialen Selbstverantwortung“ […]112

Für die DAF hatte der Betrieb seine Arbeitsbedingungen selbst zu ordnen. Bei Schwierigkeiten sollte die DAF die „Betriebsgemeinschaft“ beraten. Sollte es zu weiteren durch die DAF nicht lösbaren Konflikten kommen, „entscheidet der vom Staat eingesetzte Sozialbeauftragte, also der Treuhänder der Arbeit“. In der Tat gelang es der DAF, diesen „von der zunächst versuchten Kleinarbeit unmittelbar im Betrieb zu entlasten und ihm so seine eigentliche Tätigkeit als oberster Sozialrichter die Hände frei zu machen“.113 Wie es scheint, gelang der DAF anfangs in den Gauen der ‚Ostmark‘ das, was sie zur Akzeptanzgewinnung in der Arbeiterschaft dringend nötig hatte, nämlich eine gegenüber dem ‚Altreich‘ bessere Verankerung in den Betrieben. Ziel der DAF war es, das Arbeitsleben und die Arbeiterschaft im Betrieb einer lückenlosen Kontrolle zu unterziehen: „Betriebsführer“ (Unternehmer, Betriebs- oder Werksleiter) und „Betriebsobmann“ sollten im Rahmen der sogenannten „sozialen Selbstverwaltung“ zur Leistungssteigerung des Unternehmens und mithin zur optimalen Ausnützung der Arbeitskraft der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eng zusammenarbeiten, womit der Gegensatz von Kapital und Arbeit zugunsten der Expansion des menschenverachtenden NS-Regimes als gelöst betrachtet wurde. Dies bedeutete mit den Worten des „Eingliederungsmanagers“ Dr. Theo Hupfauer: „Diese Einstellung unsererseits entfernt uns restlos von jedem gewerkschaftlichen Denken und Handeln.“114

Schlussbemerkung Als Resümee kann festgestellt werden, dass sich die Hoffnungen der ersten NSBO-Aktivisten auf eine – wie auch immer zu gestaltende – nationalsozialistische Gewerkschaftsbewegung – nicht zuletzt durch die Gründung der „Deutschen Arbeitsfront“ 1933/34 in Deutschland  – nicht erfüllten. Nachdem das austrofaschistische Regime trotz Protesten zahlreicher Betriebsratskörperschaften die demokratische, selbstverwaltende Struktur der Arbeiterkammern bereits 1933/34 zerstört hatte, wurden diese von den Nationalsozialisten als Teil des austrofaschistischen Einheitsgewerkschaftsbundes nahezu stillschweigend liquidiert. Die vielleicht dort oder da vorhandenen Hoffnungen einiger Funktionäre der NSBO, die die Kammern im 112

ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4705: Schreiben Hupfauers an Hauptamtsleiter Mehnert im Organisationsamt der DAF v. 20. Juli 1938. 113 ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 4700: Bericht Hupfauer an Bürckel und Ley v. 31. August 1938. 114 Ebda.

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März 1938 besetzt hatten, auf Weiterbestand der Institution innerhalb der „Deutschen Arbeitsfront“ wurden nicht erfüllt. Die Bediensteten von Einheitsgewerkschaftsbund und AK wurden – soweit sie nicht aus rassischen Gründen entlassen wurden – zum Teil abgefertigt, zum anderen Teil in die DAF-Organisation übernommen. Die Akten, Unterlagen und Archive und Teile der Bibliotheken der Arbeiterkammern (und des Gewerkschaftsbundes) wurden vom Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront (AWI) übernommen und nach Berlin transportiert. Aufbauend auf die Sympathisanten und Aktivisten der NSBO in den Betrieben, gelang es jedoch der deutschen nationalsozialistischen Administration in Österreich, gestützt auf die Organisation der NSDAP, binnen weniger Monate die „Deutsche Arbeitsfront“ zu errichten. Abgesehen von den hier nicht beschriebenen Aufgabenfeldern im Bereich der Freizeitorganisation und Berufserziehung versuchte die Arbeitsfront stärker in das betriebliche Leben einzudringen bzw. es zu kontrollieren. Weitere Forschungen über die DAF in den ‚Alpen- und Donaureichsgauen‘ – unter Einbeziehung der vor allem von der KPÖ getragenen Widerstandsbewegungen in den Betrieben – werden zeigen, inwieweit es der DAF gelungen ist, ihren in den Worten ihres Führers Robert Ley einmal mehr zum Ausdruck kommenden Totalitätsanspruch durchzusetzen: „Die Zeit, wo jeder tun und lassen konnte, was er wollte, ist vorbei.“115

115

Zit. nach Anton Staudinger: Organisierte Freizeit im Faschismus, in: Christine Wessely (Red.), Mensch und Freizeit, Wien 1977, S. 107–110, hier 110.

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Anwendungsorientierter Antisemitismus Verwendungen der Kategorien „jüdisch“ und „arisch“ in der „Arisierung“ der österreichischen Wirtschaft 1938/39 „Antisemitische“1 Einstellungen und Reden werden oft als ideologiegeleitet und irrational beschrieben. Im Zuge einer Arbeit zur „Arisierung“ und Restitution „jüdischer“ Unternehmen in Österreich nach 1938 und nach 1945 sind mir Argumentationsweisen mit Begrifflichkeiten von „jüdisch“ und „arisch“ aufgefallen, die sehr unideologisch, praktisch und anwendungsorientiert wirken. Die Vorgänge, in deren Zusammenhang diese Argumentationsweisen und Begründungen generiert wurden – die „Arisierung“ von Kleinbetrieben – können im Rahmen dieses Artikels nicht dargestellt werden. Es ging dabei im Wesentlichen um die Aneignung von Vermögenswerten, deren Inhaber als „jüdisch“ klassifiziert worden waren und für die deshalb der Schutz des Privateigentums, sonst ein Gut höchster Rangordnung in privatwirtschaftlich organisierten Gesellschaften, sehr eingeschränkt bzw. ab einem bestimmten Zeitpunkt überhaupt außer Kraft gesetzt war.2 Der Artikel präsentiert Reden und Rechtfertigungen aus Quellenmaterial, das ursprünglich für eine andere Arbeit, nämlich eine Analyse der Logiken des forcierten Vermögenstransfers im NS-Regime, recherchiert und verwendet wurde. Deswegen fehlt hier auch die übliche einleitende Diskussion des Forschungsstands. Die offizielle antisemitische Ideologie des Nationalsozialismus erscheint im Lichte dieser Dokumente weit weniger eindeutig, als man das annehmen möchte, bevor man sich mit diesem Quellenmaterial beschäftigt hat. Sie eröffnete, wie die vorgestellten Beispiele zeigen, eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten, die individuellen, „eigensinnigen“ und wenig ideologiemotivierten Handlungsstrategien Legitimation geben sollten. Der Artikel versteht sich als Beitrag zu einem Verständnis dafür, wie sich Individuen Versatzstücke offizieller Ideologie aneignen, um damit ganz persönliche Ziele zu verfolgen. Damit hoffe ich, Anregungen für tiefer gehende Forschungen zu geben, die das NS-System auch in seinen „ideologisiertesten“ Bereichen als Feld von Praktiken des Alltags zeigen. Am ehesten noch lässt sich ein solcher Zugang mit funktionalistischen Deutungen wie jener frühen 1 Der Begriff ist aufgrund undifferenzierter und beliebiger Verwendung heute weitgehend sinnentleert und enthistorisiert. Es kann im Rahmen dieses Artikels kein Überblick über die ausufernde Diskussion zur Verwendung dieses Begriffs gegeben werden. Er soll hier für die antijüdische Ideologie des Nationalsozialismus stehen. 2 Der Leser/die Leserin wird dafür auf die unten zit. Beiträge verwiesen; in: Ulrike Felber et al.: Ökonomie der „Arisierung“. Zwangsverkauf, Liquidierung und Restitution von Unternehmen in Österreich 1938 bis 1960, Teil 1: Grundzüge, Akteure und Institutionen; Teil 2: Wirtschaftssektoren, Branchen, Falldarstellungen, Wien / München 2004 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, 10/1 u. 2).

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in Franz Neumanns Behemoth vereinen.3 Auf Ebene der Geschichte der „Arisierungen“ hat Gerhard Botz’ Pionierwerk aus den 1970er-Jahren für eine solche „realistische“ Interpretation wichtige Anstöße gegeben.4

Zum Begriff der „Arisierung“ Die Bezeichnung „jüdischer Betrieb“ ist eine Kategorisierung nach Kriterien der NS-Ideologie. Die in dieser Kategorie zusammengefassten Betriebe haben gemeinsam, dass ihre Eigentümer nach den Nürnberger Gesetzen als „Juden“ galten. Besonders in der Kleinproduktion und im Handel stößt man in den Arisierungsakten auf eine Charakterisierung von Geschäftsgewohnheiten wie „Raffgier“, „Schmutzkonkurrenz“, die Suche schnellen Gewinns, Steuerhinterziehung, Kreditbetrug etc. als „jüdisch“. In den Dokumenten zeigt sich, dass auch „Rassenarier“ solche „jüdischen“ Praktiken und Eigenschaften aufweisen konnten – „jüdische“ Eigenschaften in diesem Sinn war ein dehnbarer Begriff. Betriebe galten als „jüdisch“ allerdings nach den Nürnberger Gesetzen, somit nach der Abstammung des Unternehmers und nicht nach dessen Geschäftspraktiken. Man hat es also mit einem doppelbödigen Judenbegriff zu tun. Auf der einen Seite wurden real existierende Phänomene des Geschäftslebens als „jüdisch“ qualifiziert. In diesem Sinn kann die NS-Parole von der „Ausschaltung jüdischen Einflusses in der Wirtschaft“ als Versuch der Ausschaltung von unerwünschten Entwicklungen des Wirtschaftslebens verstanden werden. Auf der anderen Seite wurde die Frage, ob es sich um einen „jüdischen“ Betrieb handle, von der „rassischen“ Herkunft des Besitzers, manchmal von einer „anthropologischen Untersuchung“ abhängig gemacht.5 In Partei-Fragebögen zur Firmenbestandsaufnahme wurden „Rassenfragen“ gestellt: Wie viele von den vier Großeltern des Betriebsinhabers und wie viele der Großeltern des Ehegatten jüdisch seien? 6 In diesem Sinn spielte es keine Rolle, wenn ein solcherart als „jüdisch“ identifizierter Geschäftsmann auch nach NS-Vorstellungen „seriös“, also etwa nach Grundsätzen „nationalsozialistischer Wirtschaftsauffassung“ wirtschaftete. Er wurde allenfalls höher geachtet, aber seinen Betrieb durfte er dennoch nicht behalten – diese Definition von „Juden“ war also rein rassenideologisch und nicht aus Elementen der wirtschaftlichen Praxis gezogen. Eine historische Analyse wird nicht davon ausgehen, dass „jüdische Betriebe“ über ihre Zusammenfassung in dieser Kategorie seitens der NS-Behörden hinausgehende Gemein3 Franz Neumann: Behemoth. The structure and practice of National Socialism, Toronto / New York / London 1942, S. 121–125. 4 Gerhard Botz: Wien vom „Anschluss“ zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, Wien / München 1978. 5 Beurteilungen Speditionsbetriebe (Fa. Leopold Spitz): Auskunft der Abt. Verkehr der VVST 19.11.1938, Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik (ÖStA-AdR), Vermögensverkehrsstelle (VVST), Kt. 1378. 6 Fragebogen für politische Leiter zwecks Erfassungsaktion 23.8.1938, ÖStA-AdR, VVST, Kt. 1423.

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samkeiten hatten, also etwa „jüdisch“ wirtschafteten. In ihrer Struktur oder in ihrer Art zu wirtschaften ist eine Gemeinsamkeit dieser Betriebe nicht zu erkennen – was sollte auch eine Aktiengesellschaft mit einem Zuckerlgeschäft gemeinsam haben? Den im NS-Regime als „jüdisch“ klassifizierten Betrieben war gemeinsam, dass auf sie Verkaufszwang ausgeübt wurde und sie durch staatlichen Eingriff liquidiert werden konnten. Aus Sicht des Historikers ist „jüdisch“ kein brauchbarer Begriff zur Kategorisierung von Betrieben. Er grenzt den Forschungsbereich ab, den eben jene Betriebe darstellen, die vom NS-Regime als „jüdisch“ behandelt wurden. Im Folgenden soll dargestellt werden, wie diese Abgrenzung argumentiert wurde. Zu einer historischen Beurteilung des Vorgangs, den das NS-Regime als „Arisierung“ bezeichnete, ist es notwendig, eigene Kategorien zu entwickeln. Auf einer Ebene der NSIdeologie war die „Entjudung“ (die Politik der „Arisierung“ und der Liquidierung „jüdischer“ Betriebe) ein Ziel für sich. Unter dem Auge des Historikers zeigen sich auf der Ebene der konkreten Folgen dieser Politik Ergebnisse, die in anderen Begrifflichkeiten fassbar gemacht werden können als jenen der NS-Ideologie. In den Rationalisierungsbemühungen im Zuge der Angleichung der österreichischen Wirtschaft an jene des Reichs waren als „jüdisch“ qualifizierte Betriebe die Manövriermasse, über die aufgrund dieser Kennzeichnung verfügt werden konnte, im Gegensatz zu nicht-„jüdischen“ Betrieben, bei denen ein Zugriff des Staats erheblich schwieriger war. Deutlich wird dies in den Planungsarbeiten, welche das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW) im Auftrag des Reichskommissars Bürckel und die mit der Durchführung von „Arisierung“ und Liquidierung beauftragte Wiener Vermögensverkehrsstelle (VVST) erstellten.7 Die Kennzeichnung als „jüdisch“ war ein wichtiges Vehikel für den Eingriff des NS-Staates in die Privatwirtschaft.8

„Jüdisch“ in der Wirtschaft Wer im Nationalsozialismus „Jude“ war, wurde bekanntlich durch die „Nürnberger Gesetze“ festgelegt. Demnach galt als Jude, wer drei „rassisch volljüdische“ Großeltern hatte, deren „Rasse“ sich aus der Zugehörigkeit zur mosaischen Glaubensgemeinschaft ergab. Das Berufsbeamten- und das Reichskulturkammergesetz gaben z.T. weitere „Juden“-Definitionen. Als „jüdisch“ galten Betriebe, wenn deren Inhaber, mindestens einer der persönlich haftenden Gesellschafter, vertretungsbefugteren Personen oder Mitglieder des Aufsichtsrates nach den Rassegesetzen als „Jude“ anzusehen war, oder wenn das Kapital zu mehr als einem Viertel resp. 7 Auf die RKW-Planungsberichte haben Götz Aly und Susanne Heim aufmerksam gemacht: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a.M. 1997, S. 22–43. 8 Vgl. dazu: Berthold Unfried: Liquidierung und „Arisierung“ von Betrieben als Element von Strukturpolitik und NS-„Wiedergutmachung“, in: Ulrike Felber et al., Ökonomie der „Arisierung“, Teil 1, S. 166–226.

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das Stimmrecht zur Hälfte von „Juden“ gehalten wurde. Als „jüdisch“ galten im Weiteren auch Betriebe, die „tatsächlich unter dem herrschenden Einfluss von Juden“ stünden.9 Diese letzte Definition eröffnete einen maximalen Interpretationsspielraum für den staatlichen Zugriff auf den solcherart definierten Teil der Privatwirtschaft. Die Kennzeichnung als „jüdisch“ eröffnete Eingriffsmöglichkeiten in die Privatwirtschaft, die dem Staat zu „normalen“ Zeiten nicht zur Verfügung standen. Besonders deutlich wird diese Etikettierungsfrage im Fall der Wiener industriellen Großbäckerei „Ankerbrot“. Zunächst hatte die Firma in den RKW-Strukturberichten zur Lebensmittelindustrie als „arisch“ gegolten. Dann wurde eine „jüdische“ Aktienmajorität konstatiert. Durch das Hin- und her- Schieben von Aktienpaketen wurde die Firma zwischendurch wieder „arisch“ – nachdem nämlich die Gestapo das „jüdische“ Aktienpaket Mendl beschlagnahmt und dem Oberfinanzpräsidenten übertragen hatte, wodurch es „arisch“ und damit den Zugriffsmöglichkeiten der Arisierungsgesetzgebung entzogen wurde.10 Der Aktionär Otto Mendl oszillierte als „Mischling“ zwischen „jüdisch“ und „arisch“. Die Bestrebungen, ihn zu „arisieren“, hingen mit seinem Aktienbesitz zusammen, dem eine entscheidende Bedeutung bei der Aufsprengung des als „jüdisch“ eingestuften „Bettina Mendl“Syndikats zukam. Möglicherweise wurde ihm die „Arisierung“ seiner Person im Gegenzug für ein diesbezüglich kooperatives Verhalten in Aussicht gestellt. Die Frage, ob seine Aktien „jüdisch“ oder „arisch“ waren, wurde zu einem wichtigen Punkt der Auseinandersetzung zwischen den diversen Interessengruppen innerhalb der „Ankerbrot“. Das Hin und Her um seinen Status und denjenigen seiner Aktien führte so weit, dass zur selben Zeit, da er in der Wehrmacht als Flieger diente, seine „Ankerbrot“-Aktien als „jüdisch“ veräußert wurden.11 Seine zuvor erfolgte „Arisierung“ hat ihn letztlich das Leben gekostet. Otto Mendl ist im Krieg gefallen. Auch der „Ariseur“ der „Heller“-Süßwarenfabrik, Viktor Opalski, konnte, seinem „jüdischen“ Schwager Hans Heller zufolge, „mit Görings Hilfe“ eine Großmutter „arisieren“ lassen. Nach dem Krieg habe er dann, den veränderten Verhältnissen Rechnung tragend, ein Dokument präsentiert, welches der Großmutter wieder eine „jüdische“ Abkunft attestierte.12 Die Heller-„Arisierung“ war also intrafamiliär an das einzige „arische“, zugeheiratete Familienmit  9 3. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. 6. 1938, RGBl. vom 15. 6. 1938, hier in: ÖStA-AdR, Bürckel Nachträge 140.9; vgl. Karl Schubert: Die Entjudung der ostmärkischen Wirtschaft und die Bemessung des Kaufpreises im Entjudungsverfahren, Diss. HS für Welthandel, Wien 1940, S. 36–37. 10 Das Verwirrspiel um die Aktienmajorität bei „Ankerbrot“ ist zusammengefasst in dem Bericht des VVST-Mitarbeiters Dr. Philippovich v. 6. 11. 1941 und dem Schreiben VVST/Dr. Delbrügge an Reichsfinanzminister, 26. 7. 1941, beide: ÖStA-AdR, VVST, Ind. 609 II (Kt. 3429). 11 In den Jahren 1940–42 wird Mendl einmal als „Otto Israel Mendl“ und „unbekannten Aufenthalts“, ein anderes Mal als Angehöriger der Wehrmacht bezeichnet. Widersprüchliche Angaben gibt es auch über die Höhe des Kaufpreises für seine Aktien. Sie schwanken zwischen 7 und 11 RM/Stück – Hans Fritsch, Treuhänder für Otto Israel Mendl an „Ibäck“, Wien 25. 8. 1940; dagegen: „Ibäck“ an Reichswirtschaftsminister, im Wege über die Abwicklungsstelle der VVST, 27. 5. 1942, beide: ÖStA-AdR, VVST, Ind. 609 II (Kt. 3429). 12 So Hans Heller: Zwischen zwei Welten. Erinnerungen, Dokumente, Prosa, Bilder, Wels 1985, S. 55.

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glied erfolgt und dieser Vorgang über eine freundschaftliche Verbindung des „Ariseurs“ zu Göring gedeckt worden.13 In der Praxis gab es beträchtliche Ermessensspielräume und Unsicherheiten darüber, welche Betriebe als „jüdisch“ anzusehen waren. Die Firma Mautner-Markhof etwa war für die VVST nicht Fisch, nicht Fleisch, „nicht jüdisch, aber auch nicht arisch“.14 Wie bereits erwähnt, stand dies oft damit in Zusammenhang, dass zwei Begriffe von „jüdisch“ vermischt wurden: ein rassenideologischer, der auf die Herkunft des Eigentümers, Gesellschafters oder Aktionärs abzielte, und einer, für den „jüdisch“ ein Bündel von Eigenschaften und Verhaltensweisen in der Wirtschaft war. Den letzteren, „instrumentellen“, situationsabhängig und zweckorientiert gebrauchten Judenbegriff findet man in „wirtschaftsnahen“ Sektoren des NS-Staats.  Der Vierjahresplanbeauftragte Göring prägte den Begriff der „weißen Juden“. Das seien „Rassenarier“ mit „jüdischen“ Eigenschaften. „Jüdisch“ bedeutete hier raffgierig, preistreiberisch, ausnützerisch. Diese Bezeichnung wurde in diesem Zusammenhang ein Synonym für alle unliebsamen Erscheinungen in der Privatwirtschaft. Ein Teil der Wiener „Ariseure“ sei von seinen Gewohnheiten her als „jüdisch“ anzusehen, berichtete der „Völkische Beobachter“: „Eine gewisse Sorte von Volksgenossen“ glaube, „mit der Notwendigkeit der Arisierung eine Eigenspekulation verbinden zu müssen, das heißt also, das Gute mit dem für sie Nützlichen zu verbinden, mit anderen Worten: Sie neigen sehr dazu, sich jüdische Gepflogenheit zu eigen zu machen.“15 Solche Charakterisierungen von „rassisch“ einwandfreien „Ariern“ als „jüdisch“ hinsichtlich ihrer Gewohnheiten und ihres Verhaltens finden sich nicht selten. Über eine „rassenarische“ Familie sagte der Bürgermeister von Lustenau, „sie gehöre zu jenen, die nur, aber auch nur, auf das eigene Ich bedacht sind. Man darf wohl sagen, die Übervorteilung des Partners ist zum Lebensprinzip geworden. Der Charakter gleicht dem der Juden, Vorteil um jeden Preis. […] Man könnte die ganze Familie als Geldfanatiker bezeichnen, denn ihnen ist das Geld der Herrgott.“ Eine Schwester sitze bezeichnenderweise in Wien im Gefängnis „wegen Schiebereien im Verband mit Juden“.16 Das Verdikt eines „jüdischen“ Habitus konnte auch ausgewiesene Parteigenossen treffen, so im Fall jenes kommissarischen Verwalters einer Spirituosenfirma, der einen Bewerber für die Firma ablehnte, der aufgrund seiner Parteimeriten im Zuge der NS-„Wiedergutmachung“17 zum Zug kommen sollte. In einem Wortgefecht bezeichnete der zuständige Referent der VVST den kommissarischen Verwalter, einen Parteigenossen, als Erfüllungsgehilfen des „jü-

13 Zu diesem interessanten Fall von „einvernehmlicher Arisierung“ vgl. Berthold Unfried: Grundzüge der Restitution von Unternehmen, in: Ulrike Felber et al., Ökonomie der „Arisierung“, Teil 1, S. 283–287. 14 So der ratlose Assessor Keune in einem Bericht an den Zuckerwirtschaftsverband v. 29. 11. 1938, ÖStA-AdR, VVST, Kt. 1386, M.30. 15 Völkischer Beobachter, Wiener Ausgabe (29.04.1938). 16 Beurteilung des Bgm. v. Lustenau, 8. 12. 1938, an Wr. Ortsgruppenleitung d. NSDAP, zit. in: Aktenvermerk Regierungspräsident für den Reichsleiter, Wien, 2. 1. 1942, ÖStA-AdR, VVST, Kt. 1376, D 145. 17 Zur sogenannten „NS-Wiedergutmachung“ s.u.

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dischen“ Betriebsinhabers.18 Dieses Beispiel zeigt, wie leicht man auch als Parteimitglied in die Rolle eines „Judenknechts“ gedrängt werden konnte. Auch „rassisch“ einwandfreie „Arier“ konnten demnach „jüdischen Geist“ in Betrieben verbreiten. Solche Argumentationen dienten insbesondere dazu, zu verhindern, dass durch einvernehmliche Übertragungen von Betriebsvermögen von „Juden“ an solche „Arier“ der Staat oder die Partei um ihren Gewinn und Einflussmöglichkeiten bei der „Arisierung“ eines Betriebes kamen.19 Oft waren gerade hochgestellte „Nazis“ mit ihren guten Beziehungen die geeignetsten Partner von „rassenideologisch“ definierten „Juden“, wenn es darum ging, Privateigentum auf Basis einer Teilung gegen den Zugriff des Staates zu schützen. In solchen Fällen agierten sowohl „Jude“ als auch „Arier“ als Geschäftsleute und hatten neben vielen widerstrebenden auch ein starkes gemeinsames Interesse, nämlich den Staat mit seinen Abschöpfungsinstrumenten aus ihren Geschäften nach Möglichkeit herauszuhalten. Die Kennzeichnung als „jüdisch“ ermöglichte der Partei und dem Staat den Zugriff auf einen Teil der Privatwirtschaft. Eine solche Instrumentalisierung des Judenbegriffs ist für „Arisierungen“ in Oberösterreich belegt. Dort wurden unter der ideologischen Hülle der „Entjudung“ u.a. Eingriffe in Betriebe in Richtung sozialer Verbesserungen und Lohnerhöhungen durchgeführt. Das ging so weit, dass in Einzelfällen Uneindeutigkeiten, ob ein Betrieb nach den NS-Richtlinien als „jüdisch“ anzusehen sei, dazu ausgenützt wurden, den Betrieb unter kommissarische Verwaltung zu stellen. Dabei scheint eine Argumentation verwendet worden zu sein, die dem Betrieb „jüdische“ Praktiken unterstellte.20 In eine Begrifflichkeit von „jüdisch“ fanden sich auch klassenkämpferische Strömungen eingekleidet. Die Entlassung eines „jüdischen“ Personalchefs der „Ankerbrot“-Fabrik wurde von der Belegschaft allgemein begrüßt und auch nach 1945 sprach sich der Betriebsrat gegen dessen Wiedereinstellung aus, weil er ihn als arbeiterfeindlich ansah.21 Im März 1938 richtete sich der Arbeiterzorn tätlich auch gegen „arische“, aber als arbeiterfeindlich eingestufte Ingenieure.22 Eine „praktische“, wenig von „rassenideologischen“ Überlegungen beeinflusste Auffassung vom „Jüdischen“ in der Wirtschaft scheint auch in der Bevölkerung vorgeherrscht zu haben. Der Leiter der Reichsgruppe Handel berichtete, dass in der Bevölkerung die Meinung herrsche, dass „der Handel in seiner Mehrheit eigensüchtig und nicht nationalsozialistisch einge18 Kommissarischer Verwalter Haselhoff Lich an Staatskommissar, Wien, 11. 2. u. 13. 2. 1939, ÖStA-AdR, VVST, Stat. 7340. 19 Ein aussagekräftiges Beispiel (aus der „Arisierung“ der Fettwarenfirma Estermann) bringt Michael John: Modell Oberdonau? Zur wirtschaftlichen Ausschaltung der jüdischen Bevölkerung in Oberösterreich, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3.2 (1992), S. 208–234, hier 221. 20 John, Modell Oberdonau, S. 217 f. 21 Vgl. dazu das Schreiben Ankerbrotfabrik AG an BMVS, Abt. 7, Wien 7. 7. 1948, in: ÖStA-AdR, Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung/Bundesministerium für Finanzen (BMVS/BMF), Kt. 4964, 261005–35/1955. 22 So gegen einen Ing. Chalupka der „Ankerbrot“-Fabrik, ÖStA-AdR, Handelsministerium, Kt. 733, Ministerbüro Fischböck 1938/39.

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stellt sei. Es werde zugegeben, dass die jüdischen Geschäftssitten in Wien bei den Geschäftsleuten vielfach in sehr starkem Maße anzutreffen gewesen seien.“23 Passagen aus einem Beschwerdebrief von („arischen“) Angestellten einer Wiener Confiserie an den Leiter der Vermögensverkehrsstelle über die „Arisierung“ des Geschäfts24 geben plastisch Erwartungen einfacher Arbeitnehmer an die NS-Herrschaft ebenso wieder wie den Versuch, Versatzstücke der NS-Ideologie in persönlichen Machtkämpfen einzusetzen. Die Verkäuferinnen, die sich nach ihrem verhafteten „jüdischen“ Chef „Reich-Mädchen“ nannten, hatten einen eindeutig funktionellen Judenbegriff, der auf Eigenschaften abzielte und nicht auf Herkunft: Der Nationalsozialismus sei doch für den Gemeinnutz, seine angebliche Vertreterin, die kommissarische Verwalterin, kenne aber nichts als Eigennutz. Sie erscheint als die wahre Inkarnation des „Jüdischen“, obwohl sie ja vom Rassenamt ihr „Ariertum“ bescheinigt bekommen hatte: Skrubellos geht diese Frau gegen uns vor. Sie sieht nur ihr eigenes ich vor Augen. […] Sie vertritt ausschlisslich gegenwärtig nur ihre Tasche, und nützt den Umsturz nur für sie ganz alleine aus. Alle sonst jüdischen Gepflogenheiten macht sie sich zu eigen. […] während wir unsere Löhne vom Juden und Ing. A. Reich erhöht bekamen in Anbetracht der Machtergreifung Adolf Hitlers will uns die kommissarische Leiterin um unsere Rechte glatt blitzen […] Uns Angestellten kann es doch ganz gleichgiltig sein ob uns ein Jude oder ein Arier begaunert nur mit dem Unterschiede das wir bei dem Juden weiter unsere Kosten erhalten hätten, während wir durch die Arische Kommissarisch Leiterin bald auf der Straße sitzen werden und stempeln gehen müssen […]

Gegenüber der „Funktionsjüdin“ nahmen die Angestellten den immer als „unser Chef “ bezeichneten vormaligen Besitzer Reich in Schutz, der ja nach NS-Rassegesichtspunkten als „Jude“ identifiziert und wegen angeblicher „Schändungsversuche“ von Angestellten verhaftet worden war: Wenn man unseren Chef Schändung vorwirft so müssen wir antworten, Korporativ einschreiten und sagen das er nur ein Mädchen schänden kann, die sich schänden lässt. Und nur zugerne haben sich manche von Ihm schänden lassen, da er ein sehr schöner Mann ist. 23 Berliner Beauftragter des Gauleiters und Reichskommissars (Kratz) an Reichskommissar (Bürckel), Berlin 20. 7. 1939, ÖStA-AdR, Bürckel Materie, 2235/0. 24 „An den Herrn Ingenieur Dr. Raffelsberger“, 20. 6. 1938, ebda. (alle orthographischen Fehler ohne: sic belassen, nur ganz offensichtliche Verschreibungen korrigiert; alle Hervorh. im Orig.), ÖStA-AdR, VVST, Stat. 10515 (Kt. 742).

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Wenn nun deren von der kommissarischen Verwalterin verhetzte Verbündete vor Gericht behauptet, unser Chef wollte Sie schänden und verführen, so müssen wir darüber nur lachen, zumal das die hässlichste in unsere Betriebe ist und auch die unapetittlichste. So einen schlechten Geschmack hat wohl unser Ingenieur niemals besessen.

Vielmehr habe sie ihn zusammen mit der kommissarischen Verwalterin angezeigt, weil er sie verschmäht habe. Das ist also ein Fall, in dem  „arische“ Bedienstete einen  „jüdischen“ Geschäftsinhaber verteidigten, der noch dazu sexueller Übergriffe ihnen gegenüber beschuldigt war. Als „jüdisch“ versuchten sie vielmehr die vom NS-Staat eingesetzte kommissarische Verwalterin zu qualifizieren – ein schönes Beispiel einer funktionalen Verwendung der Begrifflichkeit von „jüdisch“. Eine Disposition zu „jüdischen“ Geschäftsgewohnheiten konnte, NS-Vorstellungen zufolge, auch im Betrieb selbst stecken. Leicht konnte dann der „jüdische Geschäftsgeist“ auf den „arischen“ Übernehmer überspringen. Solche „passiven jüdischen Betriebe“ müssten deswegen geschlossen werden, wurde argumentiert. Denn es habe keinen Zweck, ein solches Geschäft oder einen Gewerbebetrieb durch einen Arier weiterführen zu lassen, „weil die Gefahr besteht, dass auch der Arier nicht weiter kann und dann zu denselben Geschäftsmethoden greift, die wir am früheren, jüdischen Inhaber nicht genug rügen konnten“.25 So sei die Übernahme einer Firma „für einen seriösen, arischen Kaufmann nicht unbedenklich […], nachdem der Geschäftsumfang dieser Firma zum Teil das Ergebnis des jüdischen Geschäftsgebarens ihres bisherigen Inhabers gewesen sei“.26 Der „Ariseur“ führe – so ein zweites Beispiel – das Hotel überhaupt nicht im Stil einer NS-Wirtschaftsführung, sondern so wie der „jüdische“ Vorbesitzer: verdreckt, verwanzt, mit „minderwertigem Publikum“ und ohne Investitionen zu tätigen, heißt es in der Begründung dafür, ihm das Leopoldstädter Hotel wieder zu entziehen. Als Grundlage dieser Fortführung „jüdischen“ Geschäftsstils wurde ein Einvernehmen mit dem „jüdischen“ Vorbesitzer vermutet.27 Mit Entsetzen musste die Partei konstatieren, dass komplett „rassenarische“ Blutordensträger sogenannte „jüdische“ Eigenschaften annahmen, sobald sie im Zuge der „Wiedergutmachung“ ein Geschäft übernommen hatten. Sie zogen so viel Kapital als möglich aus dem Betrieb ab, verprassten es, behandelten Angestellte als Untergebene statt als Parteigenossen und ersetzten sie durch ihre Kumpane. Schnell wurde ruchbar, dass die Meritenelite des Nationalsozialismus ihr symbolisches Kapital für peinliche Kämpfe um materielle Vorteile einsetzte und dabei ungezügelten Appetit entwickelte, in der Naziterminologie hätte man sagen können, „jüdische“ Eigenschaften ausbildete.28 25 Heinrich Tillner an Reichskanzlei, Wien 16. 7. 1938, ÖStA-AdR, Bürckel-Materie, 2160/00 II. 26 VVST/Assessor Keune an Generalstabsmajor Theodor v. Hoffmann-Ostenhof, 8. 8. 1938 betr. Erwerbsantrag für eine Samenhandlung, ÖStA-AdR, VVST, Kt. 1387, M.48. 27 ÖStA-AdR, VVST, Gew. 3513 (Kt. 224), Hotel de Russie, Wien 2. 28 Zu solchen Fällen vgl. Unfried, Liquidierung und „Arisierung“, S. 195–201.

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Bei Beurteilungen der Geschäftspraktiken von Firmen kamen den beurteilenden NSWirtschaftsfunktionären (hier einem Reichsnährstandfunktionär) der funktionale und der rassische Judenbegriff durcheinander: „Durchaus jüdisch! Dementsprechende Geschäftsmoral!“ – da passte beides noch zusammen. „Inhaber arisch (angeblich), beschäftigten vornehmlich jüdische Vertreter. Geschäftsmoral minder! An der Grenze der Kriminalität“ – bei diesem Beispiel musste aus dem „Arier“ mit „jüdischen“ Geschäftsgewohnheiten schon ein „angeblicher Arier“ werden, um in keinen Widerspruch zur Rassenideologie zu geraten. „Vollkommen jüdisch!“ wird eine Firma bezeichnet, der jedoch der niederösterreichische „Verband ländlicher Genossenschaften“ zur selben Zeit attestierte, sie habe sich „als durchaus seriöse, vollkommen reale, sehr leistungsfähige und billig liefernde Firma erwiesen“, mit der er seit 15 Jahren in „angenehmer Geschäftsbeziehung“ gestanden habe.29 Welche waren also die nationalsozialistischen Vorstellungen von „jüdischen“ Geschäftsgewohnheiten? Es handelt sich um ein Bündel an Verhaltensweisen und Orientierungen im Geschäftsleben und im Alltag, die sich aus den Charakterisierungen, Beurteilungen und Anschuldigungen, wie sie sich in den Arisierungsakten finden, folgendermaßen destillieren lassen: größtmögliches Ziehen von Profit aus dem Betrieb; maximale bis illegale Privatentnahmen; unsoziales Auspressen der Belegschaft; unordentliche bis betrügerische Buchhaltung; Fehlen hygienischer Standards: „echt jüdisch verdreckt“; „Schmutzkonkurrenz“; alles nur unter dem Geldrentabilitätsgesichtspunkt sehen; von reiner Profitlogik getrieben sein; nur den eigenen Nutzen als Maxime haben; die Konkurrenz mittels „jüdischen Drehs“ ums Ohr hauen; unproduktiven Handel treiben und damit den Profit aus der Produktionssphäre herausziehen. In der Charakterisierung einer Weinhandelsfirma seitens der von NS-Stellen gerne eingesetzten Wirtschaftsprüfer Kreide & Schleussner findet man etliche dieser Merkmale „jüdischen“ Wirtschaftens vereint: Der Zustand der Kellereien ist im Vergleich zu deutschen Kellereien als vollkommen unhygienisch zu bezeichnen. […] Die Juden haben aus dem Betriebe stets an Geld herausgezogen, was nur eben möglich war, dagegen niemals investiert. Das Geschäft wurde nach dem Motto betrieben: Schlechte Weine, schlechte Kunden! und bedeutete eine große Gefahr für den ehrlichen sauberen arischen Weinhandel.

Außerdem hätten die „jüdischen“ Geschäftsführer dieser Weinhandelsfirma Bilanzfälschung betrieben sowie einen Teil der Aktien getarnt ins Ausland verschoben.30 Als genuin „jüdische“ Unternehmensform galt die anonyme Kapitalgesellschaft, die international agiert und ihr Kapital blitzartig und einzig einer Profitlogik folgend verschiebt. Als 29 Charakterisierungen aus: ÖStA-AdR, VVST, Kt. 1387, M.43 (Mischfuttererzeuger); Verband ländlicher Genossenschaften an VVST/Keune, Wien 24. 8. 1938, ÖStA-AdR, VVST, Kt. 1387, M.55. 30 Gutachten über die Arisierung der Fa. Klein & Brandl AG, Wien 13, Pfadenhauerg. 2–4, erstellt durch Dipl.Ing. F. Kreide und Dipl.Kfm. Dr. E. Schleussner, o.D. (2. Hälfte 1938), ÖStA-AdR, VVST, Stat. 7455.

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„arische“ oder „nationalsozialistische“ Wirtschaftsgrundsätze, wie sie sich aus Auflagen bei der „Arisierung“ von Betrieben und aus Charakterisierungen von erfolgreichen „Ariseuren“ ableiten lassen, galten dagegen: Belegschaftszahl erhöhen – „Volksgenossen“ Arbeit geben; in der Belegschaft „Volksgenossen“ sehen – sie in einem Geist der Kameradschaft führen; schöne saubere Arbeitsbedingungen  – hygienische Belegschaftsräume; ehrliches Wirtschaften  – Gewinne reinvestieren. Als „jüdische“ Geschäftsgewohnheiten galten hingegen „Raffgier“, Suche schnellen Gewinns, Steuerhinterziehung, übermäßiges Herausziehen von Kapital aus dem Betrieb, Kreditbetrug, „unsoziales Verhalten“. Das sind negative Abspaltungen von Praktiken, die im Geschäftsbereich habituell sind. Übliche Vorgangs- und Funktionsweisen des Finanzkapitals werden zu spezifisch „jüdischen“ Praktiken stilisiert. Für die Charakterisierung solcher Praktiken stellte der Nationalsozialismus die Begrifflichkeit des „Jüdischen“ zur Verfügung. Es fand eine Art Übersetzung von in einer kapitalistischen Wirtschaft charakteristischen Verhältnissen, wie jenem, dass der Kapitalgeber die Produktion dominiert, in eine Sprache des Antisemitismus statt. So erschien die gängige Praxis, Kredite fällig zu stellen und den Betrieb bei Zahlungsunfähigkeit zu übernehmen, als typisch „jüdisches“ Vorgehen. Eine typische zeitgenössische Erzählung in diesem Zusammenhang ist jene von einer biederen kleinen Firma, die, seriös aufgebaut, „infolge der hauptsächlich jüdischen Konkurrenz“ in Schwierigkeiten kommt. Im gegenständlichen Fall durch die große Inzersdorfer TeigwarenFabrik, welche die Konkurrenz durch Schleuderpreise ruiniert. Preise, die auf fabrikmäßigen Herstellungsmethoden beruhen. Dadurch kommt die kleine „arische“ Fabrik in Schwierigkeiten. „Die Ursache war, dass die Credit-Anstalt unsere Gegner reichlich unterstützte.“ Als die Banken die Kredite fällig stellten, „konnten (wir) uns gegen das jüdische Vorgehen nicht wehren“. Die Fabrik muss sperren, die Gläubiger übernehmen Inventar und Liegenschaften. Bei Wegfall der jüdischen Konkurrenz, die ja jetzt wohl auf der Tagesordnung sei, könne der Betrieb aber wiedereröffnet werden. Dazu bedürfe es nur des notwendigen Kapitals.31 Ein häufiges Argument für die „Arisierung“ einer Firma war, dass der redliche „arische“ Firmengründer in den 1920erJahren oder in der Wirtschaftskrise aufgrund von Finanzschwierigkeiten durch „jüdisches“ Kapital aus der Firma gedrängt worden sei. In dieser Argumentation wurde die „Arisierung“ zur „Wiedergutmachung“, der „arische“ Unternehmer in seine Rechte wieder eingesetzt. Die in einer Sprache des Antisemitismus geäußerte Kritik an bestimmten Wirtschaftspraktiken ist allerdings nicht als bloßes Phantasma zu werten. Die ideologische Sprache ist mit der sozialen Wirklichkeit rückgekoppelt, auf verworrenen Wegen zwar, aber sie ist nicht völlig abgehoben von ihr. Auch die antisemitischen Begrifflichkeiten verweisen auf reale soziale Phänomene. Diese konnten wiederum auf die ideologischen Sprachfixierungen rückwirken. Bis zu einem gewissen Ausmaß ließen sich die Kategorisierungen der NS-Ideologie durch die soziale Wirklichkeit durchbrechen. 31 Carl Volpini de Maestri an die Geschäftsstelle des AA, Wien April 1938, in: ÖStA-AdR, VVST, Kt. 1385, M.14, betr. Übernahme seiner Mühle durch die CA als Hauptgläubiger im Zuge des Ausgleichsverfahrens.

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Sogar in der Partei war die „rassische“ Kennzeichnung als „jüdisch“ in einem gewissen Rahmen verhandelbar. Der „Führer“ selbst gab etwa „Gnadenerlasse“ aus, wie in jenem Fall des Mit-Ariseurs des „Lux-Tonpalast“-Kinos in Wien-Ottakring, den ein SA-Kamerad als „Mischling“ outete. Tatsächlich erwies sich, wahrscheinlich durch das Rasseamt, dass der „Ariseur“ und SA-Sturmbannführer Kurt Sandor nicht rein „arischer“ Abstammung war. Doch da trat der „Führer“ selbst auf und stellte einen Gnadenerlass schützend vor den Blutordensträger: Nach Vortrag des Chefs der Kanzlei des Führers der NSDAP verfüge ich auf dem Gnadenwege, dass Kurt Sandor, Wien III, Ungargasse 6/8, geboren am 19. 2. 1911 zu Wien, trotz nicht rein arischer Abstammung weiterhin der NSDAP ohne Einschränkung der Mitgliedsrechte angehören kann.32

Auf der anderen Seite gab es Funktionäre wie den kommissarischen Verwalter des gesamten Buchhandels, der aus eigenem Ermessen einen verschärften Judenbegriff durchzusetzen versuchte. Als „jüdisch“ wollte er alle Betriebe ansehen, die den „Ariernachweis“ nicht bis ins Jahr 1800 zurück erbringen konnten.33 Ein eigenes „Problem“ für die antisemitische Praxis waren die sogenannten „Mischlinge“. Solche Fälle bereiteten der „Reichsstelle für Sippenforschung“ Einstufungsschwierigkeiten. In den einschlägigen Gesetzen zur „Arisierung“ kamen „Mischlinge“ nicht eigens vor. Deswegen gab es einen beträchtlichen Ermessensspielraum. In dem Fall der Krawattenfirma Winkler & Schindler fand offenbar eine „Arisierung“ zwischen „Mischlingen ersten Grades“ statt. Die beiden erwähnten Mautner-Markhofs wurden als „⅜ Juden“ eingestuft, kamen also zwischen „Mischling ersten Grades“ (zwei „jüdische“ Großeltern) und „Mischling zweiten Grades“ (ein „jüdischer“ Großelternteil) zu liegen. Auch hier waren „Gnadengesuche“ an den „Führer“ keine Seltenheit. „An meinen Führer“ richtete eine Frau Fröschel eine „Bitte um Gnade“ wegen ihres Sohns, der nach den Rassegesetzen als „Mischling 1. Grades“ galt. Die Mutter, die ihn mit einem „Juden“ gezeugt hatte, suchte um eine Ausnahme von seinem „Rassenmakel“ aufgrund seiner Parteimeriten an. „Mein Sohn ist, solange er im Glauben war, dass er seiner Abstammung nach das Recht hat, für die Partei zu kämpfen, ein treuer Anhänger ihres Regimes“, schrieb sie an den „Führer“. „Er hatte auch eine kleine Arreststrafe zu verbüßen“ (wegen Tragens weißer Kniestutzen 1934).34 Das Wirtschaftsministerium sprach sich dafür aus, die Firma, um die es ging, dem Sohn zu übertragen, weil er sichtbar dem „jüdischen“ Einfluss entzogen war. Der „Führer“ aber schwieg sich in diesem Fall aus – zumindest liegt dem Akt keine Stellungnahme bei. 32 Adolf Hitler an stv. Gauleiter Scharitzer, Berlin 13. 3. 1940, ÖStA-AdR, VVST, Stat. 3967 (Kt. 641). 33 Vgl. dazu Peter Melichar: Arisierungen und Liquidierungen im Papier- und Holzsektor, in: Ulrike Felber et al., Ökonomie der „Arisierung“, Teil 2, S. S. 279–741, hier 504. 34 Karoline Fröschels an Führer, Wien 18. 8. 1938, ÖStA-AdR, VVST, Gew. 5 (Kt. 184).

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Einen Ermessensspielraum für die NS-Behörden jenseits „rassischer“ Abstammungsnachweise boten die „jüdisch Versippten“. Darunter konnten alle verstanden werden, die mit „Juden“ verheiratet oder sonstwie verschwägert waren oder von denen vermutet wurde, dass sie mit „Juden“ unter einer Decke steckten. Geschäftsübertragungen an solche Leute wurden dann wegen des Verdachts auf ein Tarngeschäft nicht genehmigt. Diese Praxis gab Anlass zu Familientragödien, wenn der „arische“ Ehepartner die Scheidung vom „jüdischen“ anstrebte, um das Geschäft zu halten. Aus den Akten ist meist nicht ersichtlich, ob es sich dabei um „Scheinscheidungen“ oder um echte Trennungen handelte. Sicher ist, dass sich deswegen Tragödien abspielten, deren Ausmaß die Akten nur andeuten. Der Exportleiter der Firma  „Olla“ richtete an den „Reichsausschuss zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ ein „Gnadengesuch“, von den „Erfordernissen einer arischen Ehe […] gnadenweise Abstand zu nehmen“. Dafür versprach er, das gemeinsame Kind „einvernehmlich mit meiner Frau im Sinne des Nationalsozialismus“ zu erziehen.35 Eine „arische“ Ehe sei kein gesetzliches Erfordernis für eine Anstellung, erhielt er als lakonische Antwort.36 Es kam aber auch gelegentlich vor, dass Geschäftsübertragungen an „arische“ Ehepartner genehmigt wurden. Auch das war Ermessenssache. Die funktionelle Einteilung in „jüdische“ und „arische“ Betriebe durfte allerdings nicht nach Belieben der Beteiligten stattfinden. Als der kommissarische Verwalter eines Textilbetriebes einer Zulieferfirma, die unter Hinweis auf den noch „jüdischen“ Charakter des von ihm verwalteten Betriebes einen Lieferungsvertrag aufkündigen wollte, entgegenhielt, „dass es im nationalsozialistischen Staate weder einen jüdischen noch einen arischen Betrieb gibt, sondern lediglich Betriebe der Volksgemeinschaft“, erntete er die scharfe Warnung eines Parteibeauftragten, dass er damit eine „Gesinnungsdeklaration“ abgebe, welche ihn „unter Umständen außerhalb der Reihen der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ stelle.37 Der kommissarische Verwalter hatte zwar nur eine funktionelle Ausnützung des Begriffes „jüdisch“ durch einen Geschäftspartner abzuwehren versucht, die gegen den von ihm verwalteten Betrieb gerichtet war. Doch die grundsätzliche Formulierung dieses Abwehrversuchs hatte die Parteileute auf den Plan gerufen. Es war nicht jeder kommissarische Verwalter befugt, über Begriffe zu statuieren, welche parteioffiziell festgelegt waren. Außerdem hätte eine beliebige Definitionsmöglichkeit von „jüdischen“ Betrieben zu individuellen Interpretationsspielräumen geführt, welche die Wirtschaft insgesamt gefährdet hätten. Denn im Grunde war jeder Betrieb als von seinen Geschäftsmethoden her „jüdisch“ oder von seinen Einflussstrukturen als unter „jüdischem Einfluss“ stehend oder getarnt „jüdisch versippt“ darstellbar. Schon deswegen musste klargestellt sein, wer über diese Begriffe zu befinden hatte. 35 Josef Heihsig an Reichsausschuss zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, Wien 25. 5. 1938, ÖStA-AdR, VVST, Ind. 1278 III (Kt. 354). 36 Reichswirtschaftsminister/Dr. Gotthardt, Berlin 29. 6. 1938, ebda. 37 Kommissarischer Verwalter der Fa. Mendl & Schönbach, Wilhelm Hoffmann, an Teesdorfer Spinnerei, 7. 7. 1938, und NSDAP-Gauleitung Wien/Hans Berner an den kommissarischen Verwalter von Mendl & Schönbach, 24. 9. 1938, ÖStA-AdR, VVST, Stat. 3674. Berner forderte das Gauwirtschaftsamt auf, den Verwalter wegen seiner Äußerung zur Rechenschaft zu ziehen.

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Typen von „Nationalsozialisten“ und Argumentationen der „Wiedergutmachung“ Ebenso wie die Bezeichnung „Jude“ bedarf auch die Bezeichnung „Nationalsozialist“ einer kritischen Differenzierung. Wenn sich ein „Ariseur“ in seiner Selbstdarstellung, die er mit dem Ziel des Erwerbs eines „jüdischen“ Betriebs verfasste, als überzeugter Nationalsozialist bezeichnet, so müssen seine Aussagen durch den Historiker ebenso kritisch evaluiert werden wie die Versicherung womöglich derselben Person im Entnazifizierungsverfahren nach 1945, niemals Nationalsozialist, sondern vielmehr Gegner des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Ein reichsdeutscher Großindustrieller der Nahrungsmittelbranche, der die Zuckerfabrik des österreichischen Industriellen Bloch-Bauer „arisierte“, wandelte sich etwa in Selbstdarstellung und Fremdcharakterisierung durch Atteste von Wirtschaftskollegen vom „aufrechten Nationalsozialisten“ zum „aufrechten Demokraten“. Die Analyse seines aktenmäßig erschließbaren Handelns bei „Arisierung“ und Restitution macht hingegen die Einschätzung am plausibelsten, dass dieser Herr in erster Linie immer Geschäftsmann war, der die Vorteile des jeweiligen Systems für seine Geschäftstätigkeit auszunützen verstand.38 Der Streit um Unternehmen wurde in der jeweils gängigen Terminologie ausgefochten und die Akteure versuchten sich damit einzukleiden. Schon am 8. Mai 1945 erhielt etwa ein „Ariseur“, der Geschäftsmann Pokorny, die Bestätigung ausgestellt, sich nie für das NS-Regime betätigt zu haben, dagegen bis 12. Februar 1934 für die Sozialdemokratie. Daneben hatte er eine Reihe von Bestätigungen, die ihn als „Österreich-Patrioten“ auswiesen.39 In der Substanz war dieser Herr Pokorny, zumindest beruflich, Geschäftsmann, der keinen Schilling und keine Reichsmark zu viel bezahlen wollte, wie es eben unter Geschäftsleuten üblich ist, und sich zu diesem Zweck politisch absicherte. Die meisten „Ariseure“ waren keine ideologischen, gesinnungsgeleiteten, in der Illegalität aktiven Nationalsozialisten, obwohl sie natürlich bei der Bewerbung um den Betrieb alles Interesse hatten, sich als solche zu bezeichnen. Es war bekannt, dass es 1938 möglich war, sich „illegale“ NSDAP-Mitgliedsnummern zu besorgen. Ariseure wie Gustav Harmer („Ottakringer“-Brauerei) oder Peter Kaltenegger („Mendl & Schönbach“-Textilfirma) machten davon im Einvernehmen mit den „jüdischen“ Inhabern der Unternehmen, die sie erwerben wollten, Gebrauch.40 Harmer soll mit der NS-Wirtschaftspolitik als Mittel zur Durchsetzung einer in seinen Augen effizienten, zeitgemäßen Wirtschaftsordnung sympathisiert haben. „Wie ein fahrender Schnellzug“ transportiere die NS-Wirtschaftspolitik die Zugestiegenen.41 38 Nähere Falldarstellung in Berthold Unfried, „Arisierung“, Liquidierung und Restitution von Betrieben der Lebensmittelbranche, in: Ulrike Felber et al., Ökonomie der „Arisierung“, Teil 2, S. 827. 39 ÖStA-AdR, BMVS/BMF 127866–6/46 (260902/1955). 40 Zu diesen Fällen vgl. Berthold Unfried, Grundzüge der Restituion von Unternehmen, S. 264–281. 41 „Industrieller alten Formats“. Gustav Harmer über seinen Vater, der drei Wochen nach Hitlers Einmarsch in Österreich die Brauerei in Ottakring kaufte, in: profil (08.01.2001), S. 42 (Dossier von Marianne Enigl).

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1945 erschienen diese „Ariseure“ als rechtschaffene Geschäftsleute, welche die Regeln des Geschäftsverkehrs mit dem „jüdischen“ Besitzer eingehalten hätten, obwohl ihnen das NS-Regime ein weit selbstsüchtigeres Vorgehen erlaubt hätte, oder auch ihrerseits als Verfolgte des NS-Regimes. Eine Seltenheit waren „Ariseure“, die sich angesichts der Beweislast nach 1945 für schuldig erklärten, berichtet ein Kino-Ariseur und Begünstigter der NS-„Wiedergutmachungsaktion“ für ehemalige illegale Parteimitglieder in seinem Volksgerichtsverfahren.42 1938 gab es unter den „Ariseuren“ sehr viele verschiedene Typen von „Nationalsozialisten“, die man heute als „Sozialromantiker“ bezeichnen würde: Liebe Volksgenossen, Kameraden! […] Als ich am 13. Juni diesen Betrieb übernommen habe, fand ich Euch noch im Traumzustand vor. Ihr ward verirrt, Ihr habt nicht gewusst, zu wem Ihr gehört. Es war mir sofort klar, dass ich hier in erster Linie eine Aktion einsetze, um Euch von dem jüdischen Druck und assozialen (sic) Verhalten Eurer früheren Chefs zu befreien. Als Vorkämpfer der schönen und großen nationalsozialistischen Arbeiterpartei war es mir möglich, Euch in diesem Geiste zu begegnen und Ihr habt in ganz kurzer Zeit erfasst, dass Ihr hier unter ganz gemeinen (sic) jüdischen Druck gestanden seid und durch mich, ich darf es wohl sagen, von diesem gemeinen Druck befreit wurdet. [Er hat die sozialen Forderungen der Belegschaft bis ins Jahr 1935 zurück erfüllt, B.U.] Ich glaube damit mit Stolz sagen zu dürfen, dass alles Bemühen Früchte gezeitigt hat und zwar solche, dass wir heute wirklich eine im Sinne und Geiste unserer großen Bewegung arbeitende Familie geworden sind und das danken wir unserem großen Führer Adolf H i t l e r!

So die Abschiedsrede des kommissarischen Verwalters eines großen Wiener Schuhgeschäftes.43 Es gab Leute, denen die „Arisierung“ die Möglichkeit bot, aus der zweiten Reihe eines Unternehmens in die erste zu kommen. Das waren Prokuristen und Oberkellner, Vertreter und Schwager, denen das NS-Regime die Gelegenheit bot, endlich selbst zum Zug zu kommen. Es gab Unternehmer, welche die Gelegenheit nützten, eine größere Firma in der Branche ohne großen Kapitalaufwand zu übernehmen. Er habe die „marktwirtschaftliche Lage des Augenblicks bestens auszunützen verstanden und sich damit, ohne allerdings die Grenzen des Strafgesetzes zu überschreiten, wesentlich bereichert“, resümierten schon 1939 die Prüfer der VVST über den Käufer der „Ottakringer“-Brauerei.44 Das waren „Ariseure“, welche die 42 Vgl. dazu Unfried, Liquidierung und „Arisierung“, S. 185–186 (Fall Bakule). 43 Hans Hartl, kommissarischer Verwalter v. Schuhmoden Bauer, Wien, 17. 9. 1938, ÖStA-AdR, VVST, 8032 (Kt. 742). 44 Gutachten VVST/Abt. f. Wirtschaftsschutz Dez. 1939 über den von Harmer an Kuffner gezahlten Kaufpreis v. 9,8 Mio RM, zit. in: Prüfungsbericht über den Erwerb der Aktiengesellschaft Ignaz Kuffner u. Jakob Kuffner für Brauerei, Spiritus- und Presshefefabrikation, Ottakring-Döbling sowie über den Stand und die Entwicklung der „Ottakringer Brauerei, Spiritus- und Presshefefabrik der Harmer Kommanditgesellschaft“, National Archives and Record Administration, College Park, MD (NARA), RG 260, USACA, Property Control Branch, Audit Reports 1945–50 (390/53/21/1–3), box 1.

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Gunst der Stunde nutzten, ohne sich die Hände mit spezifischen „Nazimethoden“ schmutzig zu machen. Dazu kamen Blutordensträger und all jene, die sich „eine Existenz“ schaffen wollten, um ein gesichertes Leben zu führen, als spezifisch nationalsozialistischer Eintrag in die Wirtschaft. Den Kampf um die Betriebe führten sie mit einer Kaltschnäuzigkeit, in einer unverhohlenen Gier oder in der Verbissenheit von Menschen, die Angst haben, zu kurz zu kommen. Für einfache Leute war der Nationalsozialismus 1938 die Gelegenheit, „zu einer Existenz“ zu kommen, wie das so oft formuliert wurde. Der Ariseur einer „Hammerbrot“-Filiale, Karl Sesztak, etwa dürfte kein Nationalsozialist aus Überzeugung gewesen sein. „Genannter hat sich im früheren System indifferent verhalten“, lautet eine Vordruck-Parteiauskunft über ihn.45 Er spielte, wie er in seinem Lebenslauf angibt, „in dem sogenannten ‚Wunderteam‘, wie gewünscht wurde, rechter oder linker Verteidiger“.46 Sesztak war für einen Fußballer mit seinen 32 Jahren schon in vorgerücktem Alter, mit Einstellung des Profifußballs arbeitslos und suchte eine Versorgungsstelle. Da kam ihm eine Hammerbrot-Filiale gerade recht. Es existiert ein mit 18. 5. 1938 datierter Kaufvertrag, mit dem die Hammerbrot-Zentrale die Filiale von dem „jüdischen“ Inhaber um 4000 RM zurückkauft. Das war der vom Inhaber Josef Brand angegebene Wert des Geschäfts. Am 23. 9. 1938 wurde ein neuer Kaufvertrag erstellt und Sesztak erwarb das Geschäft um 2300 RM, eine Ermäßigung, die ihn nicht gestört haben wird.47 Für diese „kleinen Leute“ war die „Arisierung“ das Versprechen einer besseren „Existenz“, die Gelegenheit zum sozialen Aufstieg. Es sind wiederum Eingaben, Bewerbungen und Bittbriefe, die solche Erwartungen am lebhaftesten dokumentieren. Zur Begründung der Notwendigkeit einer „Wiedergutmachung“ im Einzelfall holten die Antragsteller zu großen autobiografischen Erzählungen aus. Der prospektive „Ariseur“ eines zur Liquidierung vorgesehenen Schokoladenbetriebs, der ehemalige Schokoladenmeister der Firma, ein Herr Knäbchen, führte lebhaft Klage, dass ihm mit der Gefährdung seiner angestrebten „Arisierung“ „die große Chance seines Lebens um vorwärts zu kommen“ entgehe. Immer wieder betont unser Führer, auch in seiner großen Schlussrede des Reichsparteitages in Nürnberg bekräftigte er dies: dass es im 3. Reich jedem, auch dem ärmsten Volksgenossen möglich ist, zu den höchsten Stellen des Reiches zu gelangen. Warum versagt man mir, der ich als gewissenhafter Fachmann mein Leben lang gespart und gedarbt habe, um vorwärts zu kommen, mein Endziel, nachdem es in solch greifbare Nähe gerückt ist, zu erreichen? Auch ich stamme aus kleinsten Verhältnissen heraus, verlor den Vater, als ich erst 5 Jahre alt war. Hart war das Los, was das Schicksal meiner Mutter aufzwang. 5 unmündige 45 NSDAP, Gauleitung Wien, 16. 1. 1939, ÖStA-AdR, VVST, Ha. 1055 (Kt. 258). 46 Ansuchen um Genehmigung der Erwerbung, 15. 9. 1938, ebda. 47 In: ebda. Wie aus der in der Aktenübermittlung an die Rückstellungskommission angeführten Aktenzahl 50Rk 176/52–5 hervorgeht, gab es für das Geschäft ein 1952 abgeschlossenes Restitutionsverfahren.

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Kinder mussten ernährt werden und meine Mutter, diese tapfere Frau trug ihr Schicksal wie keine Zweite. Durch den plötzlichen Tod meines Vaters war sie gezwungen das Geschäft aufzugeben. Ohne fremde Hilfe und auch ohne jede Unterstützung (damals gab es noch keine NSV) führte sie einen heroischen Kampf um das Dasein. Im Kriege hat Mutter als echte deutsche Frau an der Drehbank gestanden und Tag oder Nacht, je wie es die Schicht erforderte, Granaten gedreht! Dabei hat diese Frau, bedenken Sie, dass neben der harten Berufsarbeit noch der Haushalt von 5 unmündigen Kindern zu versorgen war, ihre Gesundheit für uns und man kann wohl auch sagen für das Vaterland geopfert! Jeder, auch meine Geschwister, mussten einen Beruf erlernen und mir ermöglichte Mutter, von dem, was sie sich vom Munde absparte, noch den Besuch der Handelsschule, beseelt von dem Glauben, dass es uns Kindern einmal besser gehen soll. Wie der namenlose Soldat an der Front Gigantisches leistete, so vollbrachte meine Mutter Heldentaten für uns und damit auch für Deutschland. Und jetzt, da mir endlich die Möglichkeit gegeben wäre, ein wenig von der Dankesschuld an meine alte 66jährige Mutter abzutragen, jetzt soll mir dies alles aus einem nicht zu verstehenden Grunde, der sich zudem in keiner Weise mit dem Willen unseres Führers deckt, versagt werden. Bitte verstehen sie mich nicht falsch, ich habe vorstehendes nicht etwa geschrieben, um Mitleid zu erwecken, sondern um Ihnen den Gedankengang des ‚kleinen Mannes‘ um den Kampf, sich eine Existenz zu gründen, klarzulegen.48

Auch im Serienbrief eines Kinokaufwerbers an den kommissarischen Verwalter aller „jüdischen“ Wiener Kinos finden sich ähnliche Motive: Als alter Kriegsinvalide und Parteigenosse, der die ganze Verbotszeit treu durchgehalten hat, erlaube ich mir, Sie sehr geehrter Herr Doktor auf ein großes Unrecht aufmerksam zu machen, das an mir begangen wurde. […] Die Behörden und die Juden haben mich jahrelang gehetzt und gemartert. Ich habe aber trotz Not und Elend den Kampf nicht aufgegeben und habe mir immer gesagt, unser Erlöser aus dieser niederträchtigen Systemzeit muß kommen und uns erlösen. Gott sei Dank er ist in der Gestalt unseres Führers, unseres Retters Adolf Hitlers gekommen und nun hoffe ich auch endlich zu meinem Recht zu kommen.49

Von den oben genannten „Gelegenheitsnazis“ zu unterscheiden wären genuine Nationalsozialisten, etwa solche, die aufgrund ihrer Parteimeriten in der illegalen Zeit in den Genuss der „NS-Wiedergutmachung“ kamen. Diese „Wiedergutmachungsaktion“ war für jene „Illegalen“ gedacht, die durch politisch motivierte Verfolgung in der Verbotszeit (1933–1938) zu materiellem Schaden gekommen wären. Nach 1945 wurde diese Eisbergspitze genuin nationalsozialis48 Karl Knäbchen an VVST/Keune, Wien 22. 9. 1938, ÖStA-AdR, VVST, Kt. 1386, M.30. 49 Julius Pipping an Dr. Zimmer (Gremium d. Kinobesitzer), 6. 4. 1938, ÖStA-AdR, VVST, Stat. 2175 (Kt. 618), betr. Elite-Kino.

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tischer Profiteure („alte Kämpfer“, Blutordensträger, Nutznießer der NS-Wiedergutmachung) im Meer der „Arisierung“ aus der Wirtschaft wieder eliminiert. Denn weder die Besatzungsmächte noch die österreichische Regierung konnten sich erlauben, dass wichtige Positionen in der Wirtschaft durch Gesinnungsnationalsozialisten besetzt blieben. In ihren durch „Arisierung“ erreichten Positionen blieben hingegen jene, die 1938 die „Arisierung“ entsprechend ihrem Habitus in „zivilisierten“ und äußerlich gewaltfreien Formen vollzogen und sich idealerweise sogar im Einvernehmen mit den Veräußerern vertraglich für den Fall abgesichert hatten, dass sich die politische Konjunktur einmal gegen das NS-System richten würde. Physische Gewalt und rein politische Meriten passen nicht in unsere Wirtschaft, das war ungefähr die Botschaft, die aus den Restitutionen nach 1945 sprach.

Anwendungsmethoden: Eingaben und Denunziationen Einzelne eigneten sich Versatzstücke der offiziellen Reden über das „Jüdische“ in der Wirtschaft zur Verwendung in ihren persönlichen Strategien an, dabei sind zwei Hauptmethoden festzustellen, die damit fabrizierten Rechtfertigungserzählungen zur Anwendung zu bringen: Eingaben an Behörden, an hochgestellte Würdenträger oder direkt an den „Führer“ und Denunziationen. Wenn es gelang, jemanden als „jüdisch“ resp. (nach 1945) als „nationalsozialistisch“ zu charakterisieren, konnten „Arisierung“ und Restitution in Strategien persönlichen Aufstiegs eingebaut werden. Eine einfache Methode war dabei seit März 1938, die Konkurrenz als „jüdisch“ zu denunzieren. Die Titulierung als „jüdisch“ war eine beliebte Argumentation gegen Mitbewerber bei der „Arisierung“ eines Betriebs. Ariseurskandidaten eigneten sich die NS-Terminologie an, um Konkurrenten das Etikett „jüdisch“ anzuheften und sie so loszuwerden. Der Komponist und Musikverleger Heinrich Strecker schrieb in dem Bemühen, ein Konkurrenzunternehmen zu erwerben, an die Gestapo: „Ich mache Sie höfl. darauf aufmerksam, dass die Edition Bristol […] nichts anderes als ein getarnter, jüdischer Verlag ist und seit jeher war, der unter dem Namen des Ariers Franz Sobotka protokolliert ist.“50 Eine Defensivdenunziation durch einen „Ariseur“, dessen Geschäft liquidiert werden sollte, gegen ein Konkurrenzgeschäft konnte für den mitdenunzierten „Juden“ durchaus letale Konsequenzen haben. Aber auch das geschah vermutlich nicht primär aus einem antisemitischen Hass heraus, sondern aus verbissenem Willen zur Erhaltung des eigenen Geschäfts, der „eigenen Existenz“: Außerdem möchte ich bemerken, dass in meiner nächsten Nähe ein jüdisches Spirituosengeschäft noch nicht liquidiert hat, es muss hier ein Irrtum vorliegen oder es ist dieses übersehen worden. […] Im April 1938, also vier Wochen nach dem Umbruch, übergab der Jude 50 Schreiben Heinrich Strecker an die Gestapo, 26. 7. 1938, zit. nach: Peter Melichar, Arisierungen und Liquidierungen im Papier- und Holzsektor, S. 517.

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Grünhut ohne Genehmigung des Exekutionsgerichtes an Frau Brückner Marie, die wohl eine Arierin ist, diese hatte jedoch einen jüdischen Geschäftsleiter, der ihr die Liköre in letzter Zeit nach 7 Uhr abends (Geschäftsschluss) erzeugte. Diese[r] Jude namens Kraus war auch der Lebensgefährte und wird heute noch von Frau Brückner unterstützt. Aus meinen Ausführungen ist zu entnehmen, dass dies alles getarnt ist. […] Es ist mir daher unverständlich, warum ich mein arisiertes Geschäft liquidieren soll und das jüdische bestehen bleibt. Ich bitte daher die zuständigen Stellen um Überprüfung dieser Angelegenheit.51

Auch am Anfang der Volksgerichtsverfahren nach 1945 stand meist eine „Denunziation“, und zwar gerade oft nicht von Opfern der „Arisierung“, sondern von Dritten, die dem „Ariseur“ seinen Profit aus dem Arisierungsgeschäft neideten.52 Im Einzelnen ist heute schwer feststellbar, welche Anzeigen aus solch eigennützigen Motivationen erfolgten und welche aus moralischer Empörung über die Vorgänge von 1938. So denunzierte etwa eine Wienerin die andere, die sie bei ihrer Rückkunft in ihrer Wohnung vorfand, als „Ariseurin“, um sie aus der Wohnung loszuwerden. In den Verfahren selbst machten dann die Beteiligten meist wüste „Angaben“ übereinander, charakterisierten einander als „Ariseur“, „Profiteur“, „Blutsauger“, „Nazi“. Doch hatten solche Angaben nicht die letalen Folgen, die sie im NS-Regime oft gehabt hatten. In demokratischen Zeiten gibt es andere Methoden der Einwirkung auf die Behörden, um sie gegen den Konkurrenten einzunehmen, sich nach oben zu boxen und solcherart eine direkte Form politischer Partizipation zu praktizieren. Volksgerichtsverfahren zeichneten sich einerseits durch lebensnahe Zeugenaussagen aus, andererseits durch die romanhaften Ausgestaltungen, welche die Prozessgegner ihren Versionen vom Tathergang 1938 oft gaben. Es handelt sich oft um Fälle, die in demokratischen Zeiten vor dem Bezirksgericht abgehandelt worden wären, aber durch die Möglichkeiten, welche die NS-Judenpolitik im Kleinen eröffnete und durch deren „ideologische“ Begründungen, einen Gewaltcharakter und einen „politischen“ Anstrich bekamen. „[…] meine anfänglich kleinen Erfolge führten zu einer ununterbrochenen Kette von glänzenden Erfolgen, die allgemein bewundert aber leider auch beneidet wurden“, beschrieb ein Papierwarenhändler seine kometenhafte Laufbahn, denn seine Fabrikate fanden „stürmischen Beifall“.53 Mit den Gewinnen richtete er sich eine Wohnung ein, deren märchenhafte Beschreibung einen schönen Einblick in neureiche Wohnstile gibt: Die Einrichtungsgegenstände dieser Prunkräume sind zu zahlreich, um alle namhaft zu machen, weshalb nur die wertvolleren aufgezählt sind. Mit Ausnahme des museumartig, anti51 Hubert Krassl an VVST/Ueberbacher, 10. 1. 1939, ÖStA-AdR, VVST, Gew. 1410. 52 Ein Beispiel dafür ist die Anzeige gegen den „Ariseur“ des Cafés „Alt-Wien“, Hans Stiedl; vgl. dazu Berthold Unfried, „Arisierung“ und Restitution Wiener Cafés, in: Ulrike Felber et al., Ökonomie der „Arisierung“, Teil 2, S. 884–885. 53 Julius Kraus an BMVS, Los Angeles 5. 12. 1949, LG f. Strafsachen Wien Vg Vr 201/50. Wortgetreue Schreibweise ohne sic-Kennzeichnung. Alle im Folgenden zitierten Schriftstücke in diesem Akt.

Anwendungsorientierter Antisemitismus

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quen Salon wurden alle Zimmereinrichtungen von ersten Kunsttischlern und Architekten kurz vor dem Umbruch geliefert. Zur Herstellung der Schlaf- und Speisezimmer wurden nur die feinsten Edelhölzer verwendet. Dasselbe gilt auch für den Bösendorfer Konzertflügel. 56 echte Perserteppiche bedeckten die Parkettböden. Eine der Sitzgarnituren, dessen Gestelle mit echtem Plattgold versehen war (12. Jahrhundert) stammte aus dem kaiserlichen Besitz in Hietzing, wo ich sie bei einer Auktion erstand. Die Überzuge waren aus demselben schweren, roten Brokatstoff hergestellt als die 7 Fenstervorhänge. 1 Riesenkristallluster, 2 Bronzekandelaber, ruhend auf hohen mit Intarsien eingelegten Säulen und 2 Wandarmleuchter aus dem Palais des Grafen Wimpfen stammend sorgten für die Salonbeleuchtung. Auf einer hohen Marmorsäule stand ein schwer versilberter Riesen Auerhahn, das Original Meisterwerk des Franzosen Panteroux. An den Wänden hingen Originalbilder wie: Alt, Pettenkofen, alte Holländische Meister etc. Ferner eine seit vielen Jahren mühsam zusammen getragene Sammlung von echten, alten Miniatur-Bildchen auf Elfenbein, jedes von seinem Meister signiert. Echte, alt Wiener und Meissner Porzelannsachen mit eingeprägter Marke, Jahreszahl und Katalognummer, eine Sammlung alter, geschliffener Gläser usw. […] Jeder Gast, der die Wohnung betrat, behielt einen unvergesslichen Eindruck von diesem nur selten gesehenen Prunk. Denselben hatten auch die Gestapoleute bei meiner Verhaftung und konnten sich des Ausrufes nicht enthalten: ‚Da schaut’s her, wie dieses Saujudenpack für unser Geld gehaust hat!‘54

1938 brach diese Welt mit einem Mal zusammen. Im Papiergeschäft erschien die ehemalige Besitzerin, nach deren Bankrott Kraus vor zehn Jahren das Lokal gepachtet hatte, in Begleitung von drei befreundeten SA-Leuten, um es in tätiger „Wiedergutmachung“ in Besitz zu nehmen. Diese, so Kraus in seiner Anklage, „tief gesunkene“ Frau Hübsch veranlasste die Gestapo „einzuschreiten, damit festgestellt wird, dass ich ihm nichts schuldig bin“. In der Märchenwohnung erschienen Gestapo-Leute, um sie aufgrund einer Denunziation eines ehemaligen Jugendund Geschäftsfreundes zu beschlagnahmen. Dahinter stand, wie die Polizeierhebungen und die Akten der VVST und des „Laconia“-Abwicklungsinstitutes ergaben, ein Zerwürfnis des Kraus mit seinem Compagnon namens Wagner über ein Nachtcafé. Die Schulden aus diesem Lokal trieben die Papiergeschäfte des Kraus in den Konkurs, und seine offenen Forderungen gegen Wagner machten ihn zu dessen Feind. Nachdem Kraus „Jude“ war und Wagner „Nazi“ (Parteimitglied), lag es nahe, diesen Fall „politisch“ abzuhandeln. Kraus wurde 1938 zum „Saujuden“, Wagner 1949 zum „alten illegalen Nazi-Vorkämpfer“. 1938 wurden die persönlichen Rechnungen „politisch“ beglichen. Das hätte Kraus um ein Haar das Leben gekostet. Er kam aufgrund der Denunziationen seiner ehemaligen Freunde in Polizeihaft und ins KZ Dachau. Weniger ertragreich war das von ihm angestrengte Strafverfahren nach 1945. Die Angeklagten wurden, wie so oft, im Zweifel, den die blumigen Erzäh54 Ebda. Orthografie unkorrigiert und nicht extra mit sic bezeichnet. Korrigiert nur offensichtliche Verschreibungen.

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lungen hinterließen, freigesprochen – ein in diesem Fall angesichts der gegen die Frau Hübsch vorliegenden schwerwiegenden Verdachtsmomente, für die sich aber keine Zeugen oder Beweismittel fanden, besonders zweifelhaftes Urteil. Es gibt keine Rechtsprechung gegen moralische Verkommenheit, gegen das Ausnützen von Gelegenheiten, die durch die Schaffung von Rahmenbedingungen der Diskriminierung geboten werden. Im Zivilrechtsweg bekam Kraus mit einiger Mühe (der Betrag musste bei der Frau Hübsch im Exekutionsweg eingetrieben werden) im Vergleichsweg 3000 öS für das Papiergeschäft, das ihm die Hauptangeklagte 1938 illegal entzogen hatte. Der Sachverhalt wurde nach 1945 durch Aktenübermittlungen aus dem Bestand des Abwicklungsinstituts „Laconia“ an die Rückstellungskommission geklärt: im Juni 1938 war der Konkurs über sein Geschäft eröffnet worden.55 Das Nachtlokal, das Anlass für den Konflikt gewesen war, hatten die beiden „Café Hollywood“ genannt. In die Nähe von Hollywood, dem Langzeittraumbild österreichischer Kleinbürger, nämlich nach Los Angeles, kam nur der „Jude“. Die „Nazi“, die ihn 1938 aus dem „Café Hollywood“ und aus seiner Märchenwohnung hinausgeprügelt hatten, werden ihn nach 1945 wahrscheinlich darum beneidet haben.

55 Laconia an Reichskommissar beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien, 16. 2. 1950, an Landesgericht für Strafsachen Wien, 30. 3. 1950, ÖStA-AdR, VVST, Kt. 1004.

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Neue Sichtweisen zu Gemeinschaft, Autorität und Widerstand gegen den Faschismus in Österreich I. Die Geschichte des Faschismus ist bekanntlich die Geschichte einer „Vergangenheit, die nicht vergeht“.1 Sie lebt nicht nur in politischen Randbewegungen der radikalen Rechten weiter (und weniger offen in bedeutenderen und mächtigeren politischen Parteien), sondern hat sich auch als bemerkenswert widerstandsfähig gegenüber historischer „Relativierung“ erwiesen. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Faschismus für viele aus dem Bereich des rechten „Mainstreams“ vor allem ein Bollwerk gegen den Bolschewismus.  Aber das Ausmaß und Wesen des Krieges und der Kriegsverbrechen machte es für das Europa der Nachkriegszeit auf individueller und kollektiver Ebene zwingend erforderlich, sich von einer politischen Ideologie zu distanzieren, die zum verabscheuungswürdigsten politischen Phänomen der Geschichte geworden war. Diese Ablehnung der Vergangenheit war alles andere als einfach, besonders für die Achsenmächte selbst: Deutsche, die über die zwölf Jahre Diktatur und Krieg reflektierten, die sie unter den Nazis erlebt hatten, sprachen von einem Betriebsunfall, Italiener von einer „Parenthese“ im normalen Lauf der Geschichte. Die öffentliche Rhetorik war im Europa der Nachkriegszeit auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs betont antifaschistisch. Die Gründungsnarrative Nachkriegseuropas handelten von Okkupation, Widerstand und Befreiung; eine Erfahrung, die sogar von Österreich und Italien für sich beansprucht wurde. In Österreich wurde die legitimierende Rolle des Widerstandes vom beinahe verfassungsmäßigen Status, der dem Land durch die Moskauer Deklaration von 1943 zuteilwurde, verstärkt. Diese hatte die Österreicher praktisch zur Demonstration ihres eigenen Beitrages zur Befreiung von der Nazi-Herrschaft aufgefordert, um die Bedingungen der Alliierten für eine politische Unabhängigkeit nach dem Krieg zu erfüllen. Dieser Herausforderung begegnete man unmittelbar nach Kriegsende mit der Herausgabe des RotWeiß-Rot-Buches im Jahre 1946, einer Dokumentation über Okkupation, Widerstand und positive Beobachtungen aus dem Ausland, in der es hieß: „Österreich kann und muss immer darauf verweisen, dass es der erste Staat war, welcher der Aggression effektiven Widerstand entgegengesetzt hat.“2 1 Der Titel dieses Beitrags bezieht sich auf eine Sammlung von Essays aus Beiträgen zur History Workshop Conference 1992: Tim Kirk, Anthony McElligott (Hg): Opposing fascism. Community, authority and resistance in Europe, Cambridge 1999. 2 Rot-Weiß-Rot-Buch. Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation Österreichs (nach amtlichen Quellen), Wien 1946,  S. 134.

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Das bedeutete nicht, dass diejenigen, die gegen den Faschismus Widerstand geleistet hatten und von der Propagandamaschine der Diktatur als Aufrührer oder Verbrecher gegeißelt worden waren, nach dem Krieg eindeutig auf der Seite der Gewinner waren. Sie genossen nach Kriegsende einen gewissen Ruhm, aber dieser war begrenzt und kurzlebig. Die Widerstandsbewegung bildete Regierungen in Jugoslawien und Albanien; Ferruccio Parri, eine Leitfigur des italienischen Widerstandes, war von Juni bis Dezember 1945 italienischer Ministerpräsident, und Widerstand Leistende waren in der italienischen und französischen Regierung bis zum Beginn des Kalten Krieges vertreten. Die Hauptfunktion des Widerstandes schien jedoch die Bewahrung des nationalen Gewissens zu sein und die Konsequenz war eine enge Definition der Geschichte des Widerstandes. So wie die Politik der Mitte des 20. Jahrhunderts oft als das „Zeitalter der Diktaturen“ zusammengefasst wurde, so wurde die Geschichte des Widerstandes – in den Worten des deutschen Historikers Detlev Peukert – auf „Militär, Kirche und bürgerliche Jugend“ beschränkt.3 Besonders in der westdeutschen Historiografie befand sich die Geschichte des linken oder Arbeiterklasse-Widerstandes beinahe völlig außerhalb dieser eingeschränkten Definition. In der Deutschen Demokratischen Republik hingegen wurde sie, wie auch anderswo im Sowjetblock, den politischen Interessen der politischen Nachkriegs­elite untergeordnet. Trotz der Anerkennung des Widerstandes der Arbeiterklasse wurde dieser betont in den Rahmen eines breiter angelegten Antifaschismus unter der ausdrücklichen Führung der Kommunistischen Partei gestellt.4 Im Gegensatz dazu wies die „offizielle“ Geschichte des österreichischen Widerstandes Ähnlichkeiten zum Nachkriegskonsens auf, und die mehrbändige Dokumentation über Verfolgung und Widerstand, die vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) herausgegeben wurde, hielt die Verfolgung und den Widerstand von Kommunisten und Sozialdemokraten sowie Katholiken, Gewerkschaftern, Priestern und Soldaten fest.5 Als die ersten Bände der DÖW-Serie Mitte der 1970er-Jahre erschienen, zeichneten sich neue Perspektiven ab, die einerseits „strukturalistische“ Ansätze in Bezug auf die Geschichte des Nazismus und andererseits eine wachsende Betonung auf die „Geschichte von unten“ widerspiegelten. Aus dieser Perspektive wurde die Geschichte des Widerstandes als Teil einer breiteren Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus verstanden und nicht nur als ein nützliches Element politischer Rhetorik. Der engere, politisch motivierte „Widerstand“, wie er traditioneller definiert wurde, musste in den breiteren Kontext einer selektiven und sich 3 Detlev Peukert: Der deutsche Arbeiterwiderstand 1933–1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B28–29/79 (14.07.1979), S. 22–36, hier 22. 4 In der DDR wie auch anderswo in Osteuropa war die öffentliche Rhetorik des Antifaschismus von einem dogmatischen Festhalten an eine Marx-Lenin-Linie charakterisiert, die den Widerstand der Arbeiterklasse als Teil eines breiteren Kampfes sah, der von der Kommunistischen Partei angeführt wurde. Siehe Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED (Hg.): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Kapitel XI: Periode vom September 1939 bis Mai 1945, Berlin 1968, S. 45–89. 5 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Widerstand und Verfolgung in den österreichischen Bundesländern. Eine Dokumentationsreihe, 13 Bde., Wien 1975–1991.

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wandelnden Einstellung zu Autorität im Dritten Reich eingeordnet werden. Solche Einstellungen wurden zusätzlich als gleichermaßen von Alter, Geschlecht, Konfession oder regionaler Herkunft wie von Klassenzugehörigkeit oder politischer Loyalität beeinflusst gesehen. Vor allem schien es, als ob es nicht notwendigerweise der aktive Widerstand politisch motivierter Bewegungen wie der Kommunistischen Partei oder der 05-Gruppe war, welcher dem Regime die größten Unannehmlichkeiten bereitete, sondern die Möglichkeit eines großflächigen passiven Widerstandes bedeutender Teile der Bevölkerung. Dieser strukturalistische Ansatz fand in Martin Broszats Konzept der „Resistenz“ Ausdruck, einem Begriff aus der medizinischen Fachterminologie und hier zur Bezeichnung einer Art ideologischen Immunität gegenüber den Nazis verwendet. Broszat definierte Resistenz als „wirksame Abwehr, Begrenzung, Eindämmung der NS-Herrschaft oder ihres Anspruches, gleichgültig von welchen Motiven, Gründen oder Kräften her“.6 Praktisch bedeutete dies, dass weiterhin existierende Institutionen wie Kirchen, Beamtenschaft und Militär einen Bezugsrahmen außerhalb der totalen Ansprüche des Regimes zur Verfügung stellten. Ähnliches gilt für bestimmte soziale Gruppen, feste Gemeinschaften, deren Verbundenheit aufgrund gemeinsamer Werte einen gewissen Grad an Immunität gegenüber dem Eindringen nationalsozialistischer Ideologie mit sich brachte. Es ging nicht mehr länger um „Motivationsund Aktionsgeschichte“, sondern darum, ob bestimmte Verhaltensweisen „tatsächlich eine die NS-Herrschaft und NS-Ideologie einschränkende Wirkung hatten“.7 Reaktionen auf das Regime konnten in ein typologisches Spektrum eingeordnet werden, das von Widerstand bis Beifall und politisch motivierter Sabotage bis zu sporadischem Auftreten von Widerspruch oder Nonkonformität reichte.8 Des Weiteren wurde zunehmend erkannt, dass der „totale Anspruch“ des Regimes das Wesen der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft transformierte: Die Art der Herrschaft bestimmt die Art des Widerstands; und je umfassender der Herrschaftsanspruch, desto mehr, nicht weniger Widerstand ist die Folge, denn das Regime selbst verwandelt Verhalten und Aktionen in Widerstand, die unter ‚normalen‘ Bedingungen […] häufig überhaupt keine politische Bedeutung beanspruchen könnten.9 6 Martin Broszat: Resistenz und Widerstand, in: ders., Elke Fröhlich, Anton Grossmann (Hg.), Bayern in der NS Zeit, Bd. IV: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil C, München / Wien 1981, S. 691–709, hier 697; vgl. James C. Scott: Weapons of the weak, New Haven 1985, S 289–303. 7 Broszat, Resistenz und Widerstand, S. 697. 8 Gerhard Botz: Methoden- und Theorienprobleme der historischen Widerstandsforschung, in: Helmut Konrad, Wolfgang Neugebauer (Hg.), Arbeiterbewegung, Faschismus, Nationalbewusstsein. Festschrift zum 20-jährigen Bestand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und zum 60. Geburtstag von Herbert Steiner, Wien 1983, S. 137–151, hier 145. 9 Ian Kershaw: Widerstand ohne Volk? Dissens und Widerstand im Dritten Reich, in Jürgen Schmädeke, Peter Steinbach (Hg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München / Zürich 1984, S. 779–798, hier 781.

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Die großen Narrative sowohl des Faschismus als auch des Widerstandes bezogen sich auf die Nation; die reale Erfahrung des Faschismus und des Antifaschismus hingegen fand auf einer überaus elementaren Ebene in den Gemeinschaften statt, wo Menschen lebten und arbeiteten: in Dörfern und Stadtteilen, am Arbeitsplatz und in Versammlungen. Diese Gemeinschaften waren keineswegs homogen und besaßen selbst interne Hierarchien und Schichten. Was sie miteinander verband und größere „imaginäre“ Gemeinschaften von Mitmenschen und Kameraden ermöglichte, die einander nie begegnet waren, war das Bewusstsein, dass ein gewisses gemeinsames Streben und übergeordnete, von allen Teilen der Gemeinschaft geteilte Interessen alle internen Unterschiede transzendierten. Auf diese Weise dürften in den Traditionen der Arbeiterbewegung geschulte Industriearbeiter und deren Familien oder praktizierende Katholiken durch die gemeinsamen Werte ihrer Gemeinschaft Stärkung erfahren haben und waren für die Versuche des Regimes, solche Loyalitäten zu brechen, weniger empfänglich. Organisierter politischer Widerstand, wie zum Beispiel derjenige kommunistischer Parteizellen, war relativ leicht aufzuspüren und auszuschalten, und seine Eliminierung durch Gewalt und Unterdrückung sicherte dem Naziregime eine oberflächliche politische Stabilität. Der „wirksamen Abwehr“10 oppositioneller Gemeinschaften hingegen war schwerer zu begegnen. War sie aber ausreichend weit verbreitet oder effektiv genug, um das Regime zu destabilisieren oder die Umsetzung von Maßnahmen zu blockieren? Hat sie verhindert, dass aus dem nationalsozialistischen Ziel der Volksgemeinschaft jemals mehr als nur Propagandarhetorik wurde? Nachforschungen über die Opposition von unten lassen vermuten, dass es wenig Beweise für eine Gefährdung des Naziregimes durch einen Widerstand von innen gab. Es existierten allerdings auch wenig Hinweise darauf, dass die bemerkenswerte innere Stabilität einen Konsens auf Basis einer weitverbreiteten Akzeptanz der nationalsozialistischen Weltanschauung widerspiegelte: Die Opposition – und bezeichnenderweise die industrielle Arbeiterklasse, ohne deren Integration in die ‚Volksgemeinschaft‘ der Mythos substanzlos war – wurde unterdrückt, nicht konvertiert.11

II In welchem Grade unterschied sich die österreichische Erfahrung mit dem Faschismus, und insbesondere diejenige der österreichischen Arbeiter, von der des ‚Altreichs‘? Österreichs industrielle Arbeiterklasse, und vor allem die Arbeiter im ‚Roten Wien‘, waren im Laufe der Ersten Republik zu einer bemerkenswert homogenen und politisch disziplinierten Gemeinschaft geworden. Anders als die meisten ihrer europäischen Gegenstücke, einschließlich der 10 Martin Broszat, Elke Fröhlich: Gesellschaftsgeschichte des Widerstands, in: dies., Alltag und Widerstand – Bayern im Nationalsozialismus, München 1987, S. 11–73, hier 49. 11 Tim Mason: Die Bändigung der Arbeiterklasse im nationalsozialistischen Deutschland, in: Carola Sachse et al., Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialismus, Opladen 1982, S. 11–53.

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Deutschen, hatte sich die in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) organisierte österreichische Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg nicht in rivalisierende Sozialdemokratische und Kommunistische Parteien gespalten, da es der Kommunistischen Partei nicht gelang eine relevante Zahl von Anhängern zu gewinnen. In ihren Hochburgen, besonders in Wien, aber auch in der Obersteiermark und einer Anzahl kleinerer Orte wie Steyr in Oberösterreich, verzeichnete die Sozialdemokratische Partei eine im internationalen Vergleich außergewöhnlich hohe Mitgliederzahl und Loyalität unter den Wählern. Wenn es zudem während der Depression eine Radikalisierung der österreichischen Politik gegeben hat, so fand sie politisch rechts statt, zu einer Zeit, in der die letzten freien Wahlen der Ersten Republik die ideologische Immunität der drei politischen Lager des Landes gegenüber dem Faschismus auf den Prüfstand stellte. Zuerst gewann die Heimwehr durch ihre Unterstützung der Christlichsozialen Partei an Macht, dann erzielten die Nazis bedeutende Durchbrüche, indem sie zunächst die nichtklerikale Rechte eliminierten, bevor sie die Unterstützung der Wähler für die klerikale Rechte aushöhlten. Im letzten bedeutenden Wahlkampf der Ersten Republik, den Gemeinderatswahlen 1933 in Innsbruck, Hauptstadt des zutiefst katholischen Tirol, erreichten sie schließlich spektakuläre 41 Prozent der Stimmen. Die kurze und erfolglose Phase bewaffneten Widerstands gegenüber dem Dollfuß-Putsch im Februar 1934 zeigte rasch die Grenzen offenen Widerstands auf. Die für die folgenden vier Jahre charakteristische Kombination aus politischer Verfolgung und wirtschaftlicher Depression höhlte nicht nur weiterhin die Fähigkeit der Arbeiterbewegung aus, den Maßnahmen des sogenannten ‚Ständestaates‘ entgegenzutreten, sondern schwächte auch das Potenzial für Widerstand gegen die Nazis im Jahre 1938. Der andauernde Effekt hoher Arbeitslosigkeit als Konsequenz der ruinösen und deflationären Politik Schuschniggs beeinträchtigte die Handlungsfähigkeit der Regimegegner weiter. Nicht zuletzt brachte die späte Unterstützung für die KPÖ auch das Element des bis dahin nicht vorhandenen Faktionalismus in die illegale Arbeiterbewegung ins Spiel.12 Mit dem – wie es Karl Renner nannte – „Austausch des klerikalen gegen den nationalen Faschismus“13 im Jahre 1938 wuchs die Gefahr des politischen Zerfalls noch weiter. Die Beendigung der Diktatur Schuschniggs löste bei der Linken sicherlich Schadenfreude aus, aber es gab auch die große Hoffnung auf eine wirtschaftliche Erholung ähnlich der im ‚Altreich‘. Der Wechsel des Regimes „sei das größte Unglück nicht, wenn wenigstens die wirtschaftlichen Verheißungen des Tausendjährigen Reiches nur halbwegs in Erfüllung gingen“.14 Ein deutscher Sozialdemokrat hatte zwei Jahre zuvor bei Arbeitern in Sachsen in der Tat folgende Beobachtung gemacht: „Die politische Unfreiheit empfinden sehr viele nicht 12 Siehe Everhard Holtmann: Zwischen Unterdrückung und Befriedung. Sozialistische Arbeiterbewegung und autoritäres Regime in Österreich 1933–1938, München 1978, S. 93–221; Paul Pasteur: Unter dem Kruckenkreuz. Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen in Österreich 1934–1938, Innsbruck 2008, S. 109–147. 13 Karl Renner: Österreich von der Ersten zur Zweiten Republik – Nachgelassene Werke 2, Wien 1953, zit. nach: Gerhard Botz: Wien vom „Anschluss“ zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, Wien 1978, S. 130. 14 Ebda.

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als ein Übel, weil man ihnen hat einreden können, dass die demokratischen Freiheiten, um welche die Arbeiterklasse jahrzehntelange Kämpfe geführt hatte, ihr auch kein wirtschaftliches Wohlergehen habe verschaffen können.“15 Nicht alle Arbeiterführer waren so zuversichtlich wie Renner, und es war für die meisten offensichtlich, dass sich das Naziregime von der vorangegangenen Diktatur qualitativ unterschied. Die deutsche Erfahrung lehrt: Alle alten Organisationen, die ihre alte Tätigkeit, nur im kleineren Maßstab, mit guter oder schlechter Konspiration, fortgesetzt haben, sind zugrunde gegangen. Unter den Bedingungen des deutschen Faschismus […] ist jemand, der heute mit Flugblättern oder Zeitungen anrückt, ein Narr oder ein Spitzel.16

Angesichts der weitverbreiteten anfänglichen Begeisterung für den Anschluss war Widerstand sinnlos und gefährlich. Wie in Deutschland waren kommunistische Aktivisten dazu entschlossen, ihre geheimen Aktivitäten fortzusetzen und lösten damit im Herbst gezielte Polizeiaktionen aus. Der SD hielt in Wien fest, dass die Einführung deutscher Wirtschaftspolitik in Österreich „den geeigneten Nährboden für eine illegale Betätigung der Kommunisten sowie Marxisten gegeben hätte“.17 Dies hatte einen zu erwartenden Anstieg oppositioneller politischer Aktivität und illegaler Propaganda zur Folge; es gab aber auch direkte Konsequenzen für die Kriegswirtschaft. Kleinere Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin wurden politischer Aufsässigkeit zugeschrieben: Unfälle in den Betrieben wie auch sonstige Vorkommnisse bestärken den Verdacht, dass es sich hier um keine zufälligen oder durch Fahrlässigkeit hervorgerufenen Zwischenfälle handelt, sondern um vorsätzliche Sabotage seitens der Kommunisten und Marxisten. Beachtlich ist, dass in den letzten Wochen des Monats September in übergroßer Zahl sowohl in lebenswichtigen als auch in allgemeinen Betrieben die Krankmeldungen eine anormale Höhe erreichten. Dabei ist auffällig, dass es sich in keinem Falle um äußere Krankheitserscheinungen handelte, sondern im Allgemeinen rheumatische Schmerzen, Durchfall und ähnliches gemeldet wurden. So machte z.B. die Zahl der Krankenmeldungen bei der Wienerberger-Ziegelindustrie, die z. Zt. ausschließlich für die Wehrmacht arbeitet, 25% der Belegschaft aus, während im Vorjahre nur 3% Krankmeldungen vorlagen.18

Solche Berichte lassen vermuten, dass die politische Opposition zwar unterdrückt worden sein mag, aber die während der Depression von der drohenden Arbeitslosigkeit eingeschüchter15 Deutschland-Berichte der Sopade, 1936, S. 835. 16 Der Sozialistische Kampf, Nr. 3 (02.07.1938), S. 53, zit. nach:DÖW (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Wien, Bd. 2, Wien 1984, S. 42. 17 Bundesarchiv (BA), R 58, 1081: Lagebericht über Österreich. 18 BA, R 58, 1081: Lagebericht über Österreich.

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ten Lohnempfänger ihre dank des Rüstungsbooms bessere Marktposition zum informellen Protest genutzt haben. Dennoch war hier wie auch in anderen Fällen der überlebende „Untergrund“ der linken Netzwerke aus präfaschistischer Zeit der scheinbar entscheidende Faktor: „Der Verdacht, dass hier vorsätzliche Sabotage vorliegt“, schlussfolgerte der SD-Berichterstatter in Wien, „wird noch dadurch bestärkt, dass die bisherigen Beobachtungen seitens der Stapoleitstelle Wien zur Erfassung von 30 höheren und mittleren Funktionären und etwa 150 weiteren, illegal tätigen Personen führten.“19 Es ist jedoch hinlänglich bekannt, dass politisch organisierter Widerstand aus dem Untergrund mit der eindeutigen Zielsetzung, die Bevölkerung zum Widerspruch gegen das Naziregime zu mobilisieren, in Österreich wie in Deutschland klar eine Sache der Minderheit blieb.20 Ihm war auch leicht zu begegnen, und er stellte nie eine wirkliche Bedrohung für die politische Stabilität dar. Das Management einer industriellen Arbeiterschaft, die zwar politisch kontrolliert, potenziell aber oppositionell eingestellt war, war für das Regime schwieriger. Die Diktatur konnte nicht allein auf Basis von Unterdrückung funktionieren, und besonders die Wirtschaft, von der die Wiederaufrüstung und die langfristigen Ziele des Regimes abhingen, konnte mit einer völlig abspenstig gemachten industriellen Arbeiterschaft nicht adäquat funktionieren. Dies bedeutete, dass die Unterdrückung der Spitze der politischen Linken von Versöhnungsrhetorik und symbolischen kleinen Zugeständnissen begleitet werden musste. Dies war besonders im Vorfeld zur Volksabstimmung im April 1938 von Bedeutung. Auf beiden Seiten gab es einen gewissen Grad an Pragmatismus. Die Rückkehr zur Vollbeschäftigung half dabei, die Bedenken der Arbeiterschaft gegenüber dem Regime zu zerstreuen. Obwohl die Angst vor einem möglichen Krieg unter der Bevölkerung weit verbreitet war (besonders, aber nicht nur während der Tschechoslowakeikrise), waren viele Arbeiter über einen drohenden Krieg weniger beunruhigt als ihre politische Führung, besonders wenn die boomende Waffenindustrie ihnen Arbeitsplätze verschaffte. Das Regime seinerseits war daran interessiert, die heruntergekommene Wirtschaft Österreichs so rasch und effizient wie möglich in die des Deutschen Reiches einzugliedern, um Österreichs Ressourcen inklusive des großen Reservoirs an unbeschäftigten Arbeitskräften nutzen zu können. Nach einer außergewöhnlich langen Phase der Depression sank die Arbeitslosigkeit in Österreich rasch, und die Löhne stiegen auf ein mit dem Deutschen Reich vergleichbares Niveau an.21 Die wirtschaftliche Integration der ‚Alpen- und Donau-Reichsgaue‘ geschah nicht reibungslos, denn die Preise und Steuern stiegen schneller als die Löhne – besonders mit der Einführung der deutschen Einkommenssteuer im Januar 1939 – und Abzüge für Beiträge und Spenden an Nazi-Organisationen und -anliegen schienen sich zu vervielfachen. Viele Nationalsozialisten an der Basis waren 19 Ebda. 20 Karl R. Stadler: Austria, London 1971, S. 165; Kershaw, Widerstand ohne Volk, S. 779. 21 Siehe Auszug aus den Sozialberichten der Reichstreuhänder der Arbeit für das 3. Vierteljahr 1938, in: Timothy W. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936–1939, Opladen 1975, S. 873 f.

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empört darüber, dass kritische Äußerungen jetzt, da ihre Stunde gekommen war, ungestraft bleiben konnten. Während sie Nachbarn und Arbeitskollegen mit großem Eifer denunzierten, vertraten die Behörden oft eine großzügigere Auffassung. In einem Bericht beispielsweise der Grazer Gestapo über die Stimmung der Bevölkerung in der industriellen Obersteiermark erkannte sie hinter den kritischen Äußerungen reale wirtschaftliche Nöte.22 Obwohl die Gestapo bei einem Arbeitskonflikt meist zu Hilfe gerufen wurde, um die Arbeitsdisziplin im Sinne der Betriebsleitung mit Nachdruck einzufordern und dies generell auch tat, war sie nicht selten kritisch gegenüber „unsozialen“ Arbeitgebern. Im Oktober 1940 beispielsweise wurde die Firma Hofherr-Schrantz-Clayton-Shuttleworth, die behauptete, dass 200 ihrer Arbeiter streikten, dagegen gewarnt, unnötig polizeiliche Dienstzeit zu verschwenden. Die Betriebsführung wurde in eindeutiger Weise darauf aufmerksam gemacht, dass ein Einschreiten der Staatspolizei nur dann erwartet werden kann, wenn eine tatsächliche Arbeitsniederlegung stattgefunden hat, dass es aber untunlich sei, die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft mit der Betriebsführung durch Einschaltung der Staatspolizei bekämpfen zu wollen.23

Was für die Entscheidungsträger Pragmatismus war, konnte von den Nazis an der Basis als Nachsichtigkeit interpretiert werden. In vielen Situationen war es schwierig, sich ehemaliger Sozialisten und Gewerkschaftsführer zu entledigen, da Betriebsräte oft geschickte Arbeiter und nicht selten Vorarbeiter waren. Ohne sie wären einige Teile der Industrie stillgestanden, und sie mussten nicht nur weiterbeschäftigt werden, sondern waren auch in ihren gewohnten Positionen am nützlichsten. Dies löste unter ihren politischen Gegnern einigen Unmut aus.  Im Sommer 1938 gab es zum Beispiel Beschwerden über die Situation in den SteyrWerken, wo einheimische Nazis unter der Arbeiterschaft skeptisch bezüglich der Kompromisse waren, welche die Partei gegenüber den ‚Roten‘ zu machen schien. Sie entdeckten ein Aufflackern der Aktivitäten der politischen Linken und beklagten sich darüber, dass die Sozialdemokraten nach dem Anschluss glimpflich davongekommen waren: „Die Nationalsozialisten hielten ihr Versprechen und mit großer Noblesse wurden die Herren Marxisten behandelt. Keiner verlor nach der Wiedervereinigung seinen Posten oder hatte sonstige Nachteile.“ Tatsächlich „[sitzen] neueintretende Marxisten, die schon jahrelang unter dem Schuschniggregime sogar, keine Stelle in der Fabrik erhielten, in kurzer Zeit auf den bestbezahlten Arbeitsstellen“24. Die Folge war ihrer Ansicht nach das Fortbestehen einer mächtigen sozialdemokratischen Hierarchie, deren Mitglieder einflussreiche Positionen im Betrieb innehatten, und dieser Einfluss stelle sicher, dass nur „vertrauenswürdige Kameraden“ die besten Stellen bekamen. 22 DÖW 512O, SD Wien 28. Juni 1938; BA R68/446, Graz 31. August 1938. 23 DÖW 5731, Tagesbericht Gestapo Wien Nr. 10 vom 22.–23. Okt.1940. 24 BA R58 723, Chef der Sicherheitspolizei, Berlin, 26. Sept. 1938.

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Solche Taktiken am individuellen Arbeitsplatz waren die strategische Reaktion politisch geschulter Sozialdemokraten auf staatliche Unterdrückung, die sie in früheren Zeiten der Illegalität entwickelt hatten: Das System wurde nicht direkt provoziert; Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihre Familien ernähren mussten und viel zu verlieren hatten, blieben unauffällig, sie hielten Kontakte und Solidarität aufrecht, nützten die Schwachstellen des Regimes oder die Wirtschaftslage, wenn sie konnten, und – wenn sich die Gelegenheit dazu ergab – zeigten sie ihren Protest im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Sogar diese allgemeinere, lose definierte Strategie war durch das Wesen des NS-Staates bedroht, wie ein ehemaliger südwestdeutscher SPD-Aktivist 1936 beobachtete: In der Straßenbahn sehe ich mir jeden Mitfahrenden darauf an, ob er nicht ein Horcher ist, jedes Wort, das man mit einem Kollegen spricht, wird zuvor 10mal auf der Zunge herumgedreht, bis es ausgesprochen wird. Man weiß: ein ungeschicktes Wort und du landest anstatt gegen Abend zu Hause, gegen Mittag in irgendeiner Polizeistation. Im Betrieb schweigt man sich gegenseitig an und spricht, wenn es sich nicht vermeiden lässt, nur von der Arbeit. Die Pausen sind stumm. Und wenn der Feierabend kommt, verdrückt sich jeder so rasch als möglich, damit ihm noch kurz vor Torschluss nicht ein unbedachtes Wort entschlüpft.25

Die Arbeiter waren gezwungen, sich auf ihr eigenes Überleben und das Wohlergehen ihrer Familien zu konzentrieren, da gemeinschaftliche Solidaritäten ausgehöhlt und die Möglichkeit zu einer bewussten kollektiven Handlung ausgeschaltet wurden. Als die Euphorie über den „Anschluss“ nachließ und der Arbeitsmarkt zunehmend dieselben Engpässe widerspiegelte, die schon längst in der deutschen Rüstungsindustrie zum Vorschein gekommen waren, wurde es deutlich, dass einige, besonders aber gut ausgebildete Facharbeiter in Maschinenbau und Schwerindustrie, ihre neue wirtschaftliche Position zum Erlangen von Zugeständnissen und besseren Arbeitsbedingungen nutzen konnten. Die daraus für das Regime entstehenden Probleme waren schon im Deutschland der späten 1930er-Jahre bekannt: Arbeiter nahmen im Streben nach besserer Bezahlung neue Stellen an; Arbeitgeber mit lukrativen Verträgen zum Beliefern der Waffenindustrie waren bereit, das dafür geeignete Personal abzuwerben; und die Regierung versuchte, den daraus resultierenden inflationären Druck zu mildern, indem sie den Arbeitsmarkt durch neue Gesetze regulierte, die unerlaubten Arbeitsplatzwechsel praktisch zu einem Vertragsbruch machten.26 Die Beschäftigten in jenen Industriezweigen, die sich in einem strukturellen Niedergang (z.B. Textilindustrie) oder unter direkterer staatlicher Kontrolle befanden (z.B. öffentlicher Verkehr), konnten den Arbeitsmarkt nicht so sehr zu ihrem Vorteil nützen und liefen eher Gefahr, politisiert zu werden. Nach der Einführung der Kriegswirtschaftsverordnung im September 1939 (und der Kriminalisierung industrieller Undiszipliniertheit mit einer ganzen Kategorie an Vergehen gegen die Maßnahmen der Verordnung) erreichte der indirekte Protest am Arbeitsplatz in einer 25 Deutschland-Berichte der Sopade, 1936, S. 837. 26 Vgl. Tim Mason: Sozialpolitik im Dritten Reich, Opladen ²1978.

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Welle von Absentismus und Arbeitsausfällen in der Industrie ihren Höhepunkt. Letzten Endes wurden die meisten Maßnahmen vor Weihnachten 1939 wieder zurückgezogen, entweder als Ergebnis weitverbreiteter Proteste oder einfach weil der rasche Sieg Deutschlands in Polen sie nicht länger erforderlich machte. Dem seit Kriegsbeginn bestehenden und durch die Wehrpflicht verschärften Arbeitskräftemangel versuchte man zunehmend mittels Zwangsarbeit von Zivilisten und Kriegsgefangenen zu begegnen. Mit der veränderten Zusammensetzung der Arbeiterschaft änderte sich auch die Rolle deutscher und österreichische Arbeiter, welche sich nun fallweise in der Position des Vorarbeiters für eine Abteilung wiederfanden, die hauptsächlich aus Frauen aus Osteuropa und der Sowjetunion bestand. Trotzdem dauerten alltägliche Formen des verdeckten Protests während des gesamten Krieges weiter an, wozu Absentismus, kleinere Sabotageakte und kurze vereinzelte Produktionsunterbrechungen im Zusammenhang mit speziellen Beschwerden zählten. Arbeitgeber und Behörden waren durch ein solches Verhalten gleichermaßen verärgert und verlangten nach Maßnahmen. Der Reichsstatthalter für Tirol und Vorarlberg legte dem Polizeidirektor und der Gestapo 1942 in Innsbruck folgende Beschwerde vor: Betriebsführer und Gewerbetreibende, aber auch Bauern, beklagen sich immer wieder, dass einzelne Arbeiter die ihnen aufgetragenen Arbeiten oft recht nachlässig verrichten und auf Ermahnungen entweder gar nicht reagieren oder sogar noch frech werden. Da dieses Verhalten einer Sabotage gleichkommt und auch die ordentlichen Arbeiter dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden, letzten Endes aber die gesamte Arbeitsleistung zurückgehen muss, erlaube ich mir, auf das Arbeitserziehungslager der Geheimen Staatspolizei in der Reichenau mit der Bitte nochmals besonders aufmerksam zu machen, bei der Einweisung in dieses Lager einen schärferen Maßstab anlegen zu wollen. […] Es treiben sich im Lande auch immer noch einzelne arbeitsscheue Individuen herum, die von der Gendarmerie raschestens zu erfassen wären und ebenfalls dem Arbeitserziehungslager zu überstellen wären. Ich bitte um entsprechende Veranlassung, damit die tüchtigen und ordentlichen Arbeiter sehen, dass wir nicht nur den Willen, sondern auch die Macht haben, Elemente, die unsere Arbeit stören wollen, zur Ordnung zu bringen.27

Wie so oft in solchen Situationen wurde von den Behörden rasch zwischen dem Störverhalten einiger weniger schwieriger oder arbeitsscheuer Belegschaftsmitglieder und einer gehorsamen Mehrheit unterschieden. Oft gab es keine Hinweise darauf, dass die Arbeiterschaft insgesamt entweder zersplittert oder oppositionell eingestellt war. Viele Probleme mit der Arbeitsdisziplin tauchten im Zusammenhang mit bestimmten Missständen in bestimmten Fabriken auf und wurden rasch beseitigt. Obwohl spontane Unmutsäußerungen oder Proteste in den Be27 Schreiben des Reichsstatthalters in Tirol an alle Landräte, den Polizeidirektor in Innsbruck sowie an die Geheime Staatspolizei – Staatspolizeileitstelle Innsbruck, 11. Nov. 1942, DÖW, Nr. 13237, abgedruckt in: DÖW (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Tirol, Wien 1984.

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trieben oft auf politische Unruhe in der Fabrik oder im Stadtteil zurückgeführt wurden, ist es beinahe immer schwierig, eine klare politische Absicht zu Unterwanderung oder Behinderung zu finden. Dies bedeutet nicht, dass in den industriellen Protesten, die oft Ausdruck der Erwartungen und Frustrationen gewerkschaftlich und sozialdemokratisch geschulter Arbeiter waren, kein politisches Bewusstsein involviert war. Eines der größten Probleme sowohl für Arbeitgeber als auch Staat war der „Arbeitsvertragsbruch“. Trotz der Bemühungen, den Markt durch das Verbot unerlaubten Arbeitsplatzwechsels zu regulieren, gaben Arbeiter weiterhin ihre Stellen für bessere Löhne auf oder weil sie gar nicht mehr arbeiten wollten.28 Dafür gab es unterschiedliche Gründe. Neben den Arbeitern, die einfach ihre starke Position am Arbeitsmarkt ausnützten, gab es viele, deren Gründe für die Aufgabe des Arbeitsplatzes komplizierter waren. Vor allem jene Arbeiter, die in der Industrie neu waren und die Arbeitsdisziplin nicht gewohnt waren, hatten größere Probleme: junge Arbeiter, die zuvor arbeitslos gewesen waren und die Erwartungen ihrer Arbeitgeber nicht kannten oder nicht gelernt hatten, ihre Wünsche und Unzufriedenheit durch die politischen und industriellen Organisationen der Arbeiterbewegung zu äußern; vom Land Zugewanderte, die zu Zeiten großer Nachfrage nach landwirtschaftlichen Arbeitern in ihre Dörfer zurückkehren wollten; Arbeiterinnen, die während der letzten Kriegsjahre verstärkt zum Zivildienst eingezogen wurden, aber zwischen Arbeit und häuslicher Verantwortung hin- und hergerissen waren; ausländische Arbeiter, deren Anzahl beispielsweise in Oberösterreich, wo der Ausbau der Hermann-Göring-Werke einen unvorhersehbaren Bedarf an Industriearbeitern schuf, doppelt so hoch wie die der Einheimischen war. Manchmal war es für einen Arbeiter auch nicht lohnenswert, eine ihm vom Arbeitsamt zugewiesene Stelle in einer weit entfernten Stadt zu behalten, da das Pendeln zu zeitaufwendig und teuer war. Passiver Widerstand gegenüber den Anforderungen des Regimes an Industriearbeiter in Form von kleinen Sabotageakten und Behinderungen war hartnäckig und weit verbreitet. Solches Verhalten wurde nie ausdrücklich politisiert, aber zeigte eine kontinuierliche Ablehnung des Faschismus in der Arbeiterklasse auf und fand auch in Fällen von spontanem und von der Gestapo täglich aufgezeichnetem Widerstand Ausdruck: „Heil Stalin!“, „ich scheiße auf den Führer“ und so fort. Ein großer Teil dieses Murrens und Fluchens fand in Kneipen, auf Märkten oder im öffentlichen Verkehr in Arbeitervierteln statt, wo man eigentlich Spott und Kritik an politisch Oppositionellen erwarten hätte können. Wir wissen davon, weil die Verantwortlichen der Polizei und Parteispitzeln aufgefallen oder von Nachbarn angezeigt wurden, deren Position durch das Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei (Heimtückegesetz) gestärkt wurde: Alltägliche politische Diskussion wurde kriminalisiert, und allein diese Tatsache könnte bewusste Trotzreaktionen in Form von freimütigen Äußerungen ausgelöst haben, aber sie beinhaltete in sich eindeutig keine kohärente politische Kritik. Am Ende gab 28 Vgl. Stefan Karner: Arbeitsvertragsbrüche als Verletzung der Arbeitspflicht im „Dritten Reich“. Darstellung und EDV-Analyse am Beispiel des untersteirischen VDM-Luftfahrtwerkes Marburg/Maribor 1944, in: Archiv für Sozialgeschichte 21 (1981), S. 269–328.

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es weder einen politischen Aufstand wie 1918, noch nützte die Arbeiter ihre neue starke wirtschaftliche Position ausreichend aus, um die Regierung durch „funktionellen“ Widerstand gegen die Arbeitsvorschriften zu Fall zu bringen. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung war weder ausgeprägt noch verbreitet genug, um die politische Macht des Regimes zu unterminieren oder den Patriotismus aller Teile der Gesellschaft während der Kriegszeit zu übertreffen.29

III Am Ende der 1980er-Jahre schienen die Ergebnisse einer Reihe von Forschungsprojekten über die Geschichte von Regime und Gesellschaft im Dritten Reich „von unten“ darauf hinzudeuten, dass der Widerstand gegen Hitler in Wahrheit ein „Widerstand ohne Volk“ war. Nach der Veröffentlichung detaillierterer empirischer Studien wurde deutlicher, das Nonkonformität, Widerspruch und Opposition in der Bevölkerung von einer weitgehenden Akzeptanz des Regimes, die von Indifferenz und Beschäftigung mit Alltagsangelegenheiten bis hin zu Mittäterschaft bei der Überwachung von Nachbarn reichte, aufgewogen wurden. Zur selben Zeit fand eine grundlegende Verschiebung des Forschungsfokus von politischen Strukturen des Regimes und dem Potenzial für soziale Konflikte zu einem wesentlich breiteren Fokus auf Rassenpolitik und Holocaust statt. Auf ähnliche Weise hat sich die Methodenpraxis etwas vom Ansatz der historischen Sozialwissenschaft weg hin zu einer größeren Betonung auf Subjektivitäten verlagert. In dieser sich verändernden historiografischen Landschaft gibt es eine Reihe von Erklärungen für den ausbleibenden Widerstand generell, und im Detail für das wahrgenommene „Versagen“ der Industriearbeiter, die Diktatur zu Fall zu bringen. Zuallererst führten die neuen Forschungsansätze zu einer genaueren und kritischeren Untersuchung der Beziehung zwischen den Nazis und der industriellen Arbeiterschaft. Beispielhaft dafür gilt besonders die Debatte in „Geschichte und Gesellschaft“ rund um die Frage: „Warum steht der deutsche Arbeiter zu Hitler?“ Die Frage wurde einem „Sopade“-Bericht als Ausgangspunkt für eine Diskussion Gunther Mais über die Rolle der DAF im politischen System der Nazis entnommen, die auf einer früheren Arbeit über die NSBO aufbaute.30 Die Vorstellung, dass Arbeiter für die Nazi-Ideologie empfänglicher waren als ursprünglich angenommen, wurde von Jürgen Falter in einer der vielen Neubewertungen der gesellschaftlichen Basis des Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich aufgegriffen. Solche Neubewer29 Vgl. Scott, Weapons of the weak, S. 22–27, über „Kleinwaffen im Klassenkrieg“ (small arms in the class war) und S. 255 f. über „routine resistance“. 30 Gunther Mai: „Warum steht der deutsche Arbeiter zu Hitler?“ Zur Rolle der Deutschen Arbeitsfront im Herrschaftssystem des Dritten Reiches, in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), S.  212–234; ders.: Die Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation. Zum Verhältnis von Arbeiterschaft und Nationalsozialismus, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 573–613.

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tungen basierten jedoch generell auf denselben Mitgliedschaftsdaten oder Wahlergebnissen wie früher und die Schlussfolgerungen waren eine Frage der Interpretation.31 Die Feststellung, dass ein Viertel der Arbeiter wahrscheinlich für den Nationalsozialismus stimmte, war nicht überraschend. Ulrich Herbert bemerkte in seiner Zusammenfassung der Debatte, man könnte „das gleiche Ergebnis ja auch so interpretieren, dass drei Viertel der Arbeiterschaft gegen den Nationalsozialismus standen, während es im Rest der Bevölkerung nicht viel mehr als ein starkes Drittel war“. Von einem anderen Standpunkt aus betrachtet boten die Wählerstatistiken eine akzeptablere Interpretation des veränderten politischen Klimas in den 1980er-Jahren, indem sie dazu beitrugen, die bequeme Perspektive einer nach 1945 beschämten Mittelschicht wiederherzustellen: „…dass es gerade die Arbeiterschaft bzw. ‚die einfachen Leute‘ waren, die sich von den Verführungskünsten des ‚Anstreichers‘ hätten betören lassen.“32 Diese Ansätze prüften dennoch einfache, schematische Annahmen über politische Loyalitäten und es wurde aufgrund der Forschungsergebnisse von Sozialhistorikern jener Zeit immer deutlicher, dass sich seit der Erschütterung der kaiserlichen Regierungen Zentraleuropas von 1918 durch Arbeiterunruhen viel verändert hatte. Dies war nicht zuletzt die Folge langfristiger Tendenzen in der Organisation des Arbeitsplatzes, in den Perspektiven und Wünschen der Industriearbeiter und in der Kultur der Arbeiterklasse-Gemeinschaften. Die Erfahrungen der Arbeiter am Arbeitsplatz wurden von organisatorischen Veränderungen der Rollen und Aufgaben im Betrieb beeinflusst, besonders vom Niedergang der Meisterwirtschaft und der Verbreitung leistungsorientierter Lohnsysteme.33 Der Einfluss des Fordismus auf die Industrie hatte ein geringeres Ausmaß als die öffentliche Diskussion darüber, aber „fordistische“ Praktiken hatten sich – wenn auch nur auf einen kleinen Teil der Arbeiterschaft beschränkt – in Deutschland während der 1920er-Jahre verbreitet und ein weiteres Mal mit dem Aufrüstungsboom der 1930er-Jahre.34 Österreichs relativ rückständiger Industriesektor hatte traditionellere kleine Betriebe länger aufrechterhalten und die deflationäre Politik der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur hatte sichergestellt, dass er von der Rationalisierungswelle der 1930er-Jahre größtenteils verschont geblieben war. Die rasche Expansion der Schwerindustrie nach 1938, besonders in Oberösterreich, und der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte, die ihr 31 Jürgen W. Falter: Warum die deutschen Arbeiter während des „Dritten Reiches“ zu Hitler standen, in: Geschichte und Gesellschaft 13 (1987), S. 217–231. Die Beziehung zwischen Wahlerfolgen und Wählerschaft waren in Österreich zur gleichen Zeit weniger direkt. Vgl. Jürgen Falter, Dirk Hänisch: Wahlerfolge und Wählerschaft der NSDAP in Österreich von 1927 bis 1932: Soziale Basis und Parteipolitische Herkunft, in: zeitgeschichte 15 (1988), 223–244. 32 Ulrich Herbert: Arbeiterschaft im „Dritten Reich“. Zwischenbilanz und offene Fragen, in: Geschichte und Gesellschaft 15.3 (1989), S. 320–360, hier 322. 33 Alf Lüdtke: What happened to the „fiery red glow“? Workers’ experiences and German Fascism, in: ders. (Hg.), The history of everyday life. Reconstructing historical experiences and ways of life, Princeton 1995, S. 198–251, hier 221 ff. 34 Rüdiger Hachtmann: Industriearbeit im „Dritten Reich“. Untersuchungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933–1945, Göttingen 1989, S. 54–89.

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auf dem Fuße folgte, veränderte jedoch sicherlich die Weise, in der Arbeiter die Arbeit und den Arbeitsplatz erlebten. Die Bedingungen außerhalb des Arbeitsplatzes waren unter dem Nazi-Regime mit jenen in früheren Zeiten der Unterdrückung durch autoritäre Regierungen nicht vergleichbar; der häufigste Vergleich ist jener mit den Sozialistengesetzen in Deutschland und Österreich des späten 19. Jahrhunderts, eine Erfahrung, die zweifellos die Entwicklung der sozialdemokratischen Standardstrategie des Aufrechterhaltens von Kontakten ausgelöst hat. Unter den autoritären Regierungen des späten 19. Jahrhunderts war es für die Arbeiterbewegung möglich gewesen, sozusagen stellvertretend in der Vereinslandschaft der Bewegung zu überleben; in den 1930er-Jahren wurden jedoch nicht nur die politischen Parteien, sondern alle Arbeiterorganisationen eliminiert. Hinzu kam, dass deren Funktion mit dem spezifischen Ziel, ein genau solches kulturelles Überleben der Sozialdemokratie zu verhindern, von Naziorganisationen übernommen (und ihr Besitz gestohlen) worden war. Der NS-Staat wollte (durch die DAF und ihre Unterorganisationen Kraft durch Freude und Schönheit der Arbeit) das Vakuum füllen, das nach dem Ende der Arbeiter-, Freizeit- und Wohlfahrtsorganisationen entstanden war. Gleichzeitig entwickelten sich im Rahmen einer Erweiterung betrieblicher Sozialmaßnahmen – die zur selben „Rationalisierungswelle“ gehörten, die Zeit- und Bewegungsstudien hervorgebracht hatte – soziale Einrichtungen, die die Arbeiter stärker an ihren Arbeitgeber banden.35 Während der 1920er-Jahre waren die Gemeinschaften und die Kultur, die traditionelle Basis der politischen Identität der Arbeiterklasse, bereits bis zu einem gewissen Grad durch langfristige soziale und wirtschaftliche Veränderungen ausgehöhlt worden, und dieser Prozess wurde durch den Rüstungsboom der 1930er-Jahre noch beschleunigt. Einige Veränderungen, so Detlev Peukert, „wurden von den Nationalsozialisten willentlich gefördert, andere mehr pragmatisch akzeptiert, viele setzten sich gerade gegen das Konzept der NSDAP hinter ihrem Rücken durch“.36 Von noch größerer Bedeutung ist vielleicht, dass die Wahrnehmung des durch den Aufrüstungsboom ausgelösten wirtschaftlichen Erfolges mit der Rückkehr zu einer gewissen „Normalität“ in den Haushalten der Arbeiterklasse assoziiert wurde, die zum ersten Mal seit Jahren wieder Löhne empfingen, und die „Unschärferelation“ zwischen politischer Identität und Alltagserfahrung auf diese Weise weiter verwischt wurde.37 Historiker überschätzen die Rolle der Politik in den Alltagserfahrungen der Menschen instinktiv. Die bedeutenden Ereignisse im 35 Vgl. Michael Schneider: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933–1939, Bonn 1999, S. 556– 568; Carola Sachse: Betriebliche Sozialpolitik als Familienpolitik in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus: mit einer Fallstudie über die Firma Siemens, Hamburg 1987. 36 Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 294. 37 Alexander von Plato: „Ich bin mit allen gut ausgekommen“ oder war die Ruhrarbeiterschaft vor 1933 in politische Lager zerspalten?, in: Lutz Niethammer (Hg.), „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin 1983, S. 31–66, hier besonders die Schlussfolgerung, S. 59–62: Lager und Milieu: eine Unschärferelation; vgl. Lüdtke, What happened to the „fiery red glow“?, S. 206 f.

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Leben der meisten Menschen sind eher von persönlicher und lokaler als nationaler Natur: Geburten, Hochzeiten, Todesfälle, Arbeitslosigkeit, neue Arbeitsplätze und Migration waren von größerer Bedeutung als konkrete politische Ereignisse, und für die meisten Menschen waren die Jahre der wirtschaftlichen Erholung im Inland und der Siege im Ausland die „guten Zeiten“ zwischen wirtschaftlicher Depression und militärischer Niederlage.38 Dennoch bestand das Ziel des Regimes nicht aus der bloßen Kontrolle potenzieller Opposition und damit der Schaffung einer gefügigen Gesellschaft – obwohl dies das sine qua non politischer Stabilität darstellte; die proklamierte Absicht war es, durch die Schaffung einer Volksgemeinschaft eine dauerhafte kulturelle Revolution herbeizuführen, die Klassenkämpfe und andere Partikularinteressen transzendieren sollte. Die Regimepropaganda präsentierte tatsächlich das Bild einer Gesellschaft, die den Schritt von Teilung zu einer neuen Einheit, basierend auf „Deutschen“ Werten, bereits gemacht hatte. Wie jede erfolgreiche Propaganda baute sie zunächst auf Themen auf, in denen die Nazipolitik die Wünsche der Bevölkerung – wenn auch noch so vage – widerspiegelte: Die Wiederherstellung der Ordnung im Inland und deutscher Größe im Ausland, die Identifikation äußerer Bedrohungen und innerer Feinde.39 In einer der ersten Studien über die deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus argumentierte David Schoenbaum damit, dass, obwohl die „objektive soziale Realität“ unverändert geblieben war und der Nationalsozialismus keinen realen Effekt auf die Verteilung von Macht und Wohlstand hatte, das Kraftpotenzial des Regimes zur Modernisierung der Gesellschaft zu einer Revolution in der Wahrnehmung geführt und den Eindruck sozialen Wandels und sozialer Mobilität erweckt hatte. Laut Schoenbaum „spiegelte diese interpretierte soziale Realität eine in der neueren Geschichte Deutschlands noch nie dagewesene geeinte Gesellschaft wider“. 40 Nachfolgende Studien über den Widerstand aus der Bevölkerung scheinen seiner Interpretation zu widersprechen, indem sie wesentliche Resistenzreserven in jenen Teilen der Gemeinschaft identifizierten, die am ehesten zu Widerspruch neigten. Neuere Arbeiten haben den Fokus vom Aufspüren von Widerstand hin zur Erklärung von Konsens verlagert und auf alle Arten alltäglicher Mittäterschaft mit dem Regime in Form von Denunzierung eines Nachbarn bis zur passiven Akzeptanz des Rechts auf eine Plünderung Europas hingewiesen.41 Die Absicht der Nationalsozialisten, die deutsche Gesellschaft in eine Volksgemeinschaft zu verwandeln, war für viele mehr als nur ein Propagandakonzept – oder genauer gesagt, ein eher vager politischer Allzweckbegriff aus der Weimarer Zeit, den die Nazis für ihre eigenen 38 Siehe Ulrich Herbert: „Die guten und die schlechten Zeiten.“ Überlegungen zur diachronen Analyse lebensgeschichtlicher Interviews, in: Niethammer (Hg.), Faschismuserfahrungen, S. 67–96. 39 David Welch: Nazi propaganda and the Volksgemeinschaft. Constructing a people’s community, in: Journal of Contemporary History 39.2 (2004), S. 213–238. 40 David Schoenbaum: Hitler’s social revolution. Class and status in Nazi Germany 1933–1939, New York 1980 [1966], S. 286. 41 Vgl. Robert Gellately: The Gestapo and German society. Enforcing racial policy 1933–1945, Oxford 1990; ders.: Backing Hitler. Consent and coercion in Nazi Germany, Oxford 2001; Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005.

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Ziele übernommen hatten. Es wird zunehmend die These vertreten, dass die Vorstellung einer Volksgemeinschaft nicht nur für viele Menschen, inklusive der Arbeiter, attraktiv gewesen sei, sondern sich auf einen realen Wandel in den sozialen Beziehungen bezogen habe, in dessen Rahmen die Zusammenarbeit mit dem Regime durch Denunzierungen oder Mitarbeit in einem Pogrom eine Art Selbstermächtigung dargestellt habe.42 Besonders Michael Wildt tritt dafür ein, das Konzept der Volksgemeinschaft ins Zentrum zu rücken, nicht nur um den Rahmen gesellschaftspolitischer Ziele in Form von Regime-Propaganda zu beschreiben, sondern als Mittel dafür, das System selbst zu verstehen: Die Untersuchung der Volksgemeinschaft […] heißt daher nicht, einem nationalsozialistischen Propagandabegriff aufzusitzen oder die gesellschaftliche Wirklichkeit zu verkennen, sondern im Gegenteil von der gesellschaftlichen Wirklichkeit auszugehen und Dimensionen von Zustimmung und Abwehr, Mitmachen und Verweigern, Anteilnehmen und Wegschauen zu erkunden.43

Diese Beschreibung sozialer Beziehungen deutet auf eine ähnliche, wie schon in früheren Analysen mitschwingende Inkonsistenz von Einstellungen, Resonanz und Verhalten hin. Vom Standpunkt der Konstruktion einer historischen Soziologie der Nazi-Diktatur aus jedoch, in der Akzeptanz und Konsens statt Unterdrückung und Widerspruch die Norm ist, hat die Verwendung des Konzepts der Volksgemeinschaft als Analysemethode eine gewisse Skepsis ausgelöst, nicht zuletzt, weil sie einen Nazi-Propagandaslogan für bare Münze nimmt.44 Des Weiteren wird die Rolle der Ideologie nicht nur privilegiert behandelt, sondern auch eine konsequente Absicht der Nazi-Führungsriege vorausgesetzt, die viele Historiker nicht ausfindig machen konnten,45 und der leichte Übergang von politischer Absicht zu politischer Realität bleibt ungeklärt: „Wie suchten [die Nationalsozialisten] nach der Machtübernahme die deutsche Gesellschaft in eine Volksgemeinschaft zu transformieren? Wie strebte diese Volksgemeinschaft im Krieg ihrem radikalen, mörderischen Zenit zu?“46 Was „irgendwie – in den Augen der Nazis – als Teil des ‚Wunders‘ ihrer relativ mühelosen Machtergreifung“ stattgefunden 42 Vgl. Norbert Frei: People’s community and war. Hitler’s popular support, in: Hans Mommsen (Hg.), The Third Reich between vision and reality. New perspectives on German history 1918–1945, Oxford 2001, S. 59–78; Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 14–15. 43 Frank Bajohr, Michael Wildt (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2009, S. 10. 44 „Was spricht eigentlich dafür“, wie Heinrich August Winkler vor drei Jahrzehnten gefragt hat, „die gesellschaftspolitischen Parolen der Nationalsozialisten zum Nennwert zu akzeptieren?“ Heinrich August Winkler: Vom Mythos der Volksgemeinschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 27 (1987), S. 484–490, hier 485. 45 Vgl. Hans Mommsen: Changing historical perspectives on the Nazi dictatorship, in: European Review 17.1 (2009) S. 73–80, hier, S. 76–79. 46 Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 14.

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hat, wurde zu einer realen, beabsichtigten und – für sich genommen – einer erfolgreichen und autarken Politik.47 Die beständige Frage, wie die Nazis die Aufrechterhaltung einer gewissen politischen Stabilität bewerkstelligt haben, wird zwar behandelt, dennoch ist die Volksgemeinschaft aus mehreren Gründen problematisch. Der wichtigste Grund ist vielleicht, dass in den unzähligen Berichten einer Reihe von regimetreuen und oppositionellen Organisationen über das Stimmungsbild in der Bevölkerung der ausdrückliche Begriff der Volksgemeinschaft, sei es in Form von Propaganda oder Realität, sehr selten vorkommt.48 Das Bild ist natürlich ein gemischtes und neben der langen Liste kleinerer Akte des Widerstands oder wahrgenommener Subversion, von denen berichtet wird, gibt es auch viele Hinweise auf Einverständnis und Anpassung. Sozialdemokraten zeigen Verzweiflung und Zynismus angesichts der Indifferenz der Menschen – besonders der unter ihnen – gegenüber der Bösartigkeit der Nazis und gegenüber der Leichtigkeit, mit der sich so viele von Populismus und Versprechungen verführen lassen; und die Berichterstatter des Regimes, nicht ohne Vorsicht und Einschränkungen, sprechen von der Zustimmung der Bevölkerung zu Maßnahmen oder Ereignissen. Dennoch wird das Konzept der Volksgemeinschaft als treibende Kraft des Regimes und seiner Kriegsbemühungen kaum verwendet. Es erscheint außerhalb der nazitreuen Presse selten als hervorstechender Begriff und es gibt wenig Hinweise darauf, dass dieses Konzept von der Bevölkerung plötzlich anstelle einer eher konfrontativeren Denkweise übernommen wurde.49 In Österreich gab es noch eine weitere Dimension: Viele Zornesausbrüche gegen das Regime waren anti-deutsch gefärbt, und dies betraf auch Beschwerden unter den Nationalsozialisten an der Basis über die Machtübernahme der „Piefke“ in Wien. Als sich das Blatt im Krieg wendete, gab es eine zunehmende Tendenz der Österreicher, sich vom Großdeutschen Reich zu distanzieren. Für das Deutschland der Nachkriegszeit war der Begriff der Volksgemeinschaft wichtig, um sich und anderen zu erklären, was ihnen im Dritten Reich geschehen war. Für die Österreicher hingegen konnte der Begriff nie dieselbe Funktion erfüllen und sie begannen sehr rasch, sich eher als Opfer des Nazismus denn als Beteiligte in der Konstruktion einer Volksgemeinschaft zu sehen. Unser Verständnis des Widerstands gegen dem Nazismus in Österreich und Deutschland wird ebenso sehr von sich verändernden politischen Anforderungen und einem veränderten intellektuellen Klima im Nachkriegseuropa geprägt wie von der Realität der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft im Dritten Reich selbst. Unser Ansatz zum Verständnis der Vergangenheit wurde auch wesentlich vom Aufkommen der (damals) „neuen“ Sozialgeschichte und der Entwicklung einer historischen Sozialwissenschaft verändert. Wenn diese neuen 47 Nobert Frei, People’s community and war, S. 59. 48 Vgl. Ian Kershaw: „Volksgemeinschaft“. Potential und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 59.1 (2011), S. 1–17, hier 14. 49 Winkler, Vom Mythos der Volksgemeinschaft, S. 484: „Welche empirischen Daten sprechen dafür, dass die Gesellschaft des ‚Dritten Reiches‘ von den Betroffenen nicht als Klassengesellschaft empfunden wurde?“

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Methoden auch nicht immer die erwarteten Forschungsergebnisse hervorgebracht haben, so haben sie uns doch gelehrt, nicht zu erwarten, dass sich historische Akteure einfach in große Narrative einfügen lassen, sondern dass sich Individuen unberechenbar und willkürlich, sozusagen „eigensinnig“ verhalten.50 Insofern kann die Unzahl kleinerer individueller Heldentaten, Trotzhandlungen, Akte von Subversion, Boshaftigkeit, Kompromissbereitschaft, Anpassung und Zustimmung sehr wohl Teil eines größeren Ganzen sein, das von Historikern noch entdeckt werden muss, aber für die Akteure selbst stellen sie einen Weg dar, die Umstände auszuhandeln, mit denen sie konfrontiert werden.

50 Vgl. Alf Lüdtke, What happened to the „Fiery Red Glow“, S. 226 f.

Edith Saurer

Er hat „Ja“ gesagt Kardinal Theodor Innitzer und Bernhardine Alma im Beichtstuhl (März 1938)1 Bernhardine Alma ging monatlich mehrmals zur Beichte. Sie nahm damit an einer allgemeinen Entwicklung teil, denn vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg der Beichtbesuch stark an.2 Sie suchte das Gespräch, ein spirituelles Gespräch, das ihr Anregungen und Unterstützung für ihr intensives und entfaltetes religiöses Leben bot, aber auch bei der Lösung allgemeiner Orientierungsprobleme, nicht zuletzt politischer, half. Sie stellte Ansprüche an Erfahrungen und Empathie ihrer Gesprächspartner. Nach dem Tod eines von ihr hochgeschätzten Geistlichen war sie auf der Suche nach einem neuen geistlichen Führer und nahm hiermit eine Tradition auf, die im Adel und im monastischen Bereich der frühen Neuzeit weit verbreitet war. Bei ihrer Suche reichte ihr das Priesteramt als Versprechen einer adäquaten Leitung nicht aus. Einen Kandidaten, der sich selbst angeboten hatte, schloss sie sogleich aus. „Er ist durch u. durch Weltmann, war außerordentlich liebenswürdig – aber – Gott verzeih es mir – seelisch bin ich zu weit gekommen, als daß er mir viel geben könnte.“ (6.3.38.)3 So verblieb als Alternative nur der Gang zu verschiedenen Beichtstühlen, in den Wiener Stephansdom, in die Universitätskirche und manchmal in die Elisabethkirche. In ihr Tagebuch notierte sie die Beicht-Gespräche, die in den Monaten März und April auch Anschluss, Volksabstimmung und Nationalsozialismus thematisierten. So am 24. März 1938: „Gestern Beichte beim Pfarrer. Er schaut elend aus. Sagte: ‚Wer nicht für mich ist – u.s.w. – Man kann nicht 2 Herren u.s.w. Es gibt keine Neutralität. Zeigen wir uns vor der Welt als treue Jünger Jesu, gute Kinder der Kirche.“ Bernhardine konfrontierte die Beichtpriester mit ihren Problemen und übernahm auf diese Weise die Gesprächsführung im Beichtstuhl. Für die Geschichte der Beichte stellt ihr Tagebuch eine besondere Quelle dar; auch deshalb, weil sie ihr einen stabilen und wichtigen Ort in ihrem Leben einräumte, den sie in ihrem Tagebuch sichtbar machte. So ist daraus etwa auch ersichtlich, dass sie an dem Aufzählen von Sünden, einer traditionellen Form der Beichte, nicht bzw. nur in Einzelfällen interessiert war. Das ist im Vergleich zum 19. Jahrhundert, vor allem 1 Das Manuskript dieses Beitrags wurde den Herausgebern und Herausgeberinnen von Edith Saurer nur wenige Wochen vor ihrem Tod am 5. April 2011 übergeben, so dass zwar noch orthografische oder kleinere lexikalische Veränderungen vorgenommen wurden, wir uns aber entschlossen haben, den Beitrag in seiner Originalfassung abzudrucken, um der Autorin nicht post mortem „ins Wort zu fallen“. 2 Rupert Maria Scheule (Hg.): Beichten. Autobiographische Zeugnisse zur katholischen Bußpraxis im 20. Jahrhundert, Wien 2001, S. 31. 3 Die zeitlichen Angaben, meistens in Klammer, beziehen sich ausschließlich auf das Tagebuch der Bernhardine Alma, das sich in der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte, Universität Wien befindet (Signatur: NL9 I).

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in der Beziehung Frauen und Priester, eine neue Kommunikationssituation. Ihr Tagebuch mit den großteils sehr genauen Aufzeichnungen der Beichtgespräche hat für die Zeitgeschichte nicht nur Relevanz, weil Politik ein Thema und hiermit der Einfluss der katholischen Kirche in einem der Öffentlichkeit bislang verschlossenen Bereich nachvollziehbar wird, sondern auch, weil die Bedeutung von Religion in sehr unterschiedlichen Ausdrucksformen offenkundig wird. Wenn es auch autobiografische Quellen zu individuellen Beicht-Erfahrungen gibt, so stellen sie dennoch Ausnahmen dar bzw. finden sie sich in weit verstreuten Quellenkorpora.4 Vonseiten des Priesters unterliegt das Gespräch dem Beichtgeheimnis. Er hatte jedoch die Möglichkeit und Verpflichtung, in kirchenrechtlich festgelegten Fällen anonymisierte Hinweise nach Rom zu senden und in Handbüchern für Beichtväter konnte er, sofern er diese verfasst hatte, seine Gesprächserfahrungen verallgemeinert in Exempla vorstellen.5 Tagebücher oder Briefe, in denen Priester über ihre Beichterfahrungen schreiben, sind mir nicht bekannt. Dem Tagebuch, das Bernhardine Alma seit ihrem 13. Lebensjahr bis zu ihrem Tod als 84jährige führte, galt ihr größtes Vertrauen. Niemand konnte Einblick nehmen in das, was sie täglich niederschrieb, und sie scheute vor negativen Urteilen über nahestehende Personen sowie vor der Sichtbarmachung eigener kleinerer und größerer Eitelkeiten nicht zurück. Vor allem aber haben sie ihre kritischen Äußerungen über den Nationalsozialismus, die sie 1938 bis 1945 in den Text kontinuierlich niederschrieb, nicht verunsichert. Sie griff zu keinen Codierungen. „Sehe mehr u. mehr Hackenkreuze [sic!] – und langsam kommt das Begreifen. Österreich verkauft u. verraten – Österreich dem Antichristen ausgeliefert“ (15.3.1938), „Überall das Gesicht des Höllensohnes“ (18.3.1938). Die Sorge, dass das Tagebuch der Gestapo in die Hände fallen könnte, äußert sie in diesen Monaten nicht. Ihr „liebes, geliebtes Tagebuch“ gibt ihr vielmehr Sicherheit. Eine Sicherheit, die auch in dem Aufbau des Tagebuchs begründet liegt. Es hat einen festen Rahmen, der sich auf die Gestaltung des Jahres und der Tage bezieht. Das Jahr setzt „Mit Gott und Maria“ ein. Der Tageseintrag endet mit „D.W.g.“, „Dein Wille geschehe“. Der Beginn des Eintrags bezieht sich auf persönliche religiöse Erlebnisse oder Vorhaben, die sie in einen Zusammenhang mit ihrer Lebenssituation setzt: „Jesus hilf mir gut beichten, dann hilf mir den Zins zu zahlen und so durchzukommen – bis du mich von hier wegnimmst“ (11.1.39). Die Sprache des Beginns kann jedoch auch, ebenfalls ausgehend von einer religiösen Praxis, religiöses Gedankengut memorieren.

4 Rupert Maria Scheule hat 1995 einen Schreibaufruf zu Beichterfahrungen ausgesendet, der von 69 Personen, 50 Frauen und 19 Männern beantwortet wurde, vgl. Scheule, Beichten. 5 Z.B. Francesco Maria Bàccari: La pratica del confessionale 1827 mit seinen „Esempi di finte confessioni“ (Beispiele fingierter Beichten), in: Edith Saurer: Frauen und Priester. Beichtgespräche im frühen 19. Jahrhundert, in: Richard Van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a.M. 1990, S. 141–170.

Er hat „Ja“ gesagt

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Heute heiligste Communion! Der Heiland gibt mir so viel und ich kann Ihm nur mich selber geben u. das ist wenig genug für den allmächtigen Gott. Meine armselige Liebe kann ich geben, meinen schwachen Willen, mein Wollen, Ihm mehr zu geben.6

Das Christentum ist eine Buchreligion, dem geschriebenen Wort kommt eine zentrale Bedeutung zu. „Diese Werke“, meinte Jack Goody zu Thora, Bibel und Koran, „sind geweihte Gefäße des göttlichen Wortes, die in sich unveränderlich und ewig bleiben […].“7 Liturgie, Gebetstechniken und Interpretationen würden sich ändern, aber das Wort bleibt „selbst wie es immer war“. Dennoch: es gibt orale und schriftliche Traditionen, die von den Gläubigen getragen sind, die sich, wie im Falle Almas, zwar von der anerkannten Sprache katholischer Lehre nicht entfernen, aber dennoch ihre spezifischen Aneignungsformen haben. Dazu zählt, dass die religiöse Sprache der Bernhardine Alma die Funktion hatte, die Einträge abzusichern. Es wäre unvorsichtig, von bewusst eingesetzter Magie der Sprache zu schreiben, aber die Widmung des Tagebuchs bzw. der Einträge katholischen Glaubensguts ist nicht nur eine Einübung in religiöses Wollen und religiöse Reflexionen oder das Aufgreifen von Traditionen, sondern auch der Versuch, es vor fremden Eingriffen zu schützen. Es soll und kann ihm nichts geschehen. Das Tagebuch handelt vom Überleben, wobei sich dies nicht vorrangig auf ein Überleben des Nationalsozialismus bezieht, obwohl Alma sich der Gefährdungen bewusst war: „ Arische Geschäfte – Nichtarische Geschäfte – Einbrüche, Verhaftungen – abgeschlossen von der Aussenwelt einer Feme ausgeliefert. – Viele Selbstmorde. Der nächste Augenblick kann Verhaftung bringen – ganz ohne Grund – Gott helfe uns!“ (18.3.38). Nach der Definition des „Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ war Bernhardine Alma, deren Vater 1884 vom Juden- zum Christentum konvertiert war, als „jüdischer Mischling“ von „Hitlers Volksstaat“ und sämtlichen Sozialleistungen des NS-Staates ausgeschlossen. Ihre täglichen Überlegungen und Aktivitäten konzentrierten sich zunehmend auf die unmittelbaren Erfordernisse des Alltags: die Miete und die Kohlen bezahlen zu können, die Nahrung für sich und ihren Bruder zu sichern, denn ihre Einkommensquellen standen auf unsicherer Basis. Unter ihrem Künstlernamen „Alma Bernharda“ schrieb sie kürzere Texte und Gedichte für katholische Zeitschriften zu einschlägigen Themen, verfasste Romane, die sie katholischen Verlegern anbot und wartete auf deren Antwort. Täglich hat sie Texte mit Begleitbriefen versandt und auf Antworten, auf die Post gewartet: Literarisch schlechte Post: Wochenpost kündigte Rücksendung an, Leo hat eines, St. Georgsblatt Mehreres retourniert.  – Ich habe geschickt: Bank v.d. Haus an St. Paulsblatt. Letzte Boteng; Rosen aus Karioth an Kanis.  Stimmen, Der Sohn (halbneu) an Zeit im Bilde (jeweils mit Karterl resp. Brieferl) Roman – Antrag an Mayer u. Thiemann & Breer …8(30. 10. 1938) 6 Hervorhebungen im Original. 7 Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 32. 8 Hervorhebungen im Original.

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In ihrem Tagebuch finden sich regelmäßig detaillierte Listen über die von ihr versandten Texte, die angeschriebenen Verlage und Zeitschriften, über Rücksendungen und Annahmen. Das Eintreffen des Postboten war für sie daher ein zentrales Tagesereignis. Oft aber reichten die Geldüberweisungen, die sie bekam, für das Leben nicht aus und sie versetzte Silber- oder Goldkettchen, die sie von den Eltern geerbt hatte. Die letzte Hilfe war das Vermieten eines Zimmers ihrer großen Wohnung, die sie schon seit 1912 – zunächst mit ihren Eltern und Geschwistern – bewohnt hatte. 1938 wohnten auf der Weißgerber Lände nur mehr sie und ihr Bruder Marius. Hatten ihre Eltern einst in einem gewissen Wohlstand gelebt, so befanden sich Bernhardine und Marius am Rande der Armut. Der Raum der katholischen Kirche war im weitesten Sinne Almas Überlebensraum. Sie schrieb für Zeitschriften und Verlage, die der Kirche nahestanden. Allerdings scheute sie nicht davor zurück, auch die neuen Machthaber zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie sich finanziell geschädigt fühlte. Zwei Romane von ihr, die sie bei dem Schriftsteller – und vielleicht auch Verleger – Georg Jantschge deponiert hatte, waren zusammen mit anderen Texten von der Gestapo beschlagnahmt worden. (7.4.1938) Alma verlangte eine Entschädigung von 300 Reichsmark (18.9.1938). Mit „Gestapo“ setzte ihre Liste vom 17. Jänner 1939 ein, die noch 69 Zeitschriften und Verlage aufzählte, denen sie Manuskripte zugesandt hatte und auf deren Antwort sie wartete. Die Entschädigungserwartung war von ihrer Notsituation diktiert, unter deren Perspektive auch die Gestapo an Schrecken verlor. Alma war keine Anhängerin der „Dollfußstraßler“, wie sie schrieb, aber sie hatte vor, bei der für den 13. März 1938 von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg geplanten „Volksbefragung“ zur Unabhängigkeit Österreichs beziehungsweise genauer: „Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich, für Friede und Arbeit und die Gleichberechtigung aller, die sich zu Volk und Vaterland bekennen“9, mit „Ja“ zu stimmen. „Da die Hitlerei derzeit die akuteste Gefahr ist, stimme ich mit ‚Ja‘.“ (10.3.1938) Im Bürgerkrieg, im Februar 1934, hatte sie mit dem aufständischen, sozialdemokratischen Schutzbund sympathisiert und sah in der Regierung Dollfuß eine „Mordregierung“, eine „österreichische Schreckensherrschaft“, eine „öster. Terror=Regierung“.10 1934 hatte sie zwar gewisse Sympathien gegenüber dem Nationalsozialismus gezeigt und auch einige antisemitische Äußerungen fehlten nicht in ihrem Tagebuch.11 Sie und viele andere, die der Sozialdemokratie nahestanden oder Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen waren, sahen den Hauptfeind allerdings in der Dollfuß-Regierung, die das Parlament ausgeschaltet, demokratische Institutionen abgeschafft, Anhaltelager eingerichtet und im Bürgerkrieg den Aufstand mit Massenverhaftungen, Hinrichtungen, mit purer Gewalt niedergeschlagen hatte. 1938 war sie eine überzeugte Gegnerin des Nationalsozialismus.   9 Walter Goldinger: Geschichte der Republik Österreich, Wien 1962, S. 244. 10 Veronika Helfert: Geschlecht.Schreiben.Politik. Frauentagebücher im Februar 1934, Diplomarb. Univ. Wien 2010, S. 135. 11 Ebda., S. 127 f.

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Zur „Volksbefragung“ vom 13. März sollte es nicht kommen und vor der eilig beschlossenen „Volksabstimmung“ der eben einmarschierten Nationalsozialisten wollte sie geistlichen Rat einholen. „Bei der neuen ‚Wahl‘ muß ich erst einen Geistlichen fragen. Diese Verantwortung trage ich nicht selbst – ob besser ist, gar nicht wählen oder gegen den Antichrist.“12 (17.3.1938) Warum musste sie erst „einen Geistlichen“ fragen? Alma hatte den Anspruch, alle Probleme, die ihr wichtig waren, im Beichtstuhl zu besprechen. Hierbei kam ihr ein Katholizismus entgegen, der sich als politisch und staatstragend verstand. Das traf auf den ‚Ständestaat‘ in weitestgehendem Ausmaße zu. Politische Einflussnahme wurde daher auch über den Beichtstuhl ausgeübt. Das erfuhr auch Alma, als sie ihre Einschätzung der Regierung Dollfuß dort deponierte, just vor ihrem im Rückblick so hochgeschätzten geistlichen Führer, Kaufmann. Er verweigerte ihr, empört über ihre politische Sicht, die Absolution.13 Diesmal, im März 1938, wollte sie hingegen eine Frage stellen. Sie entschied, zu Kardinal Innitzer in die Beichte zu gehen.

Der Kardinal und der Anschluss Wir haben es in diesem Beitrag mit zwei sehr ungleichen Personen zu tun. Kardinal Theodor Innitzer, Erzbischof von Wien, ist in Österreich eine bekannte Persönlichkeit, mit der sich die historische Forschung schon lange beschäftigt hat; nicht zuletzt wegen seiner Einstellung zum ‚Anschluss‘. Alma hatte Romane und erbauliche Texte geschrieben, kannte viele Wiener Geistliche, auf jeden Fall aus der Perspektive der Beichtenden, sie war mit der katholischen Medienwelt bestens vertraut, hatte ihre sozialen Netze, aber sie führte ein verstecktes Leben. Erst als ihr Tagebuch 1997 der „Sammlung Frauennachlässe“ übergeben wurde, konnte die Geschichtswissenschaft einen ungewöhnlichen und keineswegs je erstrebten Einblick in eine ‚Geschichte aus dem Beichtstuhl‘ nehmen. Innitzers und Almas Leben überschnitt sich am 19. März 1938, zu einem Zeitpunkt, der für beide persönlich von großem Gewicht war. Für Alma war dieses Treffen folgenreich, für Innitzer vermutlich nicht. Sie trafen sich im Beichtstuhl. 1938 war Bernhardine Alma 43 Jahre alt, Theodor Innitzer 63 Jahre. 1932 war er zum Erzbischof von Wien ernannt worden, 1933 zum Kardinal.14 Bereits 1929 war er als Minister für Soziale Verwaltung politisch aktiv. Die politische Arena war ihm vertraut. Gerhard Botz, der Jubilar, hat sich in seinem Buch „Nationalsozialismus in Wien“ mit der Einstellung des Kardinals zu Anschluss und der Volksabstimmung vom 10. April 1938 auseinandergesetzt.15 Bereits am 13. März 1938 hatte dieser einen Aufruf erlassen, in dem er die 12 Hervorhebungen im Original. 13 Ebda., S. 141. 14 Maximilian Liebmann: Theodor Innitzer und der Anschluß. Österreichs Kirche 1938, Graz / Wien / Köln 1988, S. 24. 15 Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien 2008, S. 159 ff.

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Katholiken ersuchte, „zu beten, um Gott dem Herrn zu danken für den unblutigen Verlauf der großen politischen Umwälzung und um eine glückliche Zukunft für Österreich zu bitten. Selbstverständlich möge allen Anordnungen der Behörden gerne und willig Folge geleistet werden.“16 Am 18. März verfassten die österreichischen Bischöfe eine „Feierliche Erklärung“, in der sie die Leistungen des Nationalsozialismus für Deutschland hervorhoben, darunter auch die Abwehr des Bolschewismus: Die Bischöfe begleiten dieses Wirken für die Zukunft mit ihren besten Segenswünschen und werden auch die Gläubigen in diesem Sinn ermahnen. Am Tage der Volksabstimmung ist es für die Bischöfe selbstverständliche nationale Pflicht, uns als Deutsche zum Deutschen Reich zu bekennen, und wir erwarten auch von allen gläubigen Christen, dass sie wissen, was sie ihrem Volke schuldig sind.17

Am 27. März 1938 wurde die Erklärung von den Kanzeln verkündet. Bernhardine Alma kannte den Aufruf Innitzers vom 12. März offensichtlich nicht. Sie hatte die Reichspost vom 13. März nicht gelesen.18 Am 19. März ging sie in den Stephansdom, um beim Kardinal zu beichten und ihn um Rat zu fragen, wie sie sich bei der Volksabstimmung verhalten sollte. Von welchen Motiven ihre Option für den Kardinal getragen war, schreibt sie nicht. Politische Übereinstimmung kann es nicht gewesen sein, denn Innitzers Verbindung mit dem diktatorischen Regime des ‚Ständestaates‘ hatte sie in ihrem Tagebuch heftig attackiert.19 Vielleicht erhoffte sie, dass der Erzbischof von Wien nun keine Wende vollziehen würde, denn das erschien ihr gegenwärtig als beste Lösung. Wir wissen nicht, ob sie die Einzige war, die den Beichtstuhl aufsuchte, um über eine politische Entscheidung Rat zu holen. Es ist anzunehmen, aber bislang kennen wir nur Almas Tagebucheintrag. Der Kardinal hatte sich dazu offensichtlich nicht geäußert. Am 20. März schreibt Alma in ihr Tagebuch: Heute heiligste Communion! – – Heilige Maria, bitte, hilf und führe uns. – Gottes Wille geschehe! ––– Gestern beim sehr aufgeregten (er war erwartet worden) Innitzer gebeichtet. Es seien alles „nur Kleinigkeiten“ u. stimmen solle man mit „ja“. – Ich glaube ihm kein Wort u. möchte am liebsten von all dem nichts mehr wissen. Es wird Frühling und Christus ist bei mir. – Einige Menschen sind lieb u. gut – ich sehe, daß es grünt – die Sonne scheint. – Warum ins Dunkel schauen, wenn es dich auch Helles gibt? – Wenn man hl. Com. empfangen, 16 17 18 19

Ebda., S. 159. Ebda., S. 165. Liebmann, Innitzer, S. 67. Helfert, Geschlecht, S. 137 f.

Er hat „Ja“ gesagt

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die Muttergottes verehren kann, den Frühling sieht und einige wenige liebe Menschen hat? ––– Gestern Papier etz. vorgekauft u. Bilderl v. der kl. hl. Theresia. – Gott befreie Österreich von dem „Befreier“ – D.W.g.20

Die Beichte Almas bei Innitzer nimmt in dem Tagebucheintrag nur einen bescheidenen Platz ein, wenn auch der übrige Text sich auf dieses für sie zentrale Ereignis bezieht. Sie versucht mit dem Aufruf positiver Erlebnisse wie Natur, soziale Beziehungen, Religion, die negative Stimmung, in die sie der Kardinal gebracht hat, zu vergessen. Dieser vertrat im Beichtstuhl dieselbe Auffassung, wie er sie gemeinsam mit den Bischöfen in ihrer „Feierlichen Erklärung“ formuliert hatte. Was sich gegen den Nationalsozialismus einwenden ließe, seien, so ist Innitzer nach Alma zu verstehen, „nur Kleinigkeiten. Man solle mit Ja stimmen“. Zu einem Gespräch zwischen den beiden scheint es nicht gekommen zu sein. Die Beichte gilt in der katholischen Kirche als eines von sieben Sakramenten und der Beichtstuhl ist für den Priester ein Ort rein pastoraler Tätigkeit, und auch als solcher konzipiert. Der Ablauf der Beichte unterliegt klaren Regeln und endet mit der Absolution, der Sündenvergebung durch den Priester. Außer den zwei daran beteiligten Personen kann niemand die Worte hören, die zwischen ihnen gewechselt werden. Ein Einfluss nationalsozialistischer Funktionäre und eine Ausübung politischen Drucks auf Innitzer (und die österreichischen Bischöfe), wie sie von der Forschung vor allem für die „Feierliche Erklärung“ herausgearbeitet wurde, war im Beichtstuhl nicht gegeben.21 Der Kardinal hat dennoch sein „Ja“ gesagt und es obendrein mit einer Verpflichtung versehen. Er stellte sich hiermit in staatskirchliche Traditionen, die jedoch im März 1938 nicht mehr vorhanden waren. Er entschied sich für Machthaber, über deren politisches Wollen er bestens informiert sein hätte müssen.

Berhardine Alma und die Volksabstimmung Alma beschloss, „nie mehr“ zu Innitzer beichten zu gehen, denn er spiele ein „Doppelspiel“ (21.3.). Er sei mehr „Mietling“ als Hirte (24.3.). Die österreichischen Bischöfe seien „schwach“ (28.3.). Am 4. April erhielt sie einen „Wahlausweis“, der sie auch darüber informierte, dass sie ihr Stimmrecht nicht ausüben darf, wenn sie Jüdin „oder aber als Mischling (mindestens zwei jüdische Grosseltern) mit einer jüdischen Person verheiratet ist“. Das war eine verkürzte Version der Durchführungsbestimmung, die am 20. März vom Wiener Bürgermeister erlassen worden war. Hier war auch zu lesen, dass ein „jüdischer Mischling“ dann als Jude gelte, „wenn er am 16. September 1935 der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat oder danach in sie 20 Hervorhebungen im Original. 21 Vgl. vor allem Liebmann, Innitzer, S. 117 ff.; in geringerem Ausmaß Botz, Nationalsozialismus, S. 163 f.

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aufgenommen wurde“ und „am 16. September 1935 mit einem Juden verheiratet war oder sich danach mit einem solchen verheiratet hat“22. (Die Daten beziehen sich auf den Tag nach der Annahme der Nürnberger Gesetze.) Die neuen Machthaber agierten in Eile: Auf indirektem Weg fanden die Bestimmungen der Nürnberger Gesetze, die erst am 20. Mai 1938 in Österreich eingeführt wurden, bereits im April 1938 Geltung. Ob Alma jedoch die Durchführungsverordnung gelesen hat, ist unklar.23 Für die jüdische Bevölkerung Österreichs mussten die Volksabstimmung und ihre Ausschlussregelungen einen Schock bedeutet haben. Eine Woche nach dem ‚Anschluss‘ unterlagen sie bereits den „Nürnberger Rassengesetzen“, ehe diese in der ‚Ostmark‘ Rechtsgeltung besaßen, mussten selbst ihren Ausschluss von der Wahl deklarieren und die Wahlkarte zurücksenden. Alma konnte, obwohl „jüdischer Mischling“, zur Wahl antreten, da sie katholisch und nicht mit einem Juden verheiratet war. Für 210.000 Österreicher und Österreicherinnen traf dies nicht zu. Sie durften an der Abstimmung nicht teilnehmen.24 Gerhard Botz hat das gigantische Propagandaunternehmen dargestellt, das der Volksabstimmung voranging. Josef Bürckel, Hermann Göring, Joseph Goebbels, Rudolf Heß, Adolf Hitler (u.a.) traten in groß inszenierten Reden auf, wodurch symbolisch die politische Bedeutung der Volksabstimmung erhöht und der Druck, eine „Ja“-Stimme abzugeben, verstärkt werden sollte. Alma notierte am 9. April in ihr Tagebuch „Das elende Wetter (seit gestern so schlecht!) freut mich wegen des Hitler-Getöse (= Verbrecher-Höllenwirbel)“. Über den Tag der Abstimmung, den 10. April 1938, an dem auch sie und ihr Bruder Marius (Marerl) wählten, notierte sie in ihr Tagebuch. Palmsonntag 38 Heute heiligste Communion! Und alle Zeugen sollen zur Verherrlichung Gottes des Vaters bekennen: „Jesus Christus ist der Herr“ (Epistel von heute) Jesus Christus ist der Herr! – und der Innitzer der Wolf im Schafspelz! – – – Gott sei Dank ist sehr schlechtes Wetter. Eben war Las-Las da, sich Kohlen ausborgen. – Gestern in der Univ.=Kirche. Der P. Koppenstätter hat mir so lieb zugeredet: „Hast du Gottvertrauen in dieser harten Zeit?“ Und es sei gut, daß den Scheinkatholischen nun der 22 Botz, Nationalsozialismus, S. 201 f. 23 In späteren Monaten sollte sie sich auch, als es für sie notwendig wurde, über den „Ariernachweis“ informieren müssen: Am 12. Mai bekam sie einen Brief von der Wochenschrift „Wiener Bilder“: „Ich darf einsenden, wenn ich Arierin bin.“ Als sie am 18. Juli 1938 von der Reichsschrifttumskammer ein Schreiben erhielt, dass sie bis 30. September einen „arischen Nachweis“ vorlegen müsse, schrieb sie „Nun muß ich erst im Völk. Beobachter nachlesen, wie das ist. Auch kann man um Verlängerung der Frist ansuchen.“ (18.7.1938). Erst Ende Oktober entschloss sie sich, an das Hagenbrunner Pfarramt zu schreiben, „um der Großmutterl ihrem Trauschein…. (Oh dieses gräßliche Großdeutschland!)“ (31.10.38). Am 4. November erhielt sie eine „…völlig arische (hihi) Karte wegen der Großmutter“. Am 19. November erhielt sie neuerlich eine „arische“ Antwort – über ihren mütterlichen Großvater. Bis Ende 1938 hatte sie keine Briefe wegen ihrer väterlichen Großeltern ausgesendet. 24 Botz, Nationalsozialismus, S. 201 f. und S. 206.

Er hat „Ja“ gesagt

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Weg aus der Kirche geebnet werde, mit uns, die wir treu sind, meint Gott es „sehr, sehr gut“ und wir sind ja „Ewigkeitskinder“–Buße 1 Vater Unser mit 5x-Göttl. Herz Jesu, ich vertraue auf Dich“. – Heute heiligste Communion. Mir war der Heiland sagte: „Habe Vertrauen – Ich komme bald!“ – Er erlaubte mir, es weiter zu sagen an Marius. – Ach Heiland, erbarme, erbarme Dich unser! – Nachher dann abstimmen. Marerl und ich stimmten selbstverständlich mit „nein“. Dann später zur Palmenweihe. Ich ging diesmal sogar mit dem Zug. Unser Pfarrer schaut elend aus (ich möchte dem Innitzer so gerne was antun!) Da man doch vor lauter „Tag der Freude“ so wenig Palmkatzeln bekommen hatte, schenkte ich an 2 Frauen. Die eine war besonders nett, eine alte. – Gott helfe uns! Viel zu tun. – Dann war der Prosh da, heute wieder ganz besonders verliebt, aber ich hielt ihn in Grenzen. „Kleine Katze“ nennt er mich geistreich, bewundert viel an mir – u.s.w. Er ist natürlich Anti-Nazi, seine widerliche Frau nicht. – Lieber Heiland, hilf uns!– Göttliches Herz Jesu, ich vertraue auf Dich! – D.W.g.

Erneut stellt Alma die für sie wichtige Stimmabgabe, die sie in dem letzten Monat beschäftigt hat, nicht ins Zentrum ihres Eintrags. Sie handelt sie in zwei Sätzen ab. „Nachher dann abstimmen. Marerl und ich stimmten selbstverständlich mit ‚nein‘.“ Ihre „Nein“-Stimmen galten folgender Frage, die am Stimmzettel formuliert war: „Bist Du mit der am 13. März vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?“ Bernhardine und ihr Bruder wählten den kleineren Kreis, über den ein Nein gedruckt war. Alma schreibt keine Details über die Stimmabgabe, über ein mögliches Zögern, die Wahlzelle zu betreten, während andere ihre „Ja“-Stimme offen abgaben.25 Sie und ihr Bruder hatten mit dem Prozedere offensichtlich keine Schwierigkeiten und schnell gewählt, ohne von Personen und Räumen Kenntnis zu nehmen. Daher berichtet sie auch nicht mehr darüber, sondern gibt in ihrem Eintrag alles Wort-Gewicht dem Palmsonntag, der Beichte, der Kommunion, der Palmenweihe, wenn auch mit Seitenhieben auf Innitzer. Und hiermit zieht sich das Thema „Volksabstimmung“ doch wie ein roter Faden durch den Eintrag. In ihrem Wahlbezirk, dem dritten Bezirk, gaben 92.661 Personen eine „Ja“-Stimme, 464 eine „Nein“- Stimme ab.26 Ungeachtet des Machtgefälles, das zwischen einem Kardinal und einer verarmten Schriftstellerin, einem den ‚Anschluss‘ begrüßenden, politisch aktiven Erzbischof von Wien und einem „jüdischen Mischling“, zwischen dem die Absolution Erteilenden und der sie Empfangenden herrschte, trägt Alma nicht das Signum einer Ohnmächtigen. Sie ist ihren Weg gegangen. 25 Ebda., S. 235 und S. 238. 26 Ebda., S. 233.

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Hans Edith Mommsen Saurer

Almas Entschluss, nicht mit „Ja“ zu stimmen, stand von Anfang an fest. Als Alternative hatte sie daran gedacht, nicht zu wählen. Nach der Beichte bei Innitzer beschloss sie das „Nein“. Ungeachtet ihres großen Verbundenheitsgefühls mit der katholischen Kirche, die vermutlich auch eine Akzeptanz ihrer hierarchischen Strukturen mit einschloss, hatte der Kardinal für sie jede Glaubwürdigkeit verloren. Er befürwortete den ‚Anschluss‘ an das Deutsche Reich und galt Alma somit als Komplize des Nationalsozialismus. Alma trat für die Eigenstaatlichkeit Österreichs ein und sah im Nationalsozialismus eine Bewegung der Gewalttätigkeit, vor allem gegen Juden. Es war auch ihre Erinnerung an den Vater – „Warum muß man Juden hassen? Warum sind sie (z.B. der Paperl) minderwertig?“ (14. 4. 1938) –, die sich in ihrer Ablehnung des Nationalsozialismus artikulierte. Der Antisemitismus war für sie aber ein umfassenderes Problem. In den nächsten Monaten beginnt sie zu erkennen, wie sehr sie selbst davon betroffen ist: „Die Judenverfolgungen nehmen entsetzlich zu. Armselige Menschen werden gequält, daß es unerhört ist … Meine eigene Lage ist bedrängter als ich es selber erfasse.“ (24. 4. 1938).

Ernst Hanisch

Was ein Landpfarrer über die Jahre 1938 bis 1945 in seine Chronik schrieb: Versuch einer ‚dichten Beschreibung‘ Das ist eine sehr persönliche Geschichte. Der Ort, über den berichtet wird, ist mein Geburtsort: der Markt Thaya im Waldviertel, nahe der tschechoslowakischen Grenze. Bei unserem Nachbarn, dem Chronisten Pfarrer Franz Bauer, habe ich täglich sechs Jahre lang ministriert. Als er 1958 nach seiner Pensionierung in die Wachau übersiedelte, habe ich ihm geholfen. Er schenkte mir das neunbändige „Herders Konversations-Lexikon“ von 1910. Darin hatte der eifrige Leser der christlichsozialen „Reichspost“ einzelne Zeitungsartikel zum betreffenden Stichwort eingelegt. Für mich, den späteren Historiker, ein nützliches Quellenwerk für das katholische Denken vor dem Ersten Weltkrieg. Die nationalsozialistischen Exponenten, die in der Chronik genannt werden, waren mein Vater, Propagandaleiter der NSDAP-Ortsgruppe Thaya, sein Cousin, der Jurist Dr. Rudolf Stoifl, zeitweise Ortsgruppenleiter in der fünf Kilometer entfernten ‚Kreisstadt‘ Waidhofen an der Thaya und ein anderer Cousin, der Handelsschulprofessor Wilhelm Hanisch, von 1937 bis 1945 dort Kreisleiter. Warum dieser Aufsatz in einer Festschrift für Gerhard Botz erscheint, hängt damit zusammen, dass der Geehrte in exemplarischer Weise für meine Generation die Auseinandersetzung mit seinem Nazivater vorgezeigt hat.1 Warum diese Analyse der eigenen Herkunft erst so spät, praktisch im Großvateralter erfolgte, ist ein anderes Problem. Ich werde darauf zurückkommen.

1. Der Ort. Die Akteure. Das methodische Werkzeug 1175 erstmalig genannt, war Thaya ein typischer Ort der Landwirtschaft und des kleinen Gewerbes. Im Jahre 1900 lebten dort 900, 1934 nur mehr 679 Einwohner.2 Thaya teilte das Schicksal des Waldviertels, permanente Bevölkerungsabwanderung zumeist nach Wien. Fast alle Familien hatten in Wien Verwandte. Die Pfarre mit acht eingepfarrten Ortschaften war etwas größer. Der Markt hatte eine gewisse Mittelpunktfunktion für die umliegenden Ortschaften: Kirche, Friedhof, Volksschule, Kaufläden, Wirtshäuser, Fleischhauer, Schneider, 1 Gerhard Botz: Nazi, Opportunist, „Bandenbekämpfer“, Kriegsopfer. Dokumentarische Evidenz und Erinnerungssplitter zu meinem Vater, in: ders. (Hg.), Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005, S. 135–159; wichtig auch: Martin Pollack: Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater, Wien 2004. 2 1175–1975. 800 Jahre Thaya, hg. von der Marktgemeinde Thaya, Waidhofen 1975, S. 134.

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Schuster, Schmied, eine kleine Frottierweberei, wo meine Mutter als junges Mädchen tätig war. Doch auch die Gewerbetreibenden hielten daneben eine kleine Landwirtschaft. Die beste Beschreibung der Bauernarbeit im Zweiten Weltkrieg stammt paradoxerweise von einem bretonischen Kriegsgefangenen, der Jahrzehnte später darüber erzählte.3 Das französische Kommando in Thaya bestand zunächst aus zehn, dann aus über 20 Kriegsgefangenen, zumeist Bauern aus der Bretagne. Sie schliefen in einem größeren Haus, arbeiteten aber verteilt auf einzelnen Bauernhöfen, der Erzähler, Pierre-Marie Le Lous, jahrelang auf einem Hof, wo dann auch ich 1954 einen Monat lang die harte Bauernarbeit kennenlernte, allerdings freiwillig und gegen Bezahlung. Die Franzosen gehörten in der nationalsozialistischen Ideologie nicht zu den ‚Untermenschen‘  – wie Ukrainer und Polen –, die auch in Thaya eingesetzt waren. Sie wurden kulturell akzeptiert und waren Experten der Landwirtschaft. Ein Dienstherr, der als Bauer nichts taugte, wurde von ihnen tief verachtet. Der bäuerliche Instinkt wirkte im Alltag stärker als der französische Patriotismus. Wenn Regen drohte, musste das Heu eingebracht werden, egal wie hart die Arbeit war. Gemeinsame Arbeit, gemeinsames Essen, gemeinsame Feste. Die französischen Kriegsgefangenen erhielten Pakete von zu Hause. Sie konnten mit den Tieren umgehen. Was ihnen allerdings im Waldviertel besonders auffiel, war, dass die Kühe nie den Stall verließen und daher wenig Milch gaben. Le Lous fasste seine ‚privilegierte‘ Stellung in zwei Sätzen zusammen: „Es stimmt schon, die Leute aus Thaya – mit ganz wenigen Ausnahmen – zeigten uns gegenüber nie Verachtung. Wir waren Gefangene, aber vor allem waren wir Menschen, und wir legten großen Wert darauf, das zu zeigen.“4 Die wirtschaftlich beste Zeit hatte der Markt Thaya in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt. Der Schweinehandel hatte einigen Familien – den Stoifl, Loidl, Hauer, Hanisch – einen gewissen Reichtum verschafft. Sie kauften Jungschweine in Serbien und trieben sie nach Österreich. Sie zeigten ihren Reichtum durch prachtvolle gründerzeitliche Wohnhäuser und prunkvolle Grabstätten. Sie heirateten untereinander. Doch mit den österreichischen Seuchengesetzen der 1890er-Jahre, von der antiserbischen Politik veranlasst, war diese Herrlichkeit der ‚Handelsmänner‘, wie sie sich stolz nannten, rasch vorbei. Die nachfolgenden Generationen rückten in das akademische Bildungsbürgertum auf oder blieben, wie mein Vater, einfache Kaufmänner. Das kulturelle Leben des Ortes wurde vom liturgischen Jahreskreis der katholischen Kirche bestimmt. Der behäbige barocke Zwiebelturm war weithin sichtbar, Kirchturmuhr und Glockenklang strukturierten auch den bäuerlichen Arbeitstag. Das Pfarrhaus, „ein altes düsteres Winkelwerk“ – so der Nachfolger von Pfarrer Bauer –, war für mich, den Ministranten, ein Haus der Geheimnisse und der Spiritualität.5 Der große Garten, die Stallungen, Schuppen und Scheunen wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr für die Pfarrwirtschaft be  3 Pierre-Marie Le Lous: Kriegsgefangen in Österreich. Ein Bretone in Thaya, Weitra 2005.   4 Ebda., S. 102.   5 Pfarrer Florian Schweitzer in: 800 Jahre Thaya, S. 36.

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nützt. Die Felder waren verpachtet. Einige katholische Vereine sorgten für fromme Erziehung, geselligen Verkehr und die Einbindung in die christlichsoziale Partei. Thaya war ein politisch schwarzer Ort. Der größte Bauer übte von 1930 bis 1938 und dann auch wieder von 1945 bis 1950 das Amt des Bürgermeisters aus. Allerdings: Das Waldviertel war seit dem 19. Jahrhundert auch ein Georg von SchönererLand. In der Ersten Republik zeigte das Viertel ober dem Manhartsberg ein signifikant abweichendes Wahlverhalten zum übrigen Niederösterreich. Der Nichtwähleranteil war hier besonders hoch und die NSDAP erreichte 1930 und 1932 ihr bestes Ergebnis in Niederösterreich.6 In Thaya gab es zwei Vereine, die, wie überall sonst auch, Stützpunkte für deutschnationales Denken und Fühlen bildeten: Obwohl in dem Markt nie ein Jude gelebt hatte, wurde 1920 ein ‚Deutscharischer Singverein Liederfreunde‘ gegründet. Vereinsobmann war der Kaufmann Leopold Hainz, nach 1938 NS-Bürgermeister.7 1930 folgte eine ‚Turnerriege des Deutschen Turnvereins‘, die 1934 wegen nationalsozialistischer Tätigkeit aufgelöst wurde. Funktionäre waren der Kaufmann Ernst Hanisch (mein Vater) und der Schustermeister Hans Plach.8 Als unterstützendes Mitglied trat meine Mutter, Leopoldine Koller, am 1. März 1932 in den Verein ein, wie eine Mitgliedskarte belegt. Dort steht auch, dass sie ihren ‚Völkischen Nachweis‘ erbracht hatte. Die Monate des bezahlten Mitgliedbeitrags werden mit erfundenen altgermanischen Namen angeführt – von Eismond bis Julmond.9 Mein Vater war ein begeisterter Sänger und Turner. Laut Übungsbuch für das SA-Wehrabzeichen bestand er im Herbst 1940 die Prüfung mit 830 Punkten.10 Am Rande wurde auch ich in die Turnerideologie einbezogen. Unter ein Foto, auf dem ich 1940 als fünf Monate altes Baby auf dem Bauch in einem Liegestuhl liege, schrieb mein Vater: „Ich hoffe, dass Ernstl ein Turner wird.“ Diese Hoffnung habe ich allerdings nicht erfüllt.

Der Chronist Pfarrer Franz Bauer Ein gebürtiger Wiener, Jahrgang 1882, absolvierte er das Gymnasium in Hall in Tirol und studierte Theologie in Mautern und St. Pölten. 1910 zum Priester geweiht, verbrachte er sein Priesterleben im Waldviertel. Von 1935 bis 1958 war er Pfarrer in Thaya. Pfarrer Bauer zählte zum Typus des ‚josephinischen Priesters‘, der dem Staat gab, was des Staates war, aber primär war er ein Mann der Kirche, politisch christlichsozial, dann ein Exponent des christlichen ‚Ständestaates‘. Den Nationalsozialismus lehnte er emotional zutiefst ab, aber mit dem NS-Staat arrangierte er sich in gewisser Weise. Er war kein Mann des Wider  6 Dirk Hänisch: Wahlen und Wahlverhalten in der Ersten Republik, in: Stefan Eminger, Ernst Langthaler (Hg.), Niederösterreich im 20.  Jahrhundert. Bd. 1: Politik, Wien 2008, S. 207–307, hier 284.   7 800 Jahre Thaya, S. 147.   8 Ebda., S. 149.   9 Privatarchiv Hanisch. 10 Ebda.

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standes, doch seine geheime Chronik war gespickt mit kritischen, boshaften Bemerkungen zum Nationalsozialismus. Mehrfach bei der Gestapo vorgeladen, konnte er sich stets schlau herausreden. Pfarrer Bauer war ein eifriger Priester, der mit seinem alten Motorrad von Ortschaft zu Ortschaft seiner Pfarre ratterte. Den Haushalt führte die dicke gemütliche Josefa Pokorny, genannt das „Fräuln Pepi“, die er nach alter Gutsherrenart herumkommandierte. Sein Pfarrbüro war ein wahres Chaos, je mehr Tische er aufstellte, desto mehr waren sie mit Papieren, Zeitungen, Dokumenten und Büchern überhäuft. Wieselflink eilte er von Aufgabe zu Aufgabe; auch die lateinische Messe leierte er, wie ich mich erinnere, im Rekordtempo herunter. Seine prinzipielle Haltung machte er mit einem Motto deutlich, das er zu Beginn des Jahres 1939 in seine Chronik schrieb: „Mit Gott wollen wir den Kampf gegen die Kirchenstürmer durchkämpfen.“11 Warum schrieb er diese kritische Chronik, die, wäre sie entdeckt worden, den Verfasser sicherlich in ein KZ gebracht hätte? Pfarrer Bauer litt möglicherweise an einem emotionalen Überdruck, wenn er interessiert das Weltgeschehen, die große Politik und die kleine Politik im Ort, betrachtete. Was er nicht öffentlich sagen konnte – seine Predigten waren religiös, nicht politisch –, trug er in die Chronik ein. Als ein benachbarter „Herr Pfarrer“ 1938 seine Pfarrchronik über die Dreißigerjahre verbrannte, weil dort scharfe Bemerkungen gegen die Nationalsozialisten standen, kommentierte Bauer dies so: „Nun, man kann ja auch die Chronik verstecken und bei eventuellen Hausdurchsuchungen so machen, als hätte man sie auch verbrannt.“12 Er hatte keine moralischen Bedenken, die „Obrigkeit“ anzulügen, die er als „Lügenregime“ einschätzte. Tatsächlich wurden in einigen Pfarren die Chroniken von der Gestapo kontrolliert. Die Chronik überlebte die NS-Herrschaft und wurde 1995 von Pfarrer Florian Schweitzer, einem historisch sehr interessierten Priester, teilweise kommentiert veröffentlicht. Schweitzer war in der NS-Zeit Kooperator in einer Nachbarpfarre, erhielt dort, wegen einer kritischen Predigt, ein Verbot den Religionsunterricht abzuhalten. In der Einleitung qualifizierte er den Nationalsozialismus als „Religion der Herrenmenschen und des Hasses“.13 Doch auch die wissenschaftliche Zeitgeschichte kommt schlecht weg: Sie verstehe die damalige Situation der Menschen meist sehr wenig.14 Das ist die übliche Spannung zwischen Zeitgenossen und Spätergeborenen. Schweitzer berichtet dann, wie er als Theologiestudent in St. Pölten den Siegesrausch der Nazis am Abend des 11. März 1938 erlebte. Eine SA-Gruppe zog am Priesterseminar mit dem Lied vorbei: „Hängt die Juden an den Galgen, stellt die Pfaffen an die Wand!“15 Später habe er zwar von den Judentransporten gehört, „aber wir glaubten wenigs11 Florian Schweitzer (Hg.): 50 Jahre danach. Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit auf dem Lande, erlebt in der Landpfarre Thaya / Thaya im niederösterreichischen Waldviertel, Waidhofen 1995, S. 24. 12 Ebda., S. 25. 13 Ebda., S. 7. 14 Ebda., S. 5. 15 Ebda., S. 6.

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tens zum Teil die Behauptung, sie würden in die Ostgebiete gebracht und zum Wiederaufbau eingesetzt. Es konnte sich keiner vorstellen, dass man ein ganzes Volk wie Ratten vertilgen wollte.“16 In der zeitgenössischen Chronik von Franz Bauer, so kritisch sie gegenüber den Nationalsozialisten war, kommt das Wort Jude direkt nie vor. Welche Erklärung gibt es dafür? Für den katholischen Priester waren die Juden die ‚Gottesmörder‘; als Christlichsozialer hatte er den politischen Antisemitismus internalisiert; in Thaya selbst gab es keine Juden, im Waldviertel nur wenige: Es fehlte so die augenscheinliche Erfahrung der Judenverfolgung; obendrein fürchtete die Kirche die oben angeführte NS-Gleichsetzung von Juden und Priestern. Eine Pfarrchronik ist naturgemäß auf das innerkirchliche Geschehen konzentriert: Reparaturen an den Gebäuden, Zahl der Kirchenbesucher und der ausgeteilten Hostien, organisatorische Schwierigkeiten mit dem Religionsunterricht, Anweisungen der kirchlichen Obrigkeit, wirtschaftliche Schwierigkeiten im Kriegsalltag, vor allem aber auch genaue Wetterberichte. Diese traditionellen Eigenschaften werden jedoch im Fall der von Pfarrer Bauer geführten Pfarrchronik durch genaue Beobachtungen der Politik, durch Kritik an der NSDAP (und an den Westmächten), durch Aufzeichnungen von Anti-Nazi-Witzen unterbrochen. Die Chronik räsoniert über den zeitgenössischen Gott und die damalige Welt.

Mein Vater, der Nazi-Nachbar Mein Vater kommt in dieser Chronik mehrmals vor. Zuerst am 14. Juni 1940, als die deutsche Wehrmacht Paris eroberte: „Im Radio wird dies um 1 Uhr mittags verkündet: da schreit der Lehrer Süßmayr vom 1. Stock hinunter zum Kaufmann Hanisch: ‚Herr Hanisch, Paris ist erobert!‘ Sofort laufen beide zum alten Mesner und die drei […] läuten eine Viertelstunde alle Glocken, natürlich ohne den Pfarrer zu fragen.“17 Der Lehrer Anton Süßmayr wohnte mit seiner Familie in unserem Haus. Er, ein ehemaliger christlich organisierter Lehrer, wurde deshalb nach Thaya strafversetzt; er passte sich rasch an und trat in die NSDAP ein. 1940 musste er einrücken. Er starb am 19. August 1944 in der Normandie, einer von 61 Männern aus Thaya, die im Krieg getötet wurden.18 Pfarrer Bauer fügte der Notiz am 14. Juni die Nachbemerkung hinzu: Hanisch und Süßmayr haben vom Ortsgruppenleiter, dem Seilermeister Berghofer, einen Verweis erhalten, weil sie übereifrig bereits zu Mittag die Glocken läuteten, während es offiziell erst um 18 Uhr „großdeutsch“ geschehen sollte.19 16 17 18 19

Ebda., S. 10. Ebda., S. 39. Ebda., Liste der Kriegstoten. Ebda., S. 39.

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Am 6. November 1942 stellte Propagandaleiter Hanisch ein Riesenplakat auf, das einen Kerngedanken der NS-Ideologie formulierte: Nur nicht zimperlich gegen den Feind sein, nur nicht allzu gerecht sein wollen: Gut ist, was unserem Volk nützt, und Recht ist, was dem Siege dient!20

Zunächst wurde jede Woche ein solches Plakat in jeder Gemeinde aufgestellt. Wie der Pfarrer zufrieden feststellte, verschwanden diese „Plakate der Volksverdummung“, als die Materialnot („Leute-, Papier-, Maschinen-, Kohle-, Transport-Not“) immer größer wurde.21 Als dann im Februar 1942 die alten Glocken beschlagnahmt wurden – „die armen Soldaten müssen in der großen Kälte Entsetzliches mitmachen, und nun will man die unsägliche Pein des Krieges noch mit allen Kräften durch Glockenabnahme, Metall-Lieferungen, Wollund Stoff-Sammeln verlängern […] Und mit dem wollen die Herrn Führer noch den Krieg gewinnen!“22 – besorgte Pfarrer Bauer eiserne Glocken als Ersatz. „Der Herr Nachbar und Propagandaleiter (Ernst Hanisch)“ schimpfte voller Wut: „Ich bekomme nicht einmal einen Nagel für mein Geschäft zum Verkaufen, und der Pfarrer bezieht das Eisen waggonweise. Da muss ein Schwindel dahinterstecken und eine unerlaubte Schieberei!“23 Hanisch fuhr zur Kreisleitung und zum Landrat nach Waidhofen, um den Schwindel anzuzeigen. Vergeblich. Wie der Pfarrer seiner Chronik anvertraute, war tatsächlich ein „Schwindel“ dabei. Der von den Bauern illegal gut mit Lebensmitteln versorgte Pfarrherr, gab – ebenfalls illegal – für die eisernen Glocken neben Geld: 200 Stück Eier, 20 Kilo Schmalz, 25 Kilo Mehl, zehn Kilo Butter und zwei Kilo Mohn. Als Rechtfertigung führte er an: Für den Schwindel wäre die NSDAP die beste Lehrmeisterin. „Denn durch Schwindel und Schieberei ist sie ja auch zur Macht gekommen, und durch die gleichen Mittel muss sie von ihren Gegnern unterirdisch wieder ausgehöhlt und aus den Angeln gehoben werden.“24 Am Fronleichnamstag 1943 (24. Juni), der als Feiertag aufgehoben war, inszenierten die Nazis um 22 Uhr eine Sonnwendfeier mit Musik. Dabei sagte eine ausgebombte Flüchtlingsfrau aus Essen: „Bei uns in Essen gibt es genug solche Brände, Tag und Nacht.“ Als sie der Propagandaleiter Ernst Hanisch mit den Worten trösten wollte, sie werde alle Sachen zurückbekommen, die Engländer müssen alles zahlen, entgegnete die Frau mit Recht: „Sie reden ja wie ein Schuljunge!“25 20 Ebda., S. 63. 21 Ebda. 22 Ebda., S. 57. 23 Ebda., S. 78. 24 Ebda. 25 Ebda., S. 72.

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Abb. 1: Der Hitlergruß Foto: Privatarchiv Hanisch

Die letzte Eintragung über meinen Vater erfolgte am Karsamstag, dem 8. April 1944. Am Rande kommen auch ich und meine jüngere Schwester ins Spiel: „Nach der Prozession sagte der Nazi-Nachbar Hanisch auf der Straße laut zu den Kindern, während die Leute vorbeigehen: ,Jetzt ist also das Affentheater aus!‘ Einige Tage später leugnet er, das gesagt zu haben bzw. so gemeint zu haben: er meinte den Streit seiner Kinder untereinander!“26 Ob ich als Vierjähriger mit meiner dreijährigen Schwester tatsächlich gestritten hatte, weiß ich nicht mehr. Aber vor Kurzem habe ich ein Foto entdeckt, das aus dem Jahre 1944 stammen musste. Mein Vater fotografierte die Familie: Meine Mutter mit dem kurz vorher geborenen Sohn Harald auf dem Schoß, daneben meine Schwester und ich in strammer Haltung, die rechte Hand zum Hitlergruß erhoben. Ich glaube, in meinem Gesicht ein spitzbübisches Lächeln zu bemerken. Natürlich war ich mit vier Jahren kein Nazi. Heute läuft mir jedoch ein Schauer über den Rücken, wenn ich an das Jahr 1944 denke, was Deutsche und Österreicher in Europa zur gleichen Zeit angerichtet hatten und was sie gleichaltrigen Kindern antaten. Auch mein Vater wurde nicht als Nationalsozialist geboren. Aber es gibt einige Spuren, die seinen Weg dahin nachzeichnen. 1899 geboren, verlor er im Alter von zwei Jahren den Vater, als Neunzehnjähriger die Mutter. Als Kaufmannslehrling in Amstetten schloss er sich dem 26 Ebda., S. 84.

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Deutschen Handlungs-Gehilfen Verband (DHV) an. Der Verband gilt als einer der wichtigsten Trägerorganisationen der frühen NSDAP in Österreich. Als Fünfzehnjähriger schrieb mein Vater eigenhändig ins Jahrbuch des Verbandes: „Heil dem DHV!“ „Heil“ war der Gruß der zahlreichen deutschnationalen Vereine schon vor dem Ersten Weltkrieg. Als Kaufmannssohn fühlte er sich dem Bürgertum zugehörig, aber wegen der ökonomischen Krise von der Proletarisierung bedroht. Die nächste Spur führt in den Ersten Weltkrieg. Ein Foto zeigt meinen Vater 1917 bei der Assentierung, der Einberufung der noch nicht Achtzehnjährigen zum Militär. Die Hüte quellen über von farbenfrohen Papierblumen, die Jünglinge blicken etwas verlegen in die Kamera. Noch kaum erwachsen, erfahren die Burschen das ganze Grauen des modernen Krieges und erleben kurz darauf die militärische Niederlage und den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie. Mein Vater war vom 10. März 1917 bis 17. November 1918 im Militärdienst, zuletzt als tit. Zugsführer.27 In das in seinem Privatbesitz befindliche Buch „Geschichte des Feldjägerbataillons Kopal Nr. 10“ (Wien 1938) trug er seine deutschnationale Sicht der Zeitgeschichte handschriftlich ein: 1917: 1935: 1938: 1945:

Die Brüder im bedrohten Land (Deutschland und Österreich). Wer macht uns frei? Dollfuß und Fey. Pfui. Endlich unser Retter. Heil Hitler! (Nun in der Schrift meiner Mutter) Jetzt haben wir den Scherm auf!

Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm mein Vater den Kaufmannsladen in Thaya, erweiterte ihn durch einen kleinen Ölhandel und eine Shell-Tankstelle. 1924 kaufte er sein erstes Motorrad, eine Puch 175 um 1.850 Schilling, mit dem Nummernschild BXX53. Als illegaler Nationalsozialist wird er Kurierdienst für die NSDAP fahren. Irgendwann erzählte er mir, wie er auf einer dieser Fahrten nach Linz kam und den Heimwehrführer Fürst Starhemberg in einer Nachtbar sah, umgeben von hübschen Frauen. Der Hass auf ihn war in der Erzählung noch deutlich spürbar. Das Geschäft in Thaya ging schlecht. Zum Teil mag die allgemeine wirtschaftliche Stagnation daran schuld gewesen sein, zum Teil seine kaufmännische Unfähigkeit. Aus Briefen entnehme ich, dass eine Exekution die andere jagte. 1936 musste er den Ausgleich anmelden und 1937 das mit Hypotheken überhäufte Vaterhaus verkaufen – pikanterweise an den zukünftigen zweiten Gatten seiner ersten Frau.28 Denn auch seine erste Ehe scheiterte. Über die Scheidung erfahren wir Kinder nichts Genaueres. Nach dem Tod meines Vaters 1958 hatte meine Mutter alle Dokumente vernichtet. Für mich, den frommen Ministranten mit dem Wunsch, Priester zu werden, war die Scheidung (es gab nur zwei geschiedene Männer in Thaya) ein moralischer Makel, ein weitaus größerer Makel als seine NS-Vergangenheit. Erst jetzt bei der Arbeit an diesen Aufsatz habe ich ent27 Privatarchiv Hanisch, Militärdienstbestätigung vom 14. August 1936. 28 Privatarchiv Hanisch, Mitteilung der Bezirksgerichts Waidhofen vom 10. März 1936.

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deckt, dass meine Mutter mit mir schwanger war, als sie am 27. August 1939 meinen Vater standesamtlich heiratete.29 Nach meiner Geburt (16. Jänner 1940) stellte sich das Problem der Taufe. Mein Vater lehnte sie ab, meine Mutter wollte mich taufen lassen; meine Mutter setzte sich durch und mir blieb somit erspart, nach 1945 ‚nachgetauft‘ zu werden. Knapp erspart blieb mir auch eine andere Gefahr, die Stigmatisierung mit einem typisch nationalsozialistischen Namen. Bei meinem Vater siegte in diesem Punkt das Ahnenbewusstsein über seine nationalsozialistische Überzeugung, er wollte seinen Vornamen Ernst (ein im Übrigen recht altösterreichischer Name) weitergeben. Nur als zweiten Vornamen erhielt ich dann den Namen Horst. Vom ‚Anschluss‘ hatte mein Vater sicherlich profitiert. Das Geschäft florierte wieder, er konnte nach Einführung des deutschen Eherechtes nochmals legal heiraten. Auch musste er keinen Kriegsdienst fürchten, da er bei einem Arbeitsunfall ein Auge verloren hatte und daher nicht einrücken musste. Sein NSDAP-Mitgliedsbuch blieb erhalten. Das offizielle Eintrittsdatum „1. Mai 1938“ und die Nummer 6 148 918 belegen eindeutig, dass er ein illegaler Nationalsozialist war.30 Er hatte auch nach dem Krieg aus seiner NS-Vergangenheit nie einen Hehl gemacht. In den Fünfzigerjahren antwortete er auf die Frage, wie viele Kinder er habe, mit dem humorvoll gemeinten Satz: drei Nazis und einen Figl. Zu den Nazis gehörte ich, mit „Figl“ war meine 1949 geborene Schwester gemeint. Der emotionale Schock kam für mich erst 1993, als ich nach dem Tod meiner frommen Mutter, die jeden Tag in die Messe ging, herausfand, dass auch sie NSDAP-Mitglied war: ihr Mitgliedsbuch trug ebenfalls die ‚illegale‘ Nummer 6 148 922 und das offizielle Aufnahmedatum „1. Mai 1938“. Was mich bis heute erschüttert, ist nicht so sehr die Tatsache der Parteimitgliedschaft meiner unpolitischen Mutter, nicht einmal der ‚illegale‘ Status, dafür kann ich als Historiker Erklärungen finden  – 1938 wie später 1945 wurde hierbei hemmungslos geschwindelt –, was mich ins Herz traf, war das Verschweigen dieser Tatsache. Ich war längst Professor für Geschichte, schrieb seit Jahrzehnten über den Nationalsozialismus.  Sie war sicher stolz auf mich. Ich habe keine Erklärung für ihr Schweigen. War es die Scham vor mir – das könnte ich sogar verstehen –, aber warum hat sie dann die beiden Parteibücher nicht vernichtet? Kann eine unpolitische Frau, die nachweislich nie politisch aktiv war (allerdings den Partei-Beitrag bis zum März 1945 einzahlte), eine formale Parteimitgliedschaft so verdrängen, dass die Erinnerung völlig ausgelöscht wurde? Ich weiß es nicht! Jedenfalls habe ich von meiner Mutter nie einen politischen Kommentar gehört. Ein weiterer kritischer Punkt, nun bei meinem Vater, tauchte auch sehr spät, lange nach seinem Tod auf. Auf eine vage Spur führte mich meine erste Kindheitserinnerung überhaupt: Ich liege im Kinderbett, ein Mann in Uniform beugt sich über mich und verabschiedet sich, er muss in den „Krieg“ gehen. Das konnte nur mein Vater gewesen sein. Jahrzehnte später erzählte mir ein Vertriebener aus Südböhmen bei einer Geburtstagsfeier, dass er mit meinem 29 Privatarchiv Hanisch, Geburtsurkunde meines Vaters, ausgestellt von Franz Bauer am 5. April 1958. 30 Dazu: Gerhard Botz, Nazi, S. 142.

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Vater kurze Zeit beim Bau des Südostwalles war und dass der Vater sehr „hart“ war. Darüber haben meine Eltern nie etwas erzählt. Eine weitere vage Spur findet sich in der Pfarrchronik. Am 13. Oktober 1944 trug Pfarrer Bauer ein: „Die polnischen und ukrainischen Knechte bei den Bauern müssen fort. Schanzgraben im Südosten gegen Ungarn, wohin die Russen bald kommen.“31 Diese Zwangsarbeiter wurden von Parteifunktionären begleitet. Tausende von Zwangsarbeitern kamen dort um.32 Die Spuren sind zu vage, um etwas Sicheres zu sagen, aber mein Vater könnte an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein. Im Mai 1945, als die ‚Russen‘ in Thaya einzogen, versteckte sich mein Vater in den Feldern. Für ein paar Tage wurde er verhaftet. Nach dem Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945 musste er sich registrieren lassen.33 Wie viele nutzte er den Ausnahmeparagraf 27 und suchte um Nachsicht von der Eintragung in die Liste der Nationalsozialisten an. Mit Recht wurde das Ansuchen abgelehnt.34 Er musste eine finanzielle Sühneabgabe leisten. Am 5. Juli 1946 wurde er unter Polizeiaufsicht gestellt. Montags und freitags sollte er sich auf dem örtlichen Gendarmerieposten melden. Bereits ein halbes Jahr später wurde diese Aufsicht aufgehoben.35 Das Kernproblem seiner Nachkriegsexistenz war jedoch die Sicherung der Lebensgrundlage, die Fortführung des Betriebes. Soweit ich mich erinnere, blieb das Geschäft immer offen. Ja, über einen slawisch sprechenden Mittelsmann machte mein Vater gute Geschäfte mit der Besatzungsmacht. Die Gewerbeberechtigung wurde ihm formell entzogen und, wie die Bestätigung von ÖVP, SPÖ und KPÖ vom Dezember 1947 belegen, meiner Mutter übertragen.36 Nach dem Gesetz war meine Mutter ebenfalls eine Illegale. Über ihre Registrierung bzw. Entregistrierung habe ich keine Belege. Da sie politisch untätig und Mutter von drei Kindern war, hatte man sie wohl mit Nachsicht behandelt. Das Kaufmannsgewerbe lernte sie vom 11. Mai 1939 bis 11. Mai 1942 im Geschäft meines Vaters. Der bestätigte seiner Ehefrau angeblich im Juni 1942, dass sie „gut verwendbar, ehrlich und strebsam“ sei, dass er sie „jedem Geschäftsfreund auf das Beste empfehlen“ könne.37 Das Zeugnis wurde allerdings erst nach 1945, wie die Stempel zeigen, ausgestellt. Es wurde je nach Opportunität von allen Seiten getrickst. Eine gewisse finanzielle Bestechung war in den unsicheren Nachkriegsjahren wohl ebenfalls beteiligt. 1949 war alles vorbei. Ein Sittenzeugnis der Gemeinde Thaya stellte fest, dass über den Kaufmann Ernst Hanisch nichts Nachteiliges bekannt sei und „keine Strafen vorgemerkt sind“.38

31 Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 91. 32 Vgl. Szabolcs Szita: Verschleppt, verhungert, vernichtet. Die Deportation von ungarischen Juden auf das Gebiet des annektierten Österreich 1944–1945, Wien 1999. 33 Privatarchiv Hanisch, Bestätigung der Gemeinde Thaya vom 30. Juli 1945. 34 Niederösterreichisches Landesarchiv I/ 4, 134 8 NR / 1946. Bescheid vom 3. September 1945. 35 Privatarchiv Hanisch, Stellung unter Polizeiaufsicht, Bescheid vom 5. Juli 1946. Aufhebung 15. Jänner 1947. 36 Privatarchiv Hanisch. 37 Ebda., Zeugnis angeblich vom Juni 1942. 38 Ebda., Sittenzeugnis vom 21. Juni 1949.

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Mein Onkel, der Kreisleiter Auch er kommt in der Chronik mehrfach vor. Zunächst trat er bei einem Konflikt zwischen der kirchlichen und der nationalsozialistischen Erntedankfeier am 1. Oktober 1939 in Erscheinung. Die religiöse Feier wurde auf den Kirchenboden eingeschränkt, die Nazifeier zog mit elf Erntewagen durch den Ort. Pfarrer Bauer notierte: „Jeder Gemeinde war strengstens anbefohlen worden, einen solchen zu stellen! Sie waren beim Bahnhof aufgestellt und warteten dort geduldig, bis der Herr Kreisleiter Hanisch und der Herr Ortsgruppenleiter Berghofer und der Kreisärzteführer Dr. Zach [der Gemeindearzt, E.H.] sie abholten. Dann fuhren und zogen alle mit Gejohle und Jauchzern und Weinflaschen-Trinken, Wein bekommen nur mehr die Nazis durch den N.S.V. [NS-Volkswohlfahrt], auf den Marktplatz, wo zwei Reden gehalten wurden.“39 Der Pfarrer, der wusste, dass die umliegenden Ortschaften die Erntewagen nur auf Druck der NS-Funktionäre gestellt hatten, sagte öffentlich, „dass dies das erste und letzte Erntefest der Nazis sein werde“.40 Damit hatte er recht. Es gab keine NS-Erntefeiern mehr. Ein weiterer Hinweis auf meinen Onkel findet sich im Eintrag zum 23. Jänner 1943. An diesem Tag wurde der Pfarrer auf die Gemeinde bestellt. Anwesend waren der Bürgermeister und der Ortsgruppenleiter (bereits der dritte, wie Bauer boshaft hinzufügt). Anlass war der Gottesdienst für ‚Fremdvölkische‘. Kreisleiter Hanisch soll angeordnet haben, für die polnischen Arbeiter einen eigenen Gottesdienst abzuhalten. Bislang besuchten sie die gemeinsame Messe mit den Einheimischen. Manchmal wurden sie von der Gendarmerie und den Parteileuten vertrieben, aber sie kamen immer wieder. Pfarrer Bauer erklärte den beiden Funktionären, dass er keinen weiteren Gottesdienst abhalten könne, weil die Arbeiter um elf Uhr bereits zum Füttern bei den Bauern sein müssten: Als ihm der Ortsgruppenleiter entgegnete: „Es handelt sich um die Reinhaltung des deutschen Blutes. Wie kommt ein deutscher Mensch dazu, dass er sich neben so ein Glumpert und Gesindel setzt!“  – sagte Pfarrer Bauer: „Das sind auch Menschen! Und wenn Sie keine Anzeige darüber machen, dass die Polen und Ukrainer in die Kirche gehen, so weiß auch der Kreisleiter nichts davon, ob sie gehen oder nicht. Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter!“41 Ob der Pfarrer mit dieser Strategie des Durchschwindelns Erfolg hatte, schrieb er nicht in die Chronik. Mein Onkel, Kreisleiter Wilhelm Hanisch, 1890 als Sohn eines Klavierlehrers in Waidhofen/Thaya geboren, studierte in Wien Geschichte und Germanistik. Er schrieb Gedichte, liebte die Literatur. Was bei meinem Vater der DHV war, war bei meinem Onkel eine schlagende Studentenverbindung. Die Burschenschaft gliederte die Studenten rasch in das ‚völkische‘, antisemitische Lager ein, das bereits in den Zwanzigerjahren zum Nationalsozialismus überging.

39 Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 28. 40 Ebda. 41 Ebda., S. 66 f.

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Auch in der Biografie von Wilhelm Hanisch formte der Erste Weltkrieg eine Wasserscheide für sein späteres Leben. Er diente im bosnischen Infanterieregiment Nr. 2, dann als ‚Gasschutz-Offizier‘ an der italienischen Front. Als Oberleutnant aus dem Krieg zurückgekehrt, fand er eine Stelle bei der Waidhofner Sparkasse. Später holte er die notwendigen Prüfungen nach und wechselte als Lehrer in die neu gegründete Handelsschule. Politisch trat er als bürgerlicher Deutschnationaler der Großdeutschen Volkspartei bei, ihrer Sozialstruktur nach eine typische Beamtenpartei. Bereits 1930 wurde er mit der Mitgliedsnummer 441 984 in die NSDAP aufgenommen. Nach dem Juli-Putsch 1934 wurde er verhaftet und aus dem Mittelschuldienst entlassen. Als somit Zwangspensionierter übernahm Wilhelm Hanisch 1937 die Funktion des Kreisleiters. In der SA, der er 1938 beitrat, führte er den Rang eines Sturmbannführers. Später hat er mir eines Abends die persönlichen Motive für seine Unterstützung der Nationalsozialisten zu erklären versucht: Seine Frau konnte keine Kinder bekommen, so wollte er durch Übernahme einer politischen Funktion etwas anderes für sein Volk tun. Die Funktion des Kreisleiters behielt er bis 1945. Politisch war er somit verantwortlich für alle Unmenschlichkeiten der NS-Herrschaft im Kreis Waidhofen/Thaya, die nachfolgenden Kerkerjahre somit gerechtfertigt. Am 25. Mai 1945 erkrankte Pfarrer Bauer, er benötigte eine Prostataoperation. Seine damalige Situation beschreibend, heißt es in der Chronik: „Der letzte Primar war ein Nazi und war zusammen mit dem Landrat Schlesinger und dem Kreisleiter Hanisch im Sanitätsauto nach Oberösterreich geflüchtet! Die tapferen deutschen Recken! In den letzten Tagen vor der Kapitulation wurden noch einige Deserteure oder Ungehorsame vom Nazi-Parteigericht erschossen, weil sie nicht mehr kämpfen wollten. Und als die Feinde in Gestalt der Russen wirklich im Anmarsch waren, da flohen alle deutschen Recken in die amerikanische Zone und ließen die armen Kranken im Spital im Stich: brave Volksgenossen!“42 Die Flucht mit dem Sanitätsauto, dem letzten, blieb im Gedächtnis der Bevölkerung haften. Das Volksgericht in Wien verurteilte Wilhelm Hanisch am 7. Jänner 1949 als Hoheitsträger der NSDAP und ‚alten Kämpfer‘, somit als Kriegsverbrecher und Hochverräter am österreichischen Staat, zu zehn Jahren schwerem Kerker, von denen er sechs Jahre in Glasenbach und Stein absaß.43 Als das Strafausmaß mildernd wurde bewertet, „dass er keine Übergriffe in den letzten Tagen sich zuschulden kommen ließ, und auch keine Gewaltmethoden anwendete [...] der Angeklagte seine Geschäfte eines Kreisleiters human führte und ihm Übergriffe nicht nachgewiesen werden konnten“.44 1951 wurde er entlassen und kehrte als kranker Mann nach Thaya zurück, wo er mit seiner Frau in unserem Haus wohnte (und mir bei den Lateinaufgaben half ). Er starb im Jahr 1956.

42 Ebda., S. 103. 43 Privatarchiv Hanisch, Volksgerichtsurteil Vg 11c Vr 5878/47. 44 Ebda.

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Dichte Beschreibung Dieser Begriff wurde von Clifford Geertz geprägt.45 Er meinte damit die Analyse der Kultur als „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“ in dem die Menschen leben.46 Ausgangspunkt ist eine Einzelgeschichte, bei der verschiedene kulturelle Codes aufeinanderprallen und sich missverstehen.47 Die Mikrohistorie der 1980er-Jahre hat diesen methodischen Zugriff erweitert. Ihr Kern ist die „Verkleinerung der Beobachtungsmaßstäbe des Historikers“, die Generalisierung von Einzelfällen. Objekt der Analyse sind Einzelpersonen, eine Gruppe, ein Dorf usw.48 Durch diesen Perspektivenwechsel soll das Kleine groß werden, und die Menschen wieder in die Strukturgeschichte zurückgeholt werden.49 Ein klassisches Beispiel der ‚dichten Beschreibung‘ stammt von Robert Darnton, „The Great Cat Massacre“, eine Studie, die von der Tötung aller Katzen in einer Pariser Straße im 18. Jahrhundert ausgeht, um die Analyse hin zu einer Konfliktkultur der damaligen Gesellschaft zu erweitern.50 Vor Kurzem hat Jörg Baberowski das Konzept der ‚dichten Beschreibung‘ scharf kritisiert.51 Die Historiker seien nicht in die Dörfer gegangen, sondern an ihren Schreibtischen gesessen und haben darüber nachgedacht, wie sie Lebenswelten dicht beschreiben können. Das ist für einen Historiker ein ziemlich primitives Argument. Es gibt Tagebücher, Wirtschaftsaufzeichnungen, Briefe, Chroniken, kurz: Quellen, die Aufschlüsse über vergangene Lebenswelten geben. Und für die Zeitgeschichte ist bis zu einem gewissen Grad auch ‚teilnehmende Beobachtung‘ möglich. Zeitgeschichtler sind in die Dörfer gegangen und haben versucht, mithilfe der Oral History eine vergangene Welt zu rekonstruieren. Da Baberowski keine empirischen Studien kennt, kann er großmäulig urteilen, dass es keine einzige historische Darstellung gebe, „von der gesagt werden könne, sie sei eine dichte Beschreibung“.52 Carolyn Steedman beispielsweise hat gezeigt, was man aus dem Tagebuch eines anglikanischen Landpfarrers alles herausholen kann, wenn man eine fein ziselierte Darstellung der Mikrowelt mit theoretischen Reflexionen verbindet und religiöse Gefühle ernst nimmt.53 Was meinen Aufsatz hier betrifft, habe ich 18 Jahre in dem analysierten Ort gewohnt, ich habe die Akteure gekannt. Das Problem dieser Arbeit ist ein ganz anderes. Gelingt es mir, da es sich auch um die eigene Familie handelt, die damit einhergehenden Emotionen wissenschaftlich zu bändigen? 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1983. Ebda., S. 9. Ebda., S. 12–15. Hans Medick: Mikrohistorie, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon der Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 215–218. Jürgen Schlumbohm: Mikrogeschichte Makrogeschichte komplementär oder inkommensurabel, Göttingen 1998; Ute Daniel: Kompendium der Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2001, S. 248–250. Robert Darnton: The Great Cat Massacre and other episodes in French cultural history, New York 1985. Jörg Baberowski: Brauchen Historiker Theorien? Erfahrungen beim Verfassen von Texten, in: ders. (Hg.), Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft?, Frankfurt a.M. 2009, S. 117–128. Ebda., S. 123. Carolyn Steedman: Master and servant. Love and labour in the English industrial age, Cambridge 2007.

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2. Anfang und Ende der NS-Herrschaft Im Sinne der ‚dichten Beschreibung‘ kann man Katholizismus und Nationalsozialismus als zwei kulturelle Codes verstehen, die den ganzen Menschen und die ganze Gesellschaft formen wollten. Daraus entstand ein grundsätzlicher Konflikt. Da die katholische Kirche im Dorf eine hegemoniale Position innehatte, musste die NS-Herrschaft einen ‚Kirchenkampf ‘ inszenieren, um sie in den privaten Bereich abzudrängen. Da allerdings nach der katholischen Lehre der Staat, auch der NS-Staat, von den Gläubigen zu respektieren, sie somit zum Gehorsam verpflichtet waren, existieren auch breite Felder der Zusammenarbeit, ideologisch im Antibolschewismus und Antisemitismus wurzelnd. Beide ideologischen Strömungen waren im Katholizismus emotional tief fundiert, aber sie waren nicht identisch mit dem Nationalsozialismus; sie waren nicht rassistisch angelegt. Die meisten Priester waren strikt gegen den Nationalsozialismus eingestellt, aber es gab eine kleine Gruppe, die mit ihm sympathisierte.54 Pfarrer Bauer gehörte gewiss nicht zu ihr. Das Jahr 1938 begann in Thaya mit einem Nordlicht. „Lange Zeit war der ganze Nordhimmel vom Horizont bis zu einem Drittel der Himmelshöhe in rotem oder grünem meist strahlenförmigem Licht.“55 Im Volksglauben konnte das nur Krieg bedeuten! Im März erwartete Bauer, dass die Schuschnigg-Abstimmung mit 90 Prozent zugunsten eines selbstständigen Österreich ausgehen werde. In einem wohl später hinzugefügten Kommentar sah er im ‚Anschluss‘ nur den Einmarsch der deutschen Truppen. Österreich, aus seiner Sicht, war das Opfer nicht nur der Deutschen, sondern auch der Westmächte, die den Krieg verhindern hätten können. Sie haben den Krieg mit provoziert, weil sie die Gelegenheit nutzen wollten, „die Weltherrschaft und den Weltreichtum zu erringen“.56 Diese etwas verqueren Überlegungen sind einerseits vom Trauma des Ersten Weltkrieges und des Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie motiviert, gleichzeitig wurde hier bereits 1938 die Opferthese klar formuliert: „Aber der Umstand, dass die Großmächte die Vergewaltigung des kleinen ehrlichen Österreich nicht verhinderten, obwohl sie es hätten tun können, belastet sie jetzt schon mit der gleichen Schuld wie das stänkernde Hitler-Deutschland. Österreich wird in diesen traurigen Tagen von der ganzen Welt im Stich gelassen.“57 Klar war dem Pfarrer wie den einfachen Arbeitern und Bauern: Wenn der ‚Anschluss‘ gelingt, bekommen wir den Krieg!58 Missmutig notierte der Pfarrer die „Verblödung“ vieler Leute in Thaya, die hysterisch „Heil Hitler“ und „Sieg Heil“ riefen, als am 14. März mehrere Lastautos kamen, um die hiesigen 54 Zusammenfassend: Maximilian Liebmann: „Heil Hitler“ – Pastoral bedingt. Vom Politischen Katholizismus zum Pastoralkatholizismus, Wien 2009; zum Antisemitismus auf der Pfarrebene: Nina Scholz, Heiko Heinisch: „... alles werden sich die Christen nicht gefallen lassen.“ Wiener Pfarrer und die Juden in der Zwischenkriegszeit, Wien 2001; exemplarisch: Helmut Wagner: Der NS-Kirchenkampf in den Pfarren, Linz 1998. 55 Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 13: Eintrag zum 25. Jänner 1938. 56 Ebda., S. 15. 57 Ebda., S. 16. 58 Ebda.

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Nazis, Mitläufer und „Farbverkehrer“ nach Wien zum Hitler-Empfang zu bringen (mein Vater war sicher dabei). Dem „Freuden-Fackelzug“ am 9. April, einem Tag vor der „Volksabstimmung“, setzte er die nüchterne Erkenntnis entgegen: „Ja, was glauben denn diese Narren? Wird ihnen Hitler das Paradies bringen? Den Krieg bringt er! […] Nun muss das Schicksal seinen Lauf nehmen: Das deutsche Volk geht einer sicheren Niederlage entgegen.“59 Die Abstimmung am Palmsonntag, den 10. April 1938, „Schneefall bei plus vier Grad“, beschreibt Bauer genau: In der Gemeindekanzlei waren zehn bis 20 Nazis aufgestellt, die den Leuten den Wahlzettel gaben und sie anwiesen, wo sie das Ja ankreuzen sollten. In der „sogenannten geschlossenen Wahlzelle“ stand der nagelneue Nazi-Bürgermeister.60 Über sein eigenes Wahlverhalten und über die ‚Feierliche Erklärung‘ der Bischöfe schweigt die Chronik allerdings. Vermutlich hat der Pfarrer auch selbst mit „Ja“ gestimmt. Zum ewigen Gedenken an die „großartige Abstimmung“ pflanzte die NSDAP eine „Hitler-Eiche“ vor dem Pfarrhof.61 Gerüchte besagten, dass der Pfarrer die Pflege der Eiche übernahm, sie aber mit Benzin goss, sodass sie bald einging; die Anekdote passt jedenfalls zu seinem politischen Stil. Sofort begann auch der Kirchenkampf. Das Schulgebet wurde abgeschafft, die Kreuze aus den Schulen entfernt, Bauernfeiertage verboten, die Pfarrer mit bürokratischen Arbeiten für die Ausstellung von Ariernachweisen überlastet. Der Erste, der den Nachweis verlangte, war mein Onkel Dr. Rudolf Stoifl; er war auch der Erste, der aus der Kirche austrat.62 Das neue Leistungsprinzip, das von den Nationalsozialisten eingeführt wurde, die norddeutsche Devise „Schaffen, schaffen“ dechiffrierte Pfarrer Bauer als „Arbeit für den Krieg“.63 Als der Lehrer und Organist beim Schulschlussgottesdienst am 2. Juli 1938 zum Ärger des Pfarrers das Deutschlandlied intonierte, reagierte dieser mit dem Hinweis, dass die „listenreichen Norddeutschen und Berliner“ auch diese Melodie von den Österreichern gestohlen haben.64 Bitter musste der Pfarrer beim Altjahressegen 1938/39 konstatieren, dass die Zahl der Kommunikanten im Jahr 1938 um die Hälfte gesunken war. „Besonders jene gingen nicht mehr so oft, die früher oft gingen, aber in irdischer Absicht, um zu zeigen, dass sie den christlichen Kurs der vaterländischen Front stramm mitmachten und so gute Aussichten hatten. Diese suchten sofort Anschluss an die neuen Herren.“65 Genau das Umgekehrte geschah in den letzten Kriegstagen 1945. Die Leute strömten wieder in die Kirche, meldeten ihren Wiedereintritt an.66 Niemand glaubte der Nazipropaganda mehr. Am 23. April 1945 schmierten sieben Propagandaoffiziere mit schwarzer Ölfarbe an die

59 Ebda., S. 15. 60 Ebda., S. 17. 61 Ebda. 62 Ebda., S. 16. 63 Ebda., S. 18. 64 Ebda. 65 Ebda., S. 23: Eintrag zum 31. Dezember 1938. 66 Ebda., S. 97.

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Häuser: „Der Endsieg kommt“, „Lieber tot als Sklave“.67 Nicht einmal mein Vater, der Propagandaleiter, glaubte es mehr. Ein Lastauto des Militärs stand bereit, um mit der Familie zu fliehen. Meine Mutter aber weigerte sich. Der Bretone Le Lous berichtet über ihn: „Von Herrn H. hieß es, dass er eine Funktion bei den Nazis bekleidete, sogar dass er bei der SA gewesen wäre. Ich ging mit einem Kameraden hin, um Zucker einzukaufen. Er gab uns einen Sack Zucker und sagte: ,Nehmt nur, das ist gratis! Morgen sind die Russen da, und die fragen erst gar nicht, wie viel was kostet!‘“68 Paradoxerweise kam die Realität des Krieges erst am Tag der Kapitulation (8. Mai 1945) nach Thaya. Die fliehenden deutschen Soldaten sprengten im großen Wald hundert Waggons Munition. Die Detonation zerstörte Hunderte von Fenstern im Ort. Und der Pfarrer? Er wollte, dass gegen die Sowjetunion weiter gekämpft werde. „Jetzt sollte man das braune und rote Ungeheuer gegen einander loslassen, bis sie beide vernichtet werden könnten. Aber bei den westlichen Freimaurern finden sich immer noch Herzen, die den glaubenslosen Bolschewiken in Liebe und Zuneigung entgegenschlagen. Die braune Bestie ist besiegt, aber die rote Bestie muss man schonen, da sie doch einen schönen Kulturkampf in Russland durchgefochten hat und dort das Christentum offiziell auslöschte.“69 Diese schwer verständliche Äußerung entsprang dem alten katholischen Feindbild. Die „westlichen Freimaurer“ (gemeint sind besonders Juden) und die „Bolschewiki“ gehörten seit Langem zur konservativen Angst vor der „Weltverschwörung“.70 Am 8. Mai hörte Pfarrer Bauer von einem deutschen Hauptmann, dass am nächsten Tag die Russen aus Horn in Thaya einziehen werden: „Das war für die Bevölkerung so, als wenn ein Hagelschauer die gesamte Ernte vernichtet hätte, oder ganz Thaya abgebrannt wäre. Kein Mensch wollte es glauben. Niemand wollte sprechen. Es war seit Ostern schon so viel Schreckliches durchgesickert, wie sich Russen in jenen Gegenden benehmen, die sie besetzt hatten. Nach den Schrecknissen des Krieges stand uns offenbar etwas noch Schrecklicheres bevor. Mit einem Wort, man konnte überall die Äußerung hören: ‚Wie haben wir das verdient, dass uns Gott jetzt ganz verlassen hat!‘“71 Diese Sätze spiegeln wohl authentisch die Stimmung in Thaya wieder. Nirgends das Gefühl der Befreiung, nur die Angst vor den Russen; nirgends auch nur eine Spur der Verantwortung für den Nationalsozialismus und den Krieg. Der Einzug der sowjetischen Soldaten am 9. Mai 1945 hat sich tief in meine Erinnerung eingeprägt. Die unheimliche Stille, die sich nach Ablösung der alten und vor der Ankunft der neuen Herrschaft ausbreitete. Im Haus waren alle Fenster geschlossen, die Türen verriegelt. Zwischen den Fensterbalken spähte ich hinaus und sah, wie am Nachmittag die russischen Lastautos, Motorräder und Radfahrer durch die Hauptstraße fuhren. In die Kirche, erzählt die Chronik, kam 67 Ebda. 68 Le Lous, Kriegsgefangen, S. 116. 69 Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 98. 70 Dazu Helmut Reinalter: Der Mythos „jüdisch-freimaurerischer Weltverschwörung“, in: conturen Nr. 1–2 (2010), S. 124–128. 71 Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 99.

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ein junger Unteroffizier, der etwas Deutsch konnte, sich vom Pfarrer die Einrichtung erklären ließ und erwähnte, dass seine Eltern und Großeltern sehr fromm waren. Er vertrieb auch zwei Soldaten, die den Pfarrhof plündern wollten.72 Im Ort allerdings begannen sofort Plünderungen. Beteiligt waren neben den Russen ehemalige Zwangsarbeiter und Einheimische. Auch unser Geschäft wurde geplündert. Am 17. Mai kamen die Plünderer in den Pfarrhof. Als sie erfuhren, dass hier ein „Pope“ wohnte, begann ein Plünderer „heilige Lieder“ zu singen und der Pfarrer stimmte ein „Alleluja“ an.73 Trotz dieser frommen Anwandlung wurde weiter geplündert.

3. Große und kleine Nazis Das Charisma Adolf Hitlers hatte den Pfarrhof in Thaya nicht erreicht. Am 20. Februar 1938 hörte Bauer die Übertragung der Hitler-Rede im Sender Radio Wien. Trockene Bemerkung in der Chronik: „Der Narr redet drei Stunden lang.“74 Der Vierjahresplan galt ihm als Ausplünderung Österreichs durch die Deutschen, wie überhaupt der Gegensatz Deutschland– Österreich in der Chronik immer wieder artikuliert wurde. Den Überfall auf Polen, ohne Kriegserklärung, verglich er mit den „Hunnen“, mit „Dieben und Räubern in der Nacht“.75 Bei den wirtschaftlichen Einschränkungen achtete er genau auf die Bevorzugung der „Nazi-Bonzen“. Ende 1939 – nach einem Verhör bei der Gestapo – schrieb er vom KZ Dachau, das in ganz Deutschland Furcht und Schrecken auslöste.76 Daher lautete für den Pfarrer das deutsche Morgengebet: „Lieber Herrgott mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm!“77 Da er regelmäßig ‚Feindsender‘ hörte, war er über die politische Situation und den Verlauf des Krieges relativ gut informiert. Er wusste von der Euthanasie, von Gaskammern (Eintrag vom 15. September 1941), kannte die Moskauer Deklaration vom 1. November 1943, notierte die Grausamkeiten der deutschen Soldaten gegen russische Kriegsgefangene, die umgebracht werden. Aber es gibt keine Notiz über die ‚Endlösung‘, die Ermordung der Juden. Auf die Reaktion eines Priesterkollegen, der das Hören von ausländischen Sendern ablehnte, weil er dann beim Verhör die Wahrheit sagen müsse, entgegnete Pfarrer Bauer: „Da haben die Nazis leichtes Spiel. Als ob solche Verbrecher und Mörder und perverse Menschenschlächter überhaupt ein Recht zur Frage oder gar auf eine wahrheitsgemäße Antwort hätten!“78 Ein besonderes Ärgernis war ihm, dass die HJ am Kirchenplatz Fußball spielte, auch am Sonntag während der Messe, dazu mit „halb nackten“ Mädchen.79 Immer wieder gab es deswegen Konflikte mit der HJ. 72 73 74 75 76 77 78 79

Ebda., S. 100. Ebda., S. 102. Ebda., S. 14. Ebda., S. 27. Ebda., S. 31. Ebda., S. 31 f. Ebda., S. 36. Ebda., S. 38 f.

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Ein besonders perfider Vorgang geschah am 13. Februar 1941. Ein Nachbar von uns, der Landwirtssohn Josef Hauer, wurde beschuldigt, mit einer polnischen Zwangsarbeiterin ein verbotenes sexuelles Verhältnis zu unterhalten. Er und die Polin wurden von der Gestapo Znaim verhaftet. Da ihnen nichts nachgewiesen werden konnte, wurde (wie häufig im ‚Dritten Reich‘) eine öffentliche Demütigungsaktion inszeniert. Einquartierte Soldaten hängten dem Wirtssohn vorne und hinten ein Plakat um, mit dem Text: „Dieses deutsche Schwein lässt sich mit einer Polin ein“. Mit Trompeten-Geschmetter wurde er durch den Ort getrieben. Dann wurden beide fortgeschleppt. Bauer in der Chronik: „… ohne Verhandlung, ohne richterliches Urteil: das ist die Justiz im Dritten Reich.“80 Josef ‚Pepi‘ Hauer kam ein halbes Jahr in verschiedene Konzentrationslager, kehrte dann nach Thaya zurück, musste einrücken und fiel im März 1945 in Ungarn. Das Schicksal der Polin ist nicht nur namenlos, sondern auch unbekannt geblieben. Der Vorfall war auch ein Anklagepunkt im Volksgerichtsprozess gegen Wilhelm Hanisch. Wie Zeugen belegten, ging die Initiative zur Anprangerung aber vom Ortsgruppenleiter in Thaya, Anton Berghofer, und nicht vom Angeklagten aus, der den Wehrmachtsältesten, einen Hauptmann, zu dieser Demütigungsaktion veranlasst hatte. Wilhelm Hanisch wurde in der Folge von diesem Punkt der Anklage freigesprochen.81 Um die Soldaten an der Front mit ihrer Heimat in Verbindung zu halten, sandte die Schwester des Bürgermeisters vierzehntäglich einen „Heimatbrief “ an die Soldaten aus Thaya. Dort fand Pfarrer Bauer den Satz: „Das Wort Opfer wollen wir in unserem Wortschatz überhaupt streichen.“82 Er konterte: „Jawohl, die Opfer müssen die anderen bringen, die Nazis bleiben fein zu Hause, sie sind die ,Offiziere der Heimat‘ […] bekommen alles das, was die anderen schon lange nicht bekommen, fahren mit dem Auto, bekommen mehrere Lebensmittelkarten usw.“ 83 Die Rede Hitlers am 8. November 1943 im Münchner Bürgerbräukeller, bei der Hitler zynisch erklärte, er werde dem deutschen Volk keine Träne nachweinen, wenn es vor diesen Prüfungen versage, diese Rede löste bei Bauer eine wütende Reaktion aus: „Er, der Führer, der alles so schön eingefädelt hat, der jeden ermorden ließ, der nicht mit tat […] – er ist jetzt das Unschuldslamm: das dumme Volk ist selbst schuld, wenn es schief geht.“84 Doch es gab noch immer Hitler-Verehrer in Thaya. Zwei „ledige Hitleranbeterinnen“ schmückten zu Hitlers Geburtstag im April 1943 die Auslage des Flicker-Schneiders mit einem blumengeschmückten großen Führerbild, das die Unterschrift trug: „Lang lebe des Führers geheiligte Person!“ Die Schneiderwitwe, deren Sohn in Stalingrad geblieben war, die jene wenigen Stoffe, die sie noch hatte, der ‚Volksgemeinschaft‘ überlassen musste, die daher eine Gegnerin der Nazis war, „sie muss ihre Auslage durch ein Hitlerbild schänden lassen!“.85 Beide Seiten, sowohl Hitler80 Ebda., S. 44. 81 Privatarchiv Hanisch, Urteil des Volksgerichtes vom 7. Jänner 1949. 82 Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 64. 83 Ebda. 84 Ebda., S. 76: Eintrag zum 8. November 1943. 85 Ebda., S. 70.

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Anhängerinnen als auch der Pfarrer, verwendeten eine sakral aufgeladene Sprache. Für die Verehrerinnen war Hitler geheiligt, für die Gegner war sein Bild blasphemisch. Ende 1944 hielt Pfarrer Bauer sein Urteil über den Nationalsozialismus noch einmal und abschließend fest: Die Nazis sind „die größten Schädlinge und Feinde des deutschen Volkes“;86 Adolf Hitler ist nicht der „Gröfaz“ (größter Feldherr aller Zeiten), sondern der „Grövaz“ (größte Verbrecher aller Zeiten).87 Unvermittelt nach diesem Urteil steht der Satz: 8300 Kommunionen in diesem Jahr. Wie konnte sich der Pfarrer bei dieser Einstellung, die er selbst „passiven Widerstand“88 nannte, durch die Jahre schwindeln, ohne größeren Schaden zu nehmen? Er hatte wohl Glück. Er war im Ort beliebt. Er reagierte auf Bedrohungen mit Schlauheit, Witz und oberflächlicher Anpassung.

Bevölkerungsbewegung und Alltagssorgen Die NS-Volkszählung von 1939 ergab für Thaya 684 Ortsanwesende, Männer und Frauen in einem relativ ausgeglichenen Verhältnis.89 Im Krieg veränderte sich die Bevölkerungsstruktur markant. Die ersten Flüchtlinge kamen während der Sudetenkrise im September 1938 nach Thaya. Hitler nutzte das ‚Selbstbestimmungsrecht‘ der Deutschen, um die Eroberung der tschechischen Gebiete vorzubereiten.90 Pfarrer Bauer, der die deutschen Gebiete jenseits der Grenze gut kannte, durchschaute den Schwindel, die Gräuelmärchen, dass „Tschechen gegen Deutsche losgehen, sie prügeln, erschlagen und verjagen“.91 Doch ein Teil der Sudetendeutschen ließ sich von der Propaganda anstecken und floh ins Waldviertel. So kam eine lange Kolonne von Flüchtlingen in den Markt. Sie hatten ihr Vieh, Kleider und Tuchenten mitgebracht. Die Partei sammelte Spenden für die Flüchtlinge. Nur der Pfarrer weigerte sich mit der Ausrede: Er müsse für die vertriebenen Klosterangehörigen hier im Reich spenden.92 Bei der Besetzung der „Resttschechei“ im März 1939 fuhren Hunderte von Autos und Tanks der deutschen Wehrmacht durch Thaya. Da seit Tagen heftiger Schneefall und Verwehungen herrschten, mussten Zivilisten die Straßen ausschaufeln. In Thaya allein verunglückten fünf Tanks. Für den Pfarrer nur ein Vorgeschmack, was so ein moderner Krieg kosten werde.93 Nach Kriegsbeginn kamen französische Kriegsgefangene und slawische Zwangsarbeiter. Ihre genaue Zahl ist unbekannt. Die Einquartierung von reichsdeutschen Kindern 1940 ließ 86 87 88 89 90

Ebda., S. 89: Eintrag zum 11. September 1944. Ebda., S. 93: Eintrag zum 31. Dezember 1944. Ebda., S. 54. Ebda., S. 26. Wilhelm Deist et al.: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 1: Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1979, S. 638–664. 91 Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 19 f. 92 Ebda., S. 20. 93 Ebda., S. 24 f.

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den Pfarrer erneut gegen die „reinrassigen edlen Germanen“ loswettern, die bevorzugt würden, während arme Kinder wegen ihrer „minderwertigen ostischen Rasse“ nicht aufs Land dürften.94 Am 31. März 1943 mussten 24 ausgebombte Frauen mit ihren Kindern aus Essen aufgenommen werden. Jetzt begann der Konflikt zwischen Stadt und Land, Bauern und Flüchtlingen. Die „Bombenweiber aus Essen“ schimpften laut Chronik über die geizigen Bauern, die Bauern aber brauchten – so der Pfarrer – die überschüssigen Lebensmittel, um notwendige Ersatzteile für den Betrieb einzutauschen. Pfarrer Bauer, der aufseiten der Bauern stand, schrieb: „Wenn einmal die Hungersnot im Krieg anfängt, soll der Krieg beendet werden.“ 95 Im Herbst 1944 brachte ein Sonderzug 23 Waggons mit Flüchtlingen aus Südungarn nach Thaya. Diese „Batschka-Weiber“ mit zahlreichen Kindern, die kaum Deutsch konnten, waren nach Ansicht der Pfarrers „Serbinnen, Kroatinnen, slowenische, halbdeutsche und halb zigeunerische Mädchen“, die deutsche SS- und Wehrmachtssoldaten geheiratet hatten.96 Ich habe mich nach dem Krieg mit dem Sohn einer solchen Batschka-Familie angefreundet, die gut Deutsch, wenn auch mit Akzent sprach. Ich lernte bei ihr Senfgurken lieben. Nach Kriegsende überschwemmten dann verwundete deutsche Soldaten und Hunderte deutsche Flüchtlinge aus Zlabings, Iglau und Umgebung den Ort. Am 13. Juli 1945 lebten 30 000 „deutsche Ausgepeitschte“, wie sie der Pfarrer nannte, im Bezirk Waidhofen/Thaya.97 Zunächst zeigte sich die Bevölkerung hilfsbereit. Mit der Zeit häuften sich die Spannungen. Zwei alte Frauen, ganz entfernte Verwandte, Hanni und Marie, arme Häuslerinnen, lebten bis zu ihren Tod bei uns. Ihr Hygienestandard entsprach ihrer sozialen Herkunft. Es kostete mich immer eine Überwindung, wenn ich in das stinkende Zimmer gehen musste, um sie zum Essen zu holen. Zum ersten Mal in meinem Leben begegnete ich dem Geruch wirklicher, gutmütiger Armut. In Thaya wurde so das Kriegselend erst nach Ende des Krieges augenscheinlich. Im Juni 1945 blieben tausend invalide Soldaten für einige Tage im Ort; im Juli 600 Blinde.98 Im Krieg selbst beherrschte die Angst um die eingerückten Angehörigen die Alltagssorgen der Bevölkerung. Eine Familie im zur Pfarre gehörenden Ort Nieder-Edlitz verlor vier Söhne im Krieg.99 In den ländlichen Gebieten gab es zwar Mangel an Fertigwaren, aber keinen Mangel an Nahrungsmitteln. Alles konnte durch Tauschgeschäfte besorgt werden. Am 10. Oktober 1941 wollte Pfarrer Bauer Honig, der rationiert war, für seine Verwandten in Wien auftreiben. Mit dem Fahrrad fuhr er zu einem benachbarten Kollegen, der ein berühmter Imker war. Bei ihm tauschte er gehamsterte Zigaretten (feine Memphis, Nil, Milde Sorte) gegen Honig ein. Den allgegenwärtigen Tauschhandel beschrieb er so: „Tag und Nacht fließt der Strom dieser guten Dinge durch unterirdische Kanäle, ungreifbar, nicht mit  94 Ebda., S. 41: Eintrag zum 30. September 1940.  95 Ebda., S. 81.  96 Ebda., S. 91.  97 Ebda., S. 106.  98 Ebda.  99 Ebda., Anhang Kriegstote.

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Geld bezahlbar, nur wer sich durch Tausch einschalten kann, nimmt teil an diesem Strome. ‚Ein Volk hilft sich selbst!‘“100 Fast jedes Haus hielt nicht registrierte Tiere. Da es allgemein verbreitet war, gab es kaum Anzeigen. Der Pfarrer selbst fütterte zehn legale und zehn illegale Hühner.101 Am Faschingsdienstag, den 22. Februar 1944, tagte im Pfarrhof zu Thaya, wie Bauer humorvoll in die Chronik schrieb, von 14 bis 16 Uhr eine „Viermächtekonferenz“, nämlich die Pfarrherren von Waidhofen, Dobersberg, Kautzen und Thaya. Dabei wurde „kriegs- und friedensmäßig gegessen, getrunken, gesprochen und tarockiert. Gesprächsstoff gibt es in solchen Zeiten immer genug, und auch Beratungsstoff.“102 Anfang 1945 wurde die Ernährungssituation in den Städten immer katastrophaler. Hamsterfahrten auf das Land häuften sich. Der Pfarrhof in Thaya jedoch war gut versorgt. Im Garten wurden neben den Hühnern nun Kaninchen und Schafe gehalten. Die Bauern brachten gratis oder gegen geringe Bezahlung Lebensmittel.103 Im Herbst 1945, bei den Nationalratswahlen, kehrte Thaya nach der NS-Zeit oberflächlich in seinen politischen ‚Normalzustand‘ zurück: 289 der Wähler stimmten für die ÖVP, 38 für die SPÖ, gerade zwei für die KPÖ.104

Warum erst so spät? Warum schreibe ich erst als 70-Jähriger über meine Nazifamilie? Ich bin in den Fünfzigerjahren aufgewachsen. Die NS-Herrschaft war kein großes Thema. Sie wurde zwar nicht verschwiegen oder verdrängt, sie war durchaus präsent, aber völlig unkonkret, als etwas Unheimliches und Dämonisches. Meine Familie hatte sich politisch die Hände verbrannt. Ihre Lehre hieß dann: Hände weg von der Politik. Und ich selbst interessierte mich als Schüler für die österreichische Literatur, nicht für die österreichische Geschichte, obwohl ich ein leidenschaftlicher Zeitungsleser war. Mein Vater erlitt 1957 einen schweren Schlaganfall, verlor nun buchstäblich die Sprache und war gelähmt. Das Geschäft stand wieder einmal vor dem Konkurs. Wir hatten andere Sorgen. Als ich 1959 in Wien Geschichte zu studieren begann, absolvierte ich mein erstes Seminar bei dem zurückgekehrten Emigranten Friedrich Engel-Janosi. Thema: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Ich referierte über den 20. Juli 1944. Das waren dann meine Helden. Engel-Janosi selbst, der in den Dreißigerjahren vom Judentum zum Katholizismus konvertiert war, hatte nie über den ‚Holocaust‘ gesprochen. Auch meine Dissertation, mehr ein Essay als eine wissenschaftliche Arbeit, beschäftigte sich mit dem Thema Nationalsozialismus: Stefan George 100 101 102 103 104

Ebda., S. 51. Ebda., S. 63. Ebda., S. 82. Ebda., S. 94. Ebda., S. 109.

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Abb. 2: Die Uniform als zweite Haut Foto: Privat­ archiv Hanisch

und der Nationalsozialismus.  Die NS-Vergangenheit meines Vaters hatte mich konkret nie interessiert, ich habe sie allerdings auch nie verschwiegen. Er stand immer schweigend im Hintergrund. Wissenschaftliche Theorien entstehen manchmal unter seltsamen Umständen. 1983 erschien mein Buch über die NS-Herrschaft in der Provinz.105 Dort entwickelte ich die Theorie der Entprovinzialisierung. Sehr verkürzt gesagt: Ich behauptete, dass der Nationalsozialismus die Angleichung des Landes an die Stadt beschleunigte. Ohne dass ich es zunächst bemerkte – ich arbeitete ausgehend von sozialwissenschaftlichen Modellvorstellungen –, entfaltete sich der Kern dieser Theorie aus einer Fotografie meines Vaters und des Schuhmachermeisters Johann Plach. Das Foto wurde nach dem ‚Anschluss‘ unterhalb des Friedhofes am Ufer der Thaya ‚geschossen‘. Beide Männer tragen die Parteiuniform der NSDAP, mit der Tellermütze und den Stiefeln; beide stehen breitbeinig da, so, als hätten sie Mühe, eine aufrechte Haltung zu bewahren, beide klammern sich mit den Händen am Gürtel – wo das Hakenkreuz leuchtet – fest. Die Uniform wirkt als zweite Haut, die das Innere, somit auch die Schwächen, verbirgt, und Macht und Selbstbewusstsein nach außen demonstrieren soll. Beim Betrachten des Bildes klang im Unbewussten ein Satz meines Vaters nach, den er einmal sagte: Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, würde ich jetzt eine große Firma im Osten lenken. Erst die Veröffentlichung der Pfarrchronik 1995 hat mir die NS-Vergangenheit meiner Familie wieder deutlich, nun konkreter, in die Erinnerung gebracht.106

105 106

Ernst Hanisch: NS-Herrschaft in der Provinz. Salzburg im Dritten Reich, Salzburg 1983. Zur Problematik der nächsten Generation vgl. Magrit Reiter: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck 2006.

Walter Kissling

„Ob Jude oder Christ, ob Hoch oder Nieder – wir wollen nur nach dem Menschen sehen.“ Bruchstücke für eine Geschichte des Wiener Alpinvereins „Donauland“ 1921–1938 und 1945–1976 Österreichische Juden und Jüdinnen, die in den Bergen alleine oder zusammen mit anderen wanderten, kletterten, Schi fuhren, haben in den sogenannten bürgerlichen Alpinverbänden1 – z.T. schon vor dem Ersten Weltkrieg,2 massiv aber ab 1920 – die Erfahrung von Zurückweisung und Ausschluss gemacht und sich in deren Folge im alpin-gesellschaftlichen Umfeld neu orientiert, entschieden, organisiert.3 Zurückgewiesen bzw. ferngehalten wurden sie zunächst vor allem von Wiener Alpinvereinen, die bereits einen sogenannten Arierparagraphen eingeführt hatten oder auch ohne einen solchen in der Praxis keine Juden aufnahmen.4 1 Damals der „Deutsche und Österreichische Alpenverein“ (DÖAV), der „Österreichische Gebirgsverein“ (ÖGV), der „Österreichische Touristenklub“ (ÖTK), der „Österreichische Alpenklub“ (ÖAK) und eine Reihe kleinerer Vereine. 2 Martin Achrainer: „So, jetzt sind wir ganz unter uns!“ Antisemitismus im Alpenverein, in: Hanno Loewy, Gerhard Milchram (Hg.), „Hast du meine Alpen gesehen?“ Eine jüdische Beziehungsgeschichte, Hohenems 2009, S. 288– 317, hier 289–293. 3 Für den Beitrag mehrfach herangezogene historische Quellen sind: Vereinsakt über „Donauland“ und Akt des Stillhaltekommissars aus dem Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA); Akten des Historischen Alpenarchivs der Alpenvereine in Deutschland, Österreich und Südtirol (Innsbruck, zit. als Alpenarchiv); Gemeinderatsprotokolle von Kals am Großglockner 1920–1955; Grundbuch des Bezirksgerichtes Lienz, KG Kals, zu EZ 80; Restitutionsakt zur Glorerhütte aus dem Tiroler Landesarchiv; Nachrichten der Sektion „Donauland“ bzw. des „Alpenvereins Donauland“ für 1921–1938, das Mitteilungsblatt des „Alpenvereins Donauland“ für 1954–1976 (alle zit. als DLN); Eduard Pichl: Wiens Bergsteigertum, Wien 1927, sowie die Festschrift zum 70jährigen Bestand des Zweiges Austria, D.u.Ö.A.-V., 1862–1932, Wien 1932. (Die Festschrift-Teile von S. 15–247 wurden, wie auf S. 247 vermerkt, von Eduard Pichl verfasst. Die Causa „Donauland“ wird insbesondere im Kapitel „Der Kampf gegen das Judentum im D.u.Ö.A.-V“, S. 149–172, abgehandelt.) 4 Die Wiener Alpine Gesellschaft „d’Reichensteiner“, ab 1910 als DÖAV-Sektion „Reichensteiner“, führte seit ihrer Gründung 1889 den sog. Ariereparagraphen in ihrer Satzung (Rainer Amstädter: Der Alpinismus. Kultur, Organisation, Politik, Wien 1996, S. 172); die 1905 gegründete Sektion „Wien“ führte ihn ebenfalls seit Gründung (Helmuth Zebhauser: Alpinismus im Hitlerstaat. Gedanken, Erinnerungen, Dokumente, hg. v. Deutschen Alpenverein, München 1998, S. 70); dasselbe gilt für die 1907 gegründete Wintersportvereinigung der „Akademischen Sektion Wien“, die „Akademische Sektion Wien“ selbst führte den Paragraphen formell seit Jänner 1921 (Amstädter, Alpinismus, S. 170), praktiziert hat sie ihn schon vorher (Mitteilung von Martin Achrainer); die Turner-Bergsteiger führten ihn seit ihrer Gründung 1919; der Österreichische Gebirgsverein seit August 1920, wobei er eigenen Aussagen zufolge schon Jahrzehnte vorher keine Juden aufgenommen hatte (Amstädter, Alpinismus, S. 273f.); der „Österreichische Touristenklub“ Wien führte die Regelung im April 1921 ein und mit Hauptversammlungsbeschluss

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Die Wiener „Austria“, älteste Sektion im Deutschen und Österreichischen Alpenverein und mit ca. 6000 Mitgliedern im Jahr 1920 eine der größten,5 hatte eine ‚liberale Aufnahmepraxis‘ und zählte im Gegensatz zu anderen Wiener Sektionen auch Juden zu ihren Mitgliedern. Das sollte sich bald ändern. In die Jahresversammlung der „Austria“, die am 22. Februar 1921 in der Volkshalle des Wiener Rathauses stattfand, wurde ein Satzungsänderungsantrag eingebracht: „Mitglieder der Sektion Austria können nur Deutsche arischer Abstammung werden.“6 Der Antrag scheiterte zwar noch an der dafür nötigen Dreiviertelmehrheit, gab aber mit der fast erreichten Zweidrittelmehrheit ein klares Bild davon, welche Vereinsausrichtung der Großteil der anwesenden Mitglieder wünschte. Mit einfacher Mehrheit gewählt wurde denn auch die Liste des apologetischen Schönerer-Biografen und radikalen Antisemiten Eduard Pichl, und damit ein rassistisch-völkisch dominierter „Austria“-Ausschuss.7 In der ersten Sitzung des neuen Ausschusses wurde der Vorstand gewählt, neben Pichl bestehend aus dem antisemitischen Turner Anton Baum und dem damaligen Leiter der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei, Walter Riehl, der in der Jahresversammlung Hauptredner für den Arierparagraphen gewesen war. Dieser Vorstand berief nun für den 27. Oktober 1921 eine außerordentliche Jahresversammlung ein. Hier erreichte der Apartheidantrag  – „Mitglieder der Sektion Austria können nur Deutsche, somit nur Arier werden“ (man beachte die Pointierung gegenüber dem Antrag vom Februar) – deutlich mehr als die erforderliche Dreiviertelmehrheit; von 2420 gültigen Stimmen waren nur 46 Gegenstimmen.8 Durch diese Vorgänge und eine entsprechende Vereinspublizistik wurden die jüdischen Mitglieder aus der Sektion „Austria“ hinausgedrängt; ihre Vertreter schrieben im März 1921 an den Hauptausschuss des DÖAV: Damit existiert tatsächlich in der Millionenstadt Wien keine einzige Sektion des Deutschen und Österreichischen Alpen-Vereines mehr, welche Mitglieder ohne Unterschied der Nation und Konfession aufnehmen würde und in der Sektion ‚Austria‘ ist für die nichtarischen

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von 1922 (97% Prostimmen) für den gesamten ÖTK, der damals ca. 27.000 Mitglieder hatte (ebda., S. 277f.); ÖGV und ÖTK traten mit 1. 1. 1931 als starke Sektionen dem DÖAV bei; der „Österreichische Alpenklub“ nahm ab 1921 keine Juden auf (Zebhauser, Alpinismus, S. 70), die Sektion „Austria“ nahm seit 1920 keine Juden auf (Karl Hanns Richter, Guido Mayer u. Oskar Marmorek am 21. 4. 1921 an alle Mitglieder des DÖAV-Hauptausschusses, Alpenarchiv OeAV, ZV 6/201) und änderte ihre Satzung dementsprechend im Okt. 1921 (Amstädter, Alpinismus, S. 272f.; „Austria“-Festschrift 1932, S. 156). „Austria“-Festschrift 1932, Anhang, Tab.1. Ebda., S. 151. Dessen Mitglieder genannt in: ebda., S. 153. Ebda., S. 155f.; Amstädter, Alpinismus, S. 273. Eduard Pichl hatte bei anderen rassistisch-völkischen Vereinen um den Beitritt von deren Mitgliedern zur Austria geworben; nach Verankerung des Arierparagraphen sind viele von ihnen wiederum aus der „Austria“ ausgeschieden.

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Mitglieder und für diejenigen, welche mit der neuen Tendenz und dem Hineintragen der Politik in die alpinen Vereine nicht einverstanden sind, keine Möglichkeit des weiteren Verbleibens.9

Da es nun in Wien keine Sektion mehr gab, welche Juden aufnahm, die meisten jüdischen „Austria“-Mitglieder aber Mitglieder im „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ (DÖAV) bleiben wollten, strebten sie die Gründung einer neuen Wiener Alpenvereinssektion an. Sie sollte „Donauland“ heißen.

Die Gründung der Sektion „Donauland“ 1921, ihr Ausschluss aus dem „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ 1924 und der unabhängige „Alpenverein Donauland“ 1925–1938 Guido Mayer10 und Oskar Marmorek nahmen Anmeldungen für den neuen Verein entgegen und schickten am 21. März 1921 eine Liste mit den Namen von 483 präsumtiven Mitgliedern, die von der Sektion „Austria“ kamen, samt Satzungsentwurf und Ansuchen um Genehmigung der Sektionsgründung an den Hauptausschuss des DÖAV in München.11 Die künftige „Donauland“ verstand sich nicht als jüdische Sektion, obwohl mehrheitlich Juden und Jüdinnen ihre Mitglieder sein würden. Zu ihr stießen auch nicht-jüdische Mitglieder, die mit der rassistisch-völkischen Orientierung und dem Führungsstil der „Austria“ bzw. des „Österreichischen Gebirgsvereins“, des „Österreichischen Touristenclubs“ und anderer Alpinvereine nicht einverstanden waren. Rainer Amstädter spricht für die erste Hälfte der 1920er-Jahre von ca. 20 Prozent nicht-jüdischen „Donauland“-Mitgliedern.12 Für Donaulands völkische Gegner dienten diese bloß zur „Tarnung“. Der Wiener Ortsausschuss, bestehend aus den elf in Wien ansässigen Alpenvereinssektionen, sprach sich im April 1921 einstimmig gegen „Donaulands“ Aufnahme in den DÖAV aus, was er als einen „Faustschlag ins Gesicht der Wiener Sektionen“ ansehen würde. Die Wiener Stellungnahme ist voll antisemitischer Klischees und drohte  9 Die Gründungsprotagonisten der künftigen Sektion „Donauland“, Guido Mayer u. Oskar Marmorek, am 21. 3. 1921 an den Hauptausschuss des DÖAV (Alpenarchiv, OeAV, ZV 6/201). 10 Zu dessen alpinistischen Leistungen vgl. Alpenarchiv, DAV PER 1 SG/1457/0; Amstädter, Alpinismus, S.193f. 11 Alpenarchiv, OeAV, ZV 6/201. 12 Amstädter, Alpinismus, S. 281, allerdings ohne Erläuterung oder Quellenangabe. – Ein nicht jüdisches Mitglied war der ebenfalls von der „Austria“ kommende erste Obmann der Sektion „Donauland“, Karl Hanns Richter. Nach Richters Einberufung zur Deutschen Wehrmacht wurde „seine nichtarische Ehefrau [...] mit unbekanntem Ziel abtransportiert, und man hat von ihr fernerhin nichts mehr gehört“ (Robert Hösch: Karl Hanns Richter, 2. Juli 1886 – 29. Jänner 1975, in: Österr. Alpenzeitung 93 [1975], S. 116–118). Richter war seit 1909 Mitglied des alpinistisch hochselektiven „Österreichischen Alpenklubs“, galt als „überzeugter Pazifist“, wurde im Ersten Weltkrieg mehrfach ausgezeichnet und bekleidete im Zweiten Weltkrieg den Rang eines Majors (In Memoriam Karl Hanns Richter, in: Österr. Touristenzeitung. Mitteil. d. ÖTK 88 [1975], S.29).

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bereits damals mit Abspaltung vom DÖAV.13 Der Verwaltungsausschuss des DÖAV erhob Einspruch gegen den § 2 des „Donauland“-Satzungsentwurfs, der vorsah, dass die Aufnahme von Mitgliedern nicht abhängig gemacht werden dürfe von nationalen, konfessionellen oder sozialen Momenten. In dieser Bestimmung schien der DÖAV eine ‚Gefährdung des deutschen Vereinscharakters‘ gesehen zu haben, wofür es aber keine realen Anzeichen gab – ein massenhafter Zuzug tschechischer oder aus Galizien geflüchteter Alpinisten in den „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ stand nicht bevor; es handelte sich wohl eher um ein altbekanntes Bekenntnis des DÖAV, an das dieser gegenüber der neuen Sektion erinnern wollte.14 Deren Initiatoren antworteten denn auch prompt, „dass selbstverständlich die Sektion ‚Donauland‘ als ausgesprochen deutscher Verein stets gedacht war und gedacht ist“ und man mit der Streichung dieses Passus aus der Satzung einverstanden sei.15 Bestehen blieb die Aussage „Im Rahmen dieser Sektion ist jede partei-politische Betätigung untersagt“.16 Sie hatte im aktuellen Kontext nicht die Bedeutung einer Selbstdisziplinierung (wozu es keinen Anlass gab), sondern implizierte den Vorwurf, einige Sektionen würden eine der DNSAP entsprechende rassistisch-völkische Agitation betreiben; auch bot sie dem möglichen Klischee einer „bolschewikischen Judensektion“ Paroli. Nach dieser Satzungskorrektur beschloss der Hauptausschuss 13 Schreiben v. 20. 4. 1921 an den Hauptausschuss d. DÖAV in München, Alpenarchiv, OeAV, ZV 6/201. 14 Allerdings gewann das Thema der Fremden im Alpenverein zunehmend an Bedeutung; bei seiner Hauptversammlung im Jahr 1923 setzte sich der DÖAV mit dem Thema Ausländer auseinander: Soll man nicht-deutsche Ausländer aufnehmen? Soll für ausländische Mitglieder eine 5- oder 10jährige Wartefrist eingeführt werden und sollen sie erst nach deren Ablauf auf Hütten Vergünstigungen erhalten? Sollen sie einen höheren Mitgliedsbeitrag oder auf Hütten einen Zuschlag bezahlen? „Valutastarke Ausländer“ würden sich auf den Hütten breitmachen und von Wirten und Führern bevorzugt werden. Der Sprecher der rassistisch-völkischen Sektion „Mark Brandenburg“ berichtete, seine Sektion habe einer Gruppe französischer und belgischer Bergsteiger den Zutritt zu ihrem in den Ötztaler Alpen gelegenen Brandenburgerhaus verwehrt. Zwar werden entsprechende Anträge in der Hauptversammlung wieder zurückgezogen oder abgelehnt, aber der Berichterstatter zu diesem Tagesordnungspunkt, Verwaltungsausschuss-Mitglied Adolf Sotier, fordert dazu auf, Sektionen zu melden, die „feindliche Ausländer“ aufnehmen würden (Verhandlungsschrift der 49. Hauptversammlung des DÖAV in Bad Tölz, S. 22–27, Alpenarchiv, OeAV, ZV 1/1). Die Äußerungen scheinen einer Gemengelage zu entspringen: Ablehnung von Staatsbürgern der siegreichen „Feindmächte“ und Ausübung kleiner Rachehandlungen an ihnen, wirtschaftliche Unterlegenheit und schließlich der Versuch, das schwierige und kontroversielle Thema eines von vielen Alpinisten als bedrohlich wahrgenommenen rasanten Zuwachses an Bergwanderern und Alpenvereinsmitgliedern durch Ausgrenzung von Ausländern (und Juden) reduktionistisch, stellvertretend, symbolisch zu „lösen“. Die zeitgenössische alpinistische Kulturkritik sah im Mitgliederzuwachs eine Vermassung und Verflachung des Alpenvereins bzw. seiner Ziele. „Insbesondere der Zuwachs zwischen 1919 und 1923 wird“ – so Dagmar Günther in ihrer alpinhistorischen Arbeit  – „als Scheingewinn, als inflationsbedingte Sumpfblüte verbucht und als ‚moralische Proletarisierung‘ des Alpenvereins abgewertet.“ Die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen dieser Phase alpinistischer Kulturkritik und der Ausgrenzung von Juden und Ausländern, die in dieser Phase eine Hoch-Zeit hatte, wird von Günther nicht thematisiert. (Dagmar Günther: Alpine Quergänge. Kulturgeschichte des bürgerlichen Alpinismus [1870–1930], Frankfurt a.M. 1998, S. 82). 15 Karl Hanns Richter, Guido Mayer u. Oskar Marmorek am 10. 5. 1921 an den DÖAV-Hauptausschuss, Alpenarchiv, ZV 6/201. 16 „Donauland“-Satzung 1921, Alpenarchiv, OeAV, ZV 6/221.

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am 12. Mai 1921 mit 14 Pro- und 12 Kontrastimmen die Aufnahme der Sektion „Donauland“ in den „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“.17 Am 28. Mai 1921 erteilte der Wiener Magistrat der Sektion „Donauland“ „die Bescheinigung ihres gesetzmäßigen Bestandes als Zweigverein“.18 Am 3. Juni 1921 konstituierte sich die Sektion in der gründenden Generalversammlung und wählte den Ausschuss bzw. Vorstand.19 Den größten Anteil an Ausschussmitgliedern stellten „Privatbeamte“ und „Fabrikbeamte“, flankiert von einigen freiberuflich Tätigen bzw. von Unternehmern. Angehörige des öffentlichen Dienstes, Arbeiter und Handwerker fanden sich im Ausschuss kaum. Wie auch in anderen Sektionen waren Frauen keine Ausschussmitglieder. Diese Ausschussstruktur blieb grosso modo bis 1938 erhalten. „Donauland“ selbst bezeichnete den Großteil ihrer Mitgliederschaft als der Mittelschicht zugehörig.20 Die folgenden dreieinhalb Jahre der Sektion „Donauland“, bis zum Tag ihres Ausschlusses in der Hauptversammlung vom 14. Dezember 1924, waren zum einen geprägt von Angriffen auf die junge Sektion und zum anderen von deren erfolgreicher Entwicklung. Das Ziel der Angriffe war, „Donauland“ aus dem „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ fortzuschaffen, „den Fremdkörper aus dem gesunden Leib des Vereins zu entfernen“.21 Zu diesem Zweck wurde 1922 in Österreich der „Deutsch-völkische Bund“ (DVB) gegründet, ein Sektionenverband, dem bis 1924 von insgesamt 108 österreichischen Alpenvereinssektionen (incl. „Donauland“)22 ca. 100 österreichische Sektionen angehörten sowie aus Deutschland die beiden Münchner Sektionen „Oberland“ und „Hochland“ und die „Akademische Sektion Dresden“.23 Zwischen 1922 und 1924 fanden in Österreich acht Tagungen dieses Bundes statt, 17 Protokoll der 24. Sitzung des Hauptausschusses des D.u.Ö. Alpenvereins am 12. Mai in München, S. 11, Alpenarchiv, OeAV, ZV 6/201. Für die Aufnahme von „Donauland“ sprachen sich besonders aus: Johann Stüdl, einziger noch lebender Mitbegründer des Deutschen Alpenvereins, Josef Donabaum, 3. Vors. d. DÖAV und vor der rassistisch-völkischen Umwälzung in der „Austria“ deren Obmann, im Beruf Historiker und Bibliothekar der Wiener Universitätsbibliothek, 1918–1922 Direktor der Hof- bzw. Nationalbibliothek (Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. 1, Wien 1957, S. 194); Reinhold v. Sydow, 1. Vorsitzender des DÖAV, Spitzenbeamter im Dt. Kaiserreich, 1908–1918 preuss. Handelsminister. 18 Schreiben des Wr. Magistrats an den prov. Obmann Karl Hanns Richter, ÖStA-AdR, BKA/VB, Donauland XIV-166. 19 Der Vereinsvorstand bestand aus: Karl Hanns Richter (Obm.), Dr. Guido Mayer (1. Stv.), Oskar Marmorek (2. Stv.), Paul Fabri (1. Kass.), Franz Utitz (2. Kass.) Dr. Robert Baum (1. Schriftf.), Otto Margulies (2. Schriftf.); weitere Ausschussmitglieder: Dr. Joseph Braunstein, Eugen Pieszczek, Ing. Mano Mandl, Julius Stefansky, Leo Pech, Louis Goldschmied, Ernst Ganauer, Fritz Benedikt, Ing. Rudolf Saxl, Dr. Ernst Pechkranz und Rudolf Troidl. Vgl. DLN Nr. 1 (1.8.1921), S. 2, o. Pag. 20 Jahresbericht über das sechste Vereinsjahr (1926), in: DLN (1926), S. 174–179, hier174. 21 „Austria“-Festschrift 1932, S. 182. 22 Bestandsverzeichnis des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins, Beilage zu den Vereinsnachrichten Nr. 5 (1925) (Mitgliederstand vom 31. Dezember 1924). 23 Pichl gibt den Mitgliederstand des DVB für den 16. 11. 1924 mit „98 österreichischen und 3 reichsdeutschen Sektionen“ an („Austria“-Festschrift 1932, S. 167). Zur Rolle der zwei Münchner Sektionen (und konträr anderer Münchner Sektionen) beim Ausschluss der „Donauland“ vgl. Nicholas Mailänder: Im Zeichen des Edelweiss. Die Geschichte Münchens als Bergsteigerstadt, Zürich 2006, S. 141–163.

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bei denen die Vorgangsweise gegenüber dem Hauptausschuss, den deutschen Sektionen und für die Hauptversammlungen abgestimmt wurde. Als zweites Instrument dienten die „Österreichischen Sektionentagungen“, deren Sitzungen zwar oft unter einem mit jenen des DVB abgehalten wurden, aber als ‚zweites Referenzsystem‘ die taktischen Möglichkeiten erweiterten. Rückblickend beschrieb Eduard Pichl die Schwierigkeit, mit der die antisemitischen Sektionen aus Österreich konfrontiert waren: Die Auffassung der allermeisten reichsdeutschen Sektionenvertreter war in völkischer Hinsicht, besonders in Bezug auf die ihnen unbekannte Wichtigkeit der Juden- und Rassenfrage [...] von unserer grundverschieden, so dass wir uns erst der Art unserer Freunde im Reich anpassen mussten, um nicht die Hauptsache zu gefährden. Und gerade die zähe, leidenschaftslose, nicht eine Spur von Radau an sich tragende Art, mit der von uns der Kampf geführt wurde, errang den Sieg.24

In den dreieinhalb Jahren der Zugehörigkeit „Donaulands“ zum „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ hielt der DÖAV fünf Hauptversammlungen ab; die Hauptversammlung war nach Kompetenz und Zahl der Beteiligten das gewichtigste Organ des Gesamtvereins. In den Protokollen von drei Versammlungen (1922, 1923 und Juli 1924) nahm die Diskussion um „Donauland“ unter zahlreichen zu behandelnden Tagesordnungspunkten mit einem Drittel des Protokollumfangs den jeweils größten Raum ein;25 die Hauptversammlung vom 14. Dezember 1924 in München hatte dann nur noch ein einziges Thema: „Donauland“ bzw. ihren Ausschluss. Da einerseits „Donauland“ nicht bereit war, aus dem DÖAV ‚freiwillig‘ auszutreten26 (was ihr als Zwietrachtsäen und als Zerstörungswerk am Alpenverein vorgehalten wurde) und da andererseits die völkischen, insbesondere die österreichischen Sektionen erkannten, dass sie mit einer auf Antisemitismus beschränkten Argumentation sowohl im Hauptausschuss als auch in der Hauptversammlung vermutlich in der Minderheit bleiben würden, kamen die österreichischen Sektionen in eine Zwickmühle. Entweder sie machten ihre seit „Donaulands“ Aufnahme als Alpenvereinssektion immer wieder in den Raum gestellte Abspaltungsdrohung nicht wahr und würden nach solchem Drohaufwand künftig eher als völkischer ‚Popanz‘ gelten, oder aber sie machten die Drohung wahr, spalten sich ab – und zerreißen damit „das einzige ideale Kulturband, das die Deutschen des Deutschen Reiches und Österreichs noch in einer festen Organisation verbindet“.27 Allein schon der Name „Deutscher und Österreichischer Alpenverein“ und

24 „Austria“-Festschrift 1932, S. 159. 25 In der HV 1923 standen darüber hinaus auch die Anträge 10, 11 u. 12 betr. Hütten- u. Wegebauordnung in ursächlichem Zusammenhang mit der Sektion „Donauland“, auch wenn diese dabei nicht genannt wurde. 26 Die außerordentl. Mitgliederversammlung der Sektion „Donauland“ des D.u.Ö.A.V (14. 10. 1924), in: DLN (1924), S. 165–172, hier 172; Vgl. auch Neue Freie Presse (15. 10. 1924). 27 Robert Rehlen, 2. Vors. d. DÖAV, in Verhandlungsschrift der a.o. Hauptvers. d. D.u.Oe. Alpenvereins zu München am 14. Dez. 1924, in: Mittlg. des Dt. u. Oesterr. Alpenvereins 2 (31.1.1925), S. 13–20, hier 13.

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Abbildung 1: „Denkschrift der Österreichischen Sektionen des D. u. Ö. Alpenvereins in der Angelegenheit ‚Donauland‘ “ (S. 2), Wien, im November 192428

eine Zahl von 220.00028Mitgliedern29 hatte in der damals politisch breit aufgestellten österreichischen Anschlussbewegung einen hohen symbolischen Stellenwert. Eine Abspaltung hätte die hundert völkischen Alpenvereinssektionen aus Österreich als eher kleinkarierte Spießgesellen erscheinen lassen und ihr antisemitisches Vorgehen in diesem Fall touchiert. Deshalb haben sie ihre antisemitischen Klischees unterbaut mit einer empirisch scheinbar abgesicherten Argumentation. Letztere wurde vom Hauptausschuss übernommen und von ihm, als das dem Anspruch nach über den Streitparteien stehende Vereinsorgan, in einer sachlich erscheinenden Aussendung allen Sektionen zugestellt (s. Abb. 1).30 Der „Deutsch-völkische Bund“ bzw. die ca. 28 Alpen-Archiv, OeAV, ZV/6/213. 29 Bestandsverzeichnis des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Beilage zu den Vereinsnachrichten Nr. 3 (April 1924). 30 Hauptausschuss-Aussendung, „Donauland“-Gegenschrift und Kommentar „Donaulands“ abgedruckt in DLN (1924), S. 188–198.

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hundert österreichischen Sektionen hatten „in der Angelegenheit ‚Donauland‘ “ eine 24  Seiten umfassende „Denkschrift“ erstellt, die sie ebenfalls an alle Sektionen verschickten (s.Abb.1).31 Die Seite zwei der „Denkschrift“ präsentierte ihren Lesern – v.a. den Vorständen deutscher Sektionen, deren Haltung für das Abstimmungsergebnis der Hauptversammlung entscheidend sein wird – in vier Punkten eine antisemitische „Donauland“-Charakteristik. Diese wird aber auf den folgenden 19 Seiten gleichsam abgestützt durch eine kohärente Darlegung von (scheinbarer) Faktizität – als „Beweise“ benannt und ins Treffen geführt für die ‚Rechtmäßigkeit‘ der vorgestellten „Donauland“-Charakteristik. Damit sollte es dem „Deutsch-völkischen Bund“ gelingen, seine für viele deutsche Sektionenvertreter nicht nachvollziehbare antisemitische Agitation rückwirkend in einen (schein-)sachlichen Diskurs einzubinden. Die aus Österreich kommende „Denkschrift“ hatte eine zweifache Funktion: als Medium der Verleumdung war ihr Zweck der Ausschluss der Sektion „Donauland“ und nebenbei war sie ein Medium der Plausibilisierung des Antisemitismus im deutschen Bergsteigermilieu. Der Hauptausschuss schickte seine Aussendung aus, ohne ein Schiedsverfahren eingeleitet oder wenigstens eine Stellungnahme „Donaulands“ zu den Vorwürfen eingeholt zu haben,32 was diese veranlasste, von „Justizmord“ zu sprechen.33 Die Vorwürfe bestanden im Verstoß gegen Reglements des DÖAV, wobei es sich im Kern um zwei konkrete Vorwürfe handelte: den Kauf der Mainzerhütte in der nördlichen Glocknergruppe ohne formal korrekte Zustimmung des Hauptausschusses (der Kauf wurde vom DÖAV rückgängig gemacht) und den Wegebau in der südlichen Glocknergruppe ohne Zustimmung des für dieses Gebiet zuständigen „Deutschen Alpenvereins Prag“. Während Verstöße dieser Art, auf die ich im Zusammenhang von Donaulands Hütten und Wege noch zu sprechen komme, bei anderen Sektionen ohne nachhaltige Folgen blieben, schloss die Hauptversammlung im Deutschen Theater in München die Sektion „Donauland“ am 14. Dezember 1924 mit 1.663 gegen 190 Stimmen aus dem „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ aus.34 Dass sich auch die deutschen Sektionen schließlich mit deutlicher Mehrheit für den Ausschluss „Donaulands“ und damit gegen das Rechtsprinzip aussprachen, hatte mehrere Gründe: (a) die Abspaltungsdrohung der österreichischen Sektionen und daraus gefolgerte vereinspolitische Überlegungen, welche sich nicht nur auf das staatenübergreifende „ideale Kulturband“ bezogen, sondern auch auf pragmatische Vorteile wie z.B. die Begünstigungen deutscher Sekti31 Eduard Pichl schreibt, die „Denkschrift der Österreichischen Sektionen“ sei von ihm verfasst, in einer Auflage von 3000 Stück gedruckt und an alle Sektionen verschickt worden. („Austria“-Festschrift 1932, S.167). 32 § 26 der DÖAV-Satzung sieht für Streitfälle ein Schiedsgericht vor; zudem beschloss 1921 die Hauptversammlung gerade für die Schlichtung von Streitigkeiten über Arbeitsgebiete (Wegebau, Hütten), wie sie hier vorlagen, umfänglichste Reglements. (Verhandlungsschrift der 47. Hauptversammlung des D. u. Oe. Alpenvereins zu Augsburg am 15. Aug. 1921, S. 28–31, Alpenarchiv, OeAV, ZV 1/1.) 33 Aussendung der Sektion Donauland v. 25. 11. 1924 an die reichsdeutschen Sektionen, abgedruckt in DLN (1924), S. 190–196, hier 196. 34 Verhandlungsschrift der außerordentlichen Hauptversammlung des D. u. Oe. Alpenvereins zu München am 14. Dez. 1924, S. 20, Alpenarchiv, OeAV, ZV 1/1.

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onsmitglieder auf Hütten österreichischer Sektionen; (b) die Akzeptanz jener 1924 vorgebrachten scheinbar sachlichen Ausschließungsgründe als „nackte Tatsachen“;35 (c) die Zusage der österreichischen Sektionen, im Falle des Ausschlusses von „Donauland“ acht Jahre lang keine auf „Arifizierung“ des Gesamt(!)-Vereins gerichteten Anträge einzubringen; damit verbunden (d) der Wunsch, durch den Ausschluss der Sektion „Donauland“ mit dem Thema künftig in Ruhe gelassen zu werden („Wir sind die fortgesetzten Scherereien in den letzten vier Jahren satt.“).36 Richteten sich diese Vorgangsweisen der völkischen Sektionen gegen die Sektion „Donauland“ als Verein, so erlebte das einzelne „Donauland“-Mitglied seine Diskriminierung durch völkische Sektionen in deren Alpenvereinshütten, wo es sich mit Plakaten mit der Aufschrift „Juden und Mitglieder des Vereines ‚Donauland‘ sind hier nicht erwünscht“ konfrontiert sah, und wo es (manchmal bestenfalls) wie ein Nicht-Vereins-Mitglied behandelt wurde, d.h. satzungswidrig keine „Schlafplatzzuweisung“ oder keine Begünstigung bei der Nächtigungsgebühr erhielt.37 Solche Vorgänge bezeichnete die liberal-deutschnationale Burschenschaft „Constantia“ im Nachruf auf ihr Mitglied Otto Margulies, Ausschussmitglied der „Donauland“ und Mitglied der Alpinistengilde der „Naturfreunde“, als charakteristisch für den alpinistischen Antisemitismus in Österreich: Wenn jemand das Schicksal der Deutschen in Österreich darstellen wollte, die keinen garantiert germanischen Stammbaum aufweisen, dann müßte er den Augenblick festhalten, da dem einbeinigen Otto Margulies, dem Sohn eines deutschen Juden und einer deutschen Arierin, das Nachtlager in der Schutzhütte von jenen verwehrt wurde, die ihr Natur- wie ihr Nationalgefühl vornehmlich dadurch bekunden, dass sie das der anderen nicht anerkennen.38 35 So die Bezeichnung durch Robert Rehlen, Berichterstatter in d. Causa „Donauland“ und 2. Vors. d. DÖAV, in: ebd., S. 19. 36 Der Vertreter der Sektion „Halle“, in: Verhandlungsschrift der 50. Hauptversammlung d. D. u. Oe. Alpenvereins zu Rosenheim, am 20. 7. 1924, S. 35, Alpenarchiv, OeAV, ZV 1/1. – Der „Verband nationaldeutscher Juden“ spricht in seiner Anfang 1925 abgegebenen öffentlichen Stellungnahme zum „Donauland“-Ausschluss von „nachträglich herangezogenen ‚Verfehlungen‘ “ der Sektion, welche für den Ausschluss „nur den Vorwand haben abgeben müssen“. Ein großer Teil selbst nicht judenfeindlicher Sektionen, die für den Ausschluss gestimmt haben, habe sich „in bedauerlicher Energielosigkeit von den judenfeindlichen Sektionen ins Schlepptau nehmen lassen“. Zit. nach Matthias Hambrock: Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921–1935, Köln 2003, S. 446. 37 Plakat z.B. bei Amstädter, Alpinismus, S. 290. – Bereits zwei Monate nach Aufnahme der Sektion Donauland in den DÖAV teilte die „Austria“ mit: „Mitglieder der S. ‚Donauland‘ genießen in den Schutzhütten der S. ‚Austria‘ keinerlei Begünstigungen.“ Nachrichten der Sektion „Austria“ 4–6 ([ Juli] 1921), S. 18. Nach Martin Achrainer ging nicht nur die „Austria“ so vor, sondern alle 19 im Wiener und niederösterreichischen Sektionenverband zusammengefassten Alpenvereine (Achrainer, Antisemitismus, S. 300). 38 Deutsche Hochschule. Zeitschr. d. Burschenbunds-Convents, BC, Verbandes National-Freiheitlicher Corporationen 15 (1926), S. 4. Vgl. Beschwerde von Otto Margulies und Rudolf Saxl über Guttenberghaus, 16.6.1924, mit weiterem Schriftverkehr, Alpenarchiv, OeAV, ZV/6/224. – Nach einem Bergunfall auf der Rax verlor der 18jährige Margulies infolge Sepsis ein Bein; mit einer Beinprothese erlernte er das Gehen schwieriger Touren, das Klettern und Schifahren. Für die „Donauland“-Nachrichten verfasste er einen ausführlichen Beitrag „Über die Möglichkeit des invaliden Bergsteigers“, in: DLN (1923), S. 39–43 u. 97f.). 1925 verunglückte er 26-jährig tödlich bei einem Wettersturz im Gesäuse. Im selben Jahr brachte „Donauland“ einen kleinen Band mit einer Auswahl seiner Schriften heraus: Otto Margulies, Besinnliche Fahrten. Ein Buch der Erinnerung.

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Die ausgeschlossene Sektion „Donauland“ konstituierte sich in der Jahresversammlung vom 27. Jänner 1925 als unabhängiger „Alpenverein ‚Donauland‘“. Jene Satzungsbestimmung, derzufolge nationale, konfessionelle oder soziale Momente keinen Einfluss auf die Aufnahme in den Verein haben dürfen, und die der DÖAV 1921 hinausreklamiert hatte, wurde jedenfalls in die Satzung aus dem Jahr 1933 als deren § 4 wiederum aufgenommen.39 Trotz der massiven Angriffe in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zum „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ zeigte die Sektion „Donauland“ und ab 1925 der „Alpenverein Donauland“ zwischen 1921 und 1938 eine beachtliche ‚Performance‘ hinsichtlich Mitgliederzahlen, alpinistischen Leistungen, Touren- und Kursangeboten, Bibliothek und Vereinsnachrichten sowie nicht zuletzt bei Schutzhütten und im Wegebau. Die aus der Sektion „Austria“ hinausgedrängten Mitglieder kamen von einer bereits 1862 (als „Österreichischer Alpenverein“ und 1874 als Sektion des DÖAV) gegründeten wohlhabenden Sektion, die in der Lage war, in der langen Zeit ihres Bestehens und aufgrund einer großen Mitgliederzahl sich alle jene materiellen Bedingungen zu schaffen, die für eine erfolgreiche Vereinstätigkeit erforderlich waren; so besaß sie (im Jahr 1921) auch acht bewirtschaftete Schutzhütten in besten alpinen Lagen, die Eröffnung zweier weiterer sollte im Laufe der nächsten drei Jahre erfolgen. Demgegenüber hatten die Bergsteiger und Bergsteigerinnen, die sich in der neu gegründeten Sektion „Donauland“ zusammenfanden, zunächst keine Infrastruktur und kein Vereinsvermögen, d.h. kein Sekretariat, kein Vereinslokal, kein Nachrichtenblatt und keine Schutzhütten. Das war den aus dem DÖAV Vertriebenen wohl bewusst, wie aus einem Schreiben der in Gründung befindlichen „Donauland“ von April 1921 an den Hauptausschuss des DÖAV hervorgeht: Jene Personen, welche von der „Austria“ kommend sich in der „Donauland“ neu organisierten, „haben den Entschluss, die alte Sektion zu verlassen und das ansehnliche Sektionsvermögen, die schönen Hütten und die herrliche Bibliothek, an deren Schaffung sie ja mitgewirkt haben, gewalttätigen Eroberern zu überlassen, nur schweren Herzens gefasst“.40 Abgesehen von bewirtschafteten Hütten schafften sich die „Donauland“-Mitglieder sehr rasch die für ihr Vereinsleben notwendige Infrastruktur. Mit 1. August 1921 erschien die erste Nummer der „Nachrichten der Sektion Donauland des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins“, eine „Geschäftsstelle“ war bereits eingerichtet, im April 1922 wurde das „Sektionsheim“ bezogen, das neben Vorraum, Kanzlei und Sitzungszimmer „ein großes Bücherei- und Lesezimmer“ aufwies und „nächst der inneren Stadt gelegen“ war,41 in der Langegasse 76, Tiefparterre – Vereinsheim bis 1938. Zu hochalpinen Schutzhütten zu kommen sollte sich für „Donauland“ allerdings als ein wesentlich schwierigeres Vorhaben erweisen. 39 Satzung 1925 im Vereinsakt nicht vorhanden. Genehmigung d. Satzung 1933 durch Wiener Landesregierung am 20. März 1933, ÖStA-AdR, BKA/VB, Donauland XIV-166. 40 Die Vereinspromotoren Guido Mayer, Oskar Marmorek und Karl Hanns Richter am 21. April 1921, Alpenarchiv, OeAV, ZV 6/201. 41 Unser Sektionsheim, in: DLN Nr. 7 (.1.2.1922), S. 5 (o. Pag.).

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Ein gutes halbes Jahr nach ihrer Gründung, zu Jahresende 1921, hatte die Alpenvereinssektion „Donauland“ bereits 2124 Mitglieder,42 ein Jahr später war sie mit 3074 Mitgliedern in Wien zur zweitstärksten Sektion geworden, in Österreich war sie nach den Sektionen „Austria“ und „Innsbruck“ die drittstärkste und im DÖAV die siebentstärkste Sektion.43 Der Ausschluss der Sektion aus dem DÖAV im Dezember 1924, der sich bereits während des Jahres abzeichnete, führte zu einem nur geringen Mitgliederverlust von ca. hundert Personen.44 Danach stieg die Mitgliederzahl wieder kontinuierlich an und erreichte im Vereinsjahr 1930 (Ende Oktober) den Höchststand von 3850 Mitgliedern.45 Über die Vereinsjahre 1932 und 1933 erfolgte ein Verlust von ca. 800 Mitgliedern, was mit der wirtschaftlichen Situation begründet wurde.46 Im Jahresbericht 1936 hieß es: „Der touristische Verkehr leidet stark unter der Wirtschaftskrise, und man darf sich deshalb nicht wundern, wenn von einer Touristendämmerung gesprochen wird, die sich in einem ständigen Mitgliederrückgang bei den alpinen Vereinen anzukündigen scheint.“47 Vor allem wegen der Fahrtkosten wurde Bergsteigen zu einem teuren Sport. Im Vereinsjahr 1937 war die Mitgliederzahl auf 2573 Personen gesunken; in den beiden Vereinsjahren 1936 und 1937 verlor „Donauland“ mit ca. tausend Personen 27 Prozent ihres Mitgliederstandes.48 Am 1. August 1921, zwei Monate nach Vereinsgründung, erschien die erste Nummer des Mitteilungsblattes; im Geleitwort lädt der Sektionsausschuss „zum regsten Gedankenaustausch“ ein, erhofft sich aber, dass das Blatt auch über die angefeindete Sektion „innerhalb des Gesamtvereines aufklärend wirken“ möge.49 Der erste vollständige Jahrgang 1922 umfasste zwölf Ausgaben mit zusammen 124 zweispaltig gesetzten Seiten im Quartformat (31 x 24 cm), ein Umfang, der auch die Aufnahme von Artikeln größerer Länge ermöglichte. 1925 betrug der Jahrgangsumfang 200 Seiten. (Die „Austria“-Nachrichten, ebenfalls in Quartformat, erschienen 1922 mit sieben Ausgaben und einem Jahrgangsumfang von 50 Seiten; 1925 waren es sechs Ausgaben und 88 Seiten.) Ein Jahrgangs-Inhaltsverzeichnis wird geführt, Beiträge aus dem nicht-deutschsprachigen Ausland werden (in Übersetzung) gebracht. In der Rubrik „Fahrtenberichte“ werden in Nr. 2 der Nachrichten, „neue Bergturen [Erstbegehungen, W.K.], selten durchgeführte oder noch nicht beschriebene Fahrten“ der Mitglieder mitgeteilt. Wiederholt wird aufgerufen, solche Kurzberichte zur Verfügung zu stellen, und darauf hingewiesen, „von welcher Wichtigkeit [...] gerade für unsere so vielfach angefeindete Sektion ein

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Jahresbericht der Sektion „Donauland“ über das erste Vereinsjahr (1921), in: ebda., S. 2–4, hier 3 (o. Pag.). Statistisches zum Bestand des D.u.Oe.A.V. (Stand v. 31. Dez. 1922), in: DLN (1923), S. 60. Jahresbericht der Sektion „Donauland“ über das vierte Vereinsjahr (1924), in: DLN (1925), S. 31–35, hier 35. Jahresberichte, in: DLN (1926), S. 8 u. 177; (1927), S. 166; (1928), S. 144; (1929), S. 141; (1930), S. 120. Jahresberichte, in: DLN (1932), S. 130 u. (1933), S. 134. Jahresbericht, in: DLN (1936), S. 174. Jahresberichte, in: DLN (1931), S. 136; (1932), S. 130; (1933), S. 134; (1934), S. 134; (1935), S. 213; (1936), S. 178; (1937), S. 169. 49 Zum Geleit, in: DLN Nr. 1 (1. 8. 1921), S. 1 (o. Pag.).

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möglichst lückenloses und umfangreiches Bild vollbrachter alpiner Leistungen ist“.50 Mit Stolz wird mitgeteilt, wenn ein Mitglied („unser Mitglied“) in einem Bewerb, z.B. des „Allgemeinen Österreichischen Skiverbandes“, einen Meistertitel erreichte.51 Der Nachweis alpinistischer Leistungsfähigkeit sollte nicht nur die Stellung der neuen Sektion innerhalb der Alpinvereine festigen; das Erbringen alpinistischer Leistungen bot auch die Möglichkeit – wie Leistungen in dem 1909 gegründeten jüdischen Allroundsportklub Hakoah oder das Fechten in Studentenverbindungen –, sich als Jude eine von antisemitischen Klischees absetzende Identität aufzubauen.52 Für die jüdischen Heranwachsenden waren positive Gegenkonzepte einer jüdischen Identität notwendig, denn sie liefen Gefahr, sich selbst zu stigmatisieren, indem sie die antisemitischen Bilder internalisierten und diese zum Bestandteil ihrer jüdischen Identität werden ließen. Dagegen war es wichtig, dass dem Bild des ‚schwachen Juden‘ das Gegenbild von sportlichen, starken und selbstbewußten Juden und Jüdinnen entgegengestellt wurde.53

Die Rezeption alpinistischer Leistungen – welche bis heute mit den Namen der Begeher und Begeherinnen, mit Datumsangabe der Begehung und z.T. auch mit Quellenangabe in der hochalpinen Tourenführerliteratur vermerkt und dadurch für ein großes Publikum sichtbar werden54 – dürfte im Falle der Leistungen von Mitgliedern der „Donauland“ selektiv gewesen sein. Der Alpinhistoriker und Bergführer Rainer Amstädter spricht sogar davon, dass deren Leistungen damals seitens des Alpenvereins totgeschwiegen worden seien.55 50 DLN Nr. 7 (1. 2. 1922), S. 2 (o. Pag.). 51 DLN (1937), S. 65. Als der „Österreichische Skiverband“ 1923 den sogenannten Arierparagraphen einführte, traten einige seiner Vereine aus und gründeten 1924 den „Allgemeinen Österreichischen Skiverband“ (vgl. Andrea Wachter: Antisemitismus im österreichischen Vereinswesen für Leibesübungen 1918–1938 am Beispiel der Geschichte ausgewählter Vereine, Diss. Univ. Wien 1983, S. 131–155). Die Schivereinigung der „Donauland“ war Verbandsverein des „Allg. Österr. Skiverbandes“; vgl. z.B. DLN (1932), S. 131. 52 Was die Profilierung von Juden als mutige und regelkonforme Fechter im akademischen Milieu betraf, war es Eduard Pichl, der sich als „Gothia“-Mitglied massiv bemühte, das schon von Arthur Schnitzler im vierten Buch seiner Biografie „Jugend in Wien“ beschriebene „Waidhofener Prinzip“ der „Genugtuungsverweigerung“ – da Juden ehrlos seien, seien sie auch nicht satisfaktionsfähig – unter den Burschenschaften und anderen studentischen Körperschaften durchzusetzen; was für jüdisch Korporationsmitglieder, die einer schlagenden Verbindung angehörten, neben der Kränkung auch eine gewisse Abwertung sportlichen Säbelfechtens bedeutete. 53 Albert Lichtblau: Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn. Österreichisch-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart, in: Eveline Brugger et al. (Hg.), Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, S. 447–565, hier 505. 54 Z.B. Hocheiser, Erstersteigung über Südwestwand: „R. Gerin, M. Hilber und R. Szalay, 15. 7. 1924, [...] ÖAZ 1924/233.“Willi End: Glocknergruppe und Granatspitzgruppe. Alpenvereinsführer, München 2011, S. 493. 55 Amstädter, Alpinismus, S. 282; vgl. auch die Rezension von Eduard Pichls 1927 erschienenem Buch „Wiens Bergsteigertum“ durch Joseph Braunstein, in der dieser Pichl nachweist, Leistungen von Juden zu verschweigen bzw. abzuwerten; Joseph Braunstein: Pichl als Historiker, in: DLN (1927), S. 174–177. Die beiden neuen Kletterrouten auf der Rax, die in den „Fahrtenberichten“ der Nr. 2 der „Donauland“-Nachrichten mitgeteilt wurden, finden sich bei Pichl allerdings. Die umfassende Klärung der Frage, ob alpinistische Leistungen jüdischer Bergsteiger bzw.

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Nach Guido Mayer und Paul Fabri übernahm im November 1930 der Musikologe und Berufsmusiker (Geiger) Joseph Braunstein die Redaktion der Donauland-Nachrichten; der Rezensionsteil wurde aufgewertet, viele Rezensionen schrieb Braunstein selbst – er leitete die Bibliothek und war Mitbegründer der „Gesellschaft alpiner Bücherfreunde“. Die unter seiner Leitung stehende Bibliothek wies 1924 bereits 1888 Bände auf,56 bis Herbst 1937 stieg der Bestand auf 3333 Bände.57 Der Name des Vereinsorgans spiegelt den Wandel der Vereinsgeschichte. Von August 1921 bis Dezember 1924 (Nr. 1–41) erschien das Mitteilungsblatt als „Nachrichten der Sektion ‚Donauland‘ des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins“. Mit dem Ausschluss der Sektion aus dem DÖAV änderte das bisherige Sektionsblatt seinen Namen. Der Titel der Jänner-Ausgabe 1925 machte die Leser und Leserinnen auf die neuen Verhältnisse aufmerksam: „Donauland-Nachrichten – bisher Nachrichten der Sektion ‚Donauland‘ des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins“. Entsprechend dieser Ankündigung erschien das Blatt von Februar 1925 bis September 1925 als „Donauland-Nachrichten. Zeitschrift des Alpenvereins Donauland“. Nach Gründung des „Deutschen Alpenvereins Berlin“ am 7. April­ 1925, welche aus z.T. ähnlichen und z.T. unterschiedlichen Gründen erfolgte wie jene der „Donauland“,58 entschieden sich beide Vereine für eine enge Kooperation, welche auch die „Nachrichten“ einschloss:59 ab Oktober 1925 erschienen die gemeinsamen „Nachrichten des Alpenvereins Donauland und des Deutschen Alpenvereins Berlin“, und zwar bis zum März 1934. Im Frühjahr 1934 zwangen die deutschen Behörden den „Deutschen Alpenverein Berlin“ zunächst zu einer Namensänderung und lösten ihn dann auf.60 Ab April 1934 schien der Name des Berliner Vereins im „Donauland“-Zeitungskopf nicht mehr auf. Der Name des Blattes wurde geändert in „Berg und Ski“, mit dem Untertitel „Zeitschrift des Alpenvereins Donauland“; der Name des Redakteurs wurde in den Zeitungskopf gesetzt: „Geleitet von Dr. Joseph Braunstein“. Vom Quartformat wurde in ein kleineres Format mit einspaltigem

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Leistungen von Donauland-Bergsteigern und -Bergsteigerinnen tabuisiert oder abgewertet wurden und, wenn ja, mit welchen Möglichkeiten, in welchen Kontexten und von wem, ist ein Desiderat. Jahresbericht der Sektion „Donauland“ über das vierte Vereinsjahr (1924), in: DLN (1925), S. 31–35, hier 34. Jahresberichte über 1935, 1936 u.1937, in: DLN (1935), S. 212; (1936), S. 177; (1937), S. 168. Gründe für den Austritt von mehr als 600 meist jüdischen Mitgliedern aus der Sektion „Berlin“ und die Konstituierung eines außerhalb des DÖAV stehenden Alpenvereins waren: (a) die Absicht der Sektion „Berlin“, die sich gegen den Antisemitismus ausgesprochen hat, die Aufnahme von Juden zu beschränken (andere Berliner Sektionen nahmen keine Juden mehr auf ); (b) das Abstimmungsverhalten des Sektionsvorsitzenden bei der Hauptversammlung 1923, wo er sich der Stimme enthielt, anstatt der Austrittsaufforderung an „Donauland“ zu widersprechen (vor und nach 1923 unterstützte die Sektion „Berlin“ die Sektion „Donauland“); (c) die Problematik, einem DÖAV anzugehören, der mit „Donauland“ in bekannter Weise verfahren ist. Vgl. die Darstellung des Vorsitzenden des „Deutschen Alpenvereins Berlin“, Hans Kaufmann, über Gründung und Ziele des neuen Vereins, in: DLN (1925), S. 159ff.; Amstädter, Alpinismus, S. 305f; Zebhauser, Alpinismus, S. 86f.; Klaus Kundt: Erfolge, Intrigen, Intoleranz. Die Geschichte der Berliner Bergsteiger bis 1945, hg. v. d. DAV-Sektion Berlin. Teil 1, Berlin 2008, S. 19f., und Teil 2, Berlin 2009, S. 27–29. Vgl. Editorial zur ersten gemeinsamen Ausgabe v. 1. Okt. 1925, in: DLN (1925), S. 155. Kundt, Berliner Bergsteiger, Teil 2, S. 29.

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Abb. 2: Zeitungskopf der letzten zugänglichen Ausgabe der „Donauland“-Zeitschrift vor der NSOkkupation.61

Layout gewechselt und fast keine kommerzielle Werbung mehr gebracht. Die Bezeichnung als „Zeitschrift“ (statt „Nachrichten“) war insofern angemessen, als das Periodikum bereits seit Längerem, zumindest ab Jahrgang 1925, inhaltlich deutlich mehr als ein nur auf das Vereinsgeschehen ausgerichtetes Mitteilungsblatt war. In dieser Form erschien die Zeitschrift bis 1938; die letzte zugängliche Ausgabe ist jene von Jänner611938.62 Zwischen der ersten Nummer von August 1921 und dieser letzten Nummer hatte „Donauland“ 188 Ausgaben ihres Blattes herausgebracht. Über das Ausflugs- und Tourenangebot konnten sich die Mit61 Georg Franz Bergmann, geb. 1900 in Posen (Lissa), Rechtsanwalt in München, Bergsteiger. Zahlreiche alpinistische Veröffentlichungen, darunter in den DLN (1927), S. 114f., der Beitrag „Hochmut zwischen zwei Welten“, der die Zusammensetzung der deutschen Bergsteigerschaft in sozialer und regionaler Hinsicht sowie ihr Verhältnis zu den Nicht-Bergsteigern thematisiert; Übersetzung von „De alpibus commentarius“ (1574) des Josias Simler, vgl. DLN (1929), S. 112. 1933 Berufsverbot, Emigration nach Paris, Gelegenheitsarbeiten. 1939 als „feindlicher Ausländer“ interniert, meldete sich zur Fremdenlegion, wurde in Nordafrika eingesetzt. Dort neuerliche Internierung 1940–1942; 1943–1947 im Dienst der Britischen Armee. Auswanderung nach Australien, betrieb ein Lebensmittelgeschäft, arbeitete als Fürsorger, schließlich in der australischen Postverwaltung. Publizierte über australisches Judentum und australischen Alpinismus. Vgl. Reinhard Weber: Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933, München 2006, S. 223, S. 25f., S. 81 u. S. 93. 62 Eine Februarnummer 1938 ist für mich nicht nachweisbar.

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glieder ab der ersten Nummer der Vereinsnachrichten informieren: 13 Wanderungen bzw. Bergtouren waren schon für August 1921 ausgeschrieben. Deren Schwierigkeitsgrade reichten von Tagesausflügen auf die bewaldete Dürre Wand in den nahe Wien gelegenen Gutensteiner Alpen bis zum Richterweg in der Stadelwand des Schneebergs, einer schwierigen Kletterei, benannt nach ihrem Erstbegeher Karl Hanns Richter (1914), dem „Donauland“Obmann,63 oder zu Touren in der Hochtorgruppe des Gesäuses  – „Sehr schwierige Felsturen in den Nordabstürzen. Nur für erprobte Bergsteiger“. Ende August 1921 führte der einbeinige Otto Margulies durch die Silvretta- und Jamtalgruppe. Mitte September 1921 begann ein zweimonatiger Alpinkurs mit dem Ziel, vor allem jüngere Teilnehmer in Theorie und Praxis „mit allem vertraut zu machen, was zum selbständigen führerlosen Gehen im Hochgebirge erforderlich ist“;64 Für das Vereinsjahr 1936 (November 1935 bis Oktober 1936) liegt eine Statistik über die Anzahl der (nach Kategorien geordneten) Touren und die Beteiligung daran vor; daraus seien im Folgenden die Aktivitäten der Schivereinigung und der Jugendgruppe herausgegriffen:65 Von Anbeginn erfreuten sich Schikurse und Schitouren bei „Donauland“ großer Beliebtheit, wozu auch die gepachteten Schihütten beitrugen. Die Donauländer scheinen noch begeistertere Schitouristen als Wanderer gewesen zu sein, verzeichnete doch die bereits im November 1921 (mit eigenem Vorstand) konstituierte Schivereinigung der „Donauland“ bei ihren Unternehmungen im Jahr 1936 mit 879 Teilnahmen eine stärkere Frequenz als die angebotenen Wanderungen. Veranstaltet wurden Schikurse in Nauders, Kitzbühel, St. Johann/P. und mehrmals im ‚klassischen‘ „Donauland“-Gebiet auf der Hinteralm in den Mürzsteger Alpen, wo die Donaulandhütte stand. Die ebenfalls schon 1921 gegründete Jugendgruppe,66 1936 unter Leitung von Karl Deutsch67 und Hans Beck, fuhr 1936 zu einem Weihnachtsschikurs in die Radstädter Tauern, verbrachte die Osterferien beim Schifahren in den Stubaier Alpen und unternahm eine Pfingsttour auf den Dachstein. Im Jahr 1937, dem letzten vor Auflösung der „Donauland“, standen der Jugendgruppe für 459 Teilnahmen an 31 Unternehmungen 12 Tourenführer an insgesamt 148 Tagen zur Verfügung. 63 Vgl. Karl Hanns Richter: Als und wie der „Richterweg“ entstand, in: Öster. Alpenzeitung (1963), S. 120–123. Richter war „Donauland“-Obmann von 3. Juni 1921 bis Jänner 1931; ihm folgte bis zur Auflösung des Vereins im März 1938 Fritz Benedikt, im Beruf Sekretär des Hauptverbandes der Industrie Österreichs. Von 1945 bis (vermutlich) zu seinem Tod Anfang 1975 war Richter ein zweites Mal „Donauland“-Obmann. 64 DLN Nr. 1 (1. 8. 1921), S. 3 u. Nr. 2 (1. 9. 1921), S. 2. (o. Pag.). 65 DLN (1936), S. 174f. 66 Jugendwandergruppe der Sektion Donauland, in: DLN Nr. 6 (1. 1. 1922), S. 2f. (o. Pag.). 67 Mit Karl Deutsch und seiner Frau Gertrude führte Albert Lichtblau im Jahr 1991 in Hastings-on-Hudson, NY, ein Interview. Karl Deutsch, so zitiert ihn Albert Lichtblau, sei „zuvor bei den Pfadfindern und bei den sozialdemokratischen Naturfreunden gewesen, mit nur loser Verbindung zum Jüdischen als Religion“ und habe sich aus Protest der „Donauland“ angeschlossen. Deutsch erzählte von selbst erlebtem alpinen Rassismus: „Als wir hinaufgegangen sind auf die Austriahütte am Dachstein: Hunde und Mitglieder der Sektion Donauland sind hier nicht erwünscht – ein großes Schild.“ Albert Lichtblau: Ambivalenzen der Faszination: Sommerfrische & Berge, in: Loewy, Milchram (Hg.), „Hast du meine Alpen gesehen?“, S. 116–130, hier 123 u. 130.

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„Donaulands“ Hütten und Wege Während die junge Sektion ihre Infrastruktur rasch aufbauen konnte und Alpinkurse und umfängliche Tourenprogramme realisierte, sollte es sich für sie als schwierig erweisen, zu Hüttenbesitz zu gelangen. Dies nicht nur wegen großer und andauernder finanzieller Belastungen, wie sie jeden Alpinverein betreffen, sondern bei „Donauland“ vor allem deshalb, weil ihre Gegner alles taten, damit die Sektion keine Hütte kaufen oder bauen konnte. Dabei war es doch „Ehrensache einer jeden tatkräftigen, wenn auch noch so kleinen Sektion, eine Schutzhütte ihr Eigen zu nennen. Auch unser Bestreben ist es“ – so „Donauland“ – „unseren Mitgliedern ein Heim in den Bergen zu schaffen.“68 Man behalf sich zunächst mit einer Vorgangsweise, welche für die in Hüttenfragen unerfahrene Sektion risikolos, kostengünstig und schnell zu realisieren war – sie pachtete Almhütten. Manche Hütte diente nur im Winter, als Schihütte, touristischen Zwecken, während sie im Sommer von Bauern für die Almwirtschaft genutzt wurde. Zu Weihnachten 1921 wurde die Windberghütte auf der Schneealm der Benützung übergeben: „Sieben Pritschenlager sind mit Strohsäcken und einer Anzahl von Decken ausgestattet. Brennholz ist in einem Nebengebäude verwahrt“, eine „Hüttenordnung“ wurde veröffentlicht.69 1922 wurde „auf dem Plateau der Hinteralpe eine Schweighütte gepachtet und hergerichtet“, ein „solider Steinbau“, der 20 Personen Unterkunft bot.70 1923 folgten zwei weitere Hütten: „Inmitten des herrlichsten Skigebietes“ gelegen war die Brettsteinhütte (1740 m) am Radstädter Tauern nächst Wiesenegg71, sowie die kleine Hochhaidehütte (1639 m) auf der Singsdorfer Alm in den Rottenmanner Tauern, welche 1924 wieder aufgelassen wurde – nach Einbrüchen, wobei „gemalte und aus Schindeln kunstvoll zusammengesetzte Hakenkreuze hinterlassen“ wurden.72 Im Gebiet der Pretulalpe gepachtet wurden schließlich 1924 das Kaiserhaus als Schihütte (1400  m) und die ganzjährig einfach bewirtschaftete Hauereckhütte (1426 m).73 In den ersten drei Jahren ihres Bestehens hatte die Sektion „Donauland“ sechs Hütten gepachtet, eingerichtet, versorgt, z.T. ausgebaut und zwei wieder aufgegeben. Vier dieser Hütten lagen noch im Bereich der Wiener Hausberge und ermöglichten den Wiener Mitgliedern, Wochenendtouren dorthin zu unternehmen. Zunächst weniger erfolgreich war die Suche nach einer Hütte, die sowohl ihr Eigentum werden als auch in einem alpinistisch interessanten Gebiet liegen sollte. Bereits in der dritten 68 Jahresbericht der Sektion „Donauland“ über das erste Vereinsjahr (1921), in: DLN Nr. 7 (1. 2. 1922), S. 2 (o. Pag.). 69 Ebda.; Hüttenordnung in DLN 6 (1921), S. 5 (o. Pag.). 70 Unsere Skihütte auf der Schneealpe, in: DLN (1923), S. 5f; Jahresbericht der Sektion „Donauland“ über das zweite Vereinsjahr (1922), in: ebda., S. 13–16, hier 14. 71 Unsere Skihütten, in: DLN (1923), S. 117; Besuch unserer Hütten zu den Osterfeiertagen, in: DLN (1926), S. 72. 72 Von unseren Hütten, in: DLN (1924), S. 161. 73 Jahresbericht der Sektion „Donauland“ über das vierte Vereinsjahr (1924), in: DLN (1925), S. 32f.; Neueröffnung von Skihütten, in: DLN (1924), S. 199. Die Hauereckhütte wurde 1928 wegen zu wenig Besuchs aufgegeben; vgl. DLN (1929), S. 11.

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Ausgabe der Sektionsnachrichten war „neben der Geldfrage“ von „zahlreichen anderen Hemmungen“ die Rede, mit welchen einer jungen Sektion, „die noch über kein eigenes Arbeitsgebiet verfügt“, Bau oder Erwerb einer Hütte erschwert werde.74 Im Tätigkeitsbericht über das dritte Vereinsjahr ist zu lesen, dass man zwar „Donauland“ bisher nicht aus dem Alpenverein hinausdrängen konnte, aber desto eifriger versuche, der Sektion „in der Ausübung ihrer satzungsgemäßen Tätigkeit Hindernisse in den Weg zu legen“: Wenn die Sektion im abgelaufenen Jahre immer mehr ihre Aufmerksamkeit einer der vorzüglichsten Aufgaben einer Alpenvereinssektion, der Erwerbung von Hüttenbesitz und Arbeitsgebiet, zugewendet hat, so übertrugen ihre Gegner den Angriff sofort auf dieses Gebiet, ohne sich zu scheuen, derart eine weitere Öffentlichkeit zu Zeugen der inneren Zwistigkeiten im Alpenverein zu machen.75

In den „Austria“-Nachrichten von Mai 1921 schrieb Eduard Pichl, „Donauland sucht nunmehr in den Alpenländern deutschen Boden zu erwerben, um darauf jüdische Trutzburgen zu erbauen“, und er konnte – im Mai erst wurde „Donauland“ in den DÖAV aufgenommen – im selben Monat bereits Beschlüsse zweier Sektionen zitieren, die einen Hüttenerwerb verhindern wollten: Die Sektion „Klagenfurt“ erwarte von der Kärntner Bevölkerung, „daß sie der jüdischen Trutzsektion ‚Donauland‘ [...] keinerlei Förderung, etwa durch Verkauf von Grundstücken [...] angedeihen läßt“ und die Sektion „Lienz“ wolle bei Behörden, Gemeinden, politischen Parteien und den Pfarrämtern der jeweiligen Region auf die „drohende Gefahr der Einwanderung jüdischer Alpenvereine“ aufmerksam machen, um deren „Seßhaftmachung in unseren Bergen“ zu verhindern.76 Dass „Donauland“ bei Verwirklichung ihrer Hüttenpläne nicht nur mit Schwierigkeiten durch rurale Aktionen, sondern auch mit solchen auf Gesamtvereinsebene konfrontiert war, sei am Beispiel eines Briefwechsels zwischen dem Obmann der Sektion „Salzburg“, Dr. Heinrich Hackel, im Beruf Altphilologe am Salzburger Staatsgymnasium, und dem Mitglied des DÖAV-Verwaltungsausschusses, Dr. Gustav Müller, im Beruf Jurist im Bayerischen Justizministerium, vorgeführt;77 der Briefverkehr fand zwischen 10. Februar und 17. März 1922 statt.78 Hackel wandte sich mit einer ihn alarmierenden Nachricht an Müller, den für Wege- und Hüttenbau zuständigen Gesinnungsfreund im Verwaltungsausschuss: Auf dem Naßfeld bei Böckstein – hinter Bad Gastein gelegener Ausgangspunkt hochalpiner Touren in der Goldberggruppe  – fehle eine Alpenvereinshütte; in den „Mitteilungen“ habe Hackel auf dieses 74 75 76 77

Schilauf. Unsere Schihütte auf der Schneealm, in: DLN Nr. 3. (1. 10. 1921), S. 5 (o. Pag.). Jahresbericht der Sektion „Donauland“ über das dritte Vereinsjahr (1923), in: DLN (1924), S. 27–31, hier 27. Eduard Pichl: An die Mitglieder, in: Nachrichten der Sektion „Austria“ (1921), S. 26f., hier 27. Im Schuljahr 1926/27 wird Hackel Direktor des Staatsgymnasiums (Taschenjahrbuch für Mittelschullehrer in Österreich, Wien 1926, S. 73); 1929 wird Müller Präsident des Obersten Landesgerichtes in München (MDAV 1943, S. 22). 78 Alpenarchiv, OeAV, ZV 6/223.

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Desiderat bereits aufmerksam gemacht und vom Verdienst gesprochen, das eine Sektion sich erwerben könnte, würde sie hier eine Hütte errichten. Aber nun erfahre er, Hackel, von einem Gewährsmann, dem Bergdirektor in Böckstein, dass die Sektion „Donauland“ sich dort ein Arbeitsgebiet schaffen wolle und deren Obmann Richter schon demnächst zu Verhandlungen kommen werde. Der Bergdirektor rate, unverzüglich mit dem Obmann der Naßfelder Alpgenossenschaft, einem Bauern aus Hofgastein, zu sprechen. Es gelte, so Hackel an Müller, zu verhindern, dass das Projekt Donauland zustande kommt; denn wenn in der Nähe des verjudeten Weltbades Gastein sich auch noch die Judensektion Donauland festsetzt, dann sitzt Israel fest im Sattel. Natürlich sind wir in diesem Fall Partei, weil wir mit unserem Zittelhaus Nachbarn dieser Herrn würden.79

Hackel bat Müller um Abhilfe, wobei es ihm „am liebsten wäre“, wenn sein Name „gar nicht genannt zu werden brauchte“, zumal er nicht „mit Freund Stüdl [...] in Konflikt kommen“ möchte.80 Daraufhin empfahl Müller, „baulustige Sektionen“ durch eine „ ‚inoffizielle‘ Persönlichkeit“ auf die Baugelegenheit aufmerksam zu machen. Als Vereinsinsider war er in der Lage, dafür drei deutsche Sektionen, darunter die Sektion „Chemnitz“, zu empfehlen. Allerdings stellte Müller die Notwendigkeit einer Hütte auf dem Naßfeld per se in Frage und bevorzugte einen Bauplatz, der 900 m über dem Naßfeld, auf der Riffelscharte gelegen war.81 Damit „Donauland“ nicht auf dieselbe Idee käme, schlug Müller in weiterer Folge vor, dass die Sektionen „Salzburg“ und „Rauris“ „die Grenzen ihrer Arbeitsgebiete mehr nach Osten verschieben, so dass der allein geeignete Bauplatz an der Riffelscharte okkupiert wäre“. Inzwischen hatte Hackel vernommen, dass „Donauland“ den Baugrund auf dem Naßfeld vermutlich nicht bekommen habe und damit „die Ursache zur Aufregung geschwunden“ wäre; Müller gegenüber bekräftigte er noch einmal den Sinn einer Hütte auf dem Naßfeld, weil das dortige Valeriehaus Touristen wegweise, oder aber wie Gasteiner Kurgäste abzocke. Der Briefwechsel endete schließlich mit Müllers Mitteilung, dass nun „die Hauptgefahr beseitigt erscheint“ und die Sektion „Chemnitz“ bereits ihr Interesse an einem Hüttenbau auf der Riffelscharte bekundet habe.82 79 Das Zittelhaus auf dem Sonnblick wurde von 1891 bis 1925 von der Sektion „Salzburg“ geführt. 80 Johann Stüdl, hoch angesehenes Gründungsmitglied des Deutschen Alpenvereins, Erschließungstätigkeit bes. in der südl. Glocknergruppe; nach Zerfall der Donaumonarchie übersiedelte Stüdl von Prag nach Salzburg, wo er Mitglied der dortigen AV-Sektion wurde. Er hatte sich 1921 als Hauptausschussmitglied für die Aufnahme „Donaulands“ in den DÖAV eingesetzt und 1924 gegen deren Ausschluss protestiert. Stüdl war Ehrenmitglied der „Donauland“, die den Verbindungsweg von der Glorerhütte zur Stüdlhütte nach ihm benannte. Es wäre plausibel, dass „Donauland“ von Stüdl auf einen Erwerb der Glorerhütte aufmerksam gemacht wurde. Zu Stüdl vgl. Österr. Biogr. Lexikon, Bd. 13, Wien 2010, S. 442, und die ausführliche Würdigung anlässlich seines Tode in DLN (1925), S. 23–28. 81 1926 wird hier die Sektion „Hannover“ das Niedersachsenhaus eröffnen. 82 Nach Hackel ist die der Sektion „Salzburg“ gehörende Dr. Heinrich Hackel-Hütte bei Werfenweng benannt. Vgl. Nachruf auf Hackel in Salzburger Volksblatt (3. 11. 1960), Alpenarchiv, DAV PER1 SG/866/0.

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Die österreichischen Alpenvereinssektionen waren gut vernetzt, sowohl untereinander als auch, wie eben gezeigt, mit Mitgliedern in Leitungsorganen des DÖAV. Viele Sektionen waren seit Jahrzehnten in den Alpenregionen ansässig gewesen und hatten beste Möglichkeiten, ihren Einfluss vor Ort geltend zu machen. In dem Territorialkrieg gegen „Donauland“ gaben sie sich als Verteidiger deutscher Heimat gegenüber den „Eindringlingen“ aus, die sich hier „einnisten“ wollten. Neben dem spezifischen Konfliktfeld, auf dem völkische Sektionen und eine mehrheitlich jüdische Sektion einander gegenüberstanden, bestand auch ein Konfliktfeld, auf dem „alte“ und „neue“ Sektionen einander gegenüberstanden. Bestehende Sektionen ‚besaßen‘ topografisch festgelegte Arbeitsgebiete, in denen sie Hütten errichteten und Wege bauten und betreuten – und jungen ambitionierten Sektionen den Zugang zu einem eigenen alpinen Arbeitsgebiet verstellen konnten. Während solche Konflikte bisher im DÖAV konsensual gelöst wurden, geschah das im Fall „Donauland“ nicht. Eine der wenigen Möglichkeiten, die „Donauland“ in diesem ‚Territorialkrieg‘ hatte, war, ihre Pläne nicht bekannt zu machen. Da die Sektionsnachrichten nicht nur von Mitgliedern, sondern auch von Gegnern gelesen wurden, informierte der Vereinsausschuss folglich erst dann über Erwerbsabsichten, wenn Kauf oder Pacht rechtlich abgesichert waren. Ohne dass zuvor in den „Nachrichten“ ein Wort über die Attraktivität des südlichen Teils der Glocknergruppe oder gar über die Glorerhütte gefallen gewesen wäre, teilte die Sektion in ihren „Nachrichten“ von April 1924 mit: „Der Sektionsausschuß hat die Glorerhütte am Berger Thörl (2650 m) in der Glocknergruppe erworben und damit ein bisher in Privathänden befindliches hochalpines Unterkunftshaus im schönsten und stolzesten Teile der bei Oesterreich verbliebenen Alpen in Sektionsbesitz gebracht.“83 Die erzwungene Geheimhaltung ihrer Pläne wurde „Donauland“ von ihren Gegnern im DÖAV als Hinterhältigkeit vorgeworfen: sie habe nicht einmal den „Deutschen Alpenverein Prag“ von der Absicht informiert, die Glorerhütte zu erwerben, die im riesigen Arbeitsgebiet des Prager Vereins lag. Nach Erwerb der Glorerhütte84 und erfolgten Renovierungsarbeiten fand am Abend des 28. Juni beim Kalser Glocknerwirt ein „Begrüßungsabend“ statt, bei dem „Donauland“-Obmann Karl Hanns Richter die Gemeindevertretung, den Bergführerverein, bisherige Besitzer der Glorerhütte und den neuen Hüttenpächter begrüßen konnte. Am nächsten Morgen stieg man von Kals zur Glorerhütte auf,85 empor über „blumenübersäte Alpmatten“ – „und nach Querung eines letzten Schneeflecks tauchte die Hütte vor den Steigern auf “. „Donaulands“ Festred83 DLN (1924), S. 59. Der Kaufvertrag über das 1887/88 erbaute Haus ist mit 23. Mai 1924 datiert und belief sich auf 150 Millionen Kronen (Grundbuch Lienz, KG Kals, EZ 80); offenbar bestand eine vorvertragliche rechtliche Verpflichtung. 84 Zur Tätigkeit der „Donauland“ im Kalser Gemeindegebiet ist folgender Beitrag in Vorbereitung: EZ 80 – Unterkunftshütte Haus No. 18 und Alpe in Berg. Topographische Erinnerung an den Alpinverein „Donauland“ und sein Osttiroler Arbeitsgebiet (1921–1938 und 1945–1976). 85 Im Hinblick auf den Jubilar der Festschrift sei angemerkt: Die meisten der im Folgenden genannten Wege und Hütten hat Gerhard Botz in den letzten Sommern, von Unterlesach bei Kals aus, begangen bzw. besucht. Die dort gemachte Erfahrung mit Landschaft, Natur, Körper und Gruppe sei um jene mit „alpiner Zeitgeschichte“ ergänzt.

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ner kontrastierten die Schönheit der Landschaft und das Glück des Tages mit der politischen Wirklichkeit der Sektion, mit „dem heißen Hassessturm [...], der uns unten in den engen Mauern umbraust“.86 (In drei Wochen wird „Donauland“ von der Hauptversammlung des „Deutschen und Österreichischen Alpenvereins“ in Rosenheim zum Austritt aufgefordert werden.) Ihre Hütte will „Donauland“ in jenem Geist führen, den die völkischen Sektionen bekämpfen: [...] auf unserer Hütte gilt nur Eines: Ob Jude oder Christ, ob Hoch oder Nieder – wir wollen auch hier nur nach dem Menschen sehen und jeden willkommen heißen, der mit gleicher Sehnsucht nach dem Ewigschönen uns naht, als ‚freier Bergsteiger‘, wie wir freie Bergsteiger sind.87

Abbildung 3: Die Glorerhütte auf dem Bergertörl, Gemeinde Kals, um 192488

Um die Hütte mit dem alpinen Umland besser zu verbinden, baute die Sektion Wege.89 Im Wegebau traf sich das Sektionsinteresse mit dem Gemeindeinteresse; Kals wollte den Fremdenverkehr beleben, sah sich aber „mit gebauten Touristenwegen gegenüber z.B. der Heiligenbluter und Fuscherseite des Großglocknergebietes sehr stiefmütterlich bedacht“. Daher 86 Die Eröffnung der Glorerhütte, in: DLN (1924), S. 114f., hier 114. 87 Ebda., S. 115. 88 Die ursprüngliche Farbfotografie von Dr. Paul Ziegler findet sich als schlechte Schwarz-Weiß-Reproduktion in Joseph Braunsteins Aufsatz über Kals in der DLN-„Sondernummer: Kals“ v. Juli 1925, S. 113. 89 Der Jahresbericht des Alpenvereins Donauland über das fünfte Vereinsjahr (1925) stellt ein dreistufiges WegeAusbauprogramm vor, in: DLN (1926), S. 4–9, hier 6.

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bewilligte der Kalser Gemeinderat im August 1924 der „Donauland“ und dem „Deutschen Alpenverein Prag“ (Arbeitsgebiet) den Wegebau über Gemeindegrund, und zwar von der Glorerhütte zum Leiterkees (bzw. zu Burgwartscharte und Adlersruhe) sowie die beiden Verbindungswege von der Glorerhütte zur Stüdlhütte und in der Gegenrichtung von der Glorerhütte über den Tschadinsattel zur Lesacher Alpe, die bereits in der angrenzenden Schobergruppe liegt.90 (Diese Wegebauten in der südlichen Glocknergruppe wurden 1924 wegen „Arbeitsgebietsverletzung“ des „Deutschen Alpenvereins Prag“ als eine Begründung für den Ausschluss der Sektion „Donauland“ aus dem DÖAV verwendet.) Im September 1924 befasste sich der Gemeinderat nochmals mit dem Wegebau, den er „für dringend notwendig hält“, wobei er dafür vor allem zwei Auflagen machte: „nur Leute aus Kals“ zu beschäftigen und eine Telefonanlage von Kals zur Stüdlhütte und von Kals zur Glorerhütte zu bauen; die Telefonverbindung war ein Anliegen besonders der Kalser Bergführer.91 Nach jahrelangen Schwierigkeiten konnte am 13. August 1931 „die Telephonanlage von Kals zu unserer Glorerhütte mit Abzweigung zur Stüdlhütte [...] der allgemeinen Benützung übergeben“ werden. Die Leitung war 12 km lang, 320 Masten wurden gesetzt, den größten Teil der Kosten trug „Donauland“.92 Ein Jahr nach der Glorerhütte eröffnete „Donauland“ – inzwischen aus dem DÖAV ausgeschlossen und unabhängiger Alpenverein geworden – am 28. Juni 1925 die Lesachhütte im Kalser Lesachtal, eine vier bis sechs Gehstunden von der Glorerhütte entfernt gelegene Pachthütte, die stets der Almwirtschaft diente, aber für den touristischen Zweck von „Donauland“ ein Stockwerk aufgesetzt bekam. Am Eröffnungstag noch beging man den neuen Friedrich-Senders-Weg – jenen von der Lesachalm über den Tschadinsattel zum Peischlachtörl und weiter zur Glorerhütte führenden Weg, den „Donauland“ nach ihrem Tourenwart benannte, der 1923 durch Seilriss vom Richterweg in der Stadlwand des Schneebergs tödlich abgestürzt war.93 In „später Nacht“ traf die Festgesellschaft bei der Glorerhütte ein.94 Während sich die jährlichen Besuchszahlen der Lesachhütte in den nächsten Jahren zwar verdoppelten, aber 250 Besuche nicht überschritten (es bestanden damals vom Lesachtal aus keine gletscherfreien Übergänge in die Nachbartäler), haben sich jene der Glorerhütte infolge von Wegebau und höherer Mitgliederzahl um mehr als das Dreifache gegenüber der Vor-„Donauland“-Zeit erhöht und betrugen nun durchschnittlich 1000 Besuche im Jahr,95 sodass im Zusammenhang einer 1932 notwendig gewordenen Sanierung der Fundamente eine große Hüttenerweiterung erfolgte.96

90 Protokoll der Sitzung des Kalser Gemeinderates v. 10. August 1924. 91 Protokoll der Sitzung des Kalser Gemeinderates v. 24. Sept. 1924. 92 Protokolle der Sitzung des Kalser Gemeinderates v. 3. Feb. 1929 und v. 30. Nov. 1930; Aus unserem Hüttengebiet. Telephonverbindung Kals – Glorerhütte – Stüdlhütte, in: DLN (1931), S. 110; Jahresbericht über das elfte Vereinsjahr des Alpenvereins Donauland (1931), in: DLN (1931), S. 131–137, hier 134f. 93 Friedrich Senders, in: DLN (1923), S. 67f. 94 Die Eröffnung der Lesachhütte, in DLN (1925), S. 120–124. 95 Angaben üblicherweise auf Basis der Hüttenbucheintragungen, die unter der Zahl tatsächlich erfolgter Besuche lagen. 96 Jahresberichte des Alpenvereins Donauland, in: DLN(1929), S. 138; (1932), S. 125f.; (1933), S. 130f.

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Als letzte Schutzhütte ‚erwarb‘ „Donauland“ das in den Zillertaler Alpen auf 2498 m gelegene­ große Friesenberghaus. Der „Deutsche Alpenverein Berlin“ hatte es erst in den Jahren 1928 bis 1931 (mit „Donauland“-Unterstützung) erbaut, eingerichtet und schließlich im Juli 1932 eröffnet.97 Am 27. April 1933 überschrieb der „Deutsche Alpenverein Berlin“ sein Friesenberghaus an den Schwesterverein „Donauland“, um es vor der erwarteten Enteignung durch das NS-Regime zu retten.98 Nachdem „Donauland“ mehrere Hütten geführt hatte, schloss der Verein 1925 mit den „Naturfreunden“ ein Gegenseitigkeitsabkommen, d.h., die Mitglieder genossen in den Hütten des jeweils anderen Vereins dieselben Rechte wie dessen eigene Mitglieder.99 Zum „Touristenverein Die Naturfreunde“ bestand ein gutes Verhältnis,100 waren sie doch in Österreich einer der wenigen Alpinvereine ohne sogenannten Arierparagraphen oder ähnliche Maßnahmen, sodass nicht wenige „Donauland“-Mitglieder auch Mitglieder der „Naturfreunde“ waren. Ein weiteres Gegenseitigkeitsabkommen schloss „Donauland“ 1931 mit dem „Club alpino Italiano“ (CAI).101 Der CAI ermöglichte damit den „Donauländern“ vergünstigten Zugang auch zu den in Südtirol und im Trentino gelegenen früheren DÖAV-Hütten, die Anfang der 20er-Jahre vom italienischen Staat enteignet und dem CAI übergeben worden waren. Der „Deutsche Alpenverein Berlin“ hatte bereits 1929 ein solches Abkommen geschlossen.102 „Donauland“ hatte nach dem Ersten Weltkrieg keine Schutzhütten an den italienischen Staat bzw. den CAI verloren und daher ein entspannteres Verhältnis zum Club; auch nahm „Donauland“ gegenüber den ehemaligen Feindesmächten nicht jene aggressive Haltung ein, wie sie im DÖAV verbreitet war. Obwohl 1932 der Faschist Angelo Manaresi Präsident des CAI wurde,103 hatten die Mitglieder von „Donauland“ zu dieser Zeit des staatlich etablierten italienischen Faschismus104 vermutlich  97

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1000 Höhenmeter unter dem Friesenberghaus, zwischen Dominikushütte und Gasthaus Breitlahner, bei denen die Hüttenanstiege zum Friesenberghaus beginnen, wurde im September 1928 Murdoch Halsmann aus Riga ermordet. Der international aufsehenerregende Indizienprozess und seine Rezeption erinnerten an die Dreyfusaffäre. Vgl. Martin Pollack: Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann, Wien 2002. Kundt, Berliner Bergsteiger, Teil 2, S. 29. – Die Transaktion wurde dadurch erleichtert, dass „Donauland“ im März 1933 ihre Satzung änderte und den „Deutschen Alpenverein Berlin“ als einen „Zweigverein des Alpenvereins Donauland“ auswies (§ 1/3). Jahresbericht über das fünfte Vereinsjahr des Alpenvereins Donauland (1925), in: DLN (1926), S. 4–9, hier 6; die „Nachrichten“ druckten das Verzeichnis der in Österreich gelegenen „Naturfreunde“-Hütten ab, vgl. DLN (1925), S. 125f. In den „Donauland“-Nachrichten finden sich zahlreiche freundliche Hinweise auf die „Naturfreunde“, wie z.B. Nachruf für Alois Rohrauer, in: DLN (1924), S. 12; Dreißig Jahre „Naturfreunde“, in: DLN (1925), S. 124f; Nachruf für Karl Volkert, in: DLN (1929), S. 30. Jahresbericht über das elfte Vereinsjahr (1931), in: DLN (1931), S. 135. Kundt, Berliner Bergsteiger, Teil 2, S. 30. Vgl. Alessandro Pastore: L’alpinismo, il Club Alpino Italiano e il fascismo, in: Geschichte und Region/ Storia e regione 13. 1 (2004), S. 61–93. Trotz eines „in der politischen Kultur Italiens tief verwurzelten superiorità-Denkens und seine rassistische Überhöhung“ setzte eine deutliche Entwicklung in Richtung der Rassengesetze von 1938 erst Mitte der 30er-Jahre ein. Vgl. Thomas Schlemmer, Hans Woller: Der italienische Faschismus und die Juden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53.1 (2005), S. 164–201, hier 176.

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weniger antisemitische Übergriffe im italienischen Club zu befürchten, als sie in der demokratischen Ersten österreichischen Republik durch österreichische Alpenvereinssektionen bereits erfahren hatten. Der „arischen Rasse“ vorbehalten war eine Mitgliedschaft im CAI erst ab Mai 1939, infolge der italienischen Rassengesetze von November 1938.105

Enteignung und Auflösung des „Alpenverein Donauland“ 1938 Das Vereinslokal in der Wiener Langegasse wurde im März 1938 requiriert,106 Glorerhütte und Lesachhütte wurden beschlagnahmt,107 am 7. April wurde das Veräußerungs- und Belastungsverbot für die Glorerhütte im Grundbuch vermerkt.108 In der Folge dürfte den NS-Behörden bekannt geworden sein, dass die Lesachhütte kein Eigentum der Donauland ist, sondern ein Pachtverhältnis besteht; dass hingegen das Friesenberghaus seit 1933 zu den „Donauland“-Liegenschaften zählt. Anfang Juni verordnete die Gestapo die Beschlagnahmung und Einziehung des gesamten beweglichen und unbeweglichen Vermögens des „Alpenverein Donauland“ und führte nunmehr drei Liegenschaften an: das Friesenberghaus in den Zillertaler Alpen, das zugunsten der Deutschen Wehrmacht eingezogen wurde; die Glorerhütte in der südlichen Glocknergruppe und die Donaulandhütte auf der Hinteralm in den Mürzsteger Alpen,109 die beide zugunsten des nunmehr „Deutschen Alpenvereins“ eingezogen wurden.110 Drei Monate nach dem ersten Zugriff auf die Liegenschaften ordnete die Gestapo die Auflösung von „Donauland“ mit der Begründung an, dass der Alpenverein Donauland als jüdischer Verein anzusehen ist, da sein Mitgliederstand fast zur Gänze aus Juden bestand. Der Verein diente der Verwirklichung volks- und staatsfeindlicher Bestrebungen und bildet durch seine Liegenschaften den Treffpunkt jüdischer marxistischer Elemente.111 105 106

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Pastore, L’alpinismo, S. 82. „Das Vereinslokal ist derzeit gesperrt bzw. wird für SA verwendet“, vermerkte Karl Deutsch als kommissarisch beauftragter ‚Leiter‘ der „Donauland“, am 27. März 1938 in einer Verrechnungssache an Reichsamtsleiter Ludwig Meiler, Bevollmächtigter für das Finanzwesen der Organisationen und Verbände (ÖStA-AdR, StiKo, Donauland 12 A/1[16]); Deutsch leitete vor der NS-Okkupation die „Donauland“-Jugendgruppe (vgl. auch Anm. 67). Chef der Sicherheitspolizei an Staatspolizeistelle Innsbruck (Grundbuch Lienz, KG. Kals, EZ 80, Urkundensammlung, 178/38 zu C-Blatt). Grundbuch Lienz, KG Kals, EZ 80, C-Blatt. Zur Hinteralmhütte, KG Mürzsteg, vgl. Hauptbuch unter EZ 1013 im Steiermärkischen Landesarchiv, Urkundensammlung im Grundbuch BG Mürzzuschlag. Für die Glorerhütte: Grundbuch Lienz, EZ 80, Urkundensammlung, Zl.276/38. – Zunächst dürfte für kurze Zeit der Deutsche Jugendherbergsverband (DJHV) die treuhändische Verwaltung der beiden Hütten inne gehabt haben (Alpenarchiv, OeAV, ZV 4/1). Schreiben der Gestapo v. 22. Juni 1938 an das Vereinsbüro des Polizeipräsidiums Wien, ÖStA-AdR, BKA/ VB, Donauland XIV-166. Der Marxismusvorwurf knüpfte an eine am 5. April 1937 erfolgte Perlustrierung

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Daraufhin beantragte das polizeiliche Vereinsbüro noch im Juni beim Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten die behördliche Auflösung der „Donauland“. Als Legitimationsfassade diente, wie auch bei anderen antisemitisch motivierten Vereinsauflösungen, die (inhaltlich nicht ausgeführte) Berufung auf das Gesetz vom 15. November 1867 über das Vereinsrecht (RGBl. 134) – ursprünglich geschaffen, um die Tätigkeit von Vereinen zu erleichtern. Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart, seit Mai auch Führer des „Deutschen Alpenvereins“, verfügte am 25. Juli 1938 die behördliche Auflösung. Die jüdischen „Donauland“-Mitglieder, diese zumindest, hatten im Frühjahr 1938 allerdings andere Sorgen, als sich um die Auflösung ihres Alpenvereins Gedanken zu machen. Bei Fritz Löwy lag das etwas anders: Als Tourenführer einer Schitour zu Weihnachten 1937 habe er – so sein Schreiben an die NS-Behörde – sich an beiden Händen schwere Erfrierungen zugezogen: „Ich habe nach einer, durch den Unfall eines Teilnehmers der Skitour, aufgezwungenen Nächtigung im Freien drei Personen vom Erfrierungstode gerettet und mir dabei schwere Erfrierungen [...] an beiden Händen zugezogen.“ Fast zwei Monate sei er in ärztlicher Behandlung gewesen. Nun habe die Phönix-Versicherung entsprechend einer abgeschlossenen Unfallversicherung 51 Schilling für ihn an den Verein überwiesen und dieses Geld befände sich nun bei dem vom Verein gemeldeten Vermögen. Als kleiner Angestellter, der „in kurzer Zeit entlassen“ werde, benötige er das Geld.112 Löwys Schreiben wurde weitergeleitet an Julius Gallian, kommissarischer Verwalter der aufgelösten Bergsteigerverbände in Wien. Wie er auf Löwys Ersuchen reagiert hat, geht aus dem Akt nicht hervor. Aber mit Gallian war ein Mann aus Eduard Pichls Kader für „Donauland“ zuständig geworden; Amstädter nennt ihn Pichls „aktivsten Paladin“.113 Er war Mitglied der „Austria-Jungmannschaft“114 (ab 1930 „Austria-Bergsteigerschaft“), jener von Pichl

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von 76 zumeist jugendlichen Personen im Vereinsheim der „Donauland“ an, deren Namen mit vorhandenen Polizeiakten abgeglichen wurden; bei 12 Personen waren eine sozialdemokratische oder kommunistische Gesinnung bzw. entsprechende Handlungen vermerkt. Ob es sich bei den Perlustrierten v.a. um Mitglieder von „Donauland“ oder aber um ehemalige Mitglieder eines 1936 polizeilich aufgelösten Vereins handelte, dürfte der Polizei selbst nicht klar gewesen sein. Nichtsdestotrotz war die Jugendgruppe der „Donauland“ verdächtig, „für die Kommunistische Partei zu arbeiten“; „Donauland“-Obmann Fritz Benedikt erklärte gegenüber der Polizei, den Mitgliedern der Jugendwandergruppe „die Mitgliedskarten abgenommen“ und den Mitgliedsbeitrag rückerstattet zu haben, weshalb für das Kommissariat Josefstadt „die Auflösung der Jugendwandergruppe als durchgeführt zu betrachten“ war (ÖStA-AdR, BKA/VB, Donauland XIV-166). Was die Streichung der Mitgliedschaft betrifft, dürfte es sich allenfalls um einzelne Mitglieder gehandelt haben, denn der Jahresbericht für das Vereinsjahr 1937 weist das Bestehen der Jugendwandergruppe durch deren regsame alpinistische Tätigkeit aus; vgl. DLN (1937), S. 167. Donaulandmitglied Fritz Löwy am 26. April 1938 an das Amt des Reichskommissars, z.H. des „Fachbearbeiters der Vermögensüberwachung“; ÖStA-AdR, StiKo, Donauland 12A/1(16). – 51 Schilling waren ungefähr ein Viertel eines Facharbeiterlohnes. Amstädter, Alpinismus, S. 314. Pichl, Bergsteigertum, S. 124.

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Ende 1921 gegründeten, „nach sorgfältiger Auswahl“115 entstandenen und von ihm geleiteten alpinistisch-völkischen ‚Elite‘-Gruppe, der von ca. 14.000 Austria-Mitgliedern (Ende 1926) gerade einmal 100 Personen angehörten.116 „Von den besten und erfahrensten [der Jungmänner] wurde jährlich bei der Julfeier der ‚Austria‘ eine kleine Zahl zu ‚Bergwarten‘ ernannt.“ Bis 1927 waren das 20 Personen, Julius Gallian war einer dieser „besten“.117 Die meisten „Jungmänner“ waren auch Mitglieder in Pichls „Wehrverein Edelweiß“ und „erfüllten dort besonders zur Zeit, als die Heimatschutzbewegung nach dem Bolschewikenaufstand von 1927 mächtig emporblühte, ihre vaterländische Pflicht“.118 Am 20. März 1938 – so der Bericht Amstädters – forderte Gallian, nun „kommissarischer Leiter der Gruppe Alpinistik der Deutschösterreichischen Sportfront“, die Vereinsführer des Alpenvereins auf, „sich sofort von allenfalls restlichen Juden zu trennen“119. Jetzt, unter dem NS-Regime, konnten die österreichischen Rassisten des „Deutsch-völkischen Bundes“ restlos realisieren, was ihnen 1924 nur hinsichtlich der Sektion „Donauland“ gelungen war – den Ausschluss der Juden und Jüdinnen aus dem Alpenverein.120

Der „Alpenverein Donauland“ 1945–1976 Die meisten Mitglieder der „Donauland“ waren vom NS-Regime vertrieben oder ermordet worden. Eine kleine Zahl ehemaliger Mitglieder fand sich 1945 in Wien zusammen und nominierte erstaunlich schnell einen provisorischen Vorstand. Promotor war der 59-jährige Karl Hanns Richter (Sportlehrer und Geologe).121 Auf Basis des Vereinsreorganisationsgesetzes vom 31. Juli 1945 wurde „Donauland“ am 6. Oktober 1945 mit Bescheid des Staatsamtes für Inneres reaktiviert.122 Am 17. Dezember teilte das Staatsamt mit, dass der „Alpenverein Donauland“ seine Tätigkeit „in der Form, in der er sich vor der Einstellung seiner Tätigkeit befunden hat, wieder beginnen“ könne; die Statuten vom 15. März 1933 hätten bis 115 116 117 118 119 120

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Ebda., S. 123. „Austria“-Festschrift 1932, Anhang, Tab. 1; Pichl, Bergsteigertum, S. 123. Ebda., S. 122 u. VII. „Austria“-Festschrift 1932, S. 117. Amstädter, Alpinismus, S. 314. Am 12. April 1938 veranstalteten alle Wiener Alpenveinssektionen (auf „Austria“-Initiative) im großen Konzerthaussaal eine „Weihestunde – Daheim im Reich“. Unter Anwesenheit von Reichststatthalter Arthur SeißInquart, Unterichtsminister Oswald Menghin, SS-Führer in Österreich Ernst Kaltenbrunner und der regimeaffinen österreichischen Alpin- und Sportprominenz durfte Julius Gallian nach Eduard Pichl und dem alten Schönerer-Mitkämpfer Franz Stein „namens der jungen Bergsteiger“ die Schlussrede halten. Veranstaltungsbericht mit abgedruckten Reden in: „Austria“-Nachrichten (1938), S. 50–55. Berufsbezeichnungen aus einer Anfrage des Staatsamtes für Inneres v. 5. 7. 1945 an das Wiener Polizeipräsidium, ob gegen den prov. Vorstand Bedenken bestehen, ÖStA-AdR, BKA/VB, Donauland XIV-166. Staatsamt f. Inneres, Zl.39.056–4/45, zit. nach Erkenntnis d. Rückstellungskommission beim LG Innsbruck v. 16. 9. 1952, betr. Restitution Glorerhütte, Grundbuch Lienz, EZ 80, Urkundensammlung Zl. 655/53.

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zur ersten „Generalversammlung“ in Geltung zu bleiben. Im April 1946 übermittelte der neu gewählte Vereinsobmann Karl Hanns Richter der Bundespolizeidirektion die Namen der Mitglieder des ersten gewählten „Donauland“-Vorstandes nach der NS-Diktatur.123 Mitte der 1950er-Jahre waren ca. 120 Personen Mitglieder von „Donauland“;124 das waren knapp fünf Prozent des Mitgliederstandes vor der nationalsozialistischen Okkupation.125 Anders als vor 1938 wird der Anteil der Juden und Jüdinnen unter ihnen sehr klein gewesen sein.126 Mit den Restitutionsanträgen für die Glorerhütte, das Friesenberghaus und die Hinteralmhütte war „Donauland“ erfolgreich,127 mit der Erhaltung der Hütten aber überfordert, war doch die mitgliederschwache „Donauland“ in keinen Gesamtverein eingebunden und daher finanziell auf sich gestellt. Das Friesenberghaus „verfällt immer mehr“, heißt es im Tätigkeitsbericht über das Vereinsjahr 1954, gleichwohl wurde es notdürftig in Funktion gehalten und bewirtschaftet. 1968 wurden das Friesenberghaus und die Glorerhütte an deutsche Sektionen verkauft. Angesichts der Erfahrung mit österreichischen Alpenvereinssektionen in den Zwanzigerjahren nahm „Donauland“ größten Bedacht darauf, dass ihre Häuser nicht in den Besitz österreichischer Alpenvereinssektionen gelangte.128 Der Unterschied zwischen dem, was „Donauland“ vor Auflösung durch das NS-Regime war, und dem, was sie in der Zweiten Republik gewesen ist, vergegenständlicht sich in den Vereinsnachrichten. Hatten diese vor 1938 den Stellenwert einer in inhaltlicher Hinsicht selbstständig bestehen könnenden Alpinzeitschrift mit einem Jahrgangsumfang von 176 Seiten im Jahr 1937, so bestand in der Zeit der Zweiten Republik das „Mitteilungsblatt“ der „Donauland“ aus einem einzigen A4-Blatt, das auf nur einer Seite hektographiert bedruckt war und meist zweimonatlich erschien. Der Inhalt beschränkte sich fast durchwegs auf die Ankündigung der Vereinsveranstaltungen (Ausflüge, Touren, Vorträge und Vereinsabende), die Mitteilung von 123

Karl Hanns Richter (Obmann), Dipl. Ing. Gustav Pekel (1. Stv.), Rudolf Kostal (2. Stv.), Finni Wachtel (Kassierin) und Hans Konrad (Stv. Kassier). – Anders als zwischen 1921 und 1938 sind Frauen nun Ausschuss- bzw. Vorstandsmitglieder, und zwar bereits zu Beginn der Zweiten Republik. In eine der drei Obmann-Funktionen werden sie aber erst aufgrund des eklatanten Mangels an Mitgliedern gelangen, die eine solche Funktion übernehmen können bzw. wollen: Ein Jahr vor Vereinsauflösung werden Leonina Göttler und Maria Brauner „2. Obmann“ bzw. „3. Obmann“ (ÖStA-AdR, BKA/VB, Donauland XIV-166). 124 Tätigkeitsbericht über das Vereinsjahr 1954, in: Protokoll der 34. Jahresversammlung des Alpenvereins Donauland am 27. 1. 1955, (ÖStA-AdR, BKA/VB, Donauland XIV-166). 125 Jahresbericht des Alpenvereins Donauland über das 17. Vereinsjahr (1937) bei der Jahresversammlung am 25. Nov. 1937, in: DLN (1937), S. 166–171, hier 169. 126 Von den Ausschussmitgliedern der letzten beiden Jahrzehnte des Bestehens von „Donauland“ scheint keines in der Mitgliederkartei der Wiener Kultusgemeinde auf (Mitteilung von Wolf-Erich Eckstein, 31. 12. 2010). 127 Die Restitution der 1940 vom DAV an den Zweig „Teplitz“ verkauften Glorerhütte wird thematisiert in dem in Anm. 84 genannten in Vorbereitung befindlichen Beitrag. 128 Diese Bedachtnahme „Donaulands“ bestätigt Klaus Kundt (Berliner Bergsteiger, Teil 2, S. 29) seitens der Sektion „Berlin“, welche das Friesenberghaus erwarb, und Gerd Sturm (Gespräch am 10. 1. 2011) seitens der Sektion „Eichstätt“, welche die Glorerhütte erwarb.

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Tarifbegünstigungen der Bahn, den Hinweis auf eine Neuerscheinung in der Alpinliteratur und die Erinnerung an die Einzahlung des Mitgliedsbeitrages (der von 1964 bis zur Auflösung 1976 nicht angehoben wurde).129 Ein Vereinsheim hatte „Donauland“ in der Zweiten Republik nicht, Vereinsabende und Vorträge fanden in Wohnungen von Leitungsmitgliedern statt. Hier befand sich auch die Bibliothek, die in den 1950er-Jahren 590 Bände statt der 3350 Bände von 1938 umfasste. Im Jahr 1954 fanden 41 Vereinsabende statt, bei denen insgesamt 382 Teilnahmen verzeichnet wurden,130 das sind ca. zehn Personen bei nahezu wöchentlich stattfindenden Abenden – angesichts einer Mitgliederzahl von ca. 120 Personen keine geringe Beteiligung, auch wenn man annimmt, dass die Vereinsleitung diese Abende für ihre eigenen Besprechungen mit nutzte. Die hohe Beteiligung wird noch deutlicher bei den touristischen Unternehmungen. In gut zwei Jahren (1. Dezember 1952 bis 31. Dezember 1954) fanden 55 solche Aktivitäten statt. Dabei handelte es sich größtenteils um Fuß- bzw. Schiwanderungen im Wienerwald (42); es fanden aber auch zwei Bergwanderungen und fünf Schibergfahrten, fünf Kletterfahrten bzw. -übungen und eine mehrtätige Sommer-Hochtour statt. Die schon in der Ersten Republik äußerst beliebten Schiunternehmungen hatten wiederum die höchsten Teilnehmerzahlen. Die restituierte „Donauland“-Hütte auf der Hinteralm in den Mürzsteger Alpen, wurde ab 1955 mit Strom versorgt und „ganzjährig bestens bewirtschaftet“.131 Ab 1959 wurden jeden Winter Schitouren auf die altvertraute Hinteralm ausgeschrieben, auch im Winter 1976, dem letzten des „Alpenverein Donauland“. Über alle touristischen Veranstaltungen der Jahre 1953 und 1954 gerechnet ergibt sich eine fiktive Beteiligung von sechs Personen je Unternehmung. Das mag gering erscheinen, ist aber hoch bei einer Mitgliederzahl von nur 120 Personen. Man stelle sich vor, an Wanderungen einer großen Alpenvereinssektion oder Naturfreunde-Gruppe würden jeweils fünf Prozent ihrer Mitglieder teilnehmen. Gerade wegen der kleinen Mitgliederzahl und wegen einer zwischen 1921 und 1938 gemeinsam erlebten Vereinsgeschichte, an deren Ende die erzwungene Vereinsauflösung und für viele Mitglieder und Bergfreunde Verfolgung und Tod standen, dürfte die Bindung zwischen den verbliebenen und sich in Österreich aufhaltenden Mitgliedern relativ eng und eine Grundlage ihrer hohen Beteiligung an Vereinsaktivitäten gewesen sein. Die Mitgliederzahl von 120 Personen im Jahr 1954 sank vermutlich in den folgenden zwei Jahrzehnten, aber die Dichte der ausgeschriebenen Wanderungen wurde beibehalten; im Mitteilungsblatt sind bis zur Vereinsauflösung 1976 nahezu wöchentlich Ausflüge und Wanderungen angesetzt.132 129

Die Österreichische Nationalbibliothek führt die Mitteilungsblätter von „Donauland“ aus der Zeit der Zweiten Republik erst ab 1954 (Nr. 52); daher kann der Erscheinungsbeginn der Blätter nicht genau angegeben werden. Der KVK weist die ÖNB als einzige Bibliothek aus, welche die Mitteilungsblätter aus der Zeit der Zweiten Republik führt. 130 Diese und folgende Daten sind, wenn nicht anders angegeben, dem Protokoll der Jahresversammlung v. 27. 1. 1955 entnommen; es ist das einzige Jahresversammlungsprotokoll, das sich aus der 48-jährigen Vereinsgeschichte im Vereinsakt befindet (ÖStA-AdR, BKA/VB, Donauland XIV-166). 131 DLN 6/7 (1955). 132 Allerdings hat bereits in den 1950er-Jahren nur die Hälfte der ausgeschriebenen Wanderungen auch stattgefun-

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Die Übernahme von Doppelfunktionen im Ausschuss weist auf eine geringer werdende Zahl dafür zur Verfügung stehender Mitglieder hin; als Führer der Ausflüge und Touren stand ab Dezember 1973 nur noch Fritz Czischek zu Verfügung.133 1970 leitete Karl Hanns Richter, im Alter von 84 Jahren, eine Wanderwoche „im Gebiet der Glorerhütte“, auf ‚seiner‘ Glorerhütte, die er im Juni 1924 als Obmann – damals noch der „Sektion ‚Donauland‘ des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins“ – eröffnet hatte und deren Hüttenwart er – in der Nachfolge des vertriebenen Joseph Braunstein – von der Restitution der Hütte 1953 bis zu deren Verkauf 1968 war. Die Käuferin der Glorerhütte, die deutsche Sektion „Eichstätt“, wurde von „Donauland“ vertraglich verpflichtet, „allen Donaulandmitgliedern, die die Glorerhütte auf dem Berger-Törl besuchen, dieselben Begünstigungen einzuräumen, die der D.A.V. seinen Mitgliedern einräumt“.134 Richter dürfte bis zu seinem Tod am 29. Jänner 1975 Obmann des „Alpenvereins Donauland“ gewesen sein. Jedenfalls wird im April der bisherige Stellvertreter, Fritz Czischek, der Vereinsbehörde als Obmann genannt.135 Das Mitteilungsblatt Nr. 194 lädt zur Jahreshauptversammlung für den 5. Mai 1976 ein; weder das Thema „Vereinsauflösung“ noch das von „Neuwahlen“ weist die Tagesordnung auf. Im Juni 1976 wurden im letzterschienenen Mitteilungsblatt Nr. 195 acht Wanderungen für den Sommer ausgeschrieben, einige waren mehrtägig – zum Bosruck, in die Seckauer Tauern, in die Gurktaler Alpen und in das südsteirische Bergland; für den 28. Juli wurde eine „Programmbesprechung“ angesetzt. In seinen letzten Zeilen kündigt das Blatt eine neue Verkehrsverbindung an: Eilzug von Wien nach Puchberg am Schneeberg – „mit sofortigem Anschluß nach Hochschneeberg“. Da über die Jahresversammlung vom 5. Mai 1976 kein Protokoll vorliegt und andere Quellen derzeit nicht bekannt sind, liegt auch keine Eigendarstellung der Auflösungsgründe „Donaulands“ vor. Immer weniger Mitglieder, Mitglieder die älter und kränker wurden sowie ein vereinsrechtlicher Rahmen, der in dieser Situation als administrative Bürde gesehen wurde, mögen die Auflösungsgründe gewesen sein. Die Selbstauflösung des „Alpenvereins Donauland“ war eine Spätfolge des Nationalsozialismus, der ihm zwischen 1938 und 1945 durch Vertreibung und Ermordung eine langfristig tragfähige Mitgliederbasis entzogen hatte; „Selbstauf­ lösung“ bezeichnet demnach nur die juristische Seite des Vorganges. Die Frage ist, warum es einem Verein mit derart attraktiver Geschichte kaum gelungen war, neue Mitglieder an sich zu ziehen, z.B. eine Jugendgruppe aufzubauen. Rückblickend scheint die Konstellation dafür gut gewesen zu sein: einerseits große Alpenvereine, die ihre Vereinsgeschichte tabuisierten und sowohl in Leitungsfunktionen wie an der Basis nicht eben selten

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den, sei es wegen Schlechtwetters oder wegen zu geringer Teilnahme. (Errechnet aus einem Vergleich der Anzahl stattgefundener Unternehmungen, wie sie das Protokoll der Jahresversammlung v. 27. 1. 1955 ausweist, mit den im Mitteilungsblatt ausgeschriebenen Unternehmungen des ersten durch die Mitteilungsblätter zur Verfügung stehenden Vergleichszeitraumes, das ist 1. 1. 1954 bis 31. 1. 1957.). Mitteilungsblatt Nr. 176. Kaufvertrag v. 9. 2. 1968, Grundbuch Lienz, EZ 80, Urkundensammlung Zl. 540. „Donauland“-Schreiben v. 24. 4. 1975 an die Vereinsbehörde über die am selben Tag in der Jahresversammlung gewählten Ausschussmitglieder, ÖStA-AdR, BKA/VB, Donauland XIV-166.

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Abbildung 4: Die Vereinsauflösung 1976

völkische Personalkontinuitäten aufwiesen,136 andererseits eine Schüler- und Studentenbewegung, welche die Väter nach ihrer Geschichte zu fragen begann. In anderen zuvor ebenfalls völkisch orientierten Kulturbereichen, z.B. beim Volkslied, fanden Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre Aufbrüche statt, wurde Selbstverständliches gegen den Strich gebürstet, machten neue Musikgruppen verschüttete widerständige Traditionen sichtbar. Diese Veränderungen kamen für den „Alpenverein Donauland“ anscheinend zu spät; dass „Donauland“ sich im Jahr 1968 veranlasst sah, die Glorerhütte zu verkaufen, symbolisiert, dass der Verein die im Gange befindlichen politischen, kulturellen und generationellen Entwicklungen für seinen Aufschwung nicht mehr nutzen konnte. Am 20. September 1976 gab Obmann Fritz Czischek dem Vereinsbüro der Bundespolizeidirektion Wien die „freiwillige Auflösung“ des Vereins per 30. September 1976 und gemäß Beschluß der Jahresversammlung vom 5. Mai 1976 bekannt – „mit Bergsteigergruß“.137

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Vgl. Amstädter, Alpinismus, S. 523–561; Zebhauser, Alpinismus, S. 201–240; Mailänder, Edelweiss, S. 259– 287. Auf Basis eines Projekts des Österreichischen Alpenvereins, des Deutschen Alpenvereins und des Alpenvereins Südtirol, das von Martin Achrainer, Friederike Kaiser und Florian Trojer geleitet wurde, erscheint zu Jahresende 2011 ein Band mit dem Titel „Der Alpenverein von 1919–1945“. Darin enthalten ist der umfassende Beitrag von Martin Achrainer und Nicholas Mailänder über die Geschichte des DÖAV 1919–1945. Während über die Geschichte des DÖAV in der Zeit von 1919 bis 1938 einige wissenschaftliche Untersuchungen vorliegen, fehlen Sondierungen dessen, wie der Österreichische Alpenverein und seine einzelnen Sektionen sich in der Zweiten Republik zu dieser Geschichte verhalten haben (Ansätze bei Amstädter, Alpinismus und Zebhauser, Alpinismus). Haben sie Kenntnis genommen von Publikationen, die außerhalb des Vereins entstanden sind und, wenn ja, wie sind sie damit umgegangen? Vereinsperiodika, Festschriften, Veranstaltungen, Sitzungsprotokolle und Homepages wären ein weitläufiger und für rezeptionsgeschichtliche Qualifizierungsarbeiten mehrerer Disziplinen heranziehbarer Untersuchungsgegenstand. ÖStA/AdR, BKA/VB – Donauland XIV-166.

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Das Jahr 1976 war Donaulands 55. Vereinsjahr  – so zählt es das Mitteilungsblatt. Die im Gründungsjahr 1921 begonnene Zählung wurde  – entgegen den politischen und vereinsgeschichtlichen Verhältnissen  – 1938 nicht unterbrochen, sondern die Jahre der NS-Diktatur wurden nachträglich weitergezählt, sodass 1945 das 24. Vereinsjahr war. Vielleicht ist dies eine Erklärung dafür: Wenn er von den Bergen spricht – so erzählte das frühere Donauland-Mitglied Joseph Braunstein 1995 in New York dem Filmemacher Lutz Maurer –, dann spreche er von Gefühlen, die er „nicht unterdrücken kann“.138 War es die Kontinuität solcher nicht unterdrückbarer Berg-Gefühle, derentwegen die Mitglieder des „Alpenvereins Donauland“ die Zählung der Vereinsjahre für die NS-Zeit nicht ausgesetzt haben?

Vielen Personen danke ich für Informationen, in besonderem Maße gilt das für Josef Haidenberger (Kals) und Martin Achrainer (Innsbruck).

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Fernsehfilm von Lutz Maurer: Der alte Mann und die Berge. Das lange Leben des Joseph Braunstein. ORF, Land der Berge, Sendetermin 2. 11. 1995.

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Not, Hunger, Kränkung Das Motiv der Deklassierung und die „soziale“ Argumentation in den lebensgeschichtlichen Erzählungen österreichischer Nationalsozialisten 1921 wird der österreichische Eisenbahnbeamte Alexander Wiesner aus dem Staatsdienst entlassen. Zur Bewunderung seines kleinen Buben Hans hatte er während des Krieges als Fahrdienstleiter eines wichtigen Bahnhofs der Nachschublinie zur Isonzofront die großen Züge dirigiert, angehalten, abgefertigt, auf die Reise geschickt. „Sogenannte gute Freunde, die ebenfalls um ihren Posten bangten“,1 zeigten ihn nach dem Krieg wegen einer Bagatell-Angelegenheit an. Damit war der gesuchte Vorwand gefunden. Mit Alexander Wiesner trifft es Zehntausende weitere ehemalige k. u. k. Beamte, die für die kleine Republik zur untragbaren Belastung geworden sind. Nach den bereits durchlittenen Jahren des Hungers und der Not bricht für die Familie die Welt der Sicherheit und Ehrbarkeit, die durch die alte Donaumonarchie verkörpert worden war, endgültig zusammen. Ihre Existenz ist massiv bedroht, der soziale Abstieg schier unaufhaltsam. Die Wohnungen werden mit jedem Umzug kleiner und schlechter; der Vater ist gezwungen, jede mögliche, noch so schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen. Hans Wiesners Mutter leidet „unsäglich“ unter den Belastungen: „Warum nur, warum nur! Gram und Scham begannen ihr Herz anzuknabbern, und manchmal kamen bittere Worte aus ihrem Mund.“ Im Oktober 1930 stirbt im Krankenhaus einer Kleinstadt nahe Wien Anna Hammer, Mutter von fünf Kindern. Ihr ältester Sohn, Erwin, übernimmt nun mit seinen 13 Jahren das „Amt“ der Mutter, „vom Kochen bis zum Strümpfestopfen“. Es ist die Zeit der großen Wirtschaftskrise, und der Familie geht es sukzessive immer schlechter. Schließlich muss die an sich schon kleine Wohnung aufgegeben werden; die sechsköpfige Familie zieht in eine feuchte Einzimmerwohnung um. Der Vater verdient als Schuster im Winter oft so wenig Geld, dass es fürs Notwendigste nicht mehr reicht. Dann muss Erwin, der Älteste, sich im „Wohltätigkeitshaus“ anstellen: „Ja, das sagt sich sehr leicht, aber wie mir oft zumute war, wenn ich mich, ausgerüstet mit zwei Töpfen oder Milchkannen, in Reih und Glied angestellt habe, um einige Schöpfer Suppe oder Gemüse zu erhalten. Ein Trost – wir waren nicht die Einzigen und man gewöhnt sich an alles!“ Mit zehn Jahren kommt Albert Haubenhofer, Sohn eines Holzknechts und Bewirtschafters einer kleinen steirischen Bergbauernhube, 1930 als Ziehkind auf den Hof seines Großonkels. Mit der kleinen Hube seiner Eltern geht es mittlerweile bergab; immer häufiger und 1 Dieses und die folgenden beiden Beispiele stammen aus lebensgeschichtlichen Erzählungen, die sich in der Sammlung der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien finden. Bei den verwendeten Namen handelt es sich um Pseudonyme.

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länger ist der Vater als Holzknecht arbeitslos. Schließlich muss die Familie die Hube aufgeben und wird von der Wohngemeinde, die der Verpflichtung zur Armenunterstützung entgehen will, in die zuständige Gemeinde, einem nahe gelegenen Industriestädtchen, ausgewiesen. Albert, der älteste Sohn, steht an diesem 11. März 1934 an der Straße, um seine Angehörigen zu verabschieden: Ich sah sie von St. Marein herankommen: Zwei Leiterwagen von Pferden gezogen, beladen mit zwei Betten, einem Tisch und einigen Sesseln, einem Hängekasten und einem Schubladekasten, einem kleinen eisernen Öfchen, etwas Holzvorrat und dem Holzknechtwerkzeug des Vaters  – das war alles, was sie nach der Bezahlung der Schulden noch besaßen und mitnehmen konnten. Auf dem vorderen Wagen saß die Mutter, bedeckt mit einem weißen Kopftuch, auf den Armen die zweijährige Gisela. Es war ein Anblick, den ich mein Leben lang nicht vergessen kann – heimatlos, wie Bettler und Zigeuner zogen sie dahin.

Albert bleibt als Pflegekind am Hof seines Großonkels zurück. Dass er nun von manchen als „Bettelbub“ verhöhnt wird, ärgert ihn, aber mehr noch ist er beschämt wegen der Erniedrigung seiner Eltern. Die lebensgeschichtlichen Erzählungen der Generation der unmittelbar vor, während oder nach dem Ersten Weltkrieg Geborenen sind voll von ähnlichen, zutiefst internalisierten Deklassierungserlebnissen. Diese Motive nehmen in dem Gesamtplan, der jeder dieser Erzählungen implizit zugrunde liegt,2 eine zentrale Stellung ein und erfüllen eine ganz spezifische Funktion, wie die nachfolgende Analyse zeigen wird. Ihre Präsenz in Lebenserinnerungen vor allem von ehemaligen Nationalsozialisten ist so stark, dass sich von einem regelrechten Deklassierungssyndrom sprechen lässt. Zur Deutung der Motivation von Menschen, sich der politischen Bewegung des Nationalsozialismus anzuschließen, reichen quantitative, statistische Aufschlüsselungen des Sozialprofils der Wähler, Mitglieder und Anhänger der NSDAP keineswegs aus.3 Zwischen den 2 „Wir denken ‚Lebensgeschichte‘ in der Regel als eine Kontinuität und […] als eine Teleologie der Bildung, des Aufstiegs, der Selbstentfaltung der Persönlichkeit, als eine ‚Laufbahn‘. Hinter den Erzählungen steht also eine kulturspezifische Meta-Erzählung der Lebensgeschichte.“ Reinhard Sieder, Ein Hitlerjunge aus gutem Haus. Narrativer Aufbau und Dekonstruktion einer Lebensgeschichte, in: Wolfram Fischer-Rosenthal et al. (Hg.), Biographien in Deutschland. Soziologische Rekonstruktionen gelebter Gesellschaftsgeschichte, Opladen 1995, S. 330–359, hier 354 f. 3 Wobei die Bedeutung quantifizierender Untersuchungen freilich keineswegs verkannt werden sollte. Gerade Gerhard Botz hat in dieser Hinsicht mit einer Reihe von bahnbrechenden Beiträgen Pionierarbeit geleistet; beispielhaft seien genannt: Gerhard Botz, Die österreichischen NSDAP-Mitglieder. Probleme der quantitativen Analyse aufgrund der NSDAP-Zentralkartei im Berlin Document Center, in: Reinhard Mann (Hg.), Die Nationalsozialisten. Analysen faschistischer Bewegungen, Stuttgart 1980, S. 98–136; ders., The changing patterns of social support for Austrian national socialism (1918–1945), in: Stein Ugelvik Larsen et al. (Hg.), Who were the fascists. Social roots of European fascism, Bergen / Oslo / Tromsø 1980, S. 202–225; ders., Strukturwandlungen des österreichischen Nationalsozialismus (1904–1945), in: Isabella Ackerl et al. (Hg.), Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift Neck, Bd. 2, Wien 1981, S. 163–193. Auf diesen und weiteren Arbeiten Botz’ bauen u.a. auf:

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auf Basis der Analyse serieller Quellenbestände (re-)konstruierten Strukturen und den vermuteten Motiven der Akteure klafft in aller Regel ein beträchtliches ‚empirisches Loch‘. Eine Analyse der Selbstdeutungen von Betroffenen in Form von narrativen Interviews oder lebensgeschichtlichen Erinnerungstexten kann helfen, diese Lücke zu schließen. Nach Gerhard Botz liefern quantitative Analysen in der Geschichtswissenschaft „in der Regel nur ein rohes Daten- und Aussagengerüst, das erst der Ausfüllung und Verfeinerung durch eine Vielfalt anderer, meist ‚qualitativer‘ Informationen bedarf “.4 In seinem 1978 erstmals veröffentlichten Programm einer sozialwissenschaftlichen Zeitgeschichte forderte er daher eine Kombination mit anderen, qualitativen Quellen und Methoden und schlug dafür die „Mündliche Geschichte“ vor. Ein vergleichbarer Quellenwert wie jenem der Oral History ist den Erzeugnissen der popularen Autobiografik zuzuschreiben.5

Die Akteure Für die Zwecke dieser Analyse wurden lebensgeschichtliche Aufzeichnungen von neun zwischen 1912 und 1920 geborenen Österreichern, die in einem mehr oder weniger intensiven Naheverhältnis zum Nationalsozialismus standen, aus den Beständen der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ ausgewählt.6 Das Spektrum reicht vom hohen illegalen HJ-Funktionär über den Juliputschisten von 1934 und dem ‚Märzveilchen‘ 7 von 1938 bis

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Thomas Albrich, Wolfgang Meixner: Zwischen Legalität und Illegalität. Zur Mitgliederentwicklung, Alters- und Sozialstruktur der NSDAP in Tirol und Vorarlberg vor 1938, in: Zeitgeschichte 22.5/6 (1995), S. 149–187; Dirk Hänisch: Die österreichischen NSDAP-Wähler. Eine empirische Analyse ihrer politischen Herkunft und ihres Sozialprofils, Wien / Köln / Weimar 1998; Kurt Bauer: Elementar-Ereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934, Wien 2003. Gerhard Botz: Neueste Geschichte zwischen Quantifizierung und „Mündlicher Geschichte“. Überlegungen zur Konstituierung einer sozialwissenschaftlichen Zeitgeschichte von neuen Quellen und Methoden her, in: ders. et al. (Hg.), „Qualität und Quantität“. Zur Praxis der Methoden der Historischen Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. / New York 1988 (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft, 10), S. 13–42, hier 24. Vgl. Günter Müller: „So vieles ließe sich erzählen…“. Von der Geschichte im Ich und dem Ich in den Geschichten der popularen Autobiographik, in: Wiener Wege der Sozialgeschichte. Themen – Perspektiven – Vermittlungen, hg. v. Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien, Wien / Köln / Weimar 1997, S. 335–356; ders.: „Vielleicht hat es einen Sinn, dachte ich mir …“. Über Zugangsweisen zur popularen Autobiographik am Beispiel der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ in Wien, in: Historische Anthropologie 5.2 (1997), S. 302–318. Vgl. Michael Mitterauer: „Ich in der Geschichte, Geschichte im Ich“. Zur „Dokumentation lebens­geschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, in: Klaus Amann, Karl Wagner (Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur, Innsbruck 1998, S. 241–269; Günter Müller: Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, in: Peter Eigner et al. (Hg.), Briefe – Tagebücher – Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht, Wien 2006 (Konzepte und Kontroversen, 4), S. 140–146. Spottname für „Mitläufer“, die im März 1938 aus opportunistischen Gründen der NSDAP beitraten. Vgl. Wolfgang Benz et al. (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 52007, S. 635.

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zum sozialdemokratischen Arbeiter, der nach dem ‚Anschluss‘ Sympathien für gewisse soziale Aspekte des Nationalsozialismus erkennen lässt. – Ein Überblick über die ausgewählten Personen:8 Matthias Unterthaler, geboren 1912, oberösterreichisches Salzkammergut, kleinbäuerliches Milieu, Holzknecht und Zimmerer; Josef Kronburger, geboren 1912, Mittelburgenland, kleinbäuerliches Milieu, Handelsgehilfe; Kilian Schmidt, geboren 1912 in einer kleinen Agrargemeinde nahe Graz, unterbäuerliches Milieu, Schwerarbeiter; Dr. Anton Hadwiger, geboren 1912 im niederösterreichischen Weinviertel, Eltern Lehrer, Jusstudent; Ernst Regerl, geboren 1913 als Sohn einer ledigen Dienstmagd in der Oststeiermark, Bäckerlehre, später als Versicherungsagent tätig; Dr. Hans Wiesner, geboren 1913 als Sohn eines Eisenbahnbeamten, aufgewachsen in einer obersteirischen Kleinstadt, Student der evangelischen Theologie; Heinz Wallner, geboren 1914 in einem niederösterreichischen Industrieort an der Donau, Indus­ triearbeiter; Erwin Hammer, geboren 1917 als Sohn eines Schusters im Burgenland, später Übersiedlung in eine Kleinstadt nahe Wien, Zuckerbäckerlehre; Albert Haubenhofer, geboren 1920, Vater Holzknecht und Bewirtschafter einer Bergbauernhube in der Obersteiermark, Bauernknecht. Von einer „repräsentativen Auswahl“ im Sinne empirischer Sozialforschung kann nicht die Rede sein. Trotzdem steht die ausgewählte Gruppe paradigmatisch für jene Generation von jungen Österreichern, die in den 1930er-Jahren in den Sog der Nazi-Ideologie gerieten.9 Methodisch lehnt sich die Textanalyse an Konzepte an, die für narrative Interviews und lebensgeschichtliche Erinnerungsgespräche entwickelt wurden.10 Ähnlich ausgereifte und erprobte   8 Acht der neun Lebensberichte sind in der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ archiviert; für diese acht Autoren wurden durchwegs Pseudonyme verwendet. Einzig die Lebensgeschichte Anton Hadwigers wurde einer regulären Buchveröffentlichung entnommen (Anton Hadwiger, Was von der Liebe bleibt, Wien 1993); der Name dieses Autors ist daher nicht anonymisiert. Die genannten drei sowie weitere sechs Autobiographien habe ich im Rahmen des qualitativen Teils meiner Dissertation ausführlich analysiert (Kurt Bauer, Sozialgeschichtliche Aspekte des nationalsozialistischen Juliputsches 1934, phil. Diss., Univ. Wien 2001). Auf eine geschlechtsneutrale Formulierung wird verzichtet, weil ausschließlich die Texte von männlichen Österreichern untersucht wurden, die wie die Beteiligten an den SA-Aufständen im Zuge des Juliputsches aus ländlichen Regionen stammten.   9 Ähnlich Christian Lüders, Michael Meuser: Deutungsmusteranalyse, in: Ronald Hitzler, Anne Honer (Hg.), Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen 1997, S. 57–79, hier 72: „Was bei der Auswahl der Texte herauskommt, ist nicht ein – und will es auch gar nicht sein – repräsentatives Sample. Vielmehr geht es um die Identifikation exemplarischer Texte, die dann im Sinne einer Fallanalyse interpretiert werden können.“ 10 Das angewendete Analyseverfahren folgt in Variationen dem von Reinhard Sieder entwickelten Konzept der Sequentiellen Textanalyse von Interviews zur Geschichte des Arbeiteralltags im Wien der Ersten Republik. Vgl. Reinhard Sieder: Geschichten erzählen und Wissenschaft treiben. Interviewtexte zum Arbeiteralltag. Erkenntnistheoretische Grundlagen, Quellenkritik, Interpretationsverfahren und Darstellungsprobleme, in: Gerhard Botz, Josef Weidenholzer (Hg.), Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte „geschichtsloser“ Sozialgruppen, Wien / Köln 1984, S. 203–231. Dieses methodische Konzept unterscheidet sich in manchen Details von dem von Fischer-Rosenthal/Rosenthal beschriebenen methodischen Vorgehen bei der ‚biographischen Fallrekonstruktion‘, knüpft aber im Wesentlichen an die von den

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Methodenkonzepte für die Analyse lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, auf die aufzubauen gewesen wäre, liegen nicht vor.11 Bei allen Unterschieden zwischen den Texttypen „schriftliche Autobiographie“ und „mündliches Erinnerungsgespräch“ handelt es sich allerdings um verwandte Kategorien, so dass eine ähnliche Vorgehensweise gerechtfertigt scheint.

Das Deklassierungsmotiv und seine Ausformungen Im Zuge der sequentiellen Textanalyse wurde eine Reihe von Themenfeldern identifiziert, denen im Gesamtkontext jeweils spezifische Bedeutung zukommt: Das spezifische Verhältnis zu Eltern und nahen Angehörigen – insbesondere die meist schwierige Vater-Sohn-Beziehung wird häufig thematisiert, ebenso die gewöhnlich weniger konfliktbeladene und liebevollere Beziehung zur Mutter. Ein weites Themenfeld sind Kirche und Religion, wobei bei den Autoren katholischer Herkunft eine überwiegend negative und ablehnende Haltung zur katholischen Kirche in zahlreichen Passagen deutlich zutage tritt. In praktisch allen analysierten Lebensberichten kommen in unterschiedlich starker Gewichtung und Ausformung Motive aus der Welt der Technik und der technischen Innovationen vor (Fahrräder, Motorräder und Autos, Radios und „Musikschränke“, Fotografie, elektrischer Strom etc.). Ein zweiter Motivkreis, der mit diesen technischen Motiven zusammenhängt, betrifft Ausflüge, Wanderungen, Urlaubsreisen, Berg- und Fahrradtouren.12 In der vorliegenden Arbeit liegt der Fokus allerdings auf dem Themenfeld der sozialen Deklassierung und den darauf aufbauenden Argumentations- und Deutungsmustern. Denn die während des Ersten Weltkrieges, in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in der Weltwirtschaftskrise am eigenen Leib erfahrene Not formte  – wenngleich in verschieden intensiver Ausprägung  – sämtliche Autoren. Diese Motive ziehen sich wie ein roter Faden durch alle Lebensberichte.

Mangel und Hunger Der Erste Weltkrieg und die Nachkriegsjahre, also die Kinderjahre der Autoren, waren in jeder Hinsicht eine Hungerzeit. Matthias Unterthaler und sein Bruder stahlen Rüben bei den umliegenden Bauern, versuchten, eine Truhe mit Lebensmitteln mit dem Sappel aufzubrechen und brieten Schnecken. Kilian Schmidt, ebenfalls das Kind kleiner Baubeiden dargelegten Grundprinzipien an. Vgl. Wolfram Fischer-Rosenthal, Gabriele Rosenthal: Narrationsanalyse biographischer Selbstpräsentation, in: Ronald Hitzler, Anne Honer (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen 1997, S. 133–164, insbes. 147–156. 11 Vgl. Müller, „Vielleicht hat es einen Sinn“, S. 307. 12 Ausführlich dazu: Kurt Bauer (Hg.): Faszination des Fahrens. Unterwegs mit Fahrrad, Motorrad und Automobil, Wien / Köln / Weimar 2003 (Damit es nicht verlorengeht … , 50).

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ern, erinnert sich, dass die Lebensmittelkarten „praktisch wertlos“ waren, weil man dafür nichts kaufen konnte. Selbst Polentasterz gab es nicht, die selbst angebauten weißen Rüben „hatten keine Kraft“ und das Brot war schlecht. Geschwächt durch die Unterernährung starb Kilians Schwester an der Spanischen Grippe. In den Berichten von zwei weiteren aus klein- bis mittelbäuerlichen Milieus stammenden Autoren – Ernst Regerl und Josef Kronburger  – wird die Not der Nachkriegsjahre ebenfalls, allerdings in eher allgemein gehaltenen Worten, thematisiert. Es ist zu vermuten, dass sie direkt weniger intensiv davon betroffen waren. Die Familie des Eisenbahnbeamten Wiesner saß während des Krieges häufig „ziemlich hungrig beim Mittagessen“. Für Hans Wiesners 1921 geborenen Bruder Alfred konnten die Eltern oft trotz intensivster Bemühungen keine Milch auftreiben und mussten stattdessen Zuckerwasser als Milchersatz verwenden. Der Versuch, in der Wohnung zwei Hühner zu halten, die diejenigen Eier legen sollten, die man beim Kaufmann nicht bekam, schlug fehl. Hans wurde jedes Jahr in den großen Ferien „zur Kräftigung“ zu den kleinbäuerlichen Großeltern geschickt. Anton Hadwigers Eltern, beide Lehrer, hatten es offensichtlich mit Geschick und Fleiß verstanden, zu Selbstversorgern zu werden und sich und die drei Söhne gut durch den Krieg und die Nachkriegszeit zu bringen. Die fern vom Elternhaus verbrachte Zeit als Gymnasiast beschreibt der Autor allerdings als „Hungerjahre“, weil das Kostgeld gering bemessen war und es meist nur „kleine Portionen herkömmlicher Speisen“ gab. Die Eltern des 1917 geborenen Erwin Hammer gingen nach dem Krieg für einige Jahre aus der Kleinstadt zu den bäuerlichen Verwandten ins Burgenland, weil die Lebensmittel­ versorgung dort besser war. Als sich 1929 eine Gelegenheit ergab, zog die Familie zurück in die Stadt. Nach dem baldigen Tod der Mutter und mit dem Einsetzen der Wirtschaftskrise reichte das, was der Vater als Schuhmacher verdiente, oft kaum für das Nötigste. Unter tristen Bedingungen verlief auch die Kindheit und Jugend von Albert Haubenhofer. Als halb­ wüchsiger Knecht am Hof seines Großonkels konnte er sich kaum einmal satt essen; gerade die Jüngsten, als die Letzten in der Hierarchie, bekamen am Hof am wenigsten und waren so für die körperlich schwere Arbeit nur unzureichend gerüstet.

Soziale Kränkung, Erniedrigung Ein einschneidendes Erlebnis für Anton Hadwiger war die Zurücksetzung seines Vaters bei dessen Bewerbung als Oberlehrer gegenüber einem christlichsozialen Kandidaten, obwohl er hervorragend qualifiziert war und man ihn im Ort favorisierte: „Man musste die Erniedrigung ertragen. Und Erniedrigung war es, nicht seinem Wert, seinen Leistungen entsprechend behandelt zu werden, sondern als Schacherobjekt parteipolitischer Freunderlwirtschaft.“ Im Gegensatz zur Familie Wiesner war mit diesem kränkenden Erlebnis freilich keine direkte Bedrohung der Existenzgrundlagen der Familie Hadwiger verbunden.

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Als uneheliche Kinder erlebten Heinz Wallner und Ernst Regerl die Zurückweisung durch die katholische Kirche als erniedrigend. Der eine sollte auf Wunsch seines Großvaters Ministrant werden, was prompt mit dem Hinweis auf Heinz’ uneheliche Geburt abgewiesen wurde. Es war der Beginn seiner Abneigung gegen „geistliche Herren und Kirche“. Für den anderen (Ernst Regerl) erhoffte die Mutter die Aufnahme ins Priesterseminar. Sie hatte sich direkt an den Bischof gewandt. Die Antwort erteilte der örtliche Pfarrer: „Nur Söhne von frommen Eheleuten können ins Seminar aufgenommen werden, sagte er bitterböse. Ein unehelicher Bub von einer Mutter aus dem Findelhaus ist ein ‚Schandfleck‘.“ In Ernsts Herz „blieb ein Stachel zurück“. Einige Jahre vorher, mit neun Jahren, hatte Ernst Regerl eine ähnliche Kränkung erfahren: Der Dienstherr seiner Mutter nannte ihn „Taugenichts, sozialer Tunicht­gut“. Das traf ihn wie ein „Keulenschlag“ – und er nahm sich vor, „kein Bauernknecht, sondern etwas ‚Höheres‘ zu werden“.

Lebensgeschichtliche Brüche und Zäsuren Neben den durch die ‚Normalbiografie‘ vorgezeichneten, gleichsam systemkonformen Brüchen (Schuleintritt, Übertritt von der Schule ins Berufsleben, Heirat etc.), gab es im Leben aller Autoren jeweils Ereignisse, die als Kontinuitätsbrüche zu bezeichnen sind. Viele dieser Brüche waren durch die häufige, immer wiederkehrende Arbeitslosigkeit aufgrund der Wirtschaftskrise bedingt. Trotz seines guten Schulabschlusszeugnisses fand Kilian Schmidt keine Lehrstelle und war gezwungen, jahrelang zu Hause im kleinbäuerlichen Betrieb zu arbeiten. Auch die folgenden Jahre waren von periodischer Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Für Heinz Wallner war ebenfalls keine Lehrstelle aufzutreiben, und der Eintritt in die örtliche Fabrik verzögerte sich wegen der wirtschaftlichen Probleme. Später wurde er immer wieder vorübergehend entlassen, wenn die Auftragslage schlecht war. Ernst Regerls Probleme, einen Lehrplatz zu finden, waren beträchtlich; mehrmals war er zum Wechsel gezwungen. Als sich die Wirtschaftskrise verstärkte, verlor er seinen Posten als Bäckergeselle, war mehrere Monate ohne Arbeit und ging schließlich auf die Walz. Matthias Unterthaler bezeichnet die gesamte Epoche vor 1938 als „Arbeitslosenzeit“, womit auch die persönliche Lage exakt beschrieben ist: Kurze Perioden der Beschäftigung wurden immer wieder von lang andauernder Erwerbslosigkeit unterbrochen. Die Flucht als illegaler Nationalsozialist nach Deutschland und die freiwillige Rückkehr einige Monate später war ein ebenso markanter Bruch wie die mehr als ein halbes Jahr dauernde Zeit im Gefängnis. Josef Kronburger hatte nach dem Ende seiner Lehre genug von seinem Chef. Allerdings fand er nun vier Jahre lang keine Arbeit in seinem erlernten Beruf: Die erste Zeit habe ich vergeblich versucht, als Verkäufer eine Stellung zu finden. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass ich nun gänzlich meinen Beruf aufgeben sollte und konnte mich nur schwer in die Bauernarbeit daheim hineinfinden. Es gab für mich nicht nur technische Schwierigkeiten, es fehlte mir auch die Lust dazu.

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Erwin Hammer wurde nach dem Ende seiner Lehre entlassen. Dass er gleich anschließend im Zusammenhang mit seiner illegalen Betätigung für die Nationalsozialisten verhaftet wurde, schob für ihn zumindest die Entscheidung auf, was weiter geschehen sollte. Nach seiner Freilassung stand ihm „ein neuer Leidensweg“ bevor, denn die Stiefmutter war keineswegs begeistert von seiner Rückkehr. Als die Arbeitslosenunterstützung vorübergehend ausgesetzt wurde, verließ Erwin Hammer heimlich den Familienhaushalt und begab sich für mehrere Monate auf die Walz. Der entscheidende Bruch im Leben von Hans Wiesner ereignete sich im Sommer 1933, als sich herausstellte, dass sein Vater eine Fortsetzung des Studiums auf keinen Fall mehr finanzieren konnte. So ‚flüchtete‘ der NS-Aktivist Hans Wiesner schließlich nach Deutschland zur Österreichischen Legion, einer aus jungen österreichischen National­sozialisten gebildeten SA-Einheit. Anton Hadwigers Leben verlief aufgrund des soliden familiären Backgrounds lange Zeit in einer ziemlich kontinuierlichen Bahn. Der durch die Verhaftung als illegaler HJStabsleiter für Österreich und den mehr als einjährigen Aufenthalt im Gefängnis bewirkte Bruch war schließlich eklatant. Ein historisches Ereignis – der ‚Anschluss‘ vom März 1938 – führte bei fast allen Autoren zu weiteren markanten Änderungen in der Biografie, zu einem deutlich sich abzeichnenden Bruch, der sich durch die Lebensberichte zieht. Und das nicht nur auf lange Sicht durch die im Normalfall rund zwei bis drei Jahre danach erfolgte Einberufung zur Wehrmacht und Teilnahme am Zweiten Weltkrieg, sondern auch durch eine rasche, durchwegs als positiv erlebte Änderung der beruflichen und häufig auch der privaten Situation. Dieser Bruch war für die allermeisten Angehörigen der Generation, der die neun Autoren entstammen, so massiv, dass die Kohorte der unmittelbar vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg Geborenen als ‚Anschluss-Generation‘ bezeichnet werden könnte.13 In der Zeit des Nationalsozialismus schaffte es Kilian Schmidt vom Hilfsarbeiter zum Postbediensteten; Heinz Wallner wurde nach langer Arbeitslosigkeit in der örtlichen Fabrik als Angestellter aufgenommen; Albert Haubenhofer gab die Existenz als Bauernknecht sofort auf, fand umgehend Arbeit in der Industrie und brachte es rasch zum qualifizierten Facharbeiter; Josef Kronburger konnte wieder im erlernten Beruf als Verkäufer arbeiten; Ernst Regerl wurde Finanzbeamter, was er zwar als gesellschaftlichen Aufstieg, aber finanziellen Niedergang gegenüber seiner früheren Position als Versicherungsagent wertete. Bemerkens13 Zur „Grundbefindlichkeit dieser Generation“ heißt es bei Meinrad Ziegler, Waltraud Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, Wien / Köln / Weimar 21997, S. 90: „Von dieser Seite her wird der Nationalsozialismus in Österreich kaum als Eingriff einer fremden Macht, sondern mehr als System erlebt, mit dem sich verschiedenste neue Möglichkeiten zu öffnen scheinen. Alle diese Personen fühlen sich mit einer bestimmten Selbstverständlichkeit in der einen oder anderen Weise diesem System verbunden oder ‚verpflichtet‘.“ – Zu den vom „Anschluss“ bewirkten persönlichen Zäsuren vgl. auch Benedikt Erhard, Bernhard Natter: „Wir waren ja alle arbeitslos“. NS-Sympathisanten deuten ihre Motive, in: Thomas Albrich et al. (Hg.): Tirol und der Anschluss. Voraussetzungen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen 1918–1938, Innsbruck 1988, S. 539–569, hier 547–549.

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wert ist die Entwicklung von Matthias Unterthaler: Aus dem arbeitslosen Zimmerer und leidenschaftlichen Wilderer wurde ein fest besoldeter Revierjäger. Anton Hadwiger sah sich in seinen politischen Ambitionen enttäuscht, fand aber eine Aufgabe in seinem „Wunsch- und Interessenbereich“, der Kultur, als Herausgeber von Buchreihen und Zeitschriften. Einzig Erwin Hammer arbeitete weiter wie vorher als Zuckerbäcker und wurde ziemlich bald zum Militär einberufen. Auch Hans Wiesner Lebensweg zum evangelischen Pfarrer hätte sich ohne den ‚Anschluss‘ vorläufig – bis zum Dienst in der Wehrmacht – nicht wesentlich anders gestaltet.

Das Deklassierungssyndrom Die Motive Not, Hunger, soziale Kränkung und Deklassierung sind  – das wird sich noch zeigen  – in den lebensgeschichtlichen Argumentationen und Evaluationen, die im Zusammenhang mit der persönlichen Verstrickung in den Nationalsozialismus stehen, von großer, ja zentraler Bedeutung. In ihren in den 1930er-Jahren entstandenen Studien über den Nationalsozialismus legt die österreichisch-französische Historikerin Lucie Varga ein besonderes Augenmerk auf diese Motive. Basierend auf der Analyse der Lebensläufe von frühen deutschen NS-Anhängern aller Altersgruppen und Milieus, die durchwegs von „wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erschütterungen“ gekennzeichnet sind, kommt sie zur Erkenntnis, dass nicht die ökonomische Misere, nicht die eingeschränkte Lebensweise, „sondern der Verlust der ‚sozialen Ehre‘ […] als psychischer Einschnitt empfunden“ wird. Es spiegelt sich darin „der Wunsch, das Bedürfnis, der leidenschaftliche Wille, eine soziale Auslese, einen sozialen Einfluss und eine soziale Stellung zu bewahren, die sich weder in Zahlen noch in Geld ausdrücken lassen“. Diese soziale Deklassierung, dieses „Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren“, habe dem Nationalsozialismus den Boden bereitet.14 Anstatt von „sozialer Ehre“ und der Angst vor ihrem Verlust – ein Begriff, den Varga bewusst aus der NS-Propaganda übernimmt –, möchte ich von einem ‚Deklassierungssyndrom‘ sprechen, das in der Zwischenkriegszeit weite Kreise der Gesellschaft erfasste. Mit dieser Bezeichnung soll nicht nur die Zurücksetzung und Kränkung der persönlichen Ehre, sondern darüber hinaus auch die real erlittene Not benannt werden, die in den meisten Lebensberichten – jenseits aller ‚Ehre‘ – zum Ausdruck kommt. Wie die analysierten autobiografischen Erzählungen zeigen, empfanden Angehörige von bäuerlichen oder Arbeitermilieus die mit sozialen Deklassierungen verbundenen Kränkungen nicht weniger stark als Angehörige (klein-)bürgerlicher Milieus. Dieses Deklassierungsmotiv ist die Basis, auf der die meisten Autoren ihre lebensgeschichtlichen Argumentationen aufbauen; insofern ist es von zentraler Bedeutung. 14 Lucie Varga: Die Entstehung des Nationalsozialismus. Sozialhistorische Anmerkungen, in: Dies., Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936–1939, Frankfurt a. M. 1990, S.  115–137, hier 120 f. Der Beitrag ist ursprünglich 1937 in den „Annales“ in französischer Sprache erschienen.

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Nazi-Ideologeme Neben den erwähnten Motiven sind in den analysierten lebensgeschichtlichen Erzählungen Ideologeme15 der nationalsozialistischen Weltanschauung mehr oder weniger deutlich erkennbar. Bezüglich des zentralen NS-Ideologems, des Antisemitismus, ist aber eine auf den ersten Blick überraschende Feststellung zu machen: Wörter wie ‚Jude‘, ‚Judentum‘, ‚jüdisch‘ kommen in den allermeisten Texten überhaupt nicht vor, von Begriffen wie ‚Weltjudentum‘, ‚jüdische Weltverschwörung‘ etc. gar nicht zu reden. Angesichts der zentralen Bedeutung des Antisemitismus in der NS-Propaganda und im nationalsozialistischen Alltagsdiskurs wird die Abwehr und Verdrängung dieses Themas durch die Autoren offensichtlich. Der einzige Autor, der kurz den „Judenpogrom“ (9./10. November 1938) anspricht, ist Hans Wiesner. Als Soldat sah er einmal einen alten Mann mit Judenstern, und im Juni 1943 erzählte ihm sein ehemaliger Professor von der „Judenverfolgung“ und „offenbar umfangreichen Tötungen“ – das alles war ihm „völlig neu und entsetzlich“. Der Sozialdemokrat Heinz Wallner erwähnt in einem ebenso beiläufigen wie vielsagenden Nebensatz Juden. „Abbaukommissionäre“, die im Herbst 1937 die Fabrik auf Rationalisierungspotenziale hin durchleuchten sollten, wurden mit offen gewalttätigem Protest empfangen. Aber Gendarmerie und die längst nationalsozialistisch unterwanderte Fabrikleitung hielten sich auffallend zurück – sie „vergönnten den Kommissaren, es waren Juden, die Hiebe“. Bemerkenswert ist daran, dass Heinz Wallner es wagt – offensichtlich weil er nicht unter dem starken Rechtfertigungs- und Verdrängungszwang ehemaliger National­sozialisten steht –, es zumindest indirekt und beiläufig einfließen zu lassen, dass Juden in der nationalsozialistischen Ideologie als Todfeinde galten und verfolgt wurden. Persönliche unterschwellige, typischerweise ‚sozial‘ argumentierte antisemitische Ressentiments werden in der Erzählung auf diese Art an die Nationalsozialisten delegiert.16 Ausführlich befasst sich Anton Hadwiger mit dem Thema ‚Juden‘. Dabei strapaziert er mehrmals das antisemitische Stereotyp vom ‚guten‘ und vom ‚schlechten‘ Juden. 1932 kam es zu einem Schlüsselereignis, das für den eifrigen HJ-Führer die Bestätigung des zentralen NSIdeologems brachte: Ein jüdischer Wohnungsvermittler betrog die Eltern. Diese hatten ihren Heimatort aus Kränkung über das erlittene Unrecht (Ablehnung der Bewerbung als Oberlehrer) verlassen, um in die Großstadt Wien zu ziehen. Als Student erlebte Anton Hadwiger an der Universität sogenannte „Judenkrawalle“:17 15 Mit der Bezeichnung ‚Ideologeme‘ sind in diesem Beitrag die einzelnen Elemente einer politischen Ideologie gemeint. 16 Einen vergleichbaren Fall von Übertragung schildern Erhard, Natter, „Wir waren ja alle arbeitslos“, S. 556: Ein christlichsozialer Bergarbeiter („von Haus aus ein Schwarzer“) erzählte „nicht ohne Genugtuung“, dass nach dem „Zusammenbruch“ ein besonders schikanöser Vorgesetzter als „Vierteljud“ aus der Verwaltung des Bergwerkes vertrieben wurde. 17 Gemeint sind regelmäßige deutschnationale und nationalsozialistische Ausschreitungen gegen Studentinnen und Studenten jüdischer Herkunft; siehe dazu:Kurt Bauer: Die kalkulierte Eskalation. Nationalsozialismus und Ge-

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Nach meiner damaligen Meinung, die ich auch heute noch teile, waren sie vor allem sozial bedingt: In den ersten Reihen der Hörsäle saßen sehr gut gekleidete junge Damen und Herren, die vor den Vorlesungen Schinkensemmeln aus Pergamentpapier verzehrten und in die Uni vielfach mit Autos gebracht und von dort geholt wurden. Sie waren sicht- und hörbar glänzender Laune. Sie kamen allem Anschein nach aus wohlhabenden Familien und hatten gute Berufschancen.

Diese antijüdischen Ressentiments, so der Autor, drängten sich auf, „ergaben sich bei der Analyse des sozialen und wirtschaftlichen Lebens“ und hätten „ursprünglich nichts, aber schon gar nichts mit Rasse zu tun“ gehabt. Persönlich war der in einem Wiener Arbeiterbezirk wohnende Autor durch Juden in seiner Umgebung irritiert. Die pogromartigen Ereignisse des März 1938, das Verschwinden seiner jüdischen Nachbarn in der Folgezeit und der Novemberpogrom 1938 finden in seiner Erzählung keine Erwähnung – das dürfte für Anton Hadwiger nicht ‚irritierend‘ gewesen sein. Über „Gräuel“ und „Untaten“ will er jedenfalls nichts gewusst haben.18 Von Aufarbeiten, Verarbeiten kann bei Anton Hadwiger nicht gesprochen werden, sondern nur von Abstreiten, Leugnen, Relativieren. Er verwendet und reproduziert dieselben antisemitischen Stereotypen, wie sie zur ‚Erklärung‘ des Antisemitismus nach 1945 häufig verwendet wurden. Nichts anderes will er mit seinen ausufernden Reflexionen und Argumentationen sagen, als dass die Juden am Antisemitismus ‚selbst schuld‘ waren.19 Begriffe wie ‚Judenvernichtung‘, ‚Endlösung‘, ‚Holocaust‘ meidet Anton Hadwiger ebenso wie alle anderen Autoren. Immerhin lässt sich bei ihm als Einzigen erkennen, dass es eine antisemitische ideologische Ausrichtung des Nationalsozialismus überhaupt gab. Die Art, wie die Autoren mit dem Antisemitismus-Ideologem der Nationalsozialisten und dessen Auswirkungen umgehen – oder besser: dieses Thema umgehen –, ist nach Gerhard Baumgartner und Irina Šlosar typisch für die ‚neurotische‘ Form des Holocaust-Diskurses der Österreicher der ‚ersten Generation‘. Die Erörterung der Shoah erfolgt in „Andeutungen, Anspielungen, signifikantem Schweigen“, aber nicht in Leugnen. „Schuld und walt in Wien um 1930, in: Wolfgang Kos (Hg.): Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930. Ausstellungskatalog, Wien 2010, S. 35–45. 18 Vgl. zum Wissen und Nicht-Wissen-Wollen des Massenmordes an den europäischen Juden: Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006; Frank Bajohr, Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006; Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007. 19 Vgl. Ruth Wodak et al.: „Wir sind alle unschuldige Täter“. Diskurshistorische Studien zum Nachkriegs­anti­ semitismus, Frankfurt a. M. 1990, insbes. S. 136–150 bzw. als Überblick S. 348–359. Demnach war die „TäterOpfer-Umkehr“ (den Opfern der Angriffe selbst wird die Schuld für die Angriffe zugeschrieben) die während der Waldheim-Affäre 1986 am häufigsten vorkommende antisemitische Argumentationsstrategie. In den Ausführungen von Anton Hadwiger, die nach den Ereignissen um die Wahl Kurt Waldheims zum österreichischen Bundespräsidenten abgefasst worden sein dürften, lassen sich noch weitere von Ruth Wodak und ihren Mitautor/-innen herausgearbeitete Argumentationsstrategien identifizieren (siehe S. 352–355).

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Scham“ seien in diesem Diskurs „mit dem ‚Genuss‘ an den antisemitischen Dispositionen“ überlagert.20 Eine Rechtfertigung für die laut Anton Hadwiger „ex cathedra“ von Nachgeborenen zugewiesene Mitschuld an den NS-Verbrechen, insbesondere am Holocaust, wird erst in Lebensberichten als nötig erachtet, die ab Anfang der 1980er-Jahre verfasst wurden.21 Für Albert Haubenhofer, Erwin Hammer, Matthias Unterthaler und Josef Kronburger, deren Texte vor dieser Zäsur entstanden,22 ist ‚Schuld‘ keine Frage, von der sie glauben, dass sie sich ihr stellen müssen. Problematisch ist für sie ihr NS-Engagement – wenn überhaupt – nur deshalb, weil der Nationalsozialismus den Krieg, vor allem aber das Desaster der Niederlage heraufbeschwor. Sehen wir uns die Spuren weiterer NS-Ideologeme an: Im Gegensatz zum nationalsozialistischen Antisemitismus erlegt das Ideologem ‚Deutsch­ nationalismus‘ den Autoren keinerlei Rechtfertigungszwänge auf und bleibt durchwegs positiv besetzt. Abschwächung und Distanzierung werden als nicht nötig erachtet. Im Gegenteil: Die ‚Liebe‘ zum Deutschtum, zum gemeinsamen Vaterland aller Deutschen wird häufig ins Treffen geführt, um die persönliche NS-Affinität zu rechtfertigen. Die ablehnende Haltung des Nationalsozialismus gegenüber den christlichen Kirchen, insbesondere dem Katholizismus, war so stark und grundlegend, dass uneingeschränkt von einem antikirchlichen NS-Ideologem gesprochen werden kann.23 Die Wirkungskraft dieses Ideologems wird in der Ausformung der Kirche-/Religionsmotive, die sich in allen analysierten Texten finden lassen, deutlich. Die mächtigste Wirkung entfaltet bei allen Autoren allerdings die

20 Siegfried Mattl, Karl Stuhlpfarrer: Abwehr und Inszenierung im Labyrinth der Zweiten Republik, in: Emmerich Tálos et al. (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, S. 902–934, hier 904. Ziegler, Kannonier-Finster, Österreichisches Gedächtnis, S. 238, konstatierten, „dass bei dem Thema der Verfolgung und Ermordung von Juden die Absperrung des Wissens von den Folgen der NS-Rassenpolitik zur Regel des Erinnerns wurde“. 21 Als wichtigste Zäsur im öffentlichen Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust ist die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ im Jahr 1979 zu bezeichnen, die „den Beginn der Bereitschaft nun auch eines Massenpublikums [markierte], sich mit der NS-Vergangenheit überhaupt auseinanderzusetzen“. Peter Reichel: Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, Frankfurt a.M. 2007, S. 261. Vgl. diesbezüglich weiter: Frank Bösch: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55.1 (2007), S. 1–32. 22 Ein Überblick über die Entstehungszeiträume der analysierten Lebensberichte: Albert Haubenhofer: Ende der 1940er-Jahre; Erwin Hammer: 1961; Matthias Unterthaler: 1973; Josef Kronburger: 1956–1958 bzw. 1976/77; Kilian Schmidt: 1987–1989 (Vorarbeiten schon früher); Ernst Regerl: Ende der 1980er-Jahre (das Vorwort ist mit Dezember 1990 datiert); Anton Hadwiger: Beginn der 1990er-Jahre (Erscheinungsjahr des Buches 1993); Heinz Wallner: 1994; Hans Wiesner: 1994–1996. 23 Vgl. Kurt Nowak: Kirche und Religion, in: Benz et al. (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 5 2007, S. 204–222, insbes. 209–212; für Österreich: Walter Sauer: Loyalität, Konkurrenz oder Widerstand? Nationalsozialistische Kultuspolitik und kirchliche Reaktionen in Österreich 1938–1945, in: Tálos et al. (Hg.): NSHerrschaft in Österreich, S. 159–186, hier insbes. 168 f. („Antiklerikalismus als Identifikationselement“); Evan Burr Bukey: Hitlers Österreich. „Eine Bewegung und ein Volk“, Hamburg / Wien 2001, S. 137–162.

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nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘.24 Dieses Ideologem dominiert die Argumentationen der Autoren, sodass man – wie nachfolgend gezeigt wird – uneingeschränkt von einer ‚sozialen‘ Argumentation sprechen kann.

Argumentations- und Deutungsmuster Weil Interpretationen einzelner Menschen im Regelfall Rückschlüsse auf die Interpretationen ganzer Gruppen zulassen, ermöglicht die Analyse von argumentierenden und evaluierenden Sequenzen in lebensgeschichtlichen Erzählungen die Identifizierung von kollektiv wirksamen Deutungsmustern. Und tatsächlich ähneln sich die ‚Baupläne‘ der Argumentationen, die die persönliche Verstrickung in den Nationalsozialismus betreffen, bei allen Identifizierung in erstaunlicher Weise. Am Beispiel der lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen von Erwin Hammer ist das Grundschema dieses Planes in Abbildung 1 dargestellt. Dem Bericht über ein persönlich als kränkend empfundenes Erlebnis oder eine als Deklassierung erlebte scharfe Zäsur in der persönlichen Laufbahn (lebensgeschichtlich in der Kindheit oder frühen Jugend verortet) folgt meist, nach einer unterschiedlich großen Anzahl an Sequenzen mit anderen Inhalten, eine allgemein gehaltene Argumentation über die schlechte politische und wirtschaftliche Lage. Unmittelbar darauf wird die persönliche Annäherung an den Nationalsozialismus dargestellt. Nicht immer halten die Autoren dieses Schema so zwingend ein wie in dem dargestellten Beispiel. Aber die Argumentation nimmt immer – direkt oder indirekt, ausgesprochen oder unausgesprochen – auf die persönlich erlebte und erlittene Not und Deklassierung Bezug.25 Von sämtlichen Autoren wird das NS-Ideologem der ‚Volksgemeinschaft‘ übernommen: Während in Österreich ‚Hader und Zwietracht‘ herrschen und ‚starre Fronten‘ einander gegenüberstehen, gibt es eine ‚dritte Partei‘, die diese Gegensätze zu überwinden verspricht. In der Argumentation von Josef Kronburger bildet sich eine klare Opposition heraus: auf der einen Seite das alte, stagnierende, zerstrittene Österreich, auf der anderen das neue, moderne, prosperierende, von Hitler geeinte Deutschland.26 Diese Gegensätze können – zwangsläufig und unausweichlich – nur auf eine Weise gelöst werden: Das Neue überwindet das Alte (siehe Abbildung 2). 24 In jüngerer Zeit hat sich das Forschungsinteresse verstärkt diesem Leitbegriff des Nationalsozialismus und seiner Bedeutung in der sozialen Praxis des Regimes zugewandt. Vgl. dazu den Sammelband: Frank Bajohr, Michael Wildt (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009. 25 Auch Erhard, Natter, „Wir waren ja alle arbeitslos“, S. 551, stellen aufgrund lebensgeschichtlicher Interviews fest, dass „die Erfahrungen sozialer Deklassierung“ regelmäßig zur „Vorgeschichte“ ehemaliger Nationalsozialisten gehören. 26 Laut Ernst Hanisch stellte das Deutsche Reich für Österreich seit dem Vormärz das Modernitätsvorbild schlechthin dar. Spätestens seit der Reichsgründung gab es so etwas wie einen „Demonstrationseffekt“ des ökonomisch potenten Deutschen Reichs gegenüber der „relativ rückständigen“ österreichisch-ungarischen Monarchie. Ernst Hanisch: Ein Versuch, den Nationalsozialismus zu „verstehen“, in: Anton Pelinka, Erika Weinzierl (Hg.): Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit, Wien 21997, S. 154–162, hier 160; ders.: Nationalsozialistische Herrschaft in der Provinz. Salzburg im Dritten Reich, Salzburg 1983, S. 11.

Abb.1: Sequenzielles Grundgerüst der lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen von Erwin Hammer (Auszug)

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Abb. 2: Struktur der Argumentation von Josef Kronburger

Sämtliche Autoren argumentieren ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus in erster Linie ‚sozial‘: Die politische Zerstrittenheit ist Folge der wirtschaftlichen Probleme und der sozialen Ungerechtigkeit. Die katholische Kirche (von den Autoren explizit ausgesprochen) und das Judentum (von den Autoren unterdrückt und bewusst ausgeblendet) sind wesentliche Bestandteile dieses Systems, gegen das sich der Nationalsozialismus richtet. Ein Hinweis, wie die ‚soziale‘ Argumentation mit dem (im Normalfall von den Autoren peinlich vermiedenen) antisemitischen NS-Ideologem verbunden ist,27 ergibt sich aus der Analyse der verborgenen Konstruktion, auf der das ‚soziale‘ Argument in Anton Hadwigers Lebenserinnerungen basiert (siehe Abbildung 3). Gegen die politische Zerrissenheit und soziale und wirtschaftliche Notlage im eigenen Land wird die Gemeinsamkeit aller Deutschen in einem sozial gerechten, mächtigen Staat gestellt (‚Volksgemeinschaft‘, ‚Ein Volk, ein Reich, ein Führer‘). Die Validität dieser Werte wird im Nachhinein nicht geprüft, hinterfragt, in Zweifel gezogen. Als Ideal, wie er in der Zeit vor dem Krieg erlebt wurde, verwirft keiner der Autoren explizit den Nationalsozialismus. Verworfen wird der Kriegs-Nationalsozialismus; retrospektiv wird er vom Volksgemeinschafts-Nationalsozialismus scharf getrennt. Erst mit den Niederlagen in Russland und den beginnenden Zerstörungen im eigenen Land setzte der Niedergang des NS-Systems unaufhaltsam ein – auch 27 Vgl. auch die typische Argumentationsfigur eines ehemaligen Nationalsozialisten bei Ziegler, Kannonier-Finster, Österreichisches Gedächtnis, S. 95, die sich mit dem hier dargelegten Schema deckt.

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Abb. 3: Die doppelte Kränkung der Familie Anton Hadwigers

und gerade in den Köpfen der Menschen.28 Davon seltsam unberührt bleibt in der Erinnerung der positiv erlebte Nationalsozialismus der 1930er-Jahre. Insofern ist er in den Erinnerungen der Akteure, ja im österreichischen (individuellen und kollektiven) Gedächtnis als Januskopf, als Wesen mit zwei Gesichtern, die in entgegen­gesetzte Richtungen sehen, verankert. Bei der skizzierten ‚sozialen‘ Argumentation handelt es sich um ein erstaunlich mächtiges Deutungsmuster, das den popularen Diskurs über die nationalsozialistische Vergangenheit jahrzehntelang dominierte29 – zum Teil bis heute.30 Seine Wirksamkeit ist deshalb so stark,

28 Den Wendepunkt in der öffentlichen Meinung dürfte die Katastrophe von Stalingrad dargestellt haben, wenngleich in jüngeren Publikationen diese These differenziert gesehen wird. Vgl. Bukey, Hitlers Österreich, insbes. S. 263; Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart 1999, insbes. S. 232. 29 Die Wirksamkeit dieses Deutungsmusters geht aus praktisch allen auf Zeitzeugenberichten und -interviews basierenden historischen Arbeiten hervor. Beispiele sind Erhard, Natter, „Wir waren ja alle arbeitslos“; Roland Girtler: Aschenlauge. Bergbauernleben im Wandel, Linz 21988, S. 44–69; Peter Klammer: Auf fremden Höfen. Anstiftkinder, Dienstboten und Einleger im Gebirge, Wien/ Köln /Weimar1992, S. 249–258; Norbert Ortmayr: Knechte. Autobiographische Dokumente und sozialhistorische Skizzen, Wien/ Köln / Graz 1992, insbes. S. 334–339; oder Ziegler, Kannonier-Finster, Österreichisches Gedächtnis, insbes. S. 239. 30 So eine jüngst veröffentlichte Studie, die ein Fortleben der „Opferdoktrin“ belegt und zeigt, dass nach wie vor eine eindeutige Verbindung zwischen autoritärer Einstellung und der Abwehr der Auseinandersetzung mit dem Holocaust besteht. Oliver Rathkolb, Günther Ogris (Hg.): Authoritarianism, history and democratic dispositions in Austria, Poland, Hungary and the Czech Republic, Innsbruck / Wien / Bozen 2010.

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weil er in der Modernisierungskrise der Zwischenkriegszeit gründet und auf die massenhaft erlebte persönliche Not und Deklassierung verweist. Ein weiteres, damit in ursächlichem Zusammenhang stehendes Deutungsmuster entfaltet eine beträchtliche Wirkungskraft: Bei allen Unterschieden wird von sämtlichen Autoren nämlich eine ‚Lehre‘ aus ihren lebensgeschichtlichen Um- und Abwegen gezogen. Ernst Regerl beispielsweise fragt sich, ob es ein Fehler war, der NSDAP beizutreten. Wäre es angesichts all der Probleme nicht besser gewesen, das seiner Mutter einst gegebene Versprechen zu befolgen, sich aus der Politik herauszuhalten? Und er schließt: „Die für mich daraus gezogene Lehre, keiner politischen Partei beizutreten, diesem Grundsatz bin ich bis heute treu geblieben.“ Diese Ablehnung der Politik im Allgemeinen ist eine so häufig vorkommende Argumentationsfigur, dass man durchaus von einem fest verankerten Deutungsmuster sprechen kann.31 So ist es folgerichtig, dass sich die Autoren durchwegs als ‚Opfer der Politik‘ definieren. Dadurch werden viele von ihnen zu ‚Mitläufern‘. Diese konkret ausgesprochene oder latent mitschwingende Selbststilisierung gilt vor allem für die Zeit nach 1938. Der ‚Anschluss‘ gewinnt dadurch eine „paradoxe Doppelbedeutung“ (Ziegler/Kannonier-Finster) in der retrospektiven Lebensbetrachtung: vorerst erhofft und ersehnt, wird gerade dadurch der Akteur zum Mitläufer und Opfer.32 Für die Zeit vor dem ‚Anschluss‘ wird das NS-Engagement als Protesthaltung gegen die verfahrene politische, wirtschaftliche, soziale Situation gewertet: als Aufstand gegen das Regime des Alten, gegen Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit, gegen die innenpolitische Fragmentierung und unversöhnliche Frontstellung der großen Parteien und Machtblöcke. Letztlich ist der Nationalsozialismus, so sehen es – explizit oder implizit – alle analysierten Autobiografen, ein Aufstand der Unpolitischen gegen die Politik selbst, gegen diejenige politische Kaste, die das Desaster heraufbeschworen hat.

Resümee: Soziale Deklassierung als gesellschaftliches Syndrom Erzählungen über Not, Hunger, soziale Kränkung und als erniedrigend empfundene lebensgeschichtliche Brüche gehören zu den häufigsten Motiven in sämtlichen analysierten Lebensberichten. Sie stehen durchwegs an zentraler Stelle und werden üblicherweise mit einem so außergewöhnlich starken Engagement erzählt, dass man von einem regelrechten Deklassie31 Dieselben Beobachtungen machen etwa Erhard, Natter, „Wir waren ja alle arbeitslos“. – Dass der Sozialdemokrat Wallner grundsätzlich nicht anders denkt als die einst nationalsozialistisch eingestellten Autoren, weist darauf hin, dass dieses Deutungsmuster sich nicht nur auf (ehemalige) Nazis zu beschränken scheint, sondern typisch für den Großteil der Vertreter der „Anschluss-Generation“ sein dürfte. Vgl. diesbezüglich Eva Blimlinger, Margit Sturm: Politikrelevante Ideologeme einer Wiener Arbeiter/innengeneration. Lebensgeschichtliche Studie zum Zerfall des sozialdemokratischen Milieus 1927–1950, in: Zeitgeschichte 19.3/4 (1992), S. 112–121; vgl. weiter Ziegler, Kannonier-Finster, Österreichisches Gedächtnis, S. 131. 32 Vgl. Ziegler, Kannonier-Finster, Österreichisches Gedächtnis, S. 234 u. 240.

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rungssyndrom sprechen kann. Es ist wahrscheinlich, dass dieses Syndrom in der Zwischenkriegszeit für zahllose Einzelpersonen, Familien, ja gesellschaftliche Großgruppen insgesamt bezeichnend war. Die Bedeutung des Deklassierungssyndroms ergibt sich auch daraus, dass von den Autoren in Argumentationen, die die eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus zum Gegenstand haben, direkt oder indirekt immer auf diese kränkenden oder als erniedrigend empfundenen Schlüsselerlebnisse Bezug genommen wird. Hinsichtlich der persönlichen Nähe zum Nationalsozialismus ist das ‚soziale‘ Argument das dominierende, letztlich einzig relevante Deutungsmuster. Das diesem Deutungsmuster direkt zuordenbare NS-Ideologem ist das der ‚Volksgemeinschaft‘; andere Ideologeme – wie das antisemitische und das antikirchliche – werden diesem Ideologem beigeordnet. Allerdings ist in den Erzählungen gegen das antisemitische NS-Ideologem eine deutliche Absperrung wirksam – es wird in fast allen analysierten Lebensberichten unterdrückt, als habe es buchstäblich nicht bestanden. Nur einer von neun Autoren lässt sich vordergründig darauf ein und löst es tatsächlich ‚sozial‘ auf: Der Antisemitismus habe nichts mit ‚Rasse‘ zu tun gehabt, sondern sei sozial bedingt gewesen. Neben dem großen Deutungsmuster der ‚sozialen‘ Argumentation existiert ein kleines, vordergründig privates, sich als ‚persönliche Lehre‘ gebendes Deutungsmuster, das trotzdem massenhaft verankert ist: die Selbststilisierung zum Unpolitischen, die Ablehnung der Politik im Allgemeinen, der Rückzug aus dem Öffentlichen. Es ist ein Muster, das möglicherweise auch zahlreiche nicht-nationalsozialistische Angehörige der ‚Anschluss-Generation‘ teilen. Bei vielen ehemaligen Nationalsozialisten erfährt dieses Muster darüber hinaus – implizit – eine kühne Wendung: Der Nationalsozialismus selbst wird in ihren Augen zum Aufstand der Unpolitischen gegen das politische Establishment. Die analysierten Motive und Argumentationen sind aufeinander bezogen und finden sich verdichtet in einem Deutungsmuster, das in unterschiedlich starker Ausprägung und Ausformung von (wahrscheinlich) Millionen Österreichern übernommen wurde und mit dem offiziösen Geschichtsbild33 korreliert. Dieses allumfassende Deutungsmuster scheint sich bereits vor 1938 – offensiv – herausgebildet und nach 1945 – defensiv, apologetisch – verfestigt zu haben. Es besagt im Kern, dass der Massenzustrom der Österreicher zum Nationalsozialismus mit der wirtschaftlichen Not und der Arbeitslosigkeit zu begründen sei. Hitler habe es – wenngleich, wie man einräumt, aufgrund falscher Voraussetzungen, die man zum damaligen Zeitpunkt unmöglich erkennen konnte – verstanden, diese Arbeitslosigkeit zu besiegen. Der häufig zitierte Ausspruch des FPÖ-Politikers Jörg Haider über die „ordentliche Beschäftigungspolitik des Dritten Reiches“34 belegt die Wirksamkeit und allgemeine Verankerung dieses Deutungsmusters. 33 Siehe dazu u.a. Ziegler, Kannonier-Finster, Österreichisches Gedächtnis, S.  30–72, insbes.  zusammenfassend S. 70 f.; Mattl, Stuhlpfarrer, Abwehr und Inszenierung. 34 Landeshauptmann und FPÖ-Chef Jörg Haider zu einem Zwischenrufer im Kärntner Landtag am 13. Juni 1991: „Im Dritten Reich haben sie ordentliche Beschäftigungspolitik gemacht, was nicht einmal Ihre Regierung in Wien zusammenbringt.“  – Robert Haider, Jörg Haiders Vater, war als 19-Jähriger wegen Betätigung für die illegale

„Ob Jude Not, Hunger, oderKränkung Christ, ob Hoch oder Nieder – wir wollen nur nach dem Menschen sehen.“

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Die ‚soziale‘ Argumentation als Deutungsmuster des NS-Aufstieges verweist wiederum auf die Modernisierungskrise der Ersten Republik Österreich, die in letzter Konsequenz die gleichsam revolutionäre Dynamisierung deprivilegierter, zumeist manuell tätiger Jugendlicher aus peripheren ländlichen oder kleinstädtischen Regionen und sozialen Milieus35 zum Nationalsozialismus hin bewirkte. Diese durchaus heterogenen Gruppen wurden zum Aktivkern einer breiten, indifferenten, alle sozialen Milieus umfassenden Bewegung, die – allerdings keineswegs zwangsläufig – zum März 1938 führte.

NSDAP nach Deutschland geflüchtet und dort in die Österreichische Legion eingetreten. Vgl. Bauer, ElementarEreignis, S. 302. 35 Vgl. zum Sozialprofil der nationalsozialistischen Juliputsch-Beteiligten: Bauer, Elementar-Ereignis, insbes. S. 142– 164.

Traude Bollauf

Protokolle der Panik Die Vierteljahresberichte der deutschen Auswandererberatungsstellen für das letzte Quartal 1938 Ein Aktenbestand aus Deutschland, auf den die Autorin dieses Aufsatzes im Österreichischen Staatsarchiv gestoßen ist, wirft ein neues Licht auf die Situation der im ‚Altreich‘ lebenden Juden und Jüdinnen nach dem Novemberpogrom des Jahres 1938. Beamte der Auswandererberatungsstellen in zwölf deutschen Städten, die die Aufgabe hatten, jüdische Passwerber zu überprüfen, schildern darin den Ansturm von jüdischen Auswanderungswilligen und deren Panik nach dem 10. November. Diese Sicht aus der Beamtenperspektive lässt Rückschlüsse auf Haltungen in den unmittelbar mit der Vertreibung befassten Behörden zu, zeigt aber auch, wie sich die Situation der jüdischen Bevölkerung im ‚Altreich‘ zu diesem Zeitpunkt von der im ehemaligen Österreich unterschied. Denn: Deutschlands Juden und Jüdinnen hatten viel länger gezögert, ehe sie in Erwägung zogen, das Land, das sie für ihre Heimat gehalten hatten, zu verlassen.

Die verzögerte Emigration Ein halbes Jahr nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs hatte bereits ein Viertel seiner jüdischen Bevölkerung – geschockt von den pogromartigen Ausschreitungen der Märztage und unter dem Druck der forcierten Vertreibungspolitik der nationalsozialistischen Machthaber  – jenseits der Grenzen des Deutschen Reiches Zuflucht gesucht und gefunden.1 Im ‚Altreich‘ hatte es dagegen von der Machtergreifung Hitlers an nahezu fünf Jahre gedauert, ehe sich ein ähnlich hoher Anteil der jüdischen Bevölkerung zur Emigration entschlossen hatte. Und das, obwohl bereits im Jahre 1935 die Nürnberger Rassengesetze in Kraft getreten waren und ausnahmslos alle deutschen Juden die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ausgrenzung deutlich zu spüren bekamen. Historiker und Historikerinnen haben versucht, den Gründen für dieses Verhalten auf die Spur zu kommen. Nach Avraham Barkai lag dieses Zögern nur zum Teil an der Heimatliebe der deutschen Juden und an der von Zeitzeugen oft geschilderten Illusion, es werde „schon nicht so schlimm werden“. Barkai hält die immer restriktiver werdenden Bestimmungen der 1 Vgl. Gerhard Botz: Stufen der Ausgliederung der Juden aus der Gesellschaft vom „Anschluss“ zum „Holocaust“, in: Zeitgeschichte (ZG) 14.9/10 (1987), S. 359–378, hier 366; vgl. Erika Weinzierl: Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung 1938–1945, Graz / Wien 41997, S. 47.

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möglichen Zufluchtsländer für entscheidender.2 Marion A. Kaplan beschreibt die Umstände, die die Juden Deutschlands vom Verlassen der Heimat abhielten, wie folgt: Manche setzten alles daran, in den von den Nazis immer enger gezogenen Grenzen ein ‚normales‘ Leben aufrechtzuerhalten. Manche wollten schlicht nicht wahrhaben, was sie mit eigenen Augen sahen. Viele verdrängten die Bedrohung aus dem Bedürfnis heraus, mit ihren Familien auch unter schwierigen Umständen weiter in der Heimat leben zu können.3

Marion A. Kaplan erwähnt aber auch geschlechtsspezifische Unterschiede. Während Frauen häufig als erste die Gefahr erkannten und, um ihre Familien zu schützen, Männer, Brüder und Väter dazu drängten, Deutschland zu verlassen, meinten Männer vielfach sich von öffentlichen Pflichten und Verantwortungen nicht losreißen zu können. Die „Identifikation mit ihrer Arbeit“ wurde zu einer „Falle“, die die Männer in Deutschland festhielt.4 Sie blieben, weil sie die ‚deutsche Tugend‘ der Pflichterfüllung hochhielten und verweigerten sich der Erkenntnis der Gefahr. Der Zeitzeuge Dr. Charles J. Kapralik, der ab Ende Juni 1938 die Devisenabteilung der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde leitete und unter dem Druck Eichmanns dafür zu sorgen hatte, dass vermögende Juden die Auswanderung ihrer mittellosen Glaubensbrüder und -schwestern mitfinanzierten, sah für die verzögerte Emigration aus dem ‚Altreich‘ noch einen anderen Grund: Er betonte in seinen Erinnerungen, dass es im ‚Altreich‘ bis etwa Mitte 1938 „nicht das Element der konstanten Gefahr für Freiheit und Leben“ gab wie in Österreich.5 Ein anderer Zeitzeuge, Dr. Michael Meyer, beschrieb die Situation in Deutschland so: Man ließ die Juden in den Schranken, die man ihnen gezogen hatte, ziemlich unbehelligt. […] Verpönt und gefährlich war nur jeder Eingriff in die Sphäre der Arier. […] Die geschilderte Situation änderte sich plötzlich Mitte Juni 1938. Es trat eine erhebliche Verschärfung und Gefährdung der Lage der Juden ein. Die Nazis hatten wohl Mut daraus geschöpft, dass sie nach der Annexion Österreichs, die einige Monate vorher im März erfolgt war, die dortige Judenfrage mit einer unerhörten Brutalität radikal angepackt hatten, ohne bei der europäischen Kulturmenschheit auf Widerstand zu stoßen.6 2 Avraham Barkai: Die Heimat vertreibt ihre Kinder. Die nationalsozialistische Verfolgungspolitik 1933 bis 1941, in: Heimat und Exil. Emigration der deutschen Juden nach 1933, hg. von der Stiftung Jüdisches Museum Berlin und der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 2006, S. 15–21, hier 16. 3 Marion A. Kaplan: Gehen oder Bleiben?, in: Heimat und Exil, S. 31–33, hier 31 f. 4 Ebda. 5 Charles J. Kapralik: Erinnerungen eines Beamten der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde 1938/39, in: Bulletin des Leo Beck Institutes 58 (1981) S. 52–78, hier 58. 6 Michael Meyer: Eine Wanderung nach Eres Israel im Jahre 1940, zit. nach: Juliane Wetzel: Auswanderung aus Deutschland, in: Wolfgang Benz (Hg.), Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München 1988, S. 412–498, hier 418 f.

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Erst die Brutalität des Novemberpogroms 1938 und die nachfolgenden Maßnahmen und Verordnungen setzten dem Zögern der deutschen Juden ein Ende. Als nach dem Pariser Attentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath infolge einer von ganz oben angeordneten „spontanen Äußerung des Volkszorns“ im ganzen Deutschen Reich Synagogen niedergebrannt, Tausende jüdische Geschäfte zerstört und mehr als hundert Menschen ermordet worden waren, schwand die trügerische Sicherheit. Nun erkannten auch die vormals Zögernden das politische Hauptziel der Nationalsozialisten klarer: „Den Juden in Deutschland [sollte] das Leben so unangenehm gemacht werden, dass sie alle Anstrengungen unternehmen würden, das Land auf irgendeine Weise zu verlassen.“7 Es verwundert nicht, dass angesichts dieses Terrors unter den deutschen Juden und Jüdinnen Panik ausbrach und sie nun – jetzt vielfach verzweifelt – nach Fluchtmöglichkeiten aus dem Reich suchen ließ.

Das „Amt der verlorenen Worte“ Bei den Recherchen zu meiner Dissertation „Dienstboten-Emigration“8 bin ich im Österreichischen Staatsarchiv auf einen Aktenbestand gestoßen, der diese Panik der deutschen Jüdinnen und Juden – und wie deutsche Institutionen mit ihr umgingen – detailliert beschreibt: die Vierteljahresberichte deutscher Auswandererberatungsstellen über das 4. Quartal des Jahres 1938 an die Reichsstelle für das Auswanderungswesen.9 Wie diese Berichte in das zu dieser Zeit bereits in Liquidation befindliche österreichische Wanderungsamt gelangten, ist vermutlich anhand bürokratischer Traditionen zu erklären. Das Reichswanderungsamt oder – wie es mit vollem Namen hieß – das „Reichsamt zur Pflege der Auswanderung, Einwanderung und Rückwanderung“ war in Deutschland bereits im Frühjahr 1919 gegründet worden und sollte sich vor allem der Beratung von Auswanderungsinteressierten widmen – und sie nach Möglichkeit von ihrer Absicht abzubringen versuchen, was allerdings nur sehr begrenzt erfolgreich war. In den wichtigsten Städten Deutschlands wurden bereits damals Zweigstellen errichtet, die über ihre Tätigkeit vierteljährlich an das Reichswanderungsamt zu berichten hatten. Man wollte vor allem durch eifrige Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit und durch sorgsames Eingehen auf Einzelanfragen […] der zur Zeit unter dem Druck der ungünstigen inneren Lage ungesund

7 Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, München 1998, S. 310. 8 Traude Bollauf: Dienstboten-Emigration. Wie jüdische Frauen aus Österreich und Deutschland nach England flüchten konnten, phil. Diss. Univ. Wien 2009. 9 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik (ÖStA-AdR), Bundeskanzleramt, Wanderungsamt (BKA/WA) 8/4, 2236/451, Vierteljahresberichte der deutschen Auswandererberatungsstellen.

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gesteigerten Auswanderungsneigung wirksam entgegentreten und die Beteiligten von unüberlegten voreiligen Schritten abhalten.10

Wenig später wurde in Österreich nach deutschem Vorbild, wenn auch mit deutlich auswanderungsfreundlicherer Ausrichtung, eine ähnliche Einrichtung gegründet, aus der sich in den darauf folgenden Jahren das österreichische Wanderungsamt entwickeln sollte.11 Zwischen den beiden Behörden bestand von Anfang an eine enge Kooperation. Die Vierteljahresberichte der deutschen Auswandererberatungsstellen wurden auch nach Wien geschickt und informierten die österreichischen Behörden während der 1920er- und 1930er-Jahre über Auswanderungstendenzen aus Deutschland. Es ist anzunehmen, dass diese Praxis die Regimewechsel auf beiden Seiten überdauert hat. Seit November 1937 hatten die Auswandererberatungsstellen  – zusätzlich zur Beratung ‚arischer‘ Auswanderungswilliger – die Aufgabe zugewiesen erhalten, jüdische Passwerber und Passwerberinnen zu überprüfen. Dabei sollte festgestellt werden, ob „eine ernsthafte Auswanderungsabsicht oder die Notwendigkeit einer Auslandsreise zur Vorbereitung der Auswanderung“ bestand. Denn Reisepässe sollten nur dann an Juden ausgestellt werden, wenn sie zur Auswanderung oder zu deren Vorbereitung dienten. Traf dies nach Ansicht der Beamten zu, stellte die Beratungsstelle eine entsprechende Bescheinigung aus, die beim Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses „zur Vorlage beim zuständigen Polizei-Revier“ diente. Zusätzlich zu dieser Bescheinigung hatten die Antragsteller die Unbedenklichkeitsbescheinigungen des Finanzamtes und der städtischen Steuerbehörde beizubringen.12 Die Auswandererberatungsstellen waren daher erste Anlaufstelle für alle, die aus Deutschland zu emigrieren versuchten, und wurden deshalb nach dem Novemberpogrom von verängstigten Jüdinnen und Juden geradezu gestürmt.13 Der Bestand im Österreichischen Staatsarchiv enthält die Berichte über die Monate Oktober, November und Dezember 1938 von zwölf Beratungsstellen im ‚Altreich‘: Berlin, Bremen, Breslau, Dresden, Frankfurt am Main, Hamburg, Karlsruhe, Köln, Königsberg, Leipzig, München und Stuttgart. Zentrales Thema dieser Berichte war der Zustrom Hilfe suchender Jüdinnen und Juden nach dem Novemberpogrom 1938. 10 Bundesarchiv (BA) R 3901/732, 31. März 1920, Auftrag auf Verlegung des Reichswanderungsamtes II B 2318 Bl. 36, vgl. auch: Klaus J. Bade: „Amt der verlorenen Worte“: das Reichswanderungsamt 1918–1924, in: ders. (Hg.), Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004, S. 375–388. 11 ÖStA-AdR, BKA/WA 8/4, 2233, E.Z. 28544/19, 19. Oktober 1919, Staatsamt für Inneres und Unterricht. Mit 31. März 1924 wurde das Reichswanderungsamt „unter dem Drucke der Finanzlage des Reiches“ aufgelöst und mit 1. April 1924 wurde eine Reichsstelle für das Auswanderungswesen errichtet. BA, R 3901/795, Bl. 98, Tgb. Nr. A 2899/24, 29. März 1924, Rundschreiben Nr. 562. 12 Wetzel, Auswanderung, S. 449–451. 13 Die Errichtung einer „Reichszentrale für die jüdische Auswanderung“ nach dem Vorbild vom Adolf Eichmanns Wiener „ Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ wurde erst am 24. Jänner 1939 von Hermann Göring initiiert. BA, R 58/276, Bl. 195 f.

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Die Protokolle der Panik Der Bericht der Beratungsstelle Leipzig beschrieb die Situation so: Die Tätigkeit der Auswandererberatungsstelle im Berichtsvierteljahr Oktober/Dezember 1938 stand völlig unter der Wirkung der Ereignisse des 10. November und der ihnen folgenden Verordnungen der Reichsregierung. Die Auswandererberatungsstelle erlebte einen noch nie da gewesenen panikartigen Ansturm der ins Ausland drängenden Juden, und gegenüber der Unzahl der Anträge auf Erteilung von Passbescheinigungen oder auf Bestätigungen für das Vorliegen einer ernsthaften Auswanderungsabsicht musste alle andere Arbeit in den Hintergrund treten. Es war angespannteste Nervenkraft vonnöten, um all den mit viel Aufgeregtheit vorgebrachten Bitten, Wünschen und Klagen der Juden mit Ruhe und Klarheit zu begegnen, und es bedurfte angestrengtester Tätigkeit unter Vermehrung des Personals, um alle Frage- und Antragsteller ohne allzu lange Wartezeit abzufertigen.14

Ähnlich, wenn auch wesentlich detaillierter, berichtete die größte und besonders stark frequentierte Beratungsstelle Berlin über den ‚Ansturm‘: Nachdem die Beratungsstelle während des ganzen Jahres besuchstäglich (Montags, Dienstags, Donnerstags und Freitags) etwa 130–150 Personen abzufertigen gehabt hatte, erschienen am Montag dem 13. November und an den folgenden Tagen 400, 600, 800, ja 1200 bis 1300 Menschen. Schon wenige Tage nach dem Beginn des Ansturms erwies es sich, dass die Beratungsstelle mit den bisherigen Mitteln, Einstellung von einigen Köpfen Personal, nicht auskommen würde, sondern außerordentliche Maßnahmen zur Bewältigung des Ansturmes ergreifen musste. […] In kurzer Zeit wurden Räume hinzu gemietet, Möbel und Schreibmaschinen angeschafft und das Personal, das von 15 im Frühjahr schon wieder auf 11 Köpfe gesunken war, in wenigen Tagen auf 28 verstärkt. Die Kanzlei arbeitete wochenlang in zwei Schichten, mit dem Empfang des Publikums und der Ausgabe von Gutachten waren im Hause 7–8 Köpfe beschäftigt. Da die im 2. Stock gelegene Wohnung und der Vorderaufgang den ein- und ausgehenden Menschenstrom nicht mehr fasste, so wurde für die Juden die Hintertreppe als Aufgang eingerichtet, während den Ariern die Vorderhaustreppe vorbehalten blieb. In den ersten beiden Wochen war der reichlich dreihundert Menschen fassende Hof und Hausdurchgang morgens bis mittags mit Menschen angefüllt. Während dieser Zeit wurde in einem zu diesem Zweck beschafften beweglichen Büro (geschlossenem und beheiztem Händlerwagen) im Hof eine Vorabfertigung vorgenommen. Bis zu vier Ordner sorgten für 14 ÖStA-AdR, BKA/WA 8/4, 2236/451, 14. Februar 1939, Tgb. Nr. 324/2/39, Vierteljahresbericht der Auswandererberatungsstelle Leipzig, S. 1.

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die Ruhe und Ordnung auf dem Hof, den Treppen; außerdem während der ersten zehn Tage auch noch Polizeistreifen vor dem Hause. […] Die Beratungsstelle fertigte im November rund viertausendfünfhundert und im Dezember achttausendfünfhundert Menschen ab, zusammen 15 695 im Berichtsvierteljahr, d.i. etwa das 10–11 fache des gleichen Zeitraumes in Vorjahr.15

Einige der Vierteljahresberichte enthalten auch Angaben über das „Verhältnis von Ariern und Juden“ unter den Ratsuchenden. So berichtete die Beratungsstelle Leipzig: Gegen das Vorvierteljahr ist ein weiteres Absinken der arischen Auskunftssuchenden erfolgt und zwar um fast 50%. Nur etwa 3,5 % aller Fragesteller waren arischer Abstammung. In der Zeit Juli/September 1938 war der arische Anteil an der Gesamtziffer noch etwa ein Sechstel. Im Jahre 1938 stehen 1311 arischen Beratungen 7128 an Juden gegebene Auskünfte gegenüber.16

Einige Berichterstatter beklagten, dass ihnen durch den Ansturm der Juden zu wenig Zeit geblieben sei, sich ihrer „urtümlichen Grundlage“ zu widmen, nämlich „der Beratung von deutschen Menschen“. So waren „mitten unter den zahllosen jüdischen Frauen, die die Gutachten für die Enthaftung ihrer Ehemänner begehrten“, auch ‚arische‘ Ingenieure und Kaufleute, die Beratung für den Abschluss von Auslandsverträgen suchten, bis hin zur Frage nach den klimatischen Bedingungen in ihrem Zielland.17 Dass es vor allem jüdische Frauen waren, die in diesen ersten Tagen nach dem Novemberpogrom bei den Auswandererberatungsstellen Hilfe suchten, lag daran, dass die NS-Behörden eine unmittelbar bevorstehende Auswanderung zur Bedingung für die Entlassung der beim Novemberpogrom verhafteten männlichen Juden machten.18 Als Sühnemaßnahme für den Mord in der Deutschen Botschaft in Paris waren am 10. November und den folgenden Tagen fast sämtliche männlichen Juden des Bezirks in Schutzhaft genommen worden. Die Frauen bemühten sich daraufhin durch den Nachweis der ernsthaften Auswanderungsabsicht die Enthaftung der Männer und Söhne zu erreichen. Die Beratungsstelle stellte ihnen, wenn der Beweis erbracht wurde, eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Geheimen Staatspolizei aus, auf Grund deren die Entlassung dann verfügt wurde. Dieses Verfahren ist auch heute noch im Gange.19

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Ebda., Auswandererberatungsstelle Berlin, S. 1 f. Ebda., Auswandererberatungsstelle Leipzig, S. 4. Ebda., Auswandererberatungsstelle Berlin, S. 6. Vgl. Kaplan, Gehen oder Bleiben?, S. 32. ÖStA-AdR, BKA/WA 8/4, 2236/451, Nr. 1523/39, 20. Jän. 1939, Auswandererberatungsstelle Dresden, S. 1.

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Auch zu bürokratischen Schwierigkeiten und Missverständnissen zwischen den einzelnen mit der Auswanderung befassten Behörden scheint es gekommen zu sein, wobei der Tenor der Protokolle auch Rivalität signalisiert. So berichtete die Beratungsstelle Frankfurt – nicht ohne eine gewisse Genugtuung –, dass viele Finanzämter nach dem Erlass der Verordnung über die Sühneleistung der Juden vom 12. November sich weigerten, steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen für Juden auszustellen. Dies hatte zur Folge, dass diese Juden auch keine Pässe erhalten konnten und so an der Auswanderung gehindert wurden. Der vertrauliche eilige Erlass vom 26. November des Herrn Reichsministers der Finanzen machte diesem Zustand ein Ende.20

Der Berichterstatter der Beratungsstelle Köln kritisierte, dass einzelne Amtsstellen den Sinn der Verordnungen verkannten. […] Besonders Passstellen ließen wichtige Gesichtspunkte außer Acht oder kannten nicht einmal die betreffenden Passverordnungen. In vielen Fällen konnten wir feststellen, dass die Passausstellung ohne vorherige Einholung unserer Stellungnahme erfolgt war. In einem Fall hat sogar ein Jude, dem wir aus triftigen Gründen die Passbescheinigung vorenthielten, einen Pass erhalten.21

Die Beratungsstelle in München beschrieb überdies ein Gerücht als „Hauptanlass zu der Panik der Judenfrauen“, wonach „amtlich die Auswanderung bzw. Ausweisung aller noch freier Juden innerhalb von 24 Stunden durchgeführt werden sollte“. Der Bericht erstattende Beamte hielt sich viel darauf zugute, „die Unrichtigkeit dieser, offenbar durch falsch unterrichtete Personen geäußerten und natürlich auch undurchführbaren Drohungen“ durch „sofortige Rückfragen bei maßgebenden Stellen“ entlarvt zu haben.22 Der Bericht aus München wies aber auch ausführlich auf die Schwierigkeiten der Auswanderungswilligen hin, ein Aufnahmeland zu finden. Um die Schwierigkeiten für alle Beteiligten noch weiter zu erhöhen, setzten mit dem jüdischen Auswanderungsdrang auch weitere Verschärfungen der Einreisebestimmungen in verschiedenen Ländern ein. Andererseits öffneten andere, bisher schwer zugängliche Staaten ihre Grenzen, um jüdischen „Flüchtlingen“ eine vorläufige Unterkunft zu gewähren bis zu ihrer endgültigen Auswanderung nach dem eigentlichen Zielland. Dies war die ausdrückliche Bedingung, die von den meisten der fremden Regierungen – Großbritannien, Holland, Schweiz, Belgien, Schweden u.a.  – gestellt wurde. Nur in Fällen, wo besonders bekannte oder begüterte Persönlichkeiten oder Körperschaften sich für die jüdischen Gesuchsteller einsetzten, zumal in 20 Ebda., Auswandererberatungsstelle Frankfurt am Main, S. 4 f. 21 Ebda., Auswandererberatungsstelle Köln, S. 2. 22 Ebda., Tgb. Nr. 78/39, 21. Januar 1939, Auswandererberatungsstelle München, S. 2 f.

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England, wurden auch bedingungslose Einreisegenehmigungen gewährt. Dieses Ausfindigmachen eines „Zwischenlandes“ war umso dringlicher geworden, als das Hauptaufnahmeland für Juden – U.S.A. – unter dem ungeheuren Ansturm der Visumsuchenden zu versagen schien.23

Auswandern – wohin? Großen Raum nahmen in den Berichten Statistiken über die ‚angefragten‘ Zielländer der jüdischen Auswanderungswilligen ein. Die Spitzenposition hielten die Vereinigten Staaten von Amerika, wobei die Beratungsstelle Bremen drauf hinwies, dass „das Land U.S.A […] einen weit größeren Zuspruch genießen“ würde,„wenn nicht die Quote für das Jahr 1938/39 erschöpft wäre“. Dieselbe Beratungsstelle lieferte auch ein Beispiel für die verzweifelte Suche nach Zuflucht: Länder wie Uruguay oder Kuba, über die bisher nur wenige oder gar keine Auskünfte eingeholt worden waren, stießen plötzlich auf großes Interesse. Hinzugefügt wurde, dass sich „diese sprunghaften Erhöhungen […] meistens in der günstigen Aussicht zur Erlangung der Einreiseerlaubnis durch das Konsulat“ erklären ließen.24 Die Beratungsstelle in Hamburg vermerkte, dass Europa im letzten Quartal 1938 bei den Anfragen den amerikanischen Kontinent „überflügelt“ habe, wobei allerdings nur das Interesse gegenüber Nordamerika als Zielland zurückgegangen sei und sich jenes an Mittel- und Südamerika „beträchtlich vermehrt“ habe. Auch die Anfragen gegenüber Asien hätten sich verdoppelt.25 Die Beratungsstelle Stuttgart wies ausdrücklich auf die Rolle Englands als Zwischenstation hin, das „auch heute noch vielen Juden gestattet, bis zur Weiterwanderung sich bei Verwandten oder Bekannten aufzuhalten“. Der Bericht enthielt auch Hinweise über die Einwanderungsmöglichkeiten für ältere Menschen nach England sowie auf die seitens des jüdischen Hilfsvereins organisierte Umschulung in landwirtschaftliche Berufe im Hinblick auf eine Auswanderung nach Palästina. Auch die Kindertransporte nach Holland, Belgien und England wurden erwähnt.26 All diese Hinweise blieben in den entsprechenden Dokumenten allerdings unkonkret. Das lässt den Schluss zu, dass diese Informationen eher von den Zuflucht suchenden Juden an die Beamten gelangt waren als umgekehrt. Diesen Eindruck vermitteln auch die sehr detaillierten Hinweise über England als Aufnahmeland, die im Bericht der Beratungsstelle Frankfurt am Main zu finden sind. Dort wurden sowohl Anlaufstellen in England als auch die Möglichkeit angeführt, dort als Hausangestellte beschäftigt zu werden. Allerdings stammten auch diese Informationen offenkundig aus den von jüdischen Antragstellern auf eine „Passbescheinigung“ vorgelegten Bestätigungen über

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Ebda., Auswandererberatungsstelle München, S. 4. Ebda., Tgb. Nr. 1443/39, Auswandererberatungsstelle Bremen, S. 2 f. Ebda., Tgb. Nr. 53/R 39, Auswandererberatungsstelle Hamburg, S. 1. Ebda., Auswandererberatungsstelle Stuttgart, S. 3.

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Visumzusagen des britischen Generalkonsulats.27 Es ist nicht anzunehmen, dass sich die Auswandererberatungsstellen selbst aktiv darum bemühten, Zufluchtsländer für die Hilfe suchenden Juden und Jüdinnen ausfindig zu machen. Das überließen sie der Findigkeit der Auswanderungswilligen und den jüdischen Hilfsvereinen. Sie erfüllten lediglich die ihnen vom Gesetz zugewiesene bürokratische Aufgabe, Bescheinigungen für den weiteren Behördenspießrutenlauf vor der Emigration auszustellen. Was sie dabei von den Betroffenen an Informationen erhielten, gaben sie an ihre vorgesetzte Dienststelle weiter. So beschrieb der Bericht aus Frankfurt ausführlich die Haltung der deutschen Nachbarländer Holland, Belgien, Luxemburg und Schweiz: Aus den Nachbarländern […] waren zwar mehrfach arische Ausländer und jüdische Verwandte nach Frankfurt gekommen, um ihre jüdischen Freunde oder Angehörigen aus dem Konzentrationslager zu befreien und möglichst bald mit Frau und Kindern in das Ausland zu schaffen. Jedoch überwog bei den Regierungen dieser Länder die Furcht vor einem zu großen Ansturm der Juden alle anderen Erwägungen und fand ihren Ausdruck in den Bestimmungen, wonach nur solchen Juden die Einreise gestattet wurde, deren Unterhalt in dem Lande und deren spätere Weiterreise nach einem anderen Zielland gewährleistet war.28

Anschließend zitierte der Berichterstatter aus Frankfurt eine Bemerkung des südafrikanischen Ministers Pirow zur Situation der Juden Deutschlands: Die Deutschen geben den Juden den Pass und die westlichen Demokratien geben ihnen ihre tiefste Sympathie. Zu einer großzügigen Lösung des Problems, das den Hauptgrund für die politische Spannung bildet, gehören aber Land und Geld, deren Bereitstellung nicht einmal schwierig, aber bisher noch von keiner Seite ernsthaft in Angriff genommen worden ist.29

Ob sich aus diesem Zitat eine persönliche Kritik des Berichterstatters an der nationalsozialistischen Vertreibungspolitik und eine gewisse Empathie für die verzweifelt nach einem Aufnahmeland suchenden Juden ableiten lassen, bleibt fraglich. Es ist wohl eher anzunehmen, dass der Berichterstatter sich damit der gängigen – und in den Medien verbreiteten – deutschen Kritik an der geringen Bereitschaft anderer Staaten, die aus ihrer Heimat vertriebenen Juden aufzunehmen, angeschlossen hat. Stärker ist eine mögliche Empathie aus dem Dresdener Bericht herauszulesen, in dem folgendes formuliert wurde: Im Vordergrund der Auswanderung steht nicht mehr die Frage: „In welchem Land finde ich die besten Vorbedingungen für ein erfolgreiches Fußfassen?“ sondern: „Wie komme ich am 27 Ebda., Auswandererberatungsstelle Frankfurt am Main, S. 8–10. 28 Ebda., S. 3. 29 Ebda., S. 4.

Traude Ernst Hanisch Bollauf

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schnellsten aus Deutschland heraus?“ Der Frage nach dem Vorhaben folgt die stets wiederkehrende Antwort: „Das muss sich aus den vorgefundenen Verhältnissen ergeben. Hier ist uns jede Lebensmöglichkeit abgeschnitten und wir gehen seelisch zu Grunde.“ Viele stellen sich auf eine manuelle Tätigkeit um, in der Hoffnung durch sie eher ein Fortkommen zu finden als in dem bisher ausgeübten kaufmännischen oder geistigen Beruf.30

Die übrigen Berichte stellten – mit Zahlenmaterial untermauert – die übergroße Belastung der Behörden durch die Panik „der auswanderungswilligen Juden“ in den Mittelpunkt, die die Leiter der Beratungsstellen dazu zwangen, „viele Überstunden zu leisten“ und Hilfskräfte einzustellen.31 Einige betonten – wie der Berichterstatter aus Berlin – vor allem, wie sie als deutsche Beamte trotz aller Widrigkeiten mit der Situation fertig geworden waren. Trotz des ungeheuren Druckes der von der Judenheit in diesen Tagen auf die Beratungsstelle ausgeübt wurde und trotzdem von allen Seiten darauf hingewiesen wurde, dass dieser Druck und die Panikstimmung der Juden ausgenützt werden müsse, ließ sich die Beratungsstelle in der gradlinigen Ausführung des ihr durch […] Runderlass übertragenen Auftrags nicht beirren; es wurde nur denjenigen Juden die Auswanderungsbescheinigung ausgestellt, bei denen die Wahrscheinlichkeit bestand, dass die Auswanderungsabsicht auch in absehbarer Zeit ausgeführt werden konnte.32

Dabei wurde – so der Berichterstatter – festgestellt, dass in jenen Tagen nur ein Bruchteil, kaum ein Drittel oder ein Viertel der Juden soweit mit ihren Auswanderungsvorbereitungen vorgeschritten waren, dass die Beratungsstelle ihnen die Bescheinigung nach dem Runderlass vom 16. November 1937 geben konnte.33

Noch etwas erschien dem Berichterstatter aus Berlin erwähnenswert: Der Unterzeichnete hat mit seiner Auffassung, dass die Auswanderungswelle zum großen Teil an der deutschen Grenze an den Einwanderungsvorschriften des Einwanderungslandes scheitern würde, recht behalten. Der Umfang der Auswanderung der Juden bestimmt sich nicht in erster Line an dem Druck der in der Heimat ausgeübt wird, sondern an der Weite der Toröffnungen an den Grenzen der Aufnahmeländer.34 30 31 32 33 34

Ebda., Auswandererberatungsstelle Dresden, S. 2. Ebda., Auswandererberatungsstelle Breslau, S. 2. Ebda., Auswandererberatungsstelle Berlin, S. 5. Ebda., S. 4. Ebda., S. 5.

Protokolle der Panik

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Einige Seiten später wird er in seiner Ablehnung der Vertreibungspolitik noch deutlicher: Im ganzen genommen bietet die gegenwärtige Auswanderung von Juden ein kaleidoskopartiges Bild, d.h. ein Bild, das ständig wechselt. Die Juden, die jetzt auswandern, werden, da sie das Zielland nicht nach dem Gesichtspunkt ihrer späteren Niederlassung und Einwurzelung wählen können, noch jahrelang in der Wanderungsbewegung bleiben, indem sie das vorläufig gewählte, aber nicht geeignete Zielland bei der ersten Gelegenheit wieder verlassen, weil sie keine Lebensmöglichkeiten finden. So werden wir es erleben, das von den vorläufigen Zielpunkten wie Schanghai, Siam, San-Domingo, Trinidad, Cuba, Lima, Asuncion die Juden sich nach allen Richtungen hin verbreiten werden und überall Nester der Unruhe und der Gegenpropaganda gegen Deutschland bilden werden.35

Damit wollte der Berichterstatter wohl bereits Ende 1938 andeuten, dass seiner Meinung nach in Deutschland nach einer anderen Lösung der ‚Judenfrage‘ als der ‚Auswanderung‘ gesucht werden müsse.

Resümee Die Vierteljahresberichte der Auswandererberatungsstellen über das vierte Quartal 1938 sind nicht mehr als eine Momentaufnahme aus der Geschichte der Vertreibung und Ermordung der deutschen Juden und Jüdinnen durch die nationalsozialistischen Machthaber. Aus den Statistiken über Anfragen nach möglichen Aufnahmeländern lässt sich nicht schließen, ob und, wenn ja, in welchem Land und unter welchen Bedingungen die Hilfesuchenden tatsächlich Zuflucht gefunden haben. Was diese Berichte aber so interessant macht, ist die Tatsache, dass es sich dabei nicht um Anordnungen praxisferner hoher Behörden handelt, sondern um Situationsbeschreibungen untergeordneter Dienststellen, die von den Auswirkungen des Novemberpogroms wohl selbst überrumpelt worden waren. Diese Vierteljahresberichte der Auswandererberatungsstellen liefern eine besondere Perspektive: Sie zeigen die Haltung deutscher Beamter, die in letzter Konsequenz den Holocaust möglich machte. Es waren Beamte, die die „Panik der Juden“ vor allem als kaum zumutbare Arbeitsbelastung erlebten, die sie trotz widriger Umstände pflichtgemäß zu bewältigen suchten, erfüllt von einem gewissen Stolz auf ihre Tugenden der Pflichterfüllung und der Treue. Es waren die gleichen Tugenden, die – wie eingangs erwähnt – viele Juden daran gehindert hatten, die Gefahr, die ihnen von den Nationalsozialisten drohte, rechtzeitig zu erkennen und sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen.

35 Ebda., S. 15 f.

Hannah Lessing

Gerhard Botz und der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus – Einige Berührungspunkte Die richtigen Worte zu finden, die mir passend erscheinen zu diesem Anlass, ist mir nicht leichtgefallen. Nicht weil es über Gerhard Botz nichts Besonderes zu sagen gäbe – ganz im Gegenteil. Es gilt, einen Mann zu würdigen, dem mit gutem Grund der Respekt vieler Persönlichkeiten in und außerhalb von Österreich entgegengebracht wird und dessen Verdienste in der Geschichtswissenschaft zahlreich sind. Und so zahlreich, wie diese Verdienste sind, so vielfältig werden die Ehrungen ausfallen, die Gerhard Botz zu seinem 70. Geburtstag entgegennehmen kann. Jeder, der ihm und seinem Schaffen aus Anlass dieses Jubiläums Achtung zollt, wird wohl seine eigenen Erfahrungen, seinen ganz persönlichen Zugang einbringen und ihm so seine individuelle Referenz erweisen. Jede Ehrung spiegelt ihre spezielle Facette des Geehrten wieder – den ganzen Menschen zu erfassen vermag ohnehin niemand. Mein Zugang kann naturgemäß – ich bin keine Wissenschafterin – nicht unter einem geschichtswissenschaftlichen Anspruch erfolgen – dafür gibt es Berufenere. Mein Blick auf das zentrale Forschungsgebiet von Gerhard Botz’ Werk – die Zeitgeschichte, und hier besonders die Zeit des Nationalsozialismus – eröffnet sich zum einen über meine Erfahrungen aus meiner langjährigen Tätigkeit im Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, zum anderen aber auch – ich werde später darauf zurückkommen – über meine eigene Familiengeschichte. Ohne Anspruch auf Objektivität oder Vollständigkeit zu erheben, will ich auf den folgenden Seiten mehr oder weniger assoziativ skizzieren, wofür Gerhard Botz für mich steht – als Historiker und als Mensch.

Berührungspunkte Lebensgeschichten und Oral History Mein Blick auf den Zeithistoriker Gerhard Botz ist geprägt durch meine eigenen Begegnungen mit überlebenden Opfern des Holocaust und ihren Lebensgeschichten. Der Sinn für die Bedeutung des historischen Details sowie für das Alltägliche im Historischen sind meinem Eindruck nach wesentliche Punkte, in denen sich die Arbeit des Nationalfonds und die historische Arbeitsweise von Gerhard Botz berühren. Gerhard Botz interessiert sich für die Menschen vor ihrem jeweiligen historischen Hintergrund, für ihre Herkunft, ihre Motivationen, für das soziale Geflecht, in dem sie sich entwickeln und handeln – Details, wie sie uns bei unserer Arbeit im Nationalfonds immer wieder begegnen.

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Der Nationalfonds beging im September 2010 sein fünfzehnjähriges Bestehen – auch hier ein Geburtstag – und ebenso lange bin ich als seine Generalsekretärin tätig. In zahlreichen persönlichen Gesprächen habe ich immer wieder erfahren, wie gegenwärtig die Folgen des vor Jahrzehnten verübten Unrechts für so viele damals Verfolgte sind – rund 30.000 überlebende Opfer haben sich seit der Einrichtung des Fonds im Jahr 1995 an uns gewandt, heute leben noch weniger als 20.000 von ihnen, um die 4000 in Österreich, die übrigen verstreut in über 75 Ländern der Erde. Eingerichtet, um die von den Nationalsozialisten Verfolgten als NS-Opfer anzuerkennen – eine Anerkennung, die ihren Ausdruck in einer symbolischen Gestezahlung findet –, widmet sich der Nationalfonds seit seinen Anfängen dem Anhören und Aufzeichnen von Lebensgeschichten. Die Erinnerungen, die Überlebende in den vergangenen Jahren mit uns teilten, waren Erinnerungen an Diskriminierung und Verfolgung, an den Verlust von Familie, Freunden und Zuhause. Sie ließen uns aber auch an vielen guten Erinnerungen teilhaben, Erinnerungen an Österreich vor dem ‚Anschluss‘, an eine glückliche Kindheit, Erinnerungen an Hilfe, durch die manche gerettet werden konnten, an mutigen Widerstand und Befreiung. Und es waren unendlich viele ganz kleine Details – nur scheinbar ‚Nebensächlichkeiten‘ – aus dem Alltag vor der Verfolgung oder auch aus der Zeit von Flucht und Exil. Im Laufe der Jahre trat die Bedeutung der Erinnerungen für uns als Zuhörende immer stärker in den Vordergrund: All die individuellen Erzählungen setzten sich in den Köpfen derer, die zuhörten, zu einem kaleidoskopartigen Bild einer versunkenen Welt zusammen, vergleichbar vielleicht mit der Collage aus Erinnerungen, die Walter Kempowski in seinem ‚kollektivem Tagebuch‘ „Echolot“ geschaffen hat. Die Vielfalt dieser Erinnerungen erscheint dabei zuweilen in ihrer Intensität und Unmittelbarkeit unendlich reicher als das in den Geschichtsbüchern vermittelte historische Wissen, weil sie Geschichte nicht nur verstehbar, sondern auch fühlbar macht. Die Erschließung von Zeitgeschichte über den Weg der oral history wurde über Jahrzehnte zu wenig geschätzt. Sicher, schon allein aufgrund der Subjektivität der Erinnerungen und aller damit verbundenen Unschärfen kann die oral history nicht die traditionelle Geschichtswissenschaft ersetzen, sie jedoch ergänzen. Schließlich liefern die Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wertvolle Einblicke in historische Wirklichkeiten – insbesondere können sie Stimmungen, Befindlichkeiten und Bilder des Alltags vergangener Zeiten vermitteln, wie sie in schriftlicher Form nur selten überliefert werden. Der Nationalfonds erachtet es als seine Verpflichtung, diese Lebensgeschichten zu bewahren und damit zur Formung des historischen Bewusstseins der Gesellschaft beizutragen. Jede dieser Geschichten ist Teil österreichischer Vergangenheit, und mit jedem Schicksal, das nicht vergessen ist, wird auch das Wissen der Gesellschaft um die eigene Geschichte bereichert. Einige der Lebensgeschichten aus unserem Archiv wurden mit Zustimmung der Betroffenen bereits veröffentlicht – sowohl in Publikationen des Nationalfonds als auch auf unserer Homepage oder im Rahmen von Lesungen. Viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind – auch

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über Vermittlung des Nationalfonds – bereit, mit Schulklassen oder im Rahmen von zeitgeschichtlichen Dokumentationen für Film und Fernsehen über ihre Verfolgungsgeschichte zu berichten. Nicht zuletzt bedeutet das Zuhören – ganz besonders im Hinblick auf die Opfer – einen unerlässlichen Akt der Würdigung der Schicksale der Überlebenden und der Toten. Zu dieser Würdigung fühlen wir uns als Menschen verpflichtet: Jedes Mal, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fonds  – der beim Parlament eingerichtet und damit für die Überlebenden auch Repräsentant der heutigen Republik Österreich ist – den Lebens- und Überlebensgeschichten mit Aufmerksamkeit zuhören, geben sie den Menschen nicht nur persönliches Mitgefühl und Anteilnahme, sondern zollen damit auch den Opfern den viel zu lange vorenthaltenen und ihnen daher umso mehr zustehenden Respekt. Im Wissen um die Bedeutung dieser Lebensgeschichten hat sich auch Gerhard Botz dafür eingesetzt, dass Schicksale von Einzelnen nicht in Vergessenheit geraten, wie unter anderem die 2008 von ihm herausgegebene Lebensgeschichte Alfred Baders zeigt.1 Es ist eine Autobiografie, die Erstveröffentlichung der außergewöhnlichen Lebensgeschichte eines Vertriebenen: Alfred Bader, 1924 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren, konnte 1938 vor den Nationalsozialisten mit einem Kindertransport nach England flüchten. Nach seiner Emigration in die USA gelang ihm dort eine Karriere als erfolgreicher Chemiker und Unternehmer, in späteren Jahren erwarb er sich einen Ruf als Kunstmäzen und stiftete den Ignaz L. Lieben-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Alfred Baders Schicksal offenbart nur einige der unzähligen Facetten von Verfolgung und Exil. Auch in meiner täglichen Arbeit bestätigt sich immer wieder: Die Erfahrungen von Verfolgung und Exil waren so vielfältig und individuell wie die davon betroffenen Menschen. Die Summe alles Erfahrenen gestaltet unser Bild von Geschichte, das umso deutlicher wird, je mehr Lebensberichte wir kennenlernen. Dieser Erkenntnis versucht der Nationalfonds mit der Unterstützung von Projekten wie diesem Rechnung zu tragen.

Projekte Die Vermittlung von historischem Bewusstsein durch Erinnerungsarbeit ist ein zentrales Element in der Arbeit des Nationalfonds. Es ist ein Anliegen von wachsender Bedeutung, eine Brücke von der Vergangenheit zu schlagen zur Gegenwart, zur Gesellschaft, in der wir heute leben, und die Sensibilität für bedenkliche Entwicklungen zu schärfen. Im Kontakt mit den Überlebenden wird uns immer wieder aufs Neue bewusst, wie wertvoll deren Erinnerungen auch für die Zukunft sind. Die Förderung von Projekten, die dem Vergessen entgegenwirken, gewinnt in dem Maße an Bedeutung, als Zeit verstreicht und die Erinnerungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen verloren gehen. In den 15 Jahren unserer Tätigkeit 1 Alfred Bader: Chemie, Glaube und Kunst. Fundamente meines Lebens, hg. v. Gerhard Botz, Wien / Köln / Weimar 2008.

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sind schon sehr viele Überlebende, die wir kennenlernen durften, gestorben. Wer nur mit einem einzigen Überlebenden gesprochen, seine Geschichte erfahren hat, mitfühlen und daraus lernen durfte, der kann ermessen, wie viel wertvolles Wissen in den letzten Jahrzehnten ungehört untergegangen ist. Geschichte stirbt vor unseren Augen. Die meisten Überlebenden sind heute hoch betagt, ihre Stimmen als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden immer leiser. Jede dieser Stimmen ist einzigartig. Die Generation unserer Kinder und Enkelkinder wird keine Gelegenheit mehr haben, persönlich mit diesen Menschen zu sprechen. Es ist daher heute die Aufgabe unserer Generation, den Ermordeten und den Überlebenden auch für die Zukunft eine starke Stimme zu verleihen. Andere müssen für sie sprechen, wenn sie selbst es einmal nicht mehr können. Deshalb ist es so wichtig, die Erinnerungen der Überlebenden jetzt festzuhalten, um sie für das kollektive Gedächtnis zu bewahren. Es ist eine Arbeit gegen die Zeit, die deswegen mit umso mehr Engagement erfolgen muss und die breiter Unterstützung bedarf. Durch Projektförderungen wird es möglich, auf gesellschaftspolitischer Ebene einen Beitrag zu einer wirkungsvollen und lebendigen Erinnerungskultur in Österreich zu leisten. Der Nationalfonds fördert Projekte mit unterschiedlichen Zielsetzungen – Projekte, die den Opfern des Nationalsozialismus zugutekommen, die dem Erinnern und Gedenken gewidmet sind, aber auch solche, die der wissenschaftlichen Erforschung des Nationalsozialismus und des Schicksals seiner Opfer dienen. Neben Gedenkveranstaltungen und Mahnmalen unterstützt der Nationalfonds beispielsweise Publikationen, Filmprojekte, Theateraufführungen und verschiedenste Kunstprojekte. Seit 1996 konnten wir so zum Gelingen von rund 1000 Projekten beitragen. Gerhard Botz ist für uns in diesem Bereich – gemeinsam mit dem von ihm 1982 gegründeten „Ludwig Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft“, das er bis heute leitet – in den vergangenen Jahren zu einem wertvollen Kooperationspartner geworden. Sein Name steht für hervorragende und engagierte Projekte, die mit mutigen und kritischen Fragestellungen auch schwierige Themen nicht scheuen. Ein Beispiel ist das Mauthausen Survivors Research Project. Sein Gegenstand sind die Erinnerungserzählungen ehemaliger Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen, deren Lebenswege nachgezeichnet und deren spezifische Formen der Erinnerung beleuchtet werden. Auf Grundlage von 860 Audio- und Videointerviews, die im Rahmen des Vorläuferprojektes, dem Mauthausen Survivors Documentation Project, aufgezeichnet wurden, werden die individuellen Lebensverläufe von Mauthausen-Überlebenden und die Verarbeitung der KZErfahrungen im Kontext einer gesamteuropäischen Erinnerung an die nationalsozialistischen Konzentrationslager untersucht. Es ist ein wichtiges Signal, dass sich Projekte wie dieses mit den Verfolgungserfahrungen in so intensiver Weise auseinandersetzen. Mich persönlich hat das von Gerhard Botz herausgegebene Buch „Schweigen und Reden einer Generation: Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus“ in besonderer Weise angesprochen. Ist schon die Auseinandersetzung mit den Erinnerungen der Opfer nicht leicht, so wird hier eine Thematik berührt, zu der Zugang zu

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finden für die meisten Menschen auch heute noch mindestens ebenso schwierig, wenn nicht noch schwieriger ist: Die Geschichten von Tätern und Täterinnen, Mitläufern und Mitläuferinnen. Diese berühren viele besonders unangenehm, denn in den meisten österreichischen Familien finden sich in der Eltern- oder Großelterngeneration Menschen, die der nationalsozialistischen Herrschaft zumindest nicht ablehnend gegenübergestanden sind. An diese Facetten ihrer Familiengeschichte werden Österreicherinnen und Österreicher in der Regel nicht gern erinnert und in vielen Familien ist dieses Wissen verdrängt. Umso dringender erscheint es mir daher, endlich an dieses Tabu zu rühren und auch die Geschichten derer zu erzählen, die nicht Opfer waren, sondern zu den ‚anderen‘ gehörten. Ihre Beweggründe und Motivationen kennenzulernen, ist für die Bildung von politischem Bewusstsein nicht weniger wichtig, als von den Schicksalen der Opfer zu erfahren. Es ist längst an der Zeit, wie Gerhard Botz selbst so treffend formulierte, „auch in der Geschichtswissenschaft die bisher meist unverbundenen nebeneinander bestehenden Täter- bzw. Opferdiskurse zusammenzuführen“.2

Ein besonderer Zugang zur Geschichte Ich betrachte Gerhard Botz in gewisser Weise als meinen ‚zeitgeschichtlichen Mentor‘, der mich im Laufe der Jahre – besonders zu Beginn meiner Tätigkeit für den Nationalfonds – immer wieder an seinem umfangreichen Fachwissen hat teilhaben lassen, oft ganz beiläufig, bei einem Mittagessen, und der damit – es mag ihm nicht immer bewusst gewesen sein – auch wertvolle Beiträge zur Arbeit des Nationalfonds, zur Sensibilisierung für bestimmte Fragestellungen geleistet und das Geschichtsverständnis im Fonds sicherlich auch mitgeprägt hat. Dafür möchte ich ihm an dieser Stelle gerne meinen Dank aussprechen.

Die Suche nach Wahrheit Gerhard Botz steht für mich für einen ganz besonderen Zugang zur Zeitgeschichte. Er ist der politisch engagierte Historiker, der Einmischung, Kritik und Diskussion nicht fürchtet. Und er verfügt über die Fähigkeit, in einer für Österreicherinnen und Österreicher ganz untypischen Weise mit seiner eigenen persönlichen Geschichte, seinen eigenen Erinnerungen, der Geschichte der eigenen Familie kritisch umzugehen, ohne die Konfrontation mit den schwierigen Aspekten dieser Geschichte zu scheuen. Diese harte Konfrontation verlangt er auch anderen ab, in der Erkenntnis, dass sie für unser ganzes Land unerlässlich ist: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“3 Indem er beharrlich weiterfragt, selbst wenn es mühsam wird, ist 2 Gerhard Botz (Hg.): Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005, S. 17. 3 Ingeborg Bachmann: Dankrede anlässlich der Verleihung des „Hörspielpreises der Kriegsblinden“, 17. März 1959, Festakt im Bundeshaus in Bonn, heute ihre Grabinschrift auf dem Friedhof Klagenfurt-Annabichl.

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Gerhard Botz sicherlich für viele ein ‚Unbequemer‘, denn unangenehme Wahrheiten werden nicht gern gehört. Gerhard Botz hat sein Leben in den Dienst einer Suche nach Wahrheit  – oder zumindest einer bestmöglichen Annäherung daran – gestellt. Er spürt ihr unbeirrbar nach in dem Bewusstsein, dass sie schmerzen und bisweilen die Erkenntnis mit sich bringen kann, dass nicht alle Probleme und Widersprüche lösbar sind – sei es im individuellen Leben, sei es in der Geschichte eines Landes. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass sich die Qualität einer Gesellschaft auch darin zeigt, wie sie mit ihrer eigenen Vergangenheit umgeht – ob sie das Geschehene verdrängt oder ob sie sich der Wirklichkeit – so grausam und schwer zu ertragen sie auch sein mag – stellt. Durch die Vermittlung dieser Haltung haben Historikerinnen und Historiker wie Gerhard Botz unter anderem wesentlich zum Aufbrechen der in Österreich viel zu lange vorherrschenden Opferthese beigetragen. Erst dadurch wurde die Entwicklung einer ehrlicheren Selbstwahrnehmung in unserem Land möglich, mit der Folge, dass die österreichische Gesellschaft zunehmend auch die dunklen Seiten zu integrieren und Verantwortung für die eigene Geschichte zu übernehmen begann. Geschichte ist für Gerhard Botz etwas, das ihn immer auch ganz persönlich betrifft und angeht. Es ist sicher nicht leicht, diesen Spagat zu schaffen zwischen persönlicher Betroffenheit und sachlicher Distanz, zwischen Emotion und wissenschaftlichem Zugang, zwischen der Suche nach ganz persönlichen Antworten und dem Streben, allgemeingültige Antworten zu finden.

Der Mut zum Unkonventionellen Was ich an Gerhard Botz so besonders finde, ist seine Fähigkeit, „quer zu denken“, alte Fragestellungen aus einem neuen, außergewöhnlichen Blickwinkel zu betrachten und auch unübliche Lösungsansätze zu wagen. Schon sein Ausbildungsverlauf – da findet sich neben dem Studium von Geschichte, von Biologie und Geografie sogar ein Jahr an der Filmschule der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien – veranlasst zur Spekulation, dass sich in ihm vielseitige Interessen und Begabungen vereinen, eine grundsätzliche Neugier gegenüber dem Leben und den unterschiedlichsten Wissensfeldern, eine Offenheit, von der letztlich auch seine Arbeit als Historiker immer wieder profitiert. Seine unkonventionelle Art, auf historische Rätsel zuzugehen, zeigte sich wunderbar bei der Erforschung des Justizpalastbrandes, wo er mit nahezu kriminalistischem Spürsinn eine Rekonstruktion der Ereignisse des 15. Juli 1927 vornahm. Hier wurde ein historisches Schlüsselereignis gleichsam unter dem Mikroskop betrachtet. Welche Historikerin, welcher Historiker sonst wäre auf den Gedanken gekommen, anhand der Schatten auf den historischen Fotoaufnahmen die Abläufe dieses Tages nachzuzeichnen, indem er sich an die Orte des Geschehens begibt und Vergleichsaufnahmen anfertigt? Ich könnte mir vorstellen: Wäre Gerhard Botz Archäologe geworden, so hätte er sich wohl der experimentellen Archäologie verschrieben …

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Die Bedeutung der Familiengeschichte Die eingangs angesprochene Suche nach den richtigen Worten zum Historiker Gerhard Botz und dazu, was ihn geprägt hat und antreiben mag, hat mich auch auf meine eigene, persönliche Geschichte und die meiner Familie zurückgeworfen. Es ist oft so: Die Reflexion über einen anderen Menschen, seine Biografie, seine Beweggründe und Motivationen führen dazu, dass wir Parallelen finden in unserer eigenen Vita, manches in uns selbst hinterfragen und dass wir uns mit den tiefer gehenden Fragen unseres eigenen Lebens zu beschäftigen beginnen – auch solchen, die nicht angenehm sind und denen wir uns im Alltag gerne entziehen. Über die Befassung mit dem anderen gelangen wir zu uns selbst zurück.

Schweigen An den Anfang seines Vorwortes zu den „Erinnerungsgesprächen mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus“ hat Gerhard Botz den Satz gestellt: „Nationalsozialismus und Holocaust sind in Österreich so wie in Deutschland Familiengeschichte.“4 Diese Worte treffen auch auf meine Familie zu. Will man der sehr schematischen Klassifizierung von Opfern und Tätern folgen, so müsste man sagen, ich entstamme väterlicherseits einer „Opferfamilie“: Ich habe meine Großmutter Margit Lessing nie kennengelernt – sie ist eine der über eine Million Menschen, deren Spuren sich in der Hölle von Auschwitz verloren haben. Gerhard Botz selbst spricht in seinem Essay „Nazi, Opportunist, ‚Bandenbekämpfer‘, Kriegsopfer“,5 in dem er sich kritisch mit der Haltung seines Vaters in der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzt, von einem „Schweigekartell“ zwischen Eltern und Kindern, das für die Kinder ein Nachfragen nach den Verstrickungen der Eltern unmöglich machte. Ähnliche Tabu-Erfahrungen habe auch ich in meiner Familie gemacht, wie überhaupt vieles, was Gerhard Botz zu dieser Thematik sagt, auch auf mich zutrifft. Das Schweigen existierte als Generationenvertrag aufseiten der Opfer wie auch aufseiten der Täterinnen und Täter.

‚Berufung‘ Gerhard Botz fand über die Erfahrungen seiner Kindheit – dem Bild seiner um den gefallenen Ehemann weinenden Mutter – zu seinem Beruf als Historiker, der in seinem Fall sicher im wörtlichen Sinn ‚Berufung‘ ist: „Dieses Bild und die Bedeutung, die ich ihm, seit ich politisch zu denken begann, zuschreibe, begleiten mich.“6 Und er reflektiert darüber, dass diese Erfahrung 4 Botz, Schweigen und Reden, S. 9. 5 Gerhard Botz: Nazi, Opportunist, ‚Bandenbekämpfer‘, Kriegsopfer, in: ders. (Hg.): Schweigen und Reden, S. 135– 159. 6 Ebda., S. 136.

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des frühen Kriegstodes seines Vaters in ihm den Wunsch eingepflanzt habe, „dazu beizutragen, dass Gewalt, faschistische Politik und Kriegselend in Hinkunft verhindert werden können“.7 In diesem gemeinsamen Ziel treffen wir uns, und wieder kann ich nicht umhin festzustellen, wie sehr auch meine eigene Tätigkeit, mein Wunsch, für die Opfer des Nationalsozialismus einzutreten, durch meine familiäre Vergangenheit geprägt ist. Es erfordert Mut, sich allen Erinnerungen – den guten wie den bösen – zu stellen. Gerhard Botz wurde sich, obwohl selbst als Zeithistoriker mit diesen Fragen seit langem befasst, der Verstrickung seiner eigenen Familie nur schrittweise bewusst. Er hat erkannt: Die Wahrheit ist nicht Schwarz-Weiß, die Übergänge zwischen Tätern und Opfern und allem, was dazwischen liegt, sind fließend – „Graustufen“: „Schon das pauschalierende Reden von ‚Tätern‘ vereinfacht ein komplexes und oft nicht konsistentes oder zeitlich konstant bleibendes Verhalten unter ‚totalitären Diktaturen‘ in einer empirisch nur selten angemessenen Weise.“8 Auch was meine eigene Familie in mütterlicher Linie angeht, musste ich mich dieser Einsicht öffnen: Als Nichtjüdin stand meine Mutter wie damals viele andere verführte Jugendliche der herrschenden Ideologie ihrer Zeit nicht unbedingt mutig gegenüber. Oft frage ich mich: Was hätte ich an ihrer Stelle gedacht, welche Haltung hätte ich für mich gefunden, wie hätte ich gehandelt? Gerhard Botz zitiert in diesem Zusammenhang den französischen Historiker Marc Bloch, der – selbst Widerstandskämpfer und später von der Gestapo ermordet – gesagt hatte: „Sind wir denn unserer selbst und unserer Zeit so sicher, dass wir unsere Väter in Gerechte und Verdammte zu scheiden vermögen?“9

Erinnern oder Vergessen? In der österreichischen Nachkriegsgesellschaft, deren oberstes Ziel der Wiederaufbau war, blieben über Jahrzehnte kein Raum und keine Zeit für den Blick zurück. Zu groß war wohl auch die Angst, die Befassung mit Leid und Schuld der Vergangenheit könnte die für die Zukunft nötige Kraft lähmen – die Angst, die junge Republik könne durch den Blick auf die hinter ihr liegenden Schrecken gleich Lots Frau zur Salzsäule erstarren. Immer wieder seit Kriegsende hat sich jedoch die Frage nach Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit des Erinnerns gestellt, und die Antworten auf diese Frage haben sich im Laufe der Jahrzehnte sehr gewandelt. Der deutsche Historiker Martin Sabrow bezeichnet „Erinnerung“ als „einen der zentralen Verständigungsbegriffe unserer Zeit“. Er beschreibt sehr treffend, wie sich „das Verhältnis von Erinnern und Vergessen […] in den letzten Jahren und Jahrzehnten grundstürzend verändert  7 Ebda.   8 Botz, Schweigen und Reden, S. 13.  9 Ebda.

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hat“, hin zur Auffassung, dass „das Erinnern dem Vergessen überlegen sei“, eine Auffassung, die in ein „Bekenntnis zur Aufarbeitung“ mündet.10 Uns allen ist heute bewusst: Eine Vergangenheit wie Auschwitz, der Genozid an Millionen Menschen, kann weder bewältigt noch verarbeitet werden. Noch weniger ist es möglich, sie zu vergessen. Damit Versöhnung möglich wird, braucht es den Willen zu schonungsloser Erinnerung, das Eingestehen des Unrechts. Anstatt zu verdrängen, muss es als Teil der eigenen Geschichte angenommen, im eigentlichen Sinne des Wortes ver-inner-licht werden. Im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Vergangenheit geht es heute nicht mehr um individuelle Schuld – es geht darum, als Gesellschaft Verantwortung für die Taten der Vergangenheit zu übernehmen und mit der eigenen Geschichte bewusst umzugehen. Diese Verantwortung trifft uns als Staatsbürger alle, egal welcher Generation wir angehören. Der deutsche Historiker Christian Meier bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Wenn Demokratie mit der Verantwortung aller für das Gemeinwesen verbunden ist, so ist die Weise, die historische Verantwortung für die eigene Geschichte anzunehmen, samt all den Auseinandersetzungen, die damit verknüpft waren, eine Form ihrer Bewährung.“11 Österreich ist nach Deutschland heute nicht das einzige Land in Europa, das sich zunehmend dieser Erkenntnis öffnet. Um einen solchen bewussten Umgang mit der eigenen Vergangenheit möglich zu machen, braucht es Historikerinnen und Historiker wie Gerhard Botz, die sich in der Frage von Erinnern oder Vergessen klar und entschieden zum Erinnern und allen sich daraus ergebenden Konsequenzen bekennen. Ich möchte zum Abschluss noch einmal Ingeborg Bachmann sprechen lassen, deren wohl prägendstes Ereignis ihrer Kindheit die Machtübernahme in Österreich durch Hitlerdeutschland gewesen ist: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“ In Gerhard Botz hat sie indes mit Sicherheit einen sehr aufmerksamen Schüler gefunden. Wir können uns glücklich schätzen, dass er bereit ist, das Gelernte so bereitwillig zu teilen und in so interessanter Form an andere weiterzugeben. Die österreichische Gesellschaft kann nur gewinnen, wenn sie ihm weiter zuhört.

Epilog Ich möchte diese Zeilen für Gerhard Botz mit einem ganz persönlichen und von Herzen kommenden jüdischen Geburtstagswunsch beschließen, der  – in Erinnerung an den Propheten Moses, welcher nach der Tora dieses Alter erreichte – lautet: „Mögest du 120 Jahre alt werden!“ 10 Martin Sabrow: Erinnerung als Pathosformel der Gegenwart. Vortrag auf den Helmstedter Universitätstagen, 28. Sept. 2007. 11 Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010, S. 76.

Johannes-Dieter Steinert

Humanitäre Hilfe, Displaced Persons und die deutsche Bevölkerung nach 1945 Als die alliierten Truppen die nationalsozialistischen Arbeits-, Konzentrations- und Mordlager befreiten, befanden sich unter den Häftlingen lediglich rund 100.000 Juden, die Holocaust und Zwangsarbeit überlebt hatten. Sie bildeten einen äußerst kleinen Teil der insgesamt mehr als zehn Millionen Displaced Persons (DPs) – die meisten von ihnen ehemalige Zwangsarbeiter sowie andere zivile Angehörige der Vereinten Nationen. Die Versorgung und Repatriierung dieser Menschen sollte, alliierten Planungen folgend, von der bereits 1943 gegründeten United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) übernommen werden. Verzögerungen im Aufbau der internationalen Hilfsorganisation führten jedoch dazu, dass während des Krieges sowie in der unmittelbaren Nachkriegszeit zunächst nationale nicht-staatliche Organisationen (NGOs) diese Aufgaben zusammen mit dem Militär in den westlichen Operations- und Besatzungsgebieten übernahmen. Auf britischer Seite wurde die Arbeit der NGOs vom 1942 ins Leben gerufenen Council of British Societies for Relief Abroad (COBSRA) in London koordiniert; in Deutschland erfolgte die Arbeit unter Leitung der British Red Cross Commission (BRCC) mit Sitz in Vlotho.1 Im April 1945 hatten die Mitgliedsorganisationen des Council of British Societies for Relief Abroad 455 humanitäre Helfer in das nordwestliche Europa gebracht, weitere 115 waren zu diesem Zeitpunkt in Italien, 300 in Griechenland und 37 in Jugoslawien im Einsatz.2 Während jedoch die Teams aus dem südlichen und südöstlichen Europa bald wieder abzogen, nachdem ihre Aufgaben von örtlichen Organisationen oder von der UNRRA übernommen worden waren, verstärkte COBSRA seine Präsenz im Nordwest-Europa noch einmal deutlich. Ende Juli 1945 zählte man hier bereits 840 und im April 1946 schließlich 937 Helfer.3 Die britischen Teams wurden sowohl aus anderen europäischen Ländern in das britisch kontrollierte Gebiet Deutschlands verlegt als auch von Großbritannien aus direkt zu ihren Bestimmungsorten geschickt. Die Aufstockung setzte unmittelbar nach Kriegsende ein. Bereits im Juli 1945 arbeiteten in Deutschland 280 Helfer in 24 Teams.4 Die Höchstzahl wurde im Sommer 1946 mit etwa 60 Gruppen und 600 Mitarbeitern erreicht.5 Verantwortlich für 1 Der Beitrag basiert auf einem von der British Academy geförderten Forschungsprojekt. Siehe insbesondere: Johannes-Dieter Steinert: Nach Holocaust und Zwangsarbeit. Britische humanitäre Hilfe in Deutschland. Die Helfer, die befreiten und die Deutschen, Osnabrück 2007. 2 Public Record Office, London (PRO), FO 936 / 698, Council of British Societies for Relief Abroad (COBSRA), Report for the year 1947, S. 8. 3 PRO, FO 371 / 51347, Draft item 7 of white paper on “relief operations”, 7. Voluntary societes, undat. [ Juli 1945]; PRO, FO 936 / 698, COBSRA, Report for the year 1947, S. 9. 4 PRO, FO 371 / 51347, Draft item 7 of white paper on “relief operations”. 7. Voluntary societes, undat. [ Juli 1945]. 5 Magda Kelber: Quäkerhilfswerk, Britische Zone 1945–1948, Bad Pyrmont 1949, S. 17.

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Johannes-Dieter Steinert

die Aufstockung war insbesondere die ab November 1945 vollzogene Erweiterung des Tätigkeitsfeldes auf die German Welfare. Bereits 1946, vollends aber 1947 dominierte die Hilfe für die deutsche Bevölkerung, für die im Jahresdurchschnitt 38 Teams eingesetzt waren, deutlich gegenüber der Arbeit für Displaced Persons, für die nur noch 16 Gruppen zuständig waren.6 Gestellt wurden die Teams vom British Red Cross (BRC) und St. John Ambulance, vom Friends Relief Service (FRS), den Friends Ambulance Units (FAU), den Boy Scouts, den Girls Guides, dem International Voluntary Service for Peace, der Salvation Army, dem Save the Children Fund und dem Catholic Committee for Relief Abroad.7 Hinzu kamen Einheiten des britischen Jewish Committee for Relief Abroad, die sich während des Krieges COBSRA angeschlossen hatten, ab November 1945 aber eine unabhängige, mit der UNRRA koordinierte Rolle bevorzugten.8 Die Zahl ihrer in Europa tätigen Helfer lag im Oktober 1945 bei 41, erhöhte sich aber bis April 1946 auf 79, wovon 68 in Deutschland arbeiteten; 1947 waren es 120 Mitarbeiter.9 Britische humanitäre Helfer waren ausgezeichnete Beobachter, die ihre Eindrücke und Wahrnehmungen in Briefen, Tagebüchern und Berichten festhielten. Diese Quellen geben nicht nur Aufschluss über interne Angelegenheiten der Hilfsaktionen, sie beinhalten auch Informationen, Wahrnehmungen und Einschätzungen über die Einstellungen und Verhaltensweisen der Empfänger dieser Leistungen  – unter ihnen Befreite wie Besiegte  – und bieten damit einen oftmals ungewohnten Einblick in die letzten Kriegswochen und die ersten Nachkriegsjahre. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie britische humanitäre Helfer die Überlebenden von Zwangsarbeit und Holocaust sowie die deutsche Bevölkerung wahrnahmen und durch welche Faktoren diese Wahrnehmung beeinflusst wurde. Im Mittelpunkt steht die Arbeit britischer Teams in der letzten Kriegsphase und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, insbesondere im befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Von der Normandie nach Deutschland Die ersten Einheiten britischer NGOs landeten am 6./7. September 1944 in der Normandie: eine British Red Cross Hospital Unit, gefolgt von einem Team der Boy Scouts und zwei

  6 PRO, FO 936 / 698, COBSRA, Report for the year 1947, S. 12f.   7 PRO, FO 371 / 58456, COBSRA, Progress report on relief work presented to the council and conference, 13. 2. 1946.   8 Hagit Lavsky: New beginnings. Holocaust survivors in Bergen-Belsen and the British zone in Germany, 1945– 1950, Detroit 2002, S. 96.   9 Wiener Library, London (WL), Henriques Archive, 3/7, Leonhard Cohen an UNRRA, 2. 10. 1945;London Me­ tropolitan Archives(LMA), ACC/2793/01/13/02. The Central British Fund for Jewish Relief and Rehabilitation, Annual report for 1945, London 4. 6. 1946; Norman Bentwich: They found refuge. An account of British Jewry’s work for victims of Nazi oppression, London 1956, S. 146.

Humanitäre Hilfe, Displaced Persons und die deutsche Bevölkerung nach 1945

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Friends Ambulance Units.10 Weitere fünf Friends Ambulance Units rückten in den nächsten Wochen auf Anforderung der Militärs nach.11 Diese acht Teams wurden zunächst in Frankreich, Belgien und den Niederlanden eingesetzt, wo sie vor vielfältige Aufgaben gestellt waren. Die mobile Hospital Unit beispielsweise half in allen drei Ländern bei der Instandsetzung von Krankenhäusern. In den niederländischen Orten Bakel, Helmond und Werte betreute sie ferner Flüchtlinge und Flutopfer, nachdem die abziehenden deutschen Truppen die Dämme gesprengt hatten.12 In der Regel blieben die Einheiten so lange vor Ort, bis lokale Institutionen oder Organisationen die Aufgaben übernehmen konnten. Da dies in Frankreich recht schnell der Fall war, bekamen die britischen Teams im Winter 1944/45 vor allem Aufgaben in Belgien und den Niederlanden zugewiesen. Hier galt – wie zuvor in Frankreich – das Hauptaugenmerk dem Schutz und der Versorgung der Bevölkerung und der Displaced Persons, deren Zahl in den befreiten Gebieten Westeuropas bis zum 1. Februar 1945 auf 247.000 anstieg.13 Hinter den kämpfenden Linien richteten Friends Ambulance Units Transitlager ein, in denen die Flüchtlinge registriert, medizinisch versorgt, verköstigt, untergebracht und nach Möglichkeit innerhalb von 24 Stunden in ein sicheres Gebiet weitergeleitet wurden.14 Andere Einheiten der Friends Ambulance bezogen Stellung in größeren Städten wie Antwerpen und beteiligten sich am Zivilschutz, indem sie erste Hilfe während der anhaltenden deutschen Bomben- und Raketenangriffe leisteten.15 Anfang 1945 rückten Relief Teams weiterer britischer Organisationen nach Belgien und in die Niederlande nach, darunter ein Quäker-Team, das später in Bergen-Belsen eingesetzt wurde, sowie drei Einheiten der Salvation Army, die sich zeitweilig in Rotterdam, Den Haag und Amsterdam um Opfer der Hungersnot kümmerten, ehe sie, verstärkt durch zwei weitere Einheiten aus Großbritannien, in die britische Besatzungszone Deutschlands weiterzogen.16 Im April 1945 kam schließlich die erste Jewish Relief Unit im nördlichen Europa in Rotterdam und Amsterdam zum Einsatz, wo sie sich um etwa 25.000 überwiegend staatenlose Juden kümmerte. Unter Leitung von Shalom Marcovich half die Gruppe beim Aufbau von Altenheimen, Jugendclubs und einem Sozialzentrum in Amsterdam.17

10 Beryl Oliver: The British Red Cross in action, London 1966; ebda., S. 450f.; Lyn Smith: Pacifists in action. The experience of the Friends Ambulance Unit in the Second World War, York 1998, S. 313. 11 WL, Henriques Archive, 3/8, W. D. Hogarth, secretary: Report on council’s work, 6. 7. 1945. 12 Red Cross & St. John. The official record of the humanitarian services of the war organisation of the British Red Cross Society and Order of St. John of Jerusalem, 1939–1947, compiled by P. G. Cambray and G. G. B. Briggs, London 1949, S. 501f. 13 Malcolm J. Proudfoot: European refugees 1939–52. A study in forced population movement, London 1956, S. 121. 14 PRO, FO 371 / 58452, Friends Ambulance Unit (FAU), Sixth annual report 1946. 15 Ebda. 16 Salvation Army International Heritage Centre, London (SA), Germany, War-Time / 2, G. R. Carpenter, adjutant, liaison officer: Germany today and the Salvation Army, 8. 4. 1947. 17 Bentwich, The found refuge, S. 138.

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Mit Überschreiten des Rheins Ende März 1944 wurde die Hilfe für Displaced Persons zur Hauptaufgabe der britischen Relief Teams.18 Gegen die Ausbreitung von Epidemien und Seuchen durch unkontrollierte Wanderungsbewegungen von Displaced Persons, deutschen Flüchtlingen und Evakuierten sollte der Rhein eine natürliche Barriere bilden. Bereits am 26. März, einen Tag nach Beginn der Offensive, überquerten Einheiten der Friends Ambulance den Fluss und halfen, im rechtsrheinischen Bislich ein DP-Centre einzurichten.19 In aller Eile folgten weitere Lager entlang des Rheins, der nun bis hinauf zur Ijssel zu einer „stop-line“20 bzw. einem „cordon sanitaire“ erklärt wurde. DPs, die in ihre westlich des Flusses gelegene Heimat zurückwollten, mussten in einem der Lager registriert, entlaust, medizinisch untersucht, versorgt und sicherheitsüberprüft werden.21 Auf dem Fluss patrouillierten Motorboote, um ein unerlaubtes Überqueren zu verhindern. Die Angst vor ansteckenden Krankheiten, insbesondere Typhus, paarte sich mit dem Bemühen, Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher an der Flucht zu hindern.22 Der Rhein stellte die erste Barriere dieser Art dar; später folgten der DortmundEms-Kanal, die Weser und schließlich die Elbe.23 Inwieweit dabei bereits die Furcht vor marodierenden Gruppen, die insbesondere gegenüber osteuropäischen DPs in der deutschen Bevölkerung herrschte, eine Rolle gespielt hat, muss dahingestellt bleiben. Saul Padover, Offizier in der Abteilung für psychologische Kriegsführung, gab sich kritisch: Die Deutschen klagten unablässig über die ‚Ostarbeiter‘, denen sie vorwarfen, sie würden Hühner stehlen, Wohnungen plündern und keinen Respekt vor der Herrenrasse haben. Besatzungsoffiziere ließen sich von diesen Klagen beeindrucken und ergriffen Partei für die Deutschen, gegen die halbverhungerten Sklaven. Bis in das Alliierte Hauptquartier sprach sich herum, die befreiten Zwangsarbeiter würden randalierend und plündernd durchs Land ziehen, so dass man richtig den Eindruck gewinnen konnte, als würde Deutschland von einer modernen Landknechtsplage heimgesucht. Radio Luxemburg und die BBC gingen auch tatsächlich in diese Falle und richteten drohende Appelle an die ausländischen Arbeiter, vor allem Polen und Russen, ihr Tun zu unterlassen. Das war der krönende Schlussakkord der deutschen Propaganda, ihr allerletzter Coup, und Goebbels, der zu dieser Zeit noch lebte, dürfte sich ins Fäustchen gelacht haben.24 18 Clifford Bannard: Two weeks in May 1945. Sandbostel concentration camp and the Friends Ambulance Unit, London 1999, S. 16. 19 Richard Wainwright: Relief work in displaced persons camps, in: Over to You 2 (Aug. 1945), S. 17. 20 PRO, FO 371 / 45868, General A. E. Grasett, SHAEF, G-5 Division, an Major Sir Desmond Morton, 10 Downing Street, 11. 4. 1945. 21 A. Tegla Davies: Friends Ambulance Unit. The story of the F.A.U. in the Second World War 1939–1946, London 1947, S. 431. 22 The Rhineland to-day. II – “displaced persons”, in: The Manchester Guardian (02. 05. 1945). Siehe auch: Peril of epidemics in Germany. Big problem for Allies, in: ebda. (17.04.1945). 23 F.S.V. Donnison: Civil affairs and military government. North-west Europe 1944–1946, London 1961, S. 347. 24 Saul K. Padover: Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45, München 2001, S. 283.

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Padover bestreitet keineswegs Diebstähle durch Displaced Persons, stellt ihnen aber die zeitgleichen Plünderungen durch amerikanische Soldaten und Deutsche selbst gegenüber: Die Amerikaner stehlen Schnaps und tragbare Souvenirs wie etwa Waffen, Fotoapparate, Ferngläser, Schmuck, Silber usw. Die Deutschen stehlen alles, was sie finden, weil es in den Geschäften nichts zu kaufen gibt. Die ausländischen Arbeiter beschränken sich auf Nahrungsmittel und Kleidungsstücke, auf das, was sie zum Leben brauchen, gelten aber als die wahren Übeltäter.25

Über Plünderungen von deutschen Zivilisten berichtete auch Feldmarschall Montgomery in seinen Memoiren. Im Mai 1945 hätten die britischen Truppen vor unvorstellbaren Problemen gestanden: 1,5 Millionen deutsche Kriegsgefangene mussten versorgt werden, ebenso eine Million deutsche Verwundete – bei knappem Verbandsmaterial und Betäubungsmitteln. Es habe eine Million deutsche Flüchtlinge vor der Roten Armee gegeben, die ebenso wie die Displaced Persons plündernd durchs Land zögen. Alle Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten hätten aufgehört zu existieren, Lebensmittel seien rar und die Gefahr von Hungersnot und Seuchen sei groß gewesen. „I was a soldier and I had not been trained to handle anything of this nature. However, something had to be done, and done quickly.“26

Bergen-Belsen Rasches Handeln war insbesondere geboten, um den Überlebenden der Konzentrationslager, darunter auch das von der britischen Armee befreite Bergen-Belsen, erste Hilfe zu leisten.27 Jedoch besaß das britische Militär weder am 12. April 1945, als die Verhandlungen zur Übergabe des Lagers begannen, noch am 15. April, als die ersten britischen Soldaten Bergen-Belsen betraten, genauere Kenntnisse über das Lager, noch waren irgendwelche Vorkehrungen zur Versorgung der Überlebenden getroffen. „I had tried to visualize the interior of a concentration camp, but had not imagined it like this”, zitiert der Historiker Bernard Wasserstein einen britischen Offizier. Armee und Relief Teams waren auf vieles gründlich vorbereitet, jedoch nicht darauf, 60.000 sterbende, hungernde, entkräftete, kranke, vom Typhus infizierte bzw. 25 Ebda. 26 Bernard Law Montgomery: The memoirs of Field-Marshal the Viscount Montgomery of Alamein, London 1958, S. 345. 27 Siehe hierzu auch Johannes-Dieter Steinert: British NGOs in Belsen concentration camp. Emergency relief and the perception of survivors, in: ders., Inge Weber-Newth (Hg.): Beyond camps and forced labour. Current international research on survivors of Nazi persecution. Proceedings of the first international multidisciplinary conference at the Imperial War Museum, London, 29–31 January 2003, Osnabrück 2005, S. 44–57; ders.: British relief teams in Belsen concentration camp. Emergency relief and the perception of survivors, in: Suzanne Bardgett, David Cesarani (Hg.): Belsen 1945. New historical perspectives, London 2006, S. 62–78.

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bedrohte Menschen ohne auch nur annähernd genügend Nahrungsmittel, Wasser, Strom, Bekleidung, Schuhe, sanitäre Einrichtungen und medizinische Versorgung in überfüllten Baracken und umgeben von Tausenden von Leichen zu finden. Die ersten Tage nach der Befreiung waren geprägt von Improvisation und dem Versuch, einen Überblick über die Situation zu bekommen und die weiteren Hilfsmaßnahmen zu planen.28 Dabei galt es, zwei Ziele gleichzeitig zu verfolgen: Den 60.000 Menschen musste so schnell wie möglich geholfen werden, daneben musste aber auch unter allen Umständen eine weitere Ausbreitung des Typhus verhindert werden. Zunächst war das 63rd Anti-Tank Regiment weitgehend auf sich allein gestellt, unterstützt lediglich von der 76th Field Hygiene Section, die sogleich damit begonnen hatte, sich um die sanitären Einrichtungen zu kümmern.29 Am 17. April 1945 war jedoch die Zeit des Wartens, der ersten Bestandsaufnahmen und Planungen vorbei, und manche der Gefangenen sahen an diesem Tag endlich ihre Befreier, als das 224th Military Government Detachment einrückte, um die vollständige Kontrolle im ehemaligen Konzentrationslager sowie im Kasernenbereich zu übernehmen, gefolgt von der 11th Field Ambulance, der 32nd Casualty Clearing Station, der 30th Field Hygiene Section und dem 7th Mobile Bacteriological Laboratory. Weitere militärische Einheiten erreichten das Lager in den nächsten Tagen und Wochen, u.a. am 28. April das dringend benötigte 9th British General Hospital und die 163rd Field Ambulance.30 Hinzu kamen fünf Teams des British Red Cross sowie ein Team des Friends Relief Service, die knapp eine Woche nach der Befreiung das Lager erreichten. Ferner eine Typhus-Kommission der amerikanischen Armee,31 eine Gruppe von knapp 100 britischen Medizinstudenten, die eigentlich in den niederländischen Hungergebieten Hilfe hätten leisten sollen und einen Monat blieben, ehe sie von 150 belgischen Studenten abgelöst wurden,32 eine Gruppe von sechs Ärzten und zwölf Krankenschwestern aus der Schweiz, die ein Flugzeug der RAF dort abholte,33 sowie 29 vatikanische Schwestern aus Frankreich.34 Schließlich trafen Delegationen des Internationalen Roten Kreuzes und des Vatikan ein,35 ferner Spezialisten des britischen Gesund28 Einen Überblick hierzu bietet Ben Shephard: The medical relief effort at Belsen, in: Bardgett, Cesarani (Hg.): Belsen 1945, S. 31–50. 29 Donnison, Civil affairs, S. 219. 30 Ebda., S. 221. Eine vollständige Liste der beteiligten militärischen Einheiten sowie Angaben über Volunteer Organisations findet sich in: The relief of Belsen, April 1945. Eyewitness accounts, hg. v. Imperial War Museum, London 1991, S. 31. 31 Relief of Belsen, S. 31. 32 Hagit Lavsky: The day after. Bergen-Belsen from concentration camp to the centre of the Jewish survivors in Germany, in: German History 11.1 (1993), S. 36–59, hier 44. 33 Einem Telegramm der Kriegsberichterstatterin Mea Allan (Daily Herald) folgend, wurde die Aktion vom Internationalen Roten Kreuz organisiert. Nach Absprache mit deutschen Stellen war das Flugzeug besonders gekennzeichnet. Imperial War Museum, London (IWM), 95/8/7 (Miss M E Allan), Mea Allan and William Towler, Daily Herald, 2. 5. 1945. 34 Ben Shephard: After daybreak. The liberation of Belsen, 1945, London 2005, S. 115. 35 Lavsky, The day after, S. 44.

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heitsministeriums, des Medical Research Councils, der UNRRA, der US Typhus Commission, des amerikanischen Rockefeller-Instituts sowie ein Kinderpsychologe.36 Die sechs britischen Relief Teams waren für die Arbeit in einem ehemaligen Konzentrationslager weder besonders ausgerüstet noch ausgebildet. Es handelte sich vielmehr um Einheiten, die bereits zuvor auf dem Kontinent im Einsatz waren.37 Jedes Team bestand aus zwölf Mitgliedern, die für unterschiedliche Aufgaben und Anforderungen qualifiziert waren, darunter vier ausgebildete Krankenschwestern und einige Hilfsschwestern. Bei den übrigen handelte es sich um Fahrer, Köche, Quartiermeister, Schreibkräfte und Sozialarbeiter.38 Die Mitglieder der Teams erhielten ihre Aufgaben vom Militär zugewiesen. Nur die wenigsten wurden in Bereichen eingesetzt, in denen sie durch Ausbildung und Beruf qualifiziert waren. Entscheidend war vielmehr zunächst das Geschlecht, wobei Frauen das ehemalige Konzentrationslager nur mit besonderer Erlaubnis betreten, dort aber nicht arbeiten durften. Sie wurden insbesondere im Hospital eingesetzt, während die männlichen Mitglieder in beiden Bereichen tätig waren. Zu den wenigen britischen Frauen, die das Konzentrationslager während der ersten Tage betreten durften, gehörten Molly Silva Jones und M. F. Beardwell, zwei ausgebildete Krankenschwestern, die von Colonel Johnston am Tag nach ihrer Ankunft mit ins Lager genommen wurden: As we were trained nurses he thought we could-stand seeing the horrors better than those people who had had no hospital experience. So, on this never-to-be-forgotten day, he took us in his car up; to the camp. The smell was terrible – the sickly smell of death mingled with the stench of excreta and burning boots, shoes, and rags of clothing. […] The few brokendown arid derelict looking wooden huts were full of people – the dead lying on the living and the living on the dead; corpses were hanging out of the windows – heaps of dead thrown in grotesque masses – skeleton arms intertwined with skeleton legs and great vacant eyes staring up through the morass of sprawling dead. The majority of the living inmates looked more like animals than human beings. They were clad in filthy rags – and were crawling and grovelling in the earth for bits of food. They took no notice of us or any one – they vomited and stooled where they stood or sat – lavatories just did not exist – large square holes about ten feet square had been dug with a crude pole around, but most of the inmates were beyond getting to that pole.39 36 PRO, FO 371 / 51185, Extract from weekly report No 30, SHAEF G-5 Division,Displaced persons branch (analysis section), 30. 4. 1945; PRO, FO 371 / 51347, Report on UNRRA activities in May 1945, 12. 6. 1945, House of Commons, 2. 5. 1945. Vgl. Joanne Reilly: The liberation of a concentration camp, London / New York 1998, S. 40. 37 Friends Library, London (FL), FRS/1992/Box 8, Friends Relief Service, Digest of overseas reports No. 3, Week ending 5. 5. 1945. 38 IWM, 99/86/1 (Miss J McFarlane), Talk given to CDA. Vgl. M.C. Carey: Progress at Belsen camp, in: British Red Cross Quarterly Review 7 (1945), S. 103. 39 M. F. Beardwell: Aftermath, Ilfracombe 1945, S. 40.

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Über das Leben der Relief Worker in diesen ersten Tagen und Wochen gibt es kaum Informationen, die über kurze Situations- und Aufgabenbeschreibungen hinausgehen. Die Teams wurden auseinandergerissen, jedes Mitglied fand sich an einem anderen Platz, allein, zusammen mit Soldaten, Medizinstudenten, mithelfenden ehemaligen Gefangenen und zivilen Helfern anderer Einheiten. Die Arbeit begann um sieben Uhr, berichtete die Leiterin des FRS-Teams Lilian Impey am 25. April 1945, und sie dauerte bis 20 oder 21 Uhr. Die Männer ihrer Gruppe arbeiteten im ehemaligen Konzentrationslager. Bill Broughton und Bill Rankin halfen bei der Instandsetzung der Sanitäranlagen und der Wasserversorgung, Michael Hinton arbeitete in einer Erste-Hilfe-Station, Hugh Jenkins transportierte Lebensmittel und Mitarbeiter, und Eryl Williams half bei der Evakuierung der Patienten. Alle weiblichen Relief Worker arbeiteten im Hospitalbereich: Lilian Smith war verantwortlich für die Patienten in fünf Gebäuden, Jane Leverson für diejenigen in zwei anderen, Kit Broughton hatte eine Küche übernommen, Beth Clarkson eine Kantine, Joyce Parkinson machte Krankenschwesterndienst und Margery Ashbery kümmerte sich insbesondere um die Kinderabteilung.40 Der kurze Bericht gibt eine Momentaufnahme wieder, die Aufgaben wechselten ständig. Die konventionelle Rollenteilung geriet aus den Fugen: Männer beaufsichtigten die Zubereitung von Speisen in einer provisorischen Zeltküche, Frauen steuerten den ganzen Tag über schwere LKWs, um schmutzige Bettwäsche und Kleidung einzusammeln und zur Reinigung zu fahren. Daneben wurden bereits vorhandene Qualifikationen so weit wie möglich ausgeschöpft. Eine Mitarbeiterin, die im Zivilleben in der Diätküche eines Krankenhauses gearbeitet hatte, erhielt nun zeitweilig die Oberaufsicht über alle Hospitalküchen, über Köche vom Roten Kreuz ebenso wie über ungarische, russische oder polnische Helferinnen. Die wenigen ausgebildeten Krankenschwestern beaufsichtigten die Gruppe der freiwilligen, aber vollkommen unausgebildeten Helferinnen.41 Während ihrer Arbeit kamen vor allem die Frauen den Überlebenden von Bergen-Belsen sehr nahe. „We could do little for them physically, but they needed a feeling of security far more than anything else“, fasste Murial Blackman (BRC) ihre Erfahrungen zusammen.42 In den erhaltenen Briefen und Berichten mischen sich Abscheu gegenüber den deutschen Verbrechen mit dem unbedingten Willen zu helfen. Jane Leverson war die erste jüdische Helferin, die unmittelbar nach der Befreiung als Angehörige des Quäker-Teams in Bergen-Belsen tätig war. In ihrem Bericht vom 5. Mai pries sie den Geist der britischen Helfer, warnte jedoch vor einem möglichen Umschwung: In the early days of the liberation of the camp, the British workers were amazed at the horrors which they saw, and could not do enough to help the internees; they lived on halfrations for a fortnight, to feed the camp. They gave enormous presents of cigarettes and sweets. English sergeants blew the noses of invalid children, and ‘potted’ them. No job was 40 FL, FRS/1992/Box 8, Friends Relief Service, Digest of overseas reports No. 3, Week ending 5. 5. 1945. 41 Carey, Progress at Belsen camp, S. 103. 42 IWM, 01/19/1 (Miss M J Blackman), In retrospect.

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too much, no hours were too long. The situation was more stimulating than the worst of London’s blitzes. However, many of the British workers are tired now; as the internees gain strength, and as it dawns upon them that ‘liberation’ will not prevent them from catching typhus, nor give them immediate happiness and freedom, they become more difficult and less grateful, and this re-acts most unfavourable on the British workers. So far I have not heard anti-Semitic remarks on this account … I await them, however …43

In diesen Bemerkungen spiegelt sich das Dilemma der britischen Hilfe in Bergen-Belsen wie auch allgemein der Alliierten bei der Befreiung der Konzentrationslager wider. Es mangelte nicht nur an vorausschauender materieller Planung, sondern es zeigte sich auch, dass die psychologische Schulung der Mitarbeiter offenbar unzureichend war. „We must have a knowledge of the work that we are going to do“, hatte Lady Falmouth im Januar 1943 an die Teilnehmer eines Ausbildungskurses appelliert. Ansonsten würde man mehr Schaden anrichten als Gutes tun.44 Nur wenig später waren die Teilnehmer einer Schulungskonferenz des Jewish Committee for Relief Abroad über das mögliche Verhalten von Menschen mit traumatischen Erfahrungen unterrichtet worden.45 Es mangelte mithin nicht an einschlägigem Wissen; das Problem lag in seiner Vermittlung. Angesichts unzureichender psychologischer Kenntnisse begegneten die Befreier dem Verhalten der Befreiten oftmals mit Unverständnis und Fassungslosigkeit und interpretierten es nicht selten als Undank. Hinzu kamen sprachliche Verständigungsschwierigkeiten, obgleich auch dieses Problem vorher erkannt worden war. Jane Leverson hatte in einem ihrer ersten Briefe aus Bergen-Belsen das Verhalten der Befreiten überaus positiv geschildert – „we can do practically nothing, but they are so glad to have us here“ – und darum gebeten, ihr 20.000 Davidsterne und Mesusoth (Schriftkapseln) aus London zu schicken: A large number of them are Jews, and you can’t imagine how thrilled they are (nurses and patients) at seeing my ‘Magan David’, they can hardly believe that I am a Jewess from London. I feel horribly inadequate, but they don’t seem to mind at all that I can’t speak Yiddish! When they ask me, I just say “Nein, ich bin Meshugener” and they love it.46

Wenig später mischten sich jedoch bereits Unverständnis und Kritik in ihre Beobachtungen: „Everyone steals some things; some steal everything. It makes life a little bit difficult.“ Es erschiene ihr so, als erwachten die Menschen aus einem bösen Traum und erinnerten sich nun an ihr früheres Leben: 43 WL, Henriques Archive, 3/13, Jane Leverson: Bergen-Belsen concentration camp, 6. 5. 1945. 44 Viscountess Falmouth: Discussion and closing speech, in: Training course of pre-armistice civilian relief overseas.  Report of lecturs.  January 1943, hg. v. War Organisation of the British Red Cross Society and Order of St. John of Jerusalem, London 1943, S.  93–101, hier 94; Germany and the European family, in: The Friend (31. 05. 1946), S. 427–428. 45 WL, Henriques Archive, 3/5, Executive committee for European relief, Conference on volunteers, 2. 5. 1943. 46 WL, Henriques Archive, 3/13, Jane Leverson: Bergen-Belsen, undat. [April 1945].

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They are very often not grateful for that which is done for them. They are extremely fussy about the clothes with which they are issued. They grumble about their food; they complain if they are asked to eat their meat and vegetable course from their soup plates. They will not take ‘no’ for an answer, and will beg in an irritatingly ‘whiney’ voice, for preferential treatment; they will bribe one in a most pathetic way. […] If they are like this now, so soon after liberation, one wonders how they will re-act when once again they are really free.

Unter den Befreiten gebe es viele, so Jane Leverson weiter, die alles und jedes an den Briten kritisieren, jedoch nur selten etwas loben würden, obgleich sie doch „a remarkable amount of order into this area of chaos“ gebracht hätten.47 Die von Jane Leverson skizzierte Beobachtung war kein Einzelfall. Deutlich sind Unmut und Unverständnis zu spüren, wenn sich die Befreiten nicht so verhielten, wie von den Befreiern erwünscht oder erwartet. Jahrelang hatten viele unter den extremsten Bedingungen überlebt, sich Verhaltensweisen und Überlebensstrategien angeeignet, die sich nun nicht in wenigen Tagen abschütteln und aufgeben ließen. Primo Levi hielt dies in einem schlichten Satz fest: „Aber es dauerte noch viele Monate, bis ich die Gewohnheit verlor, den Blick beim Gehen stets auf den Boden zu heften, als sei ich immer auf der Suche nach Essbarem oder nach Dingen, die sich schnell einstecken und gegen Brot eintauschen ließen.“48 Vor der Befreiung hatte Brot Überleben bedeutet. Patienten, die in ihren Betten lagen, machten sich deshalb noch Wochen später lautstark bemerkbar, wenn das Essen verteilt wurde: „When they began to carry round the bowls of soup a horrible animal-like clamour broke out“, berichtete ein Journalist der „Times“. „Skinny arms were held out, blankets fell back, and naked, scarecrow figures flung themselves forward in their beds. They were not really hungry, but craved for food.” 49 Diejenigen, die ihr Essen nicht im Bett einnehmen mussten, weigerten sich vielfach, es in den Speisesälen zu tun. Sie zogen es vor, die Mahlzeit auf ihr Zimmer zu tragen, um dort einen Teil zu essen und den Rest zu verstecken. Zum Unverständnis und Ärger mancher Helfer verdarben so Nahrungsmittel unter Matratzen und Kissen oder in Spinden: „Camp commanders and care workers fought a hopeless battle to stop this practice and to persuade their charges that food was no longer in short supply and that keeping it in bedrooms constituted a health hazard.“50 Vergleiche mit ‚tierischem‘ oder ‚unmenschlichem‘ Verhalten sind häufig anzutreffen: Kinder attackierten das Essen „wie die Wölfe“,51 „Kranke gewannen übermenschliche Kräfte zurück, sobald das Essen erschien“, die Befreiten „erinnerten kaum noch an Menschen“,52 47 48 49 50 51 52

WL, Henriques Archive, 3/13, Jane Leverson: Bergen-Belsen concentration camp, 6. 5. 1945. Primo Levi: Die Atempause, München 1994, S. 245. Red Cross in Belsen. Battle against death, in: The Times (16. 5. 1945). Eva Kolinsky: After the Holocaust. Jewish survivors in Germany after 1945, London 2004, S. 123. Mark Wyman: DPS. Europe’s displaced persons, 1945–1951, Ithaca / London 1989, S. 96f. Bericht von Myrtle Beardwell-Wielzynska über die Arbeit als Krankenschwester im befreiten KZ Bergen-Belsen, in: Rolf Keller (Hg.): Konzentrationslager Bergen-Belsen. Berichte und Dokumente, Göttingen 1995 (BergenBelsen Schriften, 1), S.202.

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„were abnormal mentally“.53„The internees of Camp I had been reduced by starvation and the lack of facilities for normal human life, to the state of animals“, vermerkte ein Militärbericht: „Their minds were completely dulled and their first reaction to the arrival of British troops was one of apathy.”54 Vereinzelt finden sich auch Hinweise auf noch extremere Verhaltensweisen. Diese wurden bereits im Juni 1945 auf einer medizinischen Tagung in London vorgestellt: Loss of normal moral standards and sense of responsibility for the welfare of others was widespread; in severe cases interest in others did not extend beyond child or parent; eventually the instinct to survive alone remained even to the extent of eating human flesh. These psychological changes were proportional to the degree of starvation.55

Ähnlich wie beim Essen, gab es auch bei der Kleidung ein Nachholbedürfnis, was ebenfalls nicht verwundern kann, wurden doch etliche Gefangene nackt vorgefunden, andere mit dürftiger Kleidung, die kaum gegen die Witterung schützte. In den ersten Wochen mussten die Lagerbewohner beim Verlassen der Kleiderkammer – ‚Harrods‘ genannt – kontrolliert werden, damit diese nicht zu viel mitnahmen, doch nur wenig später wurde es bereits schwierig, sie aus den Kleiderbeständen zufriedenzustellen.56 Äußerst begehrt war ein Kontingent von Lippenstiften, das kurz nach den Relief Teams in Bergen-Belsen eintraf. „I believe nothing did more for those internees than the lipstick“, notierte ein Beobachter. Women lay in bed with no sheets and no nightie but with scarlet lips, you saw them wandering about with nothing but a blanket over their shoulders, but with scarlet lips. […] At least someone had done something to make them individuals again; they were someone, no longer merely the number tattooed on the arm. At least they could take an interest in their appearance. That lipstick started to give them back their humanity.57

Auffallend war das Verhalten mancher Patienten, die trotz Krankheit ständig in Bewegung blieben, obwohl sie das Bett hüten sollten, hatten sie doch in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass Bettlägerige bald in die Gaskammern befördert werden würden.58 Aus schierer Todesangst wurde noch Monate später jede Behandlung durch deutsche Ärzte abgelehnt, wo­ raufhin sich das Jewish Committee for Relief Abroad entschloss, ein mobiles medizinisches Team in 53 IWM, 85/38/1 (Lieutenant Colonel M W Gonin), The R.A.M.C. at Belsen concentration camp. 54 IWM, Misc 104 (1650), Belsen. Report by HQ 10 garrison on period 18–30 April 1945. 55 F.M. Lipscomb: German concentration camps. Diseases encountered at Belsen, in: Sir Henry Letheby (Hg.): Interallied conferences on war medicine, 1942–1945, London 1947, S. 462–465, hier 464. 56 Beardwell, Aftermath, S. 54f. 57 IWM, 85/38/1 (Lieutenant Colonel M W Gonin), The R.A.M.C. at Belsen concentration camp. 58 Brenda McBryde: A nurse’s war, Saffron Walden 1993, S. 168.

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verschiedene Städte zu schicken.59 Schlafanzüge aus den Beständen des britischen Roten Kreuzes wurden zurückgewiesen, weil die ehemaligen Gefangenen dahinter nur ein Täuschungsmanöver der Deutschen sahen, sie durch das Rot-Kreuz-Emblem zu beruhigen und dann doch in die Gaskammern zu schicken.60 Aus dem gleichen Grunde weigerten sich Patienten, einen Rot-Kreuz-Krankenwagen zu besteigen, der sie zu einem Schiff nach Schweden bringen sollte.61 Die Beispiele ließen sich fortführen. Sie waren Ausdruck und Folge deutscher Verbrechen, erlebter Todesangst und anderer extremer Erfahrungen. Darauf vorbereitet war kaum einer unter den militärischen oder zivilen Helfern. „Psychological warfare teams could have made a big difference“, hielt selbstkritisch ein Militärbericht fest: „Unfortunately only one team was available and that had to be withdrawn for operational reasons at the time that the evacuation from Camp I started.“62 Das Militär, so Michael Marrus, habe die Befreiten auf Abstand gehalten, ihre Bedürfnisse verübelt und ihre Verwünschungen missverstanden.63 Kritik an den britischen Soldaten, wie sie bereits von Jane Leverson bemerkt worden war, konnte leicht in Aggressivität umschlagen, was in weiterer Folge dazu führte, dass die Befreiten als lästig empfunden wurden. „You must realize that we and our liberators saw the camp with different eyes”, schrieb Anita Lasker-Walfisch später. We had lived surrounded by filth and death for so long that we scarcely noticed it. The mountains of corpses in their varying degrees of decay were part of the landscape and we had even got used to the dreadful stench. It would be wrong to assume that everything was instantly transformed the moment the first tank entered Belsen. What the British Army found was far removed from anything it had ever had to deal with, even in wartime.64

Das Spannungsverhältnis zwischen Befreiern und Befreiten dauerte an. Überlebende wie Josef Rosensaft beklagten, dass die Befreier sie während des ersten Monats nur als mitleidserregende Objekte betrachtet hätten. Stets habe dabei die Frage nach der Notwendigkeit von Psychiatern mitgeschwungen, einige seien auch ungefragt gekommen. They had forgotten that we were not brought up in Belsen, Auschwitz and other concentration camps, but had, once upon a time home and a background and motherly love and kindness; that before the calamity we, too, had our schools and universities and Yeshivot.65 59 60 61 62 63 64

Work of the Jewish Relief Unit, in: The British Zone Review (29.03.1947), S. 17. McBryde, A nurse’s war, S. 92. Wyman, DPs, S. 133. IWM, Misc 104 (1650), Belsen. Report by HQ 10 garrison on period 18–30 April 1945. Michael R. Marrus: The unwanted. European refugees in the twentieth century, New York / Oxford 1985, S. 308. Anita Lasker-Wallfisch: Inherit the truth, 1939–1945. The documented experiences of a survivor of Auschwitz and Belsen, London 1996, S. 96. 65 Josef Rosensaft: Our Belsen, in: Belsen, hg. v. Irgun Sheerit Hapleita Me’haezor Habriti, Tel Aviv / London 1957, S. 24–51, hier 25 f.

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Josef Rosensaft problematisierte damit die Frage nach der Menschenwürde und einem selbst bestimmten Leben auch unter den erbarmungswürdigsten Bedingungen. Nur wenige waren in der Lage, mentale Unterstützung und psychologische Hilfe zu geben, und wenn, dann waren es meist die weiblichen Relief Worker.66 Helen Bamber gehörte dazu; sie berichtete davon, dass viele „alles erzählen“ wollten, und zwar immer wieder: Und für mich war das Wichtigste zu merken, dass man alles anhören musste. Meist wollten sie sich an dir festhalten, und viele hatten noch sehr dürre Arme, besonders jene, die aus dem Osten kamen oder sich von dort wieder nach Belsen zurückgeschleppt hatten; Hände fast wie Klauen, die dich krallten, und wichtig war, dass du sie festhieltst. Oft musstest du sie wiegen, und dann gab es so eine schaukelnde Wellenbewegung, wenn man zusammen am Boden saß – andere Sitzgelegenheiten gab es kaum. Du drücktest sie also, und sie erzählten dir ihre Geschichte, manchmal in Jiddisch. Ich hatte zwar einiges gelernt, aber es war, als ob man eigentlich gar keine Sprache brauchte. Doch mir ging erst nach langer Zeit auf, dass man wirklich nichts weiter tun konnte, als ihnen beizustehen, zuzuhören und das Ganze aufzunehmen, als wäre es ein Stück von einem selbst; mit diesem Aufnehmen und Bekunden, dass man für sie da war, tat man etwas Nützliches.  Damals wurde noch kaum geweint, erst viel später begannen sie wirklich zu trauern; einige waren weit jenseits davon und würden vielleicht nie wieder weinen können; es ging weniger um das Trauern als darum, gewissermaßen das Grauen zu erbrechen, und dann entäußerte es sich in alle Richtungen.67

Eva Kahn-Minden bekam von einer Überlebenden eine Locke geschenkt, die sich „endlich die schlimmsten Qualen ihres Lebens von der Seele reden konnte“. Senta Hirtz schrieb über Menschen, „die nicht nur nach Nahrung hungern, sondern auch nach Liebe, nach Leben“.68 Andere jedoch vermieden aus guter Absicht jede bewusste Annäherung an die Vergangenheit. „It is difficult to say“, so Ruth Abrahams in ihrem 1945 erschienenen Aufsatz „Children of Belsen“, how far these children will be permanently affected by their experiences in the concentration camps. We obviously did not discuss horrors with them and all our efforts were concentrated on driving out of their minds the memories of these terrible things.  They certainly look happy, are not shy or nervous when you speak to them and one can only hope that kind treatment, good food and decent living conditions may have succeeded in clearing these terrors from their thoughts.69 66 67 68 69

Neil Belton: Die Ohrenzeugin. Helen Bamber. Ein Leben gegen die Gewalt, Frankfurt a.M. 2000, S. 119f. Ebda., S. 118. Ebda., S. 119f. Ruth Abrahams: Children of Belsen, in: The World’s Children 11 (Nov. 1945), S. 175–176.

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Ruth Abrahams kam damit der später von Ruth Klüger spöttisch als „Wiener Wald- und Wiesenpsychoanalyse” bezeichneten zeitgenössischen Auffassung sehr nahe, die davon ausging, dass die Konzentrationslager für alle „keine bleibende Bedeutung“ gehabt hätten, die älter als sechs Jahre gewesen seien.70 An die lebenslangen Folgen der traumatischen Erfahrungen dachten 1945 nur wenige. Rabbiner Isaac Levy, britischer Militärgeistlicher in Bergen-Belsen, gehörte dazu. Er war sich sicher, „that 90 % of those who survive will never be normal“.71 Ähnlich äußerte sich ein Psychiater der britischen Armee, Major R. J. Phillips, der Bergen-Belsen drei kurze Besuche abstattete. Während er in seinem ersten Bericht vom 20. April die Befürchtungen mit Rabbiner Levy teilte, vermerkte er hingegen am 10. Mai bereits „a general feeling of relief and happiness“, am 30. Mai sogar „that these people, although still physically weak and therefore apparently apathetic, were now of good morale and would in time make good recovery – but how perfect this would be depended on their own basic personalities, intellect and upbringing“.72 Während der ersten Wochen nach der Befreiung konzentrierten sich die Bemühungen darauf, Hilfe zu leisten, wohl wissend, dass eine Rehabilitation noch folgen müsse. Aber auch diese war mehr auf die materiellen Bedürfnisse ausgerichtet, als dass sie den seelischen Bedürfnissen Rechnung getragen hätte. Die Befreiten würden in dem Maße ein „normales Verhalten wiedererlangen“, wie ihre körperliche Genesung fortschritt, versicherte Colonel F. M. Lipscomb, der als Medical Adviser to Senior Medical Officer zeitweilig zur 32nd Casualty Clearing Station abkommandiert war, „leaving only a feeling akin to that of having had a bad dream“.73

Die Displaced Persons Das Bild, das die zeitgenössischen Beobachter in ihren Berichten, Briefen und Memoiren von den Displaced Persons vermittelten, schwankte zwischen den Extremen von plündernden, stehlenden und mordenden Banden einerseits sowie gedrückter Moral und apathischem Verhalten andererseits. Wolfgang Jacobmeyers Untersuchung zur Bremer Kriminalstatistik unterstützt die Position derjenigen, die vor einer Überschätzung der DP-Kriminalität warnen.74 Neben mentalen Prädispositionen und der geographischen Begrenztheit des jeweiligen Erfahrungshorizonts spielten die individuellen Erwartungen auf beiden Seiten eine wesentliche Rolle. „Die Fremdarbeiter sahen sich umgeben von Menschen, die immer noch in verhältnismäßig bequemen Verhältnissen lebten, während sie selbst nach wie vor recht dürftig untergebracht 70 71 72 73 74

Ruth Klüger: Weiter leben. Eine Jugend, München 102001, S. 240. Isaac Levy: Witness to evil. Bergen-Belsen 1945, London 1995, S. 13. Zit. nach Shephard, After daybreak, S. 136. Lipscomb, German concentration camps, S. 464. Wolfgang Jacobmeyer: Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985, S. 49.

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waren“, notierte Margaret McNeill (FRS) 1949: „Viele der D.P.s merkten zu ihrem schmerzlichen Erstaunen, dass die Quäker nicht bereit waren, von den Deutschen in großem Stil all das zu beschlagnahmen, was die D.P.s so nötig brauchten.“75 In den Quellen findet sich häufig ein vergleichender Bezug zur deutschen Bevölkerung, der es den Angehörigen der Hilfsorganisationen offenbar erleichterte, das Bild von den Displaced Persons zu skizzieren. Margaret Wyndham, die in einem Team des britischen Roten Kreuzes in Bergen-Belsen arbeitete, schrieb am 15. Mai 1945 an ihre Mutter in England, dass sie den örtlichen Bürgermeister aufgesucht habe, um zwei weibliche deutsche Arbeitskräfte anzufordern, die sich um die Räume und die Wäsche der Hilfsteams kümmern sollten. Die beiden wollten aber mehr leisten: They also tell us that they will prevent the Russians from pinching our things. Altogether this is such an amazing place that I have forgotten who are allies and who are enemies. The Russians are the terror of the countryside and the sooner they are sent home the better for everybody!76

Nur einen Monat nach der Befreiung von Bergen-Belsen hatte sich das Bild der britischen Helfer von den Befreiten bereits differenziert. Zumindest die ‚russischen‘ (nicht-jüdischen) Displaced Persons wurden in einer äußerst negativen Weise beschrieben. Ob diese Wertung auf eigenen Erfahrungen beruhte, ist ungewiss. Bemerkenswert ist ferner der Hinweis, dass die deutschen Gesprächspartner angeboten hätten, das Eigentum der Relief Worker vor den Displaced Persons zu schützen, womit eine Gemeinsamkeit von Deutschen und Briten gegen die DPs konstruiert wurde. Jane Leverson, die in einem Quäker-Team in Bergen-Belsen arbeitete, berichtete davon, dass „self-righteous Germans“ in die Büros der Militärdienststellen strömten, um sich über plündernde „Russen“ zu beschweren.77 Ähnliche Aussagen finden sich bei Julius Posener, der von einer „halb ehrlichen, halb übertreibenden Propaganda“ der Deutschen gegenüber „den Russen“ berichtete.78 In diesem Kontext entsprechen die Aussagen einem Muster, nach dem Deutsche über Ausschreitungen berichteten und Schutz zugesichert bekamen. Daneben bildete die tatsächliche oder vermeintliche Bedrohung durch die Displaced Persons eine Brücke zwischen der deutschen Bevölkerung und den Besatzungstruppen. Vor dieser Entwicklung hatte das Foreign Office frühzeitig gewarnt.79 William Strang folgend, gab es einen Unterschied 75 Margaret McNeill: Hilfe für Ausländer (D.P.s), in: Kelber, Quäkerhilfswerk, S. 85–106, hier 89. 76 British Red Cross (BRC), Acc 96/29, Belsen letters, Letters sent from Miss Margaret Wyndham Ward M.B.E. to her mother Sarah Langlands Ward from 24 February 1945 – 14 August 1945, hier 15. 5. 1945. 77 FL, FRS/1992/Box 72, Jane E. Leverson an Roger, 6. 6. 1945. 78 Julius Posener: In Deutschland 1945 bis 1946. Kommentierte Ausg. mit einem Nachw. v. Alan Posener, Berlin 2001, S. 16. 79 Rainer Schulze: A difficult interlude. Relations between British Military Government and the German population and their effects for the constitution of a democratic society, in: Alan Bance (Hg.): The cultural legacy of the British occupation in Germany. The London Symposium, Stuttgart 1997, S. 67–109, hier 74.

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zwischen den Angehörigen der Militärregierung, die mit den Deutschen gegen die Displaced Persons sympathisierten, und den für die Lager direkt verantwortlichen „combatant soldiers“, deren Sympathien mehr aufseiten der DPs lagen.80 Solche Aussagen und Beobachtungen waren nicht auf die britische Zone beschränkt. Frank Stern berichtete davon, dass viele amerikanische Soldaten im Verlauf des Jahres 1945 die Gesellschaft guterzogener, bescheidener, gefügiger, netter, sauberer und ordentlicher Deutscher – und nicht nur die der Fräuleins – der Gesellschaft in ihren Augen heruntergekommener, schmutziger, depressiver DPs vorzogen.81

Zweifellos trug die bereits 1945 sichtbar werdende Rückkehrunwilligkeit vieler Displaced Persons dazu bei, ihr negatives Image zu verstärken, und – damit verbunden das Ansehen der deutschen Bevölkerung sukzessive zu verbessern. Aus dem Objekt alliierter Obhut wurde damit ein Problem, dessen Lösung angesichts des Auseinanderfallens der Anti-Hitler-Koalition und des beginnenden Kalten Krieges immer dringlicher erschien.82 „Unverständnis und Unmut“83 aufseiten der Befreier und Helfer erregten nicht-jüdische wie jüdische DPs gleichermaßen. Negativ wahrgenommen wurden insbesondere zionistische Bestrebungen, während jüdische DPs, die offen erklärten, nicht nach Palästina auswandern zu wollen, mit mehr Sympathie rechnen konnten.84 Eine positive Wendung erfuhr die Wahrnehmung der DPs erst wieder ab 1947, nachdem die politischen Entscheidungen zur Auswanderung in Drittstaaten gefallen waren und Großbritannien mit zu den ersten Ländern gehörte, die ihren Arbeitskräftebedarf mit staatlich angeworbenen Displaced Persons decken wollten. Jüdische DPs waren davon jedoch ausdrücklich ausgenommen.85

Die Deutschen Was auch immer die alliierten Planungsstäbe, Armeen und Relief Teams in Deutschland vorzufinden gedacht hatten, die Realität sah vielfach anders aus. Bereits Ende 1944, so F. S. V. Donnison, hätten sich Militärregierungsstellen überrascht über das Verhalten der 80 Lord William Strang: Home and abroad, London 1956, S. 233. 81 Frank Stern: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991, S. 93. 82 Marrus, The unwanted, S. 310f. 83 Angelika Königseder, Juliane Wetzel: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a.M. 1994, S. 29. 84 Beardwell, Aftermath, S. 47f. 85 Johannes-Dieter Steinert, Inge Weber-Newth (Hg.): Labour & Love. Deutsche in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg, Osnabrück 2000, S. 55.

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deutschen Zivilbevölkerung geäußert.86 Auf einen feindlichen Empfang und Untergrundaktivitäten waren die Alliierten vorbereitet,87 in den Kampfgebieten trafen sie jedoch meist nur erschöpfte, apathische und kriegsmüde Menschen an.88 Zu einer ähnlichen Einschätzung war Saul Padover im Oktober 1944 nach der Befragung von deutschen Zivilisten in Luxemburg gelangt: In Deutschland grassiert der Defätismus. Von einem ausgeprägten Durchhaltewillen wurde uns nicht berichtet. Die meisten Leute hoffen auf ein rasches Kriegsende. Sie sind bereit, eine alliierte Besatzung hinzunehmen, selbst um den Preis der Niederlage. Infolge der Gräueltaten, die die deutschen Armeen vor allem an Slawen und Juden verübt haben, existiert ein latentes, möglicherweise tief sitzendes Schuldbewusstsein. Viele Deutsche rechnen mit Vergeltungsmaßnahmen und hoffen nur, dass die Amerikaner mäßigend auf diejenigen einwirken, die Grund haben, auf eine Bestrafung der Deutschen zu dringen. Viele glauben, dass man sie zu Zwangsarbeit ins Ausland schicken wird, andere vermuten, dass junge Männer nach Sibirien transportiert werden. Was Heckenschützen und andere Formen bewaffneten Widerstands gegen ein alliiertes Besatzungsregime angeht, so wird diese Möglichkeit von zuverlässigen Informanten mit verächtlichen Kommentaren abgetan. Deutsche Zivilisten werden keinen Widerstand leisten.89

Saul Padovers Bericht enthielt einige Schlüsselbegriffe der Zeit: Niederlage, Besatzung‚ Schuld, Vergeltung und Strafe. Zu den ersten Eindrücken der Alliierten gehörten die ungeheuren Kriegszerstörungen und die Folgen des Bombenkrieges, die bei den Soldaten wachsendes Entsetzen ausgelöst haben sollen,90 sowie der im Gegensatz dazu gute physische Zustand der deutschen Bevölkerung: „People were well fed and well dressed. The cellars of the undestroyed houses were well stocked with food“, notierte ein Offizier der Salvation Army.91Ähnliche Aussagen finden sich in anderen Berichten und Zeitungsartikeln.92 Verglichen wurde dabei stets mit den Eindrücken aus England, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. 86 Donnison, Civil affairs, S. 207. 87 Bundesarchiv (BA), OMGUS, CAD 15/107–2/62, Office of Strategic Services, Research and analysis branch: The clandestine Nazi movement in post-war Germany, 13. 10. 1944. Vgl. Pauline Elkes: Wartime images of Germany and the genesis of British occupation policy. The reports of the political warfare executive, in: Bance (Hg.): The cultural legacy, S. 37–66, hier 60. 88 Donnison, Civil affairs, S. 207. 89 Padover, Lügendetektor, S. 17. 90 Jochen Bölsche: Luftkrieg über Europa, in: Als Feuer vom Himmel fiel. Der Bombenkrieg gegen die Deutschen. Spiegel Spezial, 2003, S. 6–20, hier 11. 91 SA, Germany, War-Time / 2, G. R. Carpenter, adjutant, liaison officer, Germany today and the Salvation Army, 8. 4. 1947. 92 Z.B. Food crisis in the Ruhr? When stocks run down, in: The Manchester Guardian (4. 5. 1945).

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Neben dem Aussehen der Deutschen erstaunte deren Benehmen. „After the delightful friendliness of the people in Holland it was a difficult experience to be among people who obviously resented bitterly one’s presence. Especially hard was it to get no friendly response from the children in those early days.“93Auch diese aus einem Bericht der Salvation Army entnommene Aussage stellt keinen Einzelfall dar. Andere Helfer machten ähnliche Erlebnisse mit deutschen Zivilisten. Pip Turner (FAU), die sich nach eigenem Bekunden nicht an das Fraternisierungsverbot gehalten hatte, musste feststellen, dass ihr „Guten Morgen“ meistens nicht beantwortet wurde. „They felt hostility to us“, lautete ihr Fazit.94 Evelyn Bark (BRC), die im April 1945 zwischen Bergen-Belsen, Belgien und den Niederlanden hin und her reiste, nahm hingegen eine Atmosphäre gegenseitiger Nichtbeachtung wahr: „People turned away from us – somehow we did not want to look at them and they did not want to look at us.“95 Korrespondierend dazu stand das wortlose Anstarren, das Helen Bamber beschrieb, sobald die Deutschen „den sechszackigen Stern auf dem Schulterstück ihrer Armeeuniform“ und das metallene Abzeichen auf der linken Brusttasche bemerkten, „zwei ineinander verschränkte gelbe Dreiecke in einem blau-weißen Sechseck und in der Mitte das Kürzel ‚JRU‘ für Jewish Relief Unit“.96 Mitte Juni 1945 waren alle Teams noch einmal eingehend über das Fraternisierungsverbot belehrt worden,97 doch nur wenig später – mit der Vorbereitung der Battle of the Winter und der Ausweitung der humanitären Hilfe auf die deutsche Bevölkerung – mehrten sich bereits die Bemerkungen über positive deutsche Charaktereigenschaften und die prekäre Situation im Besatzungsgebiet. Ein Bericht einer in Essen stationierten Friends Ambulance Unit betonte geradezu die „friendliness of the ordinary people“, die sogar inmitten von Ruinen und Not keinen Hass zeigten.98 „In the midst of such fearful destruction caused by British bombs, it would be expected that the German mind would be filled with hatred“, vermerkte ein anderer Bericht im November 1945, „but even in Hamburg and down in the Ruhr there is a remarkable absence of resentment. The people seem to feel that they have been saved from something rather terrible; and to be thankful that they live in the British rather than any other zone.“99 Die zeitgenössische Einschätzung, dass noch Ende 1945 die Lebensbedingungen in der britischen Besatzungszone besser waren als in der amerikanischen, wird durch neuere Forschungen belegt.100 Nach dem ersten harten Nachkriegswinter und mit Anlaufen der amerikanischen humanitären Hilfspro 93  94  95  96  97  98  99 100

SA, Germany: War-Time / 2, G. R. Carpenter, adjutant, liaison officer, Germany today and the Salvation Army, 8. 4. 1947. Zit. nach Smith, Pacifists in action, S. 329. Evelyn Bark: No time to kill, London 1960, S. 53. Belton, Die Ohrenzeugin, S. 13. FL, FRS/1992/Box 73, K.M. Agnew, deputy commissioner, British Red Cross Commission (civilian relief ): A letter onnon-fraternisation by the deputy commissioner for civilian relief, 22. 6. 1945. FL, FAU/1947/3/4, Report, RS8/FAU Essen, 20. 11. 1945. Robin Whitworth: Germany. The next step, in: The Friend (30.11.1945), S. 808–810, hier 808. Schulze, A difficult interlude, S. 78f. u. 84f.

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gramme für die deutsche Bevölkerung veränderte sich die Situation allerdings dramatisch, bis hin zur offenen Feindschaft gegenüber der britischen Militärregierung.101 Der Winter 1945/46 markierte zudem einen deutlichen Wechsel in der Wahrnehmung des äußeren Erscheinungsbildes der deutschen Bevölkerung. Betont wurden nun nicht mehr der relativ gute Ernährungszustand und die gute Kleidung. Angesichts der Versorgungsschwierigkeiten sowie der zunehmenden Zahl von Flüchtlingen, Vertriebenen und aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Soldaten, finden sich jetzt vermehrt Hinweise darauf, wie diese Not das Verhalten und Aussehen der Bevölkerung prägte: „Yellow, lined faced“ bei den Älteren, „pinched, grey faces“ bei den Arbeitern und „pasty, dull faces“ bei den Kindern.102 Arbeitsleistung und Konzentrationsfähigkeit nahmen ab, „Hoffnungslosigkeit und Verbitterung“, von denen auch deutsche Beobachter berichteten,103 nahmen zu. Hinzu traten Äußerungen über einen sittlich-moralischen Verfall, der bereits in den Familien einsetzte, „where mothers sell the child’s shoe coupons for cigarettes and connive at the immorality of their very young daughters with Allied personnel to get supplementary food, or send their children to do black-market transactions and too smuggle instead of to school“.104 Einhergehend mit der sich allmählich verschlechternden Versorgungslage häuften sich die Bemerkungen über das Selbstmitleid der deutschen Bevölkerung. Saul Padovers Bericht gehört zu den frühen Zeugnissen jener diagnostizierten deutschen Eigenschaft, die sich bereits unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen gezeigt habe. Er wertete sie als „eine mehr oder weniger unbewusste Methode zur Rechtfertigung des eigenen Mitläufertums“. Während des Krieges seien „die Deutschen die wohlgenährtesten Leute in Europa“ gewesen, die mit Ausnahme der Ausgebombten und Flüchtlinge „weniger gelitten [hätten] als alle anderen europäischen Völker. Trotzdem klagen sie unablässig.“ Damit eng verbunden sei die „Weigerung (oder psychologische Unfähigkeit), sich gegen das NS-Regime zu wenden, [oder] gar Sabotageakte zu verüben“.105 Im Zusammenhang mit dem in vielfachen sprachlichen Wendungen wie „poisoned by selfpity“,106 „full of misery“107 oder „an orgy of self-pity“108 beschriebenen Selbstmitleid standen Bemühungen, die Atmosphäre in Deutschland und das Verhalten der deutschen Bevölkerung zu beschreiben. Hilary Saunders (BRC) wählte hierzu den Begriff „apathy“ oder die Kombi101 102 103 104 105 106 107 108

Criticism grows in Germany. British blamed for everything except the weather. Morale lowered by self-pity, in: The Manchester Guardian (22.01.1947). FL, FRS/1992/Box 72, M. Yande, Dortmund: First impressions of Germany, 12. 3. 1947. BA, Z 6/I/27, Hauptabteilung B. Planung und Statistik, Minden, 3. 7. 1947. Richard K. Ullmann: Germany needs the prophetic word. A relief worker on the primary Quaker contribution, in: The Friend (24. 1. 1947), S. 69–70, hier 69. Padover, Lügendetektor, S. 91. Criticism grows in Germany. British blamed for everything except the weather. Morale lowered by self-pity, in: The Manchester Guardian (22. 1. 1947). Bark, No time to kill, S. 65. PRO, FO 371 / 64998, Vermerk, J. R. Wraight, FO, 21. 5. 1947.

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nation „coma and apathy“.109 „Bitterness“ oder „despondency and bitter resignation“110 waren andere, häufig benutzte Umschreibungen. Anlass und Kontext dieser Wahrnehmungen bildete oftmals das Erstaunen über die scheinbar vollständige Indifferenz und Interesselosigkeit der deutschen Gesprächspartner an Situationen außerhalb ihres persönlichen Lebensbereichs. „All the teams are troubled by the indifference of the German population to the misery of Europe“, hielt Roger Wilson nach seiner Deutschlandreise im Oktober und November 1945 fest.111 Dies sei politisch verheerend, da die Not in Europa von den „Nazis in the name of the German people“ verursacht worden war: „Bitterness will not be assuaged unless the German people are able to realise what is happening.“112 Andere Beobachter gingen noch weiter, indem sie nicht nur die Interesselosigkeit an der Situation in anderen europäischen Ländern beklagten, sondern den Verlust jeglichen Bezugs zur Realität: „Germany was sunk in its own misery, and the ordinary German citizen did not understand how the name of Germany stank in the nostrils of Europe.“113 Diese Bemerkung verdeutlicht die immensen Schwierigkeiten, mit denen sich die Re-education konfrontiert sah. „We should try to make the Germans understand why they are hated by telling them what has been done in the name of Germany“, resümierte Barbara Walker, die im März 1947 in einem FRS-Team in Oberhausen arbeitete: Since arriving here it seems to me that the people of Oberhausen do not know these facts and if they do that they do not believe them. They are, as we had been told before we came, very preoccupied with their own suffering, which is quite understandable of course. But I do feel that it can be one of our functions to tell them the facts and try to make them understand that they did happen and why people in Canada and other countries feel as they do because of them.114

In diesem Zusammenhang spricht der Historiker Karl-Ludwig Sommer von einer „kollektiven Weigerung, sich der Verantwortung für die Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und Europa zu stellen“, bei einer gleichzeitigen, komplementären „Anspruchshaltung gegenüber den Besatzungsmächten“,115 die sich ihrerseits wiederum mit der Forderung kon109

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Hilary Aidan St. George Saunders: The Red Cross and the White. A short history of the joint war organization of the British Red Cross Society and the Order of St. John of Jerusalem during the war, 1939–1945, London 1949, S. 174f. Relieving Europe’s Distress, in: The Friend (22. 2. 1946), S. 136. FL, FRS/1992/Box 35, Roger Wilson: Report on visit to Germany, October–November, 1945, 31. 12. 1945. FL, FRS/1992/Box 8, Friends Relief Service, Service news 19, notes from Roger C. Wilson, 14. 12. 1945. Germany and the European Family, in: The Friend (31. 5. 1946), S. 427–428, hier 428. FL, FRS/1992/Box 71, Barbara Walker, FRS Oberhausen, an Hugh Jenkins, FRS London, 12. 3. 1947. Karl-Ludwig Sommer: Humanitäre Auslandshilfe als Brücke zu atlantischer Partnerschaft. CARE, CRALOG und die Entwicklung der deutsch-amerikanischen Beziehungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs, Bremen 1999, S. 219.

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frontiert sahen, die deutsche Bevölkerung nach der bedingungslosen Kapitulation zu ernähren, weil dies die Haager Konvention zwingend vorsähe. Einer solchen Auslegung konnte sich die britische Militärregierung nicht anschließen,116 jedoch prägte sie die deutsche öffentliche Meinung so weit, dass sich „die Dankbarkeit für die humanitäre Auslandshilfe in Grenzen“ hielt.117 Hinzu kam die Vorstellung, dass Großbritannien ein Land sei, in dem Milch und Honig fließen würden und das somit in der Lage sei, die deutschen Probleme zu lösen, wie die britische Erziehungsministerin Ellen Wilkinson dem „Manchester Guardian“ nach ihrem Besuch in Deutschland Anfang Oktober 1945 berichtete.118 Der Winter 1945/46 sollte diese Vorstellung endgültig beseitigen, woraufhin Großbritannien die Gunst der Deutschen als Besatzungsmacht verlor. Gleichzeitig verstärkte sich die populistische Vorstellung in der deutschen Bevölkerung, nicht nur „selbst Opfer der Nazis und des Krieges“,119 sondern – wie bereits im Oktober 1945 vielfach formuliert – das hilfsbedürftigste Land in Europa zu sein.120 Die Konzentration auf das Selbstmitleid führte jedoch nicht nur dazu, die anfänglich relativ positiv wahrgenommene britische Besatzungsmacht in einem negativen, bisweilen feindlichen Licht zu sehen und das von Deutschland verschuldete Leid in Europa zu ignorieren. Vielmehr trug es auch zu feindlichen Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber allen im Lande bei, die in Verdacht gerieten, die materielle Versorgungsbasis zu verknappen. Dies betraf insbesondere die Displaced Persons, die zudem eine stete Erinnerung an die nationalsozialistische Zeit, an Zwangsarbeit, Kriegsverbrechen und Massenmord darstellten. „They also asked to be rid of the foreign workers and seemed oblivious of the Nazi Government’s responsibility for bringing these workers to Germany“, notierte Robert Murphy im April 1945.121 Zweieinhalb Jahre später hatte sich – aller Re-education zum Trotz – das Verantwortungsbewusstsein gegenüber den DPs kaum verändert. Auf die Frage „In your opinion, who should be responsible for the support of Displaced Persons?“ gaben nur 15% der Befragten in der amerikanischen Zone ‚Deutschland‘ an, während 32% der Meinung waren, dass die Herkunftsländer zuständig seien. 18% nannten die ‚Alliierten‘, und 12% entschieden sich für die Sammelantwort „Should help themselves; UNRRA, Red Cross, etc.“122 Vergleichbare Meinungsumfragen liegen für die britische Zone nicht vor, jedoch deuten die Quellen in eine ähnliche Richtung. Neben einem Mangel an Verantwortungsbewusstsein wurde ein allgemeines Desinteresse an den Displaced Persons beobachtet, das leicht in Feind116 117 118 119 120 121 122

FL, FRS/1992/Box 74, Bureau of information, Office of the educational advisor, Berlin, Bulletin No. 4/47, 5. 12. 1947. Sommer, Humanitäre Auslandshilfe, S. 227. Germany’s food. Miss Wilkinson’s fear for winter, in: The Manchester Guardian (08.10.1945). Sommer, Humanitäre Auslandshilfe, S. 226. Modern Record Centre, University of Warwick (MRC), MSS.157/3/SEN/4, Dr. Th. Michaltschoff an Mr. Brown, 16. 10. 1945. BA, OMGUS, POLAD 728/4, Robert Murphy: Report on trip to Germany, 12.–19. 4. 1945. BA, OMGUS, CAD 5/324–1/29, OMGUS, ICD opinion surveys, German reactions to expellees and DPs, 3. 12. 1947.

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schaft umschlagen konnte.123 Klagen über Diebstähle und Verdächtigungen jeder Art häufen sich in den überlieferten Aufzeichnungen und in der Erinnerungsliteratur. Hinzu kommen Hinweise auf „Verachtung und bösen Willen“,124 „lodernden Haß“,125 Schmähungen und Verhöhnungen selbst in Bergen-Belsen,126 Diskriminierungen in Krankenhäusern127 sowie die schlimmsten sozialen und wirtschaftlichen Befürchtungen im Falle eines dauerhaften Verbleibs der Displaced Persons in Deutschland.128 Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber den Displaced Persons weisen auf eine weit verbreitete Xenophobie hin, mit der die deutsche Bevölkerung während der nationalsozialistischen Zeit erfolgreich infiltriert worden sei, so Pastor Niemöller in einem Interview mit dem „Manchester Guardian“ im März 1946.129 Ungeachtet der Frage, ob die NS-Propaganda damit in einem ursächlichen Zusammenhang stand oder bereits vorhandene fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen verstärkte, können die wahrgenommenen Ressentiments insbesondere gegenüber den „russischen“ DPs als eine Konstante betrachtet werden, die sich bis in die Zeit des Kalten Krieges hinein verfolgen lässt. Gegen Ende des Krieges wurden Zwangsarbeiter und Juden „als ein Ersatz für einen Feind [angesehen], dessen man nicht mehr habhaft werden konnte“.130 Spätestens ab 1947 wurde das neue/alte Feindbild des „Russen“ unter geänderten politischen Rahmenbedingungen wieder in Funktion genommen, nachdem es zuvor als Brücke zwischen Deutschen und Westalliierten instrumentalisiert worden war. In einer ähnlichen Weise ressentimentgeladen wurde bisweilen das Verhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber den Überlebenden des Holocaust beschrieben. Auch ihnen begegneten Vorurteile, Hohn und Neid angesichts der ihnen letztlich zugestandenen bescheidenen materiellen Vergünstigungen.131 In Berlin fürchteten sich jüdische Überlebende sogar, ihren OdF-Ausweis bei den Behörden vorzuzeigen, „as it happens that the production of an OdF card will result in any but priority or even civil treatment“. Eine jüdische Helferin berichtete über die missgünstigen Parolen in „German circles“ hinsichtlich der üppigen Nahrungsmittel-,

123 FL, FRS/ 1992/ Box 35, Roger Wilson: Report on visit to Germany, Oct.-Nov., 1945, 31.  12.  1945; FL, FRS/ 1992/ Box 73, Robert Rossborough, Overseas Department, London, to Margaret McNeill, RS/ 124, 25. 10. 1946. 124 McNeill, Hilfe für Ausländer, S. 90. 125 Ebda., S. 101. 126 Belton, Die Ohrenzeugin, S. 129. 127 PRO, FO 1052 / 383, Progress report on hand-overUNRRA-CCG, 13. 6. 1947. 128 FL, FRS/1992/Box 66, FRS, General Secretary, an R.M. Campbell, Wellington, New Zealand, 5. 3. 1947; PRO, FO 936 / 998, COBSRA, Meeting of the council, 13. 7. 1949. 129 Germany’s worst ordeal yet to come. “A fertile ground for propaganda”, in: The Manchester Guardian (21.03.1946). 130 Nicholas Stargardt: Opfer der Bomben und der Vergeltung, in: Lothar Kettenacker (Hg.): Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940–45, Berlin 2003, S. 56–71, hier 70. 131 Ursula Büttner: Not nach der Befreiung. Die Situation der deutschen Juden in der britischen Besatzungszone 1945 bis 1948, Hamburg 1986, S. 27.

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Kleider und Sachspenden an jüdische Überlebende.132 „Wir waren verhasst, Parasiten einer verjudeten Militärregierung“, so Ruth Klüger,133 während Helen Bamber ( JRU) sich an einen „Auflauf von Männern aus dem Dorf [erinnerte], die sich vor dem Hauptquartier [der JRU] versammelten und laut brüllend seine Belegschaft beschimpften, diese ihr Land besetzenden Juden“.134 Krieg, Zwangsarbeit und Massenmord waren vorüber, nicht jedoch der Antisemitismus. Zu den verbalen Angriffen kamen gewalttätige Aktionen. Am 9. November 1946 wurde das Auto des einzigen nach Herford zurückgekehrten Juden in Brand gesetzt und sein Haus beschädigt.135 Am 15. April 1947 berichtete das „Jüdische Gemeindeblatt“ über den Mord an vier Juden in Regensburg, über Friedhofsschändungen in Hannover und Moislingen bei Lübeck, über einen Anschlag mit einer Handbombe gegen das Gebäude „der rassisch und politisch Verfolgten“ in Nürnberg sowie über einen Anschlag gegen das Geschäft eines Juden in Wuppertal-Barmen. Ihm wurde die Schaufensterscheibe eingeschlagen, Hakenkreuze und der Spruch „Die Juden sind unser Unglück“ wurden mit Lackfarbe angebracht. In der näheren Umgebung fanden sich weitere Schmierereien wie „Deutschland erwache, Heil Hitler, Nieder mit England, Amerika und Russland, NSU den Verrätern“.136 Allein bis 1949 wurden mehr als hundert Fälle von Friedhofsschändungen registriert.137 Interesse am Schicksal und Leid der Überlebenden von Zwangsarbeit und Holocaust besaß kaum jemand. Die Zeitungen und Zeitschriften berichteten nur selten über den fortdauernden Antisemitismus in Deutschland und noch weniger über die Lebensbedingungen der Überlebenden.138 „Mir war, als müsse jeder uns Fragen stellen, uns an den Gesichtern ablesen, wer wir waren, demütig unseren Bericht anhören“, erinnerte sich Primo Levi an die Zeit unmittelbar nach der Befreiung. Aber niemand sah uns in die Augen, niemand nahm die Herausforderung an: Sie waren taub, blind und stumm, eingeschlossen in ihre Ruinen wie in eine Festung gewollter Unwissenheit, noch immer stark, noch immer fähig zu hassen und zu verachten, noch immer Gefangene der alten Fesseln von Überheblichkeit und Schuld.139

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LMA, ACC/2793/02/01/18, Hanne Bernhard-Rath, 188 Jewish Relief Unit, Berlin: Report for the month of December 1947, 31. 12. 1947. Klüger, Weiter leben, S. 199. Belton, Die Ohrenzeugin, S. 111. Michael Brenner: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950, München 1995, S. 79. LMA, ACC/2793/01/13/10, 2 Jahre nach ‚der Niederringung des Nationalsozialismus‘, in: Jüdisches Gemeindeblatt(15.04.1947). Brenner, Nach dem Holocaust, S. 79. PRO, FO 371 / 55879, Wiener Library, Europe 1945. No. 2. Germany under Allied occupation October 1st to December 31st, 1945 (as mirrored in the German press); vgl. Büttner, Not nach der Befreiung, S. 28. Levi, Die Atempause, S. 242.

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Primo Levis Eindrücke stammten aus München, jedoch scheint der Ort beliebig und das Phänomen des Nicht-Beachtens weit verbreitet. Über die Einwohner von Celle berichtete Brenda McBryde (BRC), dass sie sich von Überlebenden aus Bergen-Belsen auf der Straße abgewendet hätten, als seien es Leprakranke. Niemand hätte etwas erfahren wollen über die nur zehn Meilen entfernt begangenen Verbrechen.140 Der Schriftsteller Stephan Hermlin beobachtete die Reaktion des Publikums bei der Vorführung von Filmen über Dachau und Buchenwald: Im halben Licht des Projektionsapparates sah ich, wie die meisten nach Beginn des Films das Gesicht abwandten und so bis zum Ende der Vorstellung verharrten. Heute scheint mir, das abgewandte Gesicht sei die Haltung von Millionen geworden und geblieben. Das unglückliche Volk, dem ich angehörte, war sentimental und verhärtet zugleich, sich erschüttern zu lassen, das Erkenne-dich-selbst war nicht sein Teil.141

Die Grenze zwischen Erkenntnisverweigerung und Erkenntnisunfähigkeit ist schwer zu ziehen. Oftmals beschrieben wurde der Eindruck, dass die Deutschen bei Themen wie Zwangsarbeit, Kriegsverbrechen und Massenmorde nicht zuhören wollten, gleichzeitig aber den Überlebenden mit „suspicion, indeed even with open hostility“ begegneten.142 Ebenso unklar bleibt, wie groß das allgemeine Wissen um die deutschen Verbrechen gewesen ist.143 Auschwitz lag nicht im fernen Osten, sondern im annektierten Gebiet, und es ist nicht nachvollziehbar, dass beispielsweise Wehrmachts- und SS-Angehörige während ihrer Heimaturlaube in totales Schweigen verfallen waren. Nach Kriegsende wollte jedoch keiner was gewusst haben, auch nicht die Bewohner sechs umliegender Gemeinden, denen im April 1945 Bergen-Belsen vor Augen geführt wurde.144 Wenn tatsächlich, wie oftmals behauptet, keine oder nur geringe Kenntnisse über die deutschen Verbrechen vorhanden waren, so stellt sich die Frage nach einer aktiven Erkenntnisverweigerung. Denn wer wissen hätte wollen, der hätte auch wissen können, oder – in den Worten eines britischen Soldaten ausgedrückt: I’m quite willing to believe they didn’t really know what was going on but in this particular case ignorance must be regarded as a crime. Every nation has the responsibility of knowing what goes on in prisons and similar places and the Germans have shirked their responsibility. I can forgive them almost everything except that.145 140 141 142 143

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McBryde, A nurse’s war, S. 162. Zit. nach Stern, Im Anfang war Auschwitz, S. 15. Karen Gershon (Hg.): Postscript. A collective account of the lives of Jews in West Germany since the Second World War, London 1969, S. 71. Hierzu neuerdings: Eric Johnson, Karl-Heinz Reuband: What we knew. Terror, mass murder, and everyday life in Nazi Germany, London 2005; Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst!” Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006. Burgomasters inspect Belsen. Surprise and horror, in: The Times (25.04.1945). Robert Barer: One young man and total war (from Normandy to concentration camp, a doctor’s letters home),

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Trafen ausländische Beobachter und Deutsche zusammen, so führte das Gespräch häufig auf die nationalsozialistische Zeit zurück. Mit Erstaunen und bisweilen Fassungslosigkeit wurde dabei von jenen zur Kenntnis genommen, dass nicht nur jedes wie auch immer geartete Verantwortungsbewusstsein fehlte, sondern dass angeblich kaum jemand Nationalsozialist gewesen war. Diejenigen, so Moses Moskowitz in einem 1946 veröffentlichten Aufsatz, denen eine Verbindung nachgewiesen werden konnte, produce one excuse or another to explain away their former association with the Nazi activities. Some will say it was coercion, pressure, blackmail, and superior force; others that it was misguidance, deception, or ignorance. And, after talking to hundreds of former Nazis, one comes to the conclusion that this disclaimer of Nazi belief and conviction is not deception prompted by fear or expediency. It is sincere – and in some ways this makes the phenomenon more frightening.146

Moses Moskowitz publizierte bereits 1946 über den weit verbreiteten Mechanismus, mit der sich die Masse der Deutschen als Opfer des Nationalsozialismus darzustellen versuchte – vielleicht sogar als dessen größtes Opfer überhaupt.147 Die Beobachtung korrespondiert mit den Aufzeichnungen der Kriegsberichterstatterin Martha Gellhorn aus dem besetzten Rheinland vom April 1945: „Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen. […] Wir haben von dieser Regierung die Nase voll gehabt. Ach, wie wir gelitten haben. Die Bomben.“148 Die Legendenbildung begann also noch vor der Kapitulation.149

Zusammenfassung Die während und im Gefolge des Zweiten Weltkrieges geleistete humanitäre Hilfe kann als Ergebnis eines Lernprozesses verstanden werden, in den die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit einflossen. An die Stelle weitgehend unkoordinierter Hilfsaktionen sollte eine auf einer möglichst detaillierten Bedarfsermittlung beruhende Kooperation staatlicher wie nicht-staatlicher Organisationen auf internationaler wie auf nationaler Ebene treten. Auf internationaler Ebene unterstützte Großbritannien die Gründung der UNRRA

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Edinburgh 1998, S. 228. Moses Moskowitz: The Germans and the Jews: postwar report. The enigma of German irresponsibility, in: Commentary 1.2 (1946), S. 7–14, hier 7. Ebda., S. 10. Zit. nach Willi Winkler: Nun singen sie wieder, in: Kettenacker (Hg.): Ein Volk von Opfern, S. 103–109, hier 103. Robert G. Moeller: Deutsche Opfer, Opfer der Deutschen. Kriegsgefangene, Vertriebene, NS-Verfolgte. Opferausgleich als Identitätspolitik, in: Klaus Naumann (Hg.): Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, S. 29–58, hier 33; Winkler, Nun singen sie wieder, S. 103.

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im November 1943, während bereits im Jahr zuvor Bemühungen eingesetzt hatten, die an einem humanitären Hilfseinsatz im Ausland interessierten britischen NGOs im Council of British Societies for Relief Abroad zusammenzufassen. Besondere Aufgaben kamen auf Militär und NGOs nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen im April 1945 zu. 60.000 sterbende, kranke und unterernährte Menschen waren in kurzer Zeit zu versorgen; eine Ausbreitung des Typhus war zu verhindern. Die erhaltenen Quellen machen Defizite in der psychologischen Ausbildung vieler Helfer deutlich; zudem vermitteln sie einen Eindruck über die Wahrnehmung der Befreiten durch die Helfenden, die mitunter durch Unverständnis über deren Verhalten geprägt war. Ab 1945 entwickelte sich das besetzte Deutschland zum Hauptaufgabengebiet der unter dem Schirm des britischen Roten Kreuzes tätigen NGOs. Mit der Ausweitung der humanitären Hilfe auf die deutsche Bevölkerung veränderte sich in vielen Berichten britischer Hilfsteams die Wahrnehmung der Displaced Persons. Regierung und NGOs waren angetreten, den Angehörigen der Vereinten Nationen Hilfe zu leisten, doch bald nach deren Befreiung finden sich die ersten negativen Eindrücke, die in der Folgezeit durch die Rückkehrunwilligkeit vieler DPs verstärkt wurden, während sich gleichzeitig die Wahrnehmung der deutschen Bevölkerung sukzessive verbesserte. Die anfänglichen Bemerkungen über das physisch gute Aussehen und die gute Kleidung der Deutschen endeten im Winter 1945/46. Sie wurden abgelöst durch Beschreibungen, wie die Not das Aussehen und Verhalten prägte und das ohnehin stark ausgeprägte Selbstmitleid noch einmal verstärkte. Gleichzeitig nahm bei der deutschen Bevölkerung fast jegliches Interesse an der Situation in den vormals von den Deutschen besetzten Ländern sowie an den Displaced Persons ab. Xenophobie und Antisemitismus waren nach wie vor weit verbreitet, ebenso ein vielerorts wahrgenommener Realitätsverlust und die Weigerung, sich der Verantwortung für die Folgen von Nationalsozialismus, Krieg, Deportation, Zwangsarbeit, Massenmord, Holocaust und anderer Verbrechen zu stellen. Bereits 1945 betrachteten sich viele Deutsche vor allem als Opfer des Nationalsozialismus und Deutschland als das hilfsbedürftigste Land Europas.

Stein Ugelvik Larsen

They had to wait to be seen War children in the progressive restorations after World War II As we know from history, restoration after revolutionary upheavals can never be a static return “back”. However, the overwhelming issue after World War II was to “return to normalcy”, a restoration in the normal sense. Thus, every state and nation, when trying to look into the future, had to search for finding firm ground in the past.1 Soon after World War II one understood that there were new questions to be answered, there were wrongdoings to be repaired and serious settlements to be completed. The restoration after 1945 could, therefore not “restore” in the simple sense of the word. Two questions outside the restoration context are dominant: What are the main effects of the war to the world, and how has it made its imprints on our future? We are still struggling with the answers and will so for a long time to come. History will not be repeated, but one may be able to theoretically comprehend some patterns that link past events to their predecessors. This is what the science of history and social sciences are about. And this is what my colleague Gerhard Botz and I have often discussed and where we have tried to find some form of agreement: how to discern patterns through the infinite empirical events unfolding, and how to define sensible limits to the explanatory power of patterns found. Not “everything” can be explained within one theoretical setting. In recent years both Gerhard and I have been concerned with problems connected to the “hidden” past in the sense of what happened to some groups of individuals who survived the war having been heavily “hit” by it. Gerhard’s large scale of oral history projects on concentration camp survivors and the former NSDAP members, and my own concern about the same groups in Norway, reflect these interests. His very revealing story of his father’s “hidden” story, until recently also “hidden” to himself, gave readers a profound feeling of the importance to open up an often tabooed topic in post-war history. I also got a feeling that Gerhard recovered part of his own identity when searching into his father’s fate as a soldier and a NSDAP member. Locating his father’s previously unknown grave ended his search and broadened Gerhard’s feeling of own identity. 1 The obvious “classical” reference is Edmund Burke’s famous “Reflections on the Revolution in France” from 1790, but modern history has a huge of literature on the topic. I first utilized the idea in this paper in a presentation given at a conference in Hamburg in 1998, and later on a somewhat similar topic in: Rettsoppgjøret i en elitestyrt overgang. Gjeninnføring av demokrati i Norge etter 1945 [Settlements in an elite controlled transition. Reintroduction of democracy in Norway after 1945], in: Bård-Anders Andreassen, Elin Skaar (red.), Forsoning eller rettferdighet? Om beskyttelse av menneskerettigheter gjennom sannhetskommisjoner og rettstribunaler [Reconciliation or justice? On the protection of human rights through truth commissions or legal settlements], Oslo 1998, pp. 204–234.

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Let me in this paper bring a brief outline of two different types of topics: First some preliminary ideas of the patterns of restoration in European post-war history, and second a few ideas on how the story of the war children can be understood as consequences of the sequences of restoration and how it is linked to the need of finding one’s identity. The last topic represents a little researched field in post-war history which only recently has become part of what we may call a long-term overcoming of the Second World War. The patterns of restoration can be defined as five stages of post-war development after World War II. We have to imagine that all the countries which came out of the 5–6 years crisis had to pass five successive stages in a fixed sequence. At each stage the challenges to be solved would lead into the next. It was not possible to solve challenges of a later stage whilst still in an earlier stage. This is the logic of stage-thinking and successive problem solving within a post-war restoration process; it resembles the stage-theory of the founding of modern nations states and democracies. Emerging democracies have to pass through a given set of stages in a sequence; if they do not they will become unstable, and if all stages are “passed” simultaneously, the risk for return to some form of non-democratic state will be very high.2 The idea is then to use the stage-pattern as an explanation pattern for the war children topic: They could not be “discovered” or “de-tabooed” before the other stages in the given nation-state had been “solved”. They had to wait. How should we rightly conceptualize “war children” as an analytical category? Let me do this by referring to the Norwegian situation. Shortly after World War II a very strong animosity and hatred rose against all Norwegian women who were accused of having had close relationships with the enemy i.e. German soldiers. This had been built up during five years of occupation when Norwegian women were seen in public or private with German (or Austrian) soldiers and officers. Hatred similar to that experienced in all occupied territories involved in World War II. Many of these women already had children with German soldiers or were going to give birth to one. The hatred towards the women then began to be directed at their children, who in Norway were then called tyskerunger (literally translated: “Germanchildren”). When a public committee was appointed by the Norwegian government one of its first tasks was to “soften their burden” by renaming them “war children” hoping that this would take away some of the stigma connected to their backgrounds. The committee was therefore also given the name of Krigsbarnutvalget (literally translated: “the committee for war children”). This concept gained ground and in the Norwegian setting the NGO for the Norwegian war children, when formed in 1985, was called Norges Krigsbarn Forbund (Norway’s Organization 2 There are three versions of stage-theory. One representing the long-term development since the Middle Ages towards democratization in the 20th century illustrated by the works of Stein Rokkan. The second is the thinking within the Committee of Comparative Politics who made outlines for the explanation of modernizations of developing societies in former colonies after World War II. Third, the path theory of democratization developed after the waves of transition to democracy beginning in 1974 employs the same logic. I have given a brief overview of these modes of theorizing, with references, in: Stein Ugelvik Larsen (ed.): The challenges of theories on democracy. Elaborations over new trends in transitology, New York 2000, pp. 447–464.

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for War Children). However, when we started our research we soon discovered that outside Norway or Denmark this concept was misunderstood. The common understanding of the term seemed to be “children born during the war”. Outside Norway a better definition would be something in the direction of “children of the enemy”: children born with parents belonging to opposing sides in an armed conflict. But again, in the Norwegian context, the children concerned, now grown-ups, would feel upset, feeling that they were being attached to very negative values when called “children of the enemy”. We are thus caught in a situation of research where the analytical category cannot be used in a proper way without harming the individuals concerned. We cannot easily invent a Latin taxonomy or invent a strange, new word, as happens in many natural sciences, without losing meaning for many of the individuals we work with in interviews or other important settings. When used in this article I will use the concept “war children” with direct reference to the children born during and after World War II by parents coming from opposite sides of the combating fronts. They were “enemy children” with fathers either being from Hitler’s armies or armies allied with him, or children by occupying armies from the Allied Forces. In Austria they were children with Austrian mothers and a father from basically the Soviet occupying forces, but also from other allied forces.

Which are the stage-patterns after World War II? We may illustrate the periods of restorations as follows: I. 1945–1952: Restoration of authority and national institutions II. 1952–1964: Restoration of the market III. 1964–1973: Restoration of freedom of democratic criticism – the 1968 revolt IV. 1974–1990: Restoration of liberalism/autonomy of the individual – privatization V. Since 1990: Restoration of the belief in the ‘end of history’ – the unity of Europe accomplished under the impression of extended, unavoidable drive towards globalization.  – Finally: the Restoration in terms of “overcoming” (Vergangenheitsbewältigung). Now, this will be the typical pattern of restorations of Northern Europe, Western Europe and in other occupied liberal democracies like Italy and Greece. In Central and Eastern Europe, behind the Iron Curtain, one has to think of two phases with paths of restoration, or a  “double set” of restorations after 1989/91. In Austria the restoration phases have to be placed somewhere in between; in a sense it was a “delayed” restoration because it could not “start” before the completed reconstruction of the republic, and it was also a restoration from authoritarian dictatorship and Nazi rule (after the Anschluss of 1938) not equal to restorations from Nazi occupation elsewhere. In this article the idea is then to present a pattern to be adjusted to different national contexts and timings. If we say that every state/nation has to pass through the five

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restorations mentioned above, and in a fixed sequence, deviations from that pattern have to be explained from particular assumptions on national histories. Assumptions thus play a very important role in all theory formulation; even if this is often ignored or treated as “deviant cases”. This defining and separating of phases may be seen as more or less casual, but can be refined in terms of definitions and content. However, such form of periodization needs a lot of operational qualifications to be more than a simple pedagogical device. Underlying my suggestions is the idea that “restoration” must not to be seen only as a reactionary process to come back to the “exact condition” as before, as in the Burkian sense, but instead as an “effort to restore past, general ideals”. It is a process which had to pass through stages in order to “succeed” i.e. produce the modern, liberal, “welfare-ized”, political unionized, privatized Europe we find today. I. The typical situation after 1945 was the immanent need for reconstruction of civil society, the economy, and the state. All three sectors had for long been under the domination of either a foreign occupant, or a domestic centralized authority. These authoritarian leftovers, and the need for unquestioned national consensus, laid the ground for quick national recovery, with other problems left for the future. The restoration 1945–1952 was therefore defended on the grounds of needs and demands and largely unquestioned. Under the “cover” of restoration a complete new civil society, a new economy and a new state were built. This restoration was a combination of continuity from the militarization during the war, of pre-war contexts and programs and of a complete new set-up defended as necessary given the experiences and the perceived insight into the causes of the crisis that brought Europe into the war. Competition to “win the agenda” was fierce: a) ideas of corporatism, central planning, cooperatives, autarchy etc. were launched and often similar to both the former fascist models and the communist models and b) political, corporate and economic actors were struggling to achieve prominence and power: communists, resisters, labour unions, churches, previously censored newspapers, banned organizations and individual politicians. Large-scale planning and coordination were the catchwords, a means used both in the East and the West to open opportunities for old and new actors to play a new political role in the restoration. The purges were focused on legitimizing the “strong authority” needed, giving the police, the legal professions, the military an unquestioned role often little understood at the time. The universal demand for reconstruction moved the decision power away from politics to bureaucracy and individual ministers, and prevented open discussion on the role of the economic professions being the only ones to judge the principles of control and planning. II. The next phase once the regulations were gradually relaxed, the settlement with collaborators finished, and the definite division of Europe between East and West cemented, was the restoration of the market and the role of the actors in the market. “The golden age” was even expected to reach the sky when Western Europe and USA/Canada witnessed unexpected growth (not planned!). The same happened in the East with growth rates even far above many non-communist European economies; thus both types of systems were given legitimacy. The command economy and the more or less centrally planned, but “free economy”, were both thriv-

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ing on the Korean War and the climate of the Cold War (including the uprisings in GDR, Hungary and the crisis in Suez). Thus one can envisage ‘restoration’ as well as ‘newness’: under the ‘blanket’ of returning to a ‘free market’ Europe was changed dramatically: it was restored to newness. III. The third phase was a reaction to the two previous ones: Parliamentary politics, professional administration and university education met the demand of participation from below: the restoration of democracy. Questions were raised about the purpose of growth and efficient rule and the Vietnam demonstrations fed on the Paris revolt in the protest against a specific form of Western modernization. When I refer to this as “restoration” I think of the ideas from the Great Revolution which had been consistently violated by both political extremism of various kinds and authoritarian elites, as well as by elected governments. Within the “restoration” movement entirely new concepts grew which brought pressure towards: equality between the sexes, care for nature and ecology, liberation from “rational positivism” in universities, solidarity with the Third World, peace as a first priority in international politics etc. IV. The cracks in the Western as well as in the Eastern systems became gradually visible from the early 1970s. Ups and downs in the economy gave stimulus to further integration in the West, while the signs of breakdown in command economy, with its social consequences, were evident in the East, at least for the observers who had the courage to bluntly speak about it. In the West this gave way to the restoration of liberty/liberalism in terms of “opening up” the political space for individualization and privatization of the public sphere. This was intended – more or less implicitly – to unleash creativity, energy and economic growth, as well as to legitimize the democratic structures of Western societies. Liberalism “was declared dead” by the communist and the fascist revolutions, as well as by social democrats, agrarians, Christians and conservatives.  The restoration of liberalism was accepted almost universally across the entire spectrum in the West, and was becoming a tool of reform within the East symbolized by the now famous concepts of perestroika and glasnost. But the restoration of liberalism was also a movement towards giving new meaning to liberalism: to the feminist forces, to the immigrants, to the marginalized groups (homophile/lesbian, to religious sects etc.), and to new, radical nationalism/regionalism. V. In the fifth phase of restoration these new developments surfaced with more or less violent consequences, particularly after the breakdown of communism: nationalist wars, civil wars, religious wars, crime gang-wars, and a new role of NATO/EU through the impact of ‘globalization’. Can we call this last phase a “restoration of Europe and the end of post-war history”? Or is the building of Europe in the 1990’s, with the extension of EU membership to Central and Eastern Europe, the building of a new Europe: restoration through renewal? Now, Europe and many other nation-states in the world went through these five stages in different ways depending on their strategic position in the Second World War. The challenges of “passing the stages” were therefore different, but they all had to face them and “solve them”.

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The war children in Europe and elsewhere Awareness of the “leftovers” from World War II started in the mid-1980s and has gradually become a public policy concern in many states. In Germany the painful compensation issue for war damages has been developing for several years, as has the “overcoming” among its own, younger citizens. In Norway the same challenges have gradually been met by various measures of economic and social compensations, most recently the slow recognition this year of the communist partisan resistance during World War II. In Austria, Gerhard tells me that similar struggles have been fought over “forgotten” and even “subdued” topics.  In Austria, however, politics and moral life try to avoid them or perhaps not bring them to the public agenda. War children are a very special group in this context. As mentioned already they are, by definition, children born with the mother and father on opposite sides during the war. They are “the product of hostilities” and have left the changing post-war governments with uncomfortable tasks as to “what to do with them”. Barbara Stelzl-Marx has given us very important information in her research where she has estimated that more than 8000 so called Russenkinder were born in Austria between 1945 and 1955.3 In the Austrian context it may thus be useful to make analytical distinctions between: Besatzungskinder and Russenkinder (“Russenbalg”). The former were children born by all Allies while the latter were Russenkinder4 i.e. with a Russian occupant as their father. Barbara Stelzl-Marx leaves the question open as to the exact number of each group among them. In her work we get a solid understanding of the kind of problems these children have experienced growing up in post-war Austria. She gives various examples of how the children were conceived in the very brutal first phase of freedom and at later stages of occupation, and she gives a very good documentation of the “search” which many of them have conducted to find their Russian father. This identity search will therefore be the main content of the rest of this short paper, with an additional discussion of the “war child logistics”. The final words are about how to understand the war children within the restoration pattern.

3 Barbara Stelzl-Marx: Freier und Befreier. Zum Beziehungsgeflecht zwischen sowjetischen Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen, in: Stefan Karner (ed.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955, München 2005, pp. 421–447; idem: „Russenkinder“ und „Sowjetbräute“. Besatzungserfahrungen in Österreich 1945–1955, in: Andreas Hilger et al. (ed.), Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955, Göttingen 2006, pp. 479–508; idem: „Russenkinder“. Besatzung und ihre Kinder, in: Stefan Karner, Gottfried Stangler (ed.), „Österreich ist frei!“ Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005, Horn / Wien 2005, pp 163–165; idem: Die unsichtbare Generation. Kinder sowjetischer Besatzungssoldaten in Österreich und Deutschland, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 34.3 (2009), pp. 352–372. 4 The term tyskerunger and Russenkinder carry the similar element of “negative stigma” in the concept which I have discussed above. Therefore it might be a good idea to employ the concept of “war children” for both groups as an analytical concept avoiding “stamping” them as “inferior” and being neutral in our approach to do proper investigation into their history and situation in Austria today.

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Who are you – where are you – who am I? The logic based on “patterns of sequences” outlined above points to the idea that the “war chil­ dren” of all nation states would not enter the public area before the fifth stage of restoration. They were “forgotten” or “hidden”, until the timing was right. The enemy’s children could not expect to get proper attention before the main nation-state challenges had been solved in their right sequence. But they were around: In Norway we have approximately 10.000 to 12.000 tyskerunger, in Denmark more than 6000 tyskebørn, in the Netherlands perhaps 40.000 moffenkinder, in France at least 120.000. In the rest of Europe we know very little about the actual number of “children of the enemy”. When Germany was split in two in 1945 the occupants in GDR were the Soviet soldiers, but in the FRG the British, the French and above all the US forces were the “enemy occupant”. The children from non-German soldiers were called Besatzungskinder and we do not know how many they were. Even the Norwegian occupation soldiers posted to Germany between 1947 and 1952 did “father” more than a hundred war children with German women, when purposely they were forbidden to have close relationships with them. In Central and Eastern Europe there may be up to one million war children and we know of huge numbers in the rest of the world. As Barbara Stelzl-Marx has proved, and as reported by the Austrian Kleine Zeitung on Herbert Pils who finally found his Russian family,5 the need and endless search for identity is a major concern for the war children. It is not so much about the details of conception, either involuntary or because of love, but about “the link” itself. As long as the Cold War cemented the political relationships between the East and the West and as long as the anti-fascist propaganda had high priority in the East, the problems connected to the war children were not very popular topics on the political agenda. How to go about it? Was this a private or a public affair, and were the war children better off not being “seen”? In Norway the official attitude of the authorities that kept the archives after the Lebensborn organization in Norway, was to think that silence and not-knowing would serve the war children in the best way. They made it very difficult to get access to information and they did not believe that they were doing wrong.

War children in Norway Norway was occupied by Hitler’s armies on the 9th of April 1940 and the unconditional surrender came on May 8th, 1945. The actual fighting in Southern Norway ended on May 2nd, 1940, but lasted until June 10th the same year in the North of Norway. Only very few instances 5 Eisenerzer fand seine Schwestern in Russland, in: Kleine Zeitung (21.12.2007), URL: http://www.kleinezeitung. at/steiermark/leoben/leoben/685024/index.do (16.11.2010).

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of actual fighting by British SOE expeditions on the Norwegian coast occurred between the armistice in 1940 and the surrender in 1945. It became a “peaceful” occupation where the resistance was warned to definitely stay away from attacking Germans in uniform. The strong civil and gradually military organization of resistance was therefore directed at the collaborative Nasjonal Samling government, the Nasjonal Samling party members, and the Norwegian agents of SiPo and Gestapo. This “civic peace” may have made women feel less restricted concerning relationships with the German soldiers/officers than in countries with more severe partisan activities. In Norway, since 1997, we have been carrying out an interview project among 336 war children, trying to uncover the complexities of their backgrounds and their experiences of growing up in an unfriendly country which happened to be their own.6 In a very extensive questionnaire many of the questions were concentrated on searching one’s own identity and the idea was to explore how the war children found ways and means to get information and get into contact with their German families.7 6 The interview project was based on address lists which we got from the Norges Krigsbarnforbund (Norwegian War Child Association), and we also got several addresses through direct contacts from Norwegian war children when the project became known in the press and when we were invited to meetings organized by war children organisations. The project was carried out with collaboration and assistance from Elna Johnsen and we did pilot and pre-test the questionnaire in a couple of rounds. The response rate was close to 50 %. A short presentation of the project was published as: Krigsbarna. Bakgrunn og søken etter egen identitet [The war children. Backgrounds and search for own identity], in: Stein Ugelvik Larsen (ed.), I krigens kjølvann: nye sider ved norsk krigshistorie og etterkrigstid. [In aftermath of the war: New perspectives on Norwegian war history and the post-warperiod], Oslo 1999, pp. 297–313. A monograph from the project is expected in 2011, but some additional results are published in: Ingvild C. Mochmann, Stein Ugelvik Larsen: “Children born of war”. The life course of children fathered by German soldiers in Norway and Denmark during World War II – some empirical results, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 33.1 (2008), pp. 347–363. See also Ingvild C. Mochmann, Stein Ugelvik Larsen: Kriegskinder in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18–19 (2005), pp. 34–38. A brief overview of the sampling process and the comparative project Denmark-Norway is given in footnote 3 in the article by Ingvild C. Mochmann, Arne Øland: Der lange Schatten des Zweiten Weltkriegs: Kinder deutscher Soldaten und einheimische Frauen in Dänemark, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 34.3 (2009), pp. 283–303. 7 A 3-year war child project in Oslo has published two main publications in Norwegian: Lars Borgersrud: Staten og Krigsbarna. En historisk undersøkelse av statsmyndighetenes behandling av krigsbarna i de første etterkrigsårene [The State and the war children. A historical analysis of how the state authorities dealt with the war children in the first post-war years], Oslo 2004, later republished as: Vi ville ikke ha dem. Statens behandling av de norske krigsbarna [We did not want them. State treatment of the Norwegian war children], Oslo 2005; Kjersti Ericson, Eva Simonsen: Krigsbarn i fredstid [War children in peace times], Oslo 2005, and one comparative volume: Kjersti Ericsson, Eva Simonsen: Children of World War II. The hidden enemy, Oxford 2005. A challenging social analysis was conducted by Dag Ellingsen: Krigsbarns levekår. En registerbasert undersøkelse [War children’s living conditions. An analysis based on registers], Oslo / Kongsvinger 2004, where he drew a sample of 1000 war children from the Lebensborn protocolls at the State Archives in Oslo and compared them with the life ways of the “average” Norwegians at the same age, by having access to the official register of the Norwegian census bureau. The “classical” and first general volume on the Norwegian situation is still the book by Kåre Olsen: Krigens barn. De norske krigsbarna og deres mødre [The children of the war. The Norwegian war children and their mothers], Oslo 1998.

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Let me first present the graph which illustrates the time-perspective. When did the war children become aware of their background as having a Germans soldier as their father? The graph tells us that many war children knew very early on that their father was a German soldier. However, between the late 1950s and the mid-1980s very few got new information on their “hidden” background. But in the mid-1980s, suddenly many got new information and found their identity.8 This period lasted until the turn of the millennium. For many war children this new identity became a very painful experience. By now they were in their late forties or early fifties, and some letters, papers or photos came to the surface. Those who they believed to be their parents were not their “right”, biological parents. They were either adopted by them or they were living with their grandparents. Those who already knew of their German decent started with the newly found information to search for their German family in both GDR and FRG.

Figure 1: „What year did you know that you were a war child?“ 8 In 1985 the parliament enacted a law giving access to archives for war children in Norway containing information about their background, basically the well documented protocols etc. for the Lebensborn organisation, kept in the National Archives in Oslo.

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The next graph tells the story of how the Norwegian war children started to search for their father or their father’s German family. Since the military policy in the Third Reich was to move forces from one front to another, many of the German fathers in Norway were sent to the Eastern or Western fronts after some time, where they eventually lost their lives or simply lost contact with the Norwegian mother and their new-born child. The graph illustrates the uneven but strongly growing activity among the war children to find their father or their father’s family. The search took many forms, from simple enquiries in the Norwegian archives, or contacts with the Red Cross or the Salvation Army. When the Norwegian War Children Society (NKBF) was formed in 1986, the search activities were accelerated. It was subsequently reduced to a very low level at the turn of the millennium. Perhaps this illustrates that by then most of them had found out, or given up their search.

Figure 2: „What year did you start to search for your father?“

However, the tendency to search for identity suddenly grew a couple of years after our survey had been completed. A strong mobilizing effort began among a particular section of the war children, the Norwegian Lebensborn Association, demanding compensation for the state’s neglect in protecting them from abuse through the hatred they had experienced in school and neighbourhoods, and for not having given them sufficient opportunities for proper education and later jobs.  Following a failed court process against the state in 2006, this mobilization

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succeeded in creating a mood among the Norwegian politicians and other public authorities so that an economic compensation system was established in 2006. The compensation demand­ed individual proofs and documentation, leading to a new search among the war children in archives and elsewhere to find the proofs needed. This new wave of search had therefore more to do with an economic motif than with finding one’s identity.

Figure 3: Number of contacts with the Norwegian State Archives in Oslo (based on information from the mail journal in the archives)

This graph shows the number of contacts with the Norwegian State Archives in Oslo concerning war children’s search for their German fathers. The archives were entrusted with the files from the Department of Social Affairs in 1980 to take care of all archival material and investigations on the war children’s backgrounds. Again we can see how the increase from the mid-1980s and decrease at the turn of the millennium compares well with graph two. But in the wake of the possible compensation plan, there is a sudden and huge increase in the number of war children looking for their German backgrounds and documentation of their upbringing.

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The daily life of war children: knowing their background or not What do we learn from the three graphs taken together? First of all: they fit into the patterns of stages of restorations when looking at the time war children knew of their identity, searched and looked for proofs. It would be inconceivable to think that the war children on a large scale, or their guardians, should start to look for their fathers and even search contact with them in the first two or three stages of the restorations. Many Norwegians hated them and some took out their hatred of the occupation as a form of revenge by heavy abuse. Others advanced the attitude that taboo and silence i.e. no-information was the best for everyone: When nobody knew, the pain would be less. Our survey reflected that schools were the most important institutions for exposure where mobbing or bullying took place; either during the time spent there, or on the way to and from school. There were “bad” teachers and also mature teachers who cared. There were “bad” schoolchildren and there were also friends who cared. This is very much the same as Barbara Stelzl-Marx says about the Austrian war children. It does not matter if your father was a German soldier in Norway or a Soviet soldier in Austria. Both were considered enemies in each of the occupied nations. One of the initial assumptions was that all the war children had suffered from their background; irrespective of whether they knew or did not know their identity. Several novels of fiction have placated such a role, and also some of the biographical books written by war children have deepened the impression: a dark picture of suffering and shame. Several of our questions were concerned with these assumptions. Table 1: „Were you aware of being a war child when growing up?“ Yes No Other answers Sum

Women     155 (68.9  %)      59 (26.6  %)       8 (3.6  %) 222 (100  %)

Men      70 (65.4  %)      30 (28.0  %)       7  (6.5  %) 107 (100  %)

Total      225 (68.4  %)       89 (27.1  %)       15  (4.6  %) 329 (100  %)

The table tells us that approximately two thirds (68.4 %) of the war children did know of their identity during primary school. There is almost no difference in “knowing” between boys and girls. This gives room for some speculation: Why is the sense of “enemy” identity similar be­ tween genders? I have no simple answer to this. One might have thought that boys were a more obvious target for “revenge”, and that girls were treated more gently. We were also very much interested in how sense of identity and bullying go together. A seemingly obvious expectation would be that the war children who knew their identity were bullied more than those who did not know of their background. The surprising conclusion is that there is almost no difference.

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Table 2: „Knowing and bullying“ Yes – did know war child identity

Normal – no problems Yes – being bullied

No – did not know

Other answers

Total

94 (43.5 %)

39 (45.9 %)

8 (32.0 %)

141 (43.3 %)

122 (56.5 %)

46 (54.1 %)

17 (68.0 %)

185 (56.7 %)

216 (66.3 %)

85 (26.1 %)

25 (7.7 %)

326 (100 %)

What we see from the table above is that there is almost no per cent-difference (ca. two per cent) between those reporting having been bullied or not, between the groups who knew of their war child background and those did not know. This means that whether or not you were bullied during growing up as a school child was not dependent on your biological identity. There were different questions we asked about what kind of mobbing and bad experiences the war children had and some were directly bullied because to their father’s background. But think of this situation: you may have been bullied because some of your schoolmates knew of your background but you did not knew yourself. Others knew, but you did not, and thus you could not defend yourself and take proper counter actions.

They came from every corner of the country Barbra Stelzl-Marx describes very well the conditions under which Austrian women were confronted with the occupying armies in 1945 and a long time afterwards. 380,000 Austrian men lost their lives in the war, leaving a large negative surplus of young women: there were 100 women to every 70 men. Around 400,000 Soviet soldiers invaded the country and 200,000 stayed as occupying forces and were subsequently reduced to 40,000 in the next ten years. In addition 75,000 British, 70,000 American and 40,000 French soldiers were stationed on Austrian soil for a shorter or longer period. This large number of soldiers – a maximum of 700,000 in the first phase –moved into towns, neighbourhoods, and the houses of private citizens ­across Austria. They did not only stay in camps, but where around everywhere. Thus love affairs and a small scale of half-hearted prostitution developed, as it did in most of the occupied countries. The “enemy soldier” was not always seen as an enemy by the women, even though several rapes were reported in Austria, not to mention the vast number of rapes in Berlin and the rest of Eastern Germany during the first phase of the advancement of Soviet troops in 1945.

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The situation in Norway being occupied for five years by the German Wehrmacht gave many opportunities for contact between the two sexes. The German soldiers were spread all over the country and many units stayed for a long time. They often lived in the same close relationships to the Norwegian civil population before 1945 as they did as Allied soldiers in Austria after 1945. The German army in Norway amounted to around 350.000 in 1945, but there must have been close to 500,000 different Germans soldiers stationed there for a shorter or longer time. From the relationships between women and men during these five years a maximum of 12,000 Norwegian war children were born. (We thus have a fraction of 12,000/500,000 = 0.024 in Norway as to ca. 8,000/700,000 = 0.011 in Austria. Norway had ca. 2.8 million inhabitants in 1940 while Austria had approximately seven million.) The birth of war children in Norway was definitely a regional phenomenon. The concept of Festung Norwegen involved a huge construction of fortifications all along the coast of Norway and even in the smallest communities there was a small contingent of German troops. The capital of Oslo and the larger cities had perhaps the highest contingents of German soldiers stationed, but an army can only lead the defence from cities, not fight from there. Thus war children were born in all corners of Norway which meant that most Norwegians from the moment of peace until today have an experience or a memory involving a war child. A very rough table, made some time after 1945, illustrates this spread in Norway.9 It is indeed uneven when compared with the population size of the different counties in Norway: the highest in the very far Northern counties Finnmark (80.1 war children per 10,000 inhabitants) and Troms (60.2) and the lowest in the rural Eastern counties of Hedemark (12.1 per 10,000). The very lowest is in the most sparsely populated county of the Western coast, Sogn og Fjordane (5.7 war children per 10,000 inhabitants). From very general knowledge of the spread of the German army in the last three years of the war, the largest contingents of German soldiers by far were concentrated in the very North, many on their way to the Eastern front, but many stationed within the very large fortifications build there, or in Navy installations or on ships. The large army and the many war children therefore go hand in hand. Why bring up the number and spread of the “enemy” army and the number and spread of the war children? This has to do with what we may call the “logistics” of the topic. The strong presence of occupying forces close to you, and the many war children born, spread across the country, bring specific elements to the Erinnerungskultur. This also concerns the shaping of the restoration processes and the “overcoming” process in general. If the numbers had been higher or lower, the “solutions” of the problems in the restoration would have been different as the policy of solving the challenges would have been different. 9 These data were collected from several reports collected by the Department of Social Welfare in 1946. There are, however, several reports missing that would give a true picture of the overall number of war children at the time. The regional distribution seems to give a reasonable spread of the actual situation.

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Table 3: Regional distribution of war children County

Number of war children

Per cent of all

Per 10,000 inhabitants

Østfold

226

3.0

12.7

Akershus

391

5.1

13.0

Oslo (capital)

531

7.0

18.6

Hedemark

205

2.7

12.1

Oppland

229

3.0

14.8

Buskerud

189

2.5

12.6

Vestfold

282

3.7

19.1

Telemark

169

2.2

12.8

Aust-Agder

163

2.1

21.8

Vest-Agder

264

3.5

28.1

Rogaland

556

7.3

27.5

Hordaland

808

10.6

27.9

(Bergen)

491





Sogn og Fjordane

55

0.7

5.7

Møre og Romsdal

458

6.0

25.0

Sør-Trøndelag

736

9.6

38.0

Nord-Trøndelag

356

4.7

33.7

Nordland

862

11.3

39.9

Troms

685

9.0

60.2

Finnmark

471

6.2

80.1

7636

100.0

24.2

Sum

402 402

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We experience something similar in Norway today with the asylum-seekers.  They have been growing in numbers during the last decade and they are regionally spread; a policy based on ideas of how to integrate them best and how to avoid ghettos. Their fate is often left “open” for months or years and lately we have seen that those who definitively have to leave were concentrated in a ghetto, started a rebellion and burnt down the asylum buildings. In general asylum seekers disclose their identity, but some purposely hide it from Norwegian authorities in order to avoid having to return home. The tasks and the questions raised concerning asylum seekers and war children are indeed very different in kind, but the “logistics” have some relevance to compare.

Summary: The need for comparative research In this paper I have sketched two different topics: restoration after great upheavals and war children’s identity. When we started our War Children and Identity Project in Bergen in 1997, we wanted to initiate a large-scale research program that would bring information to the public agenda in all countries over the world. This effort was to bring dignity to those children who were born by mothers and fathers on opposite sides of armed conflicts. And it was to show up the need for information during future conflicts globally. We even started a campaign to try to introduce an additional protocol to the UN Children Convention, particularly aiming at taking care of war children’s identity and rights.10 Slowly we can observe that there is some progress. Books and articles on war children have been published and several conferences have “opened up” public recognition of the difficulties encountered by war children in many countries. We are in the fifth restoration period, but the great differences among countries in taking up the topics show how difficult it still is to look into and even take actions to the benefit of the war children. It is also hard to get political support to take actions to introduce limited rules and statutes which on an international scale can secure a better growing up for those innocent children who are born out of conflicts. Such rules or statutes, internationally recognised, also need better empirical research and fine theoretical thinking as their foundation.

10 The topic is discussed and documented in the last Report from the War Children Identity Project published on: www.warandchildren.com. We took as a point of departure that the UN Convention of Children states the general and equal rights to all children when growing up. However, these rights can only be claimed if the children can identify themselves, usually within a national context. But the identification process – expressed as the “right to identity” – has no explicit formulae in the Convention. Therefore we proposed an additional protocol where the conditions and the instruments can be formulated.

Oliver Rathkolb

Die „longue durée“ autoritärer Einstellungen der österreichischen Gesellschaft 1978 und 2004/2008 Wie beharrlich autoritäre Einstellungen in einem formal funktionierenden demokratischen System auch noch 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren, zeigte die Autoritarismus-Studie der Linzer Historiker Josef Weidenholzer und Karl R. Stadler und von IFES aus dem Jahr 1978. Damals dominierten – am Höhepunkt der demokratiepolitisch positiven Umwelt- und Anti-AKW Bewegung („Zwentendorf “) – relativ hohe Zustimmungsraten zu Items über Verherrlichung bzw. Verharmlosung des Nationalsozialismus. 2004 und 2008, als ich Teile dieser Umfrage wiederholt habe, sind diese deutlich erodiert, aber keineswegs gänzlich verschwunden. Unter autoritärer Persönlichkeit1 verstehe ich in Anlehnung an die sozialwissenschaftliche Autoritarismusforschung einen Typus, der sich anhand mehrerer Einstellungsmuster folgendermaßen beschreiben lässt: Normenkonventionell: Gehorsam und absoluter Respekt gegenüber Autoritäten stehen hier im Vordergrund, wobei strenge Bestrafung bei Normverletzungen ebenfalls Teil dieses Faktors ist. Dazu gehört ein starkes formalistisches Rechtsstaatlichkeitsdenken. Bedeutsam sind auch eine repressive Sexualmoral und der Glaube an die Bedeutung von materiellem Reichtum. Immer wieder entzündet sich dieser Normenkonventionalismus an der Auseinandersetzung über moderne Kunst. Übertriebener Nationalismus ist ebenfalls stark ausgeprägt. Wunsch nach Macht und Stärke und Ablehnung/Verachtung des Schwachen: Dazu gehören der Ruf nach einem „starken Mann“, nach einem „Führer“, die Suche nach Sündenböcken und Feindbildern ( Juden, Fremde, Ausländer etc.), Antisemitismus und Verklärung des Zweiten Weltkriegs. Kennzeichnend ist überdies ein starker Irrationalismus, symbolisiert durch den Glauben an Astrologie oder unsichtbare Mächte. Sozialdarwinismus („der Tüchtige setzt sich durch“) gedeiht in einer derartigen Umwelt ebenso wie ausgeprägter Militarismus, die beide auch den Alltag und die sozialen Beziehungen prägen. Im Wissenschaftsbereich wird primär die angewandte Forschung als nützlich angesehen, Sozial- und Geisteswissenschaften hingegen gelten als „unnütz“ – außer sie dienen zur Legitimation des herrschenden Systems. Grundsätzlich sei festgehalten, dass latenter Autoritarismus an sich keineswegs automatisch autoritäre Regierungsformen bedingt und dass in formal gut funktionierenden Demokratien 1 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem sozialpsychologischen Ansatz zuletzt Susanne Rippl (Hg.): Autoritarismus – Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung, Opladen 2000, Detlef Oesterreich: Flucht in die Sicherheit. Zur Theorie des Autoritarismus und der autoritären Reaktion, Opladen 1996, sowie Anton Perzy: Dimensionen des autoritären Charakters. Eine empirische Studie zur Faschismus-Skala von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson und Sanford, phil. Diss. Univ. Wien 1993.

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durchaus starke autoritäre Einstellungen vorhanden sein können. Die USA der 1950er-Jahre, auf deren Vorurteilsstrukturen ja Autoritarismus-Befragungen generell basieren, sind ein gutes Beispiel für eine derartige Situation. Dies reflektieren beispielsweise die heftigen Auseinandersetzungen um die Aufhebung der Rassensegregation in den 1960er-Jahren, die beinahe zu einem neuen Bürgerkrieg im Süden der USA geführt hätten. Gleichzeitig waren aber die USDemokratie und vor allem eine engagierte Bürgerrechtsbewegung in der Lage, diese autoritäre Entwicklung allmählich zu ändern und ihr politisch entgegenzusteuern. Im Folgenden soll daher zusätzlich zum analytischen Vergleich der beiden Momentaufnahmen der öffentlichen Meinung im Jahr 1978 bzw. 2004/2008 eine neue Fragestellung untersucht werden, die über die klassische Reproduktion der Daten zu autoritären Einstellungen hinausgeht: Inwieweit sind derartige Verherrlichungen und positive Rekonstruktionen vergangener Diktaturen und autoritärer bzw. faschistischer Führer zugleich Indikatoren für aktuelle autoritäre Einstellungen und antidemokratische Grundhaltungen?2 Eine zweite, komplexere Fragestellung betrifft die Annahme, dass durch die Dekonstruktion von autoritären Geschichtsbildern auch derartige negative demokratiepolitische Grundeinstellungen reduziert werden können. Methodischer Ausgangspunkt ist eine bahnbrechende sozialwissenschaftliche Studie aus dem Jahr 1950, entwickelt von einer Gruppe deutscher und österreichischer Exilanten und Exilantinnen – so u.a. von Max Horkheimer und der österreichischen Exilantin Else FrenkelBrunswick3 – und den US-Amerikanern Daniel Levinson und Nevitt Sanford. Unter der Leitung von Theodor W. Adorno haben sie gemeinsam an der University of California in Berkeley ein Analyse- und Fragebogenmodell entwickelt.4 Heute haben wissenschaftshistorische Arbeiten gezeigt, dass Adornos Anteil geringer war als beispielsweise die theoretisch-methodischen Vorarbeiten von Erich Fromm in Berlin oder die Entwicklung der F(aschismus)-Skala von Sanford oder der Fragebogen sowie die tiefenpsychologische Expertise von Frenkel-Brunswick. Adorno selbst hielt letztlich nicht viel von dem empirischen Teil der Studie. Trotzdem firmiert ihre Pionierstudie unter Adornos Namen als erstgenannter Herausgeber und Projektleiter. 2 Diese direkte Korrelation wurde erstmals 2008 hergestellt. 3 Siehe dazu Else Frenkel-Brunswik: Studien zur autoritären Persönlichkeit. Ausgewählte Schriften, hg. und eingeleitet von Dietmar Paier, Graz / Wien 1996 (Bibliothek sozialwissenschaftlicher Emigranten, 3). 4 Theodor W. Adorno et al.: The authoritarian personality, New York ²1966; vgl. die 1973 erstmals erschienene Übersetzung der von Adorno mitverfassten Beiträge: Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 2001 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1182). Die Erstausgabe, die keineswegs alle Forschungsergebnisse bearbeitete, erschien 1950: Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson (in Zusammenarbeit mit Betty Aron, Maria Hertz Levinson u. William Morrow): The authoritarian personality, New York 1950 (Studies in prejudice, hg. v. Max Horkheimer u. Samuel H. Flowerman; The American Jewish Committee. Social studies series, 3). Kritisch zur Ausblendung politischer und sozioökonomischer Faktoren vgl. u.a. Thomas F. Pettigrew: Personality and sociocultural factors in intergroup comparison. A cross-national comparison, in: Journal of Conflict Resolution 2.1 (1958), S. 29–42.

Die „longue durée“ autoritärer Einstellungen der österreichischen Gesellschaft 1978 und 2004/2008

405

Ich bin mir bewusst, dass die Adorno’sche Autoritarismus-Theorie in den letzten Jahren seit Robert Altemeyer5 immer wieder infrage gestellt worden ist, für meinen Ansatz hingegen, der eher auf die Entwicklung und Rolle von Geschichtsbildern abzielt, ist sie durchaus valid. Bisher basierten Autoritarismusstudien primär auf soziologischen, psychologischen bzw. psychoanalytischen Fragestellungen; bei meinem Zugang sind erstmals Geschichtsbilder (als Teil von Geschichtspolitik) als zusätzliche Indikatoren für autoritäres bzw. demokratisches Potenzial relevant. Überdies halte ich historisches Kontextwissen über historische Rahmenbedingungen für andere Indikatoren des autoritären Potenzials für wesentlich, wenn es um Interpretationen von Veränderungen bzw. Beharrungstendenzen von Einstellungen zu Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Heterophobie sowie Demokratiefeindlichkeit geht. Während die Geschichtswissenschaft zwar immer in den Interpretationszusammenhang mit den Ergebnissen von Autoritarismusstudien gebracht wurde, wird sie von der Sozialwissenschaft nicht als eigenständiger Analysefaktor in den Forschungsprozess über Autoritarismusnachweise integriert, d.h., autoritäre Regime verherrlichende Geschichtsbilder sind auch Indikatoren für autoritäre Einstellung.

Demokratisches Potenzial nach 1945 Bevor ich auf die skizzierten Fragen näher eingehe, möchte ich kurz Traditionen des Autoritarismus in Österreich historisch skizzieren. Vor allem US-Experten und -Wissenschaftler versuchten nach 1945 in den amerikanischen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs sowie in Japan und Korea das demokratische Potenzial der jeweiligen Friedensgesellschaften auszuloten und durch konkrete Maßnahmen zu steigern  – anfangs ohne automatische antikommunistische Reorientierungsstrategie. Ab 1946 begannen antikommunistische Zielausrichtungen zu dominieren; die reformerisch angelegte Auseinandersetzung mit den autoritären Kontinuitäten aus der NS-Zeit und davor trat zunehmend in den Hintergrund. Aus dem Blickwinkel der Geschichtspolitik zur Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Faschismus und Holocaust bedeutet dies, dass ein wesentliches Element zur Dekonstruktion autoritärer Kontinuitäten im Einstellungsbereich zumindest einer bis zwei Generationen „eingefroren“ und festgeschrieben blieb. Dieser Fortschreibungsprozess von positiven Erinnerungen an Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg wurde verstärkt, da gleichzeitig sowohl in Deutschland als auch in Österreich in den jeweiligen US-Zonen politische Apathie tonangebend war, wie die nachfolgende Umfragetabelle zeigt – mit einer Ausnahme: Im Hotspot des Kalten Krieges in Berlin war durchaus eine höhere Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Politik feststellbar.

5 Robert Altemeyer: The authoritarian specter, Cambridge, Mass. 1996.

Oliver Rathkolb

406 406

Tabelle 1: „Machen Sie sich jemals Gedanken über Politik oder überlassen Sie das lieber anderen?“ Wien

Deutschland

Amerikanische Zone

Berlin

Amerikanische Zone Amerik. und brit. Zone

Mai 1947

Nov. 1947

Aug. 1947

Mache mir Gedanken

Aug. 1947

31,6 %

35,1 %

35 %

55 %

Überlasse es anderen

67,2 %

63,9 %

64 %

45 %

Keine Ahnung

1,2 %

1%

1%

0%

Gesamt

100 %

100 %

100 %

100 %

Quelle: National Archives, College Park (MD), RG 260, Box 86, Bericht 15, 1. Dezember 1947.

Dementsprechend nostalgisch war auch in Österreich die Auseinandersetzung über den Nationalsozialismus, wobei beispielsweise im Dezember 1947 sogar 51 % der Befragten meinten, dass der Nationalsozialismus eine gute Idee, aber schlecht ausgeführt war – zwischen September 1946 und Februar 1948 lag die durchschnittliche Zustimmungsrate bei 37,2 %.6 Tabelle 2: „Glauben Sie, dass der Nationalsozialismus eine schlechte Idee war oder eine gute Idee, die nur schlecht durchgeführt wurde?“ Zeitpunkt Okt. 1946 Aug. 1947 Okt. 1947 Nov. 1947 Dez. 1947 Jän. 1948 Feb. 1948

schlechte Idee 51,00 % 31,60 % 46,40 % 48,90 % 38,10 % 44,20 % 41,40 %

gute Idee, schlecht durchgeführt 27,00 % 38,70 % 30,40 % 40,50 % 51,00 % 41,40 % 40,60 %

keine Meinung 22,00 % 29,70 % 23,20 % 10,60 % 10,90 % 14,40 % 18,00 %

Quelle: National Archives, College Park (MD), RG 260, Box 86, Bericht 15, 1. Dezember 1947.

Die Ablehnungsrate (NS = schlechte Idee) oszillierte zwischen 51 % (Okt. 1946) und 31,6 % (Aug. 1947), im Durchschnitt 42,6 % – eine knappe Mehrheit, bei Meinungslosen zwischen 10,6 % und 29,7 %, wobei ab November 1947 die Meinungslosigkeit deutlich zurückgeht. Bei aller Quellenkritik an diesen Umfragen zeigt sich doch, dass eine durchaus starke unreflektierte NS-Nostalgie auch 1947 und gerade 1948 in der politischen Kultur der Zweiten Republik spürbar war. 6 Heinz P. Wassermann: Naziland Österreich!? Studien zu Antisemitismus, Nation und Nationalsozialismus im öffentlichen Meinungsbild, Innsbruck et al. 2002 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, 2), S. 136–137.

Die „longue durée“ autoritärer Einstellungen der österreichischen Gesellschaft 1978 und 2004/2008

407

Natürlich erreichten diese Umfragen der 1940er-Jahre nicht die Tiefe und Aussagekraft der späteren Authoritarian Personality-Studien – es wurden auch keine Einzelinterviews dazu geführt. Trotzdem sind diese Ergebnisse deutliche Indikatoren, dass die österreichische Gesellschaft in den wenigen Jahren demokratischer Erfahrungen vom 12. November 1918 bis zum 4. März 1933, also von der Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich bis zur Zwangsauflösung der parlamentarischen Demokratie nach einer Geschäftsordnungskrise des Nationalrates, relativ wenig an autoritären Einstellungen abgebaut hat. Bekanntlich ist auf dem Staatsgebiet des heutigen Österreich die Revolution des Jahres 1848 nicht erfolgreich gewesen, und auch die Entwicklung des Parlamentarismus und Wahlrechts war ein Produkt längerfristiger gesellschaftlicher Kompromisse gewesen. Trotz Verfassungsdebatten seit 1848/1849 und dem Staatsgrundgesetz von 1867 dominierte der Neoabsolutismus.  Der Reichsrat selbst blieb  – sogar nach der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts 1907 – in seiner Arbeit marginalisiert, die Regierung wurde vom Kaiser ernannt, der seinerseits über ein umfassendes Notverordnungsinstrumentarium verfügte, falls der Reichsrat nicht die gewünschten Gesetze erlassen sollte. Auch wurden durch die Wahlkreiseinteilung die deutschsprachige Bevölkerung bevorzugt und andere Nationalitäten – insbesondere die Ruthenen – benachteiligt. Überdies verstärkte der Antisemitismus im Wahlkampf, vor allem vonseiten der christlich-sozialen und deutschnationalen Parteien, eine weitere Ausgrenzungstendenz. Selbst in dieser Phase der formalisierten Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg war auch der Schul- und Erziehungsbereich nach wie vor von stark autoritären Strukturen geprägt – trotz vereinzelter Reformversuche. Das autoritäre Dollfuß-Schuschnigg-Regime zerstörte schließlich jegliche demokratische Entwicklung und etablierte eine Kanzler-Diktatur mit entsprechenden Führer- und Einheitsparteistrukturen, eine Schimäre, die der noch wesentlich radikalere Nationalsozialismus endgültig zerschlug. Selbst in der Demokratisierung nach 1945 blieben latent Diktaturen zugewandte Ideologiemuster präsent. So testete die US-Besatzungsadministration in ihren Zonen in Wien, Linz und Salzburg im Juni 19487 die „Beliebtheit“ des Kommunismus und des Nationalsozialismus, wobei drei Jahre nach Kriegsende von 26,4 % in Linz über 35,6 % in Wien bis zu 43,2 % in Salzburg offen zugunsten des Nationalsozialismus votierten. Sowohl in Wien als auch in Salzburg bekannten sich knapp über 50 % der Befragten zu „weder noch“, nur in Linz war das Ergebnis gegen autoritäre Ideologien noch stärker (62,8 %). In einer anderen Befragung sprachen sich 39,3 % für eine Demokratie aus und 23,7 % für eine sozialistische Republik (worunter hier die meisten eine sozialdemokratisch regierte, antikommunistische Republik verstanden haben, hingegen die US-Befrager ein kommunistisches Regime), 3,3 % traten für eine Diktatur ein, und beachtliche 15,9 % für die Monarchie, bei 17,8 % an Meinungsenthaltung. Insgesamt gesehen war im Jahre 1948 die Demokratie in Österreich nicht die bevorzugteste Regierungsform, wenn alle Diktaturformen (inklusive 7 Oliver Rathkolb: NS-Problem und politische Restauration: Vorgeschichte und Etablierung des VdU, in: Sebastian Meissl, Klaus-Dieter Mulley, Oliver Rathkolb (Hg.), Verdrängte Schuld  – Verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, Wien 1986, S. 73–99, hier 75 f.

408 408

Oliver Rathkolb

der autoritären Monarchie) zur Auswahl gestellt und die Antworten zusammengezählt werden. Die österreichische Konkordanzdemokratie, die auch gerne als Proporzdemokratie bezeichnet wurde, war sowohl ein Ergebnis innerösterreichischer, aber auch geostrategischer Zwänge in einem Land, in dem zuletzt 1932 gewählt worden war, und das vor der Sisyphos-Aufgabe stand, sofort die Abtrennung von Deutschland und den Aufbau eigener kleinstaatlicher Strukturen durchzuführen sowie ein republikanisches System mit Status vor 1933 zu etablieren. Typisch für Österreich ist, dass die „Revolution“ von 1968, wie dies Fritz Keller treffend formuliert hat, im universitären-studentischen Umfeld höchstens eine „heiße Viertelstunde“ gewesen ist. Demokratisierungsinitiativen sollten auch die Basis für den Erfolg der KreiskyRegierungen schaffen, nach dem bereits Josef Klaus und sein Team durchaus als „Modernisierer“ angesehen wurden, die gesellschaftliche Öffnung und den Abbau autoritärer Strukturen aber nicht eingelöst haben. Das generelle gesellschaftliche Gefühl, die traditionellen autoritären gesellschaftlichen Strukturen in vielen Bereichen  – von der Familie bis zu den Universitäten – aufzubrechen, war aber vergleichsweise intensiv präsent und wurde vor allem von Bruno Kreisky und der SPÖ sehr geschickt angesprochen. Teilweise hing diese Reduktion der 68er-Bewegung auf ein „Mailüfterl“ (Fritz Keller) mit der starken Prägung der Gesellschaft durch den Kalten Krieg zusammen.8 Auch waren die ordnungspolitischen Kontinuitäten bei fehlenden revolutionären Traditionen (abgesehen von der erfolglosen 1848er-Revolution) und die katholische Prägung mit klaren hierarchischen Unterordnungssystemen in Österreich stärker als in der Bundesrepublik Deutschland ausgeprägt. Bruno Kreisky und seine Regie­ rung übernahmen zwar manche der inhaltlichen Themen der 68er-Bewegung (z.B. mit einer Radikalreform im Universitätsbereich durch die Mitentscheidungskompetenz für Studierende und Mittelbau in den 1970er-Jahren), kritisierten aber gleichzeitig heftig öffentliche Demons­ trationen und Provokationen – auch mancher SPÖ-affiner Jugendlicher.

Ausgangsfallstudie Österreich 1978–2004–2008 9 In den heute manchmal demokratiepolitisch verklärten 1970er-Jahren waren autoritäre Kontinuitäten stark und höchst wirksam, wie die bereits erwähnte, von den Linzer Historikern Karl R. Stadler und Josef Weidenholzer mit IFES im Mai 1978 umgesetzte Umfrage zeigte. Eine Ende 2004 vom Autor in Auftrag gegebene Wiederholung von Teilen der Umfrage über autoritäre Einstellungen in Österreich zeigte sehr deutlich eine grundsätzliche demokratiepolitische Weiterentwicklung.   8 Vgl. Oliver Rathkolb, Friedrich Stadler (Hg.): Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre, Göttingen 2010.   9 Der Autor dankt Univ.-Prof. Dr. Josef Weidenholzer und der Geschäftsführerin von IFES, Dr. Imma Palme, für die Originalberichte: Institut für empirische Sozialforschung (IFES): Vergangenheits-Bewältigung oder Wie autoritär ist der Österreicher? Ein empirischer Bericht, 2 Teile, Wien 1978 (IFES-Bericht, 565/78). Teile der Studie sind zuletzt abgedruckt bei Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2010, Innsbruck / Wien 2011 (Haymon-Taschenbuch, 67), S. 46–47.

Die „longue durée“ autoritärer Einstellungen der österreichischen Gesellschaft 1978 und 2004/2008 Autoritarismus-Skala 1 gereiht nach den psychologischen Dimensionen von 1978

409

oberer Balken: 2004 unterer Balken: 1978

Autoritäre Unterwürfigkeit Gehorsam u. Respekt gegenüber Autoritäten sind wichtige Tugenden die Kinder lernen sollten Es wäre nicht das Schlechteste, es käme wieder ein kleiner Hitler

Verantwortungsscheu Politische Unruhen i.d. Entwicklungsländern gehen uns Europäer nichts an Konventionalismus Nur in ihrer natürlichen Rolle als Hausfrau und Mutter kann eine Frau wirklich Erfüllung finden

Verbrecher werden heute viel zu milde behandelt Irrationalismus (Aberglaube) Eines Tages wird sich zeigen, dass die Astrologie vieles zu erklären vermag Betonung der Macht u. Stärke Menschen kann man in zwei Klassen Teilen: in Starke und Schwache   1+2 = stimme ich (voll) zu 

  3 

  4 

  5+6 = lehne ich (voll) ab 

  k.A.

Abb. 1: Autoritarismus-Skala 1

1420 Personen ab fünfzehn Jahren, ausgewählt nach einem Stratified Multistage Clustered Random Sampling, wurden im August und September 2004 von IFES im Auftrag des Projektleiters befragt.10 Bemerkenswert ist, dass zwar bei der Eingangsbehauptung, „Gehorsam und Respekt gegenüber Autoritäten sind wichtige Tugenden, die Kinder lernen sollten“, eine relative Kontinuität gegeben war (2004: 68 % Zustimmung zu 74 % im Jahre 1978), dass aber autoritäre Codes wie Wiedereinführung der Todesstrafe, Verantwortungsscheu oder die Betonung der Teilung der Gesellschaft in Starke und Schwache deutlich im Rückgang begriffen waren. Bei Fragen nach der NS-Vergangenheit fand der Satz: „Es wäre nicht das Schlechteste, es käme wieder ein Hitler“, deutlich weniger Zuspruch (84 % Ablehnung zu 62 % im Jahre 1978; damals stimmten hier noch 19 % zu, heute 4 %). Dies traf auch auf die „Verklärung der NSVergangenheit“ zu: Auf die Formulierung „Sicherlich hat es Entgleisungen im Dritten Reich gegeben, aber sechs Millionen Juden wurden nicht umgebracht“ gab es 61 % Ablehnung bei nur 5 % Zustimmung (gegenüber 35 % Ablehnung und 21 % Zustimmung im Jahre 1978). Dass gerade in diesem Bereich aber noch immer eine Bandbreite für Revisionismus gegeben ist, zeigt das Ergebnis auf die Fragestellung: „Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren 10

Institut für empirische Sozialforschung (IFES): Autoritarismus. Berichtsband, Projektnummer: 27158002, Wien 2004.

Oliver Rathkolb

410 410 Autoritarismus-Skala 2 gereiht nach den psychologischen Dimensionen von 1978

oberer Balken: 2004 unterer Balken: 1978

Projektion Wenn es zu Auswüchsen des Kapitalismus kommt, dann sind daran meistens die Juden Schuld Verklärung der NS-Vergangenheit Sicher hat es im Dritten Reich Entgleisungen gegeben, aber 6 Millionen Juden wurden nicht umgebracht Autoritäre Aggressionen Nur durch die Wiedereinführung der Todesstrafe kann dem Terrorismus Einhalt geboten werden

Wenn man Asoziale und Gauner loswerden könnte, wären die meisten unserer gesellschaftl. Probleme gelöst Gewisse Typen von ausl. Jugendlichen, so richtig verwahrlosten Gammlern, sollte die Einreise nach Österreich glatt verweigert werden Männer, die sich als Frauen verkleiden (Transvestiten) und solche, die sich unzüchtig an Jugendliche heranmachen, sollen streng bestraft werden Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen nicht ganz unschuldig   1+2 = stimme ich (voll) zu 

  3 

  4 

  5+6 = lehne ich (voll) ab 

  k.A.

Abb. 2: Autoritarismus-Skala 2

Verfolgungen nicht ganz unschuldig“: 2004 gab es hier 52 % volle Ablehnung und 12 % volle Zustimmung, 1978 nur 29 % volle Ablehnung und 25 % Zustimmung. Der Wiedereinführung der Todesstrafe, „um Terrorismus Einhalt zu gebieten“, stimmten 1978 – auf dem Höhepunkt der Justizreformen – 60 % voll und ganz zu, 2004 hingegen (trotz 11. September) nur mehr 12 %; 66 % lehnten dies voll und ganz ab, 1978 waren es nur 19 %. Dass bei Migrationsbezügen nach wie vor Vorurteile vorhanden sind, zeigen die relativ ähnlichen Zustimmungsraten auf die Frage, ob verwahrlosten ausländischen Jugendlichen die Einreise zu verweigern sei: 2004 stimmten 45 % eindeutig zu, nur 21 % lehnten dies voll und ganz ab. 1978 war die entsprechende Relation 68 % zu 16 %. Auch sexueller Missbrauch von Jugendlichen sollte nach wie vor streng bestraft werden: 2004 42 % Zustimmung, 1978 67 %, wobei die absolute Ablehnungsrate fast gleich geblieben ist: 13 % gegenüber 12 %. Beide Themen – Migration und Kriminalität sowie sexueller Missbrauch von Minderjährigen – wurden im Erhebungszeitraum intensiv medial und politisch diskutiert. Ein deutlicher Durchbruch ist hingegen bei der Stellung der Frau gelungen: 1978 plädierten noch 51 % für die „natürliche Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter, in der sie Erfüllung

Die „longue durée“ autoritärer Einstellungen der österreichischen Gesellschaft 1978 und 2004/2008

411

finden kann“, 2004 nur mehr 13 %; die Ablehnungsrate ist von 16 % auf 65 % gestiegen. Die Erfahrungen der Autoritarismusforschung, die inzwischen mehrfach in Deutschland und Österreich auf Rechtsextremismuseinstellungen und Ausländerfeindlichkeit angewandt wurden,11 sind nicht unumstritten. Vor allem müssen zusätzliche qualitative Analysetools – wie stichprobenartige direkte ausführliche Befragungen  – angewandt werden, um Verzerrungsprobleme zu lösen. 2008 habe ich von SORA die Umfrage nochmals im Rahmen eines vom Zukunftsfonds und Bundeskanzleramt finanzierten Projektes12 in Österreich durchführen lassen, wobei sich doch bei einzelnen Indikatoren eine Art „Rückkehr“ zu autoritäreren Einzelpositionen zeigte. Im Rahmen dieses Forschungsprojektes, in dem zum Vergleich auch die autoritären Einstellungen in Tschechien, Ungarn und Polen abgefragt wurden, wurde „Autoritarismus“ als eine Disposition des Individuums definiert, die über verschiedene Ausprägungen nachweisbar ist und als „autoritäre Aggression“ und „autoritäre Submission“ gemessen wird. Diese Differenzierung ist vor allem auf neuere Forschungen zum Autoritarismus zurückzuführen. Im Vergleich mit den anderen drei Ländern sind diese Dispositionen in Österreich seltener anzutreffen. Generell zeigen die Umfrageanalysen,13 dass Alter inzwischen eine wichtige Interpretationskategorie für autoritäre Einstellungen geworden ist: je jünger, desto weniger Tendenzen für autoritäre Einstellungen sind messbar. Dabei ist bemerkenswert, dass der Bildungsgrad keine Rolle spielt. Dagegen spielt der Bildungsgrad innerhalb der Generationskohorten eine essenzielle Rolle, d.h., je gebildeter desto geringer die Tendenz zu autoritären Einstellungen innerhalb einer Altersgruppe. Sowohl Alter als auch Bildung sind in Österreich und Polen wichtigere Erklärungsfaktoren als in Tschechien und Ungarn. Autoritäre Einstellungen lassen sich nicht nur als aggressive oder unterwerfende Dimensionen nachweisen, sondern auch in Form von „Anomie“, d.h. Orientierungslosigkeit und dem Gefühl politischer Machtlosigkeit. In allen vier Ländern zeigte sich,14 dass der Indikator „autoritäre Unterwürfigkeit“ die Orientierungslosigkeit der befragten Personen verstärkt. Überdies 11 Siehe für Österreich zuletzt Günther Rathner: Autoritarismus als notwendige Bedingung von Fremdenfeindlichkeit in Österreich. Projektbericht, Innsbruck 2001. Vgl. dazu Detlef Oesterreich: Autoritäre Persönlichkeit und Gesellschaftsordnung. Der Stellenwert psychischer Faktoren für politische Einstellungen: eine empirische Untersuchung von Jugendlichen in Ost und West, Weinheim / München 1993, zuletzt Christian Hummer: Ethnozentrismus und Autoritarismus bei Jugendlichen. Einstellungen im Wandel der Zeit sowie alternative Erklärungsansätze eines Einstellungssyndroms. Eine empirische Studie, Diplomarb. Univ. Wien 2003. Zum Verhältnis Antisemitismus und Autoritarismus siehe: Angela Kindervater: Antisemitismus und Autoritarismus.  Die Beschreibung von zwei sozio-politischen Einstellungen von 15 bis 18-jährigen Schülern – ein Beispiel von Österreich, Hausarb. Univ. Hamburg 1995. Grundsätzlich zum Thema: Gerda Lederer: Jugend und Autorität. Über den Einstellungswandel zum Autoritarismus in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, Opladen 1983. 12 Dieses Projekt wurde auch großteils publiziert, nicht aber die Ergebnisse zu der Wiederholung von Teilen der 1978erUmfrage, die erstmals hier veröffentlich werden. Vgl. Oliver Rathkolb, Günther Ogris (Hg.): Authoritarianism, history and democratic dispositions in Austria, Poland, Hungary and the Czech Republic, Innsbruck / Wien / Bozen 2010. 13 Rathkolb, Ogris, Authoritarianism, S. 25. 14 Ebda., S. 27.

Oliver Rathkolb

412 412

Abb. 3: Autoritarismus-Skala für Österreich (1978 / 2004 / 2007)

Wenn man Asoziale und Gauner loswerden könnte, wären die meisten unserer gesellschaftlichen Probleme gelöst. Nur in ihrer natürlichen Rolle als Hausfrau und Mutter kann eine Frau wirkliche Erfüllung finden. Verbrecher werden heute viel zu milde behandelt.

Menschen kann man in zwei Klassen teilen: in Starke und Schwache.

  1+2 = stimme ich (voll) zu 

  3 

  4 

  5+6 = lehne ich (völlig) ab 

  weiß nicht

Abb. 4: Ländervergleich Autoritarismus (Österreich, Tschechien, Ungarn, Polen, alle 2008)15

Es hilft einem Kind im späteren Leben, wenn es gezwungen wird, sich den Vorstellungen seiner Eltern anzupassen. Wir sollen dankbar sein für führende Köpfe, die uns genau sagen, was wir zu tun haben. Verbrechen sollten härter bestraft werden

Um Recht und Ordnung zu bewahren sollte man härter gegen Außenseiter und Unruhestifter vorgehen   1+2 = stimme ich (voll) zu 

  3 

  4 

  5+6 = lehne ich (völlig) ab 

  weiß nicht

tendieren diese Personen auch dazu, eher spezifische Formen des neuen politischen Autoritarismus (z.B. Streikverbote) zu akzeptieren. Gleichzeitig suchen jene, die sich orientierungsund machtlos fühlen, „Sündenböcke“ für ihre Situation und finden diese bei Minderheiten, deren Rechte ihrer Meinung nach durchaus auch eingeschränkt werden sollten. 15 Die relativ hohen Werte an Anomie lassen sich durchaus vor dem Hintergrund der Transformationsprobleme in der Etablierung neuer sozioökonomischer und politischer Strukturen nach 1989/90 interpretieren. Dazu kommt ein europaweiter Trend der politischen Apathie als 15 Rathkolb, Ogris, Authoritarianism, S. 27 und S. 40–41. Die nachfolgende Tabelle stammt aus dem von Sabine Westphal zusammengestellten unpublizierten Projektzwischenbericht „Historische totalitäre Erfahrungen, autoritäres Potential und demokratische Werte in Österreich, Polen, Ungarn und Tschechien“, Wien, Juni 2008, S. 34.

Die „longue durée“ autoritärer Einstellungen der österreichischen Gesellschaft 1978 und 2004/2008

Abb. 5: Ländervergleich Anomia16

413

Es ist heute alles so in Unordnung, dass niemand mehr weiß, wo man eigentlich steht.

Die Dinge sind so schwierig geworden, dass man nicht mehr weiß, was los ist.

Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut.

  1+2 = stimme ich (voll) zu 

  3 

  4 

  5+6 = lehne ich (völlig) ab 

  weiß nicht

Folge von Globalisierungseffekten und politischen Entscheidungsmechanismen, die für viele Menschen nicht mehr nachvollziehbar und transparent erscheinen. Gerade durch die jüngste Weltwirtschafts- und Finanzkrise wird dieser Effekt noch verstärkt. 16 Die Positionen zu Rechten von Minderheiten wurden ebenfalls im Ländervergleich abgefragt. Die höhere relative Ablehnung von Minderheitenrechten in Österreich und der Tschechischen Republik im Vergleich mit Ungarn und Polen hängt mit der auch spezifischen nationalen Minderheitendebatte im nationalen Umfeld zusammen. In Österreich sind hier durchaus auch Reste des Nationalitätenkonflikts der Habsburgermonarchie und die Frage der Kärntner Slowenen und Sloweninnen und deren Rechte nach dem Staatsvertrag relevant. Generell ist in Österreich – übrigens auch aus der Monarchie hergeleitet – ein starker politischer und soziokultureller Trend zur Assimilation sichtbar, der auch seit 1989/90 in der heftigen Migrationsdebatte immer wieder klar akzentuiert und gefordert wird.17 Dies ist übrigens ein allgemeiner europäischer Trend, der nur in Großbritannien oder in Kanada und den USA durch eine diversifiziertere Integrationspolitik durchbrochen wird. In der tschechischen Gesellschaft ist die Zustimmungsrate ein Ergebnis der Furcht vor etwaigen Restitutionsansprüchen vertriebener „Sudetendeutscher“ oder ihrer Erben sowie ein Nachwirken des Traumas von „München 1938“ und der Zerschlagung der demokratischen Tschechoslowakei. Was den neuen politischen Autoritarismus betrifft, d.h. den behördlichen Eingriff in die Bürgerrechte durch Telefonüberwachung, Computeronlinedurchsuchung etc., so zeigen sich Unterschiede, die in den verschiedenen historischen Erinnerungen an Diktaturen begründet liegen. Während in den ehemals kommunistischen Diktaturen Ansätze des Überwachungs16 Westphal, Projektzwischenbericht, S. 36. 17 Vgl. dazu Patrick Volf, Rainer Bauböck (Hg.): Wege zur Integration. Was man gegen Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit tun kann, Klagenfurt 2001.

Oliver Rathkolb

414 414 Traditionelle Minderheiten sollten das Recht haben … … eigene Vereinigungen und Organisationen zu gründen, um ihre Kultur zu fördern.

… auf Zeitungen, Radio und Fernsehen in ihrer eigenen Sprache.

… auf Schulunterricht in ihrer eigenen Sprache.

… auf Repräsentanten in lokalen, regionalen und Regierungsorganisationen.

  1+2 = stimme ich (voll) zu 

  3 

  4 

  5+6 = lehne ich (völlig) ab 

  weiß nicht

Abb. 6: Ländervergleich Minderheitenrechte

staates kritischer gesehen werden, gibt es nur in Österreich, wo die letzte Diktaturerfahrung über 64 Jahre zurückliegt, eine relative Zustimmung.18 Umfassende Bildung steigert die Ablehnung neuer Formen der polizeilichen und behördlichen Überwachung – weniger in Österreich und überhaupt nicht in Tschechien. Trotz Änderungen in Richtung einer kritischeren Reflexion des Nationalsozialismus, des Holocaust und des Antisemitismus besteht in Österreich weiterhin eine direkte Korrelation zwischen aggressiven autoritären Einstellungsbildern und der Abwehr bzw. Verharmlosung des Holocaust.

Überreste der verschiedenen Formen des Führerkults Dass Personen mit autoritären Einstellungen auch deutlichere Tendenzen zur Verklärung von historischen Diktatoren aufweisen, zeigte sich vor allem in Österreich. Bewunderer von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der 1933 nach einer Geschäftsordnungskrise das Parlament aufgelöst und den Bürgerkrieg des Februar 1934 mitzuverantworten hatte, wiesen eine stärkere 18 Rathkolb, Ogris, Authoritarianism, S. 32–34.

Die „longue durée“ autoritärer Einstellungen der österreichischen Gesellschaft 1978 und 2004/2008

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Österreicher/Tschechen/Ungarn/Polen tragen Mitverantwortung an den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges.

Österreicher/Tschechen/Ungarn/ Polenwaren für das Schicksal der Juden zwischen 1938 und 1945 mitverantwortlich.

Viele Österreicher/Tschechen/Ungarn/ Polen zogen Nutzen aus der Ermordung von Juden.

  1+2 = stimme ich (voll) zu 

  3 

  4+5 = lehne ich (völlig) ab 

  weiß nicht

Abb. 7: Ländervergleich Zweiter Weltkrieg (Faktor „Mitverantwortung und Schuld“)19

Tendenz zu submissiver autoritärer Einstellung auf. Im Gegenzug sahen jene, die für Minderheitenrechte eintraten, Dollfuß eher als Zerstörer der Demokratie. Jene, die Dollfuß als Märtyrer einstuften, votierten wiederum deutlicher gegen Minderheitenrechte. 19

Bundeskanzler Dollfuß verdient große Bewunderung   1+2 = stimme ich (voll) zu 

  3 

  4 

  5+6 = lehne ich (völlig) ab 

  weiß nicht

Abb. 8: Dollfuß-Bewunderung in Österreich

Ohne hier weiter in die Tiefe der Analyse der anti-demokratischen und anti-parlamentarischen Einstellungen gehen zu können, möchte ich doch anhand eines allgemeinen Beispiels zeigen, wie wichtig die Reflexion über „Führersehnsucht“ heute ist. Ausgangspunkt und Basismaterial ist die europäische Wertestudie 1999 bzw. 2008, in deren Rahmen auch Fragen zu Demokratie, Expertenregierung, Militärregierung und Diktatur („having a strong leader“) gestellt wurden, wobei in Österreich sowohl nach starkem Mann als 19 Westphal, Projektzwischenbericht, S. 43, und Rathkolb, Ogris, Authoritarianism, S. 28–30.

416 416

Oliver Rathkolb

auch starkem Führer abgefragt wurde.20 Bemerkenswert ist, dass in Österreich die Wortwahl die Antworten durchaus beeinflusst. Während 1999  15,7 % der Satz „Man sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um ein Parlament und um Wahlen kümmern muss“ mit gut bzw. 2,9 % mit sehr gut befunden haben, waren dies in derselben Umfrage bei der Formulierung „starker Mann“ 19,6 % Zustimmung. 2008 gibt es für den „starken Führer“ sogar schon rund 20 % Zustimmung. Auch vor dem Hintergrund der oben angeführten eigenen Forschungen in einem Team zum Thema „Authoritarianism, History and Democratic Dispositions in Austria, Poland, Hungary and the Czech Republic“ zeigt sich, dass der Autoritarismus in Österreich – trotz Rückgangs seit 1978 – nach wie vor bis zu 20 % der Wähler und Wählerinnen in Form eines antiparlamentarischen Systems mit einer Ein-Mann-Diktatur durchaus anspricht. Wer in der Gegenwart die gesellschaftlichen und politischen Diskurse über Migranten und Migrantinnen sowie über nationale Fremd- und Eigenzuschreibungen analysiert, wird aber feststellen müssen, dass es häufig eine Korrelation zwischen tradierten Geschichtsbildern und historischen Vorurteilen gibt, die weit in das 19. Jahrhundert und darüber hinaus zurückgehen. Je stärker die ökonomische Krise die Wohlstandsgesellschaften, aber auch die Transformationsgesellschaften Europas trifft, umso heftiger wird diese geschichtspolitische Auseinandersetzung werden – bei gleichzeitigem Anstieg des Migrationsdrucks. In diesem Sinne kann eine aktuelle kritische Reflexion über die Wurzeln von Totalitarismus und die Grundvoraussetzungen für funktionierende demokratische Systeme dazu beitragen, den „neuen politischen Autoritarismus“, der durch die Sehnsucht nach neuen „Führern“, „kurzen“ Entscheidungsprozessen, den Ruf nach mehr Polizeigewalt und Kontrolle sowie die populistische Reproduktion von Nationalismen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geprägt ist, offenzulegen und kritisch zu diskutieren.

Schlussfolgerungen Abschließend möchte ich noch folgende Hypothese aufwerfen: Je kritischer die Auseinandersetzung mit autoritären nationalen Vergangenheiten, desto geringer sind autoritäre Einstellungen ausgeprägt. Ausgehend von unseren Untersuchungsergebnissen in der 2008 durchgeführten Umfrage in Österreich wird deutlich, dass tendenziell eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, dass Personen mit aggressiv autoritären Einstellungen gleichzeitig auch unkritische bis verherrlichende Geschichtsbilder über autoritäre bis faschistische historische Entwicklungen (Dollfuß-Schuschnigg-Regime, Nationalsozialismus und Holocaust) vertreten. Einen wichtigen Indikator für meine These, dass eine kritische Geschichtspolitik gegenüber autoritären Vergangenheiten auch die demokratischen Grundeinstellungen fördert, lie20 Vgl. dazu Christian Friesl, Ursula Hamachers-Zuba, Regina Polak (Hg.): Die Österreicher-innen. Wertewandel 1990–2008, Wien 2009.

Die „longue durée“ autoritärer Einstellungen der österreichischen Gesellschaft 1978 und 2004/2008

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fern soziologische Studien von Ronald Inglehart und Christian Welzel über Social Support for Democracy.21 Es wäre vermessen zu behaupten, dass allein kritische geschichtspolitische Debatten autoritäre Einstellungen in Österreich ändern, vielmehr sind sie Bestandteil eines sehr stark generationsspezifisch und sozioökonomisch geprägten demokratischen Meinungsbildungsprozesses, aber sie haben eine starke öffentliche Katalysatorfunktion und wirken auch auf Mikro- bzw. Regionalebene. Autoritäre Einstellungen sind nicht einfach zu ändern, und gerade bei den Verhandlungen über Geschichte werden derartige Beharrungseffekte deutlicher, obwohl seit den 1960er-Jahren die grundlegende Zustimmung zur Demokratie nicht mehr infrage gestellt wird. Formal funktionierende demokratische Strukturen im österreichischen Konsenssystem erfordern daher immer wieder öffentliche kritische Debatten über autoritäre Einstellungen.

21 Vgl. dazu Ronald Inglehart, Christian Welzel: Modernization, cultural change, and democracy. The human devel­ opment sequence, Cambridge, Mass. 2005.

Christian Fleck

Ein paar Fragen, die Aribert Heims Aktentasche aufwirft Anfang Februar 2009 machte ein lange Zeit Verschollener kurzfristig Schlagzeilen: Der Arzt Dr. Aribert Ferdinand Heim alias Tarek Hussein Farid vulgo Dr. Tod sei angeblich 1992 in Kairo verstorben. Das ergaben Recherchen eines Journalistenteams der New York Times und des ZDF. Zur gleichen Zeit strahlten ORF und ARD eine einstündige Dokumentation über Heim (nochmals) aus, in deren Mittelpunkt dessen Tochter stand, die im Süden Chiles lebt und von den Journalisten verdächtigt wurde, ihren in der Nähe verborgenen Vater zu versorgen.1 Ein TV-Interview mit jenem Sohn Heims, der angeblich den sterbenden Vater in Kairo betreute, vervollständigte die Berichterstattung.2 Die zeitgleiche Veröffentlichung dieser miteinander nicht zu vereinbarenden Berichte beweist immerhin, dass die vom Jerusalemer Wiesenthal-Center im Rahmen seiner Operation Last Chance seit einigen Jahren geführte Liste der noch verfolgbaren Nazi-Kriegsverbrecher ihre Wirkung tat: Aribert Heims Name findet sich seit längerer Zeit dort an prominenter Stelle.3 Nach wenigen Tagen verschwand Heims Fall wieder von der Bildfläche. Zuletzt äußerten deutsche Staatsanwälte Zweifel an der Geschichte vom einsamem Krebstod und der Verbrennung des Leichnams Heims in Kairo und verlautbarten, dass sie den Fall nicht als erledigt betrachten wollen.4 Die 83 Dokumentenkopien aus der in Kairo gefundenen Aktentasche Heims, die die New York Times auf ihre Website stellte und die dort immer noch besichtigt werden können,5 blieben weitgehend unbeachtet, obwohl sie aufschlussreiche Einsichten liefern. Wer war – oder ist – dieser Dr. Heim, den das Jerusalemer Wiesenthal-Center gemeinsam mit Alois Brunner zu den noch verfolgbaren Nazi-Kriegsverbrechern zählt?6 Er wurde 1914 im steirischen Radkersburg geboren, wohin sein aus Vorarlberg stammender Vater zugezogen 1 Ingo Helm: Die Jagd nach Dr. Tod. Protokoll einer Fahndung, Österreich/Deutschland 2008, Dokumentation gesendet in ARD 24. 9. 2008 und ORF 11. 2. 2009, 43 min. 2 ZDF, 3. 2. 2009. 3 Ich selbst nutzte diese Liste, als der Holocaust-Leugner David Irving in Österreich verhaftet wurde, und verwies darauf, dass Versuche, Heims habhaft zu werden, wichtiger wären als einen Narren wie Irving einzusperren. Vgl. Christian Fleck: Lasst den Irving doch reden, in: Der Standard (23.11.2005), S. 31. 4 URL: http:// einestages. spiegel. de / static / topicalbumbackground / 2378 / jagd_ durch_ die_ jahrzehnte. html (16.11.2010). 5 URL: http:// www.nytimes.com / interactive / 2009 / 02 / 04 / world / africa / 20090204– nazi- documents. html (25.06.2010). Daraus die meisten der biografischen und sonstigen Angaben von und über Heim. 6 Wiesenthal Center annual report points to lack of political will and Holocaust distortion as major obstacles to prosecution of Nazi war criminals; Praises Germany for renewed efforts to hold Holocaust perpetrators account­ able; Three new names on Center’s “most wanted” list, April 11, 2010, URL: http://www.wiesenthal.com/site/apps/ nlnet/content2.aspx?c=lsKWLbPJLnF&b=4441467&ct=8180041 (16.11.2010).

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Christian Fleck

war. Schon damals, aber mehr noch in den folgenden Jahren, imaginierten die dort lebenden Deutschen einen Abwehrkampf gegen das Slawentum. Gendarmen wie Ariberts Vater zählten für gewöhnlich dabei zu den Vorkämpfern. Klein Aribert war, wie sein älterer Bruder, ein aufgeweckter Bub, weshalb er nach der Volksschule in die steirische Landeshauptstadt ins Marieninstitut geschickt wurde; den Schwestern Hilda und Hertha wurde diese Chance nicht gewährt. Das kirchliche Gymnasium bot vielversprechenden Jugendlichen aus – wie man später sagen wird – bildungsfernen Schichten eine Chance zum sozialen Aufstieg; üblicherweise benötigte man für die Aufnahme ein warmherziges Empfehlungsschreiben des Dorfpfarrers. Gleich seinem älteren Bruder zog es Aribert zur Medizin – hatten die beiden Brüder daheim nur Frösche seziert oder versuchten sie sich auch an Größerem? Wir wissen es nicht. Jedenfalls übersiedelte Jung Aribert im Alter von 19 Jahren nach Wien; ein nicht nur damals ungewöhnlich weiter Weg für einen steirischen Gendarmen-Buben. Wir schreiben das Jahr 1933, die politischen Gegensätze prallten in Wien wie kaum sonst wo im Land aufeinander. Stud. med. Aribert H. trat einer Burschenschaft bei, was Narben hinterließ, die ihm später im Leben wohl weniger Freude machten, als sie damals stolz zur Schau gestellt worden sein dürften. „Mensurnarbe verläuft quer zum rechten Mundwinkel, beinahe V-Form“ heißt es denn auch in einem der Fahndungsdokumente der deutschen Polizei, die daneben noch Körper(über 190 cm) und Schuhgröße (47) für erwähnenswert hielt.7 Neben Studium und Pflege des burschenschaftlichen Lebensbundes spielte Heim im Wiener Eishockey-Klub Engelmann, mit dem er 1939 deutscher Meister werden sollte. „Habe mich niemals politisch betätigt, da ich durch Studium und Sport völlig ausgelastet war“, behauptete Heim in einer mit 19. März 1979 datierten, handschriftlich geschriebenen Stellungnahme. Dieses Dokument befand sich in der Aktentasche, die die Journalisten der New York Times und des ZDF in jenem Kairoer Hotel fanden, in dem Heim angeblich jahrelang wohnte. Heims NSDAP-Mitgliedsnummer lautet 6.116.098, was darauf verweist, dass er schon vor 1938 Mitglied war, ein unpolitisches vermutlich – oder wurde sein Hockeyschläger Mitglied?8 1939 beendete Heim sein Studium und ab April 1940 war er nach eigener Auskunft bei der Waffen-SS im Fronteinsatz und als Arzt in verschiedenen SS- und Militärspitälern tätig. Zwischen April und November 1941 arbeitete er als Lagerarzt in den Konzentrationslagern Oranienburg, Buchenwald und Mauthausen, in letzterem nach seiner Darstellung nur sieben Wochen lang – eine Angabe, der auch das Wiesenthal Zentrum nicht widersprach. 1942 fungierte Heim als Ausbildner von SS-Ärzten, ab 1943 war er an der Ostfront und das Kriegs7 Der vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg ausgearbeitete Fahndungstext findet sich mittlerweile auch ident auf der Seite des österreichischen Innenministeriums, URL: http://www.bmi.gv.at/cms/BK/fahndung/most_wanted/aribert_heim/Heim.aspx (15.05.2011). 8 Diese Anspielung verstehen wohl nur jene, die sich an die Waldheim-Wahl und ihre Begleitumstände erinnern können, als der damalige Bundeskanzler Fred Sinowatz nach dem Bekanntwerden der SA-Mitgliedschaft Waldheims, die dieser in Abrede stellte, lakonisch meinte, dann müsse wohl Waldheims Pferd Mitglied der SA-Reiterstandarte geworden sein.

Ein paar Fragen, die Aribert Heims Aktentasche aufwirft

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ende erlebte er in den Vogesen, wo er von den Amerikanern gefangen genommen wurde und bis 1947 in Kriegsgefangenenlagern als Chirurg tätig war. Die ihm vorgeworfenen Verbrechen fallen allesamt in das Jahr 1941 und ereigneten sich in den drei KZs, durch Zeugenaussagen dokumentiert sind seine Verbrechen in Mauthausen. Die Chronologie macht klar, warum es Heim nach Kriegsende relativ leicht gelang, unbehelligt zu bleiben. Er musste nicht untertauchen, sondern bloß seine Taten verschweigen und sich als Arzt im Militärdienst ausgeben. Heim konnte darauf hoffen, dass sich von den wenigen überlebenden KZ-Häftlingen kaum jemand an ihn erinnern würde. Hier irrte er. Was er in Mauthausen tat, habe – so die Zeugen – das Niveau des dort ohnehin schon unmenschlich Üblichen ins Bestialische überstiegen: Morden, um an Totenschädel mit vollständig erhaltenem Gebiss zu kommen, die er dann Freunden schenkte, oder Tätowierungen so interessant zu finden, dass Heim einen Gefangenen nur tötete, um dessen Haut dem Lagerführer als Lampenschirm zu überreichen. Die ältesten Zeugenaussagen zu und über Heim datieren aus dem Jahr 1948; über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen finden sich in Heims Papieren detailliert Notizen. Man gewinnt bei deren Lektüre den Eindruck, er habe bei einer allfälligen Verhaftung vom ersten Moment an gewappnet sein wollen. Die Geschichte, die er dann erzählt hätte, wäre – von den paar mörderischen Details abgesehen – eine gewesen, die manch anderer altersgleiche Arzt auch erzählen hätte können. Für junge Ärzte war es damals scheinbar nicht ungewöhnlich, einige Wochen als Lagerarzt tätig zu sein: sozusagen Turnus im KZ. Blättert man die von Petra Scheiblechner9 an der Grazer Universität erstellte Diplomarbeit durch, die Biografien von mehr als 600 während der Nazi-Zeit an der dortigen Medizinischen Fakultät tätigen Personen präsentiert, stolpert man über genau solche Einsätze von Ärzten. Sie gingen in den folgenden Jahrzehnten unbehelligt ihrem Beruf nach und unterscheiden sich von ihren Söhnen nur dadurch, dass diese ihr Chirurgenhandwerk durch unnötig entfernte Blinddärme optimierten, während die Väter sich an weitaus vielfältigerem Material schulen konnten.10 Scheiblechner beschränkte ihre Recherchen auf jene Personen, deren Namen zwischen 1938 und 1945 im Vorlesungsverzeichnis angeführt wurden, weshalb man wohl annehmen darf, dass die Zahl der Grazer Mediziner mit einem derartigen Karriereverlauf weit größer war. Nach seinem „Turnus im KZ“ verhielt sich Heim so unauffällig wie davor – unpolitisch. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft spielte er beim Eishockeyklub Bad Nauenheim um die deutsche Meisterschaft, heiratet eine praktische Ärztin aus wohlhabender Familie, eröffnete eine gynäkologische Praxis in Baden-Baden, zeugt neben einer außerehelichen   9 Petra Scheiblechner:„ … politisch ist er einwandfrei …“ Kurzbiographien der an der Medizinischen Fakultät der Universität Graz in der Zeit von 1938 bis 1945 tätigen WissenschafterInnen, Graz 2002 (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz, 39), URL: http://www.uni-graz.at/uarc1www/uarc1www_forschung/uarc1www_ forschungsprojekte_abg.htm (16.11.2010). 10 Zu meiner nicht geringen Überraschung fand ich unter den dort angeführten Namen auch den jenes Chirurgen, der nicht nur der Ehemann der Hausärztin meiner Familie war, sondern mich mehrfach operierte. Ich erinnere mich seiner als eines groß gewachsenen, wortkargen Mannes, dessen Familie aus dem Sudetenland stammte.

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Tochter auch noch zwei eheliche Söhne, wechselt ganz legal und unter Beachtung aller bürokratischen Vorschriften seine österreichische gegen eine deutsche Staatsbürgerschaft und kauft sich in Berlin ein Zinshaus. Derweilen ruhten die Zeugenaussagen der MauthausenÜberlebenden in den Akten verschiedener österreichischer Bezirksgerichte. Anstrengungen der 1958 in Westdeutschland errichteten Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen und der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem lenkten die Aufmerksamkeit dann auch auf Personen wie den ehemaligen SS-Hauptsturmführer Heim. Er begann, sein Untertauchen und dessen Finanzierung akribisch vorzubereiten. Bei einem in NS-Verfahren höchst versierten Anwalt hinterlegte er detaillierte Vollmachten, regelte, wie die Mieteinkünfte seines Hauses zwischen ihm und seinen Schwestern zu teilen seien, und fuhr schließlich wegen eines „rheumatischen Wirbelsäulen-Bandscheibenleiden zu Kuren ins Ausland“ – seither wurde er nicht mehr gesehen. Versorgt wurde Heim in den folgenden drei Jahrzehnten nicht nur mit Geld, sondern offenbar auch mit Abschriften der Zeugenaussagen und Pressemeldungen über ihn durch bislang unbekannte Helfer. Die Aktentasche enthält detaillierte Aufzeichnungen Heims, darunter eine lange, scheinbar aber dann doch nicht zur Post gegebene Erwiderung auf den SPIEGELBericht und pseudohistorische Abhandlungen über die Chasaren, den unter anderem durch Arthur Koestler bekannt gemachten „Dreizehnten Stamm“ nicht-semitischer Juden. Heim hält sie für die Vorfahren der heute die Welt beherrschenden Juden.11 An den handschriftlichen Dokumenten ist nur der Umstand ungewöhnlich, dass sie –was bei Medizinern bekanntlich sehr selten der Fall ist – gut leserlich sind. Alle stammen sie aus den Jahren, nachdem Heim auf Kur fuhr, und zum Großteil beziehen sie sich auf Veröffentlichungen und Dokumente, die erst nach seinem Verschwinden entstanden. Nimmt man die leserliche Handschrift nicht zum Anlass, an der Authentizität zu zweifeln, offenbaren die Papiere nicht nur einiges über das Leben Heims. Ihre Lektüre eröffnet auch einen Blick auf seine Weltanschauung und die wirkt in vielem höchst vertraut. Heims Rechtfertigungsschriften prädestinieren ihn geradezu, bei der Wiener Burschenschaft Olympia zum ‚Vorsingen‘ eingeladen zu werden: Er war in Mauthausen nicht für die Häftlinge, sondern als Arzt nur für das Wachpersonal zuständig; die ungeheuerlichen gegen ihn gerichteten Beschuldigungen sind für ihn so neu wie für den Staatsanwalt, der sie zu Protokoll genommen hat; was ihm vorgeworfen wird, ist nichts als Rufmord, Vorverurteilung und Vorhinrichtung; die Beweise gegen ihn seien fabriziert und überhaupt sollten die Juden lieber wegen all der Morde, die sie an Palästinensern begangen haben, eine Justizstelle in Jerusalem errichten – dabei könnten sie sich ja von der von Simon Wiesenthal in Wien betriebenen Anregungen holen. Einen Prozess gegen ihn hätte er nicht gerecht überstehen können, usw. usf. … „An Eides Statt, 5.9.80“. Von David Irving, der, daran muss in diesem Zusammenhang erinnert werden, mehrfach vor Wiener Burschenschaftlern referierte, und Bischof Williamson unterscheidet sich Heims 11 Arthur Koestler: Der dreizehnte Stamm. Das Reich der Khasaren und sein Erbe, Wien 1977. Vgl. Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010.

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Leugnung der Judenvernichtung in nichts; auch er rechnet vor, dass die Juden höchstens „eine halbe Million Menschenverluste hinnehmen mussten“ und schreibt sich selbst eine bloß subalterne Rolle zu: „Unbestreitbar ist es nun, dass der deutsche Staat die KL errichten ließ und dass alle Soldaten, die zu Dienst in diese KL versetzt wurden, ohne ihr eigenes Zutun, also völlig unbewusst dorthin gelangten, was auch jeden andren deutschen Soldaten passieren hätte können“ (Heim, wörtlich). Als der Dritte Nationalratspräsident Martin Graf wegen der „Auf-Linie-Ladenbesuche auf der Suche nach T-Hemden“ (Nennen die online shopping von T-Shirts so?) zweier seiner Mitarbeiter Ende 2008 in Erklärungsnotstand geriet, distanzierte er sich „neuerlich von Nazischund und -dreck“. Diese Art der Distanzierung ist angesichts des sonst Üblichen derer, die am Lebensbund der Burschenschaften teilhaben, höflich formuliert oberflächlich, sachlich vermutlich nichts anderes als ein Lippenbekenntnis. Andernorts und zu anderen Zeiten klingt es aus Burschenschaftlermund eher so: „Ja, es gab Kriegsverbrechen, wofür die wirklich Verantwortlichen im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess abgeurteilt wurden. Aber man soll endlich aufhören, die während des Krieges zu absolutem Befehlsgehorsam vereidigten Soldaten zu verfolgen. Sämtliche in und nach dem Weltkrieg begangenen Kriegsverbrechen der Alliierten blieben unbestraft“ (nochmals Heim, wörtlich). Was wäre, wenn Graf, statt sich öffentlich dauernd zu distanzieren und als Privatperson Zeitungen mit Klagen einzudecken, die über ihn und seine Nazi-Memorabilien bestellenden Mitarbeiter berichten, etwas zur Aufklärung der Beziehungen zwischen Personen wie Heim und seinem Lebensbund, der Welt der Burschenschaften, beitragen würde? Er könnte ja beispielsweise die Differenz zwischen dem Abgeordneten- und seinem Bezug als Nationalratspräsident spenden, damit seine Distanzierung glaubwürdiger werde. Eine derartige, längst überfällige Auseinandersetzung der Burschenschaftler mit ihren Alten Herren früherer Generationen käme um die Beantwortung einiger Fragen nicht herum. Warum beispielsweise Burschenschaften ehemalige Mitglieder in ehrendem Andenken halten, die als Kriegsverbrecher verfolgt oder verurteilt wurden? Oder: Welche ihrer, Kraft der Gnade der späten Geburt persönlich nicht involvierten Mitglieder in der einen oder anderen Weise als Unterstützer von Untergetauchten aktiv waren oder gar noch sind? Die vorigen Absätze stammen, wie die ursprüngliche Idee zu diesem Text, aus dem Februar 2009. Ich bot den Text dem Standard als „Kommentar der anderen“ an. Die Redaktion bat mich einzusehen, dass eine Veröffentlichung ihrem Bemühen um eine außergerichtliche Beilegung einer zu dieser Zeit von Martin Graf gegen den Standard angestrengten Klage abträglich wäre. Dem Wunsch wollte und konnte ich mich nicht verschließen. Versuche, diesen Text anderswo zu veröffentlichen, scheiterten. Ihn nun an dieser Stelle zu veröffentlichen, ermöglichte es mir, den ursprünglichen Text um einige Details zu erweitern, die in einer Tageszeitung aus Platzgründen weggelassen worden wären, und einige weiter gehende Fragen aufzuwerfen, die sich mir, der ich weder über eine kriminalistische noch eine zeithistorische Ausbildung verfüge, stellen.

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Ob Heim nun tot ist oder seinen Tod vorgetäuscht hat, um seine letzten Tage als konvertierter Muslim oder von seiner Tochter betreuter Untergetauchter zu genießen, kann ich nicht beurteilen. Die in deutscher Sprache verfassten Dokumente, die die New York Times auf ihrer Website veröffentlichte, scheinen mir authentisch, die dort ebenfalls dokumentierten ägyptischen Arztschreiben kann ich nicht lesen. Möglicherweise wurden die Aktentasche und ihr Inhalt in Kairo platziert, um Verfolger und Journalisten in die Irre zu führen. Heim, der offenkundig immer noch Eigentümer eines Berliner Zinshauses ist, hätte sich diese Inszenierung ohne weiteres leisten können. Ob sein Sohn bei dem Fernsehinterview die Wahrheit sagte, sei dahingestellt. Die aus mehreren Gründen schwierigere Frage ist, ob man sich heute noch darum bemühen soll, eines Mannes wie Heim habhaft zu werden? Wenn es stimmt, dass Heims mutmaßlich verbrecherische Aktivitäten sich in einem Zeitraum von nur sieben Wochen abgespielt haben, wird man fragen dürfen, ob das genügt, ihn zur Nummer eins der noch verfolgbaren Nazi-Verbrecher zu machen. Selbst wenn Heim in diesen sieben Wochen alle denkbaren Scheußlichkeiten begangen haben mag, scheinen mir die Proportionen schief. Von einem Hauptkriegsverbrecher unterscheidet sich Heim in zu vielem; die Zeugenaussagen über die medizinischen Übergriffe, die ihm vorgeworfen werden, ähneln sehr den Berichten über andere Lagerärzte (Benzininjektion, Operationen ohne Narkose und ohne medizinische Indikation, tätowierte Lampenschirme aus Menschenhaut etc.) und nähren wegen dieser Ähnlichkeit Zweifel an ihrer Richtigkeit. Doch selbst wenn Heim das alles getan haben sollte: Reicht das hin, um in ihm die Nummer eins der noch verfolgbaren NaziVerbrecher zu sehen? Wenn die Fortführung der Listen der most wanted Nazi-Verbrecher, wie man vermuten wird dürfen, ohnehin nicht mehr der Verhaftung, Anklage und Verurteilung, sondern als Vehikel der Bewusstseinsbildung dienen sollen, wäre eine Revision der erinnerungspolitischen Orientierung angebracht. Nehmen wir für den Augenblick kontrafaktisch an, Heim könnte geschnappt und vor ein Gericht gestellt werden. Was für ein Prozess wäre das? Wohl eher eine Farce, ähnlich jener, die sich rund um den Angeklagten John Demjanjuk in München abspielte. Ein dementer alter Mann, der seine Demenz möglicherweise dem Gericht und dem Publikum vorspielt, aus dem aber kein vernünftiger Satz herauszubekommen ist und dessen Prozess daher kaum noch öffentlich wahrgenommen wurde. Gerechtigkeit und Aufklärung sind auf diesem Weg nicht mehr erzielbar. Das bedeutet nun aber nicht, dass ein Schlussstrich gezogen werden muss. An die Stelle der gerichtlichen Verfolgung von Nazi-Schergen könnte der Versuch der Aufklärung immer noch offener Fragen der Nazi-Vergangenheit und ihrer Nachwirkungen treten. Erstens muss nochmals hervorgehoben werden, dass die Subkultur der österreichischen Burschenschaften ihre Distanzierungen gegenüber der NS-Vergangenheit immer noch sehr nachlässig handhabt. Wohltönende Verurteilungen stehen in einem bemerkenswerten Gegensatz zur Unwilligkeit der heutigen Burschenschaftler, die Geschichte ihrer Organisationen und

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deren in Kriegsverbrechen involvierten Mitglieder transparent zu machen. Gerüchte darüber, dass beispielsweise jene Grazer Burschenschaft, zu deren Mitgliedern Ernst Kaltenbrunner zählte, dessen Namen immer noch auf einer Ehrentafel führt, verlangen ebenso nach Aufklärung, wie es sich der Dachverband der Wiener Burschenschaften angedeihen lassen könnte, über Aribert Heim Nachforschungen anzustellen und deren Ergebnisse bekannt zu machen. Um in dieser Sache weiterzukommen, bedarf es eines vermehrten Drucks von außen auf die Burschenschaften, sich ihrer braunen Vergangenheit zu stellen. Bemerkenswerte Unterstützung erhält dieses Bestreben neuerdings von einer Seite, die lange Jahre zu den notorischen Weißwäschern der Kriegsgeneration zählte: Jüngst grenzte sich ein Landesverband des Kameradschaftsbundes von der Kameradschaft IV scharf ab und tat kund, dass „(e)ine Organisation, die das Andenken an die SS hochhält, im Kameradschaftsbund nichts verloren (hat). Wir sind eine strikt antifaschistische Organisation.“12 Weniger von der Bereitschaft möglicherweise Unwilliger abhängig ist die folgende Forschungsfrage: Leute wie Heim konnten sich jahrzehntelang der Verhaftung entziehen und man kann getrost annehmen, dass dies nicht ohne Hilfe Dritter möglich war. Das Netzwerk der Unterstützer von untergetauchten Nazi-Schergen wurde bislang nur sehr unvollständig untersucht. Dazu mag vielleicht mehr kriminalistischer Spürsinn nötig sein als ein geschichtswissenschaftliches Studium zu vermitteln in der Lage ist. Mit Sicherheit liegen manche Informationen in Beständen verborgen, die von interessierten Forscherinnen und Forschern erschlossen werden könnten. Schließlich gibt es einen Aspekt an Heims Geschichte, der geradezu nach Bearbeitung ruft. Wenn SS-Ärzte wie Heim offenkundig nur vergleichsweise kurze Zeit in KZs als Lagerärzte dienten, müssen zum Kreis der Lagerärzte weit mehr Personen gezählt haben. Legt man einer Schätzung nur die Zahl der zwei Dutzend Stammlager zugrunde, ergibt eine einfache Multiplikation bei einer Verweildauer von acht Wochen je Turnusarzt einen Jahresbedarf von rund 160 Ärzten, in Summe also zumindest tausend Ärzte, die vorübergehend in KZs tätig waren. Eine Liste dieser ist meines Wissens bislang nicht zusammengestellt worden. Heim mag wegen seiner überdurchschnittlichen Bestialität und seiner körperlichen Merkmale Überlebenden eher in Erinnerung geblieben sein als andere. Berücksichtigt man, dass KZ-Häftlinge sich selten getrauten, Lagerärzten und anderem SS-Personal in die Augen zu schauen, dass sie ihre Peiniger als x-beliebige Mitglieder einer sie quälenden machtüberlegenen Gruppe stereotyp wahrnahmen, dann drängt sich der Schluss geradezu auf, dass die Mehrzahl der sich, wie ich es oben nannte, im KZ auf Turnus befindlichen Ärzte bislang unbeachtet blieb. Ich weiß nicht, ob mich mein Eindruck trügt, dass jene Ärzte, denen der Prozess gemacht wurde, von ihren als Gehilfen zwangsverpflichteten Häftlingen identifiziert wurden. Wenn 12 Kleine Zeitung 23. 4. 2011. Der Landesobmann des ÖKB ergänzte mit Bezugnahme auf den FPÖ-Landesrat Gerhard Kurzmann: „Wer den Krieg nicht miterlebt hat, Historiker ist und dennoch Mitglied bei der Kameradschaft IV, bei dem kann es nicht richtig ticken.“ URL: http://www.kleinezeitung.at/steiermark/judenburg/2727672/ eklat-beim-kameradschaftsbund.story (15.05.2011).

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dem so wäre, dann spricht schon die geringe Überlebensrate auch von Funktionshäftlingen dafür, dass zahlreiche SS-Ärzte unentdeckt blieben, sei es weil sie ihren Turnus im Lager unauffälliger als beispielsweise Heim gestalteten oder die ihnen assistierenden Häftlinge nicht überlebten. Angesichts der Tatsache, dass die Geschichte der in Graz lokalisierten SS-Ärztlichen Akademie immer noch nicht erhellt wurde,13 wäre es wohl angebracht, der Berufsgruppe der Mediziner mehr historische Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

13 Googelt man „SS-Ärztliche Akademie“, landet man flugs auf Seiten, die Abzeichen dieser Einheit feilbieten (Ärmelband „SS-ÄRZTLICHE AKADEMIE“, Metallfaden gewebte Ausführung auf schwarzem Band, gotische Schrift, Länge 38 cm, ohne RZM Papieretikett, getragener Zustand, sehr selten) und stößt auf einen Erinnerungsstein, der bezeichnenderweise am Kärntner Ulrichsberg steht: „In Memoriam den im Einsatz für Heimat und Vaterland gefallenen, vermissten und nach Kriegsende gewaltsam zu Tode gekommenen Ärzten, Schwestern und Sanitätsdienstgraden beider Weltkriege und der Abwehrkämpfe gewidmet von Angehörigen der ärztlichen Akademie Berlin-Graz.“

Alexander von Plato

Die USA, Europa und die Wiedervereinigung Deutschlands Die Teilung in ein „altes“ und ein „neues“ Europa durch den früheren amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat die Unterschiede in der Politik europäischer Staaten im zweiten Irak-Krieg wirkungsvoll zusammengefasst. Zugleich wurden dadurch bis heute wenig geklärte historische Fragen zur Wiedervereinigung Deutschlands aktualisiert. Dazu gehören diejenigen, die ich hier behandeln möchte: Wie sehr war Europa schon in der Zeit der großen Wende, der Beendigung des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung Deutschlands 1989/1990 uneins oder gar entzweit? Wie stark haben sich besonders amerikanische, aber auch deutsche mit oder gegen „europäische“ Interessen in den Jahren des Wiedervereinigungsprozesses 1989 und 1990 durchgesetzt – insgesamt oder in Anteilen? Und welche Folgen hatte das für die weitere Politik in und gegenüber Teilen Europas? Wenigstens einige der strategischen Hauptprobleme in diesem Zusammenhang sollen hier behandelt werden: Die Entwicklung der Interessen der USA, der Zusammenfall dieser Interessen mit dem Streben nach nationaler Einheit in Deutschland, die Oder-Neiße-Frage während dieser Politik der Wiedervereinigung und die Entwicklung der sowjetischen Strategien zur Wiedervereinigung.1

1989: eine neue Politik der USA Bereits im März 1989, also noch vor den Massenfluchten von DDR-Bürgern in westdeutsche Botschaften Ostmitteleuropas, haben der damals neue Präsident der USA, George Bush, und sein Sicherheitschef, Brent Scowcroft, eine neue Politik in Europa beginnen wollen, die zwei grundlegende strategische Ziele verfolgte: Erstens sollte sie einem befürchteten Einfluss der Politik und der Person Michail Gorbatschows entgegentreten, der mit seiner dunkel-hoffnungsfrohen Imagination eines „gemeinsa1 Ich stützte mich bei meiner Arbeit auf drei Quellengruppen: wohl erstmals auf die Protokolle der Gespräche Gorbatschows mit internationalen Politikern und auf ausgewählte Protokolle des Politbüros des ZK der KPdSU der Jahre 1989/90, auf die Ausgaben der Dokumente des Bonner Außenministeriums, des Kanzleramtes und der DDRFührungen (Ministerpräsident und SED-Führung) sowie auf über 80 Interviews mit den politischen Protagonisten dieser Zeit, die ich entweder selbst für einen Zweiteiler des Zweiten Deutschen Fernsehens führte oder nutzen konnte, sowie auf Interviews, die ich im Rahmen des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen, das ich leite, durchführte. Als Buch wurden die Ergebnisse dieser Arbeit veröffentlicht und erschienen gerade in der dritten Auflage: Alexander von Plato: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die internen Gesprächsprotokolle, Berlin 2002 (3. Aufl. 2010).

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men europäischen Hauses“, seinen Andeutungen einer demokratischen Politik in der Sowjetunion und ihrem Einflussbereich sowie mit seinem persönlichen Charme nicht nur Millionen von Menschen in Ost und West faszinierte, sondern auch grundlegende Fragen nach einer neuen Politik in Europa auf die Tagesordnung setzte. Zweitens hatte die neue Politik des Weißen Hauses unter Bush ein vereintes Deutschland und ein vereintes Ost- wie Westeuropa unter dem Vorzeichen westlicher Demokratie zum Ziel. Die NATO sollte das Dach für dieses wiedervereinte Deutschland bieten. Dieses Ziel verlangte eine neue Schwerpunktsetzung: Die Bundesrepublik sollte nun wegen der notwendigen Wiedervereinigungspolitik partner in leadership werden – eine Rolle, die bis dato Großbritannien eingenommen hatte.2 Dieses Konzept war explizit als Alternative zum „gemeinsamen europäischen Haus“ Gorbatschows geplant und wurde am 29./30. Mai 1989 von Bush auf dem NATO-Jubiläumsgipfel (zum 40. Gründungstag) in Brüssel und am 31. Mai 1989 in seiner Rede in der Rheingoldhalle in Mainz vorgetragen: „Der Kalte Krieg begann mit der Teilung Europas. Er kann nur beendet werden, wenn die Teilung Europas aufgehoben ist.“ Und: Es kann kein gemeinsames europäisches Haus geben, wenn sich nicht all seine Bewohner von Raum zu Raum frei bewegen können. […] Berlin muss die nächste Station sein. An keinem andern Ort wird die Teilung zwischen Ost und West deutlicher sichtbar als in Berlin. Dort trennt eine brutale Mauer Nachbarn und Brüder. Diese Mauer steht als Monument für das Scheitern des Kommunismus. Sie muss fallen.3

Noch vor den Deutschen, die – nach Meinung der damaligen Beraterin und späteren Außenministerin Condoleezza Rice – eine Realpolitik für die Einheit Deutschlands aufgegeben hätten, hätte die Politik Bushs die Wiedervereinigung forciert und schließlich die Deutschen mitgerissen.4 Diese Politik, in der sich amerikanische und deutsche Interessen trafen, setzte sich durch und bestimmte die weitere Diplomatie: vor allem mit den „10 Punkten“ Helmut Kohls vom 28. November 1989 und mit den nur einen Tag später vorgelegten „4 Prinzipien“ Bushs, in 2 Diese Formulierung verursachte bei Premierministerin Margaret Thatcher „ungewollte Unruhe. […] Thatcher verstand das so, als ob wir die besondere Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien in Frage stellen wollten. Sie hätte sich aber keine Sorgen zu machen brauchen.“ Scowcroft in: George Bush, Brent Scowcroft: Eine neue Welt. Amerikanische Außenpolitik in Zeiten des Umbruchs, Berlin 1999, S. 61. 3 “There cannot be a common European home until all within it are free to move from room to room. […] Let Berlin be next – let Berlin be next! Nowhere is the division between East and West seen more clearly than in Berlin. And there this brutal wall cuts neighbor from neighbor, brother from brother. And that wall stands as a monument to the failure of communism. It must come down.” Remarks to the citizens in Mainz, May 31, 1989, in: Public Papers of the President of the United States of America, Bush Library, in: URL: http://www.2plus4.de/abstracts_inhalt. php3?year=1989&month=05 (17.05.2011). 4 Gegen diese Auffassung haben der frühere Außenminister Genscher und der Berater Kohls, Horst Teltschik, immer wieder Stellung bezogen – so auch in Gesprächen mit mir.

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denen die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland ein wesentlicher Punkt war, bis hin zur Unterzeichnung der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland Anfang Juni 1990 in Washington. Diese Politik wurde die erfolgreichste seit dem Marshall-Plan von 1947.5 Die amerikanisch-deutsche Strategie konnte auf den großen Volksbewegungen in Osteuropa und in der DDR, auf den frühen Oppositionsgruppen in Polen und Ungarn und vor allem auf den Massenfluchten aus der DDR in die bundesrepublikanischen Botschaften im Bereich des Warschauer Paktes aufbauen, die tiefen Eindruck gerade auf die sowjetische Führung und ihre Partner in Osteuropa machten. Bis November, bis zum Mauerfall, hatten diese Volksbewegungen wesentliche Bedeutung; danach haben meiner Ansicht nach die Außenministerien und die Regierungschefs das Heft in die Hand genommen und Ziel wie Richtung der weiteren Politik bestimmt.

Die Wiedervereinigung, Europa und die NATO Allen beteiligten Politikern war klar, dass sowohl das „europäische Haus“ Gorbatschows als auch das „freie und ungeteilte Europa“ Bushs mit einem vereinten Deutschland sofort eine entscheidende Frage berühren würde, nämlich die, was denn aus den beiden Militärbündnissen NATO und Warschauer Pakt werden würde, wenn der Kalte Krieg beendet, die Grenzen in Europa geöffnet und die Wiedervereinigung erreicht werden würde. Die Interessen waren auch in dieser Frage verschieden. Der französische Präsident François Mitterrand sah früh die Bedeutung dieser neuen Politik und befürchtete, dass hier unter dem Einfluss der Massenbewegungen auch bei Helmut Kohl eine Politik zum Durchbruch kommen könnte, die die Wiedervereinigung über und vor die europäische Einigung setzen würde, während die britische Premierministerin Margaret Thatcher prinzipielle Bedenken gegen ein erstarkendes Deutschland hatte.6 Die Regierung Bush hatte in dieser Frage jedoch eine klare Position: Sie wünschte die Einigung in Europa und in Deutschland; in diesem Prozess sollte die NATO aus zwei Gründen die wesentliche Rolle spielen: Erstens sollte damit der Einfluss der NATO ausgedehnt und der des Warschauer Paktes und der Sowjetunion in Europa eingeschränkt werden. Der zweite Grund, der in seiner weiteren Bedeutung kaum überschätzt werden kann: In der NATO hatten die USA den entscheidenden Einfluss, während in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) nicht nur wesentlich mehr Staaten beteiligt waren, sondern vor allem der sowjetische Einfluss bedeutsamer war. Condoleezza Rice dazu:

5 Die Darstellung einer so erfolgreichen amerikanischen Politik, wie ich sie so auch in meinem Buch vornehme, unter das Verdikt des „Antiamerikanismus“ zu stellen, wie dies manchmal geschieht, ist bemerkenswert. 6 François Mitterrand: Über Deutschland, Frankfurt a.M. / Leipzig 1996, S. 39.

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Es ist richtig, dass die USA tatsächlich nur eine Sorge hatten, diejenige nämlich, dass die Wiedervereinigung Deutschlands die NATO zerstören könnte. Denn die NATO war die treibende Kraft für den Frieden in Deutschland, der Anker Amerikas in Europa. […] Aber wir hatten keinerlei Bedenken, dass die Erlaubnis zur Wiedervereinigung Deutschlands […] in irgendeiner Weise schlecht für Europa sein könnte, das lag nicht in der amerikanischen Mentalität.7

Demnach lag es außerhalb des US-Interesses, sich die Wiedervereinigung ohne eine NATOErweiterung auf die frühere DDR auch nur vorzustellen. Diese Position der USA  – Vereinigung Deutschlands: ja, aber unter dem Dach der NATO  – wurde mit der Zunahme der Massenbewegungen, den Änderungen in der politischen Führung der DDR und Polens, dem Fall der Mauer am 9. November und mit den diplomatischen Aktivitäten drängender formuliert. Besonders klar tat dies der amerikanische Präsident nur einen Tag nach den „10 Punkten“ Helmut Kohls vom 28. November 1989. Bush hielt am 29. in Washington eine Rede, in der er seine „vier Prinzipien“ zur deutschen Vereinigung erläuterte, die die amerikanischen Interessen deutlich machen sollten, aber zugleich auch als Unterstützung der Kohl’schen „10 Punkte“ gedacht waren. Bush wiederholte sie wenige Tage später, am 4. Dezember, in Brüssel beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der 16 NATO-Mitgliedsstaaten: Selbstbestimmung auch in der Wiedervereinigung, das vereinte Deutschland in der NATO, die Entwicklung dahin müsse friedlich und Schritt für Schritt verlaufen, keine Änderung der Grenzen in Europa.8 Die Anerkennung der Grenzen sollte nicht nur die Sowjetunion und die damals noch prosowjetischen Führer der anderen Warschauer-Pakt-Staaten beruhigen, sondern auch dem wichtigsten Partner in dieser Politik, Helmut Kohl, signalisieren, die Oder-Neiße-Grenze nicht zu problematisieren. Wie sehr die amerikanische Politik auf die NATO als Verhandlungsinstrument und auf deren Ausweitung setzte und bei ihren Verbündeten durchzusetzen suchte, blitzt besonders dann auf, wenn ein Politiker – zumeist ein französischer – andere Perspektiven eröffnete. Ein Beispiel: Der US-amerikanische Vizeaußenminister Lawrence S. Eagleburger sprach am 30. Januar 1990 in Bonn „im Auftrag von AM Baker“ die „Sorge“ an, die Europäische Gemeinschaft könne an der NATO vorbei agieren. In der NATO habe es eine Vereinbarung gegeben, dass man über einen „KSZE-II-Gipfel […] weiter reden müsse“. Dann habe aber die EG in einem anderen Gremium beschlossen, dass dieser Gipfel stattfinden werde. Damit werden den USA die Hände gebunden. […] Da die USA in EG-Gremien nicht vertreten seien, komme in erster Linie die NATO in Frage, die nach wie vor für die USA die grundlegende Verbindung nach Europa sei.9   7 Interview mit Condoleezza Rice, Interviewer: Alexander von Plato, 17. 9. 1999.   8 Süddeutsche Zeitung (01.12.1989).   9 Das Gespräch Kohl – Eagleburger in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus

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Der Bundeskanzler versuchte Eagleburger mit Bemerkungen über die „gleichbedeutende“ Freundschaft zu Paris und Washington zu beruhigen, man werde sich „deshalb auch an keinen Plänen beteiligen, etwa die USA herauszudrängen, sondern strikt dagegen auftreten“. Einen weiteren Anlass für diese amerikanische Sorge hatte der Berater Mitterrands, Jacques Attali, gegeben. Auf dem Treffen der Beauftragten der Staats- und Regierungschefs der G-7– Staaten (der sogenannten Sherpas) hatte Attali nach dem Bonner Protokoll gesagt: „Europa müsse sich auf eine Zeit einstellen, in der die USA und die Sowjetunion aus Europa heraus seien.“10 Hier wird wieder die französische Position in Richtung auf ein eigenständigeres Europa sichtbar.

Die Entwicklung sowjetischer Deutschland- und Europa-Strategien Am 7. und 8. Juli 1989 wurde die „Breschnew-Doktrin“ diskret zu Grabe getragen.11 Die militärische Nichteinmischung der Sowjetunion und der Staaten des Warschauer Paktes wurde eine der wesentlichen Bedingungen für den Erfolg der Oppositionsbewegungen in Osteuropa und der Einheitspolitik der deutschen und der amerikanischen Regierung. Im Sommer 1989 war die Hauptsorge der sowjetischen Führung, dass die westlichen Staaten die zunehmenden inneren Widersprüche in der Sowjetunion und in den Staaten des Warschauer Paktes ausnutzen könnten. Gorbatschow betonte diese Sorge sowohl bei seinem Besuch in Bonn Mitte Juni 1989 als auch bei seinen vielen Gesprächen mit westlichen Politikern in dieser Zeit.12 Und kein Geringerer als Helmut Kohl hatte ihn mehrfach beruhigt. Besonders alarmiert waren die Sowjets über die Abwendung von Teilen der DDR-Bevölkerung von „ihrem“ System und „ihrer“ Regierung, wie sie in den Fluchten in Missionen der Bundesrepublik in Ostmitteleuropa während des Sommers zum Ausdruck kam. Auch als die sowjetische Delegation zum 40. Jahrestag der DDR (7. Oktober 1989) nach (Ost-)Berlin kam, bemerkte sie die wachsende Kritik in der DDR. Unmittelbar nach der Abreise gab es die berüchtigten Prügeleien auf Demonstranten und die Putschisten um Egon Krenz bliesen zum Sturm auf den Parteivorsitz. Am 17. bzw. 18. Oktober wurde die Absetzung Erich Honeckers beschlossen und Krenz als sein Nachfolger bestimmt. Am 24. Oktober rief seine Wahl zum Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates durch die Volkskammer jedoch neue Proteste hervor. den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, (ab jetzt zitiert als DzD) Dok. Nr. 153, S. 739 ff. 10 Ebda., S. 743. 11 Kommuniqué der Tagung des Politisch-Beratenden Ausschusses der Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages am 7. und 8. 7. 1989, in: Europa-Archiv 20 (1989), S. 599. 12 Vgl. dazu die Gespräche Gorbatschows im Archiv der Gorbatschow-Stiftung in Moskau.

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Am 1. November 1989 flog Krenz mit einer Delegation zu seinem Antrittsbesuch nach Moskau. Und hier ging es – im Gegensatz zu manchen Behauptungen in der Literatur – „ans Eingemachte“. Denn Egon Krenz war mit einem ungeschminkten Bericht über die wirtschaftliche und politische Lage der DDR13 nach Moskau gekommen. In einer Mitschrift der PolitbüroSitzung vom 3. November steht lediglich ein einziger Satz zur „Bilanz“, die Egon Krenz bei seinem Besuch in Moskau zwei Tage zuvor vorgelegt hatte. Und der lautet: „Die DDR lebt zu einem Drittel über ihre Verhältnisse.“14 Mehr nicht. Und dann folgt eine für die damaligen Bedingungen weitsichtige Erörterung, die m.E. von einer Bedeutung ist, die bisher unbekannt war: Gorbatschow: Hoffst du, dass Krenz sich halten kann? Wenn wir die DDR verlieren, können wir uns nicht vor dem eigenen Volk rechtfertigen. Aber ohne die Hilfe der BRD (!) werden wir sie nicht „über Wasser“ halten können. Außenminister Schewardnadse: Die Mauer sollten sie besser selbst beseitigen(!). Innenminister Krjutschkow: Sie werden es schwer haben, wenn man diese wegmacht. Gorbatschow: Sie werden mitsamt Eingeweiden ausverkauft […]. Und wenn sie auf den Weltmarkt mit Weltmarktpreisen treten, wird der Lebensstandard sofort sinken. Der Westen will die Einigung Deutschlands nicht. Er möchte mit unserer Hilfe [wörtlich: mit unseren Händen, Anm. AvP] diesen Prozess verhindern, uns mit der BRD konfrontieren, um ein „Komplott“ der UdSSR mit Deutschland auszuschließen. Ich habe Krenz gesagt: Bei der Kaderauswahl orientieren Sie sich nicht nur auf das Zentralkomitee, sondern auch auf die Gesellschaft. Sonst wird diese euch diejenigen aufzwingen, die für euch unannehmbar sind. Mit der BRD werden wir dieses Werk in einem „Dreieck“ führen, das heißt unter Teilnahme der DDR-Leute, und zwar mit offenen Karten.15

Hier zeigt sich bereits die ganze Widersprüchlichkeit der sowjetischen Führung in einer Offenheit, wie man sie bisher für diesen frühen Zeitpunkt nicht wahrnehmen konnte: Einerseits musste das Politbüro schon am 1. bzw. 3. November 1989 bemerken, dass die DDR zum Mühlstein am Hals der Sowjetunion werden würde, der selbst „das Wasser bis zum Hals“ stand. Auf der anderen Seite wollte man eben dieselbe DDR als Existenzbedingung für die Stabilität in Europa und als „Faustpfand“ gegen den Westen halten. Dabei konnte Gorbatschow nicht einmal die Bitten von Krenz um die dringend notwendige Wirtschaftshilfe erfüllen, sondern verwies den SED-Chef auf Bonn, wo man die Wiedervereinigung vorbereitete.

13 Gorbatschow-Stiftung, 89NOV01; SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.039/319. Auf S. 128–169 ist auch die Niederschrift des Gesprächs zwischen Krenz und Gorbatschow am 1. 11. 1989 in Moskau enthalten. 14 Nach den Mitschriften der Politbüro-Sitzung vom 3. 11. 1989 im Gorbatschow-Archiv. 15 Ebda.

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Krenz fragte Gorbatschow, ob die Sowjetunion noch zu ihrer „Vaterschaft“ der DDR stehe, schließlich sei diese ein Kind der Sowjetunion und „anständige Leute stehen zu ihren Kindern, auf jeden Fall erlauben sie ihnen, den Vatersnamen zu tragen (Lebhaft).“16 Gorbatschow: Du musst wissen, alle ernsthaften Politiker wie Thatcher und Mitterrand, Andreotti und Jaruzelski, sogar die Amerikaner, obwohl in deren Position neue Nuancen sichtbar werden – alle wollen nicht die Wiedervereinigung.

Die Existenz beider deutscher Staaten, so erklärte Gorbatschow im Gespräch mit Krenz und in den folgenden Monaten immer wieder, sei Ergebnis und Bedingung „unserer erfolgreichen Politik“. Die Wiedervereinigung stehe nicht auf der Tagesordnung. Die Unterstützung für die Wiedervereinigung, die von Mitterrand oder den Amerikanern offiziell geäußert worden ist, sei nur den Westdeutschen zuliebe und zum Schein erfolgt. Gorbatschow: Ich denke, sie machen das nur für Bonn, weil sie gewissermaßen Angst haben, wenn sich die BRD und die UdSSR annähern.17

Gorbatschow scheint hier anzunehmen, dass sich Bonn gegen die anderen westlichen Staaten mit Moskau verbünden könnte. All dies konnte nicht zusammenpassen und führte Gorbatschow schnell in größte Probleme: Am 9. November, nur sechs Tage nach der zitierten Äußerung Eduard Schewardnadses im Politbüro, fiel die Mauer in Berlin. Gorbatschow machte in seiner Gratulation an Krenz am folgenden Morgen aus der anarchischen Öffnung der Mauer18 einen bewussten Akt der SED-Führung und gratulierte ihr zu „diesem mutigen Schritt“. Am nächsten Tag bat Gorbatschow wieder einmal Kohl um Mäßigung, um die innere Situation in der DDR nicht zu gefährden. Kohl stimmte zu, ebenso wie Genscher gegenüber Schewardnadse.19 In der DDR war am 13. November 1989 Hans Modrow zum Regierungschef bestimmt worden, der – obwohl auf einem sinkenden Schiff mit kleiner Mannschaft20 – ein überraschendes Tempo vorlegte: Er bezog andere Kräfte mit ein, wie den neuen CDU-Chef Lothar de Maizière, kündigte freie Wahlen an und schlug in seiner Regierungserklärung eine „Vertragsgemeinschaft“ zwischen den beiden deutschen Staaten vor, was die Bundesrepublik und andere westliche Staaten unter Zugzwang setzte – möglicherweise auch Gorbatschow. 16 Nach dem sowjetischen Protokoll, Gorbatschow-Stiftung, 89NOV01 – auch das „lebhaft“ ist dort dokumentiert. 17 Ebda. 18 Vgl. vor allem Hans-Hermann Hertle: Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1996. 19 Aus dem Büro Krenz in Bundesarchiv Berlin (BA), SAPMO, DY 30/IV 2/2.039/319, Bl. 22–25. 20 Am 7. 11. trat die DDR-Regierung unter Willi Stoph und am 8. 11. das SED-Politbüro zurück; Krenz dagegen wurde wieder Generalsekretär.

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Wechselnde strategische Antworten auf die 10 Punkte Kohls und die 4 Prinzipien Bushs Konnte die Gorbatschow-Führung nach dem Mauerfall noch auf die Wirksamkeit von Appellen an die westlichen Staaten hoffen, wurde dies bald wesentlich schwieriger: Am 28. November legte Kohl seine „10 Punkte“ vor, die weder als ein ausgereifter Plan noch – von heute aus gesehen – besonders weitreichend erscheinen. Diese „10 Punkte“ entstanden nach einem Besuch des Mitglieds der internationalen Abteilung des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU, Nikolai Portugalow, bei Kanzlerberater Horst Teltschik am 21. November. Portugalow hatte dort ein von ihm handschriftlich verfasstes21 „Nonpaper“ vorgelegt, in dem die „rein theoretische Frage“ gestellt wurde: Wenn die Bundesregierung beabsichtigen würde, die Frage der Wiedervereinigung bzw. Neuvereinigung in die praktische Politik einzuführen, dann wäre es vernünftig, öffentlich über die Vorstellung der zukünftigen Allianzzugehörigkeit beider deutschen Staaten, also NATO und Warschauer Pakt, und ebenso über die Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft nachzudenken.

Horst Teltschik war „elektrisiert“ und drängte unmittelbar darauf den Bundeskanzler, nun die Initiative in Richtung Wiedervereinigung zu übernehmen. Beide Seiten – Teltschik wie Portugalow – diskutierten in dem Missverständnis, die jeweils andere Seite sei schon viel weiter als man selbst, was jedoch nicht stimmte; denn Gorbatschow wusste im Gegensatz zu Teltschiks Annahme nichts von diesem Besuch, der in Valentin Falins Auftrag hinter dem Rücken des Generalsekretärs und seines Hauptberaters Anatoli Tschernjajew vorgenommen wurde.22 Es war ein produktives Missverständnis wie kaum ein anderes in der Diplomatie dieser Monate, das mehr in Bewegung setzte als allgemein angenommen. Mehr als die Selbstverständlichkeit, mit der hier die Wiedervereinigung vorausgesetzt wird, ist für mich die Tatsache bedeutsamer, dass erstmals in einem deutsch-sowjetischen Gespräch die Frage der Allianz-Zugehörigkeiten geäußert wurde.23 Die „10 Punkte“ hatten trotz ihrer vorsichtigen Formulierungen eine enorme Wirkung. Im Bonner Bundestag hatten andere Parteien zwar ähnliche Überlegungen vorgetragen, wie der SPD-Chef Hans-Jochen Vogel mit seinen „5 Punkten“, zugleich aber Kohl kritisiert, weil er Verunsicherung im Osten wegen des Fehlens eines klaren Bekenntnisses zur Oder-NeißeGrenze verursachen würde. In anderen Hauptstädten war man empört, vor allem wegen man21 So Portugalow am 1. 11. 1999 und auch (!) Teltschik am 27. 9. 2001, beide im Gespräch mit mir. 22 Vgl. dazu: Horst Teltschik: 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 44, mein Gespräch mit ihm vom 27. 9. 2000 und den Antwortbrief Gorbatschows an mich vom 6. 3. 2001. 23 So wird manchmal Weltpolitik von einem „kleinen Akteur“ gemacht – eine faszinierende Facette der damaligen internationalen Politik.

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gelnder vorheriger Information: so Mitterrand und Thatcher, die anderen westeuropäischen Staaten und besonders Gorbatschow. Die US-Regierung unterstützte dagegen Kohl wie erwähnt mit den „4 Grundsätzen“. Die schärfste Ablehnung der „10 Punkte“ kam aus Moskau, und Hans-Dietrich Genscher bekam die ganze Wut Gorbatschows und Schewardnadses zu spüren, als er sie am 5. Oktober besuchte. Kohl wolle sich (wieder) Polen, die CSSR und Österreich einverleiben. Und Kohls Auftreten wurde von Schewardnadse mit dem Hitlers verglichen: „Nicht einmal Hitler hätte sich so etwas erlaubt.“ Dieser Vergleich war beiden später unangenehm, und Genscher hat ihn nicht einmal in Bonn oder in seinen Memoiren schriftlich wiedergegeben.24 Einen Tag später, am 6. Dezember, traf Gorbatschow Mitterrand in Kiew, wo der sowjetische Generalsekretär von seinen Treffen mit Bush und mit Genscher berichtete und ebenso wie Mitterrand die deutsche als die neuralgische Frage bezeichnete. Mitterrand dazu: Die deutsche Frage darf nicht den europäischen Prozess bestimmen, sondern umgekehrt. Und: An erster Stelle – ich wiederhole es – muss die europäische Integration stehen, die osteuropäische Entwicklung, der gesamteuropäische Prozess und die Schaffung einer europäischen Friedensordnung. Wenn die USA daran teilnehmen werden, dann gibt uns das zusätzliche Garantien.25

Gorbatschow zeigte sich ohne Konzept, wie sein „europäisches Haus“ zu einer Strategie für die sowjetischen Sicherheitsinteressen in einem Gesamteuropa mit einem vereinten Deutschland werden könnte. In Kiew ging er nicht auf Mitterrands Vorschlag ein, noch in diesem Jahr gemeinsam Modrow zu besuchen. Was hätte es wohl bedeutet, wenn beide in dieser Umbruchszeit zusammen nach Ostberlin gekommen wären? Mitterrand soll von dem Gespräch mit dem sowjetischen Generalsekretär tief enttäuscht gewesen sein. Das soll Attali dem Berater Gorbatschows für Europa-Fragen, Wadim Sagladin, berichtet haben: Gorbatschow hätte sich offensichtlich mit der Wiedervereinigung abgefunden. Mitterrand hätte aus dem Gespräch den Schluss gezogen, dass man jetzt noch schneller den Aufbau „gesamteuropäischer Strukturen“, und zwar über die Ost-West-Grenze hinweg, vorantreiben müsse. Nur dadurch könne ein deutscher Alleingang und deutsches Hegemonialstreben verhindert werden. Diese Aussagen finden sich allerdings so nicht im sowjetischen Protokoll und nicht einmal im Tagebuch Attalis, sondern nur in dem Bericht Sagladins.26 Doch spricht wenig dafür, dass sich Gorbatschow zu diesem Zeitpunkt mit der Vereinigung tatsächlich abgefunden hätte. Er betonte im Gegenteil auf der Sitzung des Politischen Ausschusses der Warschauer Vertragsstaaten vom 4. Dezember die Existenzerhaltung der 24 Gorbatschow-Stiftung, 89DEC05. Genscher verschwieg diese Härten damals vermutlich, um die Wiedervereinigungspolitik nicht zu gefährden, später möglicherweise mit Rücksicht auf Schewardnadse und Gorbatschow. 25 Gorbatschow-Stiftung, 89DEC06. 26 Nach Werner Weidenfeld: Außenpolitik für die Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998, S. 157.

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DDR als Garant der Stabilität in Europa. Zur Vorbereitung hatte Gorbatschow schon am 24. November ein 6-Punkte-Dokument zu den Grundlagen seiner internationalen Politik verschickt. Hier wurde zwar das Recht auf Selbstbestimmung jedes Volkes betont, aber vor allem gegen das „Gerede von der Wiedervereinigung“ Deutschlands Stellung bezogen. Allerdings: Die neue Weltlage verlange neue Rollen der NATO und des Warschauer Vertrages als „politische Verteidigungsorganisationen“. Dann folgte die erstaunliche Aussage: Bei Stärkung der Sicherheit und des Vertrauens könne „die Auflösung beider Bündnisse ins Auge“ gefasst werden.27 Erst am 25. Januar 1990 wurde in der Beratung28 einiger Minister und Parteioberen prinzipiell die Wiedervereinigung als Möglichkeit angenommen, allerdings noch in der Hoffnung, dass die sowjetischen Soldaten im Westen ein Faustpfand dafür seien, einen gleichzeitigen Abzug der Amerikaner und der Sowjets aus Zentraleuropa zu erreichen. Gorbatschow: Das Wichtigste ist, dass niemand damit rechnen sollte, dass das vereinte Deutschland in die NATO geht. Die Anwesenheit unserer Truppen wird das nicht zulassen.

Aber was dann oder stattdessen? Aleksandr Jakowlew, der wenige Tage später Gorbatschow einen Putsch gegen die Partei (!) vorschlagen sollte,29nannte in derselben Sitzung Bedingungen für die Einheit Deutschlands: Neutralität und Entmilitarisierung. Valentin Falin, früherer Botschafter in der Bundesrepublik, später Vorsitzender der Internationalen Abteilung des ZK, sei – so belustigt sich Tschernajew – davon ausgegangen, dass man weder in Ost- noch West-Deutschland die Wiedervereinigung auf der Tagesordnung sah.30 Nur, welche Bedingungen konnte man noch für die Einheit stellen, wenn die DDR bereits „zerbrach“? Eigentlich blieben nur noch Sicherheitsbedingungen für den Abzug der sowjetischen Truppen, möglichst auch noch gleichzeitig mit den amerikanischen, wie Gorbatschow dies am Anfang des Gesprächs zu unterstreichen versuchte. Er meinte, er könne auf „Zeitgewinn“ spielen, aber Zeit hatte er nun wirklich kaum noch angesichts des Verfalls der DDR und des Warschauer Paktes. Bei einem Besuch Modrows am 31. Januar in Moskau schlug der DDR-Ministerpräsident angesichts der aus seiner Sicht desolaten Situation in der DDR einen 3-Stufen-Plan vor: von der Vertragsgemeinschaft über eine Konföderation bis hin – in fernerer Sicht – zur Vereinigung Deutschlands. Die vier Siegermächte sollten ihre Verantwortung wahrnehmen – ein 27 Nach Hans Modrow (mit Hans-Dieter Schütt): Ich wollte ein neues Deutschland, München 1999 (ich stütze mich auf die Berliner Ausgabe von 1998), S. 126 ff. 28 Protokoll vom 27. Januar 1990. Erst im Vergleich mit seinem Tagebuch und mit anderen Aussagen kamen wir zu dem Ergebnis, dass diese Sitzung nicht am 27., sondern am 25. Januar stattfand. 29 Gorbatschow solle sich – so der Vorschlag Jakowlews – unter anderem von der Partei lösen, sich zum Präsidenten des ganzen Volkes erklären, Anteile an Betrieben und Kolchosen ausgeben, ein Mehrparteiensystem zulassen, freie Wahlen verkünden. Das sind die wesentlichen Elemente, wie sie mir Tschernajew aus seinem Tagebuch vom 30. und 31. Januar 1990 vorlas. 30 Tschernajew im Interview mit Elke Scherstjanoi und mir am 7. 12. 2001.

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Vorschlag, den beide Gesprächspartner in ihren Büchern nicht erwähnen. Dabei war für Modrow wie für Gorbatschow die erstmals auch öffentlich geäußerte wesentliche Vorbedingung: die militärische Neutralität eines vereinten Deutschland.31 Gorbatschow behauptete sogar: Anscheinend wägen sie [die USA, Anm. AvP] die Möglichkeit einer Vereinigung und Neutralisierung Deutschlands ab, sogar wenn das zum vollständigen Abzug der amerikanischen Truppen (!) aus Westeuropa führt.

Das war eine völlige Verkennung der amerikanischen Position, wie sich kurze Zeit später bei dem Besuch Bakers in Moskau zunächst bei Schewardnadse und dann auch bei Gorbatschow am 9. Februar zeigen sollte: Der amerikanische Außenminister versuchte den sowjetischen Generalsekretär in einem denkwürdigen Gespräch, das sich lohnt in der sowjetischen Fassung zu lesen,32 zu überzeugen, dass die Wiedervereinigung Deutschlands nach den kommenden Wahlen bevorstehe und dass es nur mehr um die Formen dieser Vereinigung gehe. Wesentlich war für ihn die Klärung der Verhandlungspartner, wobei er die beiden Deutschlands und die vier Siegermächte vorschlug  – und die Frage der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands. Er brachte das schon in den 1950er-Jahren genutzte Argument, dass ein neu­ trales Deutschland eine größere Gefahr sei als ein in die NATO eingebundenes, auch für die Sowjetunion. Hier ein Auszug aus dem sowjetischen Protokoll des Gesprächs: Baker: Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, die unbedingt jetzt zu beantworten ist. Vorausgesetzt, die Vereinigung findet statt, was ist für Sie respektabler: Ein vereinigtes Deutschland außerhalb der NATO, vollständig unabhängig, ohne amerikanische Truppen – oder ein vereinigtes Deutschland, das Verbindungen zur NATO unterhält, aber mit einer Garantie dafür, dass die Jurisdiktion oder das Heer der NATO nicht über die gegenwärtige Linie nach Osten ausgeweitet wird.33

Auf diese direkte, fast eine Antwort erzwingende Frage Bakers antwortete Gorbatschow nur: „Wir überlegen uns das alles. Wir beabsichtigen all diese Fragen auf der Ebene der Führung tief greifend zu beraten.“ Und dann kommt einer der wenigen konkreten Sätze zu dem angesprochenen Problem: Gorbatschow: Es ist selbstverständlich klar, dass eine Ausweitung der NATO-Zone nicht annehmbar ist. Baker: Wir sind damit einverstanden. 31 Das Gespräch mit Modrow ist in der Gorbatschow-Stiftung unter der Signatur: 90JAN30 archiviert. 32 Gorbatschow-Stiftung 90FEB09, vgl. auch Plato, Vereinigung, S. 236 ff. 33 Ebda.

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Gorbatschow: Es ist durchaus möglich,34 dass in dieser Situation, wie sie jetzt entsteht, die Anwesenheit des amerikanischen Heeres eine zügelnde Rolle spielen kann (!).35

Wenn sich Deutschland „außerhalb der europäischen Strukturen befindet“  – nicht der NATO –, „könne sich die Geschichte wiederholen“, wie die Aufrüstung Deutschlands vor dem Zweiten Weltkrieg. Gorbatschow blieb unklar: Er stimmt in der Frage der 2+4-Verhandlungen weder zu noch lehnt er ab, obwohl am 25. Januar der ähnliche Vorschlag von Tschernjajew akzeptiert worden war, allerdings als 4+2-Verhandlungen, um die Dominanz der Siegermächte deutlich zu machen. Gorbatschow machte keine klaren Aussagen zur Erweiterung der NATO auf das vereinte Deutschland, also die dann nicht mehr existierende DDR. Aber Baker flog mit dem sicheren Gefühl zurück, dass Gorbatschow sowohl der Wiedervereinigung als auch der Ausweitung der NATO sowie den 2+4-Verhandlungen zustimme. George Bush und sein Stab lehnten bereits am 10. Februar, also nur einen Tag später, die Garantie Bakers ab, die NATO „werde nicht einen Zoll“ mit der Wiedervereinigung nach Osten ausgedehnt, wobei hier noch das Gebiet der DDR gemeint war. Das führte zu tiefen Erbitterungen bei ehemaligen Sowjetführern. Der DDR-Ministerpräsident Hans Modrow fasste später zusammen: Bei der Begegnung Gorbatschow–Baker am 9. Februar sei „der Knackpunkt vom Tisch“, nämlich die Neutralität. Die Wiedervereinigung werde nun „ohne irgendwelche Vorbedingungen von Seiten der Sowjetunion“ durchgeführt.36 Baker und Helmut Kohl gaben sich fast die Klinke in die Hand, als der Bundeskanzler am 10. Februar 1990 nach Moskau kam und mit dem berühmten „Schlüssel zur Einheit“ zurückkehrte, an dem Modrow und Baker zumindest mitgeschliffen hatten. Zuvor hatte Bush in einem Brief an Kohl die Grundkonzeption seiner Außenpolitik wiederholt, aber hinzu kam der Gedanke „eines militärischen Sonderstatus für das Gebiet der heutigen DDR“. Das solle „im Kontext eines wesentlichen, letztendlich vielleicht totalen Rückzugs der sowjetischen Truppen aus Mittel- und (!) Osteuropa“ erfolgen.37 Kohl stellte Gorbatschow wirtschaftliche Hilfe und weitere Abrüstungen in Aussicht, aber wandte sich explizit gegen jede Neutralität Deutschlands, worauf Gorbatschow meinte, Neutralität sei keine „Demütigung“, und wenn die NATO ohne BRD zusammenbreche, dann gelte dasselbe für den Warschauer Vertrag ohne DDR. Es sei auch keine „ernsthafte“ Vorstellung, wenn „ein Teil des Staates in der NATO, und der andere im Warschauer Vertrag“ sei.38 34 Wörtlich übersetzt: „vollkommen möglich“. 35 Ebda. 36 Nach dem ZDF-Interview mit Hans Modrow Band 82/04:14:30–04:16:01. 37 DzD, Dok. Nr. 170, S. 784 f. Das war eine Abwandlung der Vorstellung Genschers, die von Teltschik und dem Generalsekretär der NATO, Wörner, abgewandelt worden war. 38 DzD, S. 804.

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Kohl ähnlich wie Baker: „Wir meinen, dass die NATO ihren Aktionsradius nicht ausweiten soll.“39 Im deutschen Protokoll liest sich dieser Satz klarer: „Natürlich könne die NATO ihr Gebiet nicht auf das heutige Gebiet der DDR ausdehnen.“40 An dieser „kleinen“ Differenz entstand später ein Streit, der kurz vor dem Abschluss fast zum Abbruch der 2+4-Gespräche führen sollte: Solle sich die NATO überhaupt nicht auf das Gebiet der DDR ausdehnen oder ging es um die allgemeine Schutzpflicht der NATO auch dort, ohne dass dort NATO-Soldaten stationiert seien? Bedingungen konnte Gorbatschows kaum noch stellen, da ihm die wichtigsten Faustpfänder abhandenkamen, nämlich die DDR und der Warschauer Vertrag, in dem bereits der erste Nichtkommunist (der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki) saß. Ein drittes Pfand, den des gleichzeitigen Abzugs der sowjetischen und der amerikanischen Truppen aus Zentraleuropa, sollte Schewardnadse bereits in den nächsten Tagen in Ottawa auf der „Open Sky Konferenz“ aufgeben. In der Einheitsfrage gab jedoch Gorbatschow deutlich wie selten „grünes Licht“: Gorbatschow: Man kann wohl sagen, dass es zwischen der Sowjetunion, der BRD und der DDR keine Unstimmigkeiten über die Frage der Einheit der deutschen Nation gibt und darüber, dass die Deutschen selbst diese Frage entscheiden sollen.41

Kohl konnte wie Baker mit der Sicherheit nach Hause fahren, dass die sowjetische Führung die Wiedervereinigung als Sache der Deutschen oder der deutschen Regierungen (Teltschiks Protokoll) betrachte und dass in der Frage der NATO-Mitgliedschaft die Zeit für ihn spiele. Bei den Verhandlungen um den „Open Sky“ in Ottawa nur zwei Tage später (12. bis 14. Februar 1990) gab es eine denkwürdige Auseinandersetzung zwischen den „kleineren“ Staaten Westeuropas und den 2+4-Mächten: Besonders der italienische und der holländische Außenminister wandten sich gegen die Beschränkung der Verhandlungsführung der 2+4-Staaten und wollten die anderen Westeuropäer und Polen beteiligt wissen. Es ginge schließlich auch um ihre Zukunft. Genscher habe sich dann ziemlich scharf und deutlich gegen sie gewandt mit der Bemerkung: „You are out of the game“, was Baker „schon irgendwie bewundert“ hat, da mit 16 Staaten (statt mit vieren) „die Sache nie zu Ende“ gebracht worden wäre.42 Es gab auch noch andere Gründe, die gegen weitere Verhandlungspartner sprachen: Genscher und Kohl wollten in keinem Fall den Eindruck einer Siegerkonferenz à la Versailles gegen Deutschland aufkommen lassen; und die USA wollten ein Gremium haben, in dem die Sowjetunion nicht – wie in der KSZE – breitere Unterstützung finden könnte.

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Gorbatschow-Stiftung, 90FEB10A. DzD, Dok. Nr. 174, S. 795 ff., hier 799. Gorbatschow-Stiftung, 90FEB10A. Baker u.a. im Interview mit mir 1999. Dabei rechnete er die osteuropäischen Staaten nicht mit.

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Einheit in einem Europäischen Sicherheitssystem? Ende Februar machte Horst Teltschik aus dem Bonner Kanzleramt eine neue, „engere Linie“ bei Gorbatschow und Schewardnadse aus: Gorbatschow fordere einen „völkerrechtlich verbindlichen Akt (‚Friedensvertrag’)“, „beide halten sich die Option offen und versuchen, die deutsche Frage als Hebel für ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu benutzen“.43 Nach den Wahlen in der DDR, die bekanntermaßen zu einem Sieg der von der CDU geführten „Allianz“ führten, schlug der sowjetische Botschafter in Ostberlin, Wjatscheslaw I. Kotschemassow, am 16. April dem neuen Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, statt der Neutralisierung Deutschlands „die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems“ vor.44 Bei dem Antrittsbesuch de Maizières bei Gorbatschow in Moskau am 29. April ging es wieder um die europäische Sicherheitsstruktur, auch wenn Gorbatschow berichtete, er habe Bush kurz vorher auf dessen Vorschlag der Mitgliedschaft der DDR in der NATO geantwortet: Warum könne denn nicht das vereinigte Deutschland in den Warschauer Vertrag eintreten? Das habe Bush in Verlegenheit gebracht. De Maizière erklärte gegen Gorbatschow: De Maizière [anders als Kohl, Anm. AvP]: Ich bin überzeugt von der Notwendigkeit eines europäischen Sicherheitssystems, aus dem man natürlich die Amerikaner nicht ausschließen darf, denn ohne ihr Mitwirken gäbe es keine internationale Stabilität. […] Gorbatschow: Es ist wirklich so, wie Sie bemerkt haben, dass sich der gesamteuropäische Prozess und die Vereinigung Deutschlands unterschiedlich schnell entwickeln. Und wir müssen gemeinsam überlegen, wie man dies korrigieren kann. Die Vereinigung muss sich gut in den gesamteuropäischen Kontext einordnen. Dies muss auch zum Thema ernsthafter Gespräche bei den Treffen der „Sechs“ werden. Eine Entwicklung neuer Strukturen der Sicherheit in Europa ist unabdingbar.45

Ähnlich äußerte sich Gorbatschow in dem Gespräch mit Horst Teltschik Mitte Mai 1990 in Moskau, als Teltschik mit allen sowjetischen Größen hauptsächlich um einen Kredit für die in extreme Zahlungsbedrängnis geratene Sowjetunion verhandelte. Teltschik: […] die schwierige Situation in solch einem Gespräch ist, dem Partner zu verstehen zu geben, dass wir einen solchen Kredit als Teil der Gesamtlösung ansehen, ohne dass es verärgert, weil wir es sagen, ohne dass Sie hier schlechte Gefühle auslösen. Das war mein Auftrag. 43 Vorlage des Ministerialdirektors Teltschik an Bundeskanzler Kohl, Bonn, 22. Februar, in: DzD, Dok. 191, S. 857 ff. (Hervorhebungen von mir). 44 In: Texte zur Deutschlandpolitik, Reihe III/Bd. 8a (1990), S.161 ff. Hervorhebungen von mir. 45 Gespräch de Maizières mit Gorbatschow in Moskau am 29. April 1990 in: Gorbatschow-Stiftung, 90APR29. De Maizière bestätigte dieses Protokoll im Gespräch mit mir am 1. 11. 2000.

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AvP: Was war denn jetzt die Gegenleistung? Teltschik: Die Gegenleistung war, dass wir gesagt haben, der Kredit ist mit der Preis, den wir zahlen für die NATO-Mitgliedschaft. AvP: Für die NATO-Mitgliedschaft. Also, das ist ja der wichtige Punkt. Teltschik: Ja. Also, das gehört mit zum Paket. […] Am Ende haben wir immer von einer Paketlösung gesprochen. Wir müssen ein Paket von bilateralen, multilateralen Maßnahmen knüpfen, damit wir Gorbatschow über die Hürde der NATO-Mitgliedschaft helfen.46

Genau diese Tatsache erwähnt Teltschik noch nicht in seinem Buch von 1993, sondern erst auf Nachfrage in diesem späteren Interview aus dem Jahre 2000.47 Warum er in seinem Buch die „Gegenleistung“ der NATO-Mitgliedschaft weglässt und warum er die Gelegenheit nicht nutzt, diese Kreditverhandlungen als Durchbruch in der Frage der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland darzustellen, und zwar zwei Wochen vor den Amerikanern, war mir unverständlich. Denn auf diese Weise sollten es Bush und seine Regierung sein, die sich später diesen Erfolg an die eigene Brust heften konnten. Wäre das im Interesse der Bundesregierung gewesen? Sollte es vielleicht genauso sein oder so erscheinen, dass die Amerikaner diese schwierige Frage im Gespräch mit Gorbatschow entscheiden? Oder hat Teltschik diesen Tauschhandel – Kredit gegen NATO-Mitgliedschaft – gar nicht angesprochen, wie Portugalow dies mir gegenüber erklärte, da dies den diplomatischen Gepflogenheiten widerspreche?48 Gorbatschow wies diese Behauptung Teltschiks empört als Lüge zurück. Die Sowjetunion habe sich nicht kaufen lassen.49 Aber es war eine Zeit, in der Gorbatschow verärgert war über die Amerikaner und von den „Anfänge(n) einer Art amerikanischen Revanchismus“ sprach. „Wir orientieren uns auf sie [die Europäer] im Kontext des gesamteuropäischen Prozesses“, „Europa ist uns näher als alles andere“.50 Wenig später, am 25. Mai 1990, fragte der französische Präsident, welche Variante denn Gorbatschow gegenüber dem Vorschlag der Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO anbieten könne? Gorbatschow [direkt wie nur selten, Anm. AvP]: Die Mitgliedschaft des zukünftigen Deutschland gleichzeitig in beiden Blöcken. Mitterrand: Ich denke nicht, dass dieser Vorschlag, eigentlich ein kluger, angenommen wird. Dabei möchte ich erinnern, dass ich persönlich für die allmähliche Liquidierung der Militärblöcke eintrete. 46 47 48 49

Teltschik im Gespräch mit mir am 27. 9. 2000. Darunter auch im Gespräch mit mir. Siehe Teltschik, 329 Tage, 230 ff. Portugalow im Gespräch mit mir am 1. 10. 2001 in Moskau. Brief Gorbatschow an mich vom 3. 3. 2002. Teltschik meint jedoch, dass allen klar gewesen sei, worum es ging, auch wenn er sich diplomatisch ausdrücken musste (Teltschik im Gespräch mit mir am 27. 9. 2000). 50 Sowjetisches Protokoll des Gesprächs Gorbatschows mit Horst Teltschik in der Gorba­ tschow-Stiftung, 90MAY14.

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Der französische Präsident erklärte weiter, die Sicherheitsfragen stünden momentan im Vordergrund, aber nicht nur für die Sowjetunion, sondern […] auch für die europäische Sicherheit im Ganzen. Von diesem Ziel lasse ich mich leiten, speziell, wenn ich meine Idee über die Schaffung einer europäischen Konföderation vorbringe. Sie ähnelt Ihrer Konzeption vom Bau des gesamteuropäischen Hauses. Man könnte sagen, dass ihre Idee vom gesamteuropäischen Haus mehr Konzeptcharakter trägt, während mein Vorschlag zugleich mehr politisch-juristisch angelegt ist. Auf diese Weise braucht die zukünftige Konföderation entsprechende Strukturen. […] Wir könnten nicht nur bei den Fragen der Sicherheit eine gemeinsame Position finden, sondern auch bei der Technologie, bei der Umwelt und in vielen anderen Sphären.51

In Washington, nicht einmal eine Woche später, schlugen Schewardnadse und Gorbatschow in Gesprächen mit der amerikanischen Führung dennoch vor, dass die beiden deutschen Staaten in beiden Militärblöcken bleiben sollten. Gorbatschow meinte: „Aber danach folgt selbstverständlich die Reform der Blöcke selbst – in organischer Verbindung mit den Wiener und gesamteuropäischen Prozessen.“ Im weiteren Verlauf des Gespräches in Washington kam es dann zu der Entscheidung in der NATO-Frage, bei der es dann auch blieb: Gorbatschow: Lassen Sie uns eine öffentliche Erklärung über die Ergebnisse unserer Gespräche abgeben, dass der Präsident der USA zustimmt, dass ein souveränes vereinigtes Deutschland selbst entscheidet, welchen militär-politischen Status es wählt – die Mitgliedschaft in der NATO, die Neutralität oder etwas anderes. […] Bush: Ich würde eine etwas andere Redaktion vorschlagen: Die USA treten eindeutig für die Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO ein, allerdings, wenn es eine andere Wahl trifft, werden wir sie nicht anfechten und sie achten. Gorbatschow: Einverstanden. Ich nehme Ihre Formulierung.

Die amerikanische und die deutsche Regierung hatten also spätestens seit Ende November 1989 eine klare Strategie: Vereinigung Deutschlands ja, aber im Rahmen der NATO. Die sowjetische Führung schwankte demgegenüber und legte wechselnde Strategien vor: Zuerst Zweistaatlichkeit Deutschlands als Garant des Friedens in Europa, dann Neutralität einer Konföderation beider deutscher Staaten, davon abweichend und manchmal zur selben Zeit: beide deutschen Staaten in beiden Militärblöcken oder die Sowjetunion als Mitglied der NATO52 und schließlich – seit Ende Februar 1990 zaghaft, seit Ende April deutlich – ein neues europäisches Sicherheitssystem, in dem das vereinte Deutschland seinen Platz findet. 51 Gorbatschow-Stiftung, Dok. 90May26. 52 Gespräch des Ministerialdirektors Teltschik mit dem Berater der Abteilung für internationale Beziehungen des Zentralkomitees der KPdSU, Portugalow, Bonn, 28. 3. 1990 in: DzD, Dok. Nr. 232, S. 981 ff.

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Man stelle sich vor: Fünf, vier oder sogar drei Monate früher wären diese strategischen Vorschläge gemacht worden: Wiedervereinigung ja, aber nur unter dem Dach einer gemeinsamen neuen gesamteuropäischen Sicherheitsallianz, die die NATO und den Warschauer Pakt ablösen sollte … Ein weiterer Brennpunkt setzte die Sowjetunion unter Druck: Die Ereignisse in den baltischen Staaten, besonders in Litauen, bedrohten den verfassungsmäßigen Bestand der Sowjetunion­und die Position Gorbatschows vermutlich noch stärker als die „deutsche Frage“. Denn in den baltischen Staaten hatte es bereits im Sommer 1989, Demonstrationen für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion und eine Menschenkette von fast 600 Kilometern Länge am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, dem 23. August 1989 gegeben. Im Dezember 1989 sagte sich eine Mehrheitsfraktion der Kommunistischen Partei Litauens von der KPdSU los, strich den Führungsanspruch der Partei aus der litauischen Verfassung und führte ein Mehrparteiensystem ein.53 Im Februar 1990 endeten die ersten freien Parlamentswahlen in Litauen mit einem Zweidrittelsieg für die demokratische „Sajudis“. Am 11. März 1990 erklärte Litauen als erste Republik der sowjetischen Unionsrepubliken seine staatliche Unabhängigkeit und nannte sich Republik Litauen. Tschernajew sagte später: „Hier entschied sich für die Sowjetunion: Sein oder Nichtsein. Es setzte ein Domino-Effekt ein.“54 In der Tat, in Aserbaidschan, in Armenien und in den anderen baltischen Staaten waren diese Steine bereits in Bewegung. Diese ganze Entwicklung zeigt: Die Unabhängigkeitserklärung Litauens war wahrscheinlich die Wende der Gorbatschow-Ära:55 Nun ging es nicht mehr nur um den Sicherheitscordon und einen Vasallen wie im Falle der DDR, sondern es drohte der innere Zerfall der Union der Sowjetrepubliken.56 Gorbatschow sandte sogar Militär und war nach den Aussagen von Thatcher tief „deprimiert“, dass ihn der Westen ohne Unterstützung ließ. Kohl und Mitter53 Zur Änderung der litauischen Verfassung vgl. die Frankfurter Allgemeine Zeitung (8. 12. 1989); Iswestija (8. 12. 1989). 54 Im Gespräch mit Elke Scherstjanoi, die übersetzte, und mir am 6. 12. 2001. 55 Gorbatschow Mitte Dezember 1989: „Diese (separatistischen) Bestrebungen liefen nicht nur einer positiven Entwicklung Litauens entgegen, sondern brächten auch Gefahren für das europäische Nachkriegshaus, das mit großer Mühe aufgebaut worden sei.“ Zit. nach Keesings Archiv der Gegenwart, 34173. 56 Die Unabhängigkeit von Sowjetrepubliken war sicherlich auch für die Gegner Gorbatschows im Politbüro und im ZK der KPdSU das alarmierendste Signal, wesentlich erschreckender und bedeutsamer für sie und die Militärs als die deutsche Frage, deren Lösung ohnehin in einer unbestimmten Zeit erwartet wurde. Sie begannen sich – wie Tschernjajew mir gegenüber erklärte  – erst ab dem Frühjahr/Sommer 1990 gegen Gorbatschow zu sammeln, vorher und auch Mitte 1990 könne von Putschgefahr – wie sie Kohl und Teltschik für den Januar 1990 befürchteten und damit die Eile ihrer Wiedervereinigungspolitik begründeten – keine Rede gewesen sein. Fast alle, die den späteren Putsch vom 21. August 1991 gegen Gorbatschow anführten, waren bei den Einheitsbeschlüssen zu Deutschland beteiligt, wie KGB-Chef Wladimir A. Krjutschkow und Marshall Sergei F. Achromejew, der sogar in Washington Ende Mai /Anfang Juni 1990 dabei war und nach dem dilettantischen Putsch Selbstmord beging. Falin nahm ebenso wenig wie Gorbatschows Hauptgegner im Politbüro, Jegor K. Ligatschow, unmittelbar am Putsch teil.

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rand hatten Sorge, dass durch die Entwicklungen in Litauen Gorbatschow gefährdet wäre und schlugen ein Junktim für die Unabhängigkeitserklärung Litauens vor. Eine weitere Frage blieb während der ganzen Verhandlungen um Wiedervereinigung und 2+4-Vertrag besonders brisant: die der Westgrenze Polens bzw. der Ostgrenze des vereinten Deutschland. Die Regierung Kohl und besonders der Bundeskanzler selbst wollten diese Grenzfrage erst durch einen Vertrag zwischen Polen und der ersten Regierung des vereinten Deutschland regeln lassen. Hier gab es zwar Differenzen zwischen Kohl und Außenminister Genscher,57 auch Horst Teltschik hat m.E. nicht immer dieselbe Position wie der Kanzler eingenommen ebenso wenig wie die im März 1990 neu gewählte DDR-Regierung unter de Maizière und seinem sozialdemokratischen Außenminister Markus Meckel.58 Die wechselnde oder zögerliche bis ablehnende Haltung Helmut Kohls führte immer wieder zu Auseinandersetzungen in den 2+4-Verhandlungen und mit der polnischen Seite fast aller politischen Richtungen. Ganz im Gegensatz zu der Haltung des Kanzlers war die der Amerikaner eindeutig und durchgängig: Von Anfang an hatten sie die Beibehaltung und Anerkennung sämtlicher Grenzen in Europa zu einer Grundsatzfrage ihrer Politik gemacht: auf dem Jubiläumsgipfel Ende Mai 1989, innerhalb der „4 Grundsätze“ Bushs Ende November und Anfang Dezember desselben Jahres, auch gegenüber Gorbatschow, den Litauern oder den Polen. In den Interviews mit Bush und Baker erklärten beide, sie hätten Kohl in seiner Wiedervereinigungspolitik „offensiv“ (Baker) unterstützt, „vorausgesetzt allerdings, dass Deutschland die Oder-Neiße-Grenze respektiert, vorausgesetzt, dass Deutschland nicht seine NATO-Mitgliedschaft aufgeben würde“.59 Condoleezza Rice spricht sogar von einer „mittleren PR-Katastrophe“, die Kohl mit einigen unklaren Äußerungen zur Grenzfrage gemacht hätte.60 Kohl dagegen wünschte auch im Gegensatz zu der DDR Regierung unter de Maizière eine Abstimmung über die Außengrenzen Deutschlands erst nach der Einheit durch das gesamtdeutsche Parlament. Er begründete seine – auch sehr emotionale – Haltung in dieser Frage unter anderem mit den Vertriebenen in Deutschland. Wie wenig er selbst an deren Macht glaubte, zeigt sich in der folgenden Passage seines Gesprächs mit Gorbatschow am 10. Februar 1990: Kohl: Wenn ein Referendum darüber durchgeführt würde, dass die Vereinigung von DDR und BRD die gleichzeitige endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze brächte, so würden sich 92–93 Prozent dafür aussprechen [im Original im Indikativ, Anm. AvP]. Aber wenn man ehrlich ist, so geht bei vielen Menschen der Schmerz in der Seele nicht weg. Die57 Genscher hatte schon am 31. Januar 1990 in Tutzing erklärt: „Eine Grenzgarantie an alle unsere Nachbarn muß die erste gemeinsame Willensbekundung der beiden deutschen Parlamente und Regierungen sein.“ Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 714. 58 De Maizière hat mir gegenüber geäußert, dass Genscher ihn in dieser Frage manchmal „vorgeschickt“ hätte, und hat auf Nachfrage zweimal einer Veröffentlichung dieser Äußerung zugestimmt. (Im Gespräch mit mir am 1. 11. 2000; Bestätigung in einem weiteren Gespräch am 4. November 2009 in Stade.) 59 Im Gespräch mit mir am 25. 9. 1999 in Washington. 60 So auch im Gespräch mit mir am 17. 9. 1999.

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ses Problem ist ein Teil der Innenpolitik der BRD. Auf mich wird Druck ausgeübt, auf einen bestimmten Teil der Wähler einzuwirken, ihre Stimmen zu erobern. Aber ich halte an den vertraglichen Abmachungen fest.61

Resümee Das Weiße Haus hatte sehr früh 1989 die Politik der Einheit Europas und Deutschlands entwickelt, und zwar als strategisches Konzept, um die Sowjetunion in Europa zurückzudrängen und den eigenen Einfluss auf Osteuropa auszudehnen. Das führte 1989/90 zu einer Interessensnähe zur deutschen Bundesregierung mit ihrer Hoffnung auf Wiedervereinigung. Diese Interessensnähe war die entscheidende Voraussetzung der „deutsch-amerikanischen Erfolgskombination“ dieser Jahre, die die Einheit Deutschlands, Souveränität und parlamentarische Demokratien in den meisten osteuropäischen Staaten, eine deutliche Reduktion des sowjetischen bzw. russischen Einflusses in Osteuropa und die Ausdehnung der NATO, bald auch der Europäischen Union, bis an die Grenzen Russlands brachte. Die bundesdeutschen und die amerikanischen Interessen waren ähnlich gelagert, aber nicht identisch; Bonn ging es vor allem um die deutsche Einheit innerhalb der europäischen Gemeinschaft und der NATO, Washington darüber hinaus um den strategischen Einfluss in Mittel- und Osteuropa mit der NATO. Diese Differenzen zeigten sich u.a. in der „baltischen Frage“ und in Unterschieden bei der „endgültigen Fixierung“ der Oder-Neiße-Grenze zwischen Polen und Deutschland vor der Einheit. Darauf reagierte man besonders in Polen äußerst empfindlich: Nur 41 Prozent waren dort für, aber 44 Prozent gegen die Wiedervereinigung; in Russland waren 60 Prozent (!) für die Einheit Deutschlands, nur 24 Prozent dagegen.62 Man hatte in dem ganzen Gürtel zwischen Russland bzw. der Sowjetunion, Preußen/ Deutschland und Österreich jahrhundertelange Erfahrungen mit dem Hegemoniestreben und den Drohungen der europäischen Großmächte. 1989/90 dürfte ein weiterer Grundstein – neben anderen, auch wirtschaftlichen Hilfen – für das große Vertrauen gelegt worden sein, das man den (fernen) USA in Osteuropa auch in den 1990er-Jahren entgegenbrachte bei gleichzeitigem Misstrauen gegenüber Russland und Deutschland. Dieses Vertrauen war sicherlich ein Grund für die spätere Unterstützung der USA durch einige Staaten Osteuropas im zweiten Irak-Krieg.63 61 Nach dem sowjetischen Protokoll (Gorbatschow-Stiftung, Gesprächsprotokolle, 90FEB10A.). Vgl. auch das Gespräch Kohls mit Baker vom 12. 12. 1990, in dem Kohl sagte: „Wenn es zur deutschen Einheit komme, werde die Grenzfrage mit Polen keine Sekunde ein Problem darstellen.“ (DzD, Dok. Nr. 120 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Außenminister Baker Berlin [West], 12. Dezember 1989. S. 636 ff.), aber nach Kohls Auffassung erst nach der Einheit. 62 Gerhart Maier: Die Wende in der DDR, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1990, S. 100. 63 Baker sah übrigens das Ende des Kalten Krieges nicht in der Wiedervereinigung, sondern in der Unterstützung der amerikanischen Irak-Politik in der UNO durch Schewardnadse. (Baker u.a. auch im Gespräch mit mir 1989.)

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Die sowjetische Führung hatte 1989/90 enorme wirtschaftliche Probleme, geriet bald auch innenpolitisch extrem unter Druck, besonders durch die Entwicklungen im Baltikum und in Aserbaidschan. Außenpolitisch mussten die inneren Schwierigkeiten der Staaten des Warschauer Pakts und schließlich – aus Sicht der Sowjetunion – der ökonomische und politische Niedergang der DDR abgefedert werden. Die Sowjetunion konnte die DDR finanziell nicht unterstützen, sondern verwies DDR-Staatsbesucher immer wieder auf die Bundesrepublik. All diese Probleme waren selbst für „einen Herkules der Geschichte“ zu viel. Außerdem musste Gorbatschow erkennen, dass mit dem sowjetischen System diese fundamentalen Probleme nicht zu lösen waren.64 In seiner Konsequenz, die Sowjetunion aus dieser Diktatur herauszuführen, wird wohl seine größte historische Leistung liegen. Hier ging es mir jedoch um eine Hauptfrage: Warum hat die Gorbatschow-Führung so schwankend auf die klare Strategie Washingtons und Bonns reagiert (Beibehaltung der DDR, Mitgliedschaft des geeinten Deutschland in der NATO)? Die sowjetischen Antworten waren zum Teil parallel: Beibehaltung der Zweistaatlichkeit Deutschlands, Neutralisierung, beide deutschen Staaten in beiden Militärbündnissen, das vereinte Deutschland in einem neuen europäischen Sicherheitssystem und schließlich: das vereinte Deutschland in der NATO. Das lag nach Gorbatschows Aussage noch am 25. Januar nicht im sowjetischen Interesse. Die eigentliche Herausforderung für Politologen und Zeithistoriker müsste die Frage sein: Warum entwickelte Gorbatschow die Strategie des vereinten Deutschland in einem europäischen Sicherheitssystem vorsichtig erst Ende Februar, deutlich erst im April 1990, als alle seine Trümpfe nicht mehr stechen konnten, als die SED-DDR nicht mehr existierte und der Warschauer Vertrag seiner Auflösung entgegentrieb? Die zweite Herausforderung besteht darin, dass sich in dieser Strategie eines vereinten Deutschlands im Rahmen eines europäischen Sicherheitssystems Mitterrands frühe und vorsichtig andeutende Versuche vom Dezember 1989 wiederfinden – allerdings zu einer Zeit, als die Chancen für eine solche Politik sehr viel besser standen. Dass Mitterrand ganz im Gegensatz zu Margaret Thatcher für die Wiedervereinigung war, wenn sie den europäischen Einigungsprozess nicht gefährden würde, und dass dabei die Frage einer europäischen Sicherheitsarchitektur eine Rolle spielen müsste, ist nicht nur mir aus den Gorbatschow-Protokollen entgegengeschlagen, sondern ist auch in anderen Untersuchungen über die Elysée-Politik analysiert worden.65 Der Satz von Portugalow, man habe „den Dicken [also Kohl, Anm. AvP] nicht auf die Folterbank gespannt, sich zwischen Einheit und Westbindung zu entscheiden“,66 müsste aus sowjetischer Sicht für die damaligen Situation eigentlich anders lauten: Die sowjetische Seite 64 Auf dem Beratertreffen am 25. Januar 1989 hatte Gorbatschow für ihn deprimierende Dinge über die Sowjetunion gesagt: Die sowjetische Gesellschaft sei im „Vergleich zu ähnlichen“ „am meisten verfault, und nichts kann die Gesellschaft retten“. Die eigene Gesellschaft sei zu stark ideologisiert (eigentlich „verideologisiert“). „Und die Partei ist nicht in der Lage, sich zu erneuern.“ (!), vgl. Plato, Vereinigung, S. 194. 65 Tilo Schabert: „Wie Weltgeschichte gemacht wird“. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart 2002. 66 Gespräch zwischen Nikolai Portugalow, dem Filmproduzenten Ulrich Lenze und mir am 10. 5. 1999 in Berlin.

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hat es versäumt, Kohl früh auf die Folterbank zu spannen, sich zwischen deutscher Einheit unter dem Dach der NATO oder unter dem Dach eines europäischen Sicherheitssystems unter Einschluss der USA und der Sowjetunion zu entscheiden. Denn die Neutralität wäre weder von den Nachbarn Deutschlands nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs noch von den USA akzeptiert worden. Es wird häufig unterstellt, dass Gorbatschow eine europäische Sicherheitsarchitektur ohne Einbeziehung der Amerikaner wollte. Das ist jedoch falsch: Gorbatschow vertrat explizit mehrfach – zuletzt eben auch in Washington Ende Mai 1990 – die Einbeziehung der Amerikaner in eine erhoffte europäische Sicherheitsstruktur. Auch wenn man eine deutsch-europäische Per­ spektive versucht wie ich, bleibt die amerikanische Politik 1989/90 ein beeindruckendes Zeug­ nis eines strategischen Denkens, das in Europa und besonders an europäischen Universitäten selten ist. Aber warum hört man in dieser Debatte nur den Vorwurf des Antiamerikanismus und nie den Vorwurf der Europafeindlichkeit? Eine Lösung der deutschen Frage in einem europäischen Verhandlungsrahmen, auf den die USA geringeren Einfluss als innerhalb der NATO gehabt hätte, fürchtete die Bush-Administration: Immer wieder war dies – wie erwähnt – von ihren Repräsentanten formuliert worden: explizit von Bush selbst gegenüber Kohl, von Eagleburger ebenfalls dem Bundeskanzler gegenüber (auch in seiner Kritik an den Äußerungen von Jacques Attali in diese Richtung) oder vom amerikanischen Sicherheitschef Brent Scowcroft gegenüber Teltschik am Rande der Wehrtagung in München am 3. Februar 1990.67 Den drei Großen in Europa war gemeinsam: Sie wollten Gorbatschow halten und riskierten dafür Misshelligkeiten mit den Oppositionsbewegungen in Osteuropa. Die kleineren Staaten Westeuropas fühlten sich zumeist von den 2+4-Verhandlungen ausgeschlossen und hatten Sorge vor einer übermäßigen Stärke des vereinten Deutschlands. Die „Generationenangst“ vor den Deutschen bei all jenen, die den Krieg erlebt hatten oder die die Teilung als Strafe für die nationalsozialistischen Verbrechen empfanden, mag auch die verschiedenen Staatsführer in Europa geeinigt haben. Thatcher und Mitterrand gaben trotz ihrer fundamentalen Unterschiede dieser „Generationenangst“ deutlichen Ausdruck, als sie Anfang Dezember 1989 bei einem Treffen neben dem Europarat in Straßburg vermuteten, dass sich die Deutschen auch Ostpreußen, das Sudetengebiet und West- und Südpolen „wiederholen“ wollen.68 Kohl beschrieb die Stimmung gegen ihn in Straßburg als „eisig“ – die Ausnahme war Spaniens Ministerpräsident Felipe González. Zum guten Ende: Wenn man die Wiedervereinigungspolitik nur als deutsches Problem und unter deutsch-amerikanischen Vorzeichen sieht, war sie ein Erfolg. Aber wenn man sie unter der Möglichkeit eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems bei Einschluss der Sowjet­ 67 Teltschik, 329 Tage, S. 127. Vgl. auch die Einleitung von Hanns Jürgen Küsters in DzD, S. 91. 68 Thatcher betonte, dass sie kein „Appeaser“ gegenüber Kohl sei, kein Beschwichtigungspolitiker wie der britische Premier Chamberlain 1938 in München gegenüber Hitler (!). Vgl. Jacques Attali: Verbatim III (1988–1991), Paris 1995, S. 450; vgl. auch Alan Clark: Diaries, London 1994.

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union und der USA betrachtet, ist die Einheit unter amerikanischer NATO-Dominanz zugleich ein Misserfolg der europäischen Staatengemeinschaft, die sich bei einem Erfolg von beiden Großmächten unabhängiger hätte machen können. Die Folgen sah man erst später und Rumsfeld hat die Lage auf den Punkt gebracht. (Die russischen Protokolle und Gespräche wurden von Peter Erler und Elke Scherstjanoi ins Deutsche übersetzt.)

Bernt Hagtvet

Preventing Mass Murder in the 21st Century Some Lessons from the Past Why genocides? What are the political, social, psychological and economic preconditions for mass violence? Let me start with a telling episode. When the French film maker Claude Lanzmann was filming his 9–hour dissection of human evil in the film Shoah (1985) he asked a Polish peasant whose fields abutted a death camp what he felt when he saw human ash from the crematorium chimneys raining down on his fields. The peasant replied: “When I cut my fingers, I feel it. When you cut your finger, you feel it.” The man’s response takes us to the heart of our theme.1 How do humans react to the sufferings of others when it does not directly affect them? Is a crime committed against Jews or any other group of human beings also a crime against those who do not belong to that group? Is there such a thing as moral universalism? The answer is obvious only if we work on the assumption that we belong to the same species and that we owe each other the same duties of care, equal rights in modern parlance, irrespective of our place of birth, gender, beliefs, political ideologies and age. This concept came late to mankind and to judge from the horrible events from the last century, even the last decade and today in Darfur and Northern Congo, the idea of a unitary mankind across cultures, regimes and religions is still struggling to make an impact against the more evident idea of cultural borders: that race, colour, creeds or national identity, even ideological allegiance, mark impassable moral frontiers separating and differentiating our obligations. The Polish peasant did not say he had no feelings towards the Jews. He was only admitting that he did not feel very much about them and that his more intense feelings of kinship were reserved for people more like himself. To this extent ethics follow feelings; his codes instructed him to care only for his own. In his ethical particularism, he reasoned as most humans do.

* * * Which reminds us that most moral principles take root within tribal boundaries and remain confined by the tribe’s allegiances and interests. Today we are still flabbergasted by the ease with which for example the Anglican Church in the West Indies in the 1700s, with no moral qualms whatsoever, could sell and dispose of persons as things at market value as a normal part of commercial exchange. Four of the first five American presidents were slave owners. Only 1 Shoah, France 1985, director: Claude Lanzmann, 550 min. Cf. Claude Lanzmann: Shoah. The complete text, Cambridge, Mass. 1995, p. 18.

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Washington freed his slaves after his death. This episode brings us to the most difficult questions: What is the relationship between social structure, state power, regime type, ideology and systematic human rights abuses? What are the mechanisms, particularly the numbing effects of political ideologies and frequently monotheistic religions, behind the removal of entire groups from the universe of moral obligation? How to explain the suspension of normal moral impulses and mechanisms of self-control in the face of totalitarian, race and nationalist belief systems? The German social psychologist Harald Welzer puts the question succinctly: Perpetrators of genocides are not immoral. ‘Decency’, Anständigkeit is often their most used epithet about themselves.2 Genocides are about a different kind of moral. What kind? Human beings seem to be the only kind intent on killing their own species to the last individual, exterminate their own down to the last baby. Why as a species do we do this with such intensity and self-righteousness?

* * * From the beginning of recorded history dominant peoples have attacked and chased off their lands less powerful peoples and groups they deemed subordinate and alien. Homer’s Iliad is full of brutal and shocking examples of what one might call ethnic cleansing, as is the Old Testament. Recent historiography on genocide begins its historical overview with the Assyrians and the Babylonians. In the 20th century the convenient starting point is with the German massacres of the Herero in South-West Africa, today’s Namibia, in 1904. Mass murder on the basis of race was already part of European colonial history at the dawn of the new century. Some estimates of the numbers affected worldwide by ethnic cleansing across the twentieth century put the figure at anywhere between 60 and 120 million (Michael Mann).3 The American political scientist R.J. Rummel argues that three times more people have been killed by governments – independent of war and other kinds of conflict – than by wars. His numbers are close to 120 million, Marxist governments of different stripes being responsible for about 95 million, compared to approximately 35 million battle-dead in all foreign and domestic wars in this century.4 Why?

* * * We have been asking these questions since we began killing each other; but we have also been trying to put an end to it, and our attempts to rein in our genocidal impulses go some way towards redeeming our honour as species.  The constitutional state for example, the idea of division of 2 Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder wurden, Frankfurt a. M. 2005. 3 Michael Mann: The dark side of democracy. Explaining ethnic cleansing, Cambridge, Mass. 2005, p. 2. 4 R.J. Rummel: Death by government, New Brunswick, NJ 1994.

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power and its guarantees of equal rights for all was an attempt, in the words of James Madison in 1787, to “make ambition counteract ambition”. Constitutions are prudent yet often ineffectual responses to the temptations of power and our inherent weaknesses for excessive application of state power. The attempts to set up formal dikes, both institutional and moral, against mass killings constitute an important stage in the process of civilizing political systems, but the killings go on. Clearly, judicial mechanisms are not sufficient to banish this scourge from the face of the earth. The threat of sentence is not sufficient to mitigate the human propensity to resort to extermination as the ‘final’ solution. We should not fall prey to the illusion that globalization will foster more understanding between peoples. Globalization of communication can spread hatred just as efficiently as human rights norms. There is no evidence that knowing each other better will bring more peace or understanding. Knowing each other can also entail deeper knowledge of the cultural and social roots of prejudice without accepting these prejudices. As the French say: Comprendre, ce n’est pas pardoner! With the ‘democratization’ of weaponry we will probably see an increase in acts of terrorism in the next century.

* * * By most measures historians and social scientists agree that the 20th century is the most lethal in recorded history. The century’s distinctive contribution is that of a brutal combination of ideology and technology unknown to previous ages. In the fall of 2008, within a matter of weeks we marked three historical events which illustrate the extremes of this century: First, the 90th anniversary of the armistice and end of the First World War, November 11, 1918; secondly, the 70th anniversary of the Kristallnacht, November 9, 1938, which pushed German Jewry into an abyss of humiliation and set the stage for the Holocaust; and finally, the 60th anniversary of two momentous attempts to come to grips with man’s inhumanity towards man: the UN Genocide Convention which was passed by the General Assembly on December 9th, 1948, and the Universal Declaration of Human Rights which was enacted the day after. The first half of the 20th century, spanning the era from 1914 to 1950, included the two world wars, ‘the European Thirty Years War’, as the period has been called.5 While the most brutal conflicts of the 19th century – the Crimean War of 1854–6 and the Franco-Prussian War of 1870–1 – left approximately 584,000 dead, in the First World War the number of dead totaled more than eight million combatants and perhaps a further five million civilian casualties. In the Second World War 40 million civilian and military dead would be a mild estimate. Not included in these figures are the refugees.  Estimates of the numbers affected worldwide by ethnic cleansing across the 20th century put the figures anywhere between 60 and 120 million. We all know somehow that wars have been extremely brutal. Less prominent in our collective memory is the more recent research finding that the total number of people killed by civilian governments independent of wars and other kinds of conflicts is almost four times 5 The first use of this notion can be found in: Sigmund Neumann: The future in perspective, New York 1946.

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that of wars. The American political scientist R.J. Rummel has been at the forefront of this paradigm shift in the study of collective violence. His estimate is that governments have probably murdered about 120 million people, Marxist governments of all stripes most probably are responsible for 95,200,000 of them. By comparison, the number of deaths on the battlefield in all foreign and domestic wars in the 20th century totals 35,700,000. The sheer scale of this inhumanity is astounding. There is no point in haggling about specific numbers. What the scholarly community world-wide now must face up to are questions of why some states have been more prone to this systematic brutality than others. This interdisciplinary and cross-cultural field of inquiry into this dark side of civilization should now occupy us more and more, as scholars and as fellow human beings.

* * * Responding to genocide was a prime motivation behind the new institutions created after 1945: The UN, the Universal Declaration of Human Rights, the UN Genocide Convention, and more recently the International Criminal Court. We now know that there was a close link between the horrors of Nazism and this new system of international law, with the 1946 Nuremberg trials as an important milestone. Originally, human rights were not going to be part of the UN agenda in 1945. But after British troops had stumbled on the concentration camp Bergen-Belsen on April 15, 1945, finding typhus raging among 40,000 starving, dying prisoners and 13,000 corpses stacked on the grounds and actually filmed the entire tragedy, it was clear that mankind had reached a Stunde Null, the nadir of civilization. The footage reached the UN conference in San Francisco and spawned the widespread feeling of “never again!” This was translated into the International Bill of Rights which today provides the normative basis for state power in most of the nations around the globe. But again, the question remains: Why is this system so impotent in the face of enduring tragedy as the one in Darfur and the Congo, where experts talk of 300,000 and 3 million starved or killed.

* * * We have celebrated the 60 anniversary of these two momentous milestones in the history of human civilization. First, the UN Genocide Convention of December 9, 1948, which defined a new type of crime punishable by law: the attempt to kill wholesale entire groups of innocent people for whatever reason just for them being members of a group. Inspired by one of the silent heroes of the 20th century, the Polish jurist Raphael Lemkin, it tried to renew international law by introducing a new legal category to make punishable the most lethal crime ever: categorical murder. That is, the mass killing of people on the basis of definition, not for what they purportedly had done, but what they were: Jews, Roma, homosexuals, Slavs or whatever.6 th

6 Raphael Lemkin: Axis rule in occupied Europe. Laws of occupation – analysis of government – proposals for redress, Washington, D.C. 1944.

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And secondly, the UN Universal Declaration of Human Rights which provided a standard of achievement for all peoples to protect the inviolability of the individual in the face of totalitarian onslaughts everywhere. The message was crystal clear: No regime, no religion, no culture, no construct of civilization can be used as an excuse for violating one basic principle: equal rights, equal dignity for everyone. Neither Lemkin nor Mrs. Eleanor Roosevelt and her brave colleagues in the UN Human Rights Commission in 1948 could foresee the importance of their efforts. Lemkin died in 1959, a disappointed and broken man, his convention was left mostly unobserved until the 1990s, when once again the world made acquaintance with genocide, in Rwanda when 800,000 people were macheted in a few spring months, and following the dissolution of Yugoslavia which unleashed a war that cost the lives of approximately 200,000 people. And again today, the impotence of the international community in Darfur where a tyrant, the Sudanese president al-Bashir, seems to be able to do whatever he wishes, supported by the Realpolitik of the Chinese government and protected by African countries and an international community seemingly more interested in securing his co-operation for the peaceful separation of South Sudan than bringing him to justice for the atrocities he is responsible for in Darfur. Anyone who thought that genocide was a matter of the past might learn a lesson by looking at events in the last 15 years. The conclusion is stark: The near universal authoritative delegitimisation of genocide has failed. Genocide remains a regular feature of world politics and the reluctance of the great powers to send their own soldiers to rescue people in faraway lands remains strong. There is another point worth noting here: Since 9/11, for the first time since the end of the Cold War, the ideal of universal human rights has encountered stiff resistance from the security state. The absolute prohibition of torture has been circumvented by the Bush US administration, followed by deliberate contempt for the Geneva Protocols and exclusion of the International Criminal Court. The elaborate system of international judicial safeguards of human rights has once again been sacrificed for security considerations. Even the Obama administration remains ambivalent to Guantanamo. The president should be reminded of founder Benjamin Franklin who said: “Whoever tries to safeguard security by curtailing freedom will lose both and deserves neither.”

* * * The most basic research question today is to understand the logic, even the seductiveness of mass slaughter as an instrument of politics. Genocide is a huge crime so it takes big inducements to be committed. Those who open the gas pipe, administer the shooting or swing the machetes need strong ideological aromatics to overcome the revulsion, the horror and the sympathy that invariably rise when we see one of our own being killed. It is too easy to see the victims or the perpetrators de-humanized. The perplexity is that they are human and they do it anyway. Ideology is the handmaiden of these horrors because it gives reasons that remove

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individual responsibility and anchors actions in the realm of historical necessity, either History (Stalin) or Nature or Race (Hitler). Large-scale operations require many hands. Why are they so willing?

* * * The historian Ben Kiernan in his new huge study of mass killings in history, Blood and Soil (2007), argues that a combination of the idea of a piece of land belonging exclusively to a people of a certain blood relation and the identity of that people being bound to that land, is the beginning of all genocides.7 This fantasy comes with an idealization of the unspoilt life of a distant past, the worship of the peasantry and an idealized past with no conflict. Race ideas grow out of this basic theme and wars unleash the brutality of cleansing. Those who wish to build Paradise on earth on land where others also live comes to realize that there are only four options available: to live with the people who stand in the way, to educate and assimilate them, to drive them out or to exterminate them. Genocide is best understood as the fourth and most radical of options. Purity then becomes a key word. Genocides are a quest for purity, religious, political, ethnic, revolutionary; a society with no enemies. A form of nation-building if you will, creating, as the Nazis envisioned, a Volksgemeinschaft without adversaries, clean, predictable with the benefits of modernity but without its conflicts, i.e. the proletariat, urbanization, pollution – and the Jews of course. Genocides are a darkly seductive form of community-building. Here is the reason why it is probably going to be a recurring phenomenon: It appeals to every deep-seated human desire to live in security and peace with one’s own. So the challenge consists of building communities that foster and accept diversity, engender tolerance and security. There are many cases of people refusing to be seduced by calls for extermination. In their refusal and in the hope of fostering democratic ways of life lies our future. Given the dark history of this city not too long ago, Vienna is not altogether a bad place to start, and my friend Gerhard Botz, with his lifelong work on political violence, the history of National Socialism and the vulnerabilities of democracy, is not the worst guide. My warmest congratulations on his 70th!

7 Ben Kiernan: Blood and soil. A world history of genocide and extermination from Sparta to Darfur, New Haven 2007.

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Sprachen und Sprachlichkeit der Wissenschaften Episoden aus der Wissenschaftsgeschichte und Bemerkungen zur Gegenwart1 Vor fast einem Jahrhundert ist eine Richtung der Wissenschaftstheorie aus Wien hervorgegangen, die Wissenschaft und Sprache einer gemeinsamen theoretischen Betrachtung zuführen wollte. Dem „Wiener Kreis“ ging es bekanntlich um Sprache und Wissenschaft im Allgemeinen, genauer: um die Entwicklung grundlegender Formulierungsregeln für sogenannte ‚Protokollsätze‘, welche normativ gedachten Anforderungen an die Gültigkeit empirischer Aussagen genügen sollten. Die Realisierung dieses Projekts sollte zur Grundlegung einer ‚wissenschaftlichen Weltauffassung‘ jenseits aller Metaphysik beitragen.2 Im Folgenden geht es weder um Sprachphilosophie noch um eine sprachlich orientierte Fundierung der Wissenschaftstheorie. Vielmehr möchte ich hier eine Art essayistische Annäherung an das Thema der empirisch tatsächlich feststellbaren sprachlichen Verfasstheit der Wissenschaften vom Standpunkt eines Historikers aus versuchen. Ansetzen möchte ich mit einer kurzen Reihe von Episoden aus der Wissenschaftsgeschichte, die jeweils mit einer Pointe oder Frage verbunden sind; abschließen werde ich mit einem kurzen Statement zur Gegenwart. Selbstredend kann ich an dieser Stelle nicht in die Tiefe gehen.

Episode 1: Wie das Wort ‚scientist‘ als Berufsbezeichnung in die Welt kam. Das geschah im Jahre 1834 zunächst anonym, und zwar im Text einer Rezension, die nicht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, sondern in einem englischen Magazin für das gebildete Publikum namens „The Quarterly Review“ erschien. Das rezensierte Buch hieß mit Titel „On the connexion of the physical sciences“; seine Autorin hieß Mary Somerville. Heute firmiert Mary Somerville in Wikipedia als schottische Schriftstellerin mit naturwissenschaftlicher Expertise, die mit ihrer Übersetzung des Hauptwerkes von Pierre Simon Lapace ins Englische 1831 Berühmtheit erlangte und mit Caroline Herschel im Jahre 1835 als die beiden 1 Überarbeitete und leicht ergänzte Fassung eines Redebeitrags im Rahmen einer interdisziplinären Diskussion zum Thema „Sprachen der Wissenschaft“, gehalten an der Versammlung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 26. November 2010. Die gesprochene Fassung erschien in: Welche Sprache spricht die Wissenschaft? Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Debatte, Heft 10. Berlin 2011, S. 80–88. 2 Als Überblicksdarstellung der Geschichte des ‚Wiener Kreises‘ im historischen Kontext vgl. Friedrich Stadler: Studien zur Geschichte des ‚Wiener Kreis‘, Frankfurt a.M. 1996.

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ersten weiblichen Mitglieder der Royal Astronomical Society aufgenommen wurden.3 Autor des unsignierten Textes war William Whewell, weiland Professor für Mineralogie, später für Philosophie an der Universität Cambridge, dessen Vorlesungen Mary Somerville in ihrer Jugend gehört hatte. Whewell interessierte sich für das Thema der Einheit bzw. der Verbindung der Wissenschaften und gilt heute deshalb als ein Gründungsdenker der modernen Wissenschaftstheorie.4 Bevor er zur eigentlichen Besprechung des Buches von Mary Somerville kam, hielt Whewell es aber für nötig, über die kurz davor geschehene Gründung einer Gesellschaft zu sprechen, welche eine Art institutionelle Antwort auf die Frage geben sollte, wie dem schon damals sichtbaren Auseinandertreiben der Wissenschaften, wenn dieses nicht mehr aufzuhalten, dann doch wenigstens zu begegnen sein könnte. Die Gesellschaft hieß und heißt heute noch immer The British Association for the Advancement of Science; angelehnt wurde sie ihrer Struktur nach an die bereits 1822 gegründete „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“. Im Vorfeld der Gründung, so erzählte nun Whewell, sprach man darüber, wie man die Bezeichnung ‚Naturforscher‘ auf Englisch wiedergeben sollte. Mehrere Vorschläge, darunter naturalist, philosopher, sogar das französische savant wurden alle aus unterschiedlichen Gründen verworfen: „Some ingenious gentleman proposed that, by analogy with artist, they might form ‘scientist’, and added that there could be no scruple in making free with this termination when we have such words as sciolist, economist, and atheist – but this was not generally palatable […]”5 Natürlich war der ‚ingenious gentleman‘ Whewell selbst, doch schickte es sich anscheinend nicht, sich in einem Magazin für Gebildete allzu unbescheiden hervorzutun.6 Die Pointe: Bereits 1834, also Jahrzehnte vor den dafür im deutschen Sprachraum immer wieder und bis heute ikonisch gesetzten Schriften Wilhelm Diltheys, Wilhelm Windelbands oder Heinrich Rickerts, wurden sprachlich ‚zwei Kulturen‘ in zweierlei Sinn fixiert– zum einen als grundlegende Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, aber zum anderen auch im Sinne einer Festlegung zweierlei Nationalkulturen. Für das deutsche Wort ‚Wissenschaftler‘ waren fortan zwei englische Worte, scientist und scholar zu verwenden. Und damit erhielten die scheinbar ähnlich meinenden Formulierungen ‚Einheit der Wissenschaften‘ und unity 3 URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Mary_Somerville (11.03.2011). 4 Siehe u.v.a. Menachem Fisch, Simon Schaffer (Hg.): William Whewell. A composite portrait,Oxford 1991; Peter Achinstein (Hg.): Science rules. A historical introduction to scientific methods, Baltimore 2004. 5 (William Whewell): On the connexion of the physical sciences. By Mrs. Somerville, in: The Quarterly Review 51 (1834), S. 54–68, hier 59. Anonym veröffentlicht. Der Terminus scientist stellt eine Ableitung aus dem Nominativum science dar, welcher wiederum aus dem lateinischen scientia gebildet wurde. Das lateinische Wort bezeichnete ebenso wie das englische Wort Wissen im breitesten Sinn. Das englische Wort science mit dieser Bedeutung findet sich schon bei Shakespeare und noch früher, selbst das Wissen der Hexen und Zauberer hieß dort auch science. 6 Simon Schaffer vertritt hier eine andere Interpretation. Er meint, dass der Beitrag Whewells einer der wenigen unsignierten gewesen sei und deutet seine Verschwiegenheit damit, dass er Somerville möglicherweise bei der Herausgabe des Buches geholfen hat; Simon Schaffer: The history and geography of the intellectual world. Whewell’s politics of language, in: Fisch, Schaffer (Hg.): William Whewell, S. 201–231, hier 225.

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of science völlig verschiedene Bedeutungen, einmal (im Deutschen) als Behauptung des gleichen Wesens aller Wissen schaffenden Disziplinen und das andere Mal (zunächst im Deutschen ‚Einheitswissenschaft‘, dann in der englischsprachigen Formulierung unity of science) als – utopisches – Programm zur Schaffung einer einheitlichen, nichtmetaphysischen Wissenschaftssprache unter prinzipiellem Ausschluss der Geisteswissenschaften. Damit leben wir bis heute. Übrigens, und nicht nur im Vorbeigehen, soll Folgendes erwähnt werden: Whewell lobte das Buch von Mary Sommerville auch und gerade wegen ihrer kenntnisreichen Schilderung naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse und Theorien in höchsten Tönen, um sie darauf nach altbewährtem Muster als große Ausnahme unter den Frauen einzustufen. Denn „Not withstanding all the dreams of theorists, there is a sex in minds“.7 Frauen, so Whewell, denken nur mit dem Herzen, weswegen sie ihre Schlüsse mit großer Klarheit und Direktheit ziehen – „what they understand, they understand clearly; what they see at all, they see in sunshine“ –, während Männer ihre Herzensregungen erst überwinden oder unter Anstrengungen beiseitelassen müssen, bevor sie zu ihren geistigen Durchbrüchen kommen. Somit kommt ein bürgerlicher Diskurs der wesensmäßigen Komplementarität der Geschlechter mitsamt der Stilisierung einer nüchternen, objektiven Sprache als (männliche) Norm zum Ausdruck.8 Dass dies zusammen mit der Einführung der neuen Berufsbezeichnung scientist im selben Text geschah, scheint kein Zufall zu sein. Zu jener Zeit (1834) war die international führende Wissenschaftssprache allerdings weder Englisch noch Deutsch, sondern Französisch. Das sollte sich bald ändern, und das führt zur zweiten Episode.

Episode 2: Wie die Sprachlichkeit der Wissenschaften im 19. Jahrhundert mit Nationalisierungsprozessen zusammenhängt. Im Jahre 1853 erscheint ein Buch mit dem Titel „Německo český slovník vědeckého názvosloví pro gymnasia a reálné školy. Od komise k ustanovení vědeckého názvosloví pro gymnasia a reálné školy. Deutsch-böhmische wissenschaftliche Terminologie (für Gymnasien und Realschulen)“.9 Der Kontext dieses Werkes dürfte für Leser auf dem Territorium des heutigen Österreichs bereits hinreichend bekannt sein: Seit Herder gilt Sprachlichkeit als formative Kraft der Kulturnationsbildung. Die eben genannte „Gesellschaft deutscher Naturforscher 7 Whewell, On the Connexion, S. 65. 8 Vgl. Londa Schiebinger: The mind has no sex? Women in the origins of modern science. Cambridge, Mass. 1989, S. 1. 9 Německo český slovník vědeckého názvosloví pro gymnasia a reálné školy. Od komise k ustanovení vědeckého názvosloví pro gymnasia a reálné školy. Deutsch-böhmische wissenschaftliche Terminologie für Gymnasien und Realschulen, Prag 1853. Zum Folgenden vgl. Soňa Štrbáňová: Patriotism, nationalism and internationalism in Czech science. Chemists in the Czech National Enlightenment, in: Mitchell G. Ash, Jan Surman (Hg.): The nationalisation of scientific knowledge in nineteenth-century Central Europe, Basingstoke, im Erscheinen.

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und Ärzte“ wird seit Jahrzehnten in der Literatur zur deutschen Geschichte als Beispiel des zeitlichen Vorrangs kultureller Bewegungen vor der Politik in der Entstehung der deutschen Nation zitiert. Im mittleren und östlichen Europa fanden ganz analoge Prozesse statt, denn auch dort versuchte man Nationen mittels Sprachlichkeit als Kulturnationen herausbilden zu lassen, lange bevor es zur Gründung von Nationalstaaten kommen konnte. So wurden die slawischen Hochsprachen schon im letzten Drittel des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kodifiziert und dabei mit einer je eigenen Geschichte versehen. Philologen wie Josef Dobrovský (für Tschechisch) oder Onufry Kopczyński (für Polnisch) stellten Richtlinien für die Konstruktion ihrer jeweiligen Nationalsprachen auf und trachteten dabei, Fremd- und Lehnwörter sowie andere auswärtige Einflüsse auf Vokabular oder Syntax von ihren Geschöp­ fen möglichst fernzuhalten. Somit waren diese philologischen, sprachpuristischen Projekte zugleich politische Unternehmen; sie standen auch mit ähnlich orientierten Diskussionen unter Philologen in Frankreich und den deutschen Ländern im Zusammenhang.10 Ralph Jessen und Jakob Vogel haben in solchen Fällen von einer ‚wissenschaftlichen‘ Konstruktion nationaler Kulturen gesprochen.11 Das Spannungsverhältnis zwischen dem national-linguistischen ‚Purismus‘ und den Erfordernissen wissenschaftlicher Kommunikation war in solchen Fällen evident und die Debatten waren dementsprechend hitzig. Wie der eben zitierte Lexikontitel zeigt, war dies keinesfalls allein Thema der Geistes-​ -wissenschaften, denn die Naturwissenschaften waren mit von der Partie. Einige der eben genannten Linguisten waren sogar auch Naturwissenschaftler, die sich zur selben Zeit um die Standardisierung der Terminologie beispielsweise der Botanik auf Polnisch bemühten.12 Zu jener Zeit war in dieser Region Deutsch die Amtssprache. Zugleich waren dort jedenfalls die deutsche Sprache neben dem bzw. infolge des Französischen gleichbedeutend mit wissenschaftlicher Internationalität und das schon damals so genannte ‚deutsche Modell‘ der forschenden Universität institutionell beispielgebend. Welcher Weg denn nun richtig sei – weiterhin mit deutscher bzw. deutschsprachiger ‚Kultur‘ affiliiert zu bleiben, ‚nationale‘ Wissenschaften und Wissenskulturen zu schaffen, die Wissenschaften jenseits des deutschsprachigen Raums zu internationalisieren oder alles das auf einmal zu tun –, war eine heiß umstrittene Frage vor und nach den politischen Umwälzungen von 1848. Was tat man da und mit welchen Folgen? 10 Für eingehende Diskussion und Literaturangaben siehe Jan Surman: Science and its publics. Internationality and national languages in Central Europe, in: Ash, Surman, Nationalisation. 11 Ralph Jessen, Jakob Vogel: Einleitung. Die Naturwissenschaften und die Nation, in: dies. (Hg.): Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frankfurt a.M. 2002, S. 7–37. 12 Surman, Science and its publics.  Derartige multiple Verbindungen sind im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit; schließlich war das Netzwerk der vielen Disziplinen und Subdisziplinen, das heute bekannt und fast selbstverständlich geworden ist, zu jener Zeit in Europa noch nirgends vorhanden. Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des Systems moderner Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890, Frankfurt a.M. 1984; ders.: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt a.M. 1994; Mitchell G. Ash: Die Wissenschaften in der Geschichte der Moderne (Antrittsvorlesung am Institut für Geschichte der Universität Wien, 2. April 1998), in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 10.1 (1999), S. 105–129.

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Hier sei nur ein Beispiel aus dem zitierten Lexikon angeführt – der Stickstoff und dessen Oxide: N, NO, NO2, NO3, etc. Auf Deutsch waren und sind heute noch die wörtlichen Bezeichnungen dieser chemischen Stoffe Sprach- und daher Kulturhybride des Deutschen und des Griechischen: Stickstoffoxid, Stickstoffdioxid usw. Auf Tschechisch hießen sie im Lexikon: dusik, dusmý, dusnadý, dusitý, etc.; das sind Verbindungen des tschechischen Wortes für Stickstoff dus und der arithmetischen Zahlen; ein Wort für ‚Oxide‘ bzw. des Vorgangs Oxidierung gab es im Tschechischen zu der Zeit noch nicht. Somit wurden diese Termini zwar monolinguistisch, aber für Nichttschechen kaum nachvollziehbar. Die letzte Auflage dieses Lexikons erschien 1918, die genannten Termini werden aber an tschechischen Schulen nach meiner Auskunft bis heute verwendet. Man stelle sich vor, wie es den Schülern damals wie heute ergangen war/ist, wenn sie in die Universitäten kamen oder kommen, Chemie studierten bzw. studieren und die deutschen bzw. die englischsprachigen Lehrbücher und Lexika durchzunehmen hatten oder haben! Das Beispiel zeigt es: Das Vokabular der Naturwissenschaften in diesen Sprachen wurde just zu der Zeit geschaffen, als diese Nationalsprachen selbst kodifiziert worden sind. Auch die Terminologie vieler Naturwissenschaften, beispielsweise der Chemie, war zu jener Zeit überhaupt noch nicht kodifiziert worden, sondern stand ebenfalls in der Debatte. Folglich ging es also nicht um bereits etablierte Termini, deren Bedeutungen bereits feststanden und die nur in andere, in diesem Fall ostmitteleuropäische Sprachen, übersetzt werden mussten. Vielmehr wurden die Bedeutungen der Termini auf mehreren sprachlichen Ebenen gleichzeitig ausverhandelt.13 Die böhmischen (heute: tschechischen) Chemiker jener Zeit, wie auch Naturwissenschaftler anderer Länder (Ost-)Zentraleuropas, entwickelten mehrere coping strategies im Umgang mit diesem Problem. Viele von ihnen publizierten dieselben Ergebnisse zweimal, einmal in der Muttersprache und noch einmal in einer deutschsprachigen Zeitschrift; zu diesem Zweck wurden sogar deutschsprachige Fachzeitschriften für Chemie und andere Disziplinen in Prag oder Brno gegründet. Eines anderen Weges ging der große Dimitri Mendeleev, der die Periodische Tabelle der chemischen Elemente schuf; er publizierte auf mehreren Sprachen, vornehmlich auf Russisch, korrespondierte aber mit seinen tschechischen Kollegen mühelos auf Französisch. Das verhinderte nicht, dass ihm die Priorität für seine große Leistung streitig gemacht wurde, unter anderem deshalb, weil es einigen Kollegen schwergefallen ist, sich vorzustellen, dass derart ‚peripher‘ positionierte Forscher nicht nur die Arbeit der Vordenker in den (west)europäischen Metropolen nachahmen, sondern originale Ergebnisse vorzulegen imstande waren.14 13 Für ein weiteres Beispiel siehe z.B. Olga A. Valkova: Wissenschaftssprache und Nationalsprache. Konflikte unter russischen Naturwissenschaftlern in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Jessen, Vogel (Hg.), Wissenschaft und Nation, S. 59–79. 14 Vgl. hierzu Michael D. Gordin: The textbook case of a priority dispute. D. I. Mendeleev, Lothar Meyer, and the periodic system, in: Jessica Riskin, Mario Biagioli (Hg.): Nature engaged. Science in practice from the Renaissance to the present, Basingstoke, im Erscheinen.

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Die Pointe: Nicht nur die Geistes-, sondern auch die Naturwissenschaften erhielten im Zeitalter des Nationalismus eine Vielfalt sprachlicher Prägungen. Problematisch mag das vielleicht weniger gewesen sein als das Insistieren der Patrioten auf Einsprachigkeit im Unterricht und im öffentlichen Diskurs, und zwar auch an der Universität. Dieses Insistieren hat negative Folgen für den internationalen Stand der Wissenschaften in den Ländern Ostmitteleuropas bis heute. Dass es auch anders geht, dass Nationalsprache und -kultur mit Mehrsprachigkeit in den Wissenschaften miteinander verbunden werden kann, zeigen die Beispiele Hollands und der nordischen Länder.

Episode 3: Zur Erfahrung der nach 1933 vertriebenen Wissenschaftler mit Sprachlichkeit. Wie wir wissen, bedeutete für viele der im Nationalsozialismus vertriebenen Menschen  – und zwar nicht nur für die Wissenschaftler unter ihnen! – der Verlust der Muttersprache einen Verlust der Wissenskultur. Für andere hingegen ermöglichten bereits bestehende internationale Netzwerke unter anderem mittels gemeinsamer Sprachlichkeit ein Weitermachen nach der Vertreibung. Aus den vielen bekannten Beispielen dafür kann ich hier nur eines kurz anreißen. Im Jahre 1929 publizierte Wolfgang Köhler, damals noch Professor für Philosophie und Direktor des Psychologischen Instituts an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, einen Abriss der von ihm mitbegründeten Gestaltpsychologie, – mit dem Titel „Gestalt Psychology“ – in New York.15 Das war die erste Überblicksdarstellung dieser neuen psychologischen Richtung überhaupt. Die deutsche Fassung hieß „Psychologische Probleme“;16 sie erschien ausgerechnet 1933 und ging sofort aus politischen Gründen unter. Denn Wolfgang Köhler war einer der ganz wenigen deutschen Wissenschaftler, die es wagten, die Vertreibung der als ‚Juden‘ definierten Kollegen durch die Nationalsozialisten öffentlich zu kritisieren. Nach zähen Kämpfen verließ er das Land, ohne dazu gezwungen worden zu sein; seit 1935 war er Professor im Swarthmore College nahe Philadelphia.17 In den 1950er-Jahren reflektierte er seine Erfahrungen in Amerika mehrfach. An einer Stelle schrieb er sinngemäß, das wissenschaftliche Schreiben auf Englisch habe ihm klargemacht, wie oft er bis dahin von Gegenständen geschrieben hatte, die es nicht gibt. Gemeint waren natürlich die vielfach gerühmten deutschen Nominativa, die man ja bekanntermaßen durch Wortver15 Wolfgang Köhler: Gestalt Psychology. New York 1929. Zur Geschichte der Gestaltpsychologie vgl. Mitchell G. Ash: Gestalt Psychology in German culture 1890–1967. Holism and the quest for objectivity, Cambridge / New York 1995. 16 Wolfgang Köhler: Psychologische Probleme, Berlin1933. 17 Vgl. Mitchell G. Ash: Max Wertheimer und Wolfgang Köhler. Gestalttheorie als „dritter Weg“ zwischen Naturund Geisteswissenschaft, in: Astrid Schwarz, Alfred Nordmann (Hg.): Das bunte Gewand der Theorie. Vierzehn Begegnungen mit philosophierenden Forschern. Freiburg 2009, S. 263–295, hier 288–292.

Sprachen und Sprachlichkeit der Wissenschaften

463

bindungen der verschiedensten Art fast grenzenlos neu bilden kann. Im Englischen geht das nicht ohne Weiteres, bei Übersetzungen solcher Wortneuschöpfungen müssen häufig mehrere Worte gebraucht werden. Die Pointe: Auch das muss unter Sprachlichkeit der Wissenschaft gemeint sein! Inwiefern die deutschen Ungetümnominativa den englischen Mehrwortbezeichnungen vom funktionalen Standpunkt her betrachtet tatsächlich über- oder unterlegen sein mögen, steht hier nicht zur Debatte – dass sie andersartig sind und womöglich auch anderes bezeichnen, steht aber fest.

Episode 6: Zwei Feststellungen zur heutigen Situation Spätestens damit bin ich endlich im Heute angekommen. Hierzu zwei Grafiken zum Ist-Zustand: die erste (siehe Abb. 1) bildet die Sprachanteile an naturwissenschaftlichen Publikationen weltweit über einen langen Zeitraum, zwischen 1880 und 2005, ab; die zweite versucht eine vergleichbare Abbildung der Sprachanteile an sozialwissenschaftlichen Publikationen weltweit (s. Abb.2), begrenzt sich aber aus einsichtigen Gründen auf einen kürzeren Zeitraum zwischen 1951 und 2005. Was auf diesen Grafiken fehlt, sollte bereits beim ersten Blick deutlich werden: Chinesisch! Solche Bilddarstellungen werden in wenigen Jahren anders aussehen und auszusehen haben, für diese Diskussion genügen sie jedoch. Sehr verkürzt greife ich nun zwei Befunde daraus heraus. Erstens: Wie aus der Abbildung 1 ersichtlich ist, begann die Dominanz des Englischen schon VOR der NS-Zeit sichtbar zu werden. Somit zeigt sich einmal mehr, dass die heute noch immer vorgetragene Behauptung, der internationale Niedergang des Deutschen habe mit der Vertreibung der als ‚Juden‘ definierten Wissenschaftler durch die Nationalsozialisten begonnen, unrichtig ist. Diese Zwangsmigration und das bislang kaum erforschte brain drain jünger deutscher Wissenschaftler während der unmittelbaren Nachkriegszeit haben diesen längerfristigen Trend beschleunigt, aber keinesfalls verursacht. Zweitens: Gleichwohl ist am Ist-Zustand kaum zu rütteln: Deutsch ist nur noch in sehr geringem Maße die Sprache der Naturwissenschaften. Lediglich ca. ein Prozent aller in den verschiedenen Indices geführten Fachpublikationen wird auf Deutsch publiziert. In den Sozialwissenschaften ist der Anteil deutschsprachiger Publikationen siebenmal höher, aber eben nur noch ca. sieben Prozent; auch hier führt das Englische, wenngleich seine Dominanz nicht ganz so eindeutig ist, wie mancherorts vermutet oder behauptet wird. In der Formulierung Ulrich Ammons ist die derzeitige Lage in den Natur- und Sozialwissenschaften folgendermaßen zusammenzufassen: „Nicht-deutschsprachige Wissenschaftler publizieren heute nur noch ausnahmsweise auf Deutsch. Dagegen veröffentlichen deutschsprachige Wissenschaftler viel auf Englisch, und zwar vor allem solche Erkenntnisse, die ihnen bedeutsam erscheinen.“18 18 Ulrich Ammon: über Deutsch als wissenschaftssprache. Kaum noch ein Prozent Weltanteil in den Naturwissenschaften, in: Forschung und Lehre 6/10 (2010), S. 400–402, hier 401.

Mitchell G. Ash

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100 90 80 70

Deutsch Englisch Französisch Japanisch Russisch

60 50 40 30 20 10 0

1880 1890 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1988 1996 2005

Abb. 1: Sprachanteile an den naturwissenschaftlichen Publikationen weltweit 1880–2005 in Prozent (Mittelwerte verschiedener Disziplinen und Datenbanken verschiedener Länder) 19

Im Falle der Geisteswissenschaften sind belastbare Daten schwieriger zu erhalten, aber hier gibt es anscheinend tatsächlich noch „Nischen“, wie Ammon sie nennt, in denen das Deutsche noch als internationale Wissenschaftssprache gilt. Neben der Germanistik wären diese u.a. Archäologie, Klassische Altertumswissenschaften, Orientalistik (z.B. Assyriologie), Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Philosophie, Religionsgeschichte oder Theologie. Trotzdem besteht nach der Meinung Ammons „vor allem in den Geisteswissenschaften [...] die Gefahr der Provinzialisierung oder der dauerhaften Sprachnachteile nicht-anglophoner Wissenschaftler, die wohl kaum durch die gerne beschworenen kognitiven Vorteile der Mehrsprachigkeit aufgewogen werden.“20 Angesichts dieser überaus komplexen Sachlage stelle ich jetzt zum Abschluss zwei Fragen. Erstens: Die weltweite Dominanz des Englischen in den Wissenschaften scheint unleugbar zu sein, sie scheint nun, wenn nicht in allen Disziplinen, dann in fast allen Wissenschaftstypen festzustehen. Doch welches Englisch ist die eigentliche lingua franca der Wissenschaften heute? Das Englisch Winston Churchills? Wohl kaum! Der Kauderwelsch der Geschäftswelt oder des Tourismusgewerbes, der mittlerweile durch eigene Sachbuchdarstellungen den 19

19 Ebda. 20 Ebda.

Sprachen und Sprachlichkeit der Wissenschaften

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100,0

70,2 48,0

21,9

20,1

10,1

5,3 5,0 4,8

7,7

8,1

7,4

7,4 5,6

6,0 4,4

6,8

7,5

5,1

4,1

5,9

5,5

5,2

3,6

4,2

7,2

6,9

7,1

6,9

6,2

3,5 3,3

3,2

3,1

2,1

7,7

7,8

5,8

3,7

4,6

8,8

8,5

7,6

76,0

Englisch Deutsch Französisch Spanisch Russisch Italienisch Japanisch

16,1

13,7

9,5 8,4

5,3

52,1

18,3

17,0

15,7

5,9

77,2

75,4

37,8

17,9

10,0

52,3

48,9

46,4

42,8

57,1

2,6

2,4

2,1

2,6

2,2 1,4

1,9

2,0

1,4

1,4

2,0 1,9 1,2

05 20

00 20

95 19

90 19

85 19

80 19

75 19

70 19

65 19

60 19

55 19

19

51

1,0

Abb. 2: Sprachenanteile an den sozialwissenschaftlichen Publikationen weltweit 1951–2005 in Prozent (Ordinate zur besseren Übersichtlichkeit logarithmiert. Aufgrund von Daten erhoben aus der International Bibliography of the Social Sciences (IBSS) 21

Namen ‚Globish‘21erhalten hat?22 Auch kaum, wenngleich dieses merkwürdige Gemisch aus der Alltagssprache im wissenschaftlichen Leben vorkommen mag. Haben diejenigen recht, die die mittlerweile zu einem Klischee geronnene Behauptung aufstellen: „The language of good science is bad English“? Wer auf große internationale Fachtagungen fährt und das Radebrechen so mancher Kollegen anhören muss oder wer vermeintlich englischsprachige Texte von deutschsprachigen Kollegen für Fachzeitschriften hat begutachten müssen, mag versucht sein, diesem Satz zuzustimmen. Da halten offenbar viele, darunter im jeweiligen Fach angesehene Kollegen eindeutig zu viel von sich oder wenigstens von ihren Ausdrucksfähigkeiten im Englischen.23 Doch hat der Sprachforscher Winfried Thielemann meiner Meinung nach wohl recht, wenn er schreibt, dass das eben genannte Klischeebild ver21 Ebda. 22 Robert McCrum: Globish. How the English language became the world’s language, New York 2010. 23 Dem wird kaum abgeholfen durch eine fast pervers erscheinende Praxis, von der mir bei der eingangs (Anm. 1) erwähnten Akademieversammlung erzählt wurde. Angeblich komme es nun an gewissen sozialwissenschaftlichen Instituten in Deutschland vor, dass sich insbesondere die ambitionierten jungen Forscher ständig auf English unterhalten, und zwar ganz gleich, ob sich Muttersprachler im Raum befinden oder nicht. So kann tatsächlich nur mangelhaftes Englisch eingeübt werden!

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Mitchell G. Ash

kennt, „wie viel Mühe angelsächsische Muttersprachler gerade in den Naturwissenschaften auf ihre Texte verwenden“.24 Dies verstehe ich als berechtigtes Plädoyer gegen disziplinbezogene Vorurteile, so als käme sprachlicher Ehrgeiz nur in den Geisteswissenschaften vor. Wer seine liebe Mühe mit der Lektüre heutiger kulturwissenschaftlicher Texte gehabt hat, wird wissen, dass die im 19. Jahrhundert tatsächlich gegebene Nähe großer Geisteswissenschaftler wie Theodor Mommsen oder Jules Michelet zur Literatur schon lange vorbei ist. Die zweite Frage lautet: Ist es möglich, Wissenschaftlichkeit auf hohem Niveau, wenn man so will: wissenschaftliche Exzellenz – die sehr wohl mit Eleganz einhergehen müsste – in zwei oder gar mehreren Sprachen zu erzielen? Es gibt Sprachessenzialisten wie der eben zitierte Winfried Thielemann, die das verneinen. Seiner Auffassung nach war gerade die Lossagung vom Latein und die Hinwendung zur Vielfalt moderner Eigensprachen eine Hauptquelle wissenschaftlicher Kreativität in der Moderne. Der derzeitigen ‚Anglifizierung‘, das heißt der zunehmenden Hinwendung zum Englischen als internationale lingua franca steht er deshalb kritisch gegenüber, und er betont die großen Defizite, Probleme und auch inhaltlichen Verluste, die beim wissenschaftlichen Schreiben in Fremdsprachen bestünden.25 Einige der hier besprochenen Beispiele deuten darauf hin, dass hier in der Tat Diskussionsbedarf gegeben ist. Zahlreiche Gegenbeispiele gibt es aber auch; ich nenne hier nur den Namen des großen Kunstpsychologen und Film- und Medientheoretikers Rudolf Arnheim, wiederum einen der von den Nationalsozialisten vertriebenen Wissenschaftler, der stets seine eigenen Übersetzungen besorgte und dessen Texte auf Deutsch und auf Englisch gleichermaßen elegant und gut leserlich sind.26 Meine Antwort lautet also: JAWOHL, es ist möglich, Wissenschaftlichkeit auf hohem Niveau in zwei oder gar mehreren Sprachen zu erzielen. Aber es kostet Arbeit auf mehreren Ebenen! Wer für diese Arbeit keine Zeit und Energie findet oder nicht die Hilfe von fachlich versierten native speakers heranzieht, ist der Gefahr ausgesetzt, nicht rezipiert zu werden. Auch das gilt mittlerweile für Kultur- und Sozial- ebenso wie für Naturwissenschaftler.

24 Winfried Thielemann: Dreamliner in Richtung Scholastik. Über die Anglifizierung der europäischen Wissenschaft, in: Forschung und Lehre 11/10 (2010), S. 813–815, hier 815. 25 Thielemann, Dreamliner; vgl. ders.: Deutsche und englische Wissenschaftssprache im Vergleich. Hinführen – Verknüpfen – Benennen, Heidelberg 2009. 26 Vgl. z.B. Rudolf Arnheim: Art and visual perception. A psychology of the creative eye, Berkeley 1957, dt. Übersetzung: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges – Neufassung, Berlin 1979; ders.: Visual thinking. Berkeley 1969, dt. Übersetzung: Anschauliches Denken – zur Einheit von Bild und Begriff, Köln 1974.

Ruth Beckermann

„Die Grenzen des Sagbaren erweitern“ In den 1920er-Jahren schrieb der französische Soziologe Maurice Halbwachs über kollektive Erinnerung, nicht die Vergangenheit zwinge der Gegenwart ihren Willen auf, sondern gegenwärtige Bedürfnisse bestimmten, was wir erinnern und wie wir es erinnern. Halbwachs betonte den biegsamen Charakter der Vergangenheit, aber auch ihre Nützlichkeit. Entsprechend den politischen und psychischen Erfordernissen der Gegenwart spielen wir mit den Versatzstücken der Geschichte. Je enger die ideologische Konstruktion einer Gesellschaft, desto eindeutiger scheint sich die kollektive Erinnerung zu manifestieren. Zum Beispiel wurde im zionistischen Kollektiv in Palästina – aber auch noch lange nach der Staatsgründung Israels – die Erinnerung an die Existenz der osteuropäischen jiddisch sprechenden Diaspora möglichst vergessen. Auch die schmerzhaften Erinnerungen an die Lager standen lange Zeit nicht im Interesse des jungen Staates, welcher sich selbst in der Tradition der glorreichen biblischen Geschichte sah. Erinnerung ist ahistorisch; sie lässt die Chronologie außer Acht und schiebt zeitlich entfernte Ereignisse zusammen.1 In die jüdische Erinnerungsmontage der Aufbaujahre passte der Warschauer Ghettoaufstand, die Ohnmacht von Auschwitz dagegen nicht. Seit dem Sechstagekrieg 1967 schieben sich dagegen die Erinnerungen an Massada und die Konzentrationslager zusammen und erzeugen ein neues Geschichtsbild. Es gelte, die Grenzen des Sagbaren2 zu erweitern, sagte Gerhard Botz einmal über die Rolle der Zeitgeschichte. Weniger das Auffinden neuer Fakten sei wichtig, sondern die immer wieder neue Montage von Geschichtsbildern. Damit vertritt er einen eminent politischen Standpunkt, welcher die Zeitgeschichte auffordert, Grenzen zu überschreiten und Tabus zu brechen. Damit bezieht er aber auch die Funktion der Erinnerung ein und erteilt dem oft beschworenen Antagonismus zwischen History und Memory eine Absage. Im deutschsprachigen Raum wird gerne streng unterschieden, getrennt und beurteilt. Ob U- und E-Musik, Sachbuch und Fiktion, ernsthaftes Theater und flatterhaftes Kino – Klassengegensätze werden gepflegt. So wurden auch Geschichtsschreibung und Erinnerung lange behandelt, als hätten sie nichts miteinander zu tun, ja als müsste die ehrenwerte Geschichte herabsehen auf die unzuverlässige Erinnerung. Hier wird ewige Gültigkeit signalisiert, während dort angeblich Flüchtigkeit regiert. 1 Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1982. 2 Ein wichtiger Gesprächspartner und Freund von Gerhard Botz war Michael Pollak. Seine Aufzeichnungen von Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden gab Botz 1988 heraus: Michael Pollak: Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit, Frankfurt a.M. / New York 1988 (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft, 12).

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Ruth Beckermann

Die Methode der Oral History verhalf dem Subjekt zu seinem Recht. Oral History bedeutete Befreiung von 200-jähriger Obrigkeitsgeschichte, in welcher die Schrift und ihre Verwalter – Schreiber, Lehrer und Beamte – Hüter der seriösen Quellen waren. Erst in den späten 1980er-Jahren wurden mündliche Erzählungen als Beiträge zum großen Geschichtsnarrativ nicht mehr belächelt. Noch länger dauerte es, bis unter Historikern eine methodische Ausei­ nandersetzung mit Fotografie und Film als Quellen stattfand, und der Umgang mit den kurzlebigen Botschaften des Internets bedeutet eine neue Herausforderung. Gerhard Botz veröffentlichte bereits 1982 ein Oral History-Projekt, nämlich ein Gespräch mit Margareta Glas-Larsson, in dem er nicht allein methodisch die Grenzen des damals Sagbaren auslotete.3 Die Überlebensstrategien einer ‚unpolitischen‘ Frau, welche von Theresienstadt und Auschwitz erzählt, passten damals in keine anerkannte, sagbare Schublade. 1982 sprach man nicht über Lippenstift und Lager. Das gehörte sich nicht. Das wollten die Hüter des heiligen Widerstands nicht hören. Für sie, für Margareta Glas-Larsson war er aber wichtig, der Lippenstift, den sie ins Lager gerettet hatte. Er war ihre Verbindung zur Liebe, zur Lust, zum Leben. Auch davon sprach man nicht im Reich der Wissenschaft. Warum nicht? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich, wie gut ich sie verstand, diese Margareta. Und daran, welche Bilder ihr Lippenstift nach sich zog – Bilder vom Mangel an Rot, von bleichen Wangen und Lippen, Bilder von zu viel Rot, von Blut und dem Mangel an Binden. Vielleicht wusste Gerhard Botz gar nicht, dass er mutig war, als er damals in Österreich von Juden und Lippenstiften schrieb. Ich war ihm jedenfalls dankbar dafür. Aber geht es hier überhaupt um Mut? Oder um eine glückliche Konstellation, welche einem Menschen ermöglicht, einen weiteren Horizont zu haben als viele andere? Während der Dreharbeiten zu meinem Film „Jenseits des Krieges“4 in der Wiener Wehrmachtsausstellung 1995 habe ich mich oft gefragt, was es wohl ausmache, dass Soldaten unter den gleichen Bedingungen ganz verschieden reagieren. Mehr noch – verschiedene Wahrnehmungen haben. Warum hörte der eine am Bahnhof von Minsk die russischen Soldaten in den Waggons nach Wasser schreien und der Kamerad neben ihm hörte nichts? Warum sah der eine die Verbrechen der Wehrmacht, während die meisten anderen nichts wahrnahmen? Nach den vielen Gesprächen, welche ich während der Ausstellung führte, war mein bereits wankender Glaube an heilsame Ideologien dahin. Weder auf die Mitgliedschaft in SP, KP oder der Kirche ist Verlass, um einen Menschen vor der Barbarei zu wappnen. Seither frage ich mich, was es wohl sein kann; welche Überraschungen haben die Akteure der comédie humaine zu bieten? Und unter welchen Bedingungen? Es gelte, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern und immer neue Montagen von Geschichtsbildern herzustellen, sagt Gerhard Botz. Dabei scheint mir dem Wort Montage eine besondere Bedeutung zuzukommen. Denn wie geschieht die Montage aus Geschichtsbildern? Über 3 Margareta Glas-Larsson: Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz, hg. und kommentiert von Gerhard Botz, Wien 1982. 4 Ruth Beckermann: Jenseits des Krieges, Dokumentarfilm, Österreich 1996.

„Die Grenzen des Sagbaren erweitern“

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Assoziationen und Erinnerungen. Und zwar solche, welche das kollektive Bewusstsein der jeweiligen Epoche zulässt. Gerhard Botz’ Aussagen werfen die Frage auf, wo heute die Grenzen des Sagbaren im österreichischen Kontext liegen mögen. Sind sie doch nicht so leicht auszumachen wie damals, in den 1970er- bis 1990er-Jahren, als die österreichische Zeitgeschichte ihren Anfang nahm und Gerhard Botz – lange bevor das kollektive Bewusstsein bereit dafür war– wesentlich zur Erweiterung der Grenzen des Sagbaren beigetragen hat. Es gibt Zeiten, in welchen die Gegenwart ganz dringend eine neue Vergangenheit benötigt. Ist nach einer Revolution das alte Regime weggefegt oder nach langer Latenzzeit endlich eine überkommene Gesellschaftsordnung sichtbar zu Ende, steht oft eine neue Generation von Historikern bereit, die Alten zu entthronen. Im österreichischen Fall war es mit den Erfolgen der Sozialdemokratie in den 1970er-Jahren notwendig geworden, sich die eigene Geschichte ins Gedächtnis zu rufen und sie neu zu interpretieren: Gemeindebau, rotes Wien, Otto Bauer, Justizpalastbrand, Februar 1934. Institute für Zeitgeschichte wurden gegründet und junge Historiker (meines Wissens nach ausschließlich Männer) der 68er-Generation fanden Themen und Arbeitsplätze. Während in der Bundesrepublik Deutschland die Generation der 68er-Linken sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigte, ging es in Österreich gemäß den realen Machtverhältnissen um einen Kampf der Erinnerung zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten. Also um den Austrofaschismus. Der Nationalsozialismus wurde nur am Rande der Auseinandersetzungen thematisiert. Von den jüdischen Opfern sprach fast niemand, nicht einmal die linken Juden selber, welche im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands die Dokumente ihrer als politisch erlebten Verfolgung ordneten. Allein Erika Weinzierl gelang das Kunststück, unter Aufbietung eines gerüttelten Maßes an Pathos die Österreich-Apologetik aufrechtzuerhalten und doch von jüdischem Leid zu schreiben.5 Das kollektive Bewusstsein aller Beteiligten, ob links oder rechts, jung oder alt, war sich stillschweigend einig darüber, dass man die Lüge von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus nur aufrechterhalten konnte, wenn man die Haltung der ‚arischen‘ Österreicher zu den ‚jüdischen‘ Österreichern nicht im Detail beleuchtete. Sie musste im Nebel unbestimmten Mitgefühls und moralischer Verurteilung bleiben. Das erzeugte die wattige Atmosphäre und den lauernden Antisemitismus, in welchen das Land bis Ende der 1980er-Jahre gehüllt war. Was aber nur spürte, wer nicht dazugehörte. Der breite Diskurs um die neue Geschichtsforschung, an welcher neben Historikern auch Intellektuelle und Schriftsteller und Filmemacher beteiligt waren, drehte sich um Justizpalastbrand und Februarkampf  – um die Geschichtsbilder und -narrative der beiden großen Parteien SPÖ und ÖVP. Dort konnte man sich austoben, ohne an Österreichs Opferrolle zu rütteln. Es war ein Sturm im Wasserglas. Vieles wurde aufgewühlt, doch alles blieb beim Alten. Erst Mitte der 1980er-Jahre war es so weit, dass ein Wahlkampf genügte, um das Kartenhaus aus Opfermythos und Lebenslüge der Zweiten Republik zu erschüttern. Kurt Waldheims Kandidatur 1986 verursachte den internationalen Wirbelwind, der endlich die Entwicklung einleitete, welche mit Franz Vranitzkys Rede von 5 Erika Weinzierl: Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung 1938–1945, Graz 1969.

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der österreichischen Mitverantwortung an den NS-Verbrechen 1991 erstmals offiziellen Niederschlag fand. Ob und wann in Österreich ohne Druck von außen ein Perspektivenwechsel stattgefunden hätte, bleibt der Spekulation überlassen. So kam es, dass bei der Zeitgeschichte-Tagung 1987 die große Krise der Zunft beklagt und damit eingestanden wurde, dass auch sie Waldheim gebraucht hatte, um sich der schiefen Ebene bewusst zu werden, auf welcher sie sich davor befunden hatte. Ich erinnere mich an einige Zeitgeschichte-Tage in den Jahren davor, an denen ich mich staunend gefragt hatte, was hier eigentlich verhandelt werde. Warum hier niemand über Gerhard Botz’ Buch über das Wien nach dem Anschluss sprach. Dort stand doch alles drin von den Tätern und den Opfern, von der Raubund Mordlust der Wiener und wen sie traf. Wie kaum ein anderer seiner Generation hatte er mit seinen Arbeiten „Wohnungspolitik und Judendeportation in Wien 1928–1945“ (1975) und „Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938/39“, erstmals 1978 erschienen, zur Erweiterung des damals Sagbaren beigetragen.6 Er schrieb: Diese doppelte Stoßrichtung der nationalsozialistischen Politik korrespondiert mit dem mehrschichtigen Charakter der Machtübernahme im März 1938. Dabei handelte es sich um eine Machtübernahme der Nazis aus dem Inneren des unterwanderten ,Ständestaats‘ heraus und zugleich auch um eine militärische Intervention von außen, und nicht zuletzt auch um eine – vor allem gegen die Juden – eruptive Formen annehmende Erhebung der österreichischen Nationalsozialisten und deren Mitläufer von unten.7

Und noch deutlicher: Da die ökonomischen Motive des Judenhasses umso stärker zu veranschlagen sind, je unsicherer die wirtschaftliche Lage eines Landes ist, war auch der Antisemitismus in Wien intensiver als im ,Altreich‘, daher war auch Wien Deutschland auf dem Gebiet der Judenverfolgung seit 1938 einige Stufen voraus. In Wien setzten die vergleichbaren diskriminierenden Maßnahmen nicht nur früher ein als in Deutschland und sie konnten sich nicht nur auf eine breitere Zustimmung in der nichtjüdischen Bevölkerung stützen. Hier konnten bekanntlich auch von Eichmann bei der ,Endlösung‘ angewandte organisatorische Instrumente und Verfahren erstmals entwickelt werden […]. Und die Resonanz der Parteianhängerschaft auf die Bekanntgabe einer wesentlich verschärften Judenpolitik unmittelbar nach Kriegsbeginn, die die schließliche Deportation und Vernichtung von 65000 Wiener Juden bringen sollte,

  6 Gerhard Botz: Wohnungspolitik und Judendeportation in Wien 1938 bis 1945. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien / Salzburg 1975 (Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Salzburg, 13); ders.: Wien vom „Anschluß“ zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39. Wien / München 1978 (ab der 3. Auflage unter dem Titel „Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung“, zuletzt 2008).   7 Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938/39, Wien ³1988, S. 10.

„Die Grenzen des Sagbaren erweitern“

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zeigt, dass man sich hier schon seit langem mit in diese Richtung gehenden Überlegungen und Wunschbildern beschäftigt hatte. Die ,Endlösung‘ lag hier schon immer – auch in vornationalsozialistischer Zeit (Schönerer, Lueger) – im Bereich des Denkmöglichen.8

Die ca. 600 Seiten lange Studie war ihrer Zeit voraus. Obwohl sie im Ausland positiv rezipiert wurde, bewirkte sie in Österreich kein Umdenken. Politisches Kalkül, Vermeidung finanzieller Konsequenzen (Restitution) und ein sentimentales kollektives Bewusstsein hielten eisern an der Rolle Österreichs als erstem Opfer des deutschen Nationalsozialismus fest. Die Zeitgeschichte war Teil davon. Im Film war es nicht anders. Der französische Philosoph Gilles Deleuze amüsiert sich in seinem Buch „Cinéma“9 damit, Entsprechungen zwischen Denkweisen und filmischen Konzepten zu finden. So bezeichnet er das amerikanische Kino als behavioristisch, die Filme Alfred Hitchcocks vergleicht er mit der angelsächsischen Relationslogik, Carl Theodor Dreyer mit Søren Kierkegaard, Henri Cartier-Bresson mit Blaise Pascal und den russischen Revolutionsfilm natürlich mit dem dialektischen Materialismus. Treibt man das Spiel mit dem österreichischen Spielfilm der 1970er- und 1980er-Jahre weiter, könnte man ihn mit dem Reformismus vergleichen. Er übernahm die Welt des traditionellen Kinos, die sich durch zielgerichtetes Handeln an erkennbaren Orten aufbaut. Er übernahm die konventionellen Formen der Montage, des Tons, der Bewegung, der Zeit und belud sie mit reformistischen Botschaften. Der neue österreichische Film verblieb im Gesellschaftlichen. Er entstand aus und mit den sozialen Bewegungen Ende der 1960er-Jahre. Der frische politische Wind, den Bruno Kreisky entfachte, begeisterte die Kulturschaffenden, die nicht allein den Anliegen der Arbeiter, der Frauen, der Armen Ausdruck zu verleihen suchten, sondern vor allem die österreichische Geschichte der Ersten Republik aus linker Sicht neu schrieben. Produktionen wie „Herrenjahre“, „Alpensaga“, „Arbeitersaga“, „Lebenslinien“ waren große Filme von nationaler Bedeutung, vom österreichischen Fernsehen ORF produziert. Ihr Anliegen, gesellschaftlichen Veränderungen zum Durchbruch zu verhelfen, führte oft zu ästhetischem Instrumentalismus und pädagogischem Tonfall. Der reformistische Heimatfilm blühte. Im Film wie in der Zeitgeschichte gelang es zum Großteil erst der nächsten Generation von Filmern und Forschern, die ideologische Brille abzulegen und sich zu differenziertem Denken weiterzuentwickeln – zu einer Haltung, die François Truffaut einnahm, wenn er den SchwarzWeiß-Denkern antwortete, in seinen Filmen habe auch ein Polizist das Recht, sich zu verlieben. Auch meine eigene Wahrnehmung dehnte sich nur langsam aus. Im Jahr 1984, als ich den Reformkommunisten Franz West für meinen Film „Wien Retour“10 über seinen politischen Werdegang befragte, war mein Fokus so zielgerichtet auf die damals neu zu entdeckende Geschichte der Juden in der Arbeiterbewegung gelenkt, dass ich es unterließ, seine Aktivität in   8 Ebda., S. 480.   9 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt 1989, und Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt a.M. 1990. 10 Ruth Beckermann: Wien Retour, Österreich 1984.

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der KPÖ bis zum Einmarsch der Sowjets in Prag kritisch zu beleuchten. Der historische Film sieht sich also mit der gleichen Problematik konfrontiert wie die Zeitgeschichte: Wie schult man die eigene Wahrnehmung? Wie vermeidet man Relativierung? Wie befreit man sich aus dem Konkurrenzkampf der Opfer? Wie spricht man über die Sudetendeutschen, ohne sie naiv zu Opfern oder zu Tätern zu machen? Ohne die tschechischen und jüdischen und alle anderen Opfer zu beleidigen? Wie spricht man von den ukrainischen und polnischen, Tätern ohne die deutschen und österreichischen Täter zu entlasten? Welche Geschichtsmontagen würden das kollektive Bewusstsein unserer Gegenwart in Unruhe versetzen? Der Nationalsozialismus wurde mittlerweile Teil der Populärkultur. Seine sogenannte Aufarbeitung ist zu einer Pornoshow mit Archivmaterial verkommen. Seriöse Historiker haben sich längst aus dem TV-Geschehen ausgeklinkt und es den Guido Knopps überlassen. Vielleicht sollte uns die Frage beschäftigen, warum unsere Gegenwart das inzwischen mechanische Ritual der Vergangenheitsbeschwörung benötigt. Vielleicht zur Ablenkung? Und wovon? Wie es den Moment gibt, in welchem eine veränderte Gegenwart Tabus aufbricht und neue Erkenntnisse in der Geschichte hervorbringt, diesen Moment, wenn Geschichte gefährlich ist, so kann das Gegenteil eintreten. Was Mitte der 1980er-Jahre aufregte, kann heute reines Ritual sein, wenn es nicht an gegenwärtige Konflikte anknüpft, eine Beziehung herstellt, den Stachel der Erkenntnis enthält. Schluchzen in Auschwitz bringt keinerlei Erkenntnisgewinn. Eine Analyse der Biopolitik der Nationalsozialisten oder der Biografien von Mitläufern vielleicht eher. Denn mit jedem Schreiben wird etwas gesagt und etwas anderes verschwiegen. Etwas schreiben bedeutet etwas anderes weglassen, und etwas filmen bedeutet etwas anderes nicht zeigen. Jeder Bildausschnitt entscheidet, was drinnen und was draußen ist. Jede Einstellung bedeutet Auswahl. Die Unterscheidung in Sichtbares und Unsichtbares. Und darum muss immer neu geschrieben und gefilmt werden, darum ist die Geschichte im Fluss, wie Chris Marker in seinem Dokumentarfilm „Sans Soleil“11 sagt: „On ne se souvient pas, on récrit la mémoire comme on récrit l’Histoire.“– Man erinnert sich nicht, man schreibt die Erinnerung neu, wie man die Geschichte neu schreibt.

11 Chris Marker: Sans Soleil, Dokumentarfilm, Frankreich 1983.

Albert Lichtblau

Entlang von Grenzen: Tabus und Oral History Prolog Während meines Geschichtsstudiums im Wien der 1970er-Jahre faszinierte ein österreichischer Historiker durch sein Arbeiten und die Themen, die er aufgriff. Es handelte sich um Gerhard Botz, einer der die Konfrontation mit der jüngsten Vergangenheit nicht scheute. Ihn so zu sehen war damals natürlich eine Projektion, doch sie motivierte. Abgesehen von den Inhalten – Gewalt, Anarchie und NS-Zeit – beeindruckte sein Beharren auf theoretischem Denken und der Reflexion quantifizierender und qualitativer Methoden. Den Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft durch die Oral History begleitete er mit Schriften und einer konkreten Arbeit, nämlich dem kontrovers aufgenommenen Buch über Margareta GlasLarsson.1 Paradigmenwechsel meint, dass Forschende der Zeitgeschichte sich nun nicht mehr nur mit dem Studium von Akten und Schriften befassten, sondern auf Menschen zugingen, um deren Blick auf ihre eigenen Lebensgeschichten mit zu berücksichtigen. Aus der Zusammenarbeit mit ihm konnten genau dieses Reflektieren über die eigenen methodisch-theoretischen Zugänge und das Hinterfragen mitgenommen werden, was bewusst oder unbewusst im Vordergrund steht und noch viel mehr, welche Themen und Forschungsfragen aufgrund der Forschungstraditionen ausgeblendet werden. Geschichte wird dann uninteressant, wenn sie reproduziert, was bereits bekannt ist, sie wird dann reizvoll, wenn sie neue Bereiche und Fragen, Zusammenhänge, Zugänge und Erkenntnisse erschließt. Genau hier setzte die Oral History ursprünglich an, nämlich an der Geschichte über Personenkreise, die bis dahin von der Geschichtsforschung weitgehend ausgeblendet worden waren. Mit ihrer Arbeit begannen Oral Historians an gesellschaftlich auferlegten Tabus zu rütteln. Wo begegnen Oral Historians in ihrer Praxis Tabus? In welchen Momenten stoßen sie an Grenzen, die gesetzt werden bzw. die sie selbst setzen? Welche Grenzen sollten sie während der Interviews und in deren Analyse erkennen und respektieren? Das waren die Ausgangsfragen für diesen Artikel. Es wurde schnell klar, dass es vereinzelt auch um die Weitergabe von Erfahrungen geht, denn in schwierigen Interviewmomenten ist es wichtig, mit Handlungsoptionen vertraut zu sein. Die Thematik erwies sich als zutiefst komplex. Dieser Aufsatz versucht, sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. 1 Gerhard Botz, Josef Weidenholzer (Hg.): Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte ‚geschichtsloser‘ Sozialgruppen, Wien / Köln 1984; Margareta Glas-Larsson, Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz, hg. u. kommentiert v. Gerhard Botz, Wien et al. 1981.

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Denkverbote – Schweigen Ein Grund, warum ich2 mich in der Oral History-Community wohlfühlte, war deren offensives Einfordern demokratischer Perspektiven für die Geschichtswissenschaft. Das ‚Dig Where You Stand‘ forderte den hegemonialen Wahrheitsanspruch einer vermeintlich objektiven Geschichtswissenschaft heraus, da die damals neue Methode herrschaftsferne Menschen als Experten und Expertinnen für die Vergangenheit berücksichtigte.3 Der Schock über die im Vergleich zur Geschichtswissenschaft auseinanderklaffenden Perspektiven auf die Vergangenheit saß noch in den 1970er- und 1980er-Jahren tief, immerhin ging es um geschichtspolitisch umkämpfte Zeitzonen, sei es der Erste Weltkrieg, das Rote Wien, noch mehr der Austrofaschismus und ganz besonders der Nationalsozialismus. Die Opferlegende des postfaschistischen Österreich hatte sich in die umformatierten Erinnerungen eingeschrieben. Irreführende Narrative, die vielen Fehler bis hin zur mythomanischen Neuerfindung der eigenen Vergangenheiten mussten erstmals von denjenigen, die diese Gespräche führten, verdaut und eingeordnet werden. Mit zeitlichem Abstand betrachtet, sind genau diese Verformungen der Vergangenheit in den privaten Erinnerungen aufschlussreich, denn sie signalisieren uns, wie Menschen sich diese Vergangenheit für ihre eigenen Bedürfnisse zurechtbiegen. Der Erinnerungshaushalt, aus dem sie schöpfen, ist nicht unbedingt angelesenes und angelerntes Wissen, sondern eine Mischung aus allen möglichen Informationselementen, das sich mit einem moralischen Korsett vermengte. Schuld und Scham beziehen sich genau darauf. Über dieses Zurechtbiegen hätten Interviewende durchaus mehr Fragen stellen können, und dabei geht es nicht nur um das Angelesene, in Filmen Gesehene, Gehörte, sondern auch um irrationale Grundierungen, so etwa die Versionen individuell gelebter Religiosität, Spiritualität und um den Einfluss von Aberglauben. Gesellschaften produzieren Denk-, Sprach- und Sprechverbote. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte von NS-Tätern und -Täterinnen. Der Ort, an dem ihre kriminellen Taten zur Sprache kamen, waren Verhörstuben und Gerichtshöfe.4 Auch mir war es nur vereinzelt gelungen, die an NS-Verbrechen beteiligten Personen zum Sprechen zu bringen. Zwei, die sich zu einem Interview mit mir überreden hatten lassen, sahen sich infolge ihrer Offenheit mit Anzeigen konfrontiert. Dies war keine Ausnahmeerscheinung. Ein bekannter Fall ist der Zeitzeuge Hans Friedrich – ein Mitglied der ‚Einsatzgruppen‘–, der für die von Laurence Rees gestaltete BBC-Dokumentation über Auschwitz aussagte und unmittelbar nach der

2 ‚Ich‘ war einer der verpönten, also tabuisierten Begriffe der Wissenschaftssprache. Er ist es zum Teil immer noch, wenn in einem Style Sheet für Aufsätze etwa vermerkt wird, dass er zu vermeiden sei. Die Entpersonalisierung und das Verleugnen der Einbettung der eigenen Person in einen historischen Rahmen wurde von der Oral History deutlich hinterfragt. Dies provoziert jene, die sich hinter scheinbar objektiver Wissenschaft und rein Faktischem zu verstecken wissen. 3 Vgl. Sven Lindqvist: Dig where you stand, in: Oral History 7.2 (Autumn 1979), S. 24–30. 4 Vgl. z.B. Hermann Langbein: Der Auschwitz-Prozess. Eine Dokumentation, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1995.

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Ausstrahlung der Sendung angezeigt wurde.5 Das heißt, es gab für diese Personengruppe keinen öffentlichen Ort, über ihre Taten zu sprechen, sie gefährdeten sich damit selbst. In den beiden mir bekannten Fällen kam es darüber hinaus zu heftigen Konflikten und sogar Brüchen innerhalb der Familien. Aber selbst die in jüngerer Zeit geschaffenen Foren – etwa die Truth and Reconciliation Commission Südafrikas oder die Gacaca-Gerichte in Ruanda – zeigen, wie schwierig und letztlich problematisch es ist, wenn Täter und Täterinnen über ihre Handlungen ‚sprechen‘ und dass es im Grunde genommen den Opfern überlassen wird, die Taten zu benennen.6 Im Anfechten von Denkverboten kann die International Oral History Association (IOHA) stolz auf ihre Geschichte sein, denn ihr gelang es trotz des Widerstandes von türkischer Seite wegen der Thematisierung des Genozids an der armenischen Bevölkerung und dank des Einsatzes der lokalen Organisatoren Günhan Danisman und Arzu Özturkmen, die IOHA-Konferenz 2000 in Istanbul abzuhalten und Kollegen Raum zu bieten, über die Erfahrungen von Überlebenden der armenisch-türkischen Bevölkerung zu referieren. Es war ein äußerst beeindruckender Moment, als die in der Türkei Aufgewachsenen davon berichteten, wie sie in ihren Familien darüber erfuhren und als beide Seiten mit großem Respekt miteinander sprachen. Damit wurde ein interaktiver Erinnerungsraum geschaffen und das wie eine Parole klingende ‚Giving Voice‘ der Oral History kam zur Geltung im Sinne von ‚Giving Memory Space‘. Das Schweigen findet sich auch aufseiten der Opfer, denen es schwerfällt, über das ihnen Angetane zu sprechen. Das ist verständlich, denn das Erfahrene betrifft oftmals tabuisierte Themen. Opfer von Gewalt benötigen deswegen manchmal einen langen Zeitabstand, um dem Erlebten einen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Vermutlich ist dies eine der größten Leistungen der Oral History, dass sie mit dazu beitrug, einen Sprach- und damit einen Erinnerungsraum zu schaffen, die Geschichten der Opfer politischer Gewalt ‚aufzunehmen‘ und zu dokumentieren. Für die Opfer schufen die Interviews eine Möglichkeit, den Erinnerungen Ausdruck zu verleihen, sie abzulegen und die oft als belastend empfundene Erinnerungspflicht zu erfüllen. Oral Historians bemühten sich, das Schweigen zu verstehen. Sie wiesen darauf hin, wie ungerecht die Fortsetzung der Lebensgeschichten war, da die Opfer immer wieder mit Schuld- und Schamgefühlen zu kämpfen hatten, während Täter und Täterinnen Normalität vortäuschten.7 Letztgenannte suchten hinter der Forderung nach einem Redeverbot Schutz, denn dieser ist eine wichtige Funktion von Tabus.8 Deswegen reagieren Betroffene – wie etwa 5 Auschwitz: The Nazis and the ‘Final Solution’, Großbritannien 2005, Regie: Laurence Rees, Drehbuch: Doris Bergen, Megan Callaway, David Orenstein, Laurence Rees, 285 min. 6 Antjie Krog: Country of my skull. Guilt, sorrow, and the limits of forgiveness in the new South Africa, Johannesburg 1998. Das Projekt „Voices from Rwanda“ sammelt Interviews mit Opfern des Genozids in Ruanda: URL: http://voicesofrwanda.org/ (14.08.2010). 7 Vgl. Maja Figge, Konstanze Hanitzsch, Nadine Teuber (Hg.): Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah, Bielefeld 2010. 8 Michael Pollak, Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit, Frankfurt a.M. / New York 1988.

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bei den Diskussionen rund um die Wehrmachtsausstellung zu beobachten war – teilweise extrem aggressiv, wenn dieses Verbot ernsthaft hintergangen wird, da sie sich in Gefahr sehen, den vermeintlichen Schutz zu verlieren. Der folgende Ausschnitt aus dem Interview mit dem 1924 in Gières bei Grenoble geborenen Jean Laurent Grey, einem Überlebenden des KZ Mauthausen, der wegen seiner Teilnahme an einer Demonstration gegen die deutsche Okkupation verhaftet und interniert worden war, zeigt, wie schwierig es ist, die Erfahrungen in Worte zu fassen, sie auf den Punkt zu bringen: Man hat den Eindruck, dass lange Zeit, man weiß es nicht, aber man hatte eine Art von Scham. Ich weiß nicht, ob man das auf Deutsch übersetzen kann. Eine Art Scham. Weil … Da ist eine Art Schande, das ist es, weil schließlich, wissen Sie, die Tatsache in diesen Blocks gewesen zu sein, war etwas Scheußliches, weil das Leben wirklich widerlich war. Man vergisst zu sehr, dass es wirklich war wie ich immer sage: Was ist das, ein Konzentrationslager? Das Konzentrationslager, das ist ‚Scheiße und Blut‘. Konzentrationslager ist ‚Scheiße und Blut‘.9

Oral History hat viel mit Schweigen zu tun, ein Schweigen, dass auch Interviewende mit Fragen oder Nicht-Fragen mittragen. Wer etwa Interviews mit KZ-Überlebenden liest, wird merken, wie sehr Interviewende abblocken, wenn es zu Themen wie Kannibalismus oder sexuellen Übergriffen kommt. Beide Seiten steuern also die Gesprächsräume.

Kommunikationsverbote Tabus zu berühren kann zu fatalen Folgen und Missverständnissen führen und es ist wichtig, darüber zu reflektieren, welche Grenzen in Interviews eingehalten werden sollen.10 Eine der Funktionen von Tabus ist es, dass sie Themenbereiche – etwa Sexualität, Inzest, psychische und physische Gewalt, Krankheit, Depression, Tod oder Armut11 – erfassen, die nicht zur allgemein kommunikativen Verhandlung stehen. Effekt davon ist jedoch, dass mit dem Kommu  9 „On a l’impression que pendant longtemps on ne sait pas mais on a eu une espèce de pudeur. Je ne sais pas si on peut ça traduire en allemand. Une espèce de pudeur. Parce que … Voilà. Une espèce de honte c’est ça. Parce que en somme … oui, vous savez que le fait d’avoir été dans ces blocs était quelque chose d’abominable parce que la vie était vraiment répugnante. On oublie trop que c’est véritablement ce que je dis toujours: Qu’est-ce que c’est un camp de concentration? Le camp de concentration c’est la merde et le sang. Camp de concentration ist Scheiße und Blut.“ Jean Laurent Grey im Dokumentarfilm: Erinnerungsbilanz Mauthausen / Recapitulation of Memory, Österreich 2006, URL: http://www.unitv.org/beitrag.asp?ID=94&Kat=2&SubKat=4 (14.08.2010). 10 Obwohl es müßig ist, soll deponiert werden, dass verschiedene Kulturen über sehr unterschiedliche Tabu-Repertoires verfügen, die von Religion, Gesetzen, Normen und Traditionen geprägt sind. Das hier Formulierte ist durch einen mitteleuropäischen, stark christlichen Sozialisationshintergrund geprägt. 11 Dies wurde von Brigitte Halbmayr angesprochen: Interview mit Brigitte Halbmayr am 27. 1. 2010 in Wien.

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nikationsverbot wie früher im Falle der Homosexualität eine Sprachlosigkeit bzw. sprachliche Hilflosigkeit entsteht, die nur schwer zu überwinden ist. Täter und Täterinnen verstecken sich oft hinter Tabus und ihren Kommunikationsverboten. Der Historiker Michael John arbeitete an einer Thematik, die bis vor Kurzem einer enormen Verdrängung unterlag: der Missbrauch von Kindern in Erziehungsheimen. In den Interviews für die 2006 gezeigte Ausstellung „‚Wannst net brav bist, kommst ins Heim‘. Wegscheid. Von der Korrektionsbaracke zur sozialpädagogischen Institution“ sprachen die Interviewten offen über erlittene körperliche und sexuelle Gewalt.12 Als die Ausstellung gezeigt wurde, erfolgte eine Anzeige seitens ehemaliger Aufseher gegen Michael John wegen ‚kollektiver übler Nachrede‘. Es kam zwar zu keinem Prozess, aber dies ist ein Zeichen dafür, wie stark das Kommunikationsverbot vorhanden war und wie sehr sich Täter davon geschützt sahen. Nicht sie wurden angezeigt, sondern derjenige, der auf die Taten hinwies. Die Ausstellung verschwand trotz anderer Pläne danach im Keller, die Angelegenheit war offensichtlich politisch zu ‚heiß‘ geworden. Dabei wurde in der Ausstellung, die sich am Prinzip der namentlichen Nennung orientierte, ‚nur‘ die körperliche Gewalt, nicht aber die sexuelle, über die in Interviews ebenfalls berichtet worden war, dokumentiert.13 Erst das Aufbrechen der unterdrückten Geschichten über die sexuellen Übergriffe innerhalb der katholischen Kirche im Jahr 2010 brachte derartige Opfergeschichten endlich auch in Österreich an die Öffentlichkeit. Diese Mauer des Schweigens konnte zunächst einmal durchbrochen werden. Kommunikation ist geprägt von Sprache, Sprachklang, Mimik, Gestik, Bewegungen, formellen und informellen Codes, Ritualen, Normen oder Macht. Auf allen Ebenen werden Kommunikationsverbote signalisiert. Kommunikationsgrenzen zu setzen bedeutet, über Tabus zu verhandeln, also festzulegen, wo Schweigen eingefordert wird. Das kann für Fragen, für Antworten und Interpretationen zugleich gelten. Tabus und Kommunikationsgrenzen sind sowohl festgeschrieben durch Normierungen und Gesetze als auch fluide, unterliegen sie doch einem individuellen und einem gesellschaftsnormierten Ausverhandlungsprozess. Spätestens seit Sigmund Freuds 1913 erschienenem Buch „Totem und Tabu“ beschäftigt sich auch die deutschsprachige Wissenschaftskultur mit diesem aus Polynesien adaptierten Begriff und hat zahlreiche Wortkombinationen kreiert wie etwa Tabuempfinden, Tabuverhalten, Tabubruch, Tabuschwelle, Tabuschranke, Tabuzone, Tabuwort, Tabuthema, Sprach-, Handlungs-, Sicht- oder Berührungstabu. Die Bergriffe ‚Tabuisierung‘ und ‚Tabuisieren‘ verweisen auf den Handlungsakt, mit dem Tabugrenzen gesetzt werden.14 12 Michael John, Wolfgang Reder (Hg.): Wegscheid. Von der Korrektionsbaracke zur sozialpädagogischen Institution, Linz 2006. Interview mit Michael John am 22. 12. 2009 in Los Angeles. 13 Die Gezeichneten, in: Profil (15. 3. 2010), S. 28–32. 14 Tabu ist ein Thema, dass in der Oral History immer wieder aufgegriffen wird, vgl. z.B. die Beiträge der letzten IOHA-Konferenz von Erika Koskinen-Koivisto: From shame to pride – negotiating emotions. Ideals and controversies; Wiktoria Kudela Swiatek: The starry skies above me and the moral law within me … The researcher in the face of an interviewee’s traumatic experiences; Adrienne Molnár: Personal bereavement or political struggle?; Radikobo Ntsimane: Why primary care-givers refuse to tell the family stories? An analysis of the evaluation

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Kommunikationsverbote vonseiten der Interviewten bemerken Interviewende beispielsweise dann, wenn sie aufgefordert werden, die Aufnahme zu unterbrechen. In der Oral HistoryLiteratur gibt es dazu unterschiedliche Meinungen, wie damit umgegangen werden kann. Mir ist das eher selten passiert, aber ich fand es spannend, zu erfahren, was mir Personen in diesen Privatgesprächssequenzen erzählten. Es schien nie etwas besonders Heikles zu sein, aber für die Betroffenen war es dies offensichtlich schon. So erzählte mir z.B. ein kommunistischer Interviewpartner off the records, dass er in den 1930er-Jahren mit Freunden Leo Trotzki besuchte, um mit ihm zu diskutieren. Aus seiner Sicht schien das offensichtlich einem Verrat gegenüber der doktrinären KP gleichzukommen, der ihn selbst in hohem Alter noch beschäftigte. Mit der Aufforderung zur Unterbrechung der Aufnahme wird das Weitergabeverbot von Informationen seitens der Interviewten ausgesprochen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Grenzen viel öfter gezogen werden, ohne dass die Interviewenden dies auch nur ahnen.

Nicht gestellte Fragen Die Kommunikationstabus gehen öfter von den Fragenden aus, denn es gibt in Interviews viel mehr ungestellte als gestellte Fragen. Das geschieht nicht unbedingt absichtlich, sondern manchmal intuitiv bzw. unbewusst gesteuert, etwa um andere oder sich selbst zu schonen. Ein Beispiel für nicht gestellte Fragen sind jene über Geschlechteridentitäten. Wie oft hadern Menschen im Verlauf ihres Lebens damit, sind unglücklich mit ihrem Körper, werden von anderen deswegen gehänselt? Wie sehr sind Menschen von geschlechtsspezifischen Körpernormierungen geprägt, denen sie nicht entsprechen? Seit ich mich mit ‚queer studies‘ befasse und die Elastizität des Geschlechterbegriffs ernst nehme, bedaure ich es, nicht öfter danach gefragt zu haben, obwohl der Begriff ‚Identitäten‘ für mich immer ein zentraler war. War dies ein Tabu? Wer redet schon gerne über die Abweichung von auferlegten Normen, über Minderwertigkeitsgefühle und kann darüber gar noch lächeln? Das Nicht-darüber-Reden und Nicht-darüber-Nachdenken prägte ein Nicht-Fragen mit. Es ist also an der Zeit, über adäquate Fragen nachzudenken. Kulturell erlernte Tabus verhindern, über eine adäquate Sprache zu verfügen. Auf die eigene Fragepraxis rückblickend, habe ich mich dabei ertappt, dass etwa Fragen zu Homosexualität in meinen Interviews lange ausgespart blieben. Dabei hatte ich mehrere homosexuelle Personen reports on memory boxes in the Eastern Cape. Memory facilitation in times of Aids; Kaja Sirok: Narrating violence, remembering trauma. The construction of the past on the Italo-Slovene border; Emma Vickers: Counsellor, confidant, historian. Negotiating the competing demands of oral interviewing; Monika Vrzgulová: Voices of the persecuted and Slovak collective memory after 1989. Two totalitarian regimes in biographical narratives, alle in: XVI International Oral History Conference / XVI Congreso International de Historia Oral, Conference Papers, Prague/Praga 2010 (CD-Rom). Siehe auch: Tracy E. K’Meyer, A. Glenn Crothers: „If I see some of this in writing, I’m going to shoot you.“ Reluctant narrators, taboo topics, and the ethical dilemmas of the oral historian, in: Oral History Review 34.1 (2007), S. 71–93; Wendy Rickard: Oral history: „More dangerous than therapy?“ Interviewees’ reflections on recording traumatic or taboo issues, in: Oral History 26.2 (1998), S. 34–48.

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interviewt, mich aber in den Gesprächen nicht um ihre sexuelle Orientierung gekümmert bzw. die Andeutungen gar nicht wahrgenommen. Manchmal wurde ich nachträglich von anderen darauf hingewiesen. Vermutlich ist dieses Weghören darauf zurückzuführen, dass darüber im Freundeskreis nicht geradeheraus gesprochen wurde. Damit fehlten wichtige Erfahrungen, wie mit Betreffenden unvoreingenommen kommuniziert werden konnte. Erst in den 1980erJahren wagten immer mehr Menschen, sich offen als homosexuell zu zeigen. Ihr ‚Outing‘ eröffnete einen Sprachraum, in dem darüber gesprochen werden konnte, was die Kriminalisierung und die Bewertung ihrer sexuellen Orientierung als Perversion für sie bedeutete.15 Es ist kein Zufall, dass es nur wenige Zeugnisse von homosexuellen Verfolgten der NS-Zeit gibt, erlebten sie doch nach Ende des Nationalsozialismus weiterhin massive Diskriminierungen. Ich erinnere mich an ein Interview mit einem Tänzer in Buenos Aires, der wegen seiner jüdischen Herkunft vor den Nationalsozialisten dorthin geflüchtet war. Seine Homosexualität gefährdete ihn jedoch auch nach der Flucht. Diese Angst, die sein Leben durchzog, war bei den Gesprächen beklemmend präsent.16 Homosexuelle Beziehungen spielten bei den nach Geschlechtern getrennten Internierten in den KZs der NS-Zeit eine Rolle. Dennoch fehlten mir die Fragen dazu.17 Es ist zu vermuten, dass bei zukünftigen Auswertungen von Interviews durch Personen, die bei den Interviews nicht anwesend waren, die von den Interviewenden gestellten und nicht gestellten Fragen an Bedeutung gewinnen werden. Sie zeigen, was in einer bestimmten Zeit interessierte, aber noch viel mehr, was ausgeblendet wurde, da die Interviewenden ‚Kinder ihrer Zeit‘ waren.

Lust, Grenzen auszuloten Interviews nehmen unterschiedlichste Formen an. Für die audiovisuellen Massenmedien werden sie oftmals standardisiert, und selbst wenn sie kontrovers scheinen, handelt es sich um ritualisierte Abläufe. Bekanntes Beispiel sind Live-Interviews mit Profifußballern und Funktionären nach Spielende, die von den Fußballern gerne abrupt abgebrochen werden, so als müsste klargestellt werden, wer momentan über die Macht des Gesprächs verfüge. Der investigative Journalismus lebt von Grenzüberschreitungen, Überrumpelung und Provokationen, um auf diese Weise Informationen oder Meinungen herauszulocken. Im Vergleich dazu scheint die Methode der Oral History geradezu harmlos, da selten ein konflikthafter oder provokativer Habitus eingenommen wird, um Antworten herauszulocken, die über das hinausgehen, was 15 Vgl. den Dokumentarfilm „Before Stonewall“, USA 1984, von Greta Schiller und Robert Rosenberg; Stonewall in Wien 1969–2009. Chronologie der lesbisch-schwulen-transgender Emanzipation, Wien 2009. 16 Berührungsängste mit Personengruppen, die ‚fremd‘ sind, kommen immer wieder vor. Das betraf etwa die Interviews mit NS-Opfern, die von ‚uns‘ Kindern der NS-Generation geführt wurden. 17 Ein Beispiel: Auf die Frage, wie illegal nach Palästina eingereiste Flüchtlinge, die von den Engländern aus Palästina nach Mauritius gebracht und dort interniert worden waren, auf Homosexuelle reagierten, war die Antwort des Interviewten klar: Sie wurden verprügelt.

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Menschen in einem Alltagsgespräch von sich preisgeben würden. Aber auch in Oral HistoryInterviews kann es zu solchen Grenzsituationen kommen, besonders dann, wenn Interviews lange dauern. „Das möchte ich jetzt nicht sagen,“ ist so ein Hinweis, den Interviewende manchmal zu hören bekommen. Interviewende entwickeln dafür eine spezifische Aufmerksamkeit, sie sind besonders hellhörig gegenüber dem Verschweigen und den Verschleierungsversuchen der Interviewten. Es kann eine Lust geben, genau an dieser Stelle dahinter schauen zu wollen.18 Als Intellektuelle fällt es uns nicht schwer, dieser Lust ein Argument zur Legitimation beiseite zu stellen – Sprache ist gefügig. Doch Fragen können ‚übergriffig‘ sein, überrumpeln, besonders dann, wenn Interviewte signalisieren, dass der Themenbereich für sie ein Tabu berührt. „Vor mir brauchen Sie keine Geheimnisse zu haben …“, wäre so ein Satz, der aus der Reserve locken will und zum Tabubruch verführen soll. ‚Hineintheatern‘ ist ein in Österreich üblicher Begriff, der dies beschreibt. Der Wunsch nach einem ‚Sag es!‘ kann in manipulierende Fragestrategien verpackt werden.19 Wenn dem so ist, sollten bei den Interviewenden die Alarmglocken läuten. Die Motivation, Antworten jenseits der zunächst gesetzten Grenzen bekommen zu wollen, kann jedoch eine ganz andere sein. Interviewende bemühen sich darum, ihr Gegenüber zu verstehen. Dazu gehört es vereinzelt, individuell eingeschriebene Tabus kennen- und verstehen zu lernen. Diese hängen öfter mit Scham, Schuldgefühlen und Ängsten zusammen. Der Wunsch, eine Person verstehen zu wollen, ist durchaus legitim. Voraussetzungen für das Gewähren von Einblicken jenseits der Grenzen sind eine nicht-wertende Offenheit seitens der Interviewenden und gegenseitiges Vertrauen. Es kann allerdings problematisch werden, wenn nicht klar vereinbart wird, auf welche Weise derartige Sequenzen von den Interpretierenden verwendet werden können. Aalglatte, kohärente Standardgeschichten mögen interessant für das Erheben von narrativen Erinnerungsmustern sein, doch eigentlich sind sie langweilig, da sie nichts von den Reibungen und Widersprüchen innerhalb einzelner Lebensgeschichten preisgeben. Zum Verstehen einer Persönlichkeit gehören eben oft Brüche, Widersprüche, Unsicherheiten, Fehler oder das Benennen von Schwächen. Dies zuzulassen, bedarf Zeit, denn erst sie erlaubt auf die Ebene der assoziativen und im Idealfall der reflektierenden Erinnerung zu gelangen. Der Begriff Interessenausgleich beschreibt, dass Interviewte durch das gemeinsame Nachdenken und das Aufeinander-Eingehen neue Erkenntnisse über sich gewinnen. „Daran habe ich schon lange nicht mehr gedacht“, ist so ein Hinweis darauf, dass sich das Selbstbild aufgrund des Interviews neu ordnet. Genau hier geraten wir jedoch auch an die Grenzen unserer Kompetenzen als Historiker und Historikerinnen, da diese Veränderungen an therapeutisches Arbeiten erinnern. Dieses verfolgt andere Ziele, dient einem anderen Zweck. „You are my shrink“, ist eine ironisch gemeinte Aussage, die ich einmal zu hören bekam. 18 Interview mit Ela Hornung am 24. 6. 2010 in Wien; Ela Hornung: Denunziation als soziale Praxis. Fälle aus der NS-Militärjustiz, Wien / Köln / Weimar 2010. 19 Interview mit Ela Hornung am 24. 6. 2010 in Wien.

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Interpretationsgrenzen Wenn das Vertrauen so groß war, dass in den Interviews über Grenzen gegangen wurde, dann ist die Verantwortung der Interviewenden bzw. der das Interview später Benützenden besonders groß. Das Machtverhältnis ist eindeutig. Auch wenn die Oral History sich darum bemüht, dass Menschen ihre Lebensgeschichten so erzählen, wie sie es wollen, ist dieses Verständnis eine verharmlosende Banalisierung des Kommunikationsgefüges.  Die Interpretationshoheit liegt in der Regel bei denjenigen, die das Interview verwerten und darüber schreiben. In der Filmsprache gibt es die Begriffe ‚Schnitt‘ und ‚Montage‘. Sie bezeichnen den Vorgang, was vom Gesagten gezeigt und was weggeschnitten, also ausgeblendet wird. Nichts anderes passiert in der schriftlichen Form, bei der entschieden wird, wie eine Person vorgestellt wird, welche Inhalte und welche Zitate verwendet werden, was persifliert wird. Über all dem liegen die Interpretationen. So zu tun, als gäbe es dieses Machtverhältnis nicht, wäre ein Ignorieren der Verantwortung, die wir als Interviewende und Interpretierende haben. Wenn Interpretationen weit über das hinausgehen, was mit den Fragen als Antworten generiert wurde, handelt es sich um einen Machtmissbrauch. Der Impuls für diesen Beitrag war eine Meinungsverschiedenheit über die Interpretation eines Interviews, in der es darum ging, ob eine Frau – so wie sie es dargestellt hat – aufgrund des Geschlechtsverkehrs mit ihrem damaligen Partner oder aufgrund einer Vergewaltigung schwanger wurde. Aus dem Interview konnten ich und andere nicht ersehen, dass es eine Andeutung auf Vergewaltigung gibt. Selbst wenn die Vermutung stimmen sollte, könnte eine Veröffentlichung der Vermutung dramatische Folgen haben, da damit in unverantwortlicher Weise in das Schicksal von Beteiligten eingegriffen wird. Was wäre die Motivation, dies herauszufinden? Der Erkenntnisgewinn hätte vermutlich im Vergleich zu den Folgen für die Betroffenen, ihre Familien und Bekannten wenig Gewicht. Es gibt inzwischen detaillierte Forschung darüber, wie verschlüsselte Andeutungen sexualisierter und sexueller Gewalt in Interviews erkannt werden können.20 Interviews, in denen eine Vergewaltigung angedeutet wird, verlaufen ganz anders. Wenn über Vergewaltigung gesprochen wird, geschieht dies unvorhergesehen. Es ist deswegen außerordentlich wichtig, dass bei der Ausbildung von den Lehrenden auf die Möglichkeit hingewiesen wird, dass unerwartet traumatische Erlebnisse, seien es sexuelle oder eine andere Form von Gewalt, zur Sprache kommen. Szenarien aufzuzeigen, wie in einer derartigen Situation adäquat reagiert werden kann, ist eine grundlegende Voraussetzung, um jemand auf die Praxis der Oral History vorzubereiten.21 20 Helga Amesberger et al.: Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern, Wien 2004. 21 Gemeint ist etwa die Intervention, dass dies nicht Thema des Interviews sei und die interviewte Person darüber nicht sprechen muss. Ein anderes Szenario wäre es, das Interview im gegenseitigen Einverständnis abzubrechen und zu löschen. Es kann allerdings auch vorkommen, dass die Darstellung nicht abzustoppen ist. In einer derartigen Situation ist die Verantwortung der Interviewenden besonders groß, da sie einerseits auf sich achten müssen, emotional nicht mit in traumatischen Erfahrungen einsteigen sollen, da sie die Erschütterung auf diese Weise eventuell verstärken würden, anderseits müssen sie darauf achten, dass die interviewte Person diese Phase abschließt und danach in die Gegenwart zurückgeführt wird und in dieser zurückgelassen wird. Alleine deswegen sollten die

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Anonymisierung oder veränderte Namen sollten kein Vorwand für spekulative Interpretationen sein, denn die Betroffenen, Angehörige oder Bekannte erkennen verschlüsselte Versionen. Es gibt also berechtigte Grenzen eines Rechts auf die Wahrheit, bei der es sich eigentlich um die Wahrheit der Interpretierenden handelt. Sie sollten sich nicht hinter den Geschichten derjenigen verstecken, deren Geschichten sie analysieren. Es kann vermutet werden, dass das Verantwortungsbewusstsein für die Interpretation schwindet, wenn Interpretierende nicht bei den Interviews anwesend waren. Das ist ein grundlegendes Problem.

Übergriffe Ein von Tabus geprägter Bereich ist jener der Übergriffe auf Interviewende. Verbale Übergriffe erfolgen – wie bereits erwähnt – nicht nur durch die Interviewenden, sondern auch durch die Interviewten.22 Hier kann es sogar zu körperlichen Übergriffen kommen. Die Soziologin Verônica Sales Pereira arbeitete in São Paulo längere Zeit mit einer Gruppe von Obdachlosen. Die Forscherin wurde immer wieder mit Misstrauen konfrontiert, da die Obdachlosen vermuteten, sie arbeite insgeheim für eine Behörde oder kirchliche Institution. Die latente Aggression der Obdachlosen und das ernsthafte Bemühen der Forscherin, sie zu verstehen, führten zu einer Grenzüberschreitung vonseiten der wichtigsten Vertrauensperson unter den Obdachlosen. Sie überschritt einerseits das Berührungstabu, indem sie dazu aufforderte die körperlichen Spuren einer Verwundung zu berühren und attackierte andererseits die Forscherin verbal. Put your hands here [in her head]! Do you consider me disgusting? I was born by forceps, I shouldn’t be in the world! I came to this world, I have suffered … I was … Sometimes my mother had come to visit me. [pause] Do you know what she liked? She didn’t like to drink pure cachaça, but cachaça with honey. Who took care of me was my godmother. [she cries] I was a nice lady with that earrings … beautiful like something … look … For sure … today I am in this slum, I’m getting by. I had 18 carats gold earrings, that small stones, rubies like that, look. [faltering voice]. Who gave it to me was my godmother. I don’t know how I have the courage of being 50 years old, and living, cooking, in a slum because … My own cousin raped me! Didn’t you want know it?! [with emphasis and anger] […] Didn’t you want?!! Now take it for you!!! [faltering voice].23 Interviewenden immer ausreichend Zeit einplanen, damit sich die Interviewten bei Bedarf nach dem Interview aussprechen können, um diese überfordernde Erfahrung zu verarbeiten. 22 Dies kann bei vereinsamten oder verwirrten älteren Menschen passieren, die von der Angst geplagt werden, dass ihnen jemand Böses antun will, oder vermuten, dass aus ihrem Haushalt Gegenstände gestohlen werden. 23 Verônica Sales Pereira: Thinking about the ambivalence in a situation of research. The (im)possible building of a relation between researcher and narrator, in: XVI International Oral History Conference/ XVI Congreso International de Historia Oral: Conference Papers, Prague/Praga 2010 (CD-Rom).

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Persönlich hatte ich das Glück, dass mir gegenüber nie jemand körperlich übergriffig wurde. Interviewerinnen sind öfter davon betroffen als Interviewer. Unsere Methode des empathischen Fragens und des intensiv aufmerksamen Zuhörens kann missverstanden werden als ein über die Geschichte hinausgehendes Interesse an einem Menschen. Das betrifft vor allem Interviews, die über einen längeren Zeitraum andauern, weswegen mehr als nur eine professionelle Beziehung entstehen kann. In der Anthropologie und Feldforschung ist diese Gefahr noch stärker, und es sollten die dort gemachten Erfahrungen ernst genommen werden. Im schlimmsten Fall kann es zu sexuellen Übergriffen gegenüber den Wissenschaftlern bzw. noch viel mehr gegenüber Wissenschaftlerinnen kommen. Darüber zu reden, ist ein Tabu, da es wie ein Scheitern des eigenen wissenschaftlichen Arbeitens gilt.24 Es ist eine Schwachstelle, wenn die Methode der Oral History nicht vor den Gefahren der Übergriffe warnt und in der Ausbildung nicht Taktiken vermittelt, wie sich Interviewende davor schützen können. Das Thema ist heikel, da es um die Schuldfrage bei Übergriffen geht. Die Opfer suchen die Schuld oft bei sich selbst. Die Interviewenden haben mit ihrer Körpersprache zahlreiche Instrumentarien, um schon während des Interviews Respekt und Distanz des Gegenüber einzufordern, sei es das Verschränken der Hände, das Zeigen der „kalten“ Schulter oder notfalls das rechtzeitige Auf-Distanz-Gehen durch den Abbruch eines Interviews. Diese und andere Instrumentarien sollten jederzeit abrufbar und genutzt werden, wenn das Gefühl aufkommt, eine interviewte Person überschreitet die von den Interviewenden eingeforderte Distanz.25 Das zuvor angeführte Beispiel der Arbeit in den Slums von São Paulo ist ein Beispiel dafür, dass die Arbeit beängstigend werden kann, besonders wenn Drogen, Alkohol und Gewaltkultur mit im Spiel sind.

Überforderungen und sekundäre Traumatisierung Zu den Errungenschaften der Oral History gehört es gewiss, dass sich die Geschichtswissenschaft auf Grundlage der Lebensgeschichten mit Emotionen befassen musste. Als in Österreich Ende der 1970er-Jahre mit der Methode der Oral History begonnen wurde, hatten wir als Studenten in unserem wissenschaftlichen Umfeld noch keine Vorbilder, auf deren Erfahrungspraxis wir hätten aufbauen können, sondern nur Bücher. Diese waren zwar wichtig in ihrer Vorbildfunktion, doch es wäre hilfreich gewesen, Personen mit Praxiserfahrung befragen zu können. Es war analog zur Punkmusik wie ein ‚plug in and play‘ aufgrund der Lust, Geschichten zu hören, die bis dahin als irrelevant galten. Manchmal waren wir allerdings schlichtweg 24 Eva Moreno: Rape in the field. Reflections from a survivor, in: Don Kulick, Margaret Willson (Hg.), Taboo. Sex, identity, and erotic subjectivity in anthropological fieldwork, London / New York 1995, S. 219–250. 25 Albert Lichtblau: Keeping distance, in: Philippe Denis, James Worthington (Hg.), The power of oral history. Memory, healing and development. XIIth International Oral History Conference, Pietermaritzburg, South Africa, Pietermaritzburg 2002, S. 814–824.

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überfordert von dem, was wir zu hören bekamen. Zwei Beispiele für eine derartige Überforderung aus der eigenen Interviewpraxis: In einem Interview mit dem ehemaligen Direktor einer Schule wurde erst im Laufe des lebensgeschichtlich orientierten Interviews klar, dass er in einem Konzentrationslager gewesen war. Es sollte für mich völlig unerwartet das erste Interview mit einem KZ-Überlebenden werden, der Interviewte erzählte seine Geschichte ebenfalls zum ersten Mal in dieser Art. Seine detaillierte Beschreibung der Folterungen im KZ wurde von ihm wie in Trance erzählt. Ich fürchtete damals, dass er daraus nicht mehr zurückkommen würde. In einem anderen, viel später geführten Interview mit einem ehemaligen ‚Dienstmädchen‘ überforderte mich deren leb- und bildhafte Beschreibung der Amputation eines Köperteiles bei vollem Bewusstsein. Mir wurde beinahe übel. In beiden Fällen lag der von mir gesetzte Schwerpunkt ganz woanders, und ich hatte mich zuvor nicht auf derart traumatische Erfahrungen eingestellt. Nachdem der lebensgeschichtliche Ansatz unweigerlich zu solchen dramatischen Erfahrungen führen kann, sollten Interviewende immer damit rechnen. In Österreich ab den 1980er-Jahren Interviews zu führen bedeutete, über Krieg, Nationalsozialismus, Verfolgung und Kollaboration zu reden.26 Da Täter und Täterinnen kaum bereit waren, offen über ihre Taten zu sprechen, war sehr schnell klar, dass es die Geschichten der Opfer der Gewalt waren, die dokumentiert werden konnten. Offen gesagt, fiel es auch viel leichter, sich mit Opfergeschichten auseinanderzusetzen als mit den ‚verdrehten‘ Geschichten der Täter und Täterinnen. Die ersten Interviews mit NS-Opfern waren enorm anstrengend und es bestand für Interviewende sicherlich die Gefahr einer ‚sekundären Traumatisierung‘, also die Entwicklung von Trauma-Symptomen durch die kaum zu vermeidende Identifikation mit den Opfergeschichten. Es fiel schwer, emotionale Distanz zu halten und noch schwerer, danach nicht die Geschichten visuell und emotionell zu imaginieren. Deswegen finde ich es sehr wichtig, dass wir über Instrumentarien reflektieren, wie wir sorgsam damit umgehen, wenn es zu derartigen Überforderungen kommt. Selbst mit viel Erfahrung ist es mir immer wieder passiert, dass mir einzelne Geschichten zu nahe gingen. Es war schwer, die von Gewalterfahrung geprägten Bilder wieder abzulegen. Wenn ich junge Oral Historians dabei beobachte, wie sie bei den ersten Interviews mit emotionalen Regungen umgehen, merke ich, wie viel ich inzwischen auszuhalten gelernt habe. Wir sollten nicht vergessen, dass dieses Aushalten nicht vorausgesetzt werden kann. Bei den ersten Interviews kann es schon verunsichern, wenn Augen feucht werden. Das Thema wird daraufhin durch gezielte Fragen schnell gewechselt, um ein Weinen zu verhindern. Weinen ist in ‚unserer‘ Kultur ein Zeichen von Schwäche, von Trauer, auf alle Fälle gilt es als unmännlich. Wenn im Alltag Trauer und Schmerz gezeigt werden, wird Trost erwartet. Aber in Interviews, die zumeist mit Menschen geführt werden, die wir zuvor kaum 26 Gerhard Botz: Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik. „Opferthese“, „Lebenslüge“ und „Geschichtstabu“ in der Zeitgeschichtsschreibung, in: Wolfgang Kos, Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, S. 51–85; Anton Pelinka, Erika Weinzierl (Hg.): Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit, Wien 21997.

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kannten, schiene dies unangebracht. Jemanden beim Weinen zuzusehen, ohne körperlichen Trost auszudrücken, ist also ungewöhnlich.27 Unsere Rolle ist jedoch eine andere, nämlich dabei zu helfen, dass über die Verwundungen und Schmerzen gesprochen werden kann. Wie bleiben Interviewende dabei unbeschadet? Wo ist der kommunikative Ort, an dem sie das sie Überfordernde mitteilen und auf diese Weise symbolisch ablegen können? In unserem Fach – Geschichte – sind professionelle Supervisionen noch immer eine Seltenheit und werden kaum finanziert, obwohl diejenigen, die sich mit Zeitgeschichte befassen, oft mit der Geschichte von politisch fundierter Gewaltausübung konfrontiert werden. Die Belastung in persönliche Beziehungen zu tragen und dort Hilfe zu suchen, davor wäre zu warnen. Mit unserer Technik des Interviews nehmen wir diese Geschichten auf, wir müssen professionell begleitete Wege finden, sie auch wieder abzulegen.28 Zu den Möglichkeiten gehört das Niederschreiben der Beobachtungen und Eindrücke nach dem Interview. Dies ist nicht nur sinnvoll, um die unmittelbaren Eindrücke, die sich später verflüchtigen, festzuhalten, sondern es hilft auch dabei, das Gehörte ‚abzulegen‘. Chill-out-Phasen nach den Interviews sind empfehlenswert, sei es Spazierengehen, Musik hören oder sonst etwas.

Über Tabus reden Im Kommunikationsprozess werden von den Interviewten viele Botschaften an ein räumlich nicht anwesendes imaginäres Publikum mit verpackt. Eine Frau forderte mich beispielsweise nach dem Interview auf, ich solle nach ihrem Ableben ihrem Sohn eine Kopie des Interviews übergeben. Das Interview diente offensichtlich dazu, über etwas zu sprechen, was der Interviewten in der realen Kommunikation innerhalb der Familie durch auferlegtes Redeverbot nicht möglich war. Es kann passieren, dass Interviewte den Eindruck haben, endlich über etwas gesprochen zu haben, das sie lange für sich behalten hatten. Vermutlich handelt es sich dabei um selbstauferlegte Tabus, die mit Angst besetzt und Schuld belastet sind. Wenn die Interviewten erwarten, dass die Interviewenden diese Passagen stellvertretend und adäquat aufbereiten, führt diese Erwartungshaltung zu Enttäuschungen. Dass den Interviewten die Verantwortung für den Erhalt und die Weitergabe einer Lebensgeschichte überantwortet wird, belastet Interviewende ohnedies.29 Deswegen ist wichtig, von Anbeginn klarzustellen, wofür das Interview geführt wird und was damit geschehen bzw. nicht geschehen wird. 27 Beth Hudnall Stamm (Hg.): Secondary traumatic stress. Self-care issues for clinicians, researchers, and educators, Lutherville, MD 1995. 28 Leena Rossi: Emotions in oral history interview, Vortrag auf der 7th European Social Science History Conference, Lissabon 2008, unpubl. Manuskript. 29 In einem Interview mit einem Interviewer des Austrian Heritage Collection Projects am Leo Baeck Institute in New York kam genau dies zur Sprache. Der Interviewer träumte davon, dass er die Geschichte von Überlebenden nacherzählen müsse, was ihm nicht gelang.

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Auch wenn wir zu Recht Rücksicht auf Tabus nehmen, passiert es, dass die von uns Interviewten die Möglichkeit des Gesprächs dazu nützen, genau diese anzusprechen. Es kann also vorkommen, dass plötzlich sehr offen über Sexualität, Depression, Gewalt etc. gesprochen wird, obwohl die Fragen gar nicht daraufhin abzielten.30 Beim Vergleich von Interviews, die andere geführt hatten, finde ich es bemerkenswert, wie unterschiedlich auf derart sensible Themen reagiert wird. Manche können unvoreingenommen darüber weitersprechen, andere signalisieren mit ihren Fragen gleichsam, dass sie darüber nichts mehr hören wollen. Beides mag im Moment berechtigt sein. Wichtig scheint dabei, dass die Interviewenden die Verantwortung für das Gespräch behalten und nur so weit gehen, wie es für sie im Moment zumutbar ist. Manchmal stellt sich die Frage, ob die Interviewten nicht vor ihrer überbordenden Offenheit geschützt werden sollen. Kursieren vollständige Interviewprotokolle im Bekanntenkreis der Interviewten, können diese für Unruhe und Beleidigungen sorgen. Jemand erzählte beispielsweise kurz über einen Selbstmordversuch im Bekanntenkreis, doch die darauf folgenden Fragen zielten nicht auf eine ernsthafte Auseinandersetzung damit ab. Das Transkript dieses Interviews wurde im Bekanntenkreis herumgereicht. Die Oberflächlichkeit der Passage über den Selbstmordversuch führte zum Bruch einer Freundschaft mit der betroffenen Person. Vollständige Interviewtranskripte in Familien und im Bekanntenkreis der Interviewten zu verteilen, kann also zu Verstimmungen führen. Zu oft war ich bei Interviews zugegen, die eine scheinbar private Atmosphäre imitierten, in der die Interviewten vermutlich oft darauf vergaßen, dass bei einer Gesamtveröffentlichung jedes Wort wiegen kann.

Entlang von Grenzlinien Tabus benennen Grenzen, und damit beschäftigen wir uns in unserer Arbeit sehr oft: Welche Grenzen werden individuell, gesellschafts- bzw. forschungspolitisch gesetzt, welche Grenzen setzen wir selbst, und wie gehen wir mit eigenen und fremden Grenzüberschreitungen um. Oral History bewegt sich oft bewusst an diesen Grenzlinien, denn das Unausgesprochene, Verschwiegene, Verdrängte soll mit offengelegt werden. Die Suche nach Erkenntnis und ‚Wahrheit‘, die über zunächst gesetzte Grenzen hinausgeht, ist oft ein lang andauernder Prozess.31 Wenn wir in unseren Interviews oder den Analysen von Interviews Tabus aufbrechen, sollten wir uns selbst immer wieder die Frage stellen, ob unsere Intentionen im Einklang mit dem stehen, was dies für die von uns Interviewten und für uns selbst bedeutet. Deswegen ist es wichtig, dass Interviewende die Erfahrung des Befragt-Werdens selbst gut kennen. Dies hilft 30 Interview mit Michael John am 22. 12. 2009 in Los Angeles, Cal. 31 Der Dokumentarfilmer Errol Morris hat einen dieser Prozesse in seinem Film ‚The Thin Blue Line‘, USA 1988, nachgezeichnet. Vgl. auch seine Dokumentation ‚Standard Operating Procedure‘, USA 2008, über Abu Ghraib.

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für das Bewusstsein, dass nur Themen angesprochen werden sollen, die den Interviewenden selbst nicht unangenehm oder gar peinlich sind. Wenn beide Seiten dazu bereit sind, an Grenzen zu gehen, kann es durchaus spannend werden.

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Looking Back 23 Years Later A New Interview, a New Perspective For the past thirty years, I have been working with spoken and recounted life stories1 and have come to regard them as a unique source of historical knowledge about the way a period is experienced.2 I assumed interviewing someone for a second time after many years would be very different because the story that is told is determined by who the storyteller presently is. I assumed the perspective would have changed, and maybe even the ways of telling. A few years ago, I had the chance to do so, and when the opportunity arose, I agreed and was fascinated. We know that a spoken life story can re-begin ad infinitum and is never finished. What makes interviews so intriguing is that the interviewee is never exactly the same since the present shapes the past, and the present is always changing.3 The present article, which results from that second interview, deals with how change permeates a life story, which leads to new interpretations when a story is incorporated into a different meta-narrative.4 I use the term ‘meta-narrative’ as an interpretive framework to refer to moments in an interview when the interviewee reflects on his or her own story and looks back in order to consciously or unconsciously rearrange the facts and give meaning to what is being said. The interviewee’s mental 1 Selma Leydesdorff: We lived with dignity. The Jewish proletariat of Amsterdam 1900–1940, Detroit 1994, German edition: Wir haben als Mensch gelebt, Frankfurt a.M. 1994; idem: The state within the state. An artisan remembers his identity in Mauthausen, in: International Journal on Audio-Visual Testimony 10 (2004), pp. 103–117; idem: The strength to survive. An anthropology of survival, in: International Journal on Audio-Visual Testimony 12 (2006), S. 77–85; idem, Kim Lacy Rogers, Graham Dawson (eds.): Trauma and life stories. International perspectives, London / New York 1999 (Routledge studies in memory and narrative, 2); idem: Surviving genocide. The women of Srebrenica speak, Bloomington, Ind. 2011. 2 Cf. James E. Young: Toward a received history of the Holocaust, in: History & Theory 36 (1997), pp. 21–43; Luisa Passerini (ed.): Memory and totalitarianism, Oxford / New York 1992 (reprint 2005); Dominique LaCapra: Writ­ ing history, writing trauma, Baltimore / London 2001; Mary Chamberlain, Paul Thompson (eds.): Narrative and genre. Contexts and types of communication, London / New York 1998; Alessandro Portelli: The order has been carried out. History, memory, and menaing of a Nazi massacre in Rome, New York 2003; Richard Crownshaw, Selma Leydesdorff: On silence and revision. The language and the words of victims, in: Passerini (ed.), Memory and totalitarianism, pp. 7–19; Alexander von Plato: Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss, in: BIOS 13.1 (2000), pp. 5–29; Gerhard Botz (ed.): Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005. 3 Yifat Gutman, Adam D. Brown, Amy Sodaro (eds.): Memory and the future. Transnational politics, ethics and society, Basingstoke 2010. 4 Hayden White: The content of the form. Narrative discourse and historical representation, Baltimore 1987; Saul Friedländer (ed.): Probing the limits of representation. Nazism and the „Final Solution“, Cambridge, Mass. 1992; Robert Braun: The Holocaust and problems of historical representation, in: History & Theory 33.2 (1994), pp. 172–197.

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associations or mood, the time of day, or even long-term changes – and these are much more pertinent  – may all come together and generate a new story whose message may either be identical to the previous one, or quite different. A new meaning is given to historical events. Bloeme agreed to be interviewed a second time 23 years after the first interview. For this second interview, the incentive was the German Forced Labour project. She wanted to argue that she had been a labourer in Auschwitz and that throughout her time in the concentration camp she had remained a person capable of human agency, and not someone just waiting for the selection to be gassed. Her narrative in the second interview reinforced my views on what I have come to call the ‘anthropology of survival’,5 where I changed the questions about murder and shifted the focus to the ways of surviving.6 How had Jews been relating to each other? How had they responded to privileges? Had they maintained a sense of community? Did it ever exist? In my opinion, reflections prompted by similar questions are a prime example of the type of knowledge available to us through oral life stories. Since oral history does not provide detailed, ‘hard’ historical facts, but rather retrospective interpretations, it is my intention to show that it can help us reach a more profound and layered understanding of survivors’ accounts of traumatic and life-threatening periods. Over the years, Bloeme and I had stayed in touch. I had come to admire and love this woman who survived Auschwitz and various labour camps, and who then went on to have six children, publish several books, earn a Ph.D. and become a well-known figure at one of the universities in the Netherlands. She was a pioneer member of the organization which brought together orthodox Jewish women. When she retired, she kept on teaching and in so doing has become a role model for women seeking a Jewish identity; she also remained open-minded in her view towards women who had chosen a different path to express their Jewishness. As I expected, Bloeme looked back on her life quite differently than she had done in our first interview. The anthropology of survival is a topic we had discussed on several occasions, but unlike me, she had experienced it first-hand. In our talks we shared utter amazement at the resilience of people who have managed to build up a new existence in our country, the Netherlands, where more than 80 per cent of the Jews were killed during the Shoah.7 With them, a unique Jewish proletarian community and culture vanished.8 The culture of the diamond workers with their trade unions was as dear to us as the culture of poverty emblematized by 5 Cf. Leydesdorff, The strength to survive; idem: Gesproken en geschreven levensverhalen. Op zoek naar en “antropologie van het overleven” via oral history, in: Ernst Bohlmeijer et al. (eds.), De betekenis van levensverhalen. Theoretische beschouwingen en toepassingen in onderzoek en praktijk, Houten 2007, pp. 173–181. 6 Cf. Yehuda Bauer: Rethinking the Holocaust, New Haven 2001. 7 Hans Blom: The persecution of Jews in the Netherlands. A comparative Western European perspective, in: European History Quarterly 19 (1989), pp. 333–351; Martin Gilbert: The Final Solution, in: Ian C. Dear (ed.), The Oxford companion to the Second World War, Oxford / New York 1995, pp. 364–371; Pieter Lagrou: The legacy of Nazi occupation. Patriotic memory and national recovery in Western Europe, 1945–1965, Cambridge 2000, pp. 203–209. 8 Cf. Leydesdorff, We lived with dignity; Nancy Green (ed.): Jewish workers in the modern diaspora, Berkeley / Los Angeles 1998.

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hucksters and peddlers. Indeed, the annihilation of the Jews in the Netherlands can only be compared to what happened in Poland; the cultural destruction of a way of life hardly parallels what happened in many cities of Western Europe where some Jewish life continued. Moreover, the Jews who did return from the camps came back to a society that hardly welcomed them; five years of anti-Semitic propaganda had left their mark. The returnees met with even less sympathy when it became clear that they wanted to reclaim the possessions they had left in other people’s care. In the post-war years, the Netherlands was rife with controversy about possessions, war orphans and (accusations of ) betrayal. It took more than half a century for banks to pay outstanding Jewish credit balances and for insurance companies to compensate war-time Jewish claims.  This contradicts the image people in other countries have of what happened to the Jews in the Netherlands during the war. The fact that outsiders have vaguely heard of the 1941 February Strike in which non-Jewish workers rose up on behalf of their Jewish colleagues, has helped create the myth that the Dutch population was pro-Jewish. In reality, the Jews who lived there did not experience it that way.9 Some Jews I had interviewed spoke of how difficult it was to regain their footing in the Netherlands once they had understood that their families were gone for good. They encountered no compassion for their pain; they met with incomprehension, anti-Semitism and a rapacity that hurt them even more. Bloeme and I ended up talking about the strength of individuals, the almost improbable resilience of survivors who tried to reclaim a material and psychological existence. In my research into ‘the anthropology of survival’ (and in this context, ‘survival’ implies that one continues to live), I have focused on exploring how people in extreme circumstances have managed to maintain their identity and how they have subsequently dealt with their traumatic past. There is a host of literature on this subject, for example the debate between American psychiatrist Bruno Bettelheim and his colleague Terrence Des Pres about the consequences of being forced to relinquish one’s identity in a concentration camp.10 Another example can be found in the work of French sociologist Michael Pollak.11 The question of how people can continue to live with such tragic pasts has been posed since the end of World War II by poets like Paul Celan, philosophers like Jean Améry12 and writers, in particular Primo Levi.13 Recently the   9 Cf. Selma Leydesdorff: The mythology of “solidarity” as shown by the memory of the Februarystrike of 1941, in: Jozeph Michman (ed.), Dutch Jewish history. Proceedings of the fifth symposium on the history of the Jews in the Netherlands, Jerusalem, Nov. 25–28, 1991, Assen  1993, pp. 353–371. 10 Bruno Bettelheim: Surviving and other essays, New York 1979; Terrence Des Pres: The survivor. Anatomy of life in the death camps, Oxford / New York 1976. 11 Michael Pollak: Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit, Frankfurt a.M. 1988; idem: L’expérience concentrationnaire. Essai sur le maintien de l’identité sociale, Paris 2000 [1990]. 12 Jean Améry: Radical humanism. Selected essays, Bloomington, Ind. 1984; idem: At the mind’s limits. Contemplations by a survivor on Auschwitz and its realities, Bloomington, Ind. 1980 [1966]. 13 Primo Levi: Survival in Auschwitz, New York 1996 [1958].

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theme of morality has been raised by the Australian historian Pamela Maclean.14 The fight to carry on invariably hinges on the assignment of meaning, determined by how one is currently living and how one has lived since the trauma. This constitutes the basis, upon which varying self-images are constructed, self-images which are revised and adjusted over the course of time. The resulting identity determines how someone interprets the past and his or her life story. Yet it is precisely this identity that has been traumatized. It has been established that long-term psychological survival depends on one’s ability to repeatedly reclaim and reshape one’s identity and to reassign meaning to it.15 Interviews about surviving the camps are therefore essentially interviews about someone’s struggle with who he or she is.

A new interview I first interviewed Bloeme in 1983 while working on my dissertation on old Jewish Amsterdam.16 My focus then was the story of the Amsterdam Jewish proletariat which from the 1880s onward had joined the socialist ranks in droves, with great expectations of a future in which the distinction between Jews and non-Jews would gradually disappear. Needless to say, their expectations remained unfulfilled. I discovered during my research that while Jewish workers had embraced modernization, and had even become a driving force behind it, it was also a process that had led to great ambivalence, to say the least. After all, it was one thing to regard traditional ways of life and thinking as old-fashioned, but quite another to relinquish them. The ideology of how one should live did not correspond to the reality of how people lived in day-to-day life. Although religion was considered outmoded, the symbolism of Jewish tradition was nevertheless maintained and Jews seldom ventured beyond their own circles. This was possible because the pre-war socialist movement had many Jewish leaders and Jews played a dominant role in its organization. In 1983, Bloeme was in a unique position to describe this ambivalence between old and new. She said that the difference between Jews and non-Jews had never disappeared. It came from the way she had been deported as a Jew, and as a consequence she had opted for a traditional Jewish lifestyle after the war, rather than the secularism of her upbringing. She told me about her socialist father who had turned away from ‘archaic’ matters like religion; he believed there was only one humanity where all people were equal. He was a diamond cutter and it was in that trade that socialism had most firmly taken hold. Despite this her father socialized almost exclusively with Jews and even told her once that you could immediately tell whether someone 14 Pamela Maclean: „You leaving me alone?“ The persistence of ethics during the Holocaust, in: International Journal on Audio-Visual Testimony 12 (2006), pp. 23–37. 15 Robert Culbertson: Embodied memories, transcendence, and telling. Recounting trauma, re-establishing the self, in: New Literary History 26.1 (1995), pp. 169–195. 16 Leydesdorff, We lived with dignity.

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was Jewish or not. All ideological intentions aside, he drew a distinction between Jews and non-Jews. The whole story of Bloeme’s youth is the story of how Jewish tradition was carried on in Jewish working-class Amsterdam, while at the same time the prevailing idea was that they were giving up Jewish tradition. Looking back, I now see this interview as an inquiry into the Jewish working class’s integration into the non-Jewish world. To what extent did Jews either maintain the tradition of their older culture or discard it – perhaps unconsciously – in favour of a new, and often socialist, alternative? My dialogue with Bloeme started in the mid-1980s, and like many historians I kept a verbatim transcript of the interview. At the time, I admired Bloeme’s energy. Even though she suffered from a terrible war trauma, she was able to discuss the past. She did not dwell on her pain; she lived in the present. She was proud of her proletarian and politically-active family and of the Jewishness of her assimilated milieu. She expressed this pride and commitment throughout her story. To prepare for a new interview in the summer of 2008 I re-read the transcript and understood why I had been so impressed before. It was a written report about someone searching, in the act of bearing witness, for a way to understand what had happened. She was trying to tell me about something that had vanished for good. The story was nostalgic, and it conveyed a message. She said: My father was from Amsterdam. […] When he was two years old, he lost his mother and his sister who was two years his senior. He was brought up by his grandparents, on which side of his family I don’t even know. They only spoke Yiddish, those grandparents. My father spoke Dutch, as well as you and I.

She continued her story by describing the poverty, and the persistence with which her father had pursued intellectual development with the help of the diamond cutters’ union which he was active in. He taught himself so well that he could take part in a written polemic with great leaders such as Henri Polak, the legendary president of the diamond cutters’ union. Bloeme proudly showed me articles her father had written. But his self-education did not prevent him from losing his job, just like all the other diamond workers and poverty was a major blow to his well-read family. Unemployment was rife among diamond workers in the 1930s, and the industry never recovered. The diamond industry was a Jewish trade and its decline left many Jews indigent. The promise of a socialist utopia vanished and the highly developed form of culture Jews had attained was in danger of disappearing or melting down into poverty. In the first interview, I had asked Bloeme what it meant to be Jewish back in those days. To her it meant solidarity with other Jews, in a similar way to her father’s own feeling of solidarity with other workers. Staying home from school to celebrate the High Holy Days, as many of her classmates did, was an example of this solidarity. The school she attended was mixed, and the majority of pupils were Gentiles. She had started to move away from her father’s ideas

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about humanity at a young age because she felt a kinship with her fellow Jews. She even went so far as to join the Zionist cause – a small, marginal movement in Amsterdam at the time – in direct defiance of her father. He had been shocked by this, asking how she could support such a nationalist club. But again, Bloeme told her story about Zionism in terms that resembled those of socialist solidarity. Solidarity was first and foremost political, it was about a struggle to attain a common goal. In my second interview with Bloeme, conducted more recently, this type of solidarity had been replaced by a loyalty to tradition and religiosity. I had recorded my original interview on tape, but I first re-read the transcript on paper. Later, when I came across the tape and listened to it again, it struck me how the written transcript paled by comparison even though it was copied verbatim. The spoken story had many more dimensions than the typed sheets in front of me. Suddenly Bloeme was present in the room, and I saw her again as I had seen her so long ago. Listening to a story involved so much more than reading it. First of all, the spoken interview has the added dimension of sound, which includes the voice of the interviewee, her tone, mood, and rhythm, each of her minute inflections, her hesitations, and her silences. It is a story I heard first and read only later. Still, we historians have been trained to focus mainly on written sources. As academics we have learned to listen to words, but the language of an interview is so much more. To tell a story, one needs a listener, who accompanies the storyteller all the way. Memory only exists when it is recognized as memory, and in order to remember a traumatized past, one needs interaction with someone who feels compassion.17 During an interview the interviewee looks back on his or her life and learns different lessons from it. People who feel free seldom tell the real story they want to tell, they feel social constraints and want to be listened to. And yet the real story is still traceable. Interviewees also choose what particular rendition of their personality they wish to show. Someone who is in the process of remembering while talking makes unconscious choices and is capable of switching perspectives even within a sentence. It makes the perspective hard to trace as it interlaces various angles and perceptions. This is where the challenge of analysis starts.

A new perspective So back I went, to a lady who had aged and now experienced greater difficulty recalling the past. I expected a new perspective, perhaps mixed with that of the old transcript we had both re-read. Moreover, I was now going to interview her about the world of the concentration camp, and thus her camp experiences would likely affect her memories of the pre-war period as well. My assumptions proved right. Twenty-three years ago we had carefully avoided talking 17 Cf. Dori Laub: On Holocaust testimony and its “reception” within its own frame, as a process in its own right. A response to “Between history and psychoanalysis” by Thomas Trezise, in: History & Memory 21.1 (2009), pp. 127–150.

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about the camp as it was not the topic of my research. I was even scared of it back then and I think we both felt the need to keep the conversation positive while we reflected on the famous Jewish proletariat of Amsterdam. At the time, a sort of nostalgia for a world that no longer existed had dominated our conversation, a realm of solidarity and resistance she had been proud of. It was the world of her parents, who had equipped her with the assets that enabled her to rise to a higher standing in society. But this time, it was a different story; she had man­ aged to stay alive in the camp by showing solidarity with others, by remaining loyal to who she was and not relinquishing her identity. In the camp she had discovered Judaism as a religion with institutions and symbols.  She had found a new way of being Jewish, a new solidarity, expressed through the observance of the rules of religion. She had been helped by the religious women in the camp. With them, she followed the traditions, partly as an expression of silent resistance. What she had learned first in Auschwitz were the codes of survival: We had a few survival mechanisms. We reported the dates: today is September 26, 1944, a Wednesday. We were polite to one another. For a long time, we addressed the two older women, who I said later became my camp mothers, using ‘Mrs.’ before their names. The others did too. I was the youngest. Whatever small favours we could do for each other we did. We comforted each other. In the deep despair we would sink into there was always someone who said ‘we’ll make it’ and the next day you would say the same and listen to your own words. The strange thing was, there wasn’t a bug in sight, not a sprig of grass. Isn’t it strange, there was nothing?

Culture and politeness are diametrically opposed to the empty world of the camp and the barren land. In this setting, culture no longer meant just solidarity, but also respecting tradition, maintaining a Jewish identity and remaining a person in the face of barbarism and the ban on Jews. The Israeli historian Yehuda Bauer has described such acts as amidah, standing up or straightening up.18 Bloeme was already aware of the meanings of Jewish traditions, but in the camp she learned what it meant to light candles for Shabbos (Sabbath) and the holidays. She grew to appreciate the symbolism and the silence of prayer, and understood what it meant to want to live like a religious Jew. Judaism gave her strength and inner peace. She told me: One of my direct camp sisters was very handy. It was nearly Hanukkah. The supplies that arrived often came in barrels held together by iron bands to prevent them from falling apart. She salvaged one of those bands and collected oil from the machines in a cup she had got hold of. She didn’t care how those machines were supposed to run without oil. She bent the iron band into a Hanukkah menorah which was then brought into our barrack and lit.

18 Bauer, Rethinking the Holocaust.

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Bloeme lost the desire – which she had learned from her parents – to integrate into non-Jewish society. In the world of the camp she realized integration had been a vain hope. However hard one tried (and her parents and other family members had tried), she now had to survive as a Jew. And it was in this new, positive awareness that she found her strength. She continued to talk about Hanukkah: One of my two camp mothers, a very pious woman, she knew everything by heart and said the Baruchot, and the Ma’oz Tsur, she sang so loudly that at one point an Aufseherin came to take a look, which gave us a great fright. But all she did was stay and listen. That was my first Hanukkah ever, and I’ll never forget it.

She resolved to preserve this inner peace of the Hanukkah tradition from then on. After all, she had ended up in the camp because she was a Jew, and being Jewish to her mind was not, and is not, a matter of religion, but of staying true to the rituals of Judaism. This provided her with clarity and peace of mind, which helped her to survive. Bloeme never ceased to amaze me with her serenity, and I had already asked myself where this inner peace, which was the source of her great resolve, came from. Incidentally, she is not the only person I have interviewed who approached tradition in new ways while in the camp, in search of new expressions of Jewishness. In 1984 Louis opened my eyes to this when he said: “In the camp I suddenly became a Jew.” Yet whoever reads/hears my interview with him and considers what he says about the pre-war period will know just how Jewish he already was. He spent his time exclusively with other Jews and had chosen a Jewish path in life. And yet, in his own words, he was not a Jew yet. Bloeme was already a Zionist, but to her Judaism took on a new meaning. “Did you come closer to Judaism there?” I asked her early on in the interview. Her answer reflects a different background than that of Louis, who had never thought about such matters before the war. She answered: Yes, but I was already a very Jewish woman, with Zionist leanings. Yes, I came out of the war much more Jewish than I was when it all began, absolutely. I was the strongest, I fetched bathwater in a bucket for my older camp mothers who made us their daughters and were like mothers to us. They both had three children who had gone into hiding, and all of them returned after the war, but not their spouses.

I knew that she had felt very Jewish before the war but this was the first time I had heard her explicitly link her daily practice of Judaism with her strength, her ability to survive and to uphold values of humanity. The literature about the psychological consequences of the Shoah has shown us that maintaining these values and feelings of humanity can be a precondition for survival in inhuman circumstances. I suddenly saw how something I knew in the abstract really existed in a life story.

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Maybe because she had become older, my storyteller was much more playful, and she often strayed from the conventions of what a lady of her years is, or is not, supposed to say. In the years since our first interview, the husband whom she had loved so much and whose children she had borne, had died. She knew how highly I thought of him and this allowed her to speak freely. She was candid about the men she had loved in her life. She felt free to talk about her earlier boyfriend, the man who had waited for her during the war but whom she did not marry after all. He had meant much to her and had been able to help her a lot before the deportation because he was not Jewish. He had faithfully kept photographs and other items belonging to her and her family, which was why Bloeme had photos, articles written by her father and other objects which most Jews I have interviewed no longer possess. It had been difficult to let go of this man; just as it had been hard to say no to the man who had fallen in love with her in the camp. He, too, had helped her with small favours and he had given her the feeling that she was an attractive young woman. She described him with great appreciation because she had ample opportunity to do so. That “thin man” who had fallen in love “with a bald sack of bones” like herself. My guess is that she then had those same lively eyes, with that same energy that they still have today; a young girl who did slave labour at an age when she should have been going out, enjoying her youth. I suspect she was beautiful back then too. They had courted each other and had talked, or at least he had courted her. Having contacts with the men in the camp and with him in particular, was also a way of staying informed about how the war was progressing. Once it was over, he was one of the men who protected the women against the threat of rape. And while he helped her to escape to the West, away from the Russian army, he also in fact protected her from an actual rape attempt. But the story was also about her attempt to keep her own personality intact, a personality built on solidarity and Judaism. She was trying to remain a person who under all circumstances could love and be loved, and someone who was not ashamed of such feelings afterwards. It was a special story about being in love in the worst of circumstances, but that was what made the story so human. It speaks for itself that her personality took on an added dimension. I was speaking to a more self-assured woman than the one who twentythree years earlier had shared with me how she shaped her life and what values she held dearest. Now she was speaking less politically and in terms more fundamental to her personality. I have already described how her political solidarity with others had been replaced with solidarity experienced through tradition. By extension, there was the compassion she felt for those who had been persecuted; this practically self-evident solidarity had simply continued to exist. Bloeme believed in doing things collectively, and she has done so since her childhood.

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Telling the untellable Of course I already knew her life history, and as I said, we had avoided discussing the period in the camps in our first interview. There may be all kinds of reasons for this, aside from the fact that my research focused on the period that ended in 1940. Naturally this was a much more difficult story to tell and listening to her was the only way to find out about that period. It was unthinkable for her to write the story down because what she told was characterized by the typical fragmentation of a trauma story. We did not go from A to B, but we veered back and forth, sometimes breaking the story off or unexpectedly returning to the subject. There were times when we were both silent, waiting for her to gain control of her emotions. This scared neither of us. In the tears and sadness that dominated our meetings, she became the stronger person, an unforgettable storyteller who again won my admiration. While she spoke of her first Hanukkah experience, I realized at an analytical level how much her story resembled that of non-Jews about Christmas. It was such a serene moment. The most well-known of those Christmas scenes is of course the one that took place in the trenches of World War I, described by Remarque. People on battlefields, in prisons, and in times of terrible trouble, have given shape to what was important to their own identity and to their respect for values. Religious symbols and their attending moments of reflection are reminders that the world consists of more than just war, and that there are other people besides the ones with whom one shares a given horror. What is more, it is pleasant to talk about this, because it is a bright spot in an otherwise horrendous tale; how one tells this reveals the storyteller’s personality. This did not detract from Bloeme’s Hanukkah story. On the contrary, it was yet another expression of her view of the past, evoking a sense of humanity and shedding light on her unconditional loyalty to Jewish symbolism. Of course, we are dealing with a story about trauma in this case. Traumatic memories are notoriously difficult to recount. They are often stored in an isolated part of the brain where they can dominate the way one perceives the rest of one’s life. Yet I have strong reservations about the well-known cliché that it is impossible to interview a person about a great trauma ‘because language fails’. Much has been written about the Shoah, and people are often keen to make use of existing narrative genres in order to avoid the pain of memory. But this is not always true, and new stories are told. In an interview great trauma requires more patience, more empathy, and more emotional solidarity about pain. I am probably unsuited to interview traumatized criminals because my solidarity would be far more conditional. There must be room to speak. A few years before my second interview with Bloeme, I had interviewed a survivor of Maut­ hausen for the Mauthausen Survivors Documentation Project.19 The interviewee, a proud old man, felt like talking about the good times and took me back to the soccer field where national teams sometimes played against the SS. He had enjoyed himself then, and told me he had even 19 Leydesdorff, The state within the state.

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occasionally smoked a cigarette with the SS. He mentioned this during a speaking engagement, and other survivors had been offended. There had been no good times in the camp, they argued. He was the first to admit that it had been horrible, that he had feared for his life all the while, but he refused to keep the good times a secret. He talked to me about them at length and I saw no harm in this. Why should he not be permitted to discuss this? It does not make the memories of one of the worst Nazi camps any better. I would never claim that it is easy to record a life story with a traumatized person. But an interviewer/listener can help create the right circumstances for the story to be told. The storyteller needs to feel that everything he or she says, including that which might seem odd, incorrect or irrelevant, is accepted and treated as important.20 “Who am I to sit in judgment so many years after the fact?” is what I tell myself when I conduct an interview. However, I cannot always avoid feeling ashamed and being judgmental. A written text makes it possible to ‘tamper’ with the ‘improper’ story, but in a spoken text the impermissible and even indecent aspects easily slip in, and once said, they are indelible. Sometimes, these are very small details, because nothing is more human than being ashamed of something you could have done better. And sometimes, as in the case of the soccer field, one feels there are things that are best not remembered. In addition, the listener must have the serenity and strength to sit through the history in question. It is one thing to know that Auschwitz existed, but quite another to sit across from someone who is remembering the most painful incidents, someone who hesitates, searches or cries. This is hard for me because part of my family was destroyed by the Shoah. I always say that an interview affects me to the core, and that nothing is more exhausting than interviewing a traumatized person. Empathic listening and reconstructing a historical narrative are different from the task of a therapist. While therapists are done in an hour, we can sit and listen to someone for hours on end, and there is no protocol. But we are expected to provide a context for the storyteller’s history, to compare and explain. The second time, I listened to Bloeme for almost four hours and I know we have not finished yet. Listening is often therapeutic because that kind of focused attention is not self-evident in our world. Listening without contradicting is something we systematically unlearn. In our culture, we usually learn to listen the way people do on television, in an explicitly confrontational dialogue. I have noticed that talking about trauma in a peaceful setting can be a way of dealing with it. Sometimes terminally ill people are very eager to be interviewed because they feel this is a way of saying goodbye. In a later period I interviewed survivors of the genocide in Srebrenica. In speaking to me, these women often told their whole story for the first time. I cannot avoid making a comparison. At the outset, they too were usually reluctant. And afterwards we were all exhausted. Yet we also often ended our meeting happy, with lots of food, laughter and a good hug, or we simply sat together and watched the day fade, forgetting the stench and hor20 Cf. Laub, On Holocaust testimony; Selma Leydesdorff: Surviving the Bosnian genocide. The women of Srebrenica speak, Bloomington, Ind. 2011 (in print).

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ror of many of the refugee camps. During our talk, something fell into place or became slightly easier to accept. In my interview with Bloeme, I think our friendship benefited both of us. The past is passed on orally in the gentlest way possible.

In conclusion The woman I described here is one of the many I have interviewed. Through these interviews I am slowly developing a different view of the survival experience and signification of the Shoah. I have discovered an “anthropology of survival”. Juxtaposed to the collective images of emaciated people driven into the gas chamber and the Muselmann (the walking dead in the camps who have lost the will to live), there is also the survivor who remained an individual. Survival is achieved through social skills, physical strength, mental and emotional resilience, and by remain­ing aware that there is another world with alternatives.21 Therefore, I am grow­ ing increasingly sceptical of the assumption that prisoners generally lost their personality in the first days in the camp, as described by Primo Levi in “The Grey Zone”.22 I have come to describe survivors as people who should be proud that they did not lose their identity, despite everything else. Primo Levi himself would probably never have written so beautifully if he had not been so strong. He did the opposite of losing his personality; he stored everything in some sort of artist’s mind which he could later unlock, to look at the images which allowed him to testify and warn the world. Even though the Nazis tried to destroy people’s personalities, I see evidence in my interviews time and again that attempts to do so often fail, and that is why people survived. People may question whether this still qualifies as historiography, which is, after all, my profession. I strongly dismiss their misgivings.  History recounted by the victims completes our picture of the Holocaust, because it gives us insight into the micro-history of a period and a particular experience. Apart from the big picture, we can suddenly see how people lived and survived. What fascinates me is that such micro-history both complements and alters our view. What interests me is anger, love, hope, those almost intangible concepts and emotions that once were. They help me understand survival. At the same time, research like mine makes a moral appeal to the world, and in that sense, the life stories I write down are more than mere historiography based on new information. This type of research inspires me to reflect on different little-studied and confidential facts and ultimately on history itself, now understood as a practice encompassing both memory and testimony.

21 Maclean, You leaving me alone; Anna Pawelczynska: Values and violence in Auschwitz. A sociological analysis, Berkeley / Los Angeles 1980. 22 Primo Levi: The drowned and the saved, New York 1988, chpt. 2 „The grey zone“.

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Soziale Formen des Schweigens bei Michael Pollak Eine sekundäre Analyse der „Grenzen des Sagbaren“ In der Reihe „Studien zur Historischen Sozialwissenschaft“ erschien 1988 „Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit“ von Michael Pollak (1948–1992).1 Gerhard Botz war zu diesem Zeitpunkt Mit­ herausgeber der Reihe und hat mit dem Autor lange Jahre zusammengearbeitet.2 Das Buch behandelt sowohl die traumatisierenden Erfahrungen der KZ-Haft als auch die Probleme ihrer retrospektiven Aufarbeitung und Erinnerung aus einer soziologischen Perspektive. Es umfasst zwei Texte, die unabhängig voneinander gelesen werden können. Der erste Text, „Umgang mit dem Unsagbaren“, stellt auf der Grundlage biografisch orientierter Interviews den Lebensweg einer Berliner Jüdin dar, in deren Erzählung die Erfahrung des KZ Auschwitz-Birkenau und die Schwierigkeiten, sich nach 1945 wieder in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, im Zentrum stehen. Der zweite Text, „Augenzeugen erzählen – Biografie und Identität“, fragt nach den historischen und sozialen Kontexten, unter denen verschiedene Formate von Berichten über KZ-Erfahrungen entstehen. Pollak rekonstruiert dabei unterschiedliche Mechanismen, die bei erzählten Lebensgeschichten in Oral History-Interviews und autobiografischen Aufzeichnungen wirksam werden, und arbeitet verschiedene gruppenspezifische Erzählstile heraus, die auf unterschiedliche Lebenswelten und dort etablierte Erfahrungen und Beziehungsstrukturen verweisen. Die Analyse Pollaks vermittelt weitreichende Einsichten über individuelles Verhalten in der Ausnahmesituation des Konzentrationslagers. Unter diesen Bedingungen gäbe es, so Pollak, keinen „statistisch konstruierten Durchschnittsbürger“;3 es würden alle zivilisatorischen Werte und Institutionen aufgehoben und der Mensch sei letztlich auf sich alleine gestellt. Vor allem im ersten Text über den „Umgang mit dem Unsagbaren“ rekonstruiert der Autor auf der Grundlage von mehreren biografischen Interviews mit Ruth A. das Bemühen und die Fähigkeiten einer Überlebenden, im Kampf um das unmittelbare Überleben neue Beziehungen 1 Michael Pollak: Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit, Frankfurt a. M. / New York 1988 (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft, 12). Eine Neuauflage ist in Vorbereitung. 2 Ein Thema, das Michael Pollak und Gerhard Botz besonders intensiv gemeinsam bearbeitet haben, ist die Frage nach jüdischer Kultur und Antisemitismus in Wien ab dem 19. Jahrhundert, vgl. dazu: Gerhard Botz, Ivar Oxaal, Michael Pollak: Jews, antisemitism and culture in Vienna, London 1987; erweiterte deutsche Ausgabe u.d.T: Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien 1989 (Neuauflage 2002). 3 Pollak, Grenzen, S. 9.

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aufzubauen und spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten zu aktivieren. Pollak betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Identitätsarbeit. Unter diesem Gesichtspunkt hat sich auch Gerhard Botz mit der Studie über „Die Grenzen des Sagbaren“ beschäftigt.4 Die Herstellung einer Kontinuität zwischen dem Vorher und dem Nachher, so Pollak, sei angesichts der extremen Veränderungen, die der Person aufgezwungen wurden, ein wesentlicher Aspekt zur Rettung des eigenen Selbstwertgefühls. An dieser Stelle bekommt der Begriff des Habitus bei Pollak einen hohen Stellenwert.5 Die Ressourcen für die Identitätsarbeit seien begrenzt und stützen sich auf die in der Sozialisation vor der KZ-Haft erworbenen Fähigkeiten und Dispositionen. Das Konzept des Habitus verweist auf die Strukturierung der subjektiv psychischen Welt durch die Strukturen der sozialen Ordnung.6 Es meint sozialisierte Subjektivität, das Ergebnis von Prozessen, mit denen sich das Soziale in den Körper eingeschrieben hat. Vor diesem Hintergrund argumentiert Pollak: Auch wenn die Anpassungs- und aktive Gestaltungsfähigkeit einer Person oder einer Gruppe in einer vollkommen neuen Umgebung nicht vorhersehbar sind, sind sie in jedem Fall in ihrer möglichen Ausprägung durch die individuell und kollektive Vorgeschichte begrenzt.7

Das Verhalten in den Lagern sei auf die gesellschaftliche Stellung in der Zeit vorher bezogen, knüpfe an berufliche, sprachliche, politische oder religiöse Bindungen an. Die Arbeit mit dem Konzept des Habitus verweist auf die Verbindung zwischen Michael Pollak und Pierre Bourdieu. Pollak studierte um 1970 Soziologie an den Universitäten Linz und Wien. Danach ging er nach Paris, um bei Pierre Bourdieu zu promovieren. Dessen Arbeitsweise schien ihm kritische Gesellschaftsanalyse und empirische Forschung in einer Weise zu verbinden, die seinen Vorstellungen entsprach. Die Kooperation mit Bourdieu blieb auch nach der Dissertation aufrecht. Pollak gehörte zu jenem Autoren- und Forschungsteam, das mit Bourdieu die Zeitschrift „Actes de la recherche en sciences sociales“ gründete und gestaltete.8 „Die Grenzen des Sagbaren“ können auch unter einem methodologischen Gesichtspunkt gelesen werden und es ist diese Perspektive, die wir in diesem Beitrag in den Vordergrund stellen. Michael Pollak war in den 1980er-Jahren in die von Gerhard Botz initiierte Sommeruniversität   4 Gerhard Botz: Die Aufrechterhaltung einer sozialen Identität. Michael Pollak (1948–1992) und sein Beitrag zur Erforschung des Überlebens in Nazi-Konzentrationslagern, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 5.4 (1994), S. 569–576.   5 Pollak, Grenzen, S. 13.   6 Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976.   7 Pollak, Grenzen, S. 13.   8 Vgl. Christian Fleck, Albert Müller: Nachruf auf Michael Pollak, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie (ÖZS) 17.4 (1992), S. 110–114; Ingo Mörth: „Hier in Österreich hat man immerhin den Vorteil, dass wahre Gegner an der Macht sind und keine falschen Freunde.“ Pierre Bourdieu und Österreich – einige posthume Notizen, in: ÖZS 27.3 (2002), S. 78–92.

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„Neue Methoden in der Geschichtswissenschaft“, besser bekannt unter „Quant-Kurs – QualKurs“,9 involviert und hat dort wichtige Impulse zur Etablierung und Vermittlung qualitativer Methoden gegeben. In der Arbeit zur KZ-Forschung diskutiert er sorgfältig die sozialen und zeitgeschichtlichen Kontexte, unter denen Erfahrungsberichte von ehemaligen KZ-Insassen zustande kommen: Vergessen, Nicht-Erinnern, Schweigen, Verschweigen, alle diese Grenzen des Sagbaren können in ihren Zusammenhängen mit den sozialen Gegebenheiten der Lebenswelt der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner gesehen werden. Bei der Interpretation von qualitativen Daten ist es wichtig, die sozialen Rahmungen der Daten soziologisch zu reflektieren. Vor welchem milieuspezifischen Sozialisationshintergrund sprechen Personen in Sozialforschungsinterviews über Erlebtes und dessen Verarbeitung in Erfahrungen? Was wird im Rahmen dieses sozialen Horizonts mitgeteilt und was nicht zur Sprache gebracht? Welche Bedingungen bringen jene Formen des Verschweigens hervor, die nicht auf ein Vergessen, nicht auf ein Nicht-Wissen und nicht auf ein Zurückhalten von Informationen im Interview zurückgehen? In welcher Relation steht das Verschwiegene zum Mitgeteilten? Die Rekonstruktion der Grenzen des Sagbaren ist ein wichtiges Moment der Interpretation eines nichtstandardisierten Interviews. Wir müssen etwas über die Soziologie des Ungesagten wissen, um das Gesagte zu verstehen und objektivieren zu können. Pollaks Arbeit demonstriert eindrucksvoll diesen Ansatz im Umgang mit empirischen Daten. Ihre Analyse bestehe darin, die mitgeteilten Ereignisse mit der sozialen Position der Erzählenden, ihren Beziehungen zu den Zuhörenden sowie den Formen der Mitteilung in Beziehung zu setzen.10 Bei diesem Zugang zu empirischer Forschung wird der Einfluss Bourdieus auf Pollak sichtbar. Soziologische Objektivierung besteht für ihn darin, den sozial und kulturell kontextualisierten Sinn von Daten zu erhellen, indem sie im Rahmen sozialtheoretischer Konzepte und Theorien rekonstruiert werden. Wir arbeiten im Folgenden unterschiedliche Bedingungen für Unsagbares systematisch heraus, die Pollak am Beispiel der Berichte von KZ-Überlebenden diskutiert, und ordnen sie in einer „Bedingungsmatrix“11 an. Damit können soziale Grenzen für Mitteilbares und Unsagbares verdeutlicht werden. Eine Bedingungsmatrix ist ein analytisches Hilfsmittel, um zu untersuchen, durch welche Bedingungen ein bestimmtes soziales Phänomen geprägt ist. In diesem Fall stellt die Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbarem das zentrale Phänomen dar. Dieses Phänomen bildet den Kern der Matrix. Verschiedene Bedingungen, die Sagbares und Unsagbares strukturieren, können wir uns als Kreise rund um das zentrale Phänomen vorstellen. In den äußeren Kreisen befinden sich die Bedingungen, die vom zu untersuchenden Phänomen, der interaktiven Situation des Interviews, relativ weit entfernt sind (siehe Graphik 1).   9 Vgl. Gerhard Botz, Christian Fleck et al.  (Hg.): „Qualität und Quantität“. Zur Praxis der Methoden der Historischen Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. / New York 1988 (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft, 10). 10 Vgl. Pollak, Grenzen, S. 91. 11 Vgl. Anselm Strauss, Juliet Corbin: Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996, S. 132–147.

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Grafik 1: Bedingungsmatrix zum sozialen Schweigen in Forschungsinterviews

In beiden Texten, die in Pollaks Buch enthalten sind, haben wir vier Kontexte ausgemacht, die sich je nach ihrer Entfernung vom unmittelbaren Interaktionsgeschehen in der Interviewsituation unterscheiden. Die ersten drei Bedingungen sind insofern strukturelle Kontexte, als sie der Aushandlungssituation im Interview nicht direkt zugänglich sind. Sie sind jedoch durch Interpretation grundsätzlich erschließbar. Die vierte und letzte Bedingung stellt sich als Aushandlungskontext dar. Von ihr ist anzunehmen, dass sie einen direkten Einfluss auf das Moment des Unsagbaren haben kann, was jedoch die strukturellen Kontexte nicht wirkungslos macht. Die vier Kontexte sind: –– grundlegende Lebenskontexte und kollektives Gedächtnis, –– Ängste, nicht verständlich zu sein, –– das soziale Schweigen der unteren Schichten, –– die soziale Beziehung zwischen Befragten und Interviewenden.

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Lebenskontexte und kollektives Gedächtnis Über die Verknüpfung von individuellem und kollektivem Gedächtnis ist in den letzten 30 Jahren viel geforscht worden.12 Der Begriff des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ betont, dass individuelles Erinnern und Vergessen stets eine soziale Dimension hat. Vor rund achtzig Jahren hat der Franzose Maurice Halbwachs dafür den Begriff des kollektiven Gedächtnisses eingeführt.13 Der Begriff scheint auf den ersten Blick absurd. Ein Kollektiv selbst kann kein Gedächtnis haben. Bestenfalls können viele Individuen ein gleich oder ähnlich ausgebildetes Gedächtnis haben. Der Begriff des Kollektivgedächtnisses ist in diesem letzteren Sinn gemeint. Allerdings nicht so, dass die Gemeinsamkeit des Gedächtnisses in einer Gruppe dadurch zustande kommt, dass viele einzelne gemeinsame Erfahrungen und deshalb eine gemeinsame Erinnerung haben. Das kollektive Gedächtnis bildet sich nicht als Summe einer Vielheit von einzelnen Erinnerungen, sondern umgekehrt, es ist die soziale Gruppe, das Kollektiv, das die Erinnerung der zugehörigen Mitglieder formt und verfestigt.14 Einzelne haben Erinnerungen in einem wörtlichen und plastischen Sinn. Doch die soziale Gruppe bestimmt darüber, was des Andenkens wert ist und wie es erinnert wird. Damit wirkt das kollektive Gedächtnis wie ein Horizont für die individuelle Erinnerung, in dessen Rahmen Subjekte ihren Erfahrungen Sinn und Bedeutung zuschreiben. In narrativen Passagen eines Interviews sprechen die Befragten nicht den Horizont selbst an, sie berichten in erster Linie von ihren persönlichen Erfahrungen. Diese sind jedoch strukturiert durch Begriffe, Konzepte und Tabus aus dem Hintergrundwissen des kollektiven Gedächtnisses. Pollak greift diesen Zusammenhang zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis an mehreren Stellen auf. In den autobiografischen Texten über KZ-Aufenthalte sei vielfach die „charakteristische Spannung“ zu erkennen, die sich aus dem Doppelcharakter dieser Rekonstruktionen ergibt, sowohl individuelle als auch kollektive Erinnerung zu sein.15 Der Prozess der individuellen Erinnerung gestalte sich stets komplex, weil ein Individuum Teil von vielfältigen sozialen Gruppen sei. Aus dieser Konstellation erwachse eine ganz spezielle Struktur eines individuellen Gedächtnisses, das keinesfalls auf die Erinnerungsweise eines einzigen Kollektivs reduziert werden könne.16 Wie die Praxen des kollektiven Erinnerns und Vergessens ihre strukturierende Macht über die Erzählungen von GesprächspartnerInnen entfalten, lässt sich an Pollaks Text über den „Umgang mit dem Unsagbaren“ nachvollziehen. 12 Vgl. Peter Burke: Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, S. 289–304; Meinrad Ziegler, Waltraud Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Mit einem Beitrag von Mario Erdheim, Wien / Köln / Weimar 21997; Meinrad Ziegler: Erinnern und Vergessen. Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Zweiten Republik, in: ÖZG 6.1 (1995), S. 41–60. 13 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin / Neuwied 1966, erstm. 1925. 14 Vgl. Burke, Geschichte, S. 290. 15 Vgl. Pollak, Grenzen, S. 113. 16 Vgl. Pollak, Grenzen, S. 153–155.

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Die Berliner Jüdin Ruth A. erzählt darin, wie sich für sie nach 1945 die Frage nach dem Weiterleben gestellt hat. Eine der engsten Freundinnen aus den Jahren im KZ AuschwitzBirkenau hatte kurz nach dem Krieg in Prag Selbstmord verübt, eine Entscheidung, die für sie selbst durchaus nachvollziehbar gewesen wäre. Ruth aber wählte für sich einen anderen Weg und beschloss, einen neuen Anfang in Berlin zu machen. Im Interview erzählte sie über den Prozess der sozialen Integration, der mit der Option des Weiterlebens verbunden war. Dazu gehörten viele Aktivitäten für den Aufbau neuer sozialer Kontakte, vor allem zu nicht-jüdischen Deutschen. Diese Arbeit kam besser voran, wenn sie ihre unmittelbare Vergangenheit im KZ nicht zum Thema machte. Auch im beruflichen Alltag gab es eine Reihe von Erlebnissen, die Ruth ein Schweigen über die KZ-Vergangenheit nahelegten. Eines dieser Erlebnisse kommt im Interview zur Sprache: Im Jahr 1953 wurde Ruth – wie sie erzählt – wegen ihrer Erfahrung als KZ-Opfer beim Amt für Entschädigungszahlungen an Opfer und ‚rassisch Verfolgte‘ angestellt. Der Leiter des Bezirksverwaltungsamtes, an dem sie tätig war, war früher Mitglied der Waffen-SS. Eines Tages machte er ihr gegenüber die Bemerkung, dass es unter Hitler nicht so schlimm gewesen sein könnte, weil Ruth schließlich noch leben würde. Solche Erlebnisse ereignen sich nicht täglich; sie führen jedoch zu dem starken Bedürfnis, sich zu schützen, sich in ein „Schneckenhaus zurückzuziehen“17 und nicht über die Erfahrungen in Birkenau zu sprechen, um normal leben zu können. Ihre Lebenssituation in den Jahren nach 1945 war durch den Verlust der früheren Freundinnen und Freunde gezeichnet. Damit fehlte die Möglichkeit einer kollektiven Erinnerungsarbeit zu den eigenen Erfahrungen. Vor diesem Hintergrund entzieht sie im Interview ihrer Erinnerung auch den politischen Zusammenhang. Sie dekontextualisiert die Probleme einer jüdischen Identität in Nachkriegsdeutschland – was nicht heißt, dass sie die Vergangenheit nicht ständig beschäftigt und emotional bewegt. Pollak fasst diese lebensweltlichen Bedingungen mit dem Konzept „Fremd in der Heimat“18 zusammen und betont die Folgen dieser Bedingungen für das Erinnern: Vielleicht ist es weniger eine Folge des Vergessens, wenn Vergangenheit stumm bleibt, als vielmehr die Folge einer Steuerung der Erinnerungen je nach den Kommunikationsmöglichkeiten zu verschiedenen Lebensabschnitten. Dies drückt sich auch in der Wahl von Freunden und dem Grad an Intimität aus, die der einen oder anderen Person gewährt wird. Wir versuchen genauso, auf die Gestaltung unserer Umgebung einzuwirken, um uns emotional sicher zu fühlen und frei sprechen zu können, wie wir das Gesagte je nach Gesprächspartnern und -situationen modifizieren. Ruths soziales Leben kann als Ergebnis einer solchen Gedächtnissteuerung erscheinen.19

17 Pollak, Grenzen, S. 73. 18 Pollak, Grenzen, S. 69. 19 Pollak, Grenzen, S. 74.

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Neben diesem Gefühl der Fremdheit skizziert Pollak weitere Lebenskontexte, die für die Strukturierung des Gedächtnisses seiner Gesprächspartnerin bedeutsam waren: Die alten Freunde aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus lebten nicht mehr; sie war keine gläubige Jüdin, hatte nur lose Bindungen an die Jüdische Gemeinde, besuchte dort vor allem Vorträge, die Fragen der kulturellen Traditionen des Judentums behandelten; sie knüpfte nach ihrer Rückkehr nach Berlin wieder an Beziehungen zum Ärztemilieu an, in dem sie sich während der Ehe mit ihrem in Auschwitz getöteten Mann bewegt hatte; und sie pflegte darüber hinaus Freundschaften, die in einem Gefühl solidarischer Verbundenheit in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden waren. Es wird sichtbar, wie dieser erste Kontext den Umstand in den Vordergrund rückt, dass ein Interview nicht nur in die Beziehung der unmittelbar am Interview Beteiligten eingebettet ist. Jene sozialen Beziehungen der GesprächspartnerInnen, die für sie subjektiv besonders bedeutsam sind, gehen in die Interviewsituation ein und strukturieren die Erinnerung und Kommunikation. Ronald Grele spricht in diesem Zusammenhang von einem strukturierten Feld, in dem Menschen ihre Geschichte leben und das ihre Praxis – sowohl ihr Handeln wie ihre Reflexivität – steuert.20 Die größeren Gemeinschaften, in denen die GesprächspartnerInnen gelebt haben und leben, und deren Erfahrungen sowie die Verarbeitung dieser Erfahrungen in kollektiven Narrativen bilden den ungesagten Horizont, vor dem das Individuum seine Erfahrung erinnert und ihnen eine Bedeutung zuschreibt. Dieser Kontext, das sei abschließend betont, führt zu einem Schweigen, nicht notwendig zu einem Vergessen. Ruth spricht im Interview mit Pollak davon, dass das Gespräch begrabene Teile ihres Gedächtnisses wieder gegenwärtig machen würde. Ob und in welcher Weise eine solche Vergegenwärtigung in einer Interviewsituation geschehen kann, hängt nicht nur von den kommunikativen Fähigkeiten eines individuellen Interviewenden ab, sondern auch von zeitgenössischen sozialen und kulturellen Kontexten, die den Raum dessen, was gesagt werden kann, mitbestimmen.

Ängste, nicht verständlich zu sein Der zweite Kontext macht neuerlich deutlich, dass das Unsagbare bei Pollak ein Schweigen und nicht ein Vergessen meint. Es gibt Gesprächssituationen, in denen wir etwas nicht zur Sprache bringen, weil etwa in dem gegebenen Rahmen das Vertrauen fehlt, ein Verständnis erwarten zu können. Das Misstrauen kann sich auf subjektive Faktoren gründen, die mit der unmittelbaren Aushandlungssituation, also den InteraktionspartnerInnen im Interview, verbunden sind. Vielleicht schreiben die Befragten den Interviewenden einen Mangel an Lebens20 Vgl. Ronald J. Grele: Ziellose Bewegung. Methodologische und theoretische Probleme der Oral History, in: Lutz Niethammer (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ‚Oral History‘, Frankfurt a.M. 1980, S. 143–161, hier 151.

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erfahrung oder Sensibilität zu und wollen deshalb emotionale und persönlich schmerzhafte Erinnerungen nicht zum Thema machen. Es kann auch an der Komplexität des zu schildernden Sachverhalts liegen und einer aus ihr resultierenden Angst, sich nicht verständlich machen zu können, dass das Vertrauen zur Mitteilung fehlt. Es gibt aber auch objektive Bedingungen dafür, dass Ängste entstehen können, nicht verständlich zu sein: Das ist dann der Fall, wenn Erlebnisse und Erfahrungen zum Thema werden sollen, die in Widerspruch zu ausgeprägten stereotypen Meinungen und Sichtweisen auf soziale Phänomene stehen, die in einer Gruppe dominant sind. Im Gespräch zwischen Ruth A. und Michael Pollak bekam dieser Kontext des Schweigens vor allem dann Bedeutung, wenn die Frage der indirekten Mitwirkung der Jüdischen Gemeinde in Berlin an der Organisation des Holocaust zum Thema wurde.21 Ruth erzählte darüber, wie zu Beginn des Krieges die bis dahin eigenständige Jüdische Gemeinde mit freiwilliger Mitgliedschaft in eine Organisation unter staatlicher Kontrolle umgewandelt wurde, der alle Personen, die als ‚ jüdisch‘ definiert waren, angehören mussten. Das von den Nationalsozialisten ausgesprochene Verbot für Juden, sich im öffentlichen und kulturellen Leben bewegen zu können, führte  – zweifellos als unbeabsichtigte Konsequenz  – zu einer Intensivierung des Lebens in der Gemeinde und zu einer Erweiterung ihrer Aufgaben. Ruth war dabei selbst in diesen Prozess involviert, weil sie in diesen Jahren bis 1942 in der Sozialverwaltung der Jüdischen Gemeinde arbeitete. Pollak weist darauf hin, dass an dieser Stelle des Interviews der Bericht stockend wird. Der psychische Zwiespalt, der dabei zutage trat, könne nur erahnt werden. Worin liegt die Ambivalenz? Die Gemeinde erstellte Transportlisten, kümmerte sich um die Verpflegung während der Transporte. Viele Bedienstete der Gemeinde glaubten bis zum Schluss, sie könnten über Verhandlungen mit den NS-Behörden das Schicksal der Gemeinde beeinflussen und betrachteten die Mitwirkung an den bürokratischen Abwicklungen der Transporte als Maßnahme, um diesen Einfluss zu stärken. Diese indirekte Mitwirkung der Gemeinde an der Bürokratie zur Organisation des Holocaust ist Außenstehenden schwer zu erzählen. Es könnten Missverständnisse auftreten und Zuschreibungen von Mitschuld der jüdischen Gemeinde am Holocaust erfolgen. Ein anderes Beispiel für Schweigen im Interview, das aus einer Angst, missverstanden zu werden, resultiert, sind Berichte über Situationen, in denen Häftlinge, um einen Mithäftling retten zu können, selbst töteten. Solche Situationen entstanden zum Beispiel im Fall von Geburten im Lager. Oftmals wurden von der SS sowohl die Mutter wie auch das Kleinkind getötet. Deshalb war es in diesen Fällen vielfach üblich, die Schwangerschaft zu verheimlichen und das Kind unmittelbar nach der Geburt zu töten, um die Mutter zu retten. Die praktische Vernunft, so Pollak, lässt Menschen oftmals Dinge tun, die gegen moralische Prinzipien verstoßen, über welche sie später nicht sprechen können oder sprechen wollen. In Konstellationen, in denen das Gefühl vorherrscht, sich nicht verständlich machen zu können, erscheint Schweigen als rationales Handeln. Pollak verweist an dieser Stelle auch auf eine 21 Vgl. Pollak, Grenzen, S. 31–36.

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zweite mögliche Lesart:22 Schweigen sei als Weigerung zu verstehen, die eigene KZ-Erfahrung einer Beurteilung durch andere auszusetzen, nicht aus Hochmut, sondern deshalb, weil diese Ausnahmesituation mit gängigen Moralvorstellungen kaum in Einklang zu bringen ist.

Das soziale Schweigen der unteren Schichten Wie wird eine Person zum Zeitzeugen des Überlebens in nationalsozialistischen Konzentrationslagern? An wen richtet sie sich mit ihren Erinnerungen? Welche Beweggründe bringen sie dazu, zu sprechen? Anhand dieser Fragen versucht Pollak zu klären, wie Erzählungen von Überlebenden in ihrer unterschiedlichen Bedeutung rekonstruiert werden können. Zum Zeugen kann nur eine Person werden, die das Lager überlebt hat. Wer überlebt und wer nicht überlebt hat, ist keine Frage des Zufalls. Welche Personen und Personengruppen hatten höhere Chancen und welche geringe Chancen für das Überleben? Nicht zuletzt ergeben sich daraus wiederum bestimmte Perspektiven der Wahrnehmung und bestimmte blinde Flecken im Erleben. Fragen dieser Art stehen in dem zweiten Text des Buches, „Augenzeugen erzählen  – Biografie und Identität“, im Vordergrund. Darin werden Berichte von Überlebenden, die als Zeugenaussagen vor Gericht, in Form von autobiografischen Büchern oder Artikeln und als erzählte Lebensgeschichten im Rahmen eines Oral History-Projekts entstanden sind, untereinander im Hinblick auf ihre spezifischen Konstruktionsprinzipien verglichen. Wenn Augenzeugen über ihre Erfahrungen berichten, welche implizite Perspektive auf die Realität eines Lagers ist mit diesem Bericht verbunden? Pollak rekonstruiert aus den Biografien von weiblichen Überlebenden, die über ihre Erfahrungen in Konzentrationslagern berichten, dass diese zu einem hohen Anteil in einem Alter von 20 bis 40 Jahren und nur für eine relativ kurze Dauer im Lager waren. Es waren die physisch Schwächsten, die ältesten und die jüngsten Frauen sowie die Frauen mit einer längeren Aufenthaltsdauer, die das Konzentrationslager nicht überlebten. Die Bedeutungen unterschiedlicher Berichtsformen lassen sich in einem ersten Schritt erschließen, wenn wir die sozialen Positionen jener bestimmen, die diese Berichte geben. Ähnliches gilt für die Frage nach den Motiven, warum eine Person über ihre Erfahrungen erzählt. Wenn wir die Umstände kennen, die zum Sprechen drängen und anregen, können wir vielfach auch vermuten, was in diesem Zusammenhang mitgeteilt und was verschwiegen wird. Im Vergleich zwischen der autobiografischen Erzählung in einem Interview und einer Autobiografie macht Pollak deutlich,23 dass bei der Verfassung einer Autobiografie andere Fertigkeiten zur Strukturierung des Erlebten erforderlich sind und die Fähigkeit erworben sein muss, sich schriftlich zu artikulieren. Im Allgemeinen weisen die Verfasser von Autobiografien ein höheres Bildungsniveau auf. 22 Vgl. Pollak, Grenzen, S. 83. 23 Vgl. Pollak, Grenzen, S. 106–109.

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Im Unterschied dazu erlaubt das Interview, auch die Erfahrungen von Personen aus unteren sozialen Milieus zu erfassen. Aber, so betont Pollak, auch das gelte nur bedingt. Bei den Interviews kommen die Befragten ebenso aus Gruppen mit einem höheren Bildungsniveau – analog zu den Verfasserinnen von autobiografischen Texten. Auf diese Überrepräsentation der Oberschichten trifft man nicht nur in unserer Untersuchung. Sie gilt ganz allgemein und spiegelt das soziale Schweigen der Unterschichten wider, die sich durch nichts berechtigt oder angeregt fühlen, von ihrem Leben zu erzählen, das jedenfalls nicht durch das Gewicht ihrer Person eine allgemeinere Bedeutung bekommt.24

Das allgemeine Schweigen der Unterschichten, von dem Pollak spricht, wird nicht notwendig dadurch hervorgerufen, dass Angehörige dieser Gruppen tendenziell aus einer Befragung ausgeschlossen sind. Es kann auch in einem Interview, also durch die konkrete Praxis eines Gesprächs, zustande kommen. Wenn zwischen Forschenden und Befragten eine soziale Kluft und ein Gefälle im Hinblick auf Status und Prestige bestehen, fällt es aus anderen sozialen Milieus stammenden Interviewenden in nicht standardisierten Interviews oft schwer, Begriffe, Fragen und Subtexte in jener Sprache, Denkweise und praktischen Vernunft zu formulieren, die dem Milieu und den sozialen Positionen entsprechen, aus dem die Befragten kommen. Das Problem besteht darin, dass die Forschenden die Probleme, mit denen die Befragten befasst sind, nicht anhand eigener Erfahrungen kennen, sondern sie nur reflexiv erschließen können. Ein soziales Problem zu denken und zu erforschen ist etwas anderes, als mit diesem Problem praktisch zu tun zu haben.25 Diese Differenz bringt die Gefahr mit sich, dass zwischen den Beteiligten das Gefühl aufkommt, den jeweils anderen nicht zu verstehen und sich nicht verständlich machen zu können. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass diese Situation ein Schweigen auf der Seite von Befragten hervorrufen kann.

Die soziale Beziehung zwischen Befragten und Interviewenden Mit dieser Bedingung befinden wir uns in unmittelbarer Nähe zum Kern der Matrix. Es ist naheliegend, davon auszugehen, dass die soziale Beziehung zwischen Interviewenden und Befragten einen beträchtlichen Einfluss auf die Interaktion, das im Interview Gesagte und das Ungesagte, ausübt. 24 Pollak, Grenzen, S. 108. 25 Vgl. Pierre Bourdieu: Narzisstische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexivität, in: Eberhard Berg, Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a. M. 1993, S. 365–374; Meinrad Ziegler: Wahrheit, Sprache, Rhetorik. Der schwierige Anspruch auf wahres Wissen in den Sozialwissenschaften, in: Brigitte Aulenbacher, Meinrad Ziegler (Hg.), In Wahrheit … Herstellung, Nutzen und Gebrauch von Wahrheit in Wissenschaft und Alltag. Innsbruck / Wien / Bozen  2010, S. 33–48, hier 47.

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Pollak stellt im ersten Text über „Den Umgang mit dem Unsagbaren“ ausführlich dar, wie sich seine soziale Beziehung zu der Gesprächspartnerin Ruth A. entwickelt hat.26 Der Interviewprozess hat über mehrere Wochen mit wöchentlichen Sitzungen gedauert. Entscheidend dafür, was in einem lebensgeschichtlichen Interview an persönlichen Erfahrungen zur Sprache kommt und wie die Grenzen des Unsagbaren wirksam werden, ist das Zustandekommen eines Vertrauensverhältnisses zwischen den Beteiligten. Beim ersten Treffen zeigt sich in der Regel, ob die Herstellung einer solchen Beziehung gelingt, wobei, wie Pollak treffend anmerkt, „der Interviewte sich seinen Interviewer genauso auswählt, wie es umgekehrt der Fall ist“.27 Wie jede Beziehung ist auch die Forschungsbeziehung zwischen den Beteiligten eines Interviews Schwankungen und Revisionen unterworfen. Ruth diskutierte die Teilnahme an Pollaks Projekt mit engen Freunden und Bekannten und ihre immer wieder neu zu treffende Entscheidung, das Gespräch fortzusetzen, war nicht zuletzt davon abhängig, wie diese das Projekt und seine Konsequenzen beurteilten. Pollak betrachtet diese Hindernisse der Forschungsbeziehung nicht unter dem Gesichtspunkt einer Art von Kontrolle darüber, was gesagt und nicht gesagt werden soll. Er analysiert sie viel mehr als relevante Daten, die Einsichten über die Lebenskontexte der Gesprächspartnerin vermitteln können: Die von ihnen ausgelösten Diskussionen haben […] gezeigt, dass jede individuelle Geschichte und Erinnerung in eine kollektive Geschichte und Erinnerung eingebettet ist. Zugleich haben sie deutlich gemacht, dass die Geschichte eines Lebens davon abhängt, wo, wann und ganz besonders wem sie erzählt wird, und welche Resonanz beim Erzählen spürbar ist.28

Der Text über den Interviewprozess mit Ruth A. zeigt, dass mit der Resonanz des Interviewenden gegenüber den Erzählungen der Gesprächspartnerin mehr gemeint ist als die in offenen Interviews üblicherweise geforderte kommunikative Zuwendung, um einen kontinuierlichen Erzählfluss anzuregen. Viel mehr dürfte es dabei um so etwas wie „soziologische Empathie“29 gehen. Soziologische Empathie beruht auf einer spezifischen Form des Partei-Ergreifens für die im Rahmen eines Forschungsprozesses befragten Personen. Die Interviewenden versetzen sich dabei gedanklich an den Ort, den die Befragten im Sozialraum einnehmen.30 So können sie Nähe in einem soziologischen Sinn herstellen, ohne die gleichzeitig bestehenden Differenzen zu verleugnen. Diese Haltung erweitert das empathische Einfühlen in die Vorstellungs26 27 28 29

Vgl. Pollak, Grenzen, S. 17–21. Pollak, Grenzen, S. 18. Pollak, Grenzen, S. 21. Waltraud Kannonier-Finster, Meinrad Ziegler: Liebe, Fürsorge und Empathie im soziologischen Verstehen, in: Ingrid Bauer, Christa Hämmerle et al. (Hg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Wien / Köln / Weimar 2005 (L’Homme Schriften, 10), S. 50–68. 30 Pierre Bourdieu: Verstehen, in: ders., Alain Accardo et al., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997, S. 779–822, hier 784.

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welt der anderen. Parteilichkeit in diesem besonderen Sinn bedeutet das Sich-Eindenken in das soziale und bestimmende Milieu des Gegenübers – und zwar so, dass den Befragten das Gefühl gegeben wird, mit gutem Recht das zu sein, was sie sind. Diese Haltung beruht auf dem Vermögen, eine Vorstellung für die „innere Notwendigkeit“31 zu entwickeln, also für die Existenzbedingungen und sozialen Mechanismen, die das Handeln, Denken und Fühlen der Befragten hervorgebracht haben. Vergegenwärtigen wir uns nochmals die Bedingungsmatrix des Sagbaren und Unsagbaren im Interview. Aus ihr wird deutlich, dass bestimmte Kontexte sowohl als Bedingung für andere Kontexte wirksam sein können als auch umgekehrt als Konsequenzen von Kontexten erscheinen können, die der Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbarem näher sind. Gelingt es etwa den Interviewenden im Laufe des Interviews, eine Haltung im Sinn der soziologischen Empathie herzustellen, dann besteht die Möglichkeit, Ängste seitens der Befragten, nicht verständlich zu sein, aufzubrechen. Ähnliches gilt auch für den Kontext des Schweigens der unteren Schichten. Forschende gehen oftmals davon aus, dass vor allem das Zustandekommen einer vertrauensvollen Beziehung zu den Befragten verantwortlich dafür sei, welche Erfahrungen und Daten in den Gesprächen thematisiert und welche zurückgehalten werden. Diese Annahme hat ihre Berechtigung. Zugleich besteht jedoch die Gefahr, ihre Grenzen – nämlich die unter Abschnitt 1 bis 3 diskutierten strukturellen Bedingungen – zu missachten.

Schlussbemerkung Anhand der Analyse von Problemen der Erinnerung an KZ-Haft und deren Vergegenwärtigung verdeutlicht Michael Pollak in „Die Grenzen des Sagbaren“ exemplarisch unterschiedliche strukturelle und persönlich-soziale Kontexte, die individuelle Erinnerung und ihre Artikulation in mündlichen und schriftlichen Berichten bestimmen. Damit hat die Studie große Bedeutung für den kritischen und systematischen Umgang mit Quellen. Sie macht auf die soziale Bedingtheit von Quellen und zugleich auf das Moment der subjektiven Konstruktion von Zeugenberichten aufmerksam. Vor mehr als 20 Jahren ist diese Arbeit erschienen. Bislang wurden Pollaks Überlegungen zur Interpretation mündlicher Quellen noch kaum unter einer systematischen und methodologischen Perspektive rezipiert und weiterentwickelt. Mit diesem Beitrag möchten wir einen ersten Anstoß zu solchen Arbeiten leisten. Pollak macht drei soziale Kontexte sichtbar, aus denen soziale Formen des Schweigens resultieren können: die größeren Gemeinschaften, die für das Leben von Befragten bedeutsam sind; lebensgeschichtliche Erfahrungen, die mit dominanten Moralvorstellungen in Konflikt stehen; sowie das Moment der sozialen Herkunft. Die Qualität der Forschungsbeziehung zwischen Befragten und Interviewenden stellt eine vierte und weitere Bedingung dar, die mit einer 31 Franz Schultheis: Deutsche Zustände im Spiegel französischer Verhältnisse. Nachwort zur deutschsprachigen Ausgabe, in: Bourdieu, Elend, S. 827–838, hier 831.

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Grenze des Sagbaren verbunden sein kann. Umgekehrt kann diese soziale Beziehung, wenn sie im Sinn einer soziologischen Empathie konstruiert ist, auch dazu genutzt werden, um Momente der sozialen Bedingtheit im kommunikativen Prozess des Interviews zur Sprache zu bringen. Im Rahmen der Datenanalyse kann sie dazu beitragen, das Unsagbare als Konsequenz des sozialen Ortes der Befragten zu rekonstruieren. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich das Unsagbare nicht als etwas vom Mitteilbaren hermetisch Getrenntes.  Die Grenzen zwischen Sagbarem und Unsagbarem sind über soziologisch informierte Kommunikation wie Interpretation überschreitbar. Das ist die Anregung, die von Michael Pollak und seiner Studie ausgeht.

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Zur Bedeutung von ZeitzeugInnen für die Aufarbeitung und Vermittlung von Widerstand und Verfolgung: Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands Elie Wiesel: „Wie viele Geschichten sind nie erzählt worden, weil es keine Überlebenden gab!“ Jorge Semprun: „Wie viele Geschichten werden auch heute noch nicht erzählt, weil die Überlebenden darüber nicht sprechen wollen. Weil wir, die wir darüber sprechen, eine Minderheit sind.“1

Gerhard Botz und das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) verbinden jahrzehntelange Freundschaft und Zusammenarbeit. Einer der beiden AutorInnen dieses Beitrags, der langjährige Leiter des DÖW, Wolfgang Neugebauer, entstammt derselben Generation, wurde wie Gerhard Botz noch während des Krieges geboren und widmete sein berufliches Leben denselben Fragestellungen und Forschungsgegenständen: von der Geschichte der Arbeiterbewegung, dem Austrofaschismus bis hin zu Widerstand, Verfolgung und (Mit-)Täterschaft im Nationalsozialismus. Beide repräsentieren somit eine – seltene – Variante des Verhaltens der (NS-)Kindergeneration, während die zweite Co-Autorin dieses Artikels, Christine Schindler, der nächsten, der Enkelgeneration angehört. Sie lernte Gerhard Botz zuerst im Rahmen der Tagungen der „Internationalen Tagung der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen“ (ITH) kennen, deren Geschäftsführerin sie jahrelang war. Botz ist bis heute Mitglied des internationalen wissenschaftlichen Beirats der ITH.2 Die gemeinsamen Themen führten Botz und Neugebauer und das DÖW immer wieder zusammen, so unter anderem im Zuge ihrer langjährigen Bemühungen um die Reformierung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.3 Gerade die Wertschätzung und das Wissen um die Bedeutung der ZeitzeugInnen für die Erforschung der Zeit des Nationalsozialismus verbinden Gerhard Botz und das DÖW. So möchten wir im Folgenden diesen Aspekt der Vergangen1 Jorge Semprun / Elie Wiesel: Schweigen ist unmöglich. Ungekürzte Transkription der am 1. März 1995 von ARTE ausgestrahlten Sendung „Entretien entre Elie Wiesel et Jorge Semprun“, Frankfurt a. M. 1997, S. 41. 2 Zur ITH siehe URL: http://www.ith.or.at (22.06.2011). 3 Jahrelang wirkten Wolfgang Neugebauer und Gerhard Botz im Wissenschaftlichen Beirat und späteren Internationalen Forum Mauthausen (IFM). Derzeit ist Gerhard Botz Vizepräsident des IFM, Christine Schindler Schriftführerin des Gremiums.

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heitsaufarbeitung herausgreifen, um nachstehend den Rahmen einschlägiger Institutionen und WeggefährtInnen ab den 1960er-Jahren zu skizzieren, in dem Botz bis heute tätig ist und den er entscheidend mitprägte.

Die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen im DÖW Das in den frühen 1960er-Jahren als Verein entstandene DÖW war keine Schöpfung von Politikern oder Behörden der Republik Österreich, mit der die offizielle Auffassung von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus („Opferthese“) unter Beweis gestellt werden sollte.4 Im Gegenteil, das DÖW entsprang ausschließlich der Initiative von nationalsozialistischer Verfolgung Betroffener: Es waren ehemalige Widerstands­kämpferInnen, KZ-Überlebende, aus dem Exil Zurückgekehrte, die sich Anfang der 1960er-Jahre unter der Leitung von Herbert Steiner, der die NS-Zeit im englischen Exil überlebt hatte, zu gemeinsamer Arbeit zusammenfanden. Diese hinsichtlich ihrer Verfolgungserfahrungen sehr unterschiedlichen Gruppen einte das Anliegen, ihre prägenden Erfahrungen in Widerstand und Verfolgung zu dokumentieren und an die heranwachsenden Generationen weiterzugeben. Mit einem hohen Maß an Idealismus wurde versucht, die fehlenden Mittel wettzumachen. Am Anfang gab es weder hauptberuflich Mitarbeitende noch einen Kopierer oder andere technische Geräte. Der Kreis der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen (überwiegend Frauen) und Vorstandsmitglieder bestand ursprünglich fast ausschließlich aus ehemaligen Verfolgten, WiderstandskämpferInnen, die sich – meist bereits pensioniert – ehrenamtlich zur Verfügung stellten. Erst später gab es Förderungen seitens der öffentlichen Hand: 1983 wurde die von der Republik Österreich und der Stadt Wien getragene Stiftung DÖW errichtet. Jüngere, hauptberuflich Mitarbeitende konnten herangezogen werden und übernahmen nach und nach die Aufgaben der ersten Generation. Da diese Umstrukturierung durch eine allmähliche Integration und permanente Lernprozesse aufseiten der Jüngeren vor sich ging, wurden Brüche und Generationskonflikte weitgehend vermieden. Bis heute sind Charakter und Tätigkeit des DÖW in hohem Maße von der Gründergeneration geprägt. Das DÖW ist kein totes Archiv, wo nur Akten, Bücher und dergleichen verwaltet werden. Vielmehr ist es eine lebendige Dokumentations- und Forschungseinrichtung, wo die Vergangenheit auch durch die von den Mitarbeitenden eingebrachten Erfahrungen vermittelt wird. Lange bevor oral history als geschichtswissenschaftliche Methode anerkannt wurde, fand die Weitergabe mündlich überlieferter Geschichte in der täglichen Praxis des DÖW statt: durch unzählige Gespräche am Arbeitsplatz, in Kaffeepausen, bei Arbeitsbesprechungen, bei 4 Siehe dazu: Wolfgang Neugebauer: Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. DÖW, Widerstandsforschung und Antifaschismus, in: Gerhard Botz / Gerald Sprengnagel (Hg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt a. M. / New York 1994, S. 557 ff.

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Veranstaltungen und Vorstandssitzungen. Bei Anfragen von BenützerInnen floss automatisch das persönliche Wissen der Mitarbeitenden ein. Der seinerzeitige DÖW-Benützer Helmut Konrad, später Ordinarius für Zeitgeschichte und Rektor der Universität Graz, hat in seinem Vortrag bei der Jahresversammlung des DÖW 1997 die Bedeutung der persönlichen Betreuung von Studierenden durch ehemalige WiderstandskämpferInnen gewürdigt: Hier gab es für uns, die Benutzer, optimale Arbeitsbedingungen. Besonders wichtig war aber, dass wir auf das ‚andere Österreich‘ treffen konnten, auf jene Menschen, die alle ihre Erfahrungen mit dem Faschismus gemacht hatten und dabei auf der Seite der Opfer gestanden waren. Durch sie wurde für uns eine Perspektive auf die österreichische Geschichte dieses Jahrhunderts möglich, die uns weder Elternhaus noch Schule geboten hatten. Unsere Austragung des Generationskonflikts fand plötzlich Verbündete aus jener Generation, gegen deren Werte und Normen wir im Regelfall anliefen. Diese Erkenntnis machte uns in einer zusätzlichen Dimension ‚politisch‘. 5

Vor allem beim Aufbau der verschiedenen Sammlungen sowie bei wissenschaftlichen Projekten kamen die reichen Erfahrungen der ZeitzeugInnen in sinnvoller Weise zum Tragen. Hier kann nur an einige herausragende Personen erinnert werden: Herbert Steiner, der Gründer und Leiter des DÖW bis 1983, konnte sein großes Wissen und seine vielfältigen Kontakte aus dem englischen Exil für die sich im DÖW etablierende Exilforschung nutzbar machen. Unter anderem erwarb er sich als Bewahrer und Verbreiter des Werkes von Jura Soyfer große Verdienste.6 Später stellte er als Universitätsdozent am Institut für Geschichte durch seine viel besuchten Lehrveranstaltungen, zu denen er oft ZeitzeugInnen als Vortragende einlud, eine lebendige Verbindung zwischen diesen und Studierenden her, welche er dadurch zu einschlägigen Diplomarbeiten und Dissertationen anregte. Selma Steinmetz, die erste Leiterin der DÖW-Bibliothek, brachte wiederum ihre Erfahrungen aus dem französischen Exil bzw. der Résistance in den Geschichtshorizont österreichischer Studierender ein; von ihr stammt die erste Monografie über die Verfolgung der österreichischen Roma und Sinti.7 Hans Landauer, der jüngste noch lebende österreichische Veteran des Spanischen Bürgerkriegs, baute eine auch international viel beachtete Spanien-Sammlung auf.8 Toni Bruha, ehemaliger Häftling des KZ Ravensbrück, betreute sowohl die Ravensbrück-Sammlung im DÖW als auch 5 Helmut Konrad: Festvortrag anlässlich der Jahresversammlung des DÖW im Alten Rathaus, Wien, 11. März 1997, in: Jahrbuch 1998 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, S. 5 f. 6 Materialien und Bücher von und über Jura Soyfer werden bis heute vom DÖW aufbewahrt; dort hat auch die JuraSoyfer-Gesellschaft ihren Sitz. 7 Selma Steinmetz: Österreichs Zigeuner im NS-Staat, Wien / Frankfurt a. M./ Zürich 1966 (Monographien zur Zeitgeschichte. Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes). 8 Die Spanien-Dokumentation umfasst Kopien amtlicher Dokumente, Fotos, Briefe, Zeitungsartikel, autobiografische Texte zu mehr als eintausend ÖsterreicherInnen im Spanischen Bürgerkrieg und Hinweise zu weiteren 400 Personen. Die Sammlung wird durch die Spezialbibliothek „Spanischer Bürgerkrieg“ ergänzt.

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die in der Obhut des DÖW befindliche Gedenkstätte im ehemaligen Haus der Gestapo am Morzinplatz, die 2011 neu eröffnet wurde. Neben den Mitarbeitenden sind selbstverständlich auch die aus Widerstand und Verfolgung kommenden Vorstandsmitglieder zu nennen, die ihre Erfahrungen in die Arbeit einbrachten. Jonny Moser etwa, als Jugendlicher nur knapp dem Holocaust entronnen, wurde zum Pionier der Holocaust-Forschung in Österreich. Als Mitarbeiter von Raoul Wallenberg in Budapest 1944/45 war er bis zu seinem Tod im Juli 2011 ein viel gefragter Zeitzeuge für Publikationen und Filme.9 Franz Loidl, in der NS-Zeit Gefangenenseelsorger und später Universitätsprofessor für Kirchengeschichte, hat unzählige Detailarbeiten über katholische WiderstandskämpferInnen und Opfer veröffentlicht. Schließlich ist auch darauf zu verweisen, dass Ludwig Jedlicka, der Gründer des Instituts für Zeitgeschichte Wien und Mitgründer des DÖW, mit seiner 1965 erschienenen Arbeit über den 20. Juli 1944 in Österreich eine Pionierarbeit zur Widerstandsgeschichte verfasst hat.10 Die Vielfalt der Erfahrungen dieser Gründergeneration führte dazu, dass keine inhaltliche Beschränkung auf den Widerstand und die Verfolgung der politischen GegnerInnen des Nationalsozialismus stattfand sowie auch keine politische Verengung oder Einseitigkeit zum Tragen kamen, sondern versucht wurde, alle Formen der NS-Verfolgung zu dokumentieren. Im Gegensatz zu den von rechtsextremer Seite und von der Freiheitlichen Partei (FPÖ) immer wieder gegen das DÖW vorgebrachten Verdächtigungen „kommunistisch“ oder „linksextrem“ zu sein, herrschte stets ein Geist der Offenheit und des Pluralismus, der sich nicht nur in der überparteilichen Zusammensetzung des Vorstands, sondern auch in der inhaltlichen Arbeit des DÖW niederschlug.11 Noch bis 2011 wirkte mit Ludwig Steiner ein Veteran des österreichischen Widerstandes und eine allseits hoch geachtete politische Persönlichkeit als Vizepräsident des DÖW.12 Gerhard Botz ist mit seinem Wissen und seinen Erfahrungen ein unersetzliches Mitglied des DÖW-Kuratoriums. Das DÖW bemühte sich nicht nur um die Aufarbeitung des aktiven Widerstandes und des Holocaust; auch die „vergessenen Opfer“, also jene NS-Opfer, die lange wenig Beachtung fanden oder auch noch nach 1945 diskriminiert wurden, wie zum Beispiel Roma und Sinti,   9 Siehe dazu Jonny Moser: Wallenbergs Laufbursche. Jugenderinnerungen 1938–1945, Wien 2006. 10 Ludwig Jedlicka: Der 20. Juli 1944 in Österreich, Wien 1965. Kritisch zu den politischen Wandlungen von Professor Jedlicka, dem Doktorvater von Botz und Neugebauer, siehe Oliver Rathkolb: Ludwig Jedlicka. Vier Leben und ein typischer Österreicher. Biographische Skizze zu einem der Mitbegründer der Zeitgeschichtsforschung, in: Zeitgeschichte 32.6 (2005), S. 351–370. 11 An der Arbeit des DÖW regen Anteil nehmende Vorstandsmitglieder wie Fritz Bock, Hans Leinkauf, Josef Windisch, Hubert Jurasek von der ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten sowie Josef Pinzenöhler, Pater Josef Zeininger und Franz Loidl von der katholischen Kirche, Rosa Jochmann, Josefine Muhr und Bruno Marek von der SPÖ, Ludwig Soswinski und Hans Maršálek vom KZ-Verband, aber auch die Holocaust-Überlebenden Anton Pick, Ivan Hacker und Paul Grosz als Repräsentanten der Israelitischen Kultusgemeinde sorgten für die Ausgewogenheit des DÖW. 12 Ludwig Steiner kandidierte bei der Generalversammlung des DÖW im März 2011 aus Altersgründen nicht mehr für den Vorstand, er und Alfred Ströer vom Bund sozialdemokratischer Freiheitskämpfer wurden zu Ehrenmitgliedern ernannt. Alfred Ströer starb im August 2011.

Bedeutung von ZeitzeugInnen für die Aufarbeitung und Vermittlung von Widerstand und Verfolgung

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Zeugen Jehovas, Behinderte, ‚asoziale‘ Kinder und Jugendliche, fanden Berücksichtigung. Auch mit diesen Gruppen konnten wertvolle persönliche Kontakte geknüpft und gemeinsame Aktivitäten gesetzt werden. Hervorzuheben sind beispielsweise die 1998 am Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) durchgeführte internationale Tagung über die Verfolgung der Zeugen Jehovas,13 die Ausstellung von Bildern des Roma-Künstlers und Auschwitz-Häftlings Karl Stojka oder Gedenkveranstaltungen für Euthanasieopfer und -überlebende, bei denen Alois Kaufmann, Friedrich Zawrel und andere „Spiegelgrund-Kinder“ eindrucksvoll in Erscheinung traten.14 Aus heutiger Sicht sind einige Aspekte der frühen DÖW-Arbeit durchaus kritisch zu beurteilen. Nicht nur das offizielle Österreich vertrat die „Opferthese“ (und damit die Ausblendung der österreichischen Mitverantwortung für NS-Regime und -Verbrechen); auch das Interesse der ehemaligen Verfolgten konzentrierte sich naturgemäß auf die Dokumentation des Widerstands und der Verfolgungsmaßnahmen. Das Aufzeigen des Beitrags der WiderstandskämpferInnen zur Befreiung und zur Wiedererrichtung der Republik Österreich war für diese Generation ein wichtigeres Anliegen als die Täterforschung. Als das DÖW 1977/78 gemeinsam mit ehemaligen Häftlingen die österreichische Gedenkstätte in Auschwitz gestaltete, wurde nahezu ausschließlich das Schicksal der Häftlinge, unter besonderer Betonung des Widerstands, dokumentiert. Die österreichischen Auschwitz-Täter waren kein Thema. Selbstkritisch ist aus heutiger Sicht festzustellen, dass durch diese Ausklammerung eine Verzerrung der Realität im Sinne einer Schönfärbung des Verhaltens der ÖsterreicherInnen erfolgte. Dass diese Gedenkstätte – Modelle und Pläne wurden zuvor im Museum für angewandte Kunst in Wien präsentiert – damals uneingeschränkten Beifall fand und Kritik erst viel später einsetzte, charakterisiert das österreichische Selbstverständnis in der Zeit bis vor der Waldheim-Diskussion.15 Im Übrigen meinen wir, dass diese Defizite und Versäumnisse bei der NS-Aufarbeitung nicht dem DÖW mit seinen bescheidenen materiellen Möglichkeiten anzulasten sind, sondern der gesamten zeitgeschichtlichen Forschung bzw. den dafür politisch Verantwortlichen. Diese Herangehensweise ist aber auch aus dem verständlichen Anliegen der Beteiligten erklärbar, zuerst die Opfer in den Blickpunkt zu nehmen und damit der Intention der Täter entgegenzuwirken, das Andenken an die Opfer auf ewig auszulöschen. 13 Siehe dazu: Zeugen Jehovas.  Vergessene Opfer des Nationalsozialismus? Referate und Berichte der vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) und dem Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) am 29. Jänner 1998 veranstalteten wissenschaftlichen Tagung, Wien 1998 (Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zur Geschichte der NS-Gewaltverbrechen, 3). 14 Siehe hierzu auch URL: http://www.gedenkstaettesteinhof.at (22.06.2011). 15 Derzeit wird die Österreich-Ausstellung in Auschwitz unter der Koordination des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus neu konzipiert. Öffentliche Mittel wurden bereitgestellt und eine breite Einbindung von ExpertInnen (auch aus dem DÖW), Opfer- und Interessengruppen gewährleistet eine differenzierte und aktualisierte Sichtweise. Siehe hierzu Brigitte Bailer / Bertrand Perz / Heidemarie Uhl: Neugestaltung der Österreichischen Gedenkstätte im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Projektendbericht, Wien 2008.

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Ein weiteres, hier nicht weiter ausführbares Problemfeld, vor das insbesondere die KZForschung gestellt ist, stellt die wissenschaftliche Erforschung der „Häftlingsgesellschaft“ dar. Diese konfligierte in ihren Darstellungen der von nationalsozialistischer Ideologie und der Lager-SS geschaffenen Strukturierung und Hierarchisierung der Zwangsgemeinschaft der KZ-Häftlinge mit dem von den politischen Häftlingen tradierten Bild von solidarischem und widerständigem Handeln der Häftlinge in den Lagern. Die Bereitschaft der viele Jahre im DÖW dominierenden Gruppe der ehemaligen politischen Häftlinge, sich mit diesem Problemfeld offen auseinanderzusetzen, war verständlicherweise gering, wenngleich das Thema auch in Erinnerungsberichten ehemaliger Häftlinge immer wieder diskutiert und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wurde.16 In den letzten eineinhalb Jahrzehnten sind die Gruppen der „vergessenen Opfer“ des NS-Regimes in zunehmendem Maße akzeptiert und in die Überlebendengemeinschaften und deren Aktivitäten integriert worden. So wurden etwa in einer unter Mitwirkung der Lagergemeinschaft Ravensbrück gestalteten Ausstellung über Österreicherinnen im KZ Ravensbrück 1998/99 auch solche Mädchen und Frauen berücksichtigt, die als ‚Asoziale‘ (im Sinne des NS-Regimes) inhaftiert gewesen waren.17 Auch die insbesondere für das KZ Buchenwald herausgearbeiteten politischen Konflikte18 zwischen Häftlingsgruppen stehen mit dem vielzitierten „Geist der Lagerstraße“ in Widerspruch. Befürchtungen und Misstrauen von ehemaligen Häftlingen gegenüber jüngeren, kritischen HistorikerInnen sind psychologisch verständlich, erschweren aber eine offene Diskussion und Aufarbeitung. Solche Verständigungsschwierigkeiten, die eher die KZ-Gedenkstätten betreffen, wo Überlebende und jüngere HistorikerInnen mitwirken, herrschten im DÖW nur am Rande vor, etwa im Zuge der Kontroverse zwischen dem Buchenwald-Überlebenden Emil Carlebach und dem kritischen Historiker Hans Schafranek, in der sich auch Gerhard Botz und Wolfgang Neugebauer zugunsten Schafraneks engagierten.19

Das DÖW-Projekt „Erzählte Geschichte“ Schon lange bevor sich oral history in der zeitgeschichtlichen Forschung etablierte, haben ZeitgeschichtlerInnen Interviews mit ZeitzeugInnen durchgeführt. Wolfgang Neugebauers erste Arbeit für das DÖW 1968/69 war ein Interviewprojekt, das sich auf ehemalige Angehörige des Strafbataillons 999 bezog. In der Anfangsphase des DÖW hat vor allem Tilly MarekSpiegel, ehemalige Aktivistin in der Résistance, Interviews mit WiderstandskämpferInnen 16 Siehe dazu u.a.: Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Frankfurt a. M. 1946. 17 Siehe URL: http://ravensbrueck.action.at (22. 6. 2011). 18 Siehe dazu u.a.: Lutz Niethammer (Hg.): Der „gesäuberte“ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald, Berlin 1994. 19 Siehe dazu: Richard Mitten: Im Gericht die Geschichte. Der Fall Hans Schafranek, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft  3.1 (1992), S. 76–84.

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durchgeführt. Diese Interviews, damals vielfach nur schriftlich dokumentiert, waren meist auf das Themenfeld „Widerstand“ beschränkt und zielten in der Regel nicht auf die Erfassung der gesamten Lebensgeschichte ab. Die in den 1970er-Jahren von den Sozialwissenschaften und der Volkskunde in die Zeitgeschichte im Zuge von alltagsgeschichtlichen Forschungsansätzen übernommenen Interviewtechniken entwickelten sich schließlich als oral history zu einer heute allgemein anerkannten und sehr intensiv praktizierten Methode. Die widerspruchsvolle Entwicklung der oral history und ihren derzeitigen Stellenwert in der Geschichtswissenschaft hat unter anderem Ulrike Jureit anhand einer Untersuchung von Interviews mit KZ-Überlebenden grundlegend behandelt.20 Jenseits komplexer methodologischer Probleme gingen mit der Verwendung von oral history beträchtliche Fortschritte einher, sowohl für qualitative als auch für quantitative geschichtswissenschaftliche Fragestellungen: –– die Orientierung auf die lebensgeschichtliche Perspektive, –– das Bemühen, auch den „kleinen Leuten“, den „namenlosen Opfern“, sowie vor allem auch den Frauen eine Stimme zu geben und den „Alltag“ stärker zu berücksichtigen, –– die Dokumentation einer großen Zahl von Interviews in Form von Audioaufnahmen, Videos und Transkriptionen. Einer der ersten Wissenschafter, der sich dieser Methode verschrieb, war Gerhard Botz. Ab 1983 war er zehn Jahre lang der österreichische Vertreter im International Oral History Conference Standing Committee in Oxford, veröffentlichte auch danach zahlreiche Arbeiten zu diesem Thema und führt bis heute Interview-Projekte durch. Seit 2004 ist er Beirats-Mitglied des Oral History and Life Stories Network der European Social Science History Conferences in Amsterdam. Das DÖW begann 1982 – zu Beginn in Kooperation mit dem IWK – mit einem größeren oral history-Projekt unter dem Titel „Erzählte Geschichte“. Da das DÖW zu diesem Zeitpunkt bereits umfangreiche Publikationen veröffentlicht hatte, die auf amtlichen Quellen wie Gerichtsurteilen und Gestapo-Berichten, also von NS-Verfolgungsinstanzen, beruhen, war es das Ziel dieses Projektes, Widerstand und Verfolgung aus der Perspektive der Betroffenen darzustellen. Die amtlichen Quellen sagen wenig oder nichts über den alltäglichen Lebenszusammenhang, die menschlichen Probleme, die Gefühle und das Leid, die Handlungsmotivationen, nichts über das spätere Schicksal der Verfolgten und die Verarbeitung der leidvollen Vergangenheit aus. Diese Dimension sollte durch Interviews mit ZeitzeugInnen erschlossen werden – nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung zu den schriftlichen Quellen. Da prominentere Personen vielfach schon Memoiren oder Erinnerungsberichte vorgelegt hatten, wurde vor allem ein Personenkreis einbezogen, der nach 1945 keine Möglichkeit zur Weitergabe seiner persönlichen Geschichte hatte oder sah. „Das Interview“, heißt es in dem Vorwort zu 20 Ulrike Jureit: Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager, Hamburg 1999.

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Band 1 der Reihe „Erzählte Geschichte“, „macht die Erinnerung von Menschen für die Widerstandsforschung zugänglich, die sonst vielfach geschwiegen hätten“. Eine Einschränkung ergab sich freilich schon daraus, dass zu diesem Zeitpunkt, ab 1982, nur mehr die jüngeren Generationen der Verfolgten und Überlebenden für Interviews zur Verfügung standen. Noch mehr gilt das natürlich für die späteren Interviewprojekte. Dabei wurde im Rahmen der Interviews nicht gezielt nach einem bestimmten Lebensabschnitt gefragt, sondern grundsätzlich die Lebensgeschichte in ihrer Gesamtheit erfasst: Elternhaus und Kindheit, Arbeitswelt, politische und religiöse Sozialisation und Tätigkeit, wobei der Zeitraum 1934–1938 bzw. 1938–1945 und die Themen Widerstand und Verfolgung den Schwerpunkt bildeten. Im Sinne der Narrativinterviewmethode wurden die Interviewten nicht mit einem vorgefertigten standardisierten Fragenkatalog konfrontiert, sondern ihnen breiter Raum zum Erzählen gegeben. Auf diese Weise nähern sich die Tonbandaufzeichnungen hinsichtlich ihres Umfangs (bis zu 400 Transkriptionsseiten) regelrecht autobiografischen Buchpublikationen an,21 wobei aber die mündliche Schilderung oft lebhafter und anschaulicher ist als geschriebene Texte. Lebensgeschichtliche Erzählungen vermitteln ihren RezipientInnen ein hohes Maß an historischer Authentizität: Trotz aller Verzerrungen, trotz der Erinnerungslücken und des dem biographischen Erzählen innewohnenden Hanges zur Verschönerung der Selbstdarstellung vermag eine einzige Lebensgeschichte über ihre eindringliche Sprache oft mehr zu vermitteln und über Vergangenheit Nuancierteres, also Genaueres und Vielfältigeres, auszusagen als zum Beispiel ausführliche statistische Reihen […].22

Unbewusste Verzerrungen haben bei Opfern andere Gründe als bei den nach Entlastung strebenden Tätern, wie Primo Levi diagnostizierte: Auch im weitaus größeren Lager der Opfer beobachtet man ein Abdriften der Erinnerung, aber hier fehlt ganz offenkundig der Vorsatz. Wem eine Ungerechtigkeit oder Kränkung zugefügt wird, der braucht keine Lügen zu erfinden, um sich von einer Schuld zu befreien, die er nicht auf sich geladen hat. […] Aber das schließt nicht aus, dass auch seine Erinnerungen verformt sein können.23

21 Aus einem DÖW-Interview ging z.B. die Autobiografie von Josef Meisel hervor: ders.: „Jetzt haben wir Ihnen, Meisel!“ Kampf, Widerstand und Verfolgung des österreichischen Antifaschisten Josef Meisel (1911–1945), Wien 1985. 22 Michael Pollak: Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden als Augenzeugenberichte und Identitätsarbeit, Frankfurt a. M. / New York 1988, S. 8. Siehe dazu auch: Gerhard Botz: Überleben im Holocaust, in: Margareta Glas-Larsson: Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz, hg. und kommentiert von Gerhard Botz, Wien 1981, S. 61 ff. 23 Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, München / Wien 1990, S. 29.

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Levi meint, dass Menschen mit traumatischen Erfahrungen dazu neigen, „ihre Erinnerung unbewusst zu filtern“.24 Das DÖW bringt dieser Problematik großes Interesse entgegen. Während den – aus welchen Gründen auch immer – getrübten, ungenauen oder unzutreffenden Erinnerungen ehemals Verfolgter mit großer Sensibilität begegnet wird, zeigt das DÖW manipulierte Berichte ehemaliger Nationalsozialisten klar auf. So wurde zum Beispiel die NS-Vergangenheit von Albert Massiczek, der nach dem Krieg seine Tätigkeit bei NSDAP, SS und Sicherheitsdienst der SS in Widerstandsakte umdeutete und damit in der Öffentlichkeit reüssieren konnte, von DÖW-Mitarbeitenden kritisch dokumentiert.25 Ebenso wie bei gerichtlichen Klagen von Rechtsextremisten und FPÖ-Funktionären ließ sich das DÖW auch im Falle des vormaligen Vizebürgermeisters und SPÖ-Obmannes von Innsbruck, Ferdinand Obenfeldner, der seine Gestapo-Tätigkeit und NSDAP- und SS-Zugehörigkeit in eine Widerstandstätigkeit uminterpretiert hatte, nicht von Klagedrohungen einschüchtern.26 Möglichkeiten und Grenzen der oral history müssen den BenützerInnen von Interviews oder Interviewtexten bewusst sein. Lutz Niethammer, Wegbereiter der oral history im deutschsprachigen Raum, schreibt dazu: „Meistens geht es bei Erinnerungsinterviews aber nicht nur um Zeugenaussagen für Sachverhalte, sondern auch und vor allem um die Subjektivität der Beteiligten.“27 Aufgabe der oral history kann es nicht sein, historische Abläufe in ihrer Faktizität zu erfassen oder verallgemeinerbare Aussagen über Lebensumstände und Situation ganzer Gruppen zu machen; vielmehr geht es darum, das persönliche Erleben von Betroffenen in einen historischen Bezugsrahmen zu stellen. Das Interview bedarf wie jede historische Quelle einer quellenkritischen Untersuchung. Bei der Bearbeitung der oben genannten DÖW-Publikationen musste also darauf geachtet werden, dass die in den Befragungen geschilderten historischen Sachverhalte vor dem jeweiligen historischen Kontext standhielten und der Faktengeschichte nicht widersprachen. Bei Aussagen, die sich der Überprüfbarkeit entziehen, war daher besonders auf die Plausibilität des Erzählten zu achten. Das Gesamtprojekt „Erzählte Geschichte“ des DÖW umfasst folgende Elemente: –– Interviews auf Tonbandkassetten, –– Transkripte, die den Interviewten zur Autorisierung vorgelegt wurden, 24 Ebda. 25 Wolfgang Neugebauer / Christine Schindler et al.: Was ist ein „Nazi“? Am Beispiel von Albert Massiczek. Eine Replik von Wolfgang Neugebauer, Christine Schindler und Peter Schwarz auf Albrecht K. Konečny’s Beitrag in der Zukunft, in: Die Zukunft (April 2007), URL: http://www.diezukunft.at (August 2007). 26 Zu Massiczeks und Obenfeldners NS-Vergangenheit und deren Uminterpretation nach 1945 siehe Wolfgang Neugebauer / Peter Schwarz: Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten, Wien 2005. 27 Lutz Niethammer / Alexander von Plato (Hg.): „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Berlin / Bonn 1985, S. 400.

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–– Archivierung und EDV-Erfassung von Kassetten und Transkripten im DÖW, zuletzt Digitalisierung der Aufnahmen, –– damit verbunden die Zugänglichmachung des Materials für BenützerInnen (gemäß den Vorgaben und Einschränkungen durch die Interviewten), –– Auswertung des Materials in Form von eigenen Publikationen, –– Präsentation von Ergebnissen des Projekts auf der Homepage des DÖW (Auszüge von Interviews).28 Insgesamt wurden bis Ende 1999 mehr als tausend Personen befragt; von den Interviews liegen über 2800 Kassetten vor, von denen die meisten transkribiert sind. Kassetten und Transkripte sind durch eine EDV-gestützte Personen- und Schlagwortkartei erschlossen. Im Rahmen der vom DÖW herausgegebenen Reihe „Erzählte Geschichte“ sind vier Bände erschienen,29 die Juden und Jüdinnen, Kärntner SlowenInnen, der Arbeiterbewegung und dem christlich-konservativen Lager gewidmet sind. Die Publikationen enthalten kürzere und längere Auszüge aus Interviews zahlreicher Personen der jeweiligen Gruppe, die chronologisch-thematisch, entsprechend den Phasen des Widerstands bzw. der Verfolgung, gegliedert sind und damit Zeitgeschichte aus der Sicht der Betroffenen vermitteln. Darüber hinaus sind diese Interviews im DÖW von unzähligen BenützerInnen  – wie unter anderem von Studierenden und Forschenden verschiedener Fachrichtungen, JournalistInnen – verwendet und zu Diplomarbeiten, Dissertationen und anderen wissenschaftlichen Arbeiten herangezogen worden.

Zeitzeugen und Zeitzeuginnen an Schulen und Universitäten Schon lange bevor es eine Zeitzeugen-Aktion für Schulen gab, bemühten sich ehemalige WiderstandskämpferInnen und Verfolgte, Aufklärungsarbeit über den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen zu leisten. Über viele Jahre nach 1945 hinweg, in der schwierigen Nachkriegszeit und den Jahren des Wiederaufbaus bis in die 1960er-Jahre, als eine Mentalität des Pragmatismus, des Verdrängens und Vergessens vorherrschend war, sich die Regierungsparteien um die ehemaligen Nazis bemühten und die „Kriegsgeneration“ im politisch-gesellschaftlichen Leben Österreichs dominant wurde, war das Interesse für Zeitgeschichte und vor allem 28 Siehe Homepage des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands, URL: http://www.doew.at (22. 6. 2011). 29 Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten: Arbeiterbewegung (Erzählte Geschichte, 1), Wien 1985; Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten, Bd. 2: Katholiken, Konservative, Legitimisten, Wien 1992 (Erzählte Geschichte, 2); Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, Wien 21993 (Erzählte Geschichte, 3); Spurensuche. Erzählte Geschichte der Kärntner Slowenen, Wien 1990 (Erzählte Geschichte, 4). Das Institut für Wissenschaft und Kunst (Band 1) bzw. Klub Prezihov Voranc/Institut za proucevanje prostora Alpe-Jadran (Band 4) fungierten als Mitherausgeber.

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für die NS-Zeit in Österreich sehr gering. Der „innere Friede“ sollte nicht durch Aufwühlen einer konfliktgeladenen Vergangenheit gestört werden. Selbst in der Kommunistischen Partei, die einen hohen Anteil ehemaliger WiderstandskämpferInnen und KZ-Überlebender aufwies, wollten damals nur wenige von KZ oder Judenverfolgung hören, wie unter anderen auch Hermann Langbein, ein Pionier der Auschwitzforschung, schmerzlich feststellen musste.30 In der SPÖ machten ExponentInnen des Antifaschismus wie Rosa Jochmann oder Josef Hindels ähnliche Erfahrungen. Bis Mitte der 1960er-Jahre gab es weder an den Universitäten zeitgeschichtliche Institute, noch wurde an den Schulen Politische Bildung betrieben. Nicht zuletzt die vom Nationalsozialismus geprägte Lehrergeneration hatte kein Interesse dafür. Der zunehmende zeitliche und emotionale Abstand zu 1945, der vor sich gehende Generationenwechsel, die Aufbruchsstimmung nach 1968, der Beginn der „Ära Kreisky“ führten auch im Bereich „Vergangenheitsbewältigung“ zu grundlegenden Änderungen. Nach der Gründung der ersten universitären Zeitgeschichteinstitute ab Mitte der 1960er-Jahre und der Entstehung des DÖW kam es unter Bundeskanzler Kreisky, vor allem durch Fred Sinowatz als Unterrichtsminister und Hertha Firnberg als Wissenschaftsministerin, zum Durchbruch für Zeitgeschichte und Politische Bildung: An allen österreichischen Universitäten, auch an den neu gegründeten in Linz, Salzburg und Klagenfurt, wurden Zeitgeschichteinstitute bzw. -abteilungen gegründet, einschlägige Lehrveranstaltungen abgehalten und Forschungsprojekte durchgeführt. Dieser Innovationsschub kam unter anderen auch Gerhard Botz zugute, der 1968 Universitätsassistent am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Linz wurde, wo er sich habilitierte und anschließend – nebst zahlreichen Gastprofessuren und Auslandsaufenthalten – an den Universitäten Linz und Salzburg und ab 1997 in Wien lehrte. In all diesen Funktionen pflegte er mit dem DÖW eine konstruktive Zusammenarbeit. Im Unterrichtsministerium wurde 1973 eine Abteilung „Politische Bildung“ eingerichtet;31 in den Schulen wurden zeitgeschichtliche Themen im Geschichtsunterricht forciert und das Unterrichtsprinzip „Politische Bildung“ (1978) eingeführt,32 das zur Grundlage einer intensiven Auseinandersetzung auch mit den bis dahin tabuisierten Phasen der jüngsten österreichischen Geschichte wurde. Die Notwendigkeit und Nützlichkeit von Zeitzeugenberichten für Forschung und Unterricht wurden entdeckt. In dem von Verfolgten getragenen DÖW und in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen spielten ZeitzeugInnen von Anfang an eine tragende Rolle bei der Vermittlung an SchülerInnen und Jugendliche. Tausende, meist jugendliche Be30 Anton Pelinka, Erika Weinzierl (Hg.): Hermann Langbein – Zum 80. Geburtstag. Festschrift, Wien 1993, S. 72 f. 31 Siehe z.B. URL: http://www.politische-bildung.at (22. 6. 2011) oder http://www.erinnern.at (22. 6. 2011). 32 Leopold Rettinger: Langbein und Politische Bildung, in: Pelinka, Weinzierl, Langbein, S. 40 ff.; Elisabeth Morawek: Politische Bildung in den Schulen, in: Recht der Schule. Zeitschrift für Schulrecht, Pädagogik und Bildungswesen 8.4 (1986), S. 11–117; Andrea Wolf (Hg.): Der lange Weg. 20 Jahre „Politische Bildung in den Schulen“, Wien 1998.

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sucherInnen pro Jahr wurden seit 1969 von ZeitzeugInnen durch die ständige Ausstellung des DÖW geführt: Neben den schon erwähnten Herbert Steiner, Toni Bruha und Selma Steinmetz fungierten Helli Neuhaus, Susanne Kriss, Erich Fein, Ferdinand Berger, Josef Meisel, Fritz Wachs, Franz Fragner, Bruno Sokoll und viele andere als AusstellungsbegleiterInnen. In dem 1970 eröffneten Museum in der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Mauthausen ist die BesucherInnenzahl ein Vielfaches: Rund 100.000, vor allem österreichische, SchülerInnen besuchen pro Jahr die Gedenkstätte.33 Über viele Jahre wurde die Hauptlast der pädagogischen Betreuung von ehemaligen Häftlingen getragen: Hans Maršálek, Ludwig Soswinski, Leo Kuhn, Hermann Lein und Peter Kammerstätter, um nur einige wenige zu nennen. Wie im DÖW, wo engagierte Studierende als AusstellungsbegleiterInnen herangezogen werden, mussten auch in Mauthausen nach und nach jüngere Mitarbeitende aus den Nachkriegsgenerationen als BetreuerInnen eingesetzt werden.34 Einen entscheidenden Impuls erhielt die ZeitzeugInnen-Arbeit durch die von Hermann Langbein auf einer internationalen Konferenz in Wien 1977 initiierte Aktion, ZeitzeugInnen zu Vorträgen, Diskussionen und Veranstaltungen in Schulen zu schicken.35 „Die Überlebenden sind verpflichtet“, erklärte Langbein, „Zeugnis abzulegen, solange sie dazu noch in der Lage sind.“36 Vom Unterrichtsministerium wurde diese Anregung 1978 aufgenommen und die Aktion organisatorisch und finanziell unter seine Obhut gestellt, wobei Zeitgeschichte- und Politikwissenschaftsinstitute der Universitäten ReferentInnen für die einzelnen Bundesländer vermitteln. Im Rahmen dieses „Referentinnen/Referenten-Vermittlungsdienstes für Zeitgeschichte“ können Schulen kostenlos ZeitzeugInnen einladen und machen von diesem Angebot starken Gebrauch. Die ursprüngliche Idee und auch Praxis, jeweils einen Zeitzeugen und einen Wissenschaftler gemeinsam eine Veranstaltung bestreiten zu lassen – so gingen etwa 33 Die BesucherInnenstatistik 2009 weist 54.289 österreichische SchülerInnen und 37.051 aus dem Ausland aus, siehe Gerhard Hörmann: BesucherInnenstatistiken, in: KZ-Gedenkstätte Mauthausen / Mauthausen Memorial 2009. Forschung Dokumentation Information, hg. v. Bundesministerium für Inneres, Wien 2010, S. 88–90, hier 88. 34 Siehe Bertrand Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck / Wien 2006. Zur Entwicklung der Gedenkstätte Mauthausen aus der Sicht der österreichischen Häftlingsorganisation siehe: Österreichische Lagergemeinschaft Mauthausen (Hg.): Memorandum. Öffentliches Denkmal Mauthausen. Die nach 1945 erlassenen bedeutendsten Gesetze, Regierungsbeschlüsse und Vorschläge in bezug auf die Errichtung einer Mahn- und Gedenkstätte sowie der musealen Schaustellung der Geschichte des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Mauthausen, Wien o. J. [ca. 1993]. Zur Rolle der Zeitzeugen im Rahmen der Gedenkarbeit im ehemaligen KZ am Loiblpaß siehe Peter Gstettner: Die Vergangenheit liegt noch vor uns. Fünf Jahre Gedenken am Loibl, in: Karl Anderwald et al. (Hg.): Kärntner Jahrbuch für Politik, Klagenfurt 1999, S. 11–25. Derzeit wird die KZ-Gedenkstätte Mauthausen umfassend neu gestaltet, saniert und ein professionelles pädagogisches Konzept erarbeitet. Der Fortschritt all dieser Vorhaben kann auf der Homepage der Gedenkstätte (http:// www.mauthausen-memorial.at) mitverfolgt werden. 35 Die Wahrheit über den Nationalsozialismus. Zusammenfassung der Ergebnisse einer Konferenz, auf der in Wien vom 22. bis 25. April 1977 darüber beraten wurde, wie die Jugend am zweckmäßigsten gegen die wiederbelebte nationalsozialistische Propaganda immunisiert werden kann, Wien o. J. 36 Anton Pelinka: Die Verpflichtung der Überlebenden, in: Der Standard (31. 12. 1999), S. A 37.

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Leon Zelman, der Auschwitz und Ebensee überlebt hatte, und der Historiker und Journalist Peter Dusek jahrelang gemeinsam in Schulen –, konnte zwar nicht durchgehalten werden, doch alljährliche Fortbildungsveranstaltungen, wo FachwissenschaftlerInnen, ZeitzeugInnen und Lehrkräfte einen fruchtbaren Erfahrungsaustausch pflegen, sorgen bis heute für ein hohes Niveau in der Zeitzeugenarbeit.37 Darüber hinaus bemühte sich die Abteilung Politische Bildung im Unterrichtsministerium, der scharfen Kritik von ZeithistorikerInnen an den Geschichtsschulbüchern Rechnung tragend, durch Schaffung zeitgemäßer Unterrichtsmaterialien Mängel im Unterrichtsfach Geschichte wettzumachen.38 Auch in Lehrveranstaltungen an den Universitäten bzw. bei der Durchführung von Forschungsprojekten spielten ZeitzeugInnen eine wichtige Rolle. Die PionierprofessorInnen der österreichischen Zeitgeschichte Ludwig Jedlicka, Karl Stadler und Erika Weinzierl, selbst ZeitzeugInnen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungshorizonten, waren von Anfang an dafür aufgeschlossen. Das Salzburger Institut für Geschichte und das Linzer Zeitgeschichteinstitut haben u.a. eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Widerstandskämpfer und Regionalhistoriker Peter Kammerstätter gepflegt, die insbesondere für die Aufarbeitung des Widerstands- und Partisanenkampfes im Salzkammergut in Form von Lehrveranstaltungen, Exkursionen, Filmen und Publikationen sehr nützlich war.39 Die von Gerhard Botz angebotenen Exkursionen zum „Igel“, dem Stützpunkt der Salzkammergut-Partisanen, sind ein Musterbeispiel für die didaktisch und wissenschaftlich hoch stehende Vermittlungsarbeit unter Einbeziehung von ZeitzeugInnen. Sie stießen bei den Studierenden auf großes Inte­ resse. Herbert Steiner hat in seinen Lehrveranstaltungen an der Universität Wien regelmäßig ZeitzeugInnen eingeladen und damit viel Anklang bei den Studierenden gefunden. Brigitte Bailer und Wolfgang Neugebauer haben in ihren Lehrveranstaltungen zu den Themen Widerstand, Verfolgung und NS-Terror WiderstandskämpferInnen und Verfolgte – unter anderen Karl Stojka, Dagmar Ostermann, Alois Kaufmann, Max Schneider, Jonny Moser und Hugo Pepper – herangezogen und damit die besten Erfahrungen gemacht. Die ZeitzeugInnen bringen die menschliche Dimension in die Darstellung der Geschichte in einer Weise ein, wie es durch kein noch so aussagekräftiges Dokument geschehen könnte. In ihrem eingangs zitierten denkwürdigen Gespräch haben die KZ-Überlebenden Elie Wiesel und Jorge Semprun ihre 37 Siehe dazu URL http://www.erinnern.at/aktivitaten (22. 6. 2011). 38 In Zusammenarbeit mit dem DÖW, dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und österreichischen HistorikerInnen wurden die vier Medienkoffer zur österreichischen Zeitgeschichte sowie mehrere Publikationen wie etwa Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes / Bundesministerium für Unterricht und Kunst (Hg.): Amoklauf gegen die Wirklichkeit. NS-Verbrechen und ‚revisionistische‘ Geschichtsschreibung, Wien 21992, und Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes/Bundesministerium f. Unterricht, Kunst und Sport (Hg.): Österreicher und der Zweite Weltkrieg, Wien 1989, herausgebracht. Auch heute ziehen seriöse Schulbuchverlage ausgewiesene ExpertInnen zu einzelnen Themen heran. 39 Siehe dazu u.a.: Christian Topf: Auf den Spuren der Partisanen. Wanderungen im Salzkammergut, Grünbach 1996 (mit einem Vorwort von Gerhard Botz). Die engagierte Filmemacherin Ruth Beckermann drehte 1985 einen 40-minütigen Film „Der Igel“ mit den Studenten des History Workshop Salzburg und ehemaligen WiderstandskämpferInnen.

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positiven Erfahrungen als Zeitzeugen mit Jugendlichen diskutiert. „Weißt du“, erklärte Elie Wiesel 1995, der für seine Erinnerungsarbeit den Friedensnobelpreis erhalten hat, „ich spreche sehr gerne mit jungen Leuten, beantworte gerne ihre Fragen, hier wie in den Vereinigten Staaten. Diese Fragen werden immer von jungen Leuten gestellt. Weil sie sich sagen, dass das die letzte Chance ist, einem Zeitzeugen zuhören zu können. Und sie kommen und hören uns mit wirklichem Interesse zu. Sie hören zu mit einer gesunden Neugier, mit ihren Seelen, mit ihren Blicken.“40

Die Zeitzeugenaktion ist bis heute ein wichtiger, selbstverständlich gewordener Bestandteil der Politischen Bildung in den Schulen. Nicht nur unzählige Vorträge und Diskussionen, sondern in zunehmendem Maße auch Projekte und mehrtägige Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen mit ZeitzeugInnen werden an Schulen durchgeführt. So erfolgte im Gedenkjahr 1998 in einigen Wiener Schulen eine vorbildliche, auch qualitativ beachtliche Aufarbeitung des Schicksals jüdischer SchülerInnen nach 1938.41 Die Kontakte, die von SchülerInnen und Lehrenden mit Vertriebenen im Ausland geknüpft wurden, können in ihrer menschlichen und politischen Bedeutung gar nicht hoch genug geschätzt werden.

Zukünftige Perspektiven Aufgrund der lebenszeitlichen Begrenzung der Zeitzeugenarbeit sind Bemühungen, die Zeitzeugenerfahrungen in Form von Videoaufzeichnungen festzuhalten und diese Dokumentationen in Schulen zu verwenden, umso wichtiger. Musterbeispiele gelungener Produktionen – neben dem klassischen Werk „Shoah“ von Claude Lanzmann – sind der französische Film „Die Wächter“ von Roy Lekus, der Interviews mit ehemaligen Mauthausen-Häftlingen, unter ihnen Hans Maršálek, Simon Wiesenthal und Hermann Lein, wiedergibt (1995), der von Johanna Heer und Werner Schmiedel gestaltete Film über Simon Wiesenthal „Die Kunst des Erinnerns“ (1995), der Film „Küchengespräche mit Rebellinnen“ von Karin Berger, Elisabeth Holzinger, Lotte Podgornik und Lisbeth Trallori (1994) oder das im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Wiener Publizistikinstitut 1989 geschaffene Video „Schreiben im Widerstand“, in dem die ehemaligen Widerstandskämpferinnen und KZ-Überlebenden Toni Lehr, Esther Tencer und Toni Bruha zu Wort kommen. Es ist ein besonderes Verdienst des amerikanischen Filmregisseurs Steven Spielberg, dass er die Einnahmen des Films „Schindlers Liste“ für ein groß angelegtes Projekt zur filmischen 40 Semprun / Wiesel, Schweigen ist unmöglich, S. 16. 41 Siehe dazu u.a. Martin Krist: Vertreibungsschicksale. Jüdische Schüler eines Wiener Gymnasiums 1938 und ihre Lebenswege, Wien 1999. Bezüglich Schulprojekte im Gedenkjahr 1988 siehe: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport, Abteilung für Politische Bildung / Österreichisches Kultur-Service (Hg.): Die zwei Wahrheiten. Eine Dokumentation von Projekten an Schulen zur Zeitgeschichte im Jahr 1988, Wien 1989.

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Erfassung der Holocaustopfer gewidmet hat, wobei aber auch nichtjüdische NS-Opfer berücksichtigt werden. Die zu diesem Zweck ins Leben gerufene Shoah Foundation hat bislang mehr als 50.000 Interviews in einer Länge von zwei bis fünf Stunden durchgeführt, die u.a. in den wichtigen Gedenkstätten Yad Vashem, Simon Wiesenthal Center Los Angeles, US Holocaust Memorial Museum Washington und Museum of Jewish Heritage New York zugänglich sind. Seit 2006 ermöglicht die Freie Universität Berlin den Zugang zu dem Visual History Archive des Shoah Foundation Institute for Visual History and Education der University of Southern California (USC).42 In der zukünftigen Arbeit von Gedenkstätten und wissenschaftlichen Instituten wird der Videodokumentation von Zeitzeugenberichten eine wichtige Rolle zukommen. Wenn die Verantwortung zur Gänze auf den Schultern der Nachgeborenen liegen wird, wird es noch viel schwieriger sein, die richtigen Antworten auf die wachsenden Herausforderungen zu finden, die sich im Generationswechsel gerade jetzt, in der Phase der neuen Unsicherheiten, ergeben.43

Auf längere Sicht müssen die Wissenschaft sowie engagierte Vereine und Personen bei der Vermittlung von NS-Geschichte ohne ZeitzeugInnen auskommen.44 Eine wichtige Rolle übernehmen auch in Österreich zunehmend (Video-)Aufzeichnungen mit ZeitzeugInnen. Ein großes oral history-Projekt führte 2001 Gerhard Botz, das Institut für Konfliktforschung und das DÖW – gerade die AutorInnen Wolfgang Neugebauer und Christine Schindler – zusammen. In einer rasanten „Notgrabung“ wurden im Auftrag der KZ-Gedenkstätte Mauthausen Hunderte ehemalige Mauthausen-Häftlinge interviewt (Mauthausen Survivors Documentation Project, MSDP).45 Unter hohem Zeitdruck, aber auf seriöser wissenschaftlicher Grundlage, gelang es mit KooperationspartnerInnen in 19 europäischen Ländern sowie in den USA, Kanada, Argentinien und Israel (insgesamt in 23 Staaten), rund 860 Audiointerviews, 100 davon auch als Videointerviews, zu führen und aufzuzeichnen. 20 editierte Videointerviews sind zentraler Teil der Ausstellung im neuen BesucherInnenzentrum und auch auf der ebenfalls damals neu erstellten Homepage der KZ-Gedenkstätte Mauthausen zu sehen.46 Federführend vom IKF waren Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr involviert, die 2001 gerade ihre zweibändige Arbeit zum KZ Ravensbrück publiziert hatten. Amesberger und Halbmayr 42 Siehe URL: http://www.vha.fu-berlin.de  (22. 6. 2011). 43 Konrad, Festvortrag, S. 11. 44 Siehe zu dieser Problematik u.a.: DÖW-Jahrbuch 2010. Schwerpunkt Vermittlungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen, Wien 2010, mit Beiträgen von Erinnern.at, Gedenkdienst und anderen. 45 Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Inneres finanziert; zusätzliche 21 Interviews förderte der Nationalfonds der Republik Österreich. 46 Siehe zu all den in den Jahren 2001–2003 durchgeführten Projekten an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen: Bundesministerium für Inneres (Hg.): Das Gedächtnis von Mauthausen, Wien 2004. Diese sind auch auf http://www. mauthausen-memorial.at beschrieben. Siehe auch: DÖW-Jahrbuch 2004. Schwerpunkt Mauthausen, Wien et al. 2004.

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haben in mehrjähriger Arbeit die Lebensgeschichten von 42 österreichischen RavensbrückÜberlebenden aufgezeichnet, analysiert und dokumentiert und sich intensiv mit der Methodik der oral history auseinandergesetzt.47 Die im Zuge dieser und anderer oral history-Projekte entstandenen Interviews wurden und werden für zahlreiche Fragestellungen ausgewertet.48 So wird die im Wiener Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen aufbewahrte Interviewsammlung des MSDP u.a. durch ein Nachfolgeprojekt (Mauthausen Survivors Research Project) von Gerhard Botz bearbeitet.49 Das DÖW führt 2011 weitere Audio- und Video-Interviews mit Überlebenden der Jugendfürsorge- und Kindereuthanasieanstalt „Am Spiegelgrund“ durch.50 Die in diesem Beitrag angeführten Projekte bzw. einschlägig tätigen Institutionen und Personen können nur einen kursorischen Einblick in die Vielfalt und Entwicklung der Arbeiten mit ZeitzeugInnen und oral history der letzten Jahrzehnte geben. Gerhard Botz ist ein dynamischer Faktor in diesem Netzwerk. Er ist nach seiner Emeritierung weiterhin in zahlreichen Projekten engagiert, leitet das Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft, über das er viele einschlägige Projekte abwickelt.51 Seine Schaffenskraft lässt nicht nach, seine Expertise ist unverzichtbar für die vielen anstehenden und zu lösenden Fragen und Aufgaben, insbesondere auch in dem von uns behandelten Bereich. Seine unermüdliche Aktivität, nicht zuletzt auch die Förderung der Nachwuchswissenschaft, ist ebenso bewundernswert und vorbildlich wie sein beherztes Engagement in vielen wissenschaftlichen und politischen Fragen. Sein bereits geleisteter Beitrag zur Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

47 Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr: Vom Leben und Überleben – Wege nach Ravensbrück: das Frauenkonzentrationslager in der Erinnerung, 2 Bde., Wien 2001. 48 Helga Amesberger, Katrin Auer et al.:  Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern, Wien 32007. 49 Gerhard Botz, Regina Fritz, Alexander Prenninger: Mauthausen überleben und erinnern. Ein Bericht aus dem „Mauthausen Survivors Research Project“ (MSRP), in: KZ-Gedenkstätte Mauthausen 2009, S. 39–48. Amesberger und Halbmayr haben soeben das Projekt „Frauen in Mauthausen“ fertiggestellt, für das ebenso Interviews aus dem MSDP ausgewertet wurden. 50 Das Projekt wird von der Stadt Wien bzw. deren Krankenanstaltenverbund finanziert. 51 URL: http://www.lbihs.at.

Eva Brücker

AUTO-Biografie: „Erst zwei, dann drei, dann vier“ Ein junger Mann, Familienvater und Genosse im Berlin der Nachkriegszeit In lebensgeschichtlich-narrativen Interviews präsentieren sich Menschen selbst.1 In vergleichbarer Form geschieht das auch in familiären Fotoalben, die entscheidende, für wichtig erachtete oder als typisch wahrgenommene Momente des Lebens – im Bild festgehalten – in einen narrativen Zusammenhang stellen.2 Auch die Alben zeigen Selbstdarstellungen, fotografischbildliche Selbstdarstellungen.3 Eine dieser Selbstdarstellungen findet sich im folgenden Zitat aus einem Interview mit Herrn Neureuter. Herr Neureuter ( Jg. 1930) lebte  – wie vor ihm seine Großeltern, Eltern und Schwiegereltern und nach ihm seine Tochter – zeit seines Lebens in einer sozialdemokratisch geprägten, genossenschaftlich organisierten Siedlung des Berliner Reformwohnungsbaus der Weimarer Zeit, die ab 1918 nach Plänen von Bruno Taut und Martin Wagner erbaut wurde. In einem 1986 geführten Interview stellte er sein Leben als langsamen, aber kontinuierlichen Aufstieg dar. Parallel dazu zeigt sein familiäres Fotoalbum – in einer den Aufstieg nachvollziehenden Reihenfolge – Fotos von Fahrrädern, eines Motorrads– später ergänzt um einen Beiwagen –, eines Gogomobils, mehrerer VW-Käfer und schließlich eines Peugeot. Im Interview,4 während dessen ihm die Fotos nicht vorlagen, resümierte5 Herr Neureuter seine Lebensgeschichte in der Erzählung von den ‚vier Rädern‘: 6 1 Überarbeitete und ergänzte Fassung einer kurzen Skizze im Themenheft „Männerleben – Lebemänner“ der Zeitschrift WerkstattGeschichte 6 (1993), S.  57–60. Zum Konzept lebensgeschichtlich-narrativer Interviews vgl. ­Gabriele Rosenthal: Erzählte und erlebte Lebensgeschichte. Struktur und Gestalt biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a. M. 1995. 2 Vgl. Roswitha Breckner: Sozialtheorie des Bildes. Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien, Bielefeld 2010. Dort auch eine Zusammenfassung der Diskussionen und des Forschungsstandes in der visuellen Soziologie und in Teilen der Historischen Bildforschung sowie eine Auseinandersetzung mit kunsthistorischen Ansätzen. 3 Vgl. Timm Starl: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995, insbes. S. 22–23. 4 Vgl. Roswitha Breckner: „Angefangen hat es ‘46.“ Eine Lebensgeschichte, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), „Das war ’ne ganz geschlossene Gesellschaft hier.“ Der Lindenhof: Eine Genossenschaftssiedlung in der Großstadt, Berlin 1987, S. 196–216. 5 Zur Strukturanalyse und dem Stellenwert einzelner Erzählungen im Gesamtzusammenhang der Interviews vgl. Eva Brücker: „Und ich bin heil da ’rausgekommen.“ Gewalt und Sexualität in einer Berliner Arbeiternachbarschaft zwischen 1916/17 und 1958, in: Thomas Lindenberger, Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 337–365. 6 Die Interviews mit Herrn Neureuter und die Familienfotos gehören zum Bestand des Dokumentationszentrums für Alltags- und Regionalgeschichte der Berliner Geschichtswerkstatt e.V.

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Angefangen haben wir mit’m Fahrrad jeder: ein Herren- und ein Damenfahrrad. […] Und denn – wie gesagt – hatten wir geheiratet. Dann hab ich eines schönen Tages gesagt, ich kauf ’ mir ’n Motorrad. Dann hab ich mir ’n gebrauchtes Motorrad gekauft. Da war’n wir stolz wie die Spanier. Frau N.: Und dann kein Geld für Benzin. Herr N.: […] Dann wurde die Tochter geboren [1959, EB], dann hatte ich kein Geld für’n Auto, hatte auch keinen Führerschein. Dann wurde für die Maschine ’n Beiwagen angeschafft. Ja, dann kam das dritte Rad, zwei Räder hatten wir ja schon. […] Aber wenn’s regnete und so saukalt war: da hab ich gesagt, wir kaufen uns ein Auto! Einen Gogo, aber nicht so ein Viertakt-Gogo, sondern ein Coupé, auch gebraucht. […] Und dann, einmal, sagt der Krümel [die Tochter, EB], wir fuhren gerade ’n Berg hoch: ‚Papa, fahr ’mal ’n bisschen schneller’. Da sag’ ich, ja, ich hab’ die Faxen auch dicke, jetzt kaufen wir uns einen VW. […] Ich hatte drei VWs, nicht gleich ’n großen Wagen. Immer langsam, also ein Rad zum anderen. Erst zwei, dann drei, dann vier.

Was genau ist das für ein Selbstverständnis, das Herr Neureuter in diesem Zitat, aber auch in den Aufnahmen aus dem Album präsentiert, wie kommt es zustande und welchen Anteil haben Interview und Fotoalbum am Zustandekommen der lebensgeschichtlichen Darstellung?

Interview und Lebensgeschichte In den Jahren 1985 und 1986 sind vier Interviews mit Herrn Neureuter geführt worden.7 In insgesamt 15 Stunden stellte er sein Leben dar: Im Zentrum präsentiert er die Zeit ab 1946. In kürzeren Passagen erzählt er von seiner Kindheit im Nationalsozialismus, seiner frühen Jugend im Krieg sowie von der unmittelbaren Nachkriegszeit, um dann nach dem einleitenden Satz: „Angefangen hat alles 1946“, sein Leben als Karriere- und Aufstiegsgeschichte darzustellen, die er schließlich in der oben zitierten Passage zusammenfasst. Auch die lebensgeschichtlichen Phasen vor Kriegsende resümiert er mit der zentralen, die Interviews durchziehenden Kernaussage,8 er habe seinen Weg gemacht. Die Ausformulierung variiert er jeweils etwas: „Bei der Hitlerjugend war ich auch schon ’n bisschen was“ oder „Daher   7 Insgesamt sind 24 Interviews mit Männern aus der Genossenschaftssiedlung geführt worden. Sie gehörten den Jahrgängen 1909 bis 1945 an. Die Interviews wurden narrativ-biografisch mit einem lokalhistorischen Fokus geführt, transkribiert und nach Methoden der Biografieforschung ausgewertet. Zum Projekt vgl. Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Der Lindenhof; zur Methode vgl. Rosenthal, Lebensgeschichte. Parallel dazu sind auch zugehörige Egodokumente, Fotografien, Alben und Dokumente aus dem Privatbereich, der Siedlungsverwaltung und Siedlungsöffentlichkeit Teil der Sammlung und konnten in die Interpretation einbezogen werden.   8 Zur Bedeutung dieser Kernaussagen, die in lebensgeschichtlich-narrativen Interviews oft das Motto formulieren, unter dem die Geschichte erzählt und das Leben präsentiert wird, vgl. Eva Brücker: „ Le pire c’était qu’on a commencé à devenir comme eux.“ Leben mit der Erinnerung, in: WerkstattGeschichte 5.13 (1996), S. 19–38.

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war’n wir wer“ als Fazit einer Erzählung vom letzten Kriegsjahr und bezogen auf sich selbst und seine Altersgenossen: Nachdem der Vater eingezogen worden war und Herr Neureuter selbst mit der Familie evakuiert worden war, organisierte er, wie viele andere seiner Generation, als „Familienoberhaupt“ Lebensmittel und Unterkunft für die Mutter und den jüngeren Bruder und wurde zudem zum Vertrauten der Mutter, die 1944 ihr drittes Kind zu Welt brachte. Den Einmarsch der Roten Armee erlebte er in Torgau, wo er den vorbeifahrenden Truppen in HJ-Uniform zusah und beinahe erschossen worden wäre: Seine Mutter und der verantwortliche Offizier verhinderten das; der Offizier ging anschließend mit dem damals 15-Jährigen in den Garten: „Zieh diese Sachen aus.“ Dann sind wir hinten durch den Garten, haben am Apfelbaum ’n großes Loch gebuddelt, hatten alles was ich hatte, also alles, Koppel, Koppelschloss und Hose, Abzeichen und, und, und, alles, was da war, haben wir vergraben, restlos eingebuddelt, ist für immer und ewig da, weg.

Dieses einschneidende, mit Todesangst verbundene Erlebnis veränderte für Herrn Neureuter, der völlig selbstvergessen in HJ-Uniform am Straßenrand gestanden hatte, alles: Zu Selbstverständlichkeit gewordene nationalsozialistische Regeln und Normen verloren ihren Wert und wurden in der Uniform symbolisch und praktisch begraben. Er war stolz auf seine Uniform gewesen und auf den Respekt und die Durchsetzungsmacht, die sie ihm auch gegenüber Erwachsenen verliehen hatte. Mit dem Begraben ging also verloren, was ihm wichtig war, nämlich ‚jemand zu sein‘, ein Selbstwertgefühl, das er, nach tief greifender Verunsicherung, in der Folgezeit wiederherstellen wollte. Zugleich wirkten die begrabenen Ideale und Hoffnungen und vor allem die damit verbundenen persönlichen Interessen untergründig weiter: sie waren weg und gleichzeitig waren bzw. blieben sie da.9

Adressaten des Interviews Direkte Adressaten des Interviews sind die beiden Interviewerinnen und Frau Neureuter, die die ganze Zeit anwesend war. Die Interviewerinnen10 stehen für eine breitere Öffentlichkeit von Fach-Historikern, aber auch für die Siedlung und Berlin insgesamt, da die Aufzeichnungen   9 Vgl. die ähnliche Argumentation bei Ulrich Herbert: „Die guten und die schlechten Zeiten“. Überlegungen zur diachronen Analyse lebensgeschichtlicher Interviews, in: Lutz Niethammer (Hg.), „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.“ Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin / Bonn 1983, S. 67–96, der das Zustandekommen des Nachkriegswirtschaftswunders auf Erfahrungen etwas älterer Interviewpartner im rüstungsgenerierten NS-Wirtschaftswunder Mitte der 1930er-Jahre zurückführt. Aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive haben seine Gesprächspartner versucht, ihre Normalitätserfahrungen aus dieser Zeit nach dem Krieg zu wiederholen. 10 Die Interviews wurden geführt von Roswitha Breckner und Gabriele Kienzle, das Konzept in der Projektgruppe gemeinsam entwickelt.

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im Rahmen der 750-Jahr-Feier der Stadt sowie lokal in der Siedlungsöffentlichkeit präsentiert werden sollten, was Herr Neureuter während des Gesprächs wusste. Die Anwesenheit seiner Frau stellt die Familienöffentlichkeit her und – da sie aus einer der Honoratiorenfamilien der Genossenschaft stammt, in die Herr Neureuter ‚eingeheiratet‘ hatte – ebenfalls die Siedlungsöffentlichkeit. Das Ehepaar gemeinsam gewährt den Interviewerinnen sozusagen eine Audienz und präsentiert dabei auch das genossenschaftsoffizielle Selbstverständnis vom erfolgreichen Wiederaufbau in der Nachkriegszeit. Vor diesem Hintergrund gelesen erhält die eingangs zitierte Erzählung Herrn Neureuters und die Betonung seiner Entscheidungsgewalt („… ich kaufte mir“; „… ich kaufte uns“) auch etwas Trotziges: Zumindest bei den Autos und anderen fahrbaren Untersätzen hatte Herr Neureuter selbst das Sagen, ein möglicher Grund für die herausgehobene Darstellung der Motorisierung in seiner lebensgeschichtlichen Erzählung.

Album und Lebensgeschichte Das Fotoalbum, das von Herrn Neureuter selbst zusammengestellt wurde, umfasst 54 Seiten. Es zeigt ihn selbst auf zahlreichen Fotos – er kann also häufig nicht der Fotograf gewesen sein. Das Album dokumentiert die Familiengeschichte seit den 1930er-Jahren, obwohl es erst nach der Hochzeit der Neureuters im Jahre 1952 begonnen wurde. Ältere Fotos, wie jene der Großeltern, bei denen Herr Neureuter aufwuchs, sind zur Dokumentation des Lebenswegs eingefügt. Die Darstellung beginnt chronologisch 1946, als sich die beiden näher kennenlernten. Im Einzelnen umfasst sie die Lebensstationen der beiden Protagonisten – Herrn und Frau Neureuters. Deren Auswahl ist auch in Bezug auf die Jugendjahre der beiden schon auf das zukünftige Paar und die Kleinfamilie zugeschnitten. Dazu kommen Gremiensitzungen in Genossenschaft, SPD und SPD-Vorfeld-Organisationen einschließlich der zugehörigen Ausflüge und Feste. Häufig handelt es sich um Männergruppen, denen sich eine Frau (Frau Neureuter) und in einigen wenigen Fällen auch ein, zwei andere Frauen angeschlossen haben. Die frühen Lebensphasen, also Babyfotos, Kinderfotos, Fotos aus der HJ-Zeit, sind nicht enthalten. Die Anlage der Reformsiedlung wird in ihrer Nachkriegszerstörung und im Wiederaufbau dokumentiert. Arbeitsergebnisse Herrn Neureuters und die oben genannten verschiedenen Fahrzeuge werden präsentiert. Inszeniert wird im Album ein Paar, das es ‚geschafft hat‘ – und zwar aus Perspektive des Mannes, der drei verschiedene, erfolgreiche Biografien ineinander verschränkt darstellt: die Familien-Karriere, die Berufskarriere, die politische Karriere.11 Während sich die Interviewerzählungen nach und nach, über mehrere Stunden und in der Retrospektive entwickeln, kondensiert das Album einzelne zentrale Momente der Lebensgeschichte zeitgleich. Das geschah sowohl mittels bewusst inszenierter Fotos (Frau Neureuter auf dem Motorrad; die Tochter im Auto), die zudem bewusst in das Album und seine Narration eingefügt wurden, als auch durch eher zufällig entstandene Knipserfotos (die Motorrad11 Breckner prägt den Begriff „Bildbiographien“ für derartige Alben, in: dies.: Sozialtheorie, S. 234 f.

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reparatur, aufgenommen von Frau Neureuter), denen aber Herr Neureuter durch die Platzierung im Album ihre Bedeutung zuwies. Dabei folgte er durchaus sowohl fotografischen, als auch sozialen Konventionen. Gleichzeitig aber wich er auch von diesen ab: Im Unterschied etwa zu den von Timm Starl quantitativ analysierten 461 Familienalben12 nahm er sehr viel mehr Bilder von Familienereignissen wie Ausflüge, Feste und Feiern sowie Bilder von einzelnen Familienmitgliedern in das Album auf. Hier hat sich womöglich eine Besonderheit des Lebens in der Genossenschaftssiedlung niedergeschlagen, wo Familienleben, politische Betätigung und nicht selten auch Berufstätigkeit zusammenfallen konnten: Die bei Starl in verschiedene Analysekategorien (Familie/Freunde; Arbeit; Freizeit, Wohnsitz; öffentliche Veranstaltungen u.a.) fallenden Fotos, gehören in diesem wie auch in anderen Alben im Bestand13 zu einem Lebenszusammenhang. So konnten Aufnahmen von öffentlichen Veranstaltungen in den verschiedenen, in der Siedlung verankerten Vereinen auch Aufnahmen von Familienmitgliedern sein, wenn z.B. Vater und Tochter, Geschwister oder Eheleute, aber auch entferntere Verwandte gemeinsam Mitglied waren. Die Reformsiedlung ist zudem auch im Hintergrund der Bilder bewusst einbezogen, zeigen sie doch den Außenwohnraum, der, angelegt nach dem Gartenstadtkonzept, schon Bestandteil der Pläne von Bruno Taut und Martin Wagner war und eine der Besonderheiten dieses Lebenszusammenhangs ausmachte. In einem Punkt allerdings entspricht das Album dem Befund Starls: Mit zunehmendem Lebensstandard zeigen die Fotos die jeweiligen Neuanschaffungen (Fernseher, Wagen, Einrichtung u.Ä.) ohne schmückendes Beiwerk: ohne Personen und ohne den Hintergrund bewusst einzubeziehen. Fotografiert wurde der „große Wagen“ auch von Herrn Neureuter nur noch als Sache (im Hintergrund Mülltonnen, die womöglich im Augenblick der Aufnahme gegenüber dem strahlend neuen Auto gar nicht wahrgenommen wurden), den erreichten Status dokumentierend.

Adressaten des Albums Anders als das Interview war das Album nicht von Anfang an für die Öffentlichkeit bestimmt. Es diente wohl zunächst der Selbstvergewisserung Herrn Neureuters, war eine Hommage an seine Frau und ein Nachweis des Erreichten für die Schwiegerfamilie. Über diese Honoratiorenfamilie vermittelt, die in allen Gremien der Genossenschaft, der SPD und der lokalen Vorfeldvereine über Jahre hinweg vertreten war, richtet sich die Erfolgsbilanz allerdings indirekt auch an die Siedlungsöffentlichkeit. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass 12 Vgl. Starl, Knipser, S. 144; dort auch (S. 142–147) eine Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Essay zur Familienfotografie aus dem Jahre 1965: Un art moyen. Essais sur les usages sociaux de la photographie, dt. unter dem Titel: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, Frankfurt a. M. 1981. 13 Vgl. Breckner, Sozialtheorie, S. 179–235, wo sie, ebenfalls zurückgreifend auf ein Interview, ein anderes der Alben vorstellt; weitere unveröffentlichte Alben und Interviews z.B. von Familie Siemsen, Familie Kellermann, Pasche u.a. im Bestand des Dokumentationszentrums für Alltags- und Regionalgeschichte der Berliner Geschichtswerkstatt e.V.

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Herrn Neureuters Herkunftsfamilie eher selten abgebildet ist. Darüber hinaus transportiert das Album für die Tochter die Familiengeschichte aus Sicht des Vaters.14

Interview und Album im Vergleich Zum Zeitpunkt des Interviews lebten die Eltern und Schwiegereltern und natürlich auch die Großeltern Herrn Neureuters nicht mehr. Das ist während der Entstehung des Albums und der Fotos, die zeitgleich mit den Ereignissen auch die Familie und zugehörige Personen festhalten, anders gewesen. Da die Fotos und das Album zeitgleich oder zumindest zeitnah zu den Ereignissen entstanden sind, könnte Herr Neureuter im Zuge der Selbstvergewisserung, die er im Zusammenstellen des Albums zu betreiben scheint, das Muster, seine Lebensgeschichte als Aufstiegsgeschichte darzustellen, entwickelt haben. Dasselbe Muster legte er in variierter Form dann auch den Interviews zugrunde.15 Insofern ist es kein Zufall, dass sich das Eingangszitat und die Familienfotos so direkt aufeinander beziehen lassen.16 Was aber ist der Bezugsrahmen, den er dieser Selbstvergewisserung als Mann, in der Rolle als Familienvater und Ernährer sowie in seiner Funktion als Genossenschaftsfunktionär zugrunde legte?

Frauenbild – Familienbild – Männerbild Selbstdarstellungen in lebensgeschichtlichen Erzählungen, aber auch auf privaten Fotografien und in Familienalben beruhen auf bestimmten Bedingungen. Die Autoren: Erzähler, Fotograf oder der Urheber des Albums bewegen sich in Konventionen des Erlebens, Erzählens, Sehens und Darstellens, die gesellschaftlich und historisch bestimmt sind. Muster, die in Herrn Neureuters Geschichte von Interesse sein könnten, sind Vorstellungen von Frauen, von Familie und von Männern, mit denen er in Berührung gekommen ist, die er sich einerseits aneignete, denen er aber auch seine spezifische Form gegeben hat. 14 Zur Funktion der Fotografie und von Fotoalben in Familien vgl. Breckner, Sozialtheorie, S. 262; aber auch Bourdieu, Kunst, S. 46; und in Auseinandersetzung damit Starl, Knipser, S. 142–147. 15 Vgl. Breckner, Sozialtheorie, S. 156; Gabriele Rosenthal: Zur Konstitution von Generationen in familienbiografischen Prozessen. Krieg, Nationalsozialismus und Genozid in Familiengeschichte und Biografie, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5.4 (1994), S. 489–516. 16 Eine Besonderheit des zugrunde liegenden Materials liegt darin, dass Fotoalben und Interviews aufeinander bezogen sind oder sich aufeinander beziehen lassen: ein Glücksfall, der auf das Geschichtsbewusstsein in der Siedlung zurückgehen kann, aber auch eine Folge der bewusst verfolgten mikrohistorischen Konzeption während der Recherche ist. Vgl. im Unterschied dazu die Desiderata, die Timm Starl, Pierre Bourdieu und Philipp Sarasin als Notwendigkeiten für eine historische und /oder soziologische Bildanalyse benennen, in: Starl, Knipser, S. 147; Bourdieu, Kunst, S. 31; zum Zusammenhang zwischen Bild und Text in historischen Quellen, aber auch in der Historiografie: Philipp Sarasin, Bilder und Texte. Ein Kommentar, in: WerkstattGeschichte 16.47 (2008), S. 75–80, insbes. S. 77.

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Herrn Neureuters Bild seiner Frau

Abb. 1: Frau Neureuter auf dem Motorrad (1952)

Das Foto zeigt Frau Neureuter – auf dem geparkten Motorrad ruhiggestellt – zusammen mit der „Maschine“ als stolzes Besitztum. Im strahlenden Sonnenschein wird sie, aber auch das Gefährt mit den zwei Rädern, vor dem Haus siedlungsöffentlich demonstrativ in Szene gesetzt und zeugt so auch vom erreichten Status des Ehemanns. Sie wirkt, als sei sie mit dieser Rolle einverstanden gewesen. Während des Interviews bestärkte sie die Erzählungen ihres Mannes, auch die

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von den „vier Rädern“: Herr Neureuter bewegte sich mit seiner Darstellung im familiären Konsens: „Wir waren stolz wie die Spanier“, und sie ergänzte bestärkend und zugleich leicht ironisch: „… und kein Geld für Benzin.“ Die Bilder im Album zeigen die Tochter einer alteingesessenen Honoratiorenfamilie der Siedlung, deren Vater und Großvater lange Jahre im Vorstand der Genossenschaft aktiv waren, in Kleidung und Auftreten mode- und selbstbewusst. Lebhaft wie ihr Mann, ist sie oft im Mittelpunkt des Geschehens als einzige Frau unter zahlreichen Männern zu sehen. Allerdings nicht mit offizieller Funktion, sondern als Schmuckstück an seiner Seite und Tochter eines Vorstandsmitglieds und nicht berufstätige Ehefrau und Mutter. Damit entspricht sie einem Ideal der Zeit mit weit zurückreichender Tradierung, demzufolge die Frau in die Familie gehörte. Ein Ideal der bürgerlichen Gesellschaft, das auch im Arbeitermilieu Geltung hatte, aber aufgrund der materiellen Lebensbedingungen nur in seltenen Fällen realisiert werden konnte. Auch in Herrn Neureuters Jugend, der NS-Zeit, stand dieses Idealbild im Zentrum nationalsozialistischer Propaganda, konnte aber – vor allem während des Krieges – ebenfalls nicht in die Praxis umgesetzt werden.17 Nun, in den 50er- und frühen 60er-Jahren der Nachkriegszeit erlebte es seine Blüte:18 Die in der NS-Zeit Aufgewachsenen konnten das realisieren, was ihnen in ihrer Jugend als Ideal vermittelt worden, im Alltag aber unerreichbar gewesen war. So ist auch die von seiner Frau akzeptierte Rolle als Hausfrau und Mutter ein Teil seines (und ihres) Erfolges.

Familienbilder Im ersten angeschafften Auto, dem Gogomobil, wird zugleich der wichtige dritte Bestandteil der erfolgreichen Privat-Biografie vorgestellt, das Kind. Das wieder im Sonnenlicht siedlungsöffentlich in Szene gesetzte, besondere Auto, rot mit weißem Verdeck, steht vor den vom Gartenstadtarchitekten Leberecht Migge geplanten, ursprünglich zur Selbstversorgung der Bewohner angelegten Gärten, im vornehmeren Teil der Siedlung. Auch diese Gärten waren Teil des lebensreformerischen Gesamtkonzepts gewesen und sind bis 1962 jedoch längst zu Blumengärten geworden. In diesem besonderen Bereich der Siedlung, etwas erhöht auf einem kleinen Hügel gelegen, wohnten bevorzugt die Honoratiorenfamilien der Genossenschaft. Das Wohnungsangebot hatte schon in der Planung unterschiedliche Qualitäten umfasst und reichte von Eineinhalbzimmerwohnungen bis hin zu kleinen Einfamilienhäusern. In dem Einfamilienhaus im Hintergrund, dem Haus der Schwiegereltern, wohnte nach den Kriegszerstörungen auch Familie Neureuter: zeitweise neun Personen in drei Zimmern, Balkon, Küche, Bad, Keller, zwei Dachkammern und Garten. Hier lernte sich das spätere Ehepaar näher kennen. Hier lebten sie noch zum Zeitpunkt des Interviews. Mit dem Foto reihte sich Herr Neureuter auch in die Tradition der Genossenschaftshono17 Vgl. Sybille Steinbacher: Frauen im „Führerstaat“, in: Dietmar Süß, Winfried Süß (Hg.), Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008, S. 103–119. 18 Aneta Wawrzynek: Sozialgeschichte der Familie. Entstehung und Entwicklung der modernen Kleinfamilie als Leitbild der Moderne, Nürnberg 2004; dort auch grundlegende, neuere Literatur.

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Abb. 2: Das erste Kind und das erste Auto (ca. 1963)

ratioren ein, auch gegenüber der Schwiegerfamilie, die ihn als Sohn behandelte. In der genossenschaftlichen Organisation hatte das für den Schwiegervater einen entscheidenden Vorteil: Frauen konnten bis in die 1970er-Jahre nur als Witwen selbstständige Mitglieder werden und waren in den Gremien – mit einer Ausnahme in den frühen 1950er-Jahren – erst ab 1979 vertreten. Männer waren „Genossen“, wie es auch der Nutzungsvertrag ausweist, Frauen waren Ehefrauen.19 „Familie“ in der patriarchalischen Form war Teil des Genossenschaftskonzepts. Frau Neureuter hätte die Familientradition des Engagements in den Gremien der Siedlung nicht fortsetzen können. Die Tocher der Neureuters wurde in Verbindung mit einem weiteren Zeichen für die erfolgreiche Berufsbiografie, dem ersten vierrädrigen Gefährt, abgelichtet. Der Mann präsentiert sich mit diesem Foto – auch gegenüber der Schwiegerfamilie – als ordentlicher Familienvater, der – das zeigen die Anschaffungen – auch Geld verdient, also den Erwartungen an einen „verantwortungsvollen Familienernährer“20 gerecht zu werden vermag. Frau, Kind und das dem jeweiligen Status angemessen erscheinende Gefährt sind die dazugehörenden Attribute. 19 Gabriele Faust, Claudia Gather, Monika Rummler: Das Verhältnis der Genossenschaft zu den Frauen, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Der Lindenhof. Lose-Blatt-Sammlung, Berlin 1985. 20 Zur Ernährerrolle der Männer im Arbeitermilieu der Nachkriegszeit vgl. Gabriele Sonnenschein: Der lange Abschied von der Lohntüte … „Familienernährer“ in den 60er Jahren, in: WerkstattGeschichte 6 (1993), S. 61–71, sowie zur Perspektive der Frauen: Christine von Oertzen: Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948–1969, Göttingen 1999 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 132).

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Männliches Selbstverständnis Herr Neureuter entwirft sich im Interview und im Album als „Hans Dampf in allen Gassen“, mit „großer Klappe“, die habe man in jedem Regime gebraucht. Nach der grundsätzlichen Infragestellung seiner Ideale 1945: „die schlimmste Zeit“, boten sich zur Orientierung im wiederentstehenden Milieu der Siedlung die SPD mit ihren Vorfeldorganisationen an, denen er sich ab 1946 sukzessive und gemeinsam mit seiner späteren Frau anschloss. Während seine eigene Familie verschiedenen politischen Richtungen angehangen hatte, waren in der Schwiegerfamilie „immer schon“ „alle“ in der SPD, vor 1933 waren Schwiegervater und Schwiegermutter Mitglieder des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. In der Nachkriegszeit gehörten sie zum lokalen ‚Adel‘. Herr Neureuter stellte sich mit seinen Darstellungen im Interview und im Album in die Kontinuität der Schwiegerfamilie, der Reformsiedlung, der SPD und ihrer Vorfeldorganisationen – kurz: der Erfolgsgeschichte Westberlins in der Nachkriegszeit. Er präsentierte sich und seine Familie aber auch in eigenständiger Form – die Vorgaben eigensinnig aneignend, reproduzierend und erneuernd: Das Motorrad, die zwei Räder für den jungen Ehemann, der das Sagen hat („ich kaufe mir“), stehen für seine „Modernität“ und Technikversiertheit: er reparierte selbst. Das Foto zeigt ihn bei der Reparatur im Hinterhof, in seiner ‚Bastelecke‘. Seine Frau hielt es im Foto fest, das Herr Neureuter in das Album integrierte. Im ihn umgebenden Chaos werkelt er vor sich hin – ist ganz bei sich selbst, nicht siedlungsöffentlich oder statusorientiert, aber modern, d.h. auch eher kameradschaftlich als patriarchalisch: Bestandteile des sozialdemokratischen Familienkonzepts,21 die in den Jugendorganisationen wie den Falken präsent waren, ansonsten aber oft in den Hintergrund gedrängt wurden. In der eingangs zitierten Interviewpassage ließ er z.B. alle Familienmitglieder zu Wort kommen: Seine Frau mischte sich selbst ein, leicht ironisch und distanziert und die Außensicht präsentierend; die Tochter wurde als Stichwortgeberin für den Vater eingeflochten, dessen Sicht der Dinge sie bestärkte. Motorisierung wurde für Herrn Neureuter zur sprachlich-bildlichen und fotografischbildlichen Ausdrucksmöglichkeit seines sozialen Aufstiegs und des Ziels, das er erreicht hatte, nämlich wieder wer zu sein, sowie auch zum persönlichen Unterscheidungsmerkmal zur vorangegangenen Generation. Nach Nationalsozialismus und Krieg, die er als Mitglied von Jungvolk und HJ erlebt hatte, lernte Herr Neureuter 1946, mit 16 Jahren, in Jugendzeltlagern der Amerikaner den Traum von Wohlstand, Demokratie und Gleichheit kennen. Seine „politische Karriere“ machte er über die Gewerkschaft (Beitritt 1947, mit 17 Jahren),22 die Falken (Beitritt 1947, ebenfalls mit 17 Jahren) 21 Vgl. dazu Karen Hagemann: Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990. 22 Alexander von Plato: Nachkriegssieger. Sozialdemokratische Betriebsräte im Ruhrgebiet – Eine lebensgeschichtliche Untersuchung, in: Lutz Niethammer (Hg.), „Hinterher merkt man, dass es richtig war, dass es schiefgegangen ist.“ Nachkriegs-Erfahrungen im Ruhrgebiet, Bonn 1983, S. 311–359, dort auch die Argumentation, dass in den Nachkriegsbiografien, vor allem junger Männer, die Gewerkschaften den Einstieg in eine politische Karriere in der SPD boten.

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Abb. 3: Motorradreparatur zwischen 1952 und 1959

und die SPD (Beitritt 1953, mit 23 Jahren, nach der Hochzeit zusammen mit seiner Frau). In der SPD-dominierten Genossenschaft erhielt seine „politische Karriere“ einigen Auftrieb, nachdem er die Tochter eines Vorstandsmitglieds geheiratet hatte (1952), dessen Ehrenamt er 1967 mit 37 Jahren quasi ‚erbte‘. Als Elektriker fand er nach mehrmaligem Berufswechsel über familiäre und politische Beziehungen, insbesondere des Schwiegervaters, eine krisensichere Anstellung im SPD-dominierten öffentlichen Dienst Berlins. In seinen sprachlichen und bildlichen Darstellungen verknüpfen sich „erfolgreiches Familienleben“, „politische Karriere“ und „beruflicher Aufstieg“ äußerst vorteilhaft. Es entsteht die Idealbiografie eines jungen, aufstiegsorientierten Mannes aus dem Arbeitermilieu der 50er- und frühen 60er-Jahre. Die nach und nach angeschafften „Räder“ sowie ihre fotografische Darstellung entsprachen dem jeweiligen Status in der Biografie. Die Aufnahme des „großen Wagens“ (eines Peugeot 505 Turbo injection) präsentiert dann den zum Zeitpunkt des Interviews erreichten Lebensstandard des damals 57-Jährigen. In dem in den insgesamt vier Interviews und im Fotoalbum präsentierten Selbstbild verschmolz Herr Neureuter das verbreitete Männlichkeitsbild der 50er- und frühen 60erJahre,23 die Konsumorientiertheit der Zeit, die sich an der zuletzt erlebten „guten Zeit“, dem 23 Sonnenschein, Lohntüte.

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Abb. 4: Der „Große Wagen“ (ca. 1985)

Wirtschaftswunder der NS-Zeit24 mit seinen Versprechungen von Wohlstand25 und Motorisierung (der VW-Käfer bzw. „KdF-Wagen“26) orientierte, das gängige Familienbild27 und den mit all dem verbundenen Neuaufbruch nach Krieg und Nationalsozialismus. Er konstru­ ierte so eine über die Biografie hinausreichende Kontinuität und Erfolgsgeschichte, die auch symptomatisch war für das Selbstbild der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Damit modernisierte er das konservativere SPD-Milieu, aber – und das könnte man als sein (siedlungs-)politisches Programm verstehen – langsam, Schritt für Schritt. Das Leben in einem Modell, zu dem er steht und das er für sich angeeignet hat, bot ihm die Möglichkeit der Teilhabe: „Man kann auch ohne Schule seinen Weg machen“, stellte er am Ende der lebensgeschichtlichen Interviews fest.

24 Herbert, Zeiten. 25 Michael Wildt: Am Beginn der „Konsumgesellschaft“. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994 (zugl. Diss. 1991), Neuausg. u.d.T.: Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre, Frankfurt a. M. 1996. 26 Hans Mommsen, Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996; Jürgen Lillteicher: Profiteure des NS-Systems? Deutsche Unternehmen und das „Dritte Reich“. Berlin 2006. 27 Karin Hartewig: Der sentimentale Blick. Familienfotografien im 19. und 20. Jahrhundert, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 215–240.

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Das Gedächtnis der Dinge Einleitung Die geschichtliche Beschäftigung und Aufarbeitung mit und an Orten des Terrors der nationalsozialistischen Diktatur war lange Zeit den Historikern vorbehalten. Mithilfe von unterschiedlichen schriftlichen und mündlichen Überlieferungen wurden die Ereignisse einschließlich der Verbrechen beschrieben, dokumentiert, erforscht, kontextualisiert und analysiert. Unter anderem wurden dafür Archivalien wie Gerichtsprotokolle, Dokumente der nationalsozialistischen Bürokratie und Verwaltung herangezogen, die in erster Linie die Sicht der Täter sowohl während der nationalsozialistischen Herrschaft als auch in der Nachkriegszeit zeigen. Von außerordentlich großer Bedeutung waren stets ebenso die Berichte der Opfer. Auch hier sind die Aussagen in den Nachkriegsprozessen und ganz besonders die Erinnerungen der überlebenden Konzentrationslagerhäftlinge oder der Zwangsarbeiter eine elementare Quellengruppe. Inzwischen sind verschiedene große Projekte durchgeführt und Datenbanken erstellt worden, in denen die Erinnerungen der ehemaligen Häftlinge bewahrt werden. Dazu gehört auch das Mauthausen Survivors Documentation Project, das von Gerhard Botz geleitet wurde. Im Rahmen des Projektes wurden über 850 Interviews mit Überlebenden aus über 20 Ländern geführt, die im Konzentrationslager Mauthausen und seinen Nebenlagern inhaftiert und dem Terror ausgesetzt waren. „Die Intention des ZeitzeugInnen-Projektes Mauthausen ist es, die leidvollen Erfahrungen der Verfolgten des NS-Regimes als Mahnung für die zukünftigen Generationen und als historische Zeugenschaft zu bewahren“ – so die Zielsetzung des Projektes, wie es in der Homepage formuliert ist.1 Mit diesem Projekt wird ein Aspekt verstärkt in die Forschung eingebracht, der für die Untersuchung des nationalsozialistischen Terrors maßgeblich ist. Die Zahl der Überlebenden, die noch zu den Gegebenheiten und Ereignissen etwa in den Konzentrationslagern befragt werden können, wird mit jedem Jahr geringer. Damit schwindet ein wichtiges Archiv bzw. die Quellen dieses Archivs können nicht mehr erweitert werden. Es ist daher wichtig, die Berichte der Zeugen jetzt noch aufzuzeichnen und zu bewahren und für die Gedenkarbeit zur Verfügung zu stellen.2 Als weitere Quelle treten inzwischen verstärkt archäologische Funde aus den Konzentrationslagern und anderen Orten des Terrors in den Fokus der Forschung. Schon immer wa1 URL: http://www.ikf.ac.at/mauthausen/projekt.htm ( Jan. 2011). 2 Siehe z.B. Friedrich Boll, Annette Kaminsky (Hg.): Gedenkstättenarbeit und Oral History. Lebensgeschichtliche Beiträge zur Verfolgung in zwei Diktaturen, Berlin 1999; Till Hilmar: Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, Wien 2010.

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ren Objekte aus den ehemaligen Konzentrationslagern verwendet worden, um in den Ausstellungen der Gedenkstätten die durch die oben genannten Quellen eruierten Geschehnisse zu visualisieren. Es sei nur an die in den Vitrinen der Gedenkstätten befindlichen Häftlingskleidungen, die Schuhe, Brillen oder das Geschirr erinnert. Jedoch wurde selten das gesamte Potenzial der materiellen Objekte genutzt, sie dienten lediglich allgemein als Unterstützung und Anschauungsmaterial der Präsentationen. Durch soziologische, kulturwissenschaftliche, kulturanthropologische und archäologische Methoden und Theorien ist es jedoch möglich, den Aussagewert solcher Objekte deutlich zu erhöhen und dieses Potenzial für die Gedenkstättenarbeit zu nutzen.

Materielle Kultur Materielle Kultur, Dinge und Sachen spielen in den Disziplinen der historischen und soziologischen Kulturwissenschaften bzw. der Kulturanthropologie wie der Archäologie, der Volkskunde bzw. Europäischen Ethnologie und der Ethnologie und seit einiger Zeit auch in den Sozialwissenschaften eine wesentliche Rolle. Die kleinen und großen Dinge und Sachen des häuslichen und werktätigen Bereichs, des sakralen und religiösen Raumes, Gebäude zum Leben und Arbeiten, Räumlichkeiten für die Ausübung von Religionen, Objekte im Alltag und im Totenritual bilden eine elementare Grundlage für die Erforschung vergangener und lebender Kulturen. In der Kultursoziologie, der Kulturanthropologie, der Ethnologie und der Europäischen Ethnologie, wo in der Regel noch existierende Gesellschaften und Kulturen erforscht werden, treten neben den in jüngerer Vergangenheit oder heute noch gebräuchlichen und verwendeten Dingen sowie Texten und Bildern3 auch Beobachtungen, Befragungen und empirische Erhebungen hinzu, die zusätzlich eine Fülle von Informationen nicht zuletzt zur Funktion und Bedeutung der Objekte liefern. Diese sogenannte dichte Überlieferung4 erlaubt es, die Kontexte und Bedeutungen, die den Umgang und das Handeln der Menschen mit den Objekten be  3 Bilder, die zur Erforschung der Kulturen eine wichtige Rolle spielen und die mit ihren Inhalten auf Ereignisse und Strukturen zeigen können, sollen nur kurz erwähnt werden, sie stehen hier nicht im Vordergrund. Siehe z.B: Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007; Helge Gerndt: Bildüberlieferung und Bildpraxis. Vorüberlegungen zu einer volkskundlichen Bildwissenschaft, in: ders., Michaela Haibl (Hg.), Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft, Münster 2005 (Münchner Beiträge zur Volkskunde, 33), S. 13–34; Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie, Köln 2006; Sabine Pöschel: Handbuch der Ikonographie. Sakrale und profane Themen der bildenden Kunst, Darmstadt³2009; Zuletzt für die Archäologie: Carsten Juwig, Catrin Kost (Hg.): Bilder in der Archäologie – eine Archäologie der Bilder?, Münster et al. 2010 (Tübinger Archäologische Taschenbücher, 8). Auch auf das Aussagepotenzial vonTexten und Zeitzeugenberichten wird hier nicht eingegangen.   4 Anders Andrén: Archaeology of a densley documented time, in: Barbara Scholkmann et al. (Hg.), Zwischen Tradition und Wandel. Archäologie des 15. und 16. Jahrhunderts, Büchenbach 2008 (Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie, 3), S. 3–6; Helmut Hundsbichler: Dichte Überlieferung und Dichte Beschreibung, in: ebda., S. 17–24.

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leuchten, direkt zu erfassen und den Sinngehalt und die Wesenhaftigkeit der materiellen Kultur, auch im Sinne einer dichten Beschreibung,5 während ihrer Verwendung zu untersuchen. Der Kontext zu den Objekten lässt sich in den Archäologien durch sogenannte Befunde, sei es ein Lebensbereich wie ein Gebäude, ein Werkplatz, ein Grab oder anderes, eruieren. Dabei handelt sich immer um eine mehr oder weniger umfassend im Boden festgehaltene Situation, die einen längeren Ablauf oder ein kurzfristiges Ereignis wie etwa eine Bestattung, die Nutzung eines Hauses oder die Herstellung von Artefakten o.Ä. darstellen. Die hinterlassenen sichtbaren und erkennbaren Spuren und Relikte im Boden sind dabei einer Vielzahl von Faktoren wie taphonomischen Prozessen oder menschlichen Handlungen6 unterworfen. In den Epochen der Urgeschichte von der Menschwerdung bis zum Einsetzen einer Schriftlichkeit sind materielle Objekte und die Befunde – neben einigen Bildern – die Hauptquelle und damit der wesentliche Zugang zu den Kulturen. Erst mit dem Einsetzen der Schriftlichkeit – in unterschiedlichen Teilen der alten Welt zu unterschiedlichen Zeiten – treten für den nordalpinen Raum seit der römischen Zeit Texte als eine weitere Quelle hinzu. Aufgrund der Fülle der Schriftlichkeit spricht man dann seit dem späten Mittelalter von der oben schon erwähnten dichten Überlieferung. Das Sammeln von Gegenständen etwa für Museen stand am Beginn einer Beschäftigung mit Dingen. In den Anfängen der jungen Wissenschaften Ethnologie und Volkskunde wurden auch schon Befragungen zu den Objekten durchgeführt, um weitere Daten zu erhalten. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rücken aber die Bedeutung der Dinge und die kontextuelle Einbettung als Forschungsfeld bzgl. der materiellen Kultur in den Vordergrund. Nun steht eher die Bedeutsamkeit der Dinge als Zeiger und Zeichen auf den Umgang der Menschen mit den Dingen im Fokus der Untersuchungen,7 damit stehen (wieder) die Menschen im Zentrum der Analysen. Dies schließt auch eine intensive Beschäftigung mit einem methodischen und theoretischen Konzept der materiellen Kultur in der Kultursoziologie,8 der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie,9 der Europäischen Ethnologie10 und auch der   5 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1987.   6 Michael B. Schiffer: Formation processes of the archaeological record, Albuquerque 1987; Ulrike Sommer: Zur Entstehung archäologischer Fundvergesellschaftungen. Versuch einer archäologischen Taphonomie, in: Elke Mattheusser, Ulrike Sommer (Hg.), Studien zur Siedlungsarchäologie I, Bonn 1991 (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie, 6), S. 51–197.   7 Aus der Fülle der programmatischen und richtungsweisenden Literatur seien nur genannt: Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M. 1982; Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München 1972.   8 Zuletzt zusammenfassend: Ian Woodward: Unterstanding material culture, London et al. 2007.   9 Z.B. Daniel Miller (Hg.): Material culture. Why some things matter, Chicago 1998; Christian F. Feest: Materielle Kultur, in: Bettina Beer, Hans Fischer (Hg.), Ethnologie. Einführung und Überblick, Berlin 2003, S. 239–254; Hans Peter Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005. 10 Z.B. Konrad Köstlin, Hermann Bausinger (Hg.): Umgang mit Sachen. Zur Kulturgeschichte des Dinggebrauch. Deutscher Volkskunde-Kongress in Regensburg vom 6.–11. Oktober 1981, Regensburg 1983 (Regensburger Schriften zur Volkskunde, 1); Nils-Arvid Bringéus: Perspektiven des Studiums materieller Kultur, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 29 (1986), S. 159–174; Gottfried Korf: Einleitung. Notizen zur Dingbedeutsamkeit, in: Museum für Volkskultur in Württemberg (Hg.), 13 Dinge. Form Funktion Bedeutung. Katalog

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Archäologie11 ein. Gerade die Volkskunde und die Archäologie betrachteten die materielle Kultur als historische Objekte. Besonders Alltagsgegenständen galt das Forschungsinteresse in den ethnologischen Fächer. In der Volkskunde betrachtete man die für die Museen gesammelten Objekte als tradierte Zeugen der Vergangenheit etwa der ländlichen Bevölkerung und versuchte mithilfe der Sachgüter, die Sachkultur und damit die Lebenswelten vergangener Jahrhunderte bis in das Mittelalter hinein zu rekonstruieren.12 Heute dagegen werden eher die Prozesse der Konstruktion von Geschichts- und Weltbildern mithilfe der Alltagskultur bzw. mit Museumsobjekten analysiert. In der Archäologie setzte man sich lange Zeit in erster Linie mit der zeitlichen und provinziellen Bestimmung der Sachgüter auseinander, hinzu kamen Fragen zur Funktion sowie zu Produktion und Austausch,13 also technologisch-funktionale und topografisch-strukturelle Zugänge.14 Bis in die 1980er-Jahre wurde ein direkter positivistischer Zusammenhang zwischen archäologischen Strukturen und den Objekten gesehen, der kaum von einem tieferen Bedeutungsgehalt der Objekte ausging. Erst durch die Konzepte der postprozessualen Archäologie wurde den Bedeutungsinhalten materieller Kultur mehr Beachtung geschenkt; die Entschlüsselung der Codes vergangener Ideen und Bedeutungen wurde in den Fokus gestellt15 und neben der funktionalen auch die kommunikative Bedeutung zwischen materieller Kultur und menschlichem Verhalten betrachtet. Erst nach und nach bzw. inspiriert durch die Nach-

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zur gleichnamigen Ausstellung im Museum für Volkskultur in Württemberg Waldenbuch Schloss, Stuttgart 1992, 8–17; Helmut Hundsbichler et al.: Die Vielfalt der Dinge. Neue Wege zur Analyse mittelalterlicher Sachkultur, Wien 1998; Hermann Heidrich: Facetten einer Theorie der Dinge, in: ders. (Hg.), Sachkulturforschung. Tagung der Arbeitsgruppe Kulturhistorische Museen in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 15.–19. September 1998, Bad Windsheim 2000; Gudrun M. König: Alltagsdinge. Erkundungen einer materiellen Kultur, Tübingen 2005; Elisabeth Tietmeyer et al. (Hg.): Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur, Münster et al. 2010. James Deetz: In small things forgotten. The archaeology of early American life, Garden City, NY 1977; Victor Buchli (Hg.): The material culture reader, Oxford 2002; Ulrich Veit, Tobias L. Kienlin, Christoph Kümmel: Zur Einführung, in: Ulrich Veit et al. (Hg.), Spuren und Botschaften. Interpretationen materieller Kultur, Münster et al. 2003 (Tübinger Archäologische Taschenbücher, 4), S. 11–16; Tobias L. Kienlin: Die Dinge als Zeichen. Kulturelles Wissen und materielle Kultur, Bonn 2005 (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie, 127); Christopher Tilley et al. (Hg.): Handbook of material culture, London 2006. – Die angeführte Literatur aus den verschiedenen Disziplinen mit einigen wenigen einflussreichen sowie jüngst erschienenen Arbeiten gibt nur einen kleinen Ausschnitt aus einer Fülle von Publikationen wieder. Diese können über die jeweiligen Literaturverzeichnisse erschlossen werden. Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie, München 2003, S. 224 ff. Siehe z.B. Ulrich Veit: Menschen – Objekte – Zeichen. Perspektiven des Studiums materieller Kultur, in: Veit et al. (Hg.), Spuren und Botschaften, S. 17–28. Ulrich Müller: Handwerk in Hansestädten des südlichen Ostseeraumes. Bemerkungen zum Forschungsstand und zur Problemstellung, in: ders. (Hg.), Handwerk – Stadt – Hanse. Ergebnisse der Archäologie zum mittelalterlichen Handwerk an der südlichen Ostseeküste, Frankfurt a.M. et al. 2000 (Greifswalder Mitteilungen. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie, 4), S. 9–36, hier 26. Veit et al., Zur Einführung, S. 11.

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bardisziplinen bzw. durch angloamerikanischen Einfluss wurden neue Forschungsfelder nach dem Bedeutungs- und auch dem Symbolgehalt der Objekte erweitert. Häufig beschränkt sich die Archäologie jedoch noch immer darauf, lediglich den Sinngehalt von Prestigegütern und Statussymbolen bzw. von sakralen Objekten als Symbole der Macht und einer sozialen Elite zu untersuchen. Weniger beachtet im Sinne einer kontextualisierenden Analyse wurden allgemeine Alltagsdinge, die nicht diesen sozialen und gesellschaftlichen Schichten zuzuweisen sind.

Zeitgeschichtliche Archäologie Seit knapp 20 Jahren setzt sich auch die archäologische Forschung mit Objekten des 20. Jahrhunderts auseinander. Neben veränderten Konventionen und Gesetzen in Europa findet  – auch ausgehend von der im angloamerikanischen Raum schon länger etablierten sogenannten historical archaeology – im deutschsprachigen Raum die Archäologie der Neuzeit immer größere Aufmerksamkeit. Erste Ausgrabungen im Zuge des Aufbaus der kriegszerstörten Städte überwanden die etablierte zeitliche Wissenschaftsgrenze des Frühmittelalters zur Geschichte. Es war offensichtlich, dass archäologische Befunde und Funde ein enormes Aussagepotenzial haben, welches die Schriftquellen und Bildquellen verifizieren, falsifizieren oder ergänzen kann oder welches durch die Schrift- und Bildquellen nicht abgedeckt wird und daher neue Erkenntnisse ermöglicht. Fast zwangsläufig wurde in den folgenden Jahren die Archäologie auch auf die Neuzeit, die Moderne und die Zeitgeschichte ausgedehnt. Seit knapp 20 Jahren werden auch verstärkt Orte der nationalsozialistischen Diktatur in die Forschungen mit einbezogen. Ausgangspunkt dieser archäologischen Untersuchungen war ein Verbrechen, welches zwar nicht von den Nationalsozialisten begangen wurde, jedoch zunächst den Nationalsozialisten zugeschrieben wurde: Die Massenerschießungen von über 20.000 polnischen Offizieren als Angehörige der polnischen Elite durch die Sowjets bei Katyn und den anderen Orten. Mit der Entdeckung und Untersuchung der Massengräber schon während des Zweiten Weltkrieges durch eine internationale Kommission konnte durch Objekte wie z.B. durch sowjetische Munition belegt werden, dass die Erschießungen durch Einheiten des NKWD des sowjetischen Innenministeriums (Volkskommissariats des Inneren) durchgeführt wurden.16 Archäologische Ausgrabungen in Katyn in den Jahren 1991 bis 1996 durch Archäologen der Universitäten Toruń und Lodz standen vornehmlich unter dem Ge-

16 Anna M. Cienciala, Natalia S. Lebedeva, Wojciech Materski (Hg.): Katyn, a crime without punishment, New Haven 2007; siehe auch Andrzej Koła: Archäologie des Verbrechens. Das archäologische Know-how imDienste der Aufklärung von Geheimnissen der jüngsten Vergangenheit (am Beispiel der exhumierten Opfer des Stalinismus aus Massengräbern von Chrkow und Kiev, in: Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrums der polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien 1 (2009), S. 107–116.

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sichtspunkt, einen Gedenkort für die polnischen Opfer zu schaffen.17 In Polen wurden in den späten 1990er-Jahren auch erste Ausgrabungen in den ehemaligen Vernichtungs- und Konzentrationslagern durchgeführt.18 Gerade zu den teilweise nur recht kurz existierenden Vernichtungslagern gibt es kaum schriftliche Quellen oder Pläne der Nationalsozialisten, es gibt nur sehr wenige Fotografien und es gibt kaum Überlebende, die von den Lagern berichten können. Es bestand jedoch das Bedürfnis, an diesen Orten Gedenk- und Erinnerungsstätten für die Opfer zu errichten und mehr Informationen zu den Orten des Terrors und der Vernichtung zu erhalten. Daher erbrachten die archäologischen Ausgrabungen zunächst einmal grundsätzliche Erkenntnisse zu den räumlichen Strukturen und lieferten erste Funde. Die Geschichte der Orte konnte also in erster Linie durch die archäologischen Befunde und Funde sichtbar gemacht werden. In Deutschland setzten erste Ausgrabungen ebenfalls in den 1990er-Jahren ein. Ein erster Fundort war das Lager Witten-Annen, ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald.19 Stand zunächst noch die räumliche Erfassung der Strukturen der Lager im Vordergrund, wurden die Archäologen schnell mit einer immensen Masse an archäologischen Fundobjekten konfrontiert. Bald folgten in fast allen großen Lagern unterschiedlich große archäologische Maßnahmen,20 wobei besonders die Ausgrabungen in Buchenwald,21 Sachsenhausen22 und Mauthausen23 umfangreicher sind. Die Ausgrabungen selbst verfolgen unterschiedliche Ziele. Ehemalige Konzentrationslager als lokale Bezugspunkte von Traumata mit einer hohen Vielschichtigkeit als Erinnerungsort24 besitzen für Zeitzeugen oder junge Erwachsene bzw. für 17 Andrej Koła: Archäologie des Verbrechens; Danuta Metz: Zeitgeschichtliche Archäologie in Polen am Beispiel von Exekutionsstätten des Zweiten Weltkrieges [2005], URL: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/ archaeologentag_2005/vortrag_metz.pdf ( Jan.2010). 18 Andrzej Koła: Bełżec, the Nazi camp for Jews in the light of archaeological sources. Excavations 1997–1999, Warsaw / Washington 2000. 19 Gabriele Isenberg: Zu den Ausgrabungen im Konzentrationslager Witten-Annen, in: Ausgrabungen und Funde 40 (1995), S. 33–37. 20 Claudia Theune: Historical archaeology in national socialist concentration camps in Central Europe, in: Historische Archäologie 2 (2010) URL: http://www.histarch.uni-kiel.de/2010_Theune_high.pdf ( Jan. 2011). 21 Roland Hirte: Offene Befunde. Ausgrabungen in Buchenwald. Zeitgeschichtliche Archäologie und Erinnerungskultur, Braunschweig 2000. 22 Johannes Weishaupt: Zeugnisse des Terrors. Archäologischer Beitrag zur Aufarbeitung im KZ Sachsenhausen, in: Archäologie in Berlin und Brandenburg (2005), S. 156–160; Claudia Theune: Vier Tonnen Funde geborgen. Bergung von Funden aus einer Müllgrube im ehemaligen Konzentrationslager von Sachsenhausen, Stadt Oranienburg, Landkreis Oberhavel, in: ebda.(2006), S. 131–133; Anka Müller: Entsorgte Geschichte – Entsorgte Geschichten. Die Funde aus einer Abfallgrube auf dem Gelände der Gedenkstätte Sachsenhausen und die Bedeutung zeitgeschichtlicher Archäologie, Magisterarb. HU Berlin 2010. 23 Claudia Theune: Archäologische Relikte und Spuren von Tätern und Opfern im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen, in: Mauthausen Memorial neu gestalten. Tagungsbericht zum 1. Dialogforum Mauthausen, 18.–19. Juni 2009, Wien 2009, S. 33–38. 24 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 328 ff.

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Länder wie Polen als einem Opferland des Nationalsozialismus oder Deutschland als Nachfolgestaat des NS-Staats oder Korea als einem Land, das vom Holocaust nicht unmittelbar betroffen war, aus dem jedoch viele Besucher nach Auschwitz kommen, sehr unterschiedliche Konnotationen.

Das Gedächtnis der Dinge Es ist evident, dass Objekte ebenfalls eine Geschichte der Ereignisse in sich tragen und damit eine Erinnerung. Diese Erinnerung steht in direktem Zusammenhang mit der Bedeutung der Dinge während der Zeiten des Gebrauchs. Jede Epoche und jede Kultur nutzt zahllose Objekte. Diese Objekte sind aber nicht nur rein funktionale Dinge, die etwa in einer bestimmten Zeit und einem kulturellen Zusammenhang zum Essen und Trinken, zum Lesen und Schreiben oder für die Körperpflege in einem bestimmten, sie kennzeichnenden kulturellen Kontext genutzt werden, sondern die Objekte besitzen eine eigene Geschichte und Biografie und sind auch mit der Biografie ihrer Besitzer verbunden.25 Über Raum und Zeit wird die Geschichte und der Sinngehalt der Objekte von der Herstellung über den Gebrauch, eventueller Reparaturen oder anderer Veränderungen bis zum Abfallprodukt, aber auch der Besitzer bzw. mehrere Besitzer in den Objekten gespeichert. Artefakte haben große Beständigkeit, ein ausgeprägtes Eigenleben, durch Weitergaben können sie in andere kulturelle Zusammenhänge gelangen. Ein weiterer Blick zeigt, dass die Dinge, mit denen wir uns umgeben, von allgemeinen und gesellschaftlichen Strukturen und Konventionen, kulturellen Wertvorstellungen und persönlichen Vorlieben geprägt sind.26 Sie sind weiter Symbole für Strukturen, die wir erkennen können, aber auch für Strukturen, die zunächst nicht sichtbar sind, als Bedeutungsträger für etwas nicht Offensichtliches. Wir können also mehrere Ebenen unterscheiden: erstens die Bedeutung der Objekte für die jeweiligen Eigentümer während der Zeiten der Nutzung und zweitens die Bedeutung in der historischen Perspektive, die die Strukturen des Systems charakterisiert. Weiterhin kann auf eine Transformation der Bedeutung hingewiesen werden, die entsteht, wenn die Objekte infolge von Tradieren und Weitergabe eine veränderte gesellschaftliche Bedeutung erhalten. Hier können auch die Funde der Konzentrationslager eingebunden werden.27 Die Objekte, ob es die Gebäude der SS, einschließlich der Lagermauern, oder die Baracken der Häftlinge sind, ob es das Ess- und Trinkgeschirr der Bewacher oder der Bewachten sind, oder alle anderen Funde – sie alle tragen die Geschichte in sich, sie werden dadurch für uns heute zu Symbolen der Strukturen und Ereignisse des Terrors. Teilweise sind es Funde der Häftlinge 25 Hahn, Materielle Kultur, S. 59 ff. 26 Veit, Menschen – Objekte – Zeichen, S. 18 f. 27 Siehe auch Detlef Hoffmann: Das Gedächtnis der Dinge, in: ders. (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945–1995, Frankfurt a.M. / New York 1997, S. 6–35.

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Abb. 1: Aus einem Stück Holz gefertigtes Uhrenimitat, Sachsenhausen, Müllgrube. Foto: Anne-Kathrin Müller

Abb. 2: Stempel des Reichsadlers und des Hakenkreuzes auf der Unterseite einer Tasse, Sachsenhausen­ Müllgrube. Foto: Anne-Kathrin Müller

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Abb. 3: Kleines Holzherz, Sachsenhausen, Müllgrube. Foto: Anne-Kathrin Müller

und damit werden deren Machtlosigkeit, die Unterdrückung und die Demütigung, evtl. auch der Selbstbehauptung dokumentiert (Abb. 1). Es finden sich aber auch zahlreiche Objekte, die mit den Tätern verbunden werden müssen und die damit als Objekte der Macht anzusprechen sind (Abb. 2).28 Einen besonderen Eindruck für die Aussagekraft der Objekte geben Gravierungen und Verzierungen, die zum Beispiel auf den Kämmen oder auf anderen Objekten angebracht wurden, bzw. auch die Anfertigung von Objekten und Dekorationen, die nicht für einen primär funktionalen Gebrauch gedacht waren, sondern ein wenig Individualität zeigen. Gemeint ist beispielsweise ein kleines aus Holz gefertigtes Herz (Abb. 3), ein aus einem Aluminiumblech geschnittener Stern (Abb. 4) oder die Gravierung von Blumensträußen, Segelschiffen oder Stadtansichten auf Gebrauchsgegenständen. Diese Funde verdeutlichen ein minimales Maß an Hoffnung, Kraft und Überlebenswillen, welche die Häftlinge wohl bei der Herstellung und Betrachtung der Dinge empfanden.

28 Merlin Donald: Material culture and cognition, in: Colin Renfrew, Chris Scarre (Hg.), Cognition and material culture. The archaeology of symbolic storage, Cambridge 1998, S. 181–187.

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Abb. 4: Stern aus Aluminiumblech, Sachsenhausen Müllgrube. Foto: Anne-Kathrin Müller

So geben bei den Ausgrabungen zutage kommende Objekte einen tieferen Einblick in die ehemaligen Konzentrationslager. Aufgrund der Komplexität der Geschichte der Objekte lassen sich jedoch selten gradlinige und klare Bedeutungen darlegen. Etliche Funde können personalisiert werden, das bedeutet, sie können unter Umständen bestimmten Häftlingen zugewiesen werden; Häftlingen werden z.B. die zahlreichen improvisierten und aus einfachen Materialien selbst gefertigten Objekte zuzuschreiben sein. Manche Objekte gehörten aufgrund der Qualität, unterstützt durch Beschriftungen, zweifellos den Tätern. Zahlreiche Funde berichten damit vom Lageralltag und der Lagerwirklichkeit, sie erzählen vom Schicksal einzelner Personen oder Personengruppen. In der Regel sind die Funde bald nach Kriegsende in die Erde gelangt, damit wird ihre Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt festgehalten. Andere Objekte, wie etwa die noch erhaltenen Baracken selbst, blieben obertägig erhalten und wurden weiterverwendet. Damit haben diese Objekte eine deutliche längere Biografie und Bedeutung als Objekte, die den anderen durch die Einlagerung im Boden der Nutzung entzogen waren. Einige Beispiele sollen das Gesagte veranschaulichen und so das Gedächtnis der Dinge zugänglich gemacht sowie die Bedeutsamkeit der Dinge veranschaulicht werden.

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Um sich dem Bedeutungsinhalt der Funde zu nähern, ist sicher eine Klassifikation zunächst einmal nach verschiedenen Lebensbereichen sinnvoll. Für eine Datenbank der Funde aus Ausgrabungen in Buchenwald wurden die Kategorien Lagereinrichtung, Verwaltung, lokales Umfeld, Wege ins Lager, Verfolgte, Existenzbedingungen, Häftlingskrankenbau, Arbeit, arbeitsfreie Zeit und Selbstbehauptung gebildet.29 Damit wird teilweise schon eine Einteilung in Funde, die den Tätern zuzuordnen sind, und solche, die die Häftlinge nutzten, vorgenommen, manche Funde werden mehreren Kategorien zugeordnet. Ähnlich ist die Gliederung für eine Fundsammlung aus dem Lager Sachsenhausen: Bauwesen, Drogerie, Haushalt, Bekleidung, Militaria, wo jedoch jeder Fund eine eindeutige Zuweisung erhielt und erst durch die weitere Interpretation in einen weiteren Kontext gestellt wurde.30 Die im Folgenden vorgestellten Funde stammen zumeist aus einer sehr großen Müllgrube an der Spitze des Lagerdreiecks von Sachsenhausen. In der ca. 30 Meter langen, 5,5 Meter breiten und zwei bis drei Meter tiefen Müllgrube wurden sowohl Objekte aus der Konzentrationslagerzeit entsorgt als auch Gegenstände des sowjetischen Speziallagers, welches hier vom August 1945 bis 1950 bestand. Für das gesamte Fundaufkommen wurden über 1600 Fundnummern vergeben, wobei unter einer Fundnummer mehrere Objekte subsumiert sein können. Häufig, jedoch nicht immer können die Objekte einer der beiden Phasen zugeordnet werden.31 Andere Beispiele sind mit den Forschungen in Mauthausen verbunden. Objekte der Lagereinrichtung oder des Bauwesens in Sachsenhausen und in Mauthausen geben einen Einblick in die bauliche Struktur. Durch Fotografien und Wortüberlieferungen ist bekannt, dass die Häftlinge die Lager und ihre Häftlingsbaracken, die Funktionsbauten der SS, die Plätze und Wege selbst bauen mussten. Sichtbar sind heute häufig noch die Grundmauern und Fundamente, selten sind noch komplette Baracken erhalten. Die archäologischen Funde wie etwa Fliesen, Dachziegel, Teerpappen, Waschbecken, Sicherungen, Glühbirnen, Türschlösser, Glasscherben der Fenster, Baubeschläge, Schrauben und Nägel, zeigen Objekte, die teilweise den Baracken zuzuordnen sind, die aber auch anderen Funktionsgebäuden zugerechnet werden können. Holz, ein wesentlicher Bestandteil der Häftlingsbaracken, ist nach 65 Jahren kaum zu finden, es ist zerfallen. Die erhaltenen Funde geben neben der funktionalen Zuordnung auch einen Einblick in die Arbeiten, die die Häftlinge verrichten mussten.

29 URL: http://www.buchenwald.de/media_de/fr_content.php?nav=fundstuecke&view=ct_digisammlung_fundstuecke.html ( Jan. 2011). 30 Müller, Entsorgte Geschichte. 31 So gelten die folgenden Beispiele – gerade die Beispiele zur materiellen Kultur – allgemein für die Lager und nicht ausschließlich für ehemalige Konzentrationslager.

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Häftlingsbaracken als materielle Kultur Während der nationalsozialistischen Herrschaft mussten mehrere Hundert Häftlinge in einer Baracke in sehr beengten Verhältnissen (über)leben. Die sogenannten Stuben waren unterteilt in einen Wohn- und einen Schlafbereich. Sie waren vollgestellt mit mehrstöckigen Bettgestellen, schmalen Spinden für die wenige persönliche Habe und einigen Tischen und Hockern sowie einem Ofen. Hinzu kamen ein Waschbereich und Toiletten. Nach dem Krieg blieben nur wenige Baracken bestehen. Der vielfältige Abriss oder auch die Abtragung und Weiterverwendung an anderen Orten wurden bewusst vorgenommen. Einerseits waren die Baracken in der Zeit des Mangels nach Mai 1945 begehrte Gebäude, andererseits wurde bei der Einrichtung der Gedenkstätten nicht Wert auf die vollständige Erhaltung aller Häftlingsbaracken gelegt.32 Schon der weitreichende Abbruch oder Rückbau zahlreicher Baracken veränderte massiv das Bild der sogenannten Schutzhaftlagerbereiche. Die weiterhin vorhandenen Baracken wurden durch neue Besitzer der errichteten Gedenkstätten einer anderen, nun musealen Verwendung zugeführt. Damit sind sie nicht mehr authentische Objekte aus der nationalsozialistischen Zeit, die ausschließlich die Erinnerung an das Konzentrationslager bewahren. Gerade die noch stehenden hölzernen Häftlingsbaracken wurden in der Nachkriegszeit immer wieder repariert und renoviert; nicht mehr alle Bestandteile stammen heute aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Die jetzige, häufig sehr sparsame Einrichtung mit wenigen (nicht originalen) Etagenbetten, Spinden, Hockern und Tischen veranschaulicht eher exemplarisch die ehemalige Einrichtung. Die heute stehenden Baracken sind daher keine unveränderten Objekte aus der Lagerzeit mehr, ihre Geschichte verlief in der Nachkriegszeit weiter. Diese weitergeführte Geschichte wird auch an den Wänden und Fußböden sichtbar. Bauarchäologische Untersuchungen helfen, ältere von jüngeren nachkriegszeitlichen Schichten zu unterscheiden und sie sichtbar zu machen.33 Auffällig ist, dass in der Nachkriegszeit die NSzeitlichen Farbfassungen übertüncht worden sind und damit zunächst unsichtbar waren bzw. bewusst unsichtbar gemacht worden sind. Heute werden teilweise diese Übermalungen und die neuen Verputze wieder abgenommen, so dass alte Fassungen und Anstriche wieder zu sehen sind (Abb. 5). So wird im Rahmen neuer Ausstellungskonzepte versucht, den älteren Zustand wieder sichtbar zu machen. Die Besucher der Gedenkstätten erhalten nun einen optischen Eindruck der Räumlichkeiten, wie sie zur Zeit des Nationalsozialismus bestanden. So bekommen die Gebäude wieder ein klein wenig vom ehemaligen Aussehen zurück, wenn auch in musealem Zusammenhang. Die Gedenkstätten in ehemaligen Konzentrationslagern sind heute in erster Linie Erinnerungs- und Lernorte bzw. Museen zum nationalsozialistischen Terror und keine authenti32 Bertrand Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2006, S. 51 ff. u. 131 ff. 33 Die folgenden Aussagen beziehen sich auf den unpublizierten Endbericht zur bauarchäologischen Untersuchungen der Häftlingsbaracken in Mauthausen durch Paul Mitchell und Günter Buchinger. Für die kooperative Zusammenarbeit bedanke ich mich sehr herzlich.

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Abb. 5: Konzentrationslagerzeitliche Farbfassung aus Mauthausen, Block 1, ehemaliges Lagerbordell, nachkriegszeitlich gelb übermalt. Foto: Claudia Theune

schen Orte mehr. Ehemalige Häftlinge kehren an diesen Ort der eigenen Erinnerung zurück, junge Menschen können sich anhand verschiedener Medien Kenntnisse zum System der Konzentrationslager aneignen. Damit sind diese Gedenkorte nun Museen, und die Geschichte und Biografie der noch existierenden Gebäude und Überreste wird weitergeführt, jedoch in einer veränderten Funktion.

Geschirr und Besteck als materielle Kultur Während aller prähistorischen und historischen Zeiten nehmen Objekte, die im Zusammenhang mit der Nahrungsmittelzubereitung und dem Essen und Trinken stehen, einen sehr großen Raum ein. Dies gilt auch für Objekte aus den Konzentrationslagern. Die Funde umfassen Teller, Tassen, Messer, Gabeln und Löffel, Töpfe, Kuchenformen, Töpfe, Pfannen, Siebe, Rührgeräte, Tauchsieder, Kellen, Einweckgläser, Flaschen für Säfte, Bier und Wein, Milchkannen, Dosen und Schachteln, Knochen von Rindern, Schweinen, Pferden, Hunden, Hirschen und

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Abb. 6: Messerstielfragment aus Edelmetall mit den eingravierten verschlungenen Buchstaben H O, wohl konzentrationslagerzeitlich, Sachsenhausen, Müllgrube. Foto: Anne-Kathrin Müller

Hasen u.v.a.m. Geschirr mit Herstellermarken aus renommierten Porzellanmanufakturen wie Hutschenreuther, Rosenthal, Bauscher, Schönwald, Eschenbach, Kaestner, Villeroy & Boch, Thomas, Kahla, der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin u.a.m., zeigen, woher die Verwaltung der Konzentrationslager das Porzellan für die Kantinen oder Offiziersmessen bezog. Zusätzliche Stempel (Abb. 2) wie SS-Reich, Waffen-SS, das Hakenkreuz, Fl. U.V. (Flieger Unterkunft Verwaltung), teilweise auch Jahreszahlen (bis 1945), zeigen deutlich den kontextuellen Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Diktatur. Das hochwertige Porzellan kann verknüpft werden mit Messern, Gabeln und Löffeln, häufig aus Edelstahl, teilweise auch aus Edelmetall und mit Initialen, die den Bewachern zuzurechnen sind.

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Abb. 7: Aus Kunststoff wohl von den Häftlingen selbst gefertigtes Messer, Sachsenhausen, Müllgrube. Foto: Anne-Kathrin Müller

Ganz anders dagegen das Geschirr und Besteck der Häftlinge: Schon allein die Anzahl und das Material der Bestecke aus der großen Müllgrube an der Spitze des Lagerdreiecks in Sachsenhausen geben deutliche Hinweise.34 Erhalten sind 16 Messer oder Messerfragmente. Zwölf davon sind aus Edelstahl gefertigt, eines aus Eisen, zwei aus Aluminium und eines aus Kunststoff. Eines der Messer aus Edelstahl (versilbert?) besitzt die verschlungenen Initialen H O (Abb. 6). Zwei Messer fallen aus dem Ensemble heraus: ein Exemplar aus Aluminium, welches wohl aus einem Griff eines anderen Objektes von den Häftlingen selbst hergestellt wurde und ein Messer aus Kunststoff mit einer gezähnten Klinge (Abb. 7). Selten sind Gabeln vertreten, aus dem großen Fundmaterial stammen lediglich sechs Gabeln. Die geringe Anzahl der Gabeln wirft auch ein Licht auf die Nahrung, die die Häftlinge bekamen: in erster Linie Suppe oder Ähnliches, die sie mit einem Löffel zu sich nahmen. 34 Müller, Entsorgte Geschichte, S. 141 f. Die ca. 5,5 Tonnen Funde aus der Müllgrube stammen sowohl aus der Zeit des Konzentrationslagers Sachsenhausen als auch aus dem sowjetischen Speziallager, welches zwischen August 1945 und 1950 weite Teile des Konzentrationslagers nutzte. Nicht in allen Fällen können die Funde eindeutig der einen oder anderen Phase zugeordnet werden. Vgl. Theune, Vier Tonnen Funde.

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Abb. 8: Löffel, der aus einem Stiel geformt wurde, Sachsenhausen, Müllgrube. Foto Anke Müller

Dem stehen rund 90 Löffel gegenüber. Ein Vergleich der Materialien zeigt einen Zusammenhang mit den Messern und Gabeln. Ca. 20 Löffel – sowohl Tee- bzw. Kaffeelöffel als auch Esslöffel – sind aus Edelstahl oder Buntmetall gefertigt, ein Zahlenverhältnis, welches dem der Messer etwa entspricht. Fast ohne entsprechende Parallelen aus wertvollerem Material sind dagegen 59 einfache Aluminiumlöffel sowie drei Kunststofflöffel. Auch bei diesen Löffeln sind einige mit Besitzerinitialen gekennzeichnet. Deutlicher sind jedoch die Überlebensstrategien der Häftlinge bei den aus wenigen Mitteln selbst gefertigten Bestecken. Während fast alle Messer, die wir den Häftlingen zuordnen können, solche selbst gefertigten Objekte sind, gab es offensichtlich auch die Notwendigkeit, sich einen eigenen Löffel herzustellen. So ist ein Löffel aus einem Stielfragment gemacht worden (Abb. 8), ein weiterer ist wohl aus Edelstahl selbst geformt. Allein die verwendeten Materialien geben einen Hinweis auf den Zugang der Opfer und Täter zu dem Besteck.

Materielle Objekte für Körperpflege und Hygiene Ein weiteres Beispiel soll Überlebensformen und Selbstbehauptung verdeutlichen. Zu den Grundbedürfnissen und Normen der Menschen gehört ein gewisses Maß an Hygiene und Sauberkeit. Nicht nur das körperliche Wohlergehen und die physische Gesundheit basiert auf einen gewissen Standard von Hygiene, Sauberkeit und Körperpflege, sondern auch das seelische Wohlbefinden. Wenn dieser Standard nicht gehalten oder erreicht werden kann, besteht das Risiko einer negativen Wirkung auf das persönliche Selbstwertgefühl und die Selbstachtung.35 Zusätzliche Maßnahmen in den ehemaligen Konzentrationslagern wie das Abschneiden der Haare, fehlende eigene und saubere Kleidung, die häufige Enteignung der persönlichen Habe verstärken diese Entwicklung. Die bewussten Demütigungen, Terrorisierungen und Erniedrigungen zielten auf den Verlust des Selbstwertgefühls ab. Dies geht sicherlich auch 35 Reinhold Bergler: Psychologie der Hygiene, Heidelberg 2009, S. 117 ff.

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Abb. 9: Selbst gefertigter Kamm mit verziertem Rand und der Gravur Sachsenhausen 1945/46, Sachsenhausen Müllgrube, speziallagerzeitlich. Foto: Claudia Theune

mit einem Verlust der Scham einher, wie ein Vergleich von Fotografien von nackten Häftlingen während der Inhaftierungszeit und nach der Befreiung der Konzentrationslager andeutet. Die Häftlinge versuchten aber einen gewissen Hygienestandard und damit wohl auch ein gewisses Maß an Selbstwertgefühl zu wahren. Zahlreiche Funde können als Hygieneartikel angesprochen werden, wie Zahnbürsten oder auch Kämme. Aus der Müllgrube in Sachsenhausen sind zehn Zahnbürsten und 18 Kämme erhalten.36 Die Zahnbürsten sind häufig stark abgenutzt. Dies kann auf einen langen und intensiven Gebrauch schließen lassen, aber auch auf die lange Lagerung im Boden zurückzuführen sein. Von den 18 Kämmen bestehen drei aus Aluminium und 15 aus Kunststoff. Von letzteren sind neun Kämme selbstgefertigt (Abb. 9). In ein Stück Kunststoff sind die Zinken selbst eingeschnitten worden, wie die nicht regelmäßige Zähnung belegt.

Fazit Die Geschichte von Ereignissen und Strukturen, die Biografie von Objekten und die Erinnerung und Bedeutung von materieller Kultur ist also in hohem Maße auch in den Funden der Täter und der Opfer der ehemaligen Konzentrationslager enthalten. Die verstärkte Dokumentation der Biografie und die Entschlüsselung der Bedeutung, die die Objekte aus den 36 Müller, Entsorgte Geschichte, S. 120 ff.

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Konzentrationslagern und anderen Internierungslagern in sich tragen, wird eine zukünftige Aufgabe sein. Diese Objekte dienen nicht nur der Illustration schriftlicher Dokumente, wie es in der Vergangenheit häufig der Fall war, sondern sie sind Teil der historischen Zeugenschaft der Verfolgten des NS-Regimes mit einer eigenen kraftvollen Aussage. Ihre Nutzung gemeinsam mit den anderen Quellen wird in der pädagogischen Arbeit der Gedenkstätten wesentlichen Anteil daran haben, die Mahnung an den nationalsozialistischen Terror und die Shoah zu bewahren.

Heidemarie Uhl

Generation of memory Geschichtswissenschaft im Kampf um die Erinnerung

I. Seit den 1980er-Jahren ist die Kategorie „Gedächtnis“ international zum Leitmotiv eines neuen Selbstverständnisses in der Geschichtswissenschaft und insgesamt in den Geistes-, Sozialund Kulturwissenschaften geworden. Gedächtnis wurde zur „historische(n) Signatur unserer Generation“, konstatiert der amerikanische Historiker Jay Winter in einem Essay über die Formierung der „generation of memory“.1 In der Geschichtswissenschaft gingen die entscheidenden Impulse von Pierre Noras „Lieux de mémoire“2 ,deren erster Band 1984 erschien, und Jan Assmanns theoretischer Grundlegung eines kulturellen Gedächtnisses in „Kultur und Gedächtnis“3 1988 aus.  In Weiterentwicklung von Maurice Halbwachs’ Theorie eines sozialen Gruppengedächtnisses4 wurde ‚Gedächtnis‘ nun vor allem als Repräsentation kollektiver Identitäten verstanden und so zu einem Schlüsselkonzept für die Analyse des gegenwärtigen Selbstverständnisses von Gesellschaften. In Österreich erscheint der Terminus erstmals 1993 programmatisch im Titel der Publikation „Österreichisches Gedächtnis“ von Meinrad Ziegler und Waltraud Kannonier-Finster.5 ‚Gedächtnis‘ wurde dabei zum Synonym für die ‚Verdrängungsgeschichte‘ der Zweiten Republik, für die „spezifisch österreichischen Kultur des Erinnerns und Vergessens“ sowie die „spezifischen Strategien der Normalisierung des Nationalsozialismus in Österreich nach 1945“.6 Der entscheidende Anstoß zur kritischen Auseinandersetzung mit der ‚verdrängten‘ NS-Vergangenheit ging aber nicht von der Wissenschaft aus, sondern von den politischen Auseinandersetzungen um die Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims im Präsidentschaftswahlkampf 1986. Erst nach der Erosion der offiziellen Opferthese durch die Aussagen Waldheims über seine „Pflichterfüllung“ in der deutschen Wehrmacht – die in diametralem Gegensatz zum Selbstverständnis Österreichs als „erstem Opfer“ des Nationalsozialismus 1 Jay Winter: The generation of memory: reflections on the memory boom in contemporary historical studies, in: Bulletin of the German Historical Institute 27 (2000), S. 69–92; dt.: Die Generation der Erinnerung. Reflexionen über den „Memory-Boom“ in der zeithistorischen Forschung, in: WerkstattGeschichte 30 (2001), S. 5–16, hier 16. 2 Vgl. Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984–1992. 3 Vgl. Jan Assmann, Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988. 4 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985. 5 Vgl. Meinrad Ziegler, Waltraud Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, Wien 1993 (2. Aufl. 1997). 6 Waltraud Kannonier-Finster, Meinrad Ziegler: Einleitung und Ausgangspunkte, in: ebda, S. 11 und S. 13.

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standen – wurden die österreichischen ZeithistorikerInnen zu entscheidenden AkteurInnen für die Formulierung, Legitimierung und Durchsetzung des Perspektivenwechsels auf die Jahre 1938 bis 1945.7 Der Blick richtete sich nun vom Staat – auf dieser Ebene kann Österreich nach wie vor durchaus zu Recht als „Opfer des nationalsozialistischen Deutschland“ gesehen werden8 – auf die Gesellschaft, von der Externalisierung des Nationalsozialismus aus der österreichischen Geschichte9 auf die Mitverantwortung Österreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus.10 Die zeitgeschichtliche Auseinandersetzung mit Opferthese und ‚unbewältigter‘ NS-Vergangenheit wurde zum Motor des Gedächtnisparadigmas, vor allem in der zeithistorischen Forschung. Aber auch in anderen wissenschaftlichen Bereichen war die Resonanz auf das neue theoretische Konzept überwältigend; in Österreich war bald ein „memory boom“11 in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu konstatieren. Das akademische Interesse ist dabei im Kontext eines neuen gesellschaftlichen Bedürfnisses nach Orientierung und Sinnstiftung aus der Vergangenheit zu sehen.12 Pierre Nora sprach im   7 Vgl. Gerhard Botz: Die „Waldheim-Affäre“ als Widerstreit kollektiver Erinnerungen, in: Barbara Tóth, Hubertus Czernin (Hg.): 1986. Das Jahr, das Österreich veränderte, Wien 2006, S. 74–95.   8 Gerhard Botz: War der „Anschluß“ erzwungen?, in: Felix Kreissler (Hg.): Fünfzig Jahre danach – der „Anschluß“ von innen und außen gesehen, Wien / Zürich 1989, S. 97–120, hier 107.   9 Zum Terminus Externalisierung vgl. Rainer M. Lepsius: Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: Max Haller, Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny et al. (Hg.): Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt a.M. / New York 1989, S. 247–264. Anzumerken ist, dass Lepsius’ Befund der „Internalisierung“ des Nationalsozialismus in der BRD die Situation der 1980er-Jahre beschreibt. Wie die Arbeiten von Norbert Frei, Peter Reichel u.a. gezeigt haben, kann man auch im Fall der BRD jahrzehntelang von Varianten der „Externalisierung“ sprechen – die Schuldfrage wurde auf eine schmale NS-Führungselite projiziert. Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik: Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999; Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung: Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München / Wien 1995. 10 Vgl. exemplarisch: Gerhard Botz: Österreich und die NS-Vergangenheit. Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung, in: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a.M. 1987, S.  141–152; Helmut Konrad: Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsbewußtsein, in: Gerhard Botz, Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, 2., erw. Aufl., Frankfurt a.M. / New York 2008 (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft, 13), S. 169–176; Ernst Hanisch: Ein Versuch, den Nationalsozialismus zu „verstehen“, in: Anton Pelinka, Erika Weinzierl (Hg.), Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit, Wien 1987, S. 154–162; Anton Pelinka: Von der Funktionalität von Tabus: Zu den „Lebenslügen“ der Zweiten Republik, in: Wolfgang Kos, Georg Rigele (Hg.), Inventur 1945/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, S. 23–32; Siegfried Mattl, Karl Stuhlpfarrer: Abwehr und Inszenierung im Labyrinth der Zweiten Republik, in: Emmerich Tálos, Ernst Hanisch et al. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich 1938–1945, Wien 1988, S. 601–624. 11 Vgl. Winter, Generation der Erinnerung, S. 6. 12 Vgl. Heidemarie Uhl: Schuldgedächtnis und Erinnerungsbegehren. Thesen zur europäischen Erinnerungskultur, in: Transit. Europäische Revue 35 (2008), S. 6–22.

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März 2001 bei der Wiener Konferenz „Gedächtnis des Jahrhunderts“ von einer „Flutwelle der Erinnerung“, einer Bewegung „so allgemein, so tief greifend, so mächtig“, dass die Gegenwart als „Epoche des Gedenkens“13 bezeichnet werden könne. Über die Ursachen dafür werden sich künftige HistorikerInnen wohl den Kopf zerbrechen und womöglich in der Wucht der nationalen Idee, die zu Ende des 19. Jahrhunderts die Gesellschaften der Moderne durchdrungen hatte, ein vergleichbares Phänomen sehen.

II. ‚Gedächtnis‘ wurde vor allem auch deswegen zum Zauberwort, weil das wissenschaftliche Interesse an der Art und Weise, wie Kollektive / Gesellschaften / Nationen ihre Vergangenheit interpretieren und konstruieren, mit einem tief greifenden gesellschaftlichen und epistemologischen Paradigmenwechsel in Verbindung steht. Einige Rahmenfaktoren sollen hier genannt werden, um den Erfahrungsraum und Erwartungshorizont14 zu skizzieren, der für die Formierung der „generation of memory“ – als gesellschaftliches und wissenschaftliches Phänomen – wesentlich ist:

Postmoderne und die Erosion von Denkfiguren der Moderne Als „Erschöpfung utopischer Energien“ beschrieb Jürgen Habermas Mitte der 1980er-Jahre den Zerfall des Telos einer zukunftsgewissen Moderne.15 Das Fortschrittsdispositiv bildete die Grundlage der wissenschaftlichen Selbstbeschreibungen moderner Gesellschaften, und dies nicht nur in Form von affirmativen Erfolgsgeschichten: Auch die Gesellschafts- und Strukturgeschichte der 1970er-Jahre orientierte sich am Fortschrittsgedanken als „master narrative“ der Modernisierungstheorie, das nun allerdings mit einem neuen, gesellschaftskritischen Vorzeichen versehen wurde. Schlagworte oder vielmehr Zukunftshoffnungen wie ‚Reform‘, ‚Demokratisierung aller Lebensbereiche‘, ‚Emanzipation‘, ‚Chancengleichheit‘, der ‚Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung‘ etc. bildeten für die durch 1968 geprägte HistorikerInnengeneration den epistemologischen Rahmen ihres Blicks in die Vergangenheit.16 In den 1980er-Jahren begannen diese Begriffe allerdings brüchig zu werden, sie büßten ihr energetisches Potenzial zur Prägung des „gesellschaftlich Imaginären“17 zunehmend ein. Der 13 Pierre Nora: Gedächtniskonjunktur, in: Transit. Europäische Revue 22 (2002), S. 18–31, hier 23. 14 Zu diesen Kategorien vgl. Reinhart Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 349–375. 15 Vgl. Jürgen Habermas: Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: ders.: Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 141–163. 16 Vgl. Helmut Konrad: Die 68er-Generation der österreichischen ZeithistorikerInnnen – eine Perspektive auf generationsspezifische Sozialisationsmerkmale und Karriereverläufe, in: Zeitgeschichte 30 (2003) 6, S. 315–319 (Themenheft: Zeitgeschichte[n] in Österreich. HistorikerInnen aus vier Generationen. Anlässlich „30 Jahre Zeitgeschichte“). 17 Zum Begriff des gesellschaftlich Imaginären vgl. Thomas Frank, Albrecht Koschorke et al. (Hg.): Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte – Bilder – Lektüren, Frankfurt a. M. 2002.

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Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt und die intellektuelle Diskreditierung des Marxismus markierten schließlich das „Ende der revolutionären Idee, des mächtigsten Vektors für die Orientierung der historischen Zeit auf die Zukunft“18 (Pierre Nora).

Der Zerfall der Nachkriegsmythen und die Universalisierung der Holocaust-Erinnerung „1989“ hatte in den ehemals kommunistischen Ländern einen abrupten Bruch mit den bisherigen offiziellen „antifaschistischen“ Geschichtsdarstellungen zur Folge. Aber auch in Westeuropa waren die Sichtweisen auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg von politischen Mythen bestimmt. Tony Judt, Historiker an der New York University (1948–2010), hat in seinem viel beachteten Essay „The Past is Another Country“ (1992) die unterschiedlichen nationalen Deutungen der NS-Vergangenheit in den west- und osteuropäischen Ländern als Varianten eines gemeinsamen europäischen „post-war myth“ beschrieben: In den nationalen Gedächtnissen Nachkriegseuropas wurde das eigene Volk als unschuldiges Opfer eines grausamen Okkupationsregimes dargestellt, die heroische Erinnerung an den heldenhaften nationalen bzw. antifaschistischen Widerstand bestimmte die Erinnerungskultur, die Frage der Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere am Holocaust wurde auf Deutschland bzw. die BRD projiziert.19 Mitte der 1980er-Jahre begann die Erosion dieser Nachkriegsmythen, zugleich rückte der Holocaust als zentrales Ereignis in den Fokus der Geschichte des Nationalsozialismus bzw. Deutschlands und darüber hinaus der Geschichte der Moderne.20 Der „Zivilisationsbruch Auschwitz“21 – dieser Begriff wurde 1988 durch Dan Diner geprägt22– wurde zunehmend als das Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen, das die moralisch-ethischen Grundlagen der westlichen Zivilisation nachhaltig erschüttert und irritiert hat: Denn die Planung und Durchführung der Ermordung der europäischen Juden war von einem durch Modernisierung und Aufklärung geprägten Staat in der Mitte Europas ausgegangen.23 In der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern wurde ab Mitte der 1980er-Jahre die Frage nach der Involvierung der eigenen Gesellschaft in dieses Menschheitsverbrechen zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Grund18 Nora, Gedächtniskonjunktur, S. 22. 19 Tony Judt: The past is another country. Myth and memory in postwar Europe, in: Daedalus 1 (1992), S. 83–118; Nachdruck in: István Deák, Tony Judt (Hg.): The politics of retribution in Europe. World War II and its aftermath, Princeton, NJ 2000, S. 293–323, dt.: Die Vergangenheit ist ein anderes Land: Politische Mythen im Nachkriegseuropa, in: Transit 6 (1993), S. 87–120. 20 Vgl. Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001. 21 Vgl. Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1988. 22 Vgl. Dan Diner: Den Zivilisationsbruch erinnern. Über Entstehung und Geltung eines Begriffs, in: Heidemarie Uhl (Hg.): Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts, Innsbruck u.a. 2003 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität, 3), S. 17–34. 23 Vgl. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1993.

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satzdebatten und zum Katalysator für ein neues Format gesellschaftlichen Erinnerns: das „negative Gedenken“ an die eigene Schuld.24 Dieses Schuldgedächtnis liegt nicht nur offiziellstaatlichen Projekten wie den Holocaust-Denkmälern in Wien und Berlin zugrunde, auch Initiativen auf lokaler Ebene begannen sich für die Erinnerung an die Opfer der NS-Verfolgung zu engagieren, die bislang aus den Geschichtserzählungen ausgeblendet worden waren. Gerade im lokalen Kontext wurde das Bekenntnis zur Mitverantwortung für die Verbrechen des NSRegimes, wie es erstmals Bundeskanzler Franz Vranitzky 1991 im Namen der Republik Österreich auf nationalstaatlicher Ebene abgelegt hat,25 vom Abstrakten ins Konkrete transferiert: Hier haben die Täter Namen und Adresse, es sind die eigenen Väter und Großväter, Nachbarn und Mitbewohner. Die Aufforderung zum Erinnern an die Opfer des NS-Regimes ist im lokalen Kontext untrennbar mit der Frage verbunden, wer in diese Verbrechen schuldhaft verstrickt war.26 In lokalen face-to-face communities ist das Gedenken an die Opfer nach wie vor ein schmerzlicher Prozess, das Konfliktpotenzial weitaus stärker und komplexer als in Debatten des öffentlich-medialen Diskurses. Hier ist die Schuldfrage nicht im abstrakten Wir einer imaginierten „Tätergesellschaft“ verhandelbar, sondern betrifft die Familiengeschichte27 – die eigene und jene von NachbarInnen, ArbeitskollegInnen und FreundInnen. Von der „Externalisierung“ des Holocaust war auch die Geschichtswissenschaft selbst nicht ausgenommen, und gerade die „kritische“ Zeitgeschichte wurde nun, wie eingangs erwähnt, mit ihren eigenen blinden Flecken konfrontiert. In Österreich flogen die Eulen der Minerva diesbezüglich im Vergleich mit anderen europäischen Ländern mit einiger Verspätung, denn die Kritik der 68er-Generation hatte sich zunächst auf den ‚Austrofaschismus‘ gerichtet. Die Semantik der ‚unbewältigten Vergangenheit‘, von Schuld und Verantwortung, zählte zwar bereits vor der Waldheim-Debatte zum narrativen Repertoire der österreichischen Zeitgeschichte, wurde allerdings auf die Frage nach der historischen Verantwortung der politischen Lager für den Untergang der Ersten Republik gerichtet. Wenn man von ‚Obsessionen‘ der zeitgeschichtlichen Forschung sprechen will, so waren diese vor dem durch die Waldheim-Debatte ausgelösten Perspektivenwechsel auf die Phase 1933/34 bis 1938 gerichtet.28

24 Vgl. Volkhard Knigge: Statt eines Nachworts: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland, in: ders., Norbert Frei (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 423–440. 25 Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzky, Erklärung vor dem österreichischen Nationalrat, 8. Juli 1991, abgedruckt in: Botz / Sprengnagel (Hg.), Kontroversen, S. 645–647. 26 Vgl. exemplarisch am Beispiel von Hamburg: Malte Thießen: Das kollektive als lokales Gedächtnis: Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik, in: Harald Schmid (Hg.): Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis, Göttingen 2009 (Formen der Erinnerung, 41), S. 159–180. 27 Vgl. Margit Reiter: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck / Wien / Bozen 2006; Gerhard Botz: Nazi, Opportunist, „Bandenbekämpfer“, Kriegsopfer. Dokumentarische Evidenz und Erinnerungssplitter zu meinem Vater, in: ders. (Hg.): Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005, S. 135–159. 28 Vgl. Siegfried Mattl, Bestandaufnahme zeitgeschichtlicher Forschung in Österreich, Wien 1983, S. 47.

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Deren Kategorisierung als ‚Austrofaschismus‘29 einerseits, patriotischer ‚Abwehrkampf ‘ des Ständestaates gegen die nationalsozialistische Bedrohung von außen30 andererseits machte die Grenzlinien zwischen den unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen der zeithistorischen Forschung sichtbar.31 Während etwa in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Historikerstreits der Ort des Holocaust in der deutschen Geschichte in einer intellektuell-akademischen Debatte neu bestimmt wurde (1986) und in Frankreich Henry Roussos Analyse des „Vichy-Syndroms“ (1987) den Bruch mit dem nationalen Resistance-Mythos markierte, wurden die österreichischen HistorikerInnen vom Konflikt um die Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims überrascht.32 Erst das Gedenkjahr 1938/88, die 50. Wiederkehr des ‚Anschlusses‘, sollte zur Stunde der HistorikerInnen werden, die nun in Ausstellungen, Publikationen, Medienbeiträgen etc. auf das Zerbrechen des Opfermythos durch die Waldheim-Debatte reagieren konnten und die Mitverantwortung der österreichischen Gesellschaft an NS-Verbrechen und insbesondere am Holocaust aufzeigten. Für die HistorikerInnen jener Generation, die in den 1980er-Jahren ihre wissenschaftliche und gesellschaftliche Prägung erfahren hatte, wurde die Bewusstseinsbildung über die Bedeutung des Holocaust und der Perspektivenwechsel auf die NS-Vergangenheit zu einer zentralen Erfahrung, die auch das disziplinäre Selbstverständnis prägte. Die Erkenntnis, dass der Holocaust in den Nachkriegsjahrzehnten nur eine marginale Rolle in der Geschichtswissenschaft eingenommen hatte, dass nunmehr ikonische Werke mangels Interesses nur unter großen Schwierigkeiten publiziert werden konnten,33 erschütterte die Vorstellung von universal gültigen Kategorien historischer Erkenntnis nachhaltig.

Konstruktivismus und „linguistic turn“ Parallel zum skizzierten Perspektivenwechsel im Hinblick auf jene Vorstellungen, die seit 1945 das Denken über Vergangenheit und Zukunft bestimmt hatten, haben Konstruktivismus bzw. linguistic turn das Selbstverständnis vor allem der Geisteswissenschaften infrage gestellt34 und 29 Vgl. exemplarisch: Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hg.): Austrofaschismus. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik), Wien 1984. 30 Vgl. exemplarisch: Ludwig Reichhold: Kampf um Österreich. Die Vaterländische Front und ihr Widerstand gegen den Anschluss 1933–1938. Eine Dokumentation, hg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1984. 31 Vgl. Andreas Mittelmeier: Austrofaschismus contra Ständestaat: Wie faschistisch war das autoritäre Regime im Österreich der 1930er-Jahre verglichen mit Mussolinis Italien?, Wien 2010. 32 Einen Überblick über die Transformationen des nationalen Gedächtnisses in Europa, in den USA und Israel vermitteln die Beiträge des Sammelbandes Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004. 33 Vgl. Raul Hilberg: Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Frankfurt a.M. 1994. 34 Vgl. Doris Bachmann-Medik: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 32009, S. 7–57.

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insbesondere in der Historiographie eine kopernikanische Wende bewirkt. Dem Ranke’schen Ideal, zu erkennen, „wie es wirklich gewesen ist“, waren ja letztlich auch die HistorikerInnen der 68er-Generation gefolgt. Sie richteten ihre Kritik nun darauf, dass die ‚traditionelle‘ Geschichtswissenschaft gerade hinsichtlich dieser Zielsetzung gescheitert sei: Mit dem Interesse an „großen“ Männern und „bedeutenden“ Ereignissen habe sie die eigentlichen Triebkräfte des historischen Entwicklungsprozesses nicht erkannt. Struktur-, Sozial-, Alltags-, Frauengeschichte wurden zu Fahnenwörtern eines neuen Verständnisses von Geschichte als Gesellschaftsgeschichte mit einem emanzipatorischen, demokratischen Auftrag.35 Erst der linguistic turn der 1990er-Jahre sollte den Vorstellungen von einer ganz selbstverständlich existierenden und – wenngleich unterschiedlich – beschreibbaren historischen Realität den Boden entziehen und den universalen Wahrheitsanspruch der Geschichtswissenschaft infrage stellen. Demzufolge ist auch das wissenschaftliche Wissen keine universale Kategorie, sondern standortgebunden, sozial positioniert und letztlich unhintergehbar eingebettet in den epistemologischen Horizont der jeweiligen Gegenwart.36 Historisches Arbeiten in der Postmoderne habe nun davon auszugehen, dass vergangene Ereignisse per se nicht zugänglich sind, sondern immer durch Texte vermittelt werden.37 Auch die Geschichtsschreibung kann kein durchsichtiges Medium sein, das einen direkten Blick auf die „vergangene Wirklichkeit“ eröffnet, sondern folgt den rhetorischen Logiken historiografischer Textproduktion.38

III. Mit der Erosion des utopischen Potenzials der Moderne begann das Gedächtniskonzept offenkundig jenen Raum im Gesellschaftlich-Imaginären zu erobern, der zu einer Signatur der Postmoderne werden sollte. Allerdings gingen die ersten Impulse für ein neues Interesse an der Vergangenheit nicht primär von HistorikerInnen aus, sondern von Initiativen in anderen gesellschaftlichen Feldern. So machten sich Anfang der 1980er-Jahre lokale grassroot-Bewegungen, wie etwa die alternativen Geschichtswerkstätten in Berlin und anderen deutschen Städten, auf die Suche nach historischen Bezugspunkten für ihr eigenes Lebensgefühl und begannen die Geschichte emanzipatorischer, widerständiger Bewegungen vor Ort zu erkunden. „Grabe, wo du stehst“ (Sven Lindqvist 1978) wurde zum Slogan einer Geschichtsarbeit „von unten“. Zur gleichen Zeit wurden aufwendige historische Großausstellungen zu einem erfolgreichen hochkulturellen Format der Aneignung von Erbe und Tradition. „Die Zeit der 35 Vgl. für Österreich exemplarisch: Helmut Konrad (Hg.): Geschichte als demokratischer Auftrag. Karl R. Stadler zum 70. Geburtstag, Wien / München / Zürich 1983. 36 Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986; Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 4., erw. u. erg. Aufl., Frankfurt a. M. 2004. 37 Vgl. Georg G. Iggers: Zur „Linguistischen Wende“ im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 557–570. 38 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1994.

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Staufer“ in Stuttgart 1977 verzeichnete mehr als 671.000 BesucherInnen, Ausstellungen über die Wittelsbacher in München (1980) und Preußen in Berlin (1981) zogen Hunderttausende an,39 in Österreich erwies sich „Traum und Wirklichkeit – Wien um 1900“(1985) als Besuchermagnet. Diese Projekte waren Ausdruck und Katalysator eines neuen „Geschichtsinteresses“,40 das auf positive Sinnstiftung aus der Vergangenheit gerichtet war – dies konnte sich auf ein glanzvolles historisches und kulturelles Erbe ebenso beziehen wie auf verschüttete revolutionäre Traditionen der Arbeiterbewegung und des Widerstands gegen das NS-Regime. Eine Reihe von Indikatoren deutet darauf hin, dass sich dieses Interesse Mitte der 1980erJahre auf eine kritische Auseinandersetzung mit der ‚unbewältigten‘ NS-Vergangenheit zu fokussieren begann. Ein Indikator dafür ist eine neue Sensibilität für Symbole der Erinnerung im öffentlichen Raum. Es scheint, als wären die Denkmäler und Erinnerungszeichen an die Opfer der traumatischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die bislang unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle lagen, auf eine neue Weise sichtbar geworden. Denkmäler wurden nicht mehr allein als Zeichen des Gedenkens an die Toten gesehen, sondern als „Identitätsstiftungen der Überlebenden“, wie dies Reinhart Koselleck für Kriegerdenkmäler formulierte. In Kosellecks Studie wurde wohl erstmals der Zusammenhang von Denkmal und Identität hergestellt und die Bedeutung dieser ephemeren Objekte für die Analyse kollektiver Einstellungen gewürdigt.41 Nicht nur in der Wissenschaft wurden Denkmäler Ende der 1970er-Jahre zunehmend als relevante soziale Zeichensetzungen betrachtet, die Einblick in das Geschichtsverständnis von Kollektiven ermöglichen. An Denkmälern oder aber an ihrem Fehlen entzündeten sich zunehmend lokale Konflikte um die Deutung der Vergangenheit. „Ehren und / oder Anstoß nehmen“42 wurde zur Devise eines neuen Blicks auf die Denkmal-Landschaft, der sich zum einen an traditionellen Formen des Gefallenengedenkens rieb, vor allem aber den Mangel an Erinnerungszeichen für die Opfer des Nationalsozialismus monierte. Diese Leerstelle wurde in Österreich besonders sichtbar, denn hier stand dem Fehlen von Denkmälern für NS-Opfer in weiten Teilen der Erinnerungslandschaft, zumindest außerhalb von Wien, die breite Präsenz von Kriegerdenkmälern gegenüber. In praktisch jedem Dorf wurden an prominenter Stelle die Soldaten der Deutschen Wehrmacht gemeinsam mit jenen des Ersten Weltkrieges als „Verteidiger der Heimat“ gewürdigt. 1991 publizierten Reinhold Gärtner und Sieglinde Rosenberger die erste Studie, die diese bislang selbstverständlichen lokalen Erinnerungszeichen 39 Vgl. Martin Große Burlage: Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland 1960–2000, Münster 2005 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, 15). 40 Aleida Assmann: Konstruktion von Geschichte in Museen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (03.12.2007), URL: http://www.das-parlament.de/2007/49/Beilage/002.html (09.08.2009). 41 Vgl. Reinhart Koselleck: Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Odo Marquard, Karlheinz Stierle (Hg.): Identität, München 1979 (Poetik und Hermeneutik VIII), S. 255–276. 42 Jochen Spielmann: Stein des Anstoßes oder Schlussstein der Auseinandersetzung? Bemerkungen zum Prozeß der Entstehung von Denkmalen und zu aktuellen Tendenzen, in: Ekkehard Mai, Gisela Schmirber (Hg.): Denkmal – Zeichen – Monument. Skulptur und öffentlicher Raum heute, München 1989, S. 110–114.

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als Instrumente der Ausblendung der Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft analysierte.43 Der Kampf um die Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes wurde zur Herzensangelegenheit der generation of memory. Die neue Aufmerksamkeit für Zeichen und Orte des Gedenkens war allerdings ein transnationales Phänomen. Nicht nur in Deutschland und Österreich, den Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“, war aus lokalen, regionalen und staatlichen Initiativen eine vielschichtige Topografie einer neuen Erinnerungskultur entstanden, zu der neue Gedenkstätten und urbane ‚Stolpersteine‘ ebenso zählen wie nationale Flaggschiffprojekte, etwa die Holocaust-Denkmäler in Berlin und Wien und die Memorial Museums bzw. Ausstellungen in Washington (US Holocaust Memorial Museum), Paris (Memorial de la Shoah) und London (Holocaust-Ausstellung im Imperial War Museum).

IV. Was ist nun die Rolle der Geschichtswissenschaft in dieser ‚Epoche des Gedenkens‘? Die Phase des Zerbrechens der Nachkriegsmythen und der Deutungskämpfe um die Vergangenheit ist heute bereits Geschichte. Wissenschaftlich zählt die NS-Zeit mittlerweile zu den besterforschten historischen Phasen. Staatliche Initiativen (Historikerkommissionen), öffentliche Einrichtungen wie Universitäten und Museen, aber auch Industriebetriebe haben Forschungsaufträge zur Untersuchung ihrer Beteiligung an NS-Verfolgungsmaßnahmen (etwa die Entlassung jüdischer MitarbeiterInnen und StudentInnen), der ökonomischen Vorteile durch die Enteignung jüdischen Vermögens, der Ausbeutung von ZwangsarbeiterInnern und KZ-Häftlingen etc. initiiert und finanziert. Parallel dazu hat sich gesellschaftlich eine neue „Geschichtsmoral“ (Gerhard Botz)44 durchgesetzt, die die Auseinandersetzung mit dem eigenen Anteil an den Verbrechen des NS-Staates als gesellschaftspolitischen Auftrag versteht. Eine Vorreiterrolle kommt dabei der Bundesrepublik Deutschland zu. 1989 wurde  – als eine der ersten Initiativen einer öffentlichen Institution – im Auftrag des deutschen Justizministeriums die Ausstellung „Im Namen des Deutschen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus“ in Berlin eröffnet.45 1999 wurde im VWWerk in Wolfsburg die Dauerausstellung »Erinnerungsstätte an die Zwangsarbeit auf dem Gelände des Volkswagenwerks« eröffnet,46 im Museum der Deutschen Bahn in Nürnberg 43 Reinhold Gärtner, Sieglinde Rosenberger: Kriegerdenkmäler. Vergangenheit in der Gegenwart, Innsbruck 1991; vgl. weiters Heidemarie Uhl: Kriegerdenkmäler, in: Emil Brix, Ernst Bruckmüller et al. (Hg.), Memoria Austriae I. Menschen – Mythen – Zeiten, Wien 2004, S. 545–559. 44 Gerhard Botz: Nachhall und Modifikationen (1994–2007): Rückblick auf die Waldheim-Kontroversen und deren Folgen, in: Botz/Sprengnagel (Hg.), Kontroversen, S. 574–635, hier 602. 45 URL: http://www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/oVg/aufbau_ausstellung.html. Die Ausstellung befindet sich im Oberverwaltungsgericht, Berlin – Brandenburg, Hardenbergstraße 31. Während der Zeit des Nationalsozialismus beherbergte das Gebäude seit 1941 das Reichsverwaltungsgericht. 46 URL: http: // www. volkswagenag. com / vwag / vwcorp / content / de / the_group / history / remembrance. html (31. 5. 2011). Vgl. Manfred Grieger: Betrieb als Ort der Zwangsarbeit. Das Volkswagenwerk und andere Unter-

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wird die „Bedeutung der Reichsbahn für Krieg und Holocaust“ ausführlich dargestellt.47 Es ließen sich viele weitere Beispiele anführen, praktisch jede namhafte Stadt in der Bundesrepublik Deutschland hat mittlerweile eine Gedenkstätte oder ein NS-Dokumentationszentrum eingerichtet, zumeist als „Lernorte“ mit vielfältigen Bildungsangeboten. Anzumerken ist, dass in Österreich entsprechende Initiativen bislang allerdings ausgeblieben sind – vor allem Wien steht dabei in bemerkenswerter Diskrepanz zur transnationalen Topografie neuer Gedenkstätten und Lernorte in urbanen Zentren. Vor dem Hintergrund dieser Transformationsprozesse hat sich auch die Rolle von HistorikerInnen als AkteurInnen im Feld des Gedächtnisses verändert: In der ‚heißen Phase‘ der emotional geführten Konflikte und gesellschaftlichen Grundsatzdebatten um die ‚verdrängte‘ NS-Vergangenheit agierten HistorikerInnen als VorkämpferInnen der Aufarbeitung und der historisch-politischen Aufklärung. In den darauffolgenden Jahrzehnten hat sich die kritische Auseinandersetzung mit der negativen Geschichte als neues master narrative weitgehend wissenschaftlich und gesellschaftlich durchgesetzt, institutionell und materiell manifestiert. Eine „neue Generation von VermittlerInnen“ sieht ihre Herausforderung in der Aufrechterhaltung des Interesses am Gedächtnis für die Opfer des Nationalsozialismus durch adäquate Vermittlungsformen.48 Sind Gedächtnis und Geschichte in diesem Konsens über die Vergangenheit kongruent geworden? Ist die grundsätzliche Differenz obsolet, die Pierre Nora in seiner Einleitung zu den „Lieux de mémoire“ postuliert: Geschichte und Gedächtnis sind keineswegs Synonyme, sondern „in jeder Hinsicht Gegensätze“: Die Geschichte ist die stets problematische und unvollständige Rekonstruktion dessen, was nicht mehr ist. […] Das Gedächtnis ist das Leben, […] für alle möglichen Verwendungen und Manipulationen anfällig […]. Weil das Gedächtnis affektiv und magisch ist, behält es nur die Einzelheiten, welche es bestärken: es nährt sich von unscharfen, vermischten, globalen oder unsteten Erinnerungen, […] ist zu allen Übertragungen, Ausblendungen, Schnitten oder Projektionen fähig. Die Geschichte fordert, da sie eine intellektuelle, verweltlichende Operation ist, Analyse und kritische Argumentation. Das Gedächtnis rückt die Erinnerung ins Sakrale, die Geschichte vertreibt sie daraus, ihre Sache ist die Entzauberung.49

Dieser Gegensatz ist auch für Maurice Halbwachs’ Gedächtnistheorie konstitutiv – Gedächtnis sei das, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen renehmen zwischen 1939 und 1945, in: Jürgen Lillteicher (Hg.): Profiteure des NS-Systems? Deutsche Unternehmen und das „Dritte Reich”, Berlin 2006, S. 82–107. 47 URL: http:// www. deutschebahn. com / site / dbmuseum / de / dauerausstellungen / reichsbahn / reichsbahn. html (31. 5. 2011). 48 Vgl. Till Hilmar: Einleitung, in: ders. (Hg.): Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, Wien 2010, S. 11–20. 49 Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1998, S. 13–14.

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konstruieren kann“.50 Jeder Paradigmenwechsel ist somit auch mit einem Verlust verbunden, mit einer Umschichtung im Haushalt des Gedächtnisses, in dem das, was den Denkfiguren und dem Erfahrungshorizont der Gegenwart nicht mehr entspricht, an Bedeutung verliert, verblasst, vergessen wird. Insofern korreliert die Erosion der Nachkriegsmythen und der Perspektivenwechsel auf den Nationalsozialismus mit dem, was aus dem Selbstverständnis der postmodernen, postnationalen und postideologischen Gegenwartsgesellschaften als sinnhafte Vergangenheit rekonstruiert werden kann. Im Narrativ der Nachkriegsmythen wurde – wenngleich unter dem Vorzeichen des Widerstandes – Gesellschaft entlang der Kategorien ‚Nation‘, ‚Ideologie‘, ‚Klasse‘ imaginiert. Heute ist es praktisch nicht mehr vermittelbar, dass Menschen aus nationaler oder ideologischer Überzeugung ihr Leben im Kampf gegen das NS-Regime riskiert haben. Die historische Imagination folgt vielmehr den ent-orteten, anthropologisch-universalen Kategorien „Täter, Opfer, Zuschauer“, die Raul Hilberg geprägt hat. Die Aufgabe einer Geschichtswissenschaft, die sich auch als kritische Reflexionsagentur des Gedächtnisses versteht, ist gegenwärtig wohl schwieriger zu bestimmen als in der heroischen Phase des Zerbrechens der Nachkriegsmythen, in der sich gerade ZeithistorikerInnen im Kampf für die ‚historische Wahrheit‘ und gegen ‚Geschichtslügen‘ engagierten. Die Herausforderungen liegen einerseits darin, auch im „Referenzrahmen Auschwitz“51 neue Fragen an die Geschichte zu stellen, die der Komplexität und Ambivalenz der historischen Wirklichkeit Rechnung tragen und die Handlungsspielräume der AkteurInnen rekonstruieren52 – denn in der Dichotomie Tätergesellschaft–Opferkollektiv lässt sich die NS-Gesellschaft nicht adäquat erfassen. Andererseits geht es darum, neue Erzählformen für die durch die pathetische Rhetorik der Nachkriegsmythen delegitimierten Geschichten zu finden und sie so vor dem sozialen Vergessen zu bewahren – vor allem den aus dem Gegenwartsgedächtnis schwindenden Widerstand gegen das NS-Regime.

50 Halbwachs, Das Gedächtnis, S. 390. 51 Hilmar, Einleitung, S. 13. 52 Vgl. Michael Wildt: Die Epochenzäsur 1989/90 und die NS-Historiographie, in: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History 5.3 (2008), Online-Ausgabe, URL:http://www.zeithistorische-forschungen. de/16126041–Wildt-3–2008(31.05.2011).

Dirk Rupnow

Zeitgeschichte oder Holocaust-Studien? Zum Ort der Erforschung der nazistischen Massenverbrechen Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Massenverbrechen der Nazis1 und ihrer Komplizen an den europäischen Judenheiten und an anderen Gruppen ist – wie das Gedenken an sie und die sie betreffende pädagogische Vermittlungsarbeit – in einem tief greifenden Veränderungsprozess begriffen: Sie ist akzeptiert, scheinbar etabliert und globalisiert, dadurch aber auch auf gänzlich neue Art Vergleichen ausgesetzt – und, weil scheinbar etabliert, wenn auch vielleicht prekärer als oft angenommen, plötzlich von nicht-etablierten Positionen aus angreifbar geworden. Diese Wandlung wurde durch die politischen Umbrüche der Jahre 1989/90, sowie allgemein durch Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse zwar nicht ausgelöst, aber doch entscheidend dynamisiert und wird zudem durch den generationellen Wechsel und das Sterben der Zeitzeugen beeinflusst. Ihr Ende ist freilich noch nicht absehbar.2 Sichtbar wird sie unter anderem an einer Vielzahl von Veröffentlichungen in den letzten Jahren, die Summen und Überblicke zu bieten versuchen, neue Forschungsperspektiven diskutieren sowie eine intensive Evaluation der Geschichte des Forschungsfeldes selbst vornehmen, aber auch an einer Reihe von Debatten wie etwa über den kolonialen Charakter des Holocaust bzw. den genozidalen Charakter des Kolonialismus.3

Der vorliegende Text entstand im Rahmen des vom Zukunftsfonds der Republik Österreich geförderten Projekts „Transformationen des Holocaust. Europäische und globale Erinnerungspolitiken nach 1989“ (P08–0434). 1 In der deutschsprachigen Forschung hat sich die Selbstbezeichnung „Nationalsozialismus“ erstaunlich lange gehalten und dominiert immer noch den Diskurs. Hier wird die aus antifaschistischen Kontexten stammende und in den meisten anderen Sprachen gebräuchliche Fremdbezeichnung „Nazismus“/„Nazi“/„nazistisch“ bevorzugt, die die Inanspruchnahme von Nationalismus und Sozialismus zugleich nicht einfach akzeptiert. 2 Dazu ausführlicher Dirk Rupnow: Transformationen des Holocaust. Anmerkungen nach dem Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Transit – Europäische Revue 35 (2008), S. 68–88. 3 Vgl. etwa Dan Stone (Hg.): Historiography of the Holocaust, Basingstoke 2004; David Bankier, Dan Michman (Hg.): Holocaust historiography in context. Emergence, challenges, polemics and achievements, Jerusalem 2008; Christian Wiese, Paul Betts (Hg.): Years of persecution, years of extermination. Saul Friedländer and the future of Holocaust studies, London / New York 2010; Peter Hayes, John K. Roth (Hg.): The Oxford Handbook of Holocaust studies, Oxford 2011 [im Erscheinen]. Siehe auch die Diskussion über „Holocaust historiography and cultural history“, in: Dapim 23 (2009), S. 45–93, oder den Schwerpunkt „NS-Forschung nach 1989/90“, in: Zeithistorische Forschungen 5.3 (2008). Zur Debatte um Kolonialismus und Holocaust vgl. beispielhaft A. Dirk Moses: Conceptual blockages and definitional dilemmas in the ‘racial century’. Genocides of indigenous people and the Holocaust, in: Patterns of Prejudice 36.4 (2002), S. 7–36; Jürgen Zimmerer: Annihilation in Africa. The „race war“ in German Southwest Africa (1904–1908) and its significance for a global history of genocide, in: GHI Bulletin 37 (Fall 2005), S. 51–57; Birth Kundrus: From the Herero to the Holocaust? Some remarks on the current debate, in: Africa Spectrum 40.2 (2005), S. 299–308; Robert Gerwarth, Stephan Malinowksi: Hannah Arendt’s ghosts. Reflections on the disputable path from Windhoek to Auschwitz, in: Central European History 42 (2009), S. 279–300.

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Die NS-Zeit mit ihren Massenverbrechen ist in der österreichischen und deutschen Forschungslandschaft bisher klassisch der Zeitgeschichte zugeordnet worden. Der Fokus der Zeitgeschichte hat sich in den vergangenen Jahren allerdings deutlich von der Nazizeit auf die Nachkriegsgeschichte verschoben – konsequent der klassischen Definition folgend, die die Zeitgeschichte als einen sich stetig auf der Zeitachse bewegenden Abschnitt, als „die Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“ (Rothfels) versteht.4 Durch ein solches generationengebundenes und dynamisches Verständnis von Zeitgeschichte müssen aber notwendigerweise immer wieder Zeiten und damit auch Themen aus ihrem Zuständigkeitsbereich hinten herausfallen. Auch durch epochale politische Umbrüche wird die Zeitgeschichte rhythmisiert: Vor allem für Deutschland schloss das Jahr 1989 die Nachkriegszeit sichtbar ab und machte sie damit komplett einer historischen Evaluation zugänglich, einschließlich der Geschichte des zweiten deutschen Staates, der DDR. Mit dem Sterben der letzten Zeitzeugen würde konsequenterweise auch die Nazizeit endgültig von der Zeitgeschichte in die (neuere) Geschichte übergehen, wobei gerade der schleichende Abschied von der Zeitzeugenschaft die ungeheure Präsenz des Themas in den vergangenen Jahren bedingt zu haben scheint.5 Dabei übersieht das stetige Voranschreiten des Zeithorizonts der Zeitgeschichte jedoch die weiterhin bestehende besondere Bedeutung der Ereignisse im Zusammenhang mit der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik für unsere Gegenwart, die trotz der generationellen Entwicklung und jüngerer historischer Brüche unverändert gegeben ist. Allein ein Blick auf öffentliche Debatten und Diskurse, die sich entweder in kritischer Auseinandersetzung oder aber auch in Abwehr auf die Nazizeit beziehen, lässt diese Tatsache sehr deutlich werden. Diese Vergangenheit betrifft uns noch, was freilich nichts mit den ritualisierten Formen von „Betroffenheit“ zu tun hat.6 Allerdings beinhaltete schon die Zeitgeschichte-Definition Hans Rothfels’ Mitte der 1950er-Jahre eine sachlich-thematische Erweiterung, die sie ein Stück weit stabilisierte, damit aber zugleich in einen nicht leicht auflösbaren Zwiespalt hineinführte: Er sah mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg und der russischen Revolution in den Jahren 1917/18 eine „neue universalgeschichtliche Epoche“ anbrechen. Zeitgeschichte war somit nicht nur an die jeweils Mitlebenden gekoppelt, sondern auch an eine spezifische   4 Hans Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahshefte für Zeitgeschichte 1.1 (1953), S. 1–8, hier 2 (die weiteren Zitate: S.  6 ff.). Vgl. dazu auch Alexander Nützenadel, Wolfgang Schieder (Hg.): Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 20), sowie pointiert Ulrich Herbert: Entwicklungsstand und Perspektiven der deutschen Zeitgeschichtsforschung, in: Jürgen John, Dirk van Laak et al. (Hg.), Zeit-Geschichte. Miniaturen in Lutz Niethammers Manier, Essen 2005, S. 115–123.   5 Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005.   6 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Konzept der „doppelten“ Zeitgeschichte und die Unterscheidung in eine ältere Zeitgeschichte vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sowie eine jüngere Zeitgeschichte nach 1945 bei Karl Dietrich Bracher: Doppelte Zeitgeschichte im Spannungsfeld politischer Generationen, in: Bernd Hey, Peter Steinbach (Hg.), Zeitgeschichte und politisches Bewußtsein, Köln 1986, S. 53–71.

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historische Konstellation. Bei genauer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass für Rothfels nicht die „Antithese Washington – Moskau“ und die „polare Zweiteilung“ nach 1945 im Vordergrund standen, sondern eine viel allgemeinere historische Kondition: „Das Gemeinsame und Neue in alledem ist doch wohl, dass ideologische und gesellschaftliche Bewegungen über Landesgrenzen hin in einem Maße sich auswirken, wie es dem nationalstaatlichen Zeitalter fremd geworden war.“ Zeitgeschichte bedürfe daher „im Prinzip einer Behandlung im internationalen Rahmen“. Rothfels nahm damit schon am Beginn der Nachkriegszeitgeschichte die derzeitige Transnationalisierung der Perspektive vorweg, die jedoch zunächst in den einzelnen Arbeiten kaum eingelöst wurde.7 Erst heute scheint dies ernsthaft der Fall zu sein. Die Nachkriegszeitgeschichte war jedoch weder der Beginn der Zeitgeschichte noch von vornherein ein gesellschaftskritisches Unternehmen. Nach dem Historismus des 19. Jahrhunderts, dem gegenwartsnahe Entwicklungen als Politik, nicht aber als Geschichte galten, nahm die Zeitgeschichtsforschung einen ersten Aufschwung nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, mit den Bemühungen deutscher Historiker zur Widerlegung der im Versailler Vertrag festgeschriebenen These von der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Krieges. Zeitgeschichte wurde damit zunächst als eine nationale Legitimationswissenschaft etabliert, weit entfernt von einem kritischen Wissenschaftsverständnis, wie es uns heute für das Fach fast selbstverständlich erscheint.8 Ganz in dieser Tradition gingen im „Dritten Reich“ – jenseits der Rassenbiologie  – nicht-jüdische deutsche Geistes- und Sozialwissenschaftler daran, mit dem Selbstverständnis als einer „kämpfenden Wissenschaft“ eine antijüdische Forschung zu konstituieren, die sich aus explizit antisemitischer Perspektive mit jüdischer Geschichte und Kultur beschäftigte. Aufgrund ihres Interesses an historischen Lösungsversuchen der antisemitisch konstruierten „Judenfrage“, als vorbildhaft verstanden, wurde von den Nazis eine Art affirmative Antisemitismus- und Holocaustforschung ins Werk zu setzen versucht.9 Entsprechend   7 Astrid M. Eckert: The transnational beginnings of West German ‚Zeitgeschichte‘ in the 1950s, in: Central European History 40 (2007), S. 63–87; Konrad H. Jarausch, Thomas Lindenberger (Hg.): Conflicted memories. Europeanizing contemporary histories, New York / Oxford 2007.   8 Mathias Beer: Hans Rothfels und die Traditionen der deutschen Zeitgeschichte. Eine Skizze, in: Johannes Hürter, Hans Woller (Hg.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 90), S.  159–190. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Peter Schöttler (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, Frankfurt a.M. 1997.   9 Dirk Rupnow: „Arisierung“ jüdischer Geschichte. Zur nationalsozialistischen „Judenforschung“, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 2 (2004), S.  349–367; ders.: Racializing historiography: AntiJewish scholarship in the Third Reich, in: Patterns of Prejudice 42.1 (2008), S. 27–59; ders.: „Judenforschung“ im „Dritten Reich“. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011; Alan Steinweis: Studying the Jew. Scholarly antisemitism in Nazi Germany, Cambridge, Mass. / London 2006; Max Weinreich: Hitler’s professors. The part of scholarship in Germany’s crimes against the Jewish people, New Haven / London 1999 (EA 1946). Vgl. auch die Beiträge in Nicolas Berg, Dirk Rupnow (Hg.): „Judenforschung“  – Zwischen Wissenschaft und Ideologie, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts / Simon Dubnow Institute Yearbook 5 (2006).

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der NS-Rassenlehre wurden nicht nur die Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung rassisiert, sondern auch die Forschungspraxis selbst: Wissenschaftler, die der nationalsozialistischen Definition nach als jüdisch galten, waren von vornherein ausgeschlossen. Wurde dies schon durch die antijüdische Gesetzgebung und Verfolgungspolitik des NS-Systems gewährleistet, so wurde zusätzlich wissenschaftlich zu argumentieren versucht, dass sie nicht objektiv über die eigene Geschichte forschen könnten. Diese Praxis wurde nach dem Krieg letztlich fortgeschrieben, als auch die neu aufgestellte und nach der Niederlage nun gezwungenermaßen demokratisch formatierte deutsche Zeitgeschichte versuchte, jüdische und nicht-deutsche Historiker, die sich früh mit umfangreichen wissenschaftlichen Dokumentationen und Darstellungen der erst kürzlich vergangenen Massenverbrechen zu Wort meldeten, aus den einschlägigen Institutionen, der deutschen Öffentlichkeit und vom deutschen Buchmarkt fernzuhalten. Argumentiert wurde perfiderweise damit, dass gerade die eigene Verfolgungserfahrung den Opfern einen wissenschaftlichen Zugang zum Thema versperren würde. Eine Involvierung aufseiten der Täter wurde andererseits nicht als Problem für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Nazizeit gesehen, vielmehr wurde noch die eigene Erfahrung zur Voraussetzung für einen vorgeblich nüchternen und abgewogenen Blick auf die Geschichte erklärt, der von außen gar nicht möglich sei.10 Hans Rothfels, der selbst von den Nazis als Jude vertrieben worden war und als ursprünglich betont deutschnationaler Historiker und Remigrant aus den USA eine wichtige Brückenfunktion erfüllte, formulierte in seinem programmatischen Aufsatz, die „unabweisbare Verpflichtung gerade der deutschen Wissenschaft, die nationalsozialistische Phase mit aller Energie anzugehen“.11 Was wir uns mittlerweile angewöhnt haben, Holocaust zu nennen, und zeitgenössisch etwa als „Judenmord“ bezeichnet wurde, stand dabei aber zunächst nicht im Mittelpunkt.12 Im Wesentlichen erfüllte die Zeitgeschichte auch nach dem Zweiten Weltkrieg erst einmal eine staatstragende Funktion: Die Massenverbrechen der zwölf Jahre des „Dritten 10 Nicolas Berg: Ein Außenseiter der Holocaustforschung. Joseph Wulf (1912–1974) im Historikerdiskurs der Bundesrepublik, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2003), S. 311–346; ders.: Lesarten des Judenmords, in: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung, Göttingen 2002 (Moderne Zeit, 1), S. 91–139. 11 Zur ambivalenten Rolle Rothfels’ vgl. Nicolas Berg: Hidden memory and unspoken history: Hans Rothfels and the post-war refoundation of German contemporary historical studies, in: Leo Baeck Institute Yearbook 49 (2004), S. 195–220. 12 Vgl. Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, sowie die Beiträge in Johannes Hürter, Hans Woller (Hg.): Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005. Für Österreich vgl. Gerhard Botz: „Eine neue Welt, warum nicht eine neue Geschichte?“ Österreichische Zeitgeschichte am Ende ihres Jahrhunderts, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1.1 (1990), S. 49–76 und 1.3 (1990), S. 67–86; Ernst Hanisch: Die Dominanz des Staates. Österreichische Zeitgeschichte im Drehkreuz von Politik und Wissenschaft, in: Nützenadel, Schieder (Hg.), Zeitgeschichte als Problem, S. 54–77; Oliver Rathkolb: Ludwig Jedlicka. Vier Leben und ein typischer Österreicher. Biographische Skizze zu einem Mitbegründer der Zeitgeschichtsforschung, in: Zeitgeschichte 32.6 (2005), S. 351–370.

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Reichs“ wurden zwar nicht geleugnet oder legitimiert, aber der Fokus war anfangs dennoch nicht auf den Massenmord gerichtet, der uns heute als das Zentralereignis erscheint. Eher gelangte der Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft in den Blick; Täterschaft wurde währenddessen strukturell ausgeblendet oder aber zugespitzt personalisiert, was durchaus den gleichen Effekt hatte, da breite Formen der Tatbeteiligung oder des Profitierens nicht thematisiert werden mussten; den Opfern wurde ohnehin kaum eine Stimme zugestanden. In ganz Europa, auch jenseits von Deutschland und Österreich, wurde der jeweils eigene Anteil an den von Deutschen und Österreichern initiierten Verbrechen ausgeblendet.13 Dies hat sich mit der Zeit geändert, wobei jedoch schwer einzuschätzen bleibt, inwiefern Zeitgeschichte tatsächlich ein kritisches Unternehmen ist. Im englischsprachigen Raum hat sich währenddessen ein sehr viel stärker transdisziplinär vernetztes Forschungsfeld der „Holocaust Studies“ herausgebildet. Deren Ursprung kann am ehesten in den Dokumentaraktionen der Opfer selbst gesehen werden, die als Form des Widerstandes betrieben wurden, als die gegen sie gerichtete systematische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik noch im Gange war. Das bekannteste, wenn auch bei Weitem nicht das einzige Beispiel ist wohl das „Oneg Shabbat“-Archiv im Warschauer Ghetto, das von dem polnischen Historiker Emanuel Ringelblum und einer Vielzahl von Mitarbeitern betrieben wurde.14 Diskriminierung und Restriktionen, Beraubung und Zwangsarbeit, Deportationen und systematischer Massenmord  – alle Phasen und Aspekte der antijüdischen NS-Politik wurden durch amtliche Dokumente und persönliche Papiere, Tagebücher und Fotografien, Plakate, Postkarten und Untergrundpresse dokumentiert. Es entstand ein umfassendes Bild, das öffentliches, wirtschaftliches und religiöses Leben, verschiedene Formen des Widerstands, kulturelle Aktivitäten und persönliche Schicksale innerhalb und außerhalb des Ghettos integrierte. Die Gegenwart der Okkupation sollte umfassend und objektiv dokumentiert werden. Auch die Vorgänge in den Vernichtungslagern, die Massenmorde in den Gaswagen und Gaskammern waren dem Untergrundarchiv bereits bekannt. Allerdings beschränkte man sich keinesfalls darauf, die Verbrechen zu dokumentieren, sondern versuchte darüber hinaus, die Geschichte der jüdischen Gemeinden und der von den Nazis zum Untergang bestimmten jüdischen Lebenswelt zu bewahren. Damit sollte die von den Tätern in ihrem Handeln und auch in ihren antisemitischen Forschungen betriebene Reduktion jüdischer Gegenwart und Geschichte auf Verfolgung und Ausgrenzung, die Reduktion auf einen passiven Opferstatus durchbrochen werden. 13 Tony Judt: The past is another country. Myth and memory in post-war Europe, in: Jan-Werner Müller (Hg.), Memory and power in post-war Europe. Studies in the presence of the past, Cambridge 2002, S. 157–183. 14 Samuel Kassow: Who will write our history? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto, and the Oyneg Shabes Archive, Bloomington / Indianapolis 2007; Dirk Rupnow: Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005, S. 262–278; ders.: Milchkanne, in: Thomas Brandstetter, Dirk Rupnow et al. (Hg.), Sachunterricht. Fundstücke aus der Wissenschaftsgeschichte, Wien 2008, S. 171–176. Vgl. auch Joseph Kermish (Hg.): To live with honor and die with honor. Selected documents from the Warsaw Ghetto underground archives „O. S.“ (Oneg Shabbath), Jerusalem 1986.

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Aber auch im Zentrum des industrialisierten Massenmords, in den Gaskammern und Krematorien von Auschwitz, betätigten sich Mitglieder des jüdischen Sonderkommandos, das den Tätern die unvermeidliche Arbeit der Leichenbeseitigung abnehmen musste, als Dokumentaristen und Geschichtsschreiber. Auch sie beschrieben nicht nur die Deportationen, die Ankunft der Transporte in Auschwitz, den Prozess der Ermordung mit Gas und ihre eigene Tätigkeit im Sonderkommando, sondern überlieferten auch die Geschichte der Ghettos, aus denen die Ermordeten kamen.15 Sie alle schrieben eine Geschichte, zu der sie keine Distanz haben konnten: Sie waren nicht nur Mitlebende, sondern vor allem die Opfer der Umstände, die sie aufzeichneten. Doch bereits in der Unmittelbarkeit der Erfahrung wurden diejenigen Probleme reflektiert, die die Holocaust-Forschung bis heute begleiten: die Unvergleichbarkeit des Verbrechens, die Schwierigkeiten von Erinnerung und Repräsentation, die Grenzen historischen Verstehens, das Nebeneinander von Emotionalität und Nüchternheit, das Verwischen der herkömmlichen Grenzen von Literatur und Geschichtsschreibung. Sogar im Angesicht des Verbrechens und unter dem Druck der Täter war es den Betroffenen möglich, sich hellsichtig und abgewogen mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen und höchst komplexe Einsichten der Nachkriegswissenschaft vorwegzunehmen. Der Anspruch der Objektivität erstreckte sich dabei noch auf eine differenzierende Beurteilung von Deutschen, die man nicht kollektiv als Täter und Feinde wahrzunehmen versuchte. Wie die Arbeiten des Ringelblum-Archivs sind „Holocaust Studies“ transdisziplinär – ein Forschungsfeld mit einem gemeinsamen Gegenstand, aber keine (Sub-)Disziplin mit einer (verhältnismäßig) einheitlichen Methodik wie die Zeitgeschichte. Dabei sind heute die Historiker innerhalb der „Holocaust Studies“ noch nicht einmal mehr unbedingt tonangebend: Innovationsimpulse kommen vielfach von Literatur- und Kulturwissenschaftlern.16 Daneben haben eine ganze Reihe von Nichtwissenschaftlern unser Wissen über den Holocaust entscheidend erweitert. Auch die Nachkriegsprozesse lieferten grundlegende Einsichten in die Vorgänge der Jahre 1933 bis 1945. Zu den „Jewish Studies“, die als Jüdische Studien auch zunehmend im deutschen Sprachraum zu finden sind, stehen die „Holocaust Studies“ in einer äußerst komplexen und ambivalenten Beziehung von Nähe und Distanz.17 So besteht einerseits der Wunsch, die lange jüdische Geschichte nicht vom Holocaust völlig überlagern und ausblenden zu lassen, Juden nicht nur als Opfer und Ermordete wahrzunehmen, das Zusammenleben mit Nichtjuden nicht 15 Nathan Cohen: The diaries of the Sonderkommando, in: Yisrael Gutman, Michael Berenbaum (Hg.), Anatomy of the Auschwitz death camp, Bloomington / Indianapolis 1994, S. 522–534. Vgl. auch Jadwiga Bezwińska, Danuta Czech (Hg.): Inmitten des grauenvollen Verbrechens.  Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos, Oswiecim 1996. 16 Ein gutes jüngeres Beispiel dafür ist die innovative Studie von Michael Rothberg: Multidirectional memory. Remembering the Holocaust in the age of decolonization, Stanford 2009. 17 David Engel: Historians of the Jews and the Holocaust, Stanford 2010; Alan E. Steinweis: The Holocaust and Jewish Studies, in: Peter Hayes (Hg.), Lessons and Legacies, Vol. 3: Memory, memorialization, and denial, Evanston 1999, S. 28–32.

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nur auf Antisemitismus und Verfolgung zu reduzieren, mithin andere Epochen und Zusammenhänge als die Verfolgung und Ermordung während des „Dritten Reichs“ und des Zweiten Weltkriegs zu beleuchten, weshalb Jüdische Studien sich immer wieder von Holocaust-Studien abgrenzen; andererseits aber ist offensichtlich, dass gerade eine vollständige Abkoppelung der Erforschung des Holocaust von Jüdischen Studien Gefahr läuft, die Opfer gesichts- und geschichtslos werden zu lassen und das Geschehen auf eine Episode von zwölf Jahren oder sogar weniger zu verengen. Allerdings konkurrieren mittlerweile verschiedene Gruppen um Aufmerksamkeit und einen Status als Opfer des Holocaust neben den Juden. Das heutige Bild des Verbrechens kennt keinesfalls ausschließlich Deutsche als Täter und Juden als Opfer. Nicht zuletzt durch die symbolischen Formen der Schuldeingeständnisse und Entschuldigungen und die ganz praktischen Versuche, die Verbrechen durch Restitution und Entschädigungsleistungen zu kompensieren, wurde der Holocaust auch darüber hinaus weltweit zu einem Anknüpfungs- und Vergleichspunkt für andere historische und gegenwärtige Massenverbrechen, in der Hoffnung auf Wahrnehmung und „Wiedergutmachung“ oder gegebenenfalls Intervention. Die globale Bedeutung des Holocaust ist nicht nur in der räumlichen Ausdehnung der Ereignisse begründet und spiegelt nicht nur die Tatsache wider, dass fast ganz Europa zum Schauplatz von Diskriminierung, Raub und Massenmord wurde und diejenigen, die rechtzeitig auswandern konnten oder überlebt haben, in alle Welt als Flüchtlinge verstreut wurden; sie ist vor allem die Kehrseite des totalen, alle angenommenen moralischen Schranken negierenden Anspruchs der rassistischantisemitischen Ideologie des Nationalsozialismus, die die damaligen deutschen Massenverbrechen zu einer ethischen Herausforderung in globaler Dimension werden lässt. Die Globalisierung führt aber keineswegs zu einer Homogenisierung, sondern vielmehr verstärkt zu vergleichenden Perspektiven: Innerhalb Europas geraten vor allem die kommunistischen/stalinistischen Verbrechen und ihre Opfer, weltweit andere Massenverbrechen – vor allem Kolonialismus und Sklaverei – in den Blick. Auch die beständige Gegenwart von ethnischen Säuberungen und Genoziden fordert Vergleiche und Parallelisierungen heraus. Obwohl deren Wahrnehmung nicht zuletzt auf eine gestiegene Sensibilisierung durch die Aufarbeitung des Holocaust zurückzuführen sein dürfte, entstehen dabei Konkurrenzsituationen und Konflikte. Unser Verständnis der NS-Verbrechen ist in allen diesen Prozessen vielfältigen Transformationen unterworfen. Es scheint immer unklarer zu werden, worüber wir reden, wenn wir vom „Holocaust“ sprechen, wie wir das Ereignis abgrenzen und was wir inkludieren. Zugleich hat sich ein eigenes Forschungsfeld „Genocide Studies“ etabliert, das zunehmend eine Ausnahmestellung des Holocaust gegenüber anderen Genoziden infrage stellt.18 18 Samuel Totten, Paul A. Bartrop (Hg.): The genocide studies reader, New York / London 2009; Dan Stone, History, memory and mass atrocity. Essays on the Holocaust and genocide, London / Portland 2006, vor allem S. 236– 250; A. Dirk Moses: Toward a theory of critical genocide studies, in: Online Encyclopedia of Mass Violence, URL: http://www.massviolence.org/PdfVersion?id_article=189 (12. 12. 2010).

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Saul Friedländer, der eine der beeindruckendsten jüngeren Gesamtdarstellungen der nazistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, allerdings ausschließlich fokussiert auf die jüdische Erfahrung, vorgelegt hat, hat eine „integrierte Geschichte“ des Holocaust gefordert.19 Er versteht darunter die gleichberechtigte Einbeziehung der deutschen Entscheidungen und Maßnahmen, des Verhaltens von Institutionen und Gruppen in den besetzten Ländern und Satellitenstaaten sowie der jüdischen Wahrnehmungen und Reaktionen in ein umfassendes Gesamtbild, das zudem die Vorgänge auf verschiedenen Ebenen und an verschiedenen Orten miteinander verknüpft. Tatsächlich sollte nicht vergessen werden, dass das, was wir heute – im Blick zurück – zusammenfassend „Holocaust“ oder „Shoah“ nennen, keineswegs ein homogenes, wenn auch ein von einer enormen zeitlichen Geschlossenheit, ja Gedrängtheit geprägtes Ereignis war. Zusammengehalten von der Intention, das Judentum in Europa auszulöschen, setzte es sich aus Vorgängen an teilweise sehr verschiedenen, weit voneinander entfernten Schauplätzen mit sehr unterschiedlichen Ausgangslagen, einem dementsprechend durchaus unterschiedlichen Vorgehen der Deutschen und vor allem unterschiedlichen Reaktionen der lokalen Bevölkerung und der lokalen Judenheiten zusammen – und zeitigt damit auch sehr unterschiedliche Folgen für die Nachkriegssituation und die jeweiligen Erinnerungskulturen. Bedauerlicherweise ist jedoch in der Forschung die Analyse des Holocaust selbst und der an ihn geknüpften Erinnerungen und Repräsentationen zunehmend auseinandergedriftet, so dass sich – vor allem im deutschen Sprachraum, wohl gerade aufgrund des Fehlens eines Zusammenhalts, wie ihn die „Holocaust Studies“ bieten – zwei völlig voneinander getrennte Forschungsbereiche etabliert haben, die kaum miteinander im Gespräch sind. Dabei sind die Verbrechen aus der heutigen Warte ohne die nachfolgenden Wege von Erinnerung und Repräsentation ebensowenig zu verstehen wie die Nachkriegserinnerung ohne eine detaillierte Kenntnis der ihnen vorausgehenden Ereignisse eingeschätzt werden kann. Notwendig ist daher  – über Friedländers engeren Begriff einer „integrierten Geschichte“ hinaus  – auch eine Zusammenführung der ereignis-/politikgeschichtlichen Perspektive auf der einen und der kulturwissenschaftlich-gedächtnisgeschichtlichen auf der anderen Seite. Das Thema „Holocaust“ erfordert eine permanente Integration von Verschiedenem und Gegensätzlichem: Verstehen und Unverständnis, Lokales und Globales, Konkretes und Allgemeines etc. Doch die Ambivalenzen bleiben: Während Holocaust-Studien die richtige Plattform zu bieten scheinen, um ein solch komplexes Bild des Holocaust herzustellen, besteht die Gefahr, dass damit gleichzeitig der Holocaust nicht nur aus der österreichischen und deutschen Zeitgeschichte, sondern auch der österreichischen und deutschen Geschichte insgesamt 19 Vgl. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, 2 Bde., München 1997/2006; ders.: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007; ders.: Eine integrierte Geschichte des Holocaust, in: URL: http://www.bpb.de/themen/ZWPJI2,1,0,Eine_integrierte_Geschichte_des_Holocaust. html (12.12.2010). Zu Friedländers Werk vgl. auch die Beiträge von Alon Confino, Christopher Browning und Amos Goldberg, in: Forum: On Saul Friedländer’s The Years of Extermination, in: History and Theory 48.3 (2009).

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herausgelöst wird. Während die Massenverbrechen in der österreichischen und deutschen Zeitgeschichte immer nur ein Kapitel unter anderem sind, das zunehmend auch in den Hintergrund gerät, wird in den Holocaust-Studien die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, die im systematischen Massenmord gipfelte, zum Ausgangspunkt. Dies mag der Schwerkraft, die dieses historische Ereignis entwickelt hat, angemessen sein, kann zugleich aber einige wichtige Aspekte und Zusammenhänge in den Hintergrund geraten lassen. Ist es unerheblich, in welchem Rahmen und unter welchen Überschriften wir über einen bestimmten Gegenstand forschen? Wohl kaum, denn alle weiteren Möglichkeiten, einschließlich der möglichen Antworten, hängen von den Ausgangsfragen und der Rahmung ab.

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Schuld, Abwehr, Rechtfertigung, Reflex Zur Aufarbeitung der Vergangenheit in Deutschland und Österreich am Beispiel von „NachRichten“ und „Zeitungszeugen“ Im Jänner 2009 beschäftigte die Publikation einer neuen historischen Wochenzeitschrift die historisch und politisch interessierte deutsche Öffentlichkeit.1 Mit der Zeitschrift „Zeitungszeugen“2 des britischen Verlegers Peter McGee erfuhr die nationalsozialistische Tagespresse eine erneute weitläufige Verbreitung an deutschen Kiosken – von der ersten Ausgabe, die Nachdrucke aus der Tagespresse zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Jänner 1933 beinhaltete, wurden immerhin 300.000 Exemplare verkauft. Herzstück der wöchentlich erscheinenden Publikation waren Reprints von Zeitungen aus den Jahren 1933 bis 1945: deutsche Zeitungen (und damit alsbald ‚Nazipresse‘), Exilzeitungen, deutschsprachige ausländische Zeitungen, Druckwerke des antinazistischen Widerstandes etc. Diese Zeitungen erschienen frei entnehmbar in einem Mantelteil liegend, in dem namhafte Expertinnen und Experten3, darunter Gerhard Botz, politische, militärische und soziale Hintergründe erläuterten und die beiliegenden Zeitungen kommentierten. Die deutsche und internationale Öffentlichkeit zeigte sich gespalten, eine Diskussion4 über „die Mündigkeit5 der Deutschen“, fähig zu sein, diese Materialien in ihren historischen Kontext zu setzen, zu verstehen und entsprechend zu interpretieren, entbrannte, zusätzlich angeheizt durch zwei Klagen, die der Freistaat Bayern gegen „Zeitungszeugen“ einbrachte.6 Einerseits wurde dem Verlag Albertas Ltd. London (das ist der britische Verlag von Peter McGee 1 Vgl. dazu etwa Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Berlin 1990; Jürgen Schiewe: Öffentlichkeit. Entstehung und Wandel in Deutschland, Stuttgart 2004; Bernhard Peters, Hartmut Weßler: Der Sinn von Öffentlichkeit, Berlin 2007. 2 URL: http://www.zeitungszeugen.de (01.11.2010). 3 Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats waren: Hans Mommsen, Emeritus der Ruhr-Universität Bochum; Horst Pöttker, Institut für Journalistik der TU Dortmund; Gerhard Botz, Emeritus der Universität Wien; Gabriele Toepser-Ziegert, Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund; Dieter Pohl, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt; Frank Bajohr, Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg; Barbara Distel, ehemalige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau; Wolfgang Benz, Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin; Sönke Neitzel, Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Peter Longerich, Royal Holloway College London. 4 Vgl. dazu etwa http://www.zeitungszeugen.de/pressemeldungen/ (01.11.2010). 5 Vgl. dazu etwa: Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a.M. 1970; Markus Rieger-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädagogischen Semantik, Konstanz 2002. 6 URL: http://www.zeitungszeugen.de/rechtliches/ (01.11.2010). Siehe dazu auch: Protokoll der Anhörung zum Thema „Umgang mit Nachdrucken von NS-Propaganda“ des Ausschusses für Hochschule, Forschung und Kultur im Bayerischen Landtag, 16. Juni 2010, S. 7–10.

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mit Sitz in London) vorgeworfen, Urheberrechte (jene von Joseph Goebbels und Adolf Hitler nämlich) zu verletzen; andererseits wurde gegen den Herausgeber Peter McGee strafrechtliche Anzeige wegen der Verwendung verfassungswidriger Zeichen erstattet. Auch ich fand mich in der Rolle der Chefredakteurin von „Zeitungszeugen“ (und des österreichischen Vorgängerprojektes „NachRichten“) inmitten dieser oftmals harschen Kontroverse.7 Im Jahr zuvor hatte ein ähnliches Projekt in Österreich so gut wie keine negativen Reaktionen hervorgerufen, im Gegenteil. Schon im österreichischen Gedenkjahr 2008 (vor allem zum Gedenken an den vor 70 Jahren erfolgten ‚Anschluss‘ an Deutschland) hatte sich das Herausgeberteam erhofft, mit der Publikation „NachRichten“ einen Diskussionsanstoß zu liefern. Die Medien berichteten hier zwar äußerst positiv über den Start und das Ende des Projektes, allerdings als Teil des offiziellen Gedenkjahr-Kanons, wenig kritisch und kaum hinterfragend. Abgesehen von einer zeitlich begrenzten Ablehnung des ORF, den „NachRichten“-Werbespot zu senden, weil damit Werbung für Nazi-Propaganda verbunden sei,8 und einem internen Disput mit dem Kooperationspartner Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, der mit einer Auflösung der Kooperation endete,9 verlief das Projekt in Österreich fast zu positiv. Warum hatte in Österreich kaum jemand ein Problem mit der Veröffentlichung von nationalsozialistischem Propagandamaterial? Die Verbreitung von ‚Nazipresse‘ im ‚Täterland‘ Deutschland beschäftigte abgesehen von der nationalen Presse auch Reuters, CNN, die BBC und sogar russische Medien (just die Medien der Alliierten des Zweiten Weltkriegs: USA, Großbritannien, Frankreich, Russland). Der deutsche Journalist Marc Felix Serrao brachte die Diskussion, die durch „Zeitungszeugen“ im Jänner 2009 in Deutschland losgetreten wurde, am 25. Jänner 2009 in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Tanz der Teufel“ auf den Punkt:

  7 Die bisher umfassendste Darstellung der Kontroverse um „Zeitungszeugen“ lieferte bisher der Regensburger Fachdidaktiker Christian Kuchler: Die nationalsozialistische Tagespresse, deren Nachdruck in „Zeitungszeugen“ und der Geschichtsunterricht. Gefahr oder Chance für das historische Lernen, in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, hg. von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Themenheft 1 (2010), URL: http://192.68.214.70/blz/eup/01_10_themenheft/index.asp (3. 3. 2011).   8 Der damalige Kommunikationschef des ORF, Pius Strobl, hatte gemeint, man könne im ORF kein Produkt bewerben, bei dem „dann die Oma den ‚Stürmer‘ am Nachtkastl liegen hat“. Julius Streichers extremes antisemitisches Hetzblatt „Der Stürmer” wurde übrigens weder in der österreichischen noch in der deutschen Ausgabe jemals nachgedruckt. Begründet wurde diese Auswahl damit, dass dieses Druckwerk nur von einem kleinen Teil der damaligen Öffentlichkeit jemals gelesen wurde, nicht dem Format einer üblichen Tages- oder Wochenzeitung entsprach und keinen Einblick in das Alltagsleben dieser Jahre geben könne – und mit einer gewissen Rücksichtnahme auf die Überlebenden des NS-Terrors und deren Nachkommen.   9 Das Dokumentationsarchiv verfolgt eine klare Linie, wie Publikationen zur Zeit des Nationalsozialismus zu illustrieren sind, welche Bildquellen in welchem Kontext zu verwenden sind etc. Diese Linie war mit dem Konzept von „NachRichten“ in einigen Fällen schwierig abzugleichen. Diese Diskussionen waren für das weitere Vorgehen bei „NachRichten“, besonders aber bei „Zeitungszeugen“ hilf- und lehrreich und haben die weitere Entwicklung der Publikation positiv beeinflusst.

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Die Debatte hinter der Debatte über McGees ‚Zeitungszeugen‘ aber handelt von der Frage, ob sich die Deutschen noch vor ihrer Vergangenheit beschützen müssen. Es geht dabei nicht um einen Briten, der mit betriebswirtschaftlichem Kalkül ein deutsches Verbot ignorieren wollte. Es geht um das ganze alte Zeug: Nazi-Presse, Nazi-Bücher, Nazi-Poster, sogenannte ‚Vorbehaltsfilme‘ wie ‚Jud Süß‘ oder ‚U-Boote westwärts!‘ und natürlich das deutsche Necronomicon10 schlechthin: Hitlers ‚Mein Kampf ‘. All das ist nicht verboten, aber bis heute auch nicht richtig erlaubt. Ein Buch wie ‚Mein Kampf ‘ darf man besitzen, neu auflegen darf es aber hierzulande noch bis zum 31. Dezember 2015 keiner. Ein antisemitisches Propagandawerk wie ‚Jud Süß‘ darf man sich ansehen, aber nur in geschlossener Gesellschaft und nach einem kritischen Vortrag. Die Frage nach dem Sinn solcher Vorsichtsmaßnahmen wurde so oft gestellt, dass viele der alten Diskutanten in diesen Tagen nur noch matt abwinken. Doch vielleicht ist das geplante ‚Zeitungszeugen‘-Verbot ja genau der richtige Anlass, um noch einmal grundsätzlich über böse deutsche Wörter und den richtigen Umgang mit ihnen zu diskutieren.11

Serrao ist damit ein typischer Vertreter des deutschen Feuilletons, der nüchtern und distanziert über die Causa berichtet, der einige der Mechanismen, die hinter diesen Reaktionen standen, erkannt und auf diese reagiert hat, anstatt wie manch andere Beteiligte gleich Pawlow’schen Hunden ausschließlich hysterischen Abwehrgeifer zu produzieren. Andere Publizisten zeigten durch ihre Reaktion auf den Nachdruck von NS-Pressewerken deutlich, wie groß die Angst vor der Nazi-Propaganda nach wie vor ist. Auf einige dieser Mechanismen, die Serrao in seinem Beitrag skizzierte, möchte ich im Folgenden eingehen.

Meinungsforschung im Vorfeld von „NachRichten“ und „Zeitungszeugen“ Für diesen Aufsatz möchte ich Umfragen als Quelle verwenden, die im Zuge der Vorbereitung der Projekte in Österreich und Deutschland entstanden sind und bei deren Betrachtung und Interpretation sich deutlich zeigt, dass die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf die Publikationsreihe „Zeitungszeugen“ völlig andere waren als die österreichischen Reaktionen auf den Vertrieb von „NachRichten“ im Gedenkjahr 2008. Aus der Analyse der Umfragen geht mitunter auch hervor, dass die ‚Vergangenheitsbewältigung‘ der beiden Länder mit ihrer gemeinsamen Geschichte zwar über weite Strecken parallel verlief, der österreichische Weg aber zahlreiche (vereinfachende) Abzweigungen nahm. 10 Das Necronomicon gilt als das gefährlichste Buch, das jemals geschrieben worden ist; eine Art dämonische Kosmologie. 11 Marc Felix Serrao: Tanz der Teufel, in: Süddeutsche Zeitung (26. 1. 2009), URL: http://www.sueddeutsche.de/ kultur/projekt-„Zeitungszeugen“-tanz-der-teufel-1.481445 (26. 1. 2011).

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Fokusgruppeninterviews I: Österreich Zur Vorbereitung der Publikation „NachRichten“ sprach Herausgeber Peter McGee mit zahlreichen österreichischen Zeithistorikerinnen und Zeithistorikern, Publizisten und Medienwissenschaftlern, Vertretern der jüdischen Gemeinde (Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg und dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Ariel Muzicant), von Bild- und Filmarchiven, Medienmachern und auch Vertretern populärer Geschichtsvermittlung in Österreich wie Hugo Portisch. Eine weitere Methode, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Nachdrucke von NS-Presse in Österreich aufgenommen werden würden, waren von Psychologen geführte Fokusgruppeninterviews. Im Oktober 2007 führte die für die Medienagentur MediaCom tätige Psychologin Julia Rohner mehrere Gruppeninterviews, in denen Männer und Frauen,12 eingeteilt nach Altersgruppen, zu ihren Lese- und Sammelgewohnheiten befragt wurden. Fragen über ihr grundsätzliches Interesse an Geschichte führten schließlich zum persönlichen Bezug zur Geschichte der Jahre 1938 bis 1945. Anschließend konfrontierte Frau Rohner die Probanden mit einem Dummy, also einem ersten Entwurf der späteren Zeitschrift. Der Arbeitstitel lautete damals noch „Kriegsblätter“ – eine Idee, die nach diesen Interviews sehr schnell fallen gelassen wurde, weil der Begriff  ‚Krieg‘ bei allen Testpersonen ausschließlich negativ besetzt war – nach meiner Interpretation vermutlich ein Phänomen in jenen Ländern, die als  ‚Täterländer‘ gelten und die den betreffenden Krieg verloren haben.13 Die Auswertung der Videointerviews14 brachte überraschende Reaktionen zutage. Waren die Interviewten zu Beginn der Gespräche noch entspannt und locker gewesen, verkrampften sie sich bei der Frage zur Zeit des Nationalsozialismus merklich. Viele lehnten sich zurück, verschränkten die Arme vor dem Körper und fingen an, nicht mehr die Fragen zu beantworten, sondern stattdessen Gegenfragen zu stellen. Julia Rohner formulierte dies so: „Die Gruppen wurden eigenartig nervös, die Unmöglichkeit, etwas einzugestehen, für das sie ja nicht verantwortlich waren, verursachte Hilflosigkeit und Verwirrung.“ Ab diesem Zeitpunkt wurden die Interviews von drei Themen beherrscht: Schuld, Rechtfertigung und Verteidigung. Viele der Testpersonen gaben an, sich besonders für die Geschichte der alten Römer, Ägypten und die Habsburger zu interessieren. Es kam heraus, dass Geschichte einerseits als Identifikationspunkt dient, man stolz auf einzelne Abschnitte der österreichischen Geschichte ist, dass es aber andererseits blinde Flecken auf dieser historischen Landkarte gibt. Immer wieder wurde der mangelhafte Geschichtsunterricht in der Schule für diese blinden Flecken verantwortlich gemacht: 12 Befragt wurden mehr Männer als Frauen, weil das Interesse an Produkten und Publikationen zu Geschichte bzw. zum Zweiten Weltkrieg erfahrungsgemäß bei Männern weit größer ist als bei Frauen. 13 „Kriegsblätter“ entsprach dem Titel der Vorgängerprojekte des Verlags Albertas Ltd. von Peter McGee: De Oorlogskranten (Belgien, Niederlande); Krisaviserne (Dänemark); Krisavisene (Norwegen); Sodan Lehdet (Finnland); Polemikos Typos (Griechenland); Diarios de la Guerra (Spanien). 14 Alle folgenden Zitate und Hinweise stammen aus der Studie: Results „Kriegsblätter“. Qualitative Research. MediaCom, 5. Oktober 2007 (Powerpoint-Präsentation, Archiv Sandra Paweronschitz).

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Meine Lehrer hörten auf, uns irgendetwas, das nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gekommen wäre, beizubringen, weil sie Angst davor hatten, missverstanden zu werden. Das Thema war ziemlich delikat und es fiel ihnen schwer, neutral und objektiv darüber zu sprechen.

Viele wiesen darauf hin, wie wichtig es wäre, auch diese Teile der Geschichte Österreichs zu kennen, um zukünftig aus Fehlern zu lernen, gaben gleichzeitig aber zu, weder in der Schule ausreichend über den Nationalsozialismus informiert worden zu sein noch sich mit der eigenen Familiengeschichte jemals wirklich befasst zu haben. Die jüngeren Interviewten wiederum gaben an, in einer Art und Weise mit dem Thema konfrontiert worden zu sein, als ob man sie dumm und unmündig einschätzte. Die Psychologin zog daraus den Schluss, dass es enorm wichtig sei, unverfälschte Informationen, wie dies die nachgedruckten Zeitungen seien, zur Verfügung zu stellen, um genau diesen Gruppen die Möglichkeit zu bieten, sich selbst ein Bild zu machen. Angesprochen würden sich genau jene Personen fühlen, die das Gefühl hätten, dass „politische Korrektheit“ über historischer Wahrheit stehen würde. Gleichzeitig würde die Publikation den Historikerinnen und Historikern die Möglichkeit bieten, eine Leserschicht anzusprechen und abzuholen, die sonst kaum zu erreichen sei. Diese Erkenntnis sollte später das Schlüsselthema in der Kommunikation der beiden Publikationsreihen werden. Zusammenfassend ergaben die Interviews, dass der Nationalsozialismus nach wie vor ein Tabu darstellt: „Österreicher müssen da echt vorsichtig sein – sie senken die Stimme, wenn sie darüber sprechen.“ Gleichzeitig war ein deutliches Interesse der Befragten am Schicksal der eigenen Eltern und Großeltern zu erkennen. Was hätten diese erlebt und warum hätten sie nie über diese Erlebnisse gesprochen? Das größte Interesse der Interviewten galt aber dem Alltagsleben in den 1930er- und 1940er-Jahren. Speziell die Seiten der Zeitungsnachdrucke, die das Leben jener Jahre abseits von Politik und Weltgeschichte spiegeln, faszinierten die Probanden. Vielfach wurde der Eindruck manifest, dass Sozialgeschichte, Mikro- und Makrogeschichte, wie sie an Universitäten und in anderen Einrichtungen beforscht und gelehrt wird, längst noch nicht in die breite Öffentlichkeit vorgedrungen ist, im Gegenteil: Die Art und Weise, wie zeitgeschichtliche Themen bei der breiten Bevölkerung angekommen sind und ankommen, entspricht einem Geschichtsbild, das aussieht, als wären die letzten 20 oder 30 Jahre zeithistorischer Forschung inexistent, als hätten historische Kontroversen niemals stattgefunden.

Historikerstreit der schweigenden Mehrheit Auch waren in den Interviews, die im Vorfeld der Publikation von „NachRichten“ durchgeführt wurden, Aussagen getätigt worden, dass „nicht alles schlecht war“ am Nationalsozialismus und der Hitler-Diktatur  – eine weit verbreitete Annahme, wie zuletzt der deutsche Historiker Wolfgang Wippermann, ausgehend von den umstrittenen Aussagen der deutschen TV-Moderatorin Eva Herman, treffend aufgezeigt hat. Dazu schreibt Wippermann:

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Am aktuellen Historikerstreit beteiligten sich aber keineswegs nur Historiker, Journalisten oder sonstige Meinungsmacher, sondern Massen, die vermeintlich die ‚Mehrheit des Volkes‘ vertraten; sie taten dies in einem neuen und bisher nicht gekannten Ausmaß. Daher kann von einem ‚Historikerstreit der schweigenden Mehrheit‘ gesprochen werden. In ihm ging es aber nicht um die Verbrechen Hitlers, die im Laufe des ‚Historikerstreits‘ vor 20 Jahren mit denen Stalins verglichen und aufgerechnet wurden, sondern um die Verdienste Adolf Hitlers, die er sich trotz allem erworben habe – unter anderem durch den Bau der Autobahn und die Förderung der Familie. Darüber sowie über die sonstigen ‚Werte‘, die anders als heute im Dritten Reich bewahrt worden seien, müsse man jedoch schweigen, weil die Presse ‚gleichgeschaltet‘ und die Öffentlichkeit von den ‚68ern‘ und ‚den Juden‘ kontrolliert werde. Dies mündet in der Vermutung, dass sich der von 68ern und Juden kontrollierte Mainstream gegen diese Mehrheit verschworen habe. Gegen diese konspirativen Machenschaften solle sich das Volk auflehnen und Widerstand leisten.15

Dieselben Erkenntnisse brachten auch die Interviews im Vorfeld von „NachRichten“ und „Zeitungszeugen“: Man vertraut den Historikerinnen und Historikern nicht, sondern unterstellt der Zunft im Gegenteil Manipulation bis hin zu „alliierter Propaganda“. Verlangt wird dagegen ausdrücklich „Information aus erster Hand“, also objektive, von politischen Zielen unabhängige Geschichtsschreibung.

Faszinosum Hitler vs. Angstvermeidung Obwohl viele der Probanden in den Interviews ungefilterte Informationen ohne politische Motivation eingefordert hatten, fiel die Reaktion auf das Produkt selbst eher verhalten, vorsichtig und ängstlich aus. Dieselben Testpersonen, die gerade noch großspurig falsch verstandene politische Korrektheit kritisiert hatten, verlangten beim Anblick der Zeitungsnachdrucke plötzlich nachdrücklich Expertenkommentare, also eine Leseanleitung, um diese Materialien in einen Kontext einordnen zu können. In zahlreichen Statements kam die Angst zum Ausdruck, das Material könne für „die Braunen“, also Neonazis und die extreme Rechte, verführerisch sein.16 Einige Leute würden die Edition „wirklich interessant finden“, für „Fanatiker wäre diese 15 Wolfgang Wippermann: Autobahn zum Mutterkreuz. Historikerstreit der schweigenden Mehrheit, Berlin 2008. 16 Heribert Schiedel vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Experte für die extreme Rechte in Österreich, der die Aktivitäten und Methoden dieser Gruppen seit Jahren untersucht und verfolgt, hat eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, die besagt, dass in keiner einzigen Publikation oder Flugschrift aus diesem Milieu „NachRichten“ eine positive Erwähnung oder Kaufempfehlung gefunden hätte. Clemens Lückemann, Generalstaatsanwalt in Bamberg, gab am 16. Juni 2010 in einer Anhörung zum Thema „Umgang mit Nachdrucken von NS-Propaganda“ des Ausschusses für Hochschule, Forschung und Kultur im Bayerischen Landtag zu Protokoll: „[…] in tatsächlicher Hinsicht ist kein Fall bekannt geworden, dass Rechtsextremisten zum Beispiel den ‚Völkischen Beobachter‘ oder ein NSDAP-Plakat aus dem Mantelbogen des ‚Zeitungszeugen‘ entnommen und ihrerseits im Sinne von § 86 a StGB zum Beispiel öffentlich verwendet oder verbreitet hätten […].“

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aber Wasser auf ihre Mühlen“. Gleichzeitig wurde nochmals betont, dass diese Kommentare absolut neutral zu gestalten seien, eine Betrachtung eines Themas aus mehreren Blickwinkeln sei ebenfalls erstrebenswert. Die Edition sei „wirklich anders, denn eigentlich ist es ja noch immer verboten, über diese Themen zu reden“. Einerseits wurden mit den Interviews also zahlreiche Ressentiments an die Oberfläche geschwemmt und antisemitische Vorurteile und Verschwörungstheorien ausformuliert. Andererseits wurden genau diese Vorurteile nur der extremen Rechten zugeordnet und von so gut wie allen Probanden weit von sich gewiesen. Der tabubehaftete Umgang mit dem Thema Nationalsozialismus führt also dazu, Schuld deutlich von sich zu weisen, noch bevor man sich ehrlich mit den eigenen Ansichten, Vorurteilen, dem persönlichen Wissensstand, den tradierten Halbwahrheiten etc. auseinandergesetzt hatte. Julia Rohner konstatierte in ihrer Auswertung, dass besonders ältere (55+) und jüngere (25 bis 35 Jahre) Menschen auf die Publikation ansprechen würden – allerdings aus völlig unterschiedlichen Motiven: Für die älteren würde im Mittelpunkt stehen, anhand der Lektüre der Zeitungen einen Prozess der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ zu durchlaufen bzw. dadurch eine Art „Absolution“ zu erhalten. Sie würden in den Nachdrucken nach Entschuldigungen, Erklärungen, Selbstverteidigungsargumenten suchen. Für die jüngeren Generationen läge das Hauptinteresse darin, zu erfahren, welche Informationen ihren Eltern, Groß- und Urgroßeltern zur Verfügung standen, auf deren Basis diese ihre Wahrnehmung des nationalsozialistischen Systems aufbauten. Gleichzeitig möchten sich die jüngeren Leserinnen und Leser ein besseres Verständnis für die älteren Generationen erarbeiten, die vielfach nicht oder kaum über ihre Erfahrungen in den Jahren 1938 bis 1945 (bzw. den Ständestaat und die Nachkriegsjahre) gesprochen haben. Ein Aspekt der Befragung behandelte ein mögliches Testimonial, also eine Person bzw. eine Gruppe, die in Werbung und Außenkommunikation diese Publikation nach außen repräsentieren könnte. Die Psychologin fand heraus, dass dieser Person eine Schlüsselrolle in der Vermarktung der Reihe zukommen würde, weil diese den potenziellen Leserinnen und Lesern quasi die Erlaubnis erteilen kann/soll, sich mit diesen Materialien auseinanderzusetzen. Diese Person solle den Nimbus, in einer anbiedernden, positiv-assoziierenden Art und Weise Interesse am Nationalsozialismus zu zeigen, von der Leserschaft nehmen. Das Testimonial sollte Glaubwürdigkeit, großes Wissen und Verlässlichkeit symbolisieren. Interessant sind die Personen, die den Interviewten für die Besetzung dieser Rolle einfielen: Unangefochten an vorderster Stelle fand sich in allen Gruppen Hugo Portisch, der wie kein anderer in Österreich für populäre Geschichtsvermittlung steht. Weitere Namen waren: Bundespräsident Heinz Fischer, jemand wie der (damals bereits verstorbene) ORF-Journalist und ZiB2-Anchorman Robert Hochner, der Schauspieler Karl Merkatz,17 der frühere Wiener Bürgermeister Helmut Zilk, der Schauspieler Peter Weck und der frühere Direktor des Heeresgeschichtlichen Muse-

17 Wenige Tage vor den Interviews wurden die Bockerer-Filme im ORF ausgestrahlt.

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ums Wien, der Historiker Manfried Rauchensteiner.18 Die Konstruktion von Geschichte wird also direkt eingefordert, (re-)präsentiert werden soll diese von einem Mann in der zweiten Lebenshälfte, dessen Aufgabe darin besteht, den Leserinnen und Lesern überhaupt einmal die Erlaubnis zu erteilen, sich mit nationalsozialistischen Quellen zu beschäftigen.

Fokusgruppeninterviews II: Deutschland Mit den Erfahrungen des Jahres 2008 in Österreich wurden Ende desselben Jahres in Köln ebenfalls mehrere Gruppeninterviews durchgeführt. Ziel der Untersuchung war es, die deutsche Ausgabe in Dummy-Version zu testen im Hinblick auf Akzeptanz des Konzeptes, die Motivationen und Barrieren bzw. Tabus, die Zeitung zu lesen und sie weiterzuempfehlen. Ebenfalls sollten verschiedene Namen für die Zeitung getestet und die Frage beantwortet werden, wie groß das Kauf- und Lese-Interesse an einer wöchentlichen Ausgabe wäre. Als Analyse-Konzept wurde qualitative Markt- und Medienpsychologie (Scherenanalyse, zerdehnte Exploration) angewendet.19 Für diejenigen, die bereits am österreichischen Projekt beteiligt gewesen waren, zeigte sich deutlich, dass die deutschen Interviewten einen völlig anderen Bezug zu der Verantwortung dem Nationalsozialismus gegenüber hatten als die österreichischen. Die Grundaussage: Deutschland müsse sich als ‚Täterland‘, angefangen bei den Kriegsverbrecherprozessen der Nachkriegszeit bis zur Skepsis vor der deutschen Wiedervereinigung, seinem Erbe viel deutlicher stellen. Die Moderatorin der Gespräche, die Psychologin Barbara Grohsgart, mit einer speziellen Ausbildung in tiefenpsychologischen Explorations- und Analyse-Techniken,20 konstatierte für diese Gruppe ein klares Bekenntnis zu den Verbrechen des Nationalsozialismus, gleichzeitig aber einen souveränen Abstand von der Schuld. Diese Gruppe würde sich persönlich unschuldig, aber zu Unrecht belastet fühlen. Relativiert würde diese Schuld durch die Aufrechnung der Taten anderer Länder, etwa der Vereinigten Staaten: „Die USA haben auch zig Kriege geführt.“

Generationssprünge Auch in Deutschland zeigte sich anhand der Alterssamples deutlich, dass sich die einzelnen Generationen in ihrem Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus deutlich unterschei18 Die Tatsache, dass keine einzige Frau und keine Person unter 55 Jahren Erwähnung fand, lässt meiner Meinung nach Rückschlüsse über das Obrigkeits- und Autoritätenbild der Probanden zu. 19 Die Auswahl der Probanden wurde hier nach folgenden Kriterien getroffen: Mittlerer Bildungsgrad, Lektüre einer Zeitung mindestens zweimal die Woche, lesen von mindestens drei Büchern jährlich, gelegentlicher Konsum von Guido-Knopp-Dokumentationen im Fernsehen, grundsätzlich interessiert an Nachrichten und Geschichte, keine Experten, keine Arbeitslosen, Eltern und Großeltern sollen in Deutschland gelebt haben. 20 TRANSFORM – Wirtschaftspsychologische Beratungsgesellschaft B.R., Dipl.-Psychologin Barbara Grohsgart, Köln. URL: http://www.transform-koeln.de/index.html (26.01.2011).

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den. Die ältesten männlichen Interviewten entsprachen den Jahrgängen 1948 bis 1958. Bei diesen Gruppen war das historische Wissen teilweise enorm, die Äußerungen zum aktuellen Lebensgefühl waren von Selbstzufriedenheit und Sicherheit geprägt („Mir geht es gut.“ „Haben wir kein Geld mehr, dann haben wir gut gelebt.“) Bei der Frage zur persönlichen Lebenssituation zogen diese Testpersonen vielfach den Bogen zu Fremdenangst und Ausländerproblematik („zu viel Multikulti“; „wir werden überrannt“; „nur fremde Sprachen auf der Fußgängerzone“). Die Gruppendynamik führte aber rasch dazu, dass diese Debatten im Kern erstickt wurden, es wurde relativiert und entschärft. Bei der Weiterleitung zur Diskussion um die Haltung zur deutschen Geschichte war das Ausländerthema aber gleich wieder präsent. So wurde in dieser Gruppe das mangelnde deutsche Nationalbewusstsein beklagt, der Moscheenbau in Köln einstimmig kritisiert („in Istanbul dürfen wir auch keinen Dom bauen“; „das nimmt überhand“) sowie die Einwanderungspolitik kritisiert („In die Schweiz und die USA darf man nur mit Arbeitserlaubnis“). Als das Gespräch auf die Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 kam, stand der Begriff ‚Schuld‘ im Mittelpunkt der Diskussion. Es war die Rede von einem „deutschen Schuldkomplex“, von einem „Krieg, der nie endet“. Und: „Wir sind immer die Bösen!“ Ebenso wie in Österreich wurde auch hier aufgerechnet und relativiert: „Ohne mit der Wimper zu zucken haben andere Blutbäder angerichtet und Völker vernichtet.“ Und gerade auch in Deutschland wurde über Adolf Hitlers „Verdienste“ diskutiert. So wurden Aussagen getroffen, dass es Deutschland „vor dem Krieg besser ging als jemals zuvor“, dagegen wurde das Argument „aber nur wegen der Rüstung“ gesetzt, und – unverzichtbar in all diesen Kontroversen – wurde auf die Autobahn als Leistung des NS-Regimes verwiesen. In der Auswertung dieser Gruppe verweist die Psychologin auf die „heile Welt“, in der diese Männer groß geworden waren. Sie hätten vom deutschen Wirtschaftswunder profitiert, ohne für dieses kämpfen zu müssen. Sie waren am Zweiten Weltkrieg nicht beteiligt gewesen, trotzdem säße ihnen die „kollektive Schuld“ im Nacken. Diese Generation zeigte sich stark an Krieg, Politik, Strategie und Technologie interessiert – typisch für Männer, die nie im Kampfeinsatz waren. Diese Gruppe fand sich schnell in Diskussionen um Themen wie Schuld, Vorurteile, Antisemitismus und Wiedergutmachung verwickelt, die eigentlich tabuisiert sind und die üblicherweise nicht unbeschwert vor Menschen erörtert werden, die man zum ersten Mal in seinem Leben getroffen hat – noch dazu in einer Interviewsituation, von der man weiß, dass diese beobachtet, interpretiert und ausgewertet werden wird. Was Barbara Grohsgart den Männern dieser Gruppe ebenfalls unterstellte, war eine starke, heimliche Attraktion der Zeitschrift. Mit dieser Einschätzung bestätigte die Psychologin eine Befürchtung der Wochenzeitschrift „Die Zeit“, die im Februar 2009 schrieb: Ob es [der Nachdruck von NS-Presse, Anm.] seine toxische Wirkung heute noch entfalten kann, mag ungewiss sein. Wahrscheinlich ist aber, dass die ‚Zeitungszeugen‘ gar kein Geschäftsmodell abgäben, wenn sie nicht auf ein massenhaftes, verstohlen gieriges Interesse

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spekulierten. Die aufklärerisch-didaktische Rechtfertigung, die der englische Herausgeber dem bayerischen Verbot folgen ließ, erinnert ein wenig an die augenzwinkernden moralisch besorgten Eingangsbemerkungen, die seinerzeit dem pornographischen ‚Schulmädchenreport‘ vorangestellt wurden. […] Noch längst nicht alle sind so abgebrüht und spät geboren, dass sie den Anblick solcher Zeitungen, diese massenhafte Verteilung und Verkauf ohne Schock ertragen würden. Vielleicht wäre es doch nicht zu viel verlangt, vom Verleger den Verzicht auf sein Experiment zu verlangen aus Erbarmen mit den Opfern und ihren Angehörigen.21

Ein gänzlich anderes Bild ergab die Befragung der Männer der Jahrgänge 1968 bis 1978. Diesen Männern war laut psychologischer Auswertung eine bedrückende resignierte Grundstimmung gemein. Alle Angehörigen dieser Gruppe klagten über Macht- und Mutlosigkeit, berichteten über Trennungen, finanzielle Probleme, ein „eingeengtes“ und „bedrückendes“ Lebensgefühl, viele äußerten auch den Wunsch, auszuwandern und Deutschland zu verlassen. („Der Deutsche ist kein euphorischer Mensch.“) Bei diesen Interviewten fiel besonders auf, dass sie den Begriff ‚Nationalsozialismus‘ nicht in den Mund nahmen, sondern so gut wie ausschließlich über die Epoche des ‚Zweiten Weltkriegs‘ sprachen, womit die ersten sechs Jahre des NS-Regimes ausgeblendet blieben, als hätte alles Übel erst mit Ausbruch des Krieges begonnen. Neuere Forschungen zu den Nachwirkungen der deutschen ‚Volksgemeinschaft‘ zeigten ebenfalls, dass es nach 1945 viel weniger um die Nachwirkungen des nationalsozialistischen Regimes als um die Folgen des Krieges ging. Dieses Phänomen wirkt offensichtlich bis heute nach. Die säuberliche Trennung zwischen ‚Drittem Reich‘ und Zweitem Weltkrieg hatte gravierende Konsequenzen für das kulturelle Koordinatensystem deutscher Städte und Kommunen: Denn eine im Krieg bewährte ‚Schicksalsgemeinschaft‘ blieb lange Zeit das Leitbild lokaler Wiederaufbaugesellschaften.22

Hier aber sind die deutlichsten Unterschiede zu den Interviews in Österreich festzumachen. In den Statements der österreichischen Probanden waren Aussagen wie „Das gehört zu mir“ oder „Das ist ein Teil von uns“ kein einziges Mal zu hören. Jeder dieser Männer konnte von Erlebnissen berichten, in denen er bereits als Kind oder Jugendlicher für diesen ungeliebten Teil der deutschen Geschichte büßen, Beschimpfungen und Verachtung ertragen musste. Man wurde

21 Jens Jessen: „Zeitungszeugen“. Wie viel Aufklärung verspricht der Nachdruck von Nazi-Blättern?, in: Die Zeit 7 (5. 2. 2009), URL: http://www.zeit.de/2009/07/Zeitzeugen (2. 3. 2011). 22 Malte Thießen: Schöne Zeiten? Erinnerungen an die „Volksgemeinschaft“ nach 1945, in: Frank Bajohr, Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 165–187, hier 171.

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„mit Heil Hitler empfangen“ oder „als achtjähriges Kind durch die Holocaust-Ausstellung23 gejagt“ und hatte danach Albträume. Deutsche wären in Urlaubsorten beschimpft, ihre Autos mit Eiern beworfen worden. Auch diese Gruppe versuchte mit Relativierungen und Distanzierungen diese Schuld abzuwehren, dazu wurden wieder die Missetaten anderer aufgerechnet („Die anderen haben auch Dreck am Stecken“; „haben Blutbäder angerichtet“). Insgesamt reagierten diese Probanden, die hilflos („aber damit müssen wir leben“) und überstrapaziert wirkten, mit massiver Abwehr: „Das kotzt mich an!“ „Kein Bock mehr auf diese Schuldfrage!“ „Können wir dieses Thema nicht einfach vergessen, dann ist es auch nicht passiert?“ Die Psychologin konstatierte für diese Gruppe, dass diese seelisch wie politisch in der Klemme stecke – machtlos zwischen schandvoller deutscher Vergangenheit und einem Mangel an attraktiver Zukunftsperspektive. Ein wiederum völlig anderes Bild ergaben die Befragungen der jüngeren Männer der Jahrgänge 1978 bis 1988. Aufgrund der unabhängigeren Lebensformen vermittelte diese Proban­ dengruppe ein weitaus entspannteres Lebensgefühl. Bei dieser Interviewgruppe war der Nationalsozialismus bei der Frage nach „deutscher Geschichte“ neben dem Ersten Weltkrieg und der Wiedervereinigung sofort Thema. Aussagen wie „Deutschland hat Scheiße gebaut“ oder „da ist viel schiefgelaufen“ waren gerade bei den jüngeren typisch und häufig. Die Distanzierung dieser Gruppe zum Geschehen der 1930er- und 1940er-Jahre war weit größer und souveräner, wenngleich eine von ihnen empfundene Rechtfertigungspflicht auch hier eine große Rolle spielte („Man muss sich rechtfertigen, kann aber nix dafür!“). Deutlich wurde bei dieser Gruppe die Überzeugung, dass die „Schuld längst gesühnt“ worden sei und man es deshalb leid sei, dass „auf den alten Themen zu viel drauf rumgetrampelt wird, das hemmt Entscheidungen für die Zukunft“. Es wurde kritisiert, dass man sich in der Schule „ewig an dem Thema aufgehalten hat“ und „beim Zweiten Weltkrieg stehen geblieben“ war. Die Psychologin kommt in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass die seelischen Wunden des Nationalsozialismus bei den 20- bis 30-Jährigen verjährt sind und verheilt wirken. Deutlich wurde bei diesen Probanden auch das Wiedererlangen eines gesunden deutschen Stolzes, festzumachen an den positiven Erfahrungen der Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Diese Männer forderten nicht nur „wir brauchen ein neues Selbstbewusstsein“, sondern stellten damit auch einen autonomen, interessierten Anspruch an geschichtsvermittelnde Medien. Wichtig wäre vor allem, „sich selbst eine Meinung [zu] bilden“.

Die Strategien der Frauen Die in Köln ebenfalls befragte Gruppe der Frauen entsprach einem größeren Altersspektrum, es handelte sich um Vertreterinnen der Jahrgänge 1958 bis 1978. Die Grundstimmung, die diese Frauen ausstrahlten, kann mit den Worten zuversichtlich, pragmatisch und lebenstüchtig beschrieben werden. Praktischer Realitätssinn zählte für diese Probandinnen mehr als Idealismus. Es ist bemerkenswert, dass dieselben Strategien, die diese Frauen zur Bewältigung 23 Vermutlich wurde hier auf die Fernsehserie „Holocaust“ Bezug genommen.

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ihres Alltags herangezogen haben, offensichtlich auch angewendet wurden, wenn es um den Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus ging. Fast alle Frauen dieser Gruppe mussten emotional negativ empfundene Erfahrungen machen – sei es, weil der Nationalsozialismus „in jedem Fach bis zum Erbrechen“ durchgenommen worden sei, sie als Deutsche beschimpft worden seien oder das „wahnsinnige Schuldbewusstsein“ Einfluss auf ihr Leben genommen hätte. Im Gegensatz zu den Männern reagierten die Frauen auf diese Einflüsse aber gelassener, distanzierten sich von der Schuld („Wir müssen uns nicht ducken.“) und versuchten, diese Erkenntnisse auf ihr gegenwärtiges Leben anzuwenden. Übertragen auf die Gegenwart stellten diese Frauen Fragen wie: „Wie wäre es heute? Würden wir uns einmischen?“ „Oder würde jeder seinen Arsch retten, wenn es um den Job und um die eigenen Kinder geht?“ Für die Frauen, die offensichtlich einen Großteil der Erziehungsarbeit leisten, ging es auch darum, Parallelen zu ziehen, für das Leben zu lernen, zu verstehen und die richtigen Fragen bei der Erziehung der eigenen Kinder zu stellen. Dabei fielen Aussagen wie „Wie schnell entsteht Fremdenhass!“ „[…] kann man in einen Strudel geraten“, „[…] in den Bann gezogen werden“. „Wehret den Anfängen!“. Und obwohl die erste Reaktion, als Barbara Grohsgart das Thema Nationalsozialismus erwähnte, Ablehnung war, zeigten sich die Frauen an den Zeitungsnachdrucken extrem inte­ ressiert. Die Verwendung im Schulunterricht ebenso wie für die Geschichtsvermittlung an die eigenen Kinder wurde thematisiert.

Resümee Österreich versteckt sich  – trotz der Waldheim-Debatte und all ihren Nachwirkungen  – nach wie vor hinter der Opfer-These und der Annahme, als offiziell ‚erstes Opfer‘ des Nationalsozialismus mit ‚all dem nichts zu tun zu haben‘. Zwar hat sich in den fast 25 Jahren seit der Waldheim-Debatte vieles verändert; Diskurse wie jene um die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“, um die Entschädigung von Zwangsarbeitern, die Einrichtung des National- und Entschädigungsfonds, Restitution und Wiedergutmachung etc. veränderten den kollektiven Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus auch in Österreich. Diese Veränderungen und Verschiebungen der Perspektiven waren aber weit weniger tief greifend als in Deutschland. Selbst die Aufrechnungs- und Rechtfertigungsstrategien unterscheiden sich. Malte Thießen skizzierte für die Nachkriegszeit in Deutschland das verbindende Element der Erinnerung an das dreifache Leid der Deutschen: „Missbraucht vom ‚Führer‘, bestraft durch den Krieg und nach 1945 auch noch von den Alliierten […].“ Damit ließen sich auf der einen Seite Schuldvorwürfe abwehren und auf der anderen Seite Schutzwälle gegen Kritiker von außen aufziehen.24 Aufbauend auf dieser These könnte man weiter behaupten, dass die Strategien der Deutschen, 24 Thießen, Schöne Zeiten, S. 167–168.

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mit der Schuld umzugehen bzw. sich mit der ablehnenden und abwertenden Haltung anderer zu arrangieren, ein weiterer Faktor für die Verstärkung des Gemeinschaftsgefühls und damit der „sekundären Volksgemeinschaft“25 gewesen wäre. Auch in Österreich war der Wiederaufbau nach 1945 eines der wichtigsten identitätsstiftenden Elemente. Hier rückte man die Opfer, die der Bombenkrieg gekostet hatte, aufrechnend in den Vordergrund. Spätestens aber seit dem Abschluss des Staatsvertrages von 1955 sah man sich als von den Alliierten nicht mehr bestraft. Als missbraucht und vor allem verführt vom ‚Führer‘ stilisierte man sich aber auch in Österreich: Die zuvor geschilderte Kontroverse um „Zeitungszeugen“ zeigt, dass die mit dem Verführungsnarrativ Hand in Hand gehende Annahme, die Goebbels’sche Propaganda sei derart eindringlich und verführerisch gewesen, dass sich der Einzelne dieser habe kaum entziehen können, nach wie vor weit verbreitet ist. Sie dominiert auch nach wie vor die Debatten um Adolf Hitlers „Mein Kampf “, dessen Urheberrechte mit Ende 2015 auslaufen und das ab diesem Zeitpunkt (in Deutschland) neu aufgelegt werden kann. Die Interviews in Österreich wie auch in Deutschland zeigten, dass die Menschen Angst, Ehrfurcht und Respekt vor der Propaganda des Dritten Reichs haben. Warum aber gingen die österreichischen Leserinnen und Leser von „NachRichten“ offensichtlich so viel unbedarfter an die Lektüre dieser Nachdrucke? Hier wage ich zu behaupten, dass es einfacher war, die potenziellen österreichischen Leserinnen und Leser zu beeinflussen, als dies in Deutschland möglich war. Dies führe ich nicht nur auf die Größe Deutschlands, die Heterogenität des Landes, die kulturellen Unterschiede zwischen Nord und Süd, Ost und West, sondern vielmehr auf die politische Kultur in Deutschland sowie die ausgeprägte Obrigkeitshörigkeit in Österreich zurück. So war es den österreichischen Probanden enorm wichtig, dass die Reihe von einem Testimonial nach außen vertreten werden würde, das der Leserschaft quasi die Erlaubnis erteilt, sich mit den nationalsozialistischen Materialien zu beschäftigen. Hugo Portisch stand nicht zur Verfügung, eine ähnliche Funktion hat aber (ungeplant) der Journalist und Moderator der ZiB2, Armin Wolf, übernommen, als er „NachRichten“ nicht nur vorstellte, sondern mit überschwänglichem Lob bedachte und nach der Sendung noch in seinem Blog erwähnte. Auf der letzten Seite der ersten Ausgabe fanden sich zudem Statements von Menschen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens, die sich zu „NachRichten“ äußerten, darunter Ariel Muzicant und Paul Chaim Eisenberg, die Vertreter der österreichischen Pensionistenorganisationen, Karl Blecha und Andreas Khol, die Präsidentin des Nationalrates, Barbara Prammer, die Schauspieler Erwin Steinhauer und Fritz Muliar, ein Bischof, ein bekannter Sportler etc. In Deutschland fand die Idee, Wortmeldungen von unterschiedlichen Menschen des öffentlichen Lebens zur Reihe abzudrucken, keinen Anklang, im Gegenteil. Sie wurde in den Interviews mehrfach kritisiert. Die Probanden fühlten sich gemaßregelt und nicht ernst genommen. („Wieso sollte es mich interessieren, was xx dazu sagt? Darf ich mir bitte meine eigene Meinung bilden!“). Ob dies damit zusammenhing, dass es sich in Deutschland weitaus schwieri25 Ebd., S. 169.

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ger gestaltete, eine repräsentative Auswahl an einflussreichen, anerkannten und respektierten Persönlichkeiten zusammenzustellen, sei dahingestellt. Der Wunsch, sich unabhängig und eigenständig eine eigene Meinung zu bilden, wurde jedenfalls in Deutschland weitaus deutlicher formuliert als in Österreich.

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Kino als Aufarbeitung? 11 Thesen zu „Fiktion und Genre im DDR-Erinnerungsfilm“ 1 „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ – Einen Tag nach dem Mauerfall, am 10. November 1989, verkündete Willy Brandt mit dieser pathetischen und zugleich seltsam lakonischen Ankündigung das, was von nun an bis auf Weiteres auf der Tagesordnung der Deutschen stehen würde: Die Idee des Eins-Werdens zweier Gemeinwesen, die trotz jahrzehntelanger Abgrenzung immer noch weit mehr verbindet als trennt.2 Brandt stand mit diesem nationalpolitischen Optimismus unter den sozialdemokratischen Leitfiguren seiner Zeit etwas alleine da. Seinen politischen ‚Enkeln‘ Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder wäre dieser Spruch kaum eingefallen, geschweige denn über die Lippen gekommen. Dass die Metapher des „Zusammenwachsens“ einen – wie sich herausstellen sollte – langwierigen Weg und nicht ein bereits erreichtes Ziel bezeichnete, entging damals den allermeisten. Die Jahre nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit und der uneingeschränkten völkerrechtlichen Souveränität waren geprägt von der Ernüchterung angesichts der sich rasch offenbarenden Unterschiede, ja Fremdheiten zwischen Ost- und Westdeutschen. Bald wurde klar: Nun ging es um die Herstellung der „inneren Einheit“. Es galt, die erst jetzt ins öffentliche Bewusstsein vordringende „Mauer in den Köpfen“ abzubauen.3 Diese in Gedenkreden und Leitartikeln unablässig beschworene „Vollendung der Einheit“ hatte und hat noch immer zwei Dimensionen: Die materiell-sozialstaatliche umfasst die durch die Verfassung vorgeschriebene Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen und damit die Chancen der Ostdeutschen, gleichberechtigt an den Segnungen der bundesrepublikanischen Wirtschafts- und Sozialordnung zu partizipieren. Um das zu befördern, flossen und fließen immer noch Jahr für Jahr aus einer Sondersteuer stammende zweistellige Milliardenbeträge in den Ausbau der ostdeutschen Infrastruktur. Die zweite Dimension betrifft die ideelle Anerkennung der Ostdeutschen als gleichwertige Bürger und Bürgerinnen durch die Westdeutschen bzw. die von diesen dominierte gesamtdeutsche Öffentlichkeit. 1 Vortrag auf dem Geschichtsforum 09, Workshop „Aufarbeitung der Aufarbeitung“. Sektion III: Wächst zusammen, was zusammengehört? Integration durch geschichtskulturellen Diskurs, 30. Mai 2009. 2 Es ist nicht zweifelsfrei geklärt, wann genau am 10. November 1989 Brandt diese Worte in seinen zahlreichen Ansprachen und Interviews an diesem Tag gesagt hat, und ob er sie genauso gesagt hat. Unstrittig ist, dass er sie nachträglich für den Abdruck der Rede auf der Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus autorisiert hat. Vgl. Bernd Rother: „Gilt das gesprochene Wort?“, in: Deutschland Archiv, 33.1 (2000), S. 90–93. 3 Zur Kritik am alarmistischen Gerede von der fehlenden inneren Einheit siehe Hans-Joachim Veen: Wieviel Einheit brauchen wir? Die „innere Einheit“ zwischen Gemeinschaftsmythos und neuer Vielfalt, in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 3 (2010), S. 208–227.

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Da die DDR-Bevölkerung der Bundesrepublik aus einer Position der extremen materiellen, politischen und zugleich einseitigen Abhängigkeit beigetreten war, blieb ihnen diese Anerkennung allerdings in weiten Kreisen der bundesdeutschen Gesellschaft zunächst versagt. Schließlich war der Beitritt als Einladung des Westens, sein demokratisches Herrschaftssystem auf den Osten auszudehnen, erfolgt. Wenngleich diese Selbstunterwerfung durchaus auf demokratischem Weg und verfassungsrechtlich ‚einwandfrei‘ zustande gekommen war, brachten die praktischen Konsequenzen massive kollektive und individuelle Entwertungserfahrungen mit sich: Nicht nur das Produktivvermögen der maroden volkseigenen Industrie musste über weite Strecken auf null abgeschrieben werden, auch in der DDR erworbene Berufsausbildungen und -erfahrungen schienen plötzlich kaum mehr etwas wert. Alltagsroutinen, spezifische Sozialkompetenzen und gerade auch jene Anpassungsleistungen, die jahrzehntelang ein Minimum an sozialem Zusammenhalt mit und teilweise auch gegen die Parteidiktatur und ihre permanente Überwachung und Bevormundung ermöglicht hatten – all das zählte nicht mehr. Diese Eigenschaften waren nicht gefragt, sie galten als nicht vereinigungskompatibel. Welten schienen den in westlicher Wahrnehmung besonders gemeinschaftsorientierten, harmoniebedürftigen und „arbeiterlichen“ (Wolfgang Engler) „Ossi“ vom angeblich so individualistischen, konkurrenzbewussten und „bürgerlichen“ „Wessi“ zu trennen.4 Ein bevorzugtes Feld, auf dem die Widersprüchlichkeiten des „Zusammenwachsens“ ausgetragen wurden, war und ist der öffentliche und private Umgang mit der DDR-Vergangenheit. Es ist hier nicht der Platz, um die enorme Vielfalt an staatlichen und gesellschaftlichen Engagements, die der ‚Aufarbeitung‘ der DDR-Vergangenheit gewidmet sind, auch nur annähernd umreißen zu können.5 Sie entsprechen in ihrer Überlagerung aus wissenschaftlicher Seriosität, volkspädagogischem Eifer, trotziger Identitätspolitik, nostalgischem Eskapismus sowie einer im Vergleich mit anderen postkommunistischen Ländern außergewöhnlich großzügigen Alimentierung aus öffentlichen Mitteln lediglich der Größe der Herausforderung, vor die sich die Deutschen am Ende des kurzen 20. Jahrhunderts gestellt sahen: In einem demokratischen Gemeinwesen mit der „doppelten Diktaturerfahrung“ (Nationalsozialismus und Kommunismus) in einer Weise umzugehen, die nicht nur der „inneren Einheit“ förderlich, sondern auch deutschen Interessen im Rahmen der europäischen Integration und der internationalen Beziehungen entsprechen sollte. Im Folgenden werde ich mich im Sinne eines Exempels auf die Bedeutung massenmedialer, (genauer: filmischer) Bearbeitungen der DDR-Vergangenheit und die sich in ihnen manifestierenden Diskurse einer bundesdeutschen Erinnerungs- und ‚Aufarbeitungs‘-Kultur beschränken. Die Frage, die ich zu diskutieren vorschlage, ist: Konnten Spielfilme die „Herstellung der 4 Vgl. Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin ³1999, Kapitel 3: „Vom Kollektiv zum Team. Wie die arbeiterliche Gesellschaft die industrielle Vergangenheit konservierte und die Menschen dennoch für die Zukunft erzog.“ 5 Carola S. Rudnick: Die andere Hälfte der Erinnerung – die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011.

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inneren Einheit“ fördern? Ich werde mich dabei auf ein im Wortsinn besonders „augenfälliges“ und über Deutschlands Grenzen hinaus bekanntes Phänomen der jüngsten Filmgeschichte beziehen. Eine Reihe von Spielfilmen aus den ersten beiden Jahrzehnten nach 1989, thematisch gleichermaßen der Vergangenheit des SED-Staates und der kulturellen Identität der Ostdeutschen gewidmet, sind nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland auf breites Publikumsinteresse gestoßen. Anhand von „Sonnenallee“, „Good Bye, Lenin!“ und „Das Leben der Anderen“ werde ich folgende Hypothese zum Problem der innerdeutschen Anerkennungsproblematik herleiten: Diese Filme lassen sich, postkolonial gedacht, als Beiträge zur Konstruktion einer ostdeutschen hybriden Identität interpretieren. Sie ermöglichten es Ostdeutschen, ihr historisch gewordenes Anderssein zu imaginieren und vom Westdeutsch-Sein abzugrenzen. Zugleich stellte der durchschlagende Erfolg dieser auf Unterhaltung abgestellten Kunstprodukte eine Form der Anerkennung von Zugehörigkeit im vereinigten Deutschland dar. Die positive Resonanz dieser Filme in West und Ost (innerhalb wie außerhalb Deutschlands) lassen auf einen gelungenen virtuellen Integrationsprozess schließen – wenn auch auf prekäre und höchst widersprüchliche Weise.6 Wenn ich im Folgenden von „Westdeutschen“ und „Ostdeutschen“ spreche, so nicht um mögliche Binnendifferenzierungen dieser Großgruppen oder kombinierte Zugehörigkeiten (der gelegentlich zitierte „Wossi“) in Abrede zu stellen, sondern um die wesentliche und offenkundige Dimension des nach wie vor auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vorherrschenden Gefälles an wirtschaftlichem Kapital und politischem Einfluss zwischen West- und Ostdeutschland herauszustreichen. Jahrelange Mitarbeit in einer zu gleichen Teilen aus Ostdeutschen und Westdeutschen zusammengesetzten Forschungseinrichtung haben mich gelehrt, die strukturellen Unterschiede und den Umgang mit diesen zu unterscheiden. Gerade Repräsentationen in den Massenmedien erzielen ihre Erfolge aber mit dem Ansprechen und Verarbeiten der gängigen Stereotype in ihrer zugespitzten Variante.

Aufarbeitung als „Diskurs“ Um den Erfolg der populären DDR-Erinnerungsfilme historisch zu kontextualisieren, müssen sie als Element der bundesdeutschen Erinnerungskultur bestimmt werden. Diese fasse ich als diskursive Praxis, was allerdings vorweg einer begrifflichen Klärung bedarf. Von „Diskurs“ zu sprechen enthält sowohl die Chance auf kritische Reflexion, während dicht daneben die Gefahr der normativen Glättung und Banalisierung lauert. Das rührt von einer im deutschen 6 Siehe meine Interpretation dieser drei Filme in Thomas Lindenberger: Zeitgeschichte am Schneidetisch. Zur Historisierung der DDR in deutschen Spielfilmen, in: Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Die Historiker und die Bilder. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 353–372 (zu „Sonnenallee“ und „Good Bye, Lenin!“); sowie Thomas Lindenberger: Stasipolitation –Why not? Reconciliation and Misogyny in Florian von Donnersmarck’s ‚The Live of Others‘, in: German Studies Review 31.3 (2008), S. 558–566 (zu „Das Leben der Anderen“).

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Sprachgebrauch der tatsächlich oder vermeintlich Gebildeten nun schon seit zwei Jahrzehnten etablierten Doppeldeutigkeit des Begriffs her:7 „Diskurs“ steht zum einen in der Tradition der politischen Philosophie von Jürgen Habermas für das praktizierte Ideal der Selbstaufklärung der Bürgergesellschaft, und damit für Kommunikation unter gleichberechtigten Sprechern, die in geschützten Räumen Argumente und Standpunkte austauschen. Daraus leitet sich nach Habermas die Norm eines anzustrebenden „herrschaftsfreien Diskurses“ her.8 In diesem Sinne bedeutet, gerade in der politischen Alltagssprache, Diskurs nichts anderes als vernunftgeleitete Debatte oder Diskussion, die ein Verständigungsbemühen aller Beteiligten voraussetzt. In der Regel wird dabei eine allen Beteiligten gemeinsame Verständigungsbasis vorausgesetzt, wie etwa das Akzeptieren bestimmter Verfahren der Plausibilisierung von Aussagen: Sie sollen logisch und konsistent sein, ‚Tatsachen‘ entsprechen usw. Daneben findet die im Anschluss an Michel Foucault entwickelte Diskurstheorie und Diskursanalyse Verwendung. Dann bedeutet Diskurs in erster Linie eine historisch gegebene Redeweise, die durch bestimmte Regeln begrenzt ist. Diese legen fest, was im Rahmen des Diskurses sagbar und un-sagbar ist, ob und wie bestimmte Begriffe miteinander verknüpft werden können und welche Sprecherpositionen innerhalb einer diskursiven Praxis möglich sind. „Diskurs“ in diesem Sinne ist ein Begriff für eine Struktur, ähnlich dem der Grammatik, die bestimmte Kombinationen von Worten und deren Formen erlaubt und andere bei Strafe der Unverständlichkeit verunmöglicht. Auch bei der Aufarbeitung der Vergangenheit ermöglichen Diskurse bestimmte Aussagemöglichkeiten und Redeweisen und begrenzen sie zugleich. Die kritische Pointe der an Foucault angelehnten Verwendungsweise liegt darin, dass Diskurse, in diesem Sinne verstanden, Machtbeziehungen begründen und reproduzieren, indem sie Subjekte konstituieren. Das bedeutet zunächst nichts anderes als die soziale Tatsache, dass Akteure im Rahmen von verbalen oder anderen expressiven Interaktionen sinnvolle Sätze zu dem „in Rede stehenden“ Gegenstand bilden bzw. auf diesen „verständig“ reagieren können. Dort, wo sich das beobachten lässt, haben sie, wenn auch oft in einer untergeordneten Position, an einer Machtbeziehung teil. Vom „geschichtskulturellen Diskurs“ zu sprechen eröffnet daher die Chance, über Produktion von Macht durch diskursive Praktiken nachzudenken, die sich auf das Vergangene beziehen.9 Da, wo in arbeitsteiligen, ‚modernen‘ Gesellschaften Macht im Spiel ist, geht es immer auch um die Frage der strukturellen Asymmetrie von dauerhaften Machtbeziehungen, also um Herrschaft und deren Reproduktion. Eine Analyse des bundesdeutschen Aufarbeitungsdiskurses kann daher auch als Einstieg in seine herrschaftskritische Betrachtung genutzt werden. 7 8 9

Ich stütze mich im Folgenden auf Peter Schöttler: Wer hat Angst vor dem „linguistic turn“?, in: Geschichte und Gesellschaft 23.1 (1997), S. 134–151. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1968. Siehe den ambitionierten Ansatz von Oliver Marchart: Das historisch-politische Gedächtnis. Für eine politische Theorie kollektiver Erinnerung, in: Christian Gerbel, Manfred Lerchner et al. (Hg.): Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik, Wien 2005, S. 21–49.

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Nicht nur diktatorische, sondern gerade auch demokratische Gemeinwesen wie das vereinigte, zusammenwachsende Deutschland brauchen ‚Herrschaftskritik‘  – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die in Zeiten des vorherrschenden Bildes eines schwarz-weiß-malerischen ‚Vulgärtotalitarismus‘ zur Erklärung aller Unterschiede zwischen Knechtschaft im Osten und Freiheit im Westen in Vergessenheit zu geraten drohte. Auch gerade der institutionalisierte und politisch eingehegte Diskurs der ‚Aufarbeitung‘ mit seinen eigenen Apparaturen, Ressourcen und Ritualen, seinen Einschließungs- und Ausgrenzungsmechanismen, seinen ganz spezifischen Wahrheitskriterien und Tabus, seinen Sprechzwängen und mehr oder weniger unsichtbaren Sprechverboten, bedarf einer herrschaftskritischen Betrachtung.10 Für diejenigen, die selbst aktiv am ‚Aufarbeitungs‘-Diskurs beteiligt sind, impliziert dies zugleich eine selbstkritische Betrachtung, eine ‚Aufarbeitung der ‚Aufarbeitung‘. Die ‚Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit‘ gäbe ein lohnendes Untersuchungsobjekt zum Thema (demokratisch legitimierter) „Herrschaft als kulturelle Praxis“ ab. Die Beispiele, an denen ich das im Folgenden zu zeigen versuche – anhand erfolgreicher Kinofilme wie „Sonnenallee“, „Good Bye, Lenin!“ und „Das Leben der Anderen“  – gehören für sich genommen, das heißt rein textimmanent betrachtet, nicht notwendigerweise zum erinnerungskulturellen Diskurs. Sie wurden und sind es dank ihrer plurimedialen Erzeugung, Einbettung und Wirkung also erst, wenn wir die außerhalb der unmittelbaren Darstellung liegenden Umstände der Produktion, Distribution und Rezeption, insbesondere in ihrer Verschaltung mit anderen Massenmedien, einbeziehen. Es handelt sich hier nicht lediglich um Filme, die sich auf die DDR beziehen – davon gibt es wesentlich mehr. Dank ihres kommunikativen Echos in allen Medien und dank ihrer Popularität lassen sie sich mit Astrid Erll und Stephanie Wodianka11 als „Erinnerungsfilme“ klassifizieren.12 Indem sie zahlreiche Kommentare, Zustimmung wie Proteste, bestätigende Anschlusserzählungen wie empörte Gegenerzählungen, Exegesen für den Unterricht und gelehrte Filmanalysen zeitigten, etablierten sie sich als triftige Aussagen und Narrationen im Diskurs-Feld „DDR-Vergangenheit“. Sie haben im kulturellen Gedächtnis der Deutschen einen starken Eindruck hinterlassen. Für das, was sich viele Deutsche heutzutage unter „DDR-Wirklichkeit“ vorstellen können, spielen diese Filme mittlerweile eine konstitutive Rolle.13 10 Vgl. zur Regulierung von Erinnerungskulturen im vereinigten Deutschland: Thomas Lindenberger: Governing conflicted memories. Some remarks about the regulation of history politics in unified Germany, in: Muriel Blaive, Christian Gerbel et al. (Hg.): Clashes in European memory. The case of communist repression and the Holocaust, Innsbruck / Wien / Bozen 2011, S. 73–87. 11 Astrid Erll, Stephanie Wodianka: Einleitung. Phänomenologie und Methodologie des „Erinnerungsfilms“, in: dies. (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung: plurimediale Konstellationen, Berlin / New York 2008, S. 1–20. 12 Siehe zu diesem Konzept die ausgezeichnete Analyse zu DLA von Lu Seegers: Das Leben der Anderen oder die „richtige“ Erinnerung an die DDR, in: Erll / Wodianka, Film und kulturelle Erinnerung, S. 21–52. 13 Zum Zusammenhang von kulturellem Gedächtnis und Film siehe auch Sabine Moller: Spielfilme als Blaupausen des Geschichtsbewusstseins. Good Bye, Lenin! aus deutscher und amerikanischer Perspektive, in: Susanne Popp, Michael Sauer et al. (Hg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung, Göttingen 2010, S. 239–253.

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Wie soll man sich den Zusammenhang zwischen solchen Spielfilmen und den Machtund Herrschaftsverhältnissen im vereinten Deutschland nun vorstellen? „Ist doch nur Kino“, möchte man einwenden. In elf Thesen will ich nun darlegen, dass kommerziell erfolgreiche Erinnerungsfilme als Symptome des von Willy Brandt seinerzeit prophezeiten Zusammenwachsens dessen, „was zusammengehört“, gedeutet werden können.

1 Die bundesdeutsche Erinnerungskultur zur DDR-Vergangenheit entwickelte sich unter Bedingungen westlicher Deutungsmacht. Wie in den Bereichen Politik und Wirtschaft herrschte und herrscht hier westliche Hegemonie. Diese Deutungs-Vormacht des Westens hatten die Ostdeutschen im Grundsatz selbst gewählt und erwünscht. Ihre kulturelle Praxis war allerdings, wie in anderen Bereichen, von erheblichen Friktionen begleitet.

2 Eine Folge dieser Friktionen bestand in der Entwicklung einer „Sozialgruppen und politische ­Orientierungen in Ostdeutschland tendenziell übergreifenden“, gemeinsamen „Trotzidentität“ oder „identity of defiance“, wie britische Kulturwissenschaftler es genannt haben.14 Für sich genommen ist das nichts Außergewöhnliches und nach solchen Umbrüchen mit ihren Erfahrungen sozialmoralischer Entwertung und Diskriminierung ohne Weiteres nachvollziehbar. Die nach Gesamtdeutsch-Sein strebenden Ostdeutschen erlebten und erlernten ihr ‚Ostdeutsch-Sein‘ in der intensiven Differenzerfahrung zumeist erst nach 1990. Der ehemalige Bürgerrechtler Hans Misselwitz sprach denn auch bereits 1997 von der ostdeutschen Identität als einem „unfreiwillige[n] Vereinigungsprodukt“.15 Das führte zur entsprechenden Ausdifferenzierung in identitätsbildende Erinnerungspraktiken verschiedener Gruppen. Nur für eine Minderheit von Ostdeutschen, darunter viele derjenigen, die aus politischen Gründen Verfolgung und Ausgrenzung durch das politische Regime erlitten hatten, gehört eine nach wie vor kritische Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur zu dieser spezifisch ostdeutschen Identität dazu. Davon abzugrenzen sind verschiedene Spielarten einer vordergründig unpolitischen und teils auch kommerziell befeuerten „Ostalgie“ nach dem Motto „Nicht alles war schlecht in der DDR“. Wiederum nur eine kleine Minderheit dieser „Ostalgiker“ geht mit ihrer positiven Einstellung gegenüber der untergegangenen DDR so weit, dass sie sich weiterhin mit dem sozialistischen Projekt identifiziert, das an sich nach wie vor erstrebenswert sei, aber damals an widrigen Umständen scheiterte. Diese Ostdeutschen machen einen bedeutsamen Teil der Unterstützung der Nachfolgepartei der SED, der Partei „Die Linke“ (vormals PDS – Partei des demokratischen Sozialismus) aus. 14 Vgl. Paul Cooke: Representing East Germany since unification. From colonization to nostalgia, New York 2005. 15 Siehe Hans Misselwitz: Nicht länger mit dem Gesicht nach Westen – das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, in: UTOPIE kreativ 78 (April 1997), S. 5–13.

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Gerade die anfangs ausschließlich negative Reaktion auf „Ostalgie“– ein von westlichen Sprechern aufgebrachter Begriff – im Feuilleton und in der Diskussion der Gebildeten bestätigte die Ostdeutschen in ihrer Selbstwahrnehmung als underdogs.16 Dieser Zustand war für die Mitte der 1990er-Jahre charakteristisch, bevor dann Ende der 1990er-Jahre die Welle der populären DDR-Erinnerungsfilme einsetzte.

3 Um zu verstehen, wie es nun zu diesen Publikums- und Welterfolgen der drei angesprochenen Filme kommen und sie zu gesamtdeutschen Diskursereignissen werden konnten, müssen wir auch auf die Vergangenheitsdiskurse Westdeutschlands schauen: Auch im Westen galt es Abschied zu nehmen von einer „alten“ Bundesrepublik bzw. Westberlin. Explizite „Westalgie“ blieb allerdings zunächst ein Randgruppenphänomen. Die Trauer um ‚Bonn‘ hielt sich in Grenzen, es reichte zunächst allenfalls zu alternativen Abgesängen auf den alten Szenebezirk Kreuzberg wie im Spielfilm „Herr Lehmann“ (Leander Haussmann, 2003). Dennoch haben wir mittlerweile populäre und zugleich durchaus seriös zu nennende Thematisierungen westdeutscher Schlüsselereignisse. Sie kommen sowohl in kritischer Absicht daher, wenn es etwa um 1968 und seine Folgen, darunter den RAF-Terrorismus, geht, als auch affirmativ, wenn wir etwa an Kino- und TV-Erinnerungsfilme wie „Das Wunder von Bern“ (Sönke Wortmann, 2003) oder „Die Nacht der großen Flut“ (Raymond Ley, 2005) denken. Letztere erweisen sich in der Regel als eskapistisch-unterhaltsame Eintagsfliegen, stets bemüht um political correctness, qualitativ aber weit entfernt von jener ersten Welle der kritischsubversiven Thematisierung der BRD-Geschichte in der Tradition eines Rainer Fassbinders oder der Erneuerung des Heimatfilms durch die Arbeiten von Edgar Reitz. Für die hier behandelten Fragestellungen sind diese erst jüngst verstärkt auftretenden, sich auf die westdeutsche Vergangenheit beziehenden Erinnerungsfilme indirekt von Belang: Sie stehen für ein expandierendes Geschäftsfeld des Medienmarkts, in dem sich auch die der DDR-Vergangenheit gewidmeten Erzeugnisse behaupten müssen, wenn sie über das ostdeutsche Publikum hinaus Anklang finden und damit auch eine Chance, als Teil eines gemeinsamen Horizonts medialisierter Vergangenheit anerkannt zu werden, erhalten sollen.

4 Der beim ostdeutschen und in günstigen Fällen auch bei Teilen des westdeutschen oder internationalen Publikums wirksame, erfolgreiche „Erinnerungsfilm“ zur DDR-Vergangenheit entstand nie ohne westdeutsche Regisseure, Drehbuchautoren und Produzenten. Diese bearbeiteten damit zugleich auch ihr aus ihrer westdeutschen Vergangenheit mitgebrachtes Bild vom Osten und brachten ihr spezifisches Interesse am Osten ein. Der DDR-Erinnerungsfilm ist 16 Vgl. Cooke, Representing East Germany.

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somit ein Produkt westlicher kommerzieller Kinokunst, die sich allerdings, wie auch in anderen Kultursparten, selbstverständlich des vom ostdeutschen Kulturbetrieb (insbesondere in den Bereichen Kino und Theater) hinterlassenen beträchtlichen Reservoirs an Talenten und Know-how bediente. Die Produkte dieser kreativen Symbiose müssen vielseitig genug sein, um sowohl beim ostdeutschen Publikum als auch bei den westlichen Meinungsführern und im optimalen Falle im internationalen Kontext Anerkennung zu finden. Darin, dass dies einigen der Erinnerungsfilme gelang, liegt bereits – um es staatstragend auszudrücken – ein Beitrag zur ‚gesamtdeutschen Integration‘. Zugespitzt könnten die vereinten Deutschen mittlerweile sagen: „Wir sind nicht nur Papst,17 wir sind auch Oscar.“

5 Für das herrschaftskritische Verständnis dieses Vorgangs ist die Ebene der kulturellen Ökonomie von zentraler Bedeutung. Wir haben es mit Produkten der Kulturindustrie zu tun. Entgegen kurzschlüssiger pessimistischer Betrachtungen in der Nachfolge der Frankfurter Schule beruht ihr Publikumserfolg nicht auf herrschaftskonformer Manipulation des Publikumsgeschmacks. Im Gegenteil: Zum Funktionieren von Unterhaltungsangeboten als Massenware gehört gemäß der cultural economy ( John Fiske) wesentlich das Urteil eines zahlungskräftigen Publikums, das sich in Präferenzen und Zurückweisungen niederschlägt. Dieses Publikum orientiert sich dabei an ganz handfesten Gebrauchswerteigenschaften: Es geht in erster Linie um Unterhaltung, Weltorientierung und Soziabilität. Je nachdem, wie gut ein konkreter Film solche Bedürfnisse zu erfüllen vermag, geht das Publikum hin oder nicht. Das lässt sich im Fall des kommerziell erfolgreichen Kinofilms anhand der Besucherzahlen genauer ablesen als bei TV-Produktionen, obwohl in beiden Varianten des Erinnerungsfilms staatliche Förderungspolitik eine wichtige Rolle spielt.

6 Auch im Wechselbalg DDR-Erinnerungsfilm wächst zusammen, was zusammengehört: Die westdeutschen Produzenten finden, gestützt von gesamtdeutschen Subventionen (in der Regel den Filmboards der Länder und des Bundes), ihr ostdeutsches und im günstigen Falle mit diesem ein westdeutsches und internationales Publikum. Es wächst so zusammen, wie es zusammengehört: Nicht im Austausch gleichberechtigter ‚Diskurs-Partner‘ (das hat es nie gegeben), sondern als Teil der Verlängerung asymmetrischer Beziehungen aus der Zeit der Teilung in die der Vereinigung. Diese Ungleichheit mag nicht nur im Sinne eines Ideals „herrschaftsfreier Kommunikation“, sondern auch im Hinblick auf den Mangel an ‚authentischen‘ ostdeutschen Stimmen zu beklagen sein. Aber zugleich gilt es zur Kenntnis zu nehmen: Filmischer Kreativität scheint sie nicht im Wege zu stehen. Möglicherweise stimuliert sie diese sogar erst. 17 Vgl. BILD (20. 4. 2005), S. 1: „Wir sind Papst!“, die Schlagzeile zur Wahl eines Deutschen, Joseph Kardinal Ratzinger, zum Nachfolger von Papst Johannes Paul II.

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7 „Sonnenallee“ (1999), „Good Bye, Lenin!“ (2003) und „Das Leben der Anderen“ (2007) sind Prototypen erfolgreicher Erinnerungsfilme mit Qualität. Sie hatten einige weniger erfolgreiche Vorläufer, an die sie anknüpfen konnten: Zum einen in erster Linie auf das breite ostdeutsche Publikum abzielende wie „Go Trabi go“ mit populären DEFA- und DFF-Darstellern. Diesen lassen sich Autorenfilme von ostdeutschen oder ex-ostdeutschen Regisseuren gegenüberstellen, die zwar künstlerisch hochklassig sind, ostdeutsche Identitäten aber in erster Linie von der problematischen Gegenwart her erzählen und hinterfragen, anstatt sie durch ein verstehendes Hineintauchen in die Vergangenheit zu affirmieren. Hierzu würde ich etwa Filme wie „Helden wie wir“ (1999) von Sebastian Peterson, „Halbe Treppe“ (2002) von Andreas Dresen oder „Lichter“ (2002) von Hans-Christian Schmid zählen. Wodurch unterscheiden sich Publikumslieblinge wie „Sonnenallee“, „Good Bye, Lenin!“ und „Das Leben der Anderen“ von diesen Filmen? Ihr wichtigster Gebrauchswert ist ihr Unterhaltungswert. Sie müssen so spannend, witzig, anrührend, erbauend oder auch nur ‚schön‘ sein, dass möglichst viele Zuschauer davon überzeugt sind, dass das Eintrittsgeld und die zwei bis drei Stunden, die für den Kinobesuch aufzubringen sind, sinnvoll ausgegeben werden. Nicht auf ‚historische Aufklärung‘ im Sinne faktischer Genauigkeit und Präzision kommt es dabei an. Historisch gesehen handelt es sich bei DDR-Erinnerungsfilmen um – wie Rainer Eckert treffend mit Bezug auf „Das Leben der Anderen“ festgestellt hat – „Märchen“.18 Daher gilt zugleich grundsätzlich die Nachrangigkeit, aber nie gänzliche Abwesenheit, historischer Genauigkeit und Adäquanz gegenüber herkömmlichem ‚Tatsachenwissen‘ um dargestellte Zusammenhänge. Im Vordergrund steht der Gebrauchswert einer gut ausgedachten und gut erzählten Geschichte, die mit Bezügen auf konkret benennbare und für das Publikum bedeutsame Ausschnitte der Vergangenheit zusätzlich angereichert ist.

8 Ein Königsweg, um die Zuversicht von Kino-Zuschauern zu erzeugen, ein bestimmter Film sei für sie ‚das Richtige‘, und sie damit ins Kino zu holen, ist die Logik des Genres.19 Kinozuschauer wissen: Es gibt Western-Filme, road movies, Horrorfilme, Liebesfilme, Fantasiefilme, Kriegsfilme usw. Sie entwickeln ihre Vorlieben und Vorkenntnisse, um bei der Entscheidung für einen Kinobesuch das Risiko der verschwendeten Zeit möglichst gering zu halten. Zugleich erhöht die Kenntnis bestimmter Genres den gemeinsamen Film-Genuss: Man bildet Kennergemeinschaften, die die Eigenlogiken des jeweiligen Genres und dessen Weiterentwicklung verfolgen und diskutieren wie den neuesten Roman eines beliebten Krimiautors oder 18 Rainer Eckert: Grausige Realität oder schauriges Märchen? Entfacht „Das Leben der Anderen“ eine neue Diskussion um die zweite deutsche Diktatur, in: Deutschland Archiv 39.3 (2006), S. 500–501, hier 501. 19 Vgl. Barry Keith Grant: Film genre. From iconography to ideology, London / New York 2007.

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die neuesten Trends in der Popmusik. Die Filmindustrie weiß natürlich um diese Zuschauerkompetenzen, sie hat sie ja in jahrzehntelanger Praxis in Interaktion mit dem Publikum selbst geprägt. Es handelt sich um einen historisch gewachsenen Produzenten-Zuschauer-Vertrag zu beiderseitigem Vorteil, der den Gebrauchswert von filmindustriellen Produkten berechenbarer macht. Er zielt in gewissen Grenzen auf eine Rationalisierung des Angebots, die eine auf die Geschmackskompetenz des Publikums abgestellte Produktionslogik voraussetzt und sowohl aufseiten des Publikums, als auch seitens der Produzenten das Verhältnis von Aufwand und Ertrag kalkulierbar zu machen verspricht.

9 „Sonnenallee“ ist unschwer als teen movie oder coming-of-age-comedy, „Good Bye, Lenin!“ als tragikomisches Familiendrama und „Das Leben der Anderen“ als kunstvoller Genremix aus moralisch erhebendem Melodram, Liebesgeschichte und Agententhriller zu bestimmen. Damit sind alle drei Filme klassischen Genres der internationalen Filmgeschichte zuzuordnen. Dass diese Geschichten als Genrefilme funktionieren, zeigt zunächst eines: Ostdeutsche Erfahrungen, verpackt in kompliziert-eigensinnige Geschichten sind – wenn man es als Drehbuchautor, Regisseur und Produzent nur richtig anpackt – ohne Weiteres genrefähig, und zwar weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. „Endlich Weltniveau!“ – könnte die jahrzehntelang an der Provinzialität und Kleingeistigkeit des DDR-Kulturlebens leidende ostdeutsche Seele ausrufen. Diese ostdeutschen Geschichten stoßen in einer internationalen Öffentlichkeit auf positive Resonanz.20 Sie werden im Ausland dem vereinigten Deutschland zugutegehalten, und das wiederum steigert innerhalb Deutschlands das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen, die ja ihrerseits durch ihr medienpolitisches Engagement als Regisseure, Filmförderer und Produzenten zu diesem Erfolg beigetragen haben. Damit erfahren die Ostdeutschen eine internationale Anerkennung, die zugleich zur innerdeutschen Integration beiträgt. Ostdeutschland erweist sich als ein Reservoir für gute, unterhaltsame Kinogeschichten. DDR-Vergangenheit ist exploitable. „GDR sells“, und das in Kontinuität mit anderen schurkischen Vergangenheiten, wie der britische Historiker und Publizist Timothy Garton Ash in seiner durchaus kritischen Würdigung von „Das Leben der Anderen“ herausgearbeitet hat.21 Die Vergangenheit der Ostdeutschen fügt sich so kreativ in die gesamtdeutsche Kultur ein  – ein Befund, der angesichts der zahlreichen Fremdheitserfahrungen zwischen Ost 20 Ein jüngstes typisches Beispiel für diesen Anerkennungsmechanismus stellt die Verleihung der Freiheitsmedaille durch US-Präsident Barak Obama an Bundeskanzlerin Angela Merkel in Washington am 7. Juni 2011 dar. Merkel steht im amerikanischen Deutschland-Bild für die Erfolgsstory eines individuellen Wegs aus den Niederungen der ostdeutschen Diktatur ganz nach oben in die höchsten Sphären der westlichen demokratischen Weltgemeinschaft. In der amerikanischen Wahrnehmung steht diese ostdeutsche Biografie aber zugleich für den Erfolg des vereinigten Deutschland als Ganzes. 21 Timothy Garton Ash: The Stasi on our minds, in: The New York Review of Books (31.05.2007), URL: http:// www.nybooks.com/articles/archives/2007/may/31/the-stasi-on-our-minds/ (20.06.2011).

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und West keineswegs selbstverständlich ist. Zugleich bestätigt er jedoch die grundsätzliche, in westlicher Hegemonie begründete Asymmetrie der Beziehungen zwischen den beiden Partnern, und damit ein sich auf das Gebiet der Kultur erstreckendes Herrschaftsverhältnis. Erst ein westlichen Standards verpflichtetes Medienevent macht die Osterfahrungen als Kinoevent auf nationaler und internationaler Ebene kommunizierbar.

10 Als Beobachter allerjüngster Zeitgeschichte geht es mir keinesfalls darum, dies nun etwa als fundamentalen Webfehler der Ost-West-Integration auf dem Gebiet der Filmkultur zu beklagen. Dass das so kommen konnte und vielleicht auch musste, hat seine guten historischen Gründe darin, dass bereits vor 1989 die beiden Teilstaaten durch eine asymmetrische Verflechtungsgeschichte verbunden waren.22 Ost- und Westdeutsche teilten in ihrer Mehrheit die politische wie kulturelle Westorientierung. Dank der Teilhabe an den westdeutschen Radio- und Fernsehprogrammen waren die Ostdeutschen als Mediennutzer sozialisiert, die den Zensurund Zwangscharakter einheimischer Medienprodukte von den Erzeugnissen einer Kulturindustrie, die auf den Geschmack des Publikums Rücksicht nehmen konnte und musste, zu unterscheiden gelernt hatten.23 Die ostdeutschen Fernsehzuschauer und auch Kinobesucher (schließlich importierten die SED-Filmpolitiker ab den 1970er-Jahren zahlreiche westliche Kinohits) partizipierten an den Standards der westlichen Unterhaltungsindustrie.

11 Im Sinne einer herrschaftskritischen Betrachtungsweise lässt sich dieser Befund abschließend noch in einer erweiterten Perspektive deuten. Angelsächsische Kulturwissenschaftler wie etwa Paul Cooke belegen die Machtasymmetrien, die sich bei den populären Repräsentationen der Ostdeutschen und ihrer Vergangenheit beobachten lassen, mit dem Etikett orientalism und post-colonialism.24 Es scheint zunächst abwegig, Ostdeutschland als Kolonie des Westens im vereinigten Deutschland anzusehen. So ist es von Autoren, die postkoloniale Ansätze bemühen, um das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen zu analysieren, auch ausdrücklich nicht gemeint. Es geht vielmehr um die erinnerungskulturelle Erzeugung von Identitäten, genauer um das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdbildern zwischen den verschiedenen Akteuren in Ost und West, die aufgrund der strukturellen Machtgefälle, in die sie eingelagert sind, auffällige Ähnlichkeiten mit den hybriden Identitäten der Herrschaftsunterworfenen in „postkolo22 Vgl. Christoph Kleßmann: Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/30 (1993), S. 30–41. 23 Vgl. Stefan Zahlmann (Hg.): Wie im Westen, nur anders. Medien in der DDR, Berlin 2010. 24 Cooke, Representing East Germany.

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nialen“ Beziehungen zwischen Metropolen und ehemaligen Kolonien aufweisen. Die Ursache für diese zunächst äußere Ähnlichkeit ist in der Vergleichbarkeit der Muster zu sehen, nach denen diese Identitätsbildungen ablaufen.

Zusammenfassung Um ‚Aufarbeitung‘ auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu thematisieren bzw. um sich nicht selbstreferenziell auf zeithistorische Forschung und politische Bildungsarbeit zu begrenzen, gehört die Einbeziehung der Erinnerungsmassenmedien wie etwa Kinofilme mit ihren Eigengesetzlichkeiten essenziell dazu: Sie bringen das Publikum, das ostdeutsche, das westdeutsche, in einigen Fällen gar das europäische und das internationale, in einer Weise ins Spiel, die über den Adressatenkreis Forschung und Erwachsenenbildung weit hinausgeht. Dabei ist die Eigengesetzlichkeit der Darstellungsweisen massenmedialer Produkte zu berücksichtigen: Ihr Gelingen als Produkte der Kulturindustrie hängt von den mit der Fiktionalität ihrer Narrationen verbundenen Gebrauchswerteigenschaften (Unterhaltung, Faszination, virtuelle Welterfahrung), die vor allem durch das Ansprechen der Genrekompetenz des Publikums abgesichert werden kann, ab. Fragen historischer Genauigkeit sind demgegenüber zweit-, wenn nicht drittrangig. Zum kritischen Rückblick auf zwanzig Jahre vereinigungsdeutscher Aufarbeitungskultur gehört kritische Sicht auf die ihr zugrunde liegenden Herrschaftsverhältnisse „Aufarbeitung der Aufarbeitung“ ergibt nur Sinn als Rekonstruktion von Machtungleichheiten, Abhängigkeiten und den damit verbundenen Selbst- und Fremdbildern der beteiligten Akteure.25 Ohne die Berücksichtigung der Ebene massenmedialer Erinnerungskultur im vereinten Deutschland lässt sich der Vorgang des Zusammenwachsens dessen, was offensichtlich partout zusammengehören will, nicht verstehen. ‚Aufarbeitung‘ fand und findet nicht in herrschaftsfreien Räumen als „Diskurs“ gleichberechtigter Partner statt, sondern in politisch und ökonomisch bedingten Konstellationen ungleicher Machtbeziehungen. Dies schließt die Möglichkeit ein, dass im Rahmen einer westlich dominierten Medienkultur ostdeutsche Erfahrungen zu Narrationen und Weltsichten verarbeitet werden, denen aufgrund ihres Publikumserfolgs Anerkennung zuteil wird, ohne dass sich an der überwiegend subalternen Stellung der Ostdeutschen Wesentliches ändert. Auch dies gehört dazu, wenn „zusammenwächst, was zusammengehört“.

25 Siehe auch Thomas Schubert: Von der Epoché des Zeithistorikers. Bemerkungen zur „Aufarbeitung der Aufarbeitung“, in: Deutschland-Archiv 43.5 (2010), S. 889–896.

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Stalin und kein Ende? Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit in Russland Nach jetzt schon fast 60 Jahren, die seit dem Tod Stalins 1953 vergangen sind, steht die russische Gesellschaft fast verzweifelt und vor allem zerrüttet vor dem akuten Problem des Umgangs mit der sowjetischen Vergangenheit, welche nun wiederum mehr als 20 Jahre zurückliegt. Der alte, am 20. Parteitag der KPDSU (1956) entstandene Begriff der ‚Entstalinisierung‘ wird gegenwärtig heftig im medialen, zivilgesellschaftlichen und politischen Diskurs diskutiert. Was hat das zu bedeuten? Dreht sich Russland ständig im Teufelskreis einer ewigen historischen Verspätung? Warum bewegt das die Menschen so? Warum dreht sich vieles um genau diese Vergangenheit? Um dies zu verstehen, muss man in die Zeit zurückgreifen, als der Begriff ‚Entstalinisierung‘ entstand. Die Folgen des Staatsterrors, der in der Zeit nach der Machtergreifung der kleinen linksradikalen Partei im Oktober 1917 bis zum Tod Stalins das wichtigste Instrument politischer Machtausübung war, waren verheerend: Mindestens zwölf Millionen Menschen waren direkt vom Terror betroffen gewesen, 2,5 Millionen Menschen befanden sich im Jahr 1952 im Gulag und über 2,7 Millionen lebten als Verbannte in den Sondersiedlungen. Die Bauern, die praktisch als staatliche Leibeigene in den Kolchosen festgehalten wurden, bekamen für ihre Arbeit kaum Geld. Die Zeit nach Stalins Tod bekam den Namen ‚Tauwetter‘, nach dem gleichnamigen Roman von Ilja Ehrenburg. Nach dem langjährigen Terror war die ‚Entfrostung‘ wohl unvermeidbar, und Chruschtschow, der an die Macht kam, wurde gezwungen, Reformen anzufangen, welche, auch wenn sie nicht konsequent waren, so doch gewisse Züge der ‚Entstalinisierung‘ trugen. Durch Aufstände erschüttert, geriet auch das gewaltige Gulag-System allmählich ins Wanken, und es begann dessen langsame Auflösung, die im Jahr 1960 endgültig vollzogen war. Langsam, aber doch begann auch die Entlassung von sogenannten ‚politischen Häftlingen‘. Es folgte der Prozess der Rehabilitierung, in dessen Rahmen viele Opfer des stalinistischen Terrors für unschuldig erklärt wurden. Dieser Prozess wurde mit der auf dem 20. Parteitag 1956 gehaltenen Rede Chruschtschows beschleunigt, in der Stalin verschiedener Verbrechen beschuldigt wurde, vor allem der Machtusurpierung und des Personenkultes. Der Effekt, den die Veröffentlichung der zentralen Teile der Rede auf die sowjetische Bevölkerung hatte, glich einer explodierten Bombe. Allerdings führte auch diese achtjährige ‚Tauwetter‘-Periode natürlich – und das war wohl das Wichtigste für die spätere politische Entwicklung des Landes – zu keiner tieferen Auseinandersetzung in der Partei mit dem System, das in seinen Grundsätzen unreformierbar blieb. Wie konnte das auch anders sein! Die Rolle der kommunistischen Partei, die natürlich keine Partei im demokratischen Sinn war, sondern ein Mechanismus der Machtausübung, blieb unerschüttert. Alle Vergehen des stalinistischen Regimes wurden auf

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den Personenkult geschoben, denn sonst hätten auch Chruschtschow und andere Politbüromitglieder, die nach Stalins Tod an der Macht geblieben waren, zur Verantwortung gezogen werden müssen. Mitschuldig wäre dabei selbst Chruschtschow gewesen, der als Politbüromitglied zum Kreis der engsten Mitstreiter Stalins gehört und in den Jahren des Großen Terrors 1937/38 einige der sogenannten ‚stalinistischen Erschießungslisten‘ zusammen mit Stalin unterzeichnet hatte. Mehrere Tausend Menschen waren so zum Tode verurteilt worden. Aber es spielte gewiss eine Rolle, dass Chruschtschow persönliche Hassgefühle gegenüber Stalin hatte. Aber obwohl diese ‚Entstalinisierung‘ in der ‚Tauwetter‘-Zeit eine sehr langsame und halbherzige war, der ganze Text von Chruschtschows Rede erst 1989 im Rahmen der Perestroika veröffentlicht wurde, obwohl man nur über die Rückkehr zu den sogenannten ‚leninschen Normen in der Partei‘ sprach und hauptsächlich von den Kommunisten redete, die zu den Opfern des Personenkultes geworden waren, und die entkulakisierten Bauern sowie auch die Opfer der berühmten Schauprozesse nicht rehabilitierte, war dieser Prozess der ‚Entstalinisierung‘ von riesiger Bedeutung: Diese bestand darin, dass die sowjetische Gesellschaft zum ersten Mal nach 30 Jahren in Bewegung gebracht wurde. Man entfernte Stalin-Denkmäler und -Bilder von überall – aus Kabinetten und Lehrbüchern, Straßen und Museen, seine Werke aus den Bibliotheken, und die nach ihm benannten Straßen und Städte wurden umbenannt. Zum Höhepunkt dieser Entwicklung wurde die Umbettung von Stalins Leichnam aus dem Lenin-Mausoleum auf den Roten Platz, wo sein Grab schließlich an der Kremlmauer hinter dem Mausoleum lag. Die Überlebenden, die aus dem Gulag zurückkehrten, haben in diesen Jahren angefangen, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Zu einem starken Auslöser für die Niederschrift von Erinnerungen an die Stalin-Ära wurde die 1962 mit großen Schwierigkeiten und Hindernissen veröffentlichte Erzählung von Alexander Solschenizyn „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, in der der Lageralltag und die Lagerwelt aus der Sicht eines einfachen Menschen (eines Bauern und Soldaten) zum ersten Mal beschrieben wurden. Diese Zeit bis in die Mitte der 1960er-Jahre war wohl die fruchtbarste für das Niederschreiben der Erinnerungen an den Gulag. Die ehemaligen Häftlinge bekamen zum ersten Mal die reale Möglichkeit, etwas aufzuschreiben. Sie waren aus den Lagern und Verbannungsorten zurückgekommen, bekamen nach langen Kämpfen ein Dach über dem Kopf und befanden sich so zum ersten Mal nach vielen Jahren in einer Situation, in der man etwas niederschreiben konnte.

* * * Aber diese erste Phase der Aufarbeitung wurde Mitte 1960er-Jahre mit der Absetzung Chruschtschows unterbrochen. Einige Überlebende schrieben weiter im Geheimen; die Texte über Gulag und politische Repressalien kursierten aber nur als Samisdat-Drucke. Solschenizyns Werk „Archipel GULAG“, 1974 im Westen veröffentlicht, wurde zum gefährlichsten Buch deklariert, das zur Verbannung von Solschenizyn ins Ausland führte und seine Leser in große Gefahr brachte.

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Es folgte eine Zeit der Stagnation, die Breschnew-Ära, in welcher Stalin zwar nicht wieder öffentlich rehabilitiert wurde, aber die Erinnerung an seine Verbrechen und die politischen Repressalien für die nächsten 20 Jahre aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt wurde. An die Stelle der Aufarbeitung traten Verdrängung und Vergessen. Von dieser Zeit an wurde die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, hauptsächlich an den Sieg in diesem Krieg, zum wichtigsten ideologischen Kleister, der die Gemeinschaft des imaginierten ‚sowjetischen Volkes‘ zusammenhielt. Der ehrenvolle Status des Veteranen sollte die Soldaten für alle Entbehrungen und Schwierigkeiten des sowjetischen Alltags entschädigen. Aber indem das Regime immer morscher und schwächer wurde, sich die Systemkrise der Planwirtschaft anbahnte, die Sowjetunion in der Modernisierung und im Wettrüsten mit dem Westen immer mehr zurückblieb, und im Alltag die Engpässe und damit auch die Warteschlangen immer größer wurden, wurde das Bestreben von vielen Menschen, die Wahrheit über die verborgene Vergangenheit zu erfahren, immer deutlicher. Mit dem Machtantritt von Michail Gorbatschow und dem Beginn von Perestroika und Glasnost wurde der Drang zur Aufarbeitung der Vergangenheit und Abrechnung mit dem kommunistischen Regime in der Gesellschaft immer stärker. Die Periode von 1988 bis 1992 wurde zu einer Zeit, in der die Öffentlichkeit die auf der Strecke gebliebenen ‚Entstalinisierungs‘-Maßnahmen nachzuholen bestrebt war. Eine Flut von Publikationen begann, die in Millionen-Auflagen über politische Repressalien und Terror berichteten. Ans Licht kamen verbotene Bücher und Manuskripte der Überlebenden. Anfang der 1990er-Jahre folgte schließlich die sogenannte ‚Archivrevolution‘: unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde ein Archivgesetz verabschiedet, nach dem die geheim gehaltenen Dokumente, die politische Repressalien betrafen, zugänglich wurden. Die Idee, Denkmäler für die Opfer des stalinistischen Terrors aufzustellen, was in der ‚Tauwetter‘-Periode nie verwirklicht worden war, schwebte in der Luft. Diese Welle rief auch die Organisation „Memorial“ ins Leben, die 1989 gegründet wurde und sich als Hauptziel die Aufarbeitung der Geschichte der politischen Repressalien in der Sowjetunion setzte. Die ersten, oft noch provisorischen Tafeln und Denkmäler wurden an den Orten der Massenerschießungen, die mittlerweile entdeckt worden waren, aufgestellt. Bis dahin hatten die Angehörigen von einer Million in der Stalin-Zeit Erschossenen überhaupt keine Information über die Bestattungsorte gehabt. In Moskau, wo fast 40.000 Menschen erschossen worden waren, wurden drei solche Orte entdeckt. Zum wichtigsten Ergebnis dieses Aufarbeitungsprozesses wurde das Rehabilitierungsgesetz von 1992, nach dem alle Opfer der politischen Repressalien unter Stalin automatisch rehabilitiert wurden und alle Dokumente, die mit politischen Repressalien im Zusammenhang standen, geöffnet werden sollten. Das war die Grundlage für die Forschungsarbeit und Publikationen, die von nun an sowohl von russischen als auch von westlichen Historikern begonnen worden sind.

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Aber das rege Interesse der Gesellschaft an der Aufarbeitung der Vergangenheit wurde in den folgenden Jahren immer schwächer. Wegen der Folgen der schweren Wirtschaftskrise waren viele Menschen mit Dingen des täglichen Überlebens beschäftigt. Immer mehr breitete sich eine Nostalgie nach der ruhigen Breschnew-Zeit aus und wurde auch an die junge Generation weitergegeben. Die neue Regierung, die eigentlich reformorientiert war, interessierte sich wenig für die Vergangenheit oder konsequente ‚Entstalinisierungs‘-Maßnahmen und blieb in der Überzeugung, dass das Wichtigste jetzt die Wirtschaftsreformen und der schnelle Übergang zur Marktwirtschaft seien. Die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit sahen sie als mindes­ tens zweitrangig und glaubten, dass sich diesbezüglich nun alles von selbst entwickeln würde. Da die Kommunisten immer mehr Unterstützung von den enttäuschten Menschen bekamen, unternahm der Kreml populistische Schritte, um die Wähler nicht noch mehr zu verärgern. So blieb die Aufarbeitung eigentlich nur die Sache von einigen wenigen zivilgesellschaftlichen Institutionen. Es wurde keine konsequente Geschichtspolitik aufgebaut, und so bildete sich eine fast absurde Situation einer Erinnerungskultur, in der Lenin nach wie vor im Mausoleum blieb und Umbenennungsaktionen von Straßen, die nach kommunistischen Funktionären benannt waren, unterbrochen wurden. Der Stalinismus wurde weder juristisch verurteilt, noch wurden wissenschaftliche Zentren und Museen geschaffen. Die stalinistischen Repressalien blieben als Thema nur in den regionalen Museen in kleineren Ausstellungen vertreten, die Anfang der 1990er-Jahre entstanden waren: Nur im Uralgebiet, in Perm, wurde anstelle eines ehemaligen Lagers allein dank der Bemühungen von Historikern und Menschenrechtsaktivisten ein Museum errichtet. In Moskau blieb es bei einem Stein, der von den Aktivisten der Organisation „Memorial“ von dem ersten sowjetischen Straflager auf der Insel Solowki geholt und im Jahre 1990 auf dem Lubjankaplatz gegenüber dem Hauptsitz der Sicherheitsorgane aufgestellt wurde. Dieser Stein war damals vor allem als Zeichen in der Erwartung künftiger Lösungen gesetzt worden: Es hätte ein Mahn- oder Denkmal entstehen sollen, das dem riesigen Ausmaß des Terrors entspräche, aber es gab nach der Diskussion darüber keine weitere Entwicklung – und so ist es bis heute bei diesem einzigen Stein geblieben. Die allgemeine Entwicklung, was die Erinnerungsarbeit und die Aufarbeitung der Vergangenheit betrifft, ging in Richtung einer immer größer werdenden Diskrepanz zwischen dem, was das breite Publikum interessierte und was es überhaupt wissen wollte, und dem, was Historiker erforscht und veröffentlicht haben. Mehrere Bände mit Archivdokumenten zu unterschiedlichen Themen und Aspekten der sowjetischen Geschichte, insbesondere der Geschichte der politischen Repressalien, eine 100-bändige Bibliothek zur Geschichte des Stalinismus mit den wichtigsten Monografien nicht nur russischer, sondern auch europäischer und amerikanischer Autoren, Dokumentarfilme, Erinnerungsliteratur und vieles andere wurde in diesen Jahren veröffentlicht und aufgeführt. Vor allem wurden von der Organisation „Memorial“ Gedenkbücher mit kurzen biografischen Daten der Opfer des Terrors erstellt. Auf diese Weise konnte das Schicksal von über zwei Millionen Menschen erfasst werden.

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Aber all das fand nun – ganz anders, als das Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre war – keinen starken Anklang in der Öffentlichkeit, die sich sehr wenig dafür interessierte. In den 1990er-Jahren gab es auch von politischer Seite keine konsequente Geschichtspolitik hinsichtlich der Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen.

* * * Nach der Jahrtausendwende begann sich die russische Erinnerungslandschaft aber zu ändern. Spätestens ab 2005 kann man schon von einer Geschichtspolitik sprechen, deren Ziel es war, mithilfe der Vergangenheit ideologische Zukunftsperspektiven zu konstruieren. In einer politischen Situation, in der Worte wie ‚Demokratie‘ und ‚Freiheit‘ kaum mehr gebraucht wurden und ein vertikaler Machtausbau begann, in der im parlamentarischen System die Opposition systematisch ausgeschaltet wurde, die zivilgesellschaftlichen Strukturen geschwächt wurden und das Fernsehen unter staatliche Kontrolle kam, begann man mit der Konstruktion der sogenannten „nationalen Idee“. Die Grundthese dieser Idee waren ein starker Staat und eine Machtvertikale. Aus der Vergangenheit sollte eine bestimmte Tradition konstruiert werden, die beweisen sollte, dass Russland immer nur als starker Staat unter einem starken Herrscher erfolgreich sein konnte, dass es stets von Feinden und insbesondere vom feindlichen Westen umringt gewesen war. Die Idee des Patriotismus und des nationalen Stolzes sollte das Wesen dieser neuen Ideologie bilden. Deshalb begann man die Konstruktion einer Mythologie mit neuen und alten Bausteinen. Die Erinnerung an den Terror war dafür gar nicht zu gebrauchen, denn da hätte man nicht von Stolz, sondern von Schuld, Trauma und Verantwortung reden müssen. Deshalb sollte die Erinnerung an den Massenterror und an politische Repressalien aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt werden. Als Hauptmythos sollte der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ fungieren, wie das auch zu Breschnews Zeiten gewesen war. Allerdings mit einem großen Unterschied: In den 1970er-Jahren waren noch die Frontsoldaten am Leben gewesen und auch diejenigen, die unter schwersten Bedingungen und Anstrengung aller menschlichen Kräfte diesen Sieg ermöglicht hatten. Es waren noch Tausende von ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern am Leben gewesen, deren Schicksal als Menschen zweiter Klasse sehr schwer war, denn bis zur Perestroika-Zeit waren sie in der offiziellen Erinnerungskultur nicht weiter präsent gewesen. Der unermessliche Preis des Sieges aber war in der Erinnerung sehr stark vorhanden. Nach 30 Jahren waren die meisten Menschen, die diese Erfahrungen gemacht hatten, schon nicht mehr am Leben. Nach den schweren Folgen der Wirtschaftsreformen wurden aber gerade viele Vertreter der älteren Generationen zu den Trägern einer Sowjet-Nostalgie, sie verdrängten ihre eigenen Erfahrungen zugunsten eines bereinigten und geglätteten Bildes der sowjetischen Vergangenheit. Um diese Tendenz zu bestärken, griff auch die Politik wieder zu einer sowjetisch-nationalen Symbolik. So wurde z.B. die russische Hymne aus den 1990erJahren wieder gegen die alte sowjetische eingetauscht, mit einem etwas abgeänderten Text, den

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übrigens derselbe greise Autor, der bereits 1944 den Hymnentext verfasst hatte, neu schrieb. Der Feiertag der „Großen Oktoberrevolution“ von 1917 wurde zwar abgeschafft, aber dafür ein mythologisches Datum – der 4. November als „Tag der Nationalen Einheit“ – eingeführt. Gewählt wurde dieses Datum als angeblicher Tag der Vertreibung der polnischen Besatzer aus Moskau im Jahr 1612. Mit diesem Datum konnte niemand etwas selbst Erlebtes verbinden. Umgekehrt fand der 30. Oktober, das Datum, das einige Vertreter der Zivilgesellschaft als den „Tag des politischen Häftlings“ und als Erinnerungstag an die Opfer der politischen Repressalien (bis heute) einzusetzen versuchen, keine wirkliche Unterstützung. An diese Opfer wurde seit dem Jahr 2000 im Gegenteil immer weniger erinnert. Mehr noch, mit den Versuchen, eine nationale Idee aus Bausteinen wie Nationalstolz ein positives Bild der sowjetischen Vergangenheit und so ein positives Vergessen zu proklamieren, wurde die Figur Stalin als Symbol für einen starken Staat unter einem starken Führer wieder mehr als lebendig. Dies war ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass der in den 1990er-Jahren erneut ins Stocken geratene Prozess der ‚Entstalinisierung‘ nun wieder gänzlich zum Erliegen gekommen war. So fanden sich die die Vertreter der jüngeren Generationen in einer Situation wieder, in der eine kommunikative Erinnerung an die politischen Repressalien unter Stalin aufgrund des Ablebens der Generation, die von diesen betroffen gewesen war, kaum mehr existierte und eine diesbezügliche kulturelle Erinnerung wenig wahrnehmbar war, v. a. was symbolische Daten, Museen, Denkmäler u.a. betrifft. Mehr noch: Mit dem Bestreben, ein positives Bild der Vergangenheit zu schaffen, hat man angefangen, die Schulbücher umzuschreiben. Stalin wird nun als ein effektiver Manager dargestellt, der Russland, wenn auch mit harten Methoden, aber doch in ein Industrieland verwandelt und auch den Krieg gewonnen hat. Der unermessliche Preis dieser Mobilisierungspolitik wird als notwendiges Übel dargestellt. Diese Geschichtspolitik hat zusammen mit anderen Faktoren dazu geführt, dass bei Umfragen Stalin als „die wichtigste Figur des 20. Jahrhunderts“ von der Mehrzahl der Befragten positiv bewertet wird und er für die meisten nicht als Symbol für Massenterror und schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern als Sieger im „Großen Vaterländischen Krieg“ steht. Fast in allen Fernsehkanälen wird Stalin in unzähligen Serien, Filmen u.a. als Megastar gefeiert. Seinen Höhepunkt fand diese Entwicklung im Jahre 2009, als in dem Fernsehprojekt „Der Name Russlands“ in den Online-Abstimmungen Stalin auf den ersten Platz rückte und nur unter größten Anstrengungen, nämlich durch die Annullierung zahlreicher Stimmen, erreicht werden konnte, dass der mythologische Fürst Alexander Newskij aus dem 13. Jahrhundert zum „größten Russen aller Zeiten“ gewählt wurde. (Newskij war auch die Hauptfigur in Sergej Eisensteins gleichnamigem Film von 1938, in dem es um den Abwehrkampf der Russen gegen das Heer des Deutschen Ordens ging.) Gleichzeitig wurden stalinistische Gruppierungen aktiv und gingen juristisch gegen Massenmedien und Journalisten vor, die Stalin negativ bewerteten oder menschenrechtswidriger

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Verbrechen beschuldigten. Zum 65. Jahrestag des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ meldeten sich in Moskau mehrere Initiativen zur Errichtung von Stalin-Denkmälern. Viele davon waren bereits in den Jahren zuvor entstanden. Der damalige Bürgermeister von Moskau, Jurij Luschkow, kündigte an, zum 9. Mai 2010, dem „Tag des Sieges“, große Stalin-Plakate in den Moskauer Straßen aufzustellen. Proteste der Organisation „Memorial“, die auch ankündigte im Gegenzug antistalinistische Plakate aufzustellen, und die hochrangigen internationalen Gäste der Siegesfeier veranlassten Präsident Medwedew schließlich, die Initiative der Stalinisten (zumindest in Moskau) zu verhindern. Die Situation begann sich dann ab Mitte 2010 etwas zu ändern. Auch die Anerkennung des Verbrechens in Katyn und die Tragödie des polnischen Flugzeugabsturzes in Smolensk spielten dabei eine Rolle. Die sowjetische Verantwortung für die Erschießung von Tausenden polnischen Offizieren durch den NKVD war zwar bereits 1990 durch Gorbatschow eingestanden worden. Die gemeinsamen Gedenkveranstaltungen von Premierminister Putin und dem polnischen Präsidenten Donald Tusk, aber vor allem der Flugzeugabsturz der polnischen Präsidentenmaschine im April 2010 führten zur Veröffentlichung weiterer Dokumente durch Präsident Medwedew und zu einer offiziellen Erklärung der Staatsduma, dass das Verbrechen von Katyn auf direkten Befehl Stalins verübt worden war. Es waren aber eher andere Erscheinungen, in denen die Politik eine zunehmende Gefahr sah. Und zwar wurde Stalin mehr und mehr zu einem Idol nicht nur für alte Erzstalinisten, sondern auch für viele jüngere und ganz junge Rechtsradikale, die in den letzten Jahren sichtund hörbar geworden sind und nun auf den Massenkundgebungen mit nationalistischen und faschistoiden Parolen marschieren. Für sie ist Stalin ein deutlicher Gegensatz zur heutigen korrupten, „plutokratischen“ und vom Westen abhängigen schwachen politischen Elite. Stalin, der Angst einjagte, der die Korruption nicht zuließ, weil er ganze Gesellschaftsschichten erschießen ließ, der für den Westen die Bedrohung war, die kaukasischen Völker deportierte, aber selbst nichts besaß – keine Milliarden, Luxusjachten, Schlösser etc. – vereinigte sowohl Kommunisten als auch Rechtsradikale. All dies zwang den russischen Präsidenten zu bestimmten antistalinistischen Aussagen und zur Würdigung der Opfer des stalinistischen Terrors. Aber dass dies – ohne deutliche demokratische Veränderungen – zu einer konsequenten ‚Entstalinisierungs‘-Politik führt, kann man sich wahrscheinlich kaum erhoffen. Eines ist absolut klar: Die Figur Stalin erscheint in der russischen Geschichtswahrnehmung, und vor allem als Zukunftsvision, dann, wenn die Gefahr antidemokratischer Entwicklungen und eines militanten Nationalismus an der Schwelle steht. Umso mehr sollte die Zivilgesellschaft sich darum bemühen, dass eine Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit nicht aufhört.

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Holocaustgedenken und muslimische Identitätspolitik Debatten um den Holocaust Memorial Day in Großbritannien Im Jänner 2000, nur wenige Tage nach Beginn des Londoner Strafprozesses gegen den Holocaust-Leugner David Irving, sprach sich Premierminister Tony Blair für die Einführung eines Holocaustgedenktages aus. Ein Jahr später erklärte Großbritannien gemeinsam mit Deutschland und Belgien den 27. Jänner, den Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, zum nationalen Gedenktag.1 Vorangegangen war diesem Schritt die Stockholmer HolocaustKonferenz, bei der sich 40 Staaten aus allen Kontinenten zum „Kampf gegen Völkermord, Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit“ bekannt hatten. Der Holocausterziehung sollte in diesen Bemühungen eine besondere Rolle zukommen, und es wurde ein alljährlich abzuhaltender Holocaust-Gedenktag empfohlen.2 Im Jahr 2005 installierte auch das europäische Parlament den 27. Jänner zum offiziellen Holocaust Memorial Day (HMD), womit der Holocaust als gemeinsames europäisches Erbe betrachtet wurde und als negativer Gründungsmythos die Erfolgsgeschichte EU untermauern sollte.3 Bereits am 27. Jänner 2004 hielt Romano Prodi in seiner Funktion als Präsident der Europäischen Kommission fest: Out of the lesson of the Holocaust the new Europe was born, a united Europe, founded on respect for the human person, on the rule of law and on freedom. […] I would like to add my support for the proposal that a European Day of Remembrance be set aside in each country, to be chosen in the light of its own history, in order to remember the victims of the Holocaust and the struggle against all crimes against humanity, and to pay homage to all those who, sometimes at the risk of their own lives, have opposed and continue to oppose such horrendous deeds.4 1 Vgl. Harald Schmid: Europäisierung des Auschwitzgedenkens? Zum Aufstieg des 27. Jänner 1945 als „Holocaustgedenktag“ in Europa, in: Jan Eckel, Claudia Moisel (Hg.), Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 24), S. 174–202. 2 Declaration of the Stockholm Holocaust Forum in January 2000, and the statement by the European ministers of education in October 2002. URL: http://www.mfa.gov.il/MFA/MFAArchive/2000_2009/2000/1/Declara­ tion%20of%20the%20Stockholm%20International%20Forum%20o (11. 3. 2011). 3 Vgl. Matti Bunzl: Zwischen Antisemitismus und Islamophobie, in: John Bunzl, Alexandra Senfft (Hg.), Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost, Hamburg 2008, S. 53–74. 4 URL: http:// www.eurunion.org/ eu/ 2004–News-Releases/ EU/ NR-11/ 04– EU- COMMISSION- PRESIDENT- ROMANO- PRODI- TO- RECEIVE- AWARD- FROM- RABBINICAL- CENTER- OF- EUROPE. html (11. 3. 2011).

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Die Diskussion um den Holocaust als gemeinsame europäische Erinnerung muss im Kontext der politischen Bemühungen um eine europäische Identität analysiert werden, zumal die Installierung des HMD zeitgleich mit der EU-Erweiterung durch den Beitritt von zwölf neuen, hauptsächlich postkommunistischen Mitgliedsstaaten erfolgte. Die Installierung des HMD war zudem von der Debatte um einen „neuen Antisemitismus“5 begleitet. Kurz nach Beginn der Zweiten Intifada in Israel (Herbst 2000) brannten vor allem in Frankreich Synagogen, Friedhöfe wurden geschändet und auch einzelne Juden tätlich angegriffen.6 Stand bisher vor allem Deutschland unter Antisemitismusverdacht, so richtete sich der Vorwurf nun primär gegen Frankreich; mittlerweile gilt für manche nicht mehr Frankreich, sondern Großbritannien als das europäische Land mit dem ausgeprägtesten Antisemitismus.7 Neben Linken standen vor allem Muslime unter Antisemitismusverdacht, selbst einige Wissenschaftler warnten bereits vor den Gefahren eines „Islamofaschismus“. Doch während jüdische Organisationen und Repräsentanten in Europa von einem „Antisemitismus wie in den 1930er-Jahren“ sprachen,8 sprachen Muslime vor einer um sich greifenden Islamophobie und betrachteten sich als die „Juden der Gegenwart“.9 Die EU musste sich somit nicht nur mit der Problematik eines „neuen Antisemitismus“, sondern zudem mit einer zunehmenden Islamfeindlichkeit auseinandersetzen.10 Auch wenn der Begriff der Islamophobie wissenschaftlich

  5 Werner Bergmann, Juliane Wetzel: Manifestations of anti-semitism in the European Union – first semester 2002, synthesis report, Wien / Berlin 2003, URL: http://www1.yadvashem.org/yv/en/education/lesson_plans/pdf/ antisemitism_workshop3.pdf, S. 19; vgl. auch Antisemitism Worldwide 2000/2001, hg. v. Stephen Roth Institute for the Study of Contemporary Anti-Semitism and Racism, Tel Aviv University.   6 Vgl. exemplarisch Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Nathan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus. Eine globale Debatte, Frankfurt a.M. 2004; Tobias Kaufmann, Manja Orlowski (Hg.): „Ich würde mich auch wehren …“ Antisemitismus und Israel-Kritik – Bestandsaufnahme nach Möllemann, Potsdam 2002; Antisemitismus – Antizionismus – Israelkritik, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 33 (2005), Göttingen 2005; Helga Embacher, Margit Reiter: Israel-Kritik und (neuer) Antisemitismus seit der Zweiten Intifada in Deutschland und Großbritannien im Vergleich, in: Monika Schwarz-Friesel, Evyatar Friesel, Jehuda Reinharz (Hg.), Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte, Berlin / New York 2010, S. 187–212.   7 Vgl. Barry Kosmin, Paul Iganski (Hg.): A new antisemitism? Debating judeophobia in 21st century in Britain, London 2003; Report of the all-party parliamentary inquiry into antisemitism: government response, 29th March 2007, presented to parliament by the secretary of state for communities and local government by command of Her Majesty 29th March 2007; Georg Weidenfeld: Wo stehen eigentlich die Briten?, in: Die Welt (7. 3. 2010).   8 Vgl. exemplarisch Abraham H. Foxman: Never again? The threat of the new anti-semitism, San Francisco 2003; Phyllis Chesler: The new anti-semitism. The current crisis and what we must do about it, San Francisco 2003.   9 Vgl. exemplarisch India Knight: Muslims are the new Jews, in: Sunday Times (15. 10. 2006); Maleiha Malik: Muslims are now getting the same treatment Jews had a century ago, in: The Guardian (2. 2. 2007); Muslims as new Holocaust fodder?, in: Muslim News (Oct. 2006). 10 Vgl. exemplarisch David Cesarani: Why Muslims are not the new Jews, in: Jewish Chronicle (22. 10. 2009); vgl. dazu auch Matti Bunzl: Anti-semitism and islamophobie. Hatreds old and new in Europe, Chicago 2007 (mit Beiträgen u.a. von Esther Benbassa, Brian Klug, Paul A. Silverstein); Richard Herzinger: Identitätsbruch. Wachsender Antisemitismus in Europa bringt die EU in Verlegenheit, in: Die Zeit (19. 2. 2004).

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umstritten ist11 und über die Legitimität eines Vergleichs zwischen Antisemitismus und Islamophobie mittlerweile auch auf wissenschaftlicher Ebene höchst aufgeladene Debatten geführt werden, kann die Zunahme der Islamfeindlichkeit nicht ignoriert werden. Vor allem auch in Großbritannien richtete sich spätestens nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 der Blick auf den Islam im eigenen Land. Tony Blair bemühte sich zwar ganz besonders, den Islam als friedensliebende Religion, die mit den Terroranschlägen nichts gemein habe, darzustellen.12 Für viele Medien erwiesen sich allerdings radikale Muslime interessanter als Muslime, die sich von 9/11 distanzierten. Fast täglich wurde über junge Briten berichtet, die sich in Ausbildungslagern in Kaschmir, Bosnien und Afghanistan auf den Dschihad vorbereiteten.13 Zunehmend mehrten sich auch die Warnungen vor den Gefahren von „Londonistan“, womit unter anderem gemeint war, dass die britische Hauptstadt seit den 1980er-Jahren durch ein liberales Asylgesetz zum Refugium eines weltweit agierenden islamistischen Extremismus geworden sei.14 Nachdem im Juli 2005 in Großbritannien sozialisierte junge Muslime auf die Londoner U-Bahn und Autobusse Selbstmordanschläge mit über 50 Toten verübt hatten, stellten zunehmend auch Liberale und Linke das Konzept des Multikulturalismus infrage.15

Widerstände gegen den Holocaust Memorial Day In Großbritannien kam im Vergleich zu vielen anderen Ländern dem Holocaust Memorial Day von Beginn an große Aufmerksamkeit zu (z.B. Feierlichkeiten in Westminster Hall mit 2000 Gästen, Reden von führenden Politikern).16 Großbritanniens Vorreiterrolle hinsichtlich der Installierung des HMD ist aber insofern erstaunlich, da der Inselstaat im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten, die ebenfalls den HMD einführten, nicht von Deutschland besetzt gewesen war und somit keine Mitschuld an Judendeportation und Kollaboration zu tragen hatte. Großbritannien machte zwar wie die meisten anderen Länder nach der national-

11 Christopher Allen: Was ist Islamophobie? – Ein evolutionärer Zeitstrahl, in: Urs Altermatt, Mariano Delgado, Guido Vergauwen (Hg.), Der Islam in Europa. Zwischen Weltpolitik und Alltag, Stuttgart 2006, S. 67–78. 12 Vgl. exemplarisch The Muslim News (28. 9. 2001); The Times (9. 10. 2001), S. 5; Mirror (18. 9. 2001), S. 9; Daily Mail (8. 10. 2001); Guardian (17. 9. 2001), S. 9. 13 Vgl. Sean O’Neal, Daniel McGrory: The suicide factory. Abu Hamza and the Finsbury Park mosque, London et al. 2006; The Mirror (18. 9. 2001), S. 9; Daily Mail (8. 10. 2001); The Guardian (17. 9. 2001), S. 9. 14 Vgl. Melanie Philipps: Londonistan. How Britain is creating a terror state within, London 2006. 15 Vgl. dazu Helga Embacher: „A special relationship“. Der 11. September und seine Folgen in Großbritannien, in: Margit Reiter, Helga Embacher (Hg.), Europa und der 11. September, Wien / Köln / Weimar 2011, S. 77–99. 16 Vgl. Dan Stone: Day of remembrance or day of forgetting? Or, why Britain does not need a Holocaust Memorial Day, in: Patterns of Prejudice 34.4 (1. 10. 2000), S. 53–59; David Cesarani: Myth and memory, in: The Guardian (24. 1. 2001); Will Hutton: A sceptic on Holocaust Memorial Day, in: The Observer (21. 1. 2001); Bernard Harrison: The resurgence of antisemitism. Jews, Israel and liberal opinion, Lanham, MD 2006, S. 117–127.

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sozialistischen Machtübernahme die Grenzen dicht und limitierte in Palästina als Mandatsmacht die Einreise von jüdischen Flüchtlingen, doch fanden auch zwischen 50.000 bis 60.000 jüdische Flüchtlinge Aufnahme. Der Zweite Weltkrieg ist in der kollektiven britischen Erinnerung bis heute als heroischer Kampf gegen Hitlerdeutschland („Britain’s Finest Hour“) an der Seite der USA („Special Relationship“) verankert.17 Nach dem Krieg gelang dem britischen Judentum ein schneller sozialer und politischer Aufstieg. Juden gelten als die erfolgreichste und am meisten geschätzte Minderheit, als role model für Zuwanderer. Die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher umgab sich mit vielen jüdischen Beratern; ihr Kabinett zählte einmal sogar fünf jüdische Minister.18 Auch wenn (oder gerade weil) die kollektive britische Erinnerung an den Holocaust wenig mit Schuldgefühlen verbunden ist, erwies sich das Bestreben, den Holocaust zu einem gemeinsamen Erbe zu erklären, als keineswegs einfach. Viele irritierte bereits die Wahl des Datums, da in Großbritannien die Befreiung der Konzentrationslager weniger mit Auschwitz als vielmehr mit der durch britische Soldaten erfolgten Befreiung Bergen-Belsens assoziiert wird. Im Kontext der sich intensivierenden Debatte um Kolonialismus und Großbritanniens Beteiligung am Sklavenhandel – Tony Blair entschuldige sich 2007 für Großbritanniens Rolle – erachteten manche auch einen offiziellen Gedenktag an die Sklaverei für wichtiger.19 Auch der 1994 erfolgte Genozid in Ruanda diente vielen Kritikern des HMD zur Abwehr. Die tägliche Todesrate sei während dieses Genozids fünfmal höher gewesen als in den Konzentrationslagern am Höhepunkt der Judenverfolgung, hieß es beispielsweise in einem Kommentar im linksliberalen The Guardian.20 Selbst Repräsentanten der jüdischen Community reagierten zuerst skeptisch. Oberrabbiner Jonathan Sacks teilte dem britischen Premierminister Tony Blair mit, dass aus seiner Sicht kein nationaler Holocaustgedenktag notwendig sei, da Juden bereits am Yom Hashoah, dem offiziellen israelischen Holocaustgedenktag, ihren Gedenktag begehen würden.21 Hinter dieser Abwehrhaltung muss allerdings Angst vor dem Vorwurf, dass Juden erneut ihr Leiden im Holocaust instrumentalisieren würden, vermutet werden.22 Die armenische Minderheit wiederum befürchtete, dass damit „ihr“ Genozid übergangen werde,23 ein Genozid, dessen Anerkennung wiederum britische Muslime aus Loyalität gegen-

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Timothy Garton Ash: Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance der Krise, München / Wien 2004. Todd M. Endelman: The Jews of Britain 1656 to 2000, Berkley / Los Angeles / London 2002. Julian Lee: The road to remembrance, in: The Times (27. 1. 2001); The Economist (19. 10. 2006). Geoffrey Robertson: Britain’s own Holocaust shame, in: The Guardian (29. 1. 2001). Sacks told Blair: “We do not need Holocaust day”, in: Jewish Chronicle (2. 2. 2007); Simon Rocker: Naturei Karta man fears „backlash“ over HMD, in: Jewish Chronicle (26. 1. 2007); Do Britain’s want a Jewish prime minister? Poll result, in: Jewish Chronicle (23. 1. 2004). 22 In einer 2004 durchgeführten Umfrage glaubte einer von 7 Briten, dass Juden ihr Leiden im Holocaust übertreiben würden. Vgl. Jewish Chronicle (23. 1. 2004). 23 Philip Johnston: Anger over the ‘forgotten’ massacre, in: The Telegraph (11. 1. 2001); Hutton, A sceptic on Holocaust Memorial Day.

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über der Türkei vehement ablehnten.24 Es war aber vor allem das Muslim Council of Britain, an dessen Verhalten sich die Debatte um den HMD zuspitzte. Obwohl unter Androhung der Streichung von staatlichen Subventionen politisch massiv unter Druck gesetzt,25 verweigerte das Muslim Council of Britain als offizielle Vertretung und Schirmorganisation der rund 1,8 Millionen Muslime bis 2009 die Teilnahme am HMD; einige der insgesamt über 400 Teilorganisationen bleiben dem Gedenken weiterhin fern, unter anderem aus Protest gegenüber dem Krieg in Gaza Anfang 2009.26 An der britischen Debatte um den HMD wird somit deutlich, dass der Holocaust nicht nur in den einzelnen EU-Mitgliedsländern, sondern auch in den Migrationsgesellschaften unterschiedlich erinnert und instrumentalisiert wird. Ermöglicht wurde diese Aneignung des Holocaust durch dessen Globalisierung, die in den 1980er-Jahren in den USA ihren Ausgang nahm und sich mit Ende des Kommunismus zusehends intensivierte. Konkret wird darunter verstanden, dass der Holocaust durch seine Enthistorisierung zunehmend zu einer mora­ lischen Instanz, zu einem Maßstab für humanistische und universalistische Identifikationen und damit auch zum Ausgangspunkt einer neuen grenzüberschreitenden Solidarität wurde.27 Diese Enthistorisierung ermöglichte eine Instrumentalisierung der jüdischen Leidensgeschichte zur Immunisierung gegen Rassismus, Antisemitismus und mittlerweile gegen Islamophobie. Auch der britischen Regierung diente der Holocaust als Grundlage für eine universale Menschenrechtspolitik, indem dem HMD ein multiethnischer Charakter verliehen und viele andere Genozide in die Gedenkkultur mit einbezogen wurden. Von Beginn an waren neben Holocaust-Überlebenden auch Zeitzeugen der Völkermorde in Ruanda, Kambodscha, Bosnien und Kosovo geladen; nach einigen Debatten durften auch Überlebende des Völkermordes in Armenien teilnehmen. Wie dazu Premierminister Tony Blair in einer Rede anlässlich des HMD betonte, habe der „nationalsozialistische Völkermord“ als der „größte Akt einer kollektiven Bosheit“ zu gelten, weshalb der HMD als „Triumph über dieses Böse“ zu betrachten sei.28 Es ist nicht unwesentlich, dass Blair und vor allem auch rechte britische Medien wie Daily Mail und das auflagenstarke Boulevardblatt The Sun den „Kampf gegen den Terrorismus“ und damit auch den Krieg im Irak mit ähnlichen Worten rechtfertigten: Seite an Seite mit den USA sei es Großbritanniens Pflicht, wie einst im Kampf gegen Hitler nunmehr gemeinsam mit den USA gegen das „neue Böse“, dieses Mal verkörpert in Saddam Hussein, vorzugehen.29

24 Prof. S.R. Sonyel: What about the genocide of Muslims? in: Muslim News (23. 2. 2001). 25 Muslim attack Kelly in Holocaust day row, in: Jewish Chronicle (10. 11. 2006), S. 4; Lorenzo Vidino: The new Muslim brotherhood in the west, New York 2010, S. 130 ff. 26 Jewish Chronicle (28. 1. 2010). 27 Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, Frankfurt a. M. 2001; Natan Sznaider: Die Amerikanisierung des Holocaust, in: Ulrich Beck, Nathan Sznaider, Rainer Winter, Globales Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierung, Bielefeld 2003, S. 219–238. 28 Schmid, Europäisierung, S. 193. 29 Embacher, A special relationship, S. 81 ff.

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Der Holocaust Memorial Day im Kontext der Debatte um einen „Neuen Antisemitismus“ Auch wenn in Großbritannien diverse Umfragen insgesamt ein sehr geringes Wissen über den Holocaust zutage brachten und keineswegs nur Muslime den HMD in einen Genocide Day umgewandelt sehen möchten,30 wurde dieser Gedenktag im Kontext des Terrorismus zum Lakmustest für Muslime. Manche sahen in der Haltung des Muslim Council of Britain auch eine Bestätigung für einen stark ausgeprägten muslimischen Antisemitismus. Muslime wiederum kritisierten, dass die Demokratiefähigkeit des Islam an der Akzeptanz des HMD gemessen werde, obwohl der Holocausterinnerung in Großbritannien wenig Bewusstsein zukommen würde31 und das Wissen um den Holocaust insgesamt sehr gering sei.32 Sind britische Muslime tatsächlich notorische Antisemiten und hat, wie die Jewish Chronicle befürchtete, das Muslim Council of Britain durch seine jahrelange Ablehnung des HMD seinen moderaten Charakter verloren?33 Wenden wir uns zuerst den Argumenten zu, mit denen das Muslim Council of Britain seine Ablehnung begründete. Vertreter des Muslim Council of Britain wiesen nicht nur jeden Vorwurf des Antisemitismus vehement zurück, sondern betonten auch, dass sie den Holocaust als das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts, begangen von Europäern, betrachten würden. Wie es dazu in Muslim Weekly hieß, würde der HMD jedoch so lange als „zu exklusiv“ abgelehnt, bis auch andere Genozide in das offizielle Holocaustgedenken mit eingeschlossen werden.34 Als Alternative zum HMD wurde die Einführung eines Genocide Memorial Day vorgeschlagen, als eindeutiges Signal dafür, dass das Leben von allen Menschen, gleich welcher „Rasse oder Religion“, denselben Wert habe.35 Auch der Generalsekretär des Muslim Council of Britain, Sir Iqbal Sacranie, warnte gerade im Hinblick auf die aus Auschwitz gezogene Lehre „Nie mehr wieder“ vor einem „zu exklusiven“ Gedenktag, mit dem sich Muslime nicht identifizieren könnten: 30 In Jänner 2007 gab die Jewish Chronicle eine Studie in Auftrag, wonach von 1132 Befragten 28 % der 18- bis 29-Jährigen nicht sicher waren, ob es sich beim Holocaust um einen Mythos handelte, 31 % den HMD in einen Genocide Day umändern wollten und 63 % vertraten, dass die Leugnung des Holocaust nicht als Verbrechen geahndet werden sollte. Vgl. Barry Doberman, Rachel Fletcher: Young in dark about Shoah, in: Jewish Chronicle (19. 1. 2007). 31 Das erste Holocaustdenkmal wurde vom Board of Jewish Deputy, der offiziellen jüdischen Vertretung, 1983 im Hyde Park errichtet. Erst 2001 installierte das Imperial War Museum eine kleine Ausstellung zum Holocaust. Vgl. Steven Cooke: Negotiating memory and identity. The Hyde Park holocaust memorial, London, in: Journal of Historical Geography 26.3 (2000), S. 449–465. 32 Iqbal Sacranie: British Muslims are judged by “Israel test”, in: The Guardian (21. 8. 2005). 33 Are British Muslims notorious anti-semites? in: Jewish Chronicle (20. 10. 2006), S. 12; The Muslim Council of Britain’s attitude is exemplary of the anti-semitism that is prevalent and tolerated in the Muslim community, in: Times Online (20. 9. 2005); Sacks lambastes „anti-semitic“ Muslim radicals, in: Jewish Chronicle (19. 11. 2001). 34 The Muslim Weekly (2. 8. 2006). 35 Iqbal Sacranie: British Muslims are judged by “Israel test”, in: The Guardian (21. 8. 2005).

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The message of the Holocaust was ‘never again’, and for that message to have practical effect on the world community it has to be inclusive. We can never have double standards in terms of human life. Muslims feel hurt and excluded that their lives are not equally valuable to those lives lost in the Holocaust time.36

Gerade aufgrund des multiethnischen Charakters, der den britischen HMD von Beginn an auszeichnete, erweist sich diese Kritik als keineswegs gerechtfertigt. Vielmehr ging es um die Einbeziehung der Palästinenser, den sich „täglich in Palästina vollziehenden Genozid“ in das britische Holocaustgedenken. Vertreter muslimischer Organisationen drückten dies auch ganz offen aus, indem sie kritisierten, dass der HMD dem „palästinensischen Holocaust“ keine Bedeutung beimessen würde.37 Neben dieser damit erfolgten Relativierung des Holocaust mischten sich in die Argumentation gegen die Installierung eines HMD auch antisemitische Stereotype, wie jenes von der „Allmacht der Juden“. Muslime führten die Einführung des HMD auch auf den starken politischen Einfluss von Juden zurück, die diesen Gedenktag fortan zur Rechtfertigung sämtlicher von Israel begangenen Verbrechen instrumentalisieren würden.38 Selbst in den als moderat geltenden Q-News wurde vertreten „that Zionist activists have milked the Holocaust for all it is worth“.39 Salma Yaqoob, eine führende britische Friedensaktivistin in der Stop the War Coalition, der Protestbewegung gegen den Irakkrieg, und Sprecherin der Birminghamer Zentralmoschee, warf „den Zionisten“ vor, den Holocaust zur Verteidigung von Israels „rassistischer und mörderischer Politik gegenüber den Palästi­ nensern“ zu missbrauchen.40 Die Kritik, dass auch Juden und Israel den Holocaust zur Durchsetzung bestimmter Interessen instrumentalisieren würden, ist keineswegs neu und nimmt mittlerweile auch in der innerjüdischen Debatte einen zentralen Stellenwert ein.41 Viele (nicht nur) Muslime gingen jedoch über eine legitime Kritik hinaus, indem sie sich einer Strategie der Anspielung bedienten: Die als so mächtig erachteten „Zionisten“ wurden nie konkret beim Namen genannt, was der Fantasie über die „jüdische Allmacht“ freien Lauf ließ.

36 Iqbal Sacranie: Holocaust Memorial Day is too exclusive. We must honour all victims of genocide equally, in: The Guardian (20. 9. 2005). 37 Vgl. exemplarisch: Muslim attack Kelly in Holocaust day row, in: Jewish Chronicle (10.11.2006); David Leppard: Muslims boycott Holocaust remembrance, in: The Times (23. 1. 2006). 38 The Muslim leaders who will sell us out again to Holocaust day! (17. 1. 2006), URL: http://www.mpacuk.org/ content/view/1307/103/ (28. 12. 2006). 39 Abidullah Ansari: Postscript: panning panorama, in: Q-News (Nov. 2005), S. 15–16. 40 The Guardian (12. 12. 2006). 41 Vgl. z.B. Avraham Burg: Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss, Frankfurt a.M. / New York 2009; Alfred Grosser: Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland nach Israel, Reinbeck 2009; Moshe Zimmermann: Die Angst vor dem Frieden. Das israelische Dilemma, Berlin 2010; Moshe Zuckermann: „Antisemit“. Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Wien 2010. Vor allem die Publikation von Grosser ist teilweise sehr umstritten.

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Holocaustrelativierung und Viktimisierung In der Debatte um den HMD wurden muslimische Organisationen auch mit dem Vorwurf der Holocaustleugnung konfrontiert. Dieser Vorwurf geht allerdings an der tatsächlichen Problematik vorbei und dient keineswegs der Analyse eines äußerst vielschichtigen Phänomens. Tatsächlich wurde – von radikalen Islamisten abgesehen – der Holocaust nicht geleugnet, sondern zur Untermauerung einer muslimischen Opferrolle sich selbst angeeignet und somit relativiert. Symptomatisch dafür ist die Position von Tariq Ali, einem noch unter britischer Kolonialherrschaft in Lahore geborenen, prominenten britischen Linken. Ali bedauerte wiederholt den Holocaust, wofür er explizit den „europäischen Antisemitismus“ verantwortlich machte, forderte aber gleichzeitig, dass die Palästinenser als die „sekundären Opfer“ des Holocaust anerkannt werden müssen.42 Damit fand der Holocaust zwar als das „größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts“ Anerkennung, doch mutierten durch diese Aktualisierung Juden bzw. Israel zu „neuen NS-Tätern“.43 In muslimischen Medien (Muslim Weekly, Muslim News) finden sich viele Vergleiche zwischen Israel bzw. Ariel Sharon und dem Nationalsozialismus bzw. Hitler, wozu die Intifada, der Krieg im Libanon (2006) und Gaza (2009) mit den zahlreichen zivilen Opfern einen ständig neuen Nährboden bereiteten. Als Israel 2004 den gelähmten Hamas-Gründer, Sheikh Ahmed Yassin, ermordete, sprach der als moderat geltende Sprecher des Muslim Council of Britain, Iqbal Sacranie, von einer „Endlösung“.44 Im Mai 2004 warf er der „mörderischen israelischen Führung“ erneut ethnische­ Säuberungen und einen Genozid an den Palästinensern vor. Als Reaktion zog die jüdi­sche Sternberg-Stiftung die bereits erfolgte Nominierung Sacranies für den alljährlich vergebenen Preis für das Engagement im interreligiösen Diskurs zurück.45 Das Muslim Council of Britain ließ sich davon jedoch wenig einschüchtern: Sacranies Nachfolger, Abdul Bari, beschimpfte die israelische Regierung als ein „verbrecherisches Regime” von „zionistischen Fanatikern“.46 Der Konflikt um einen muslimischen Antisemitismus entzündete sich auch an der Haltung zu den palästinensischen Selbstmordanschlägen im Kernland Israel, die keineswegs nur in radikalen Kreisen als Widerstandskampf gegen den „letzten noch existierenden imperialistischen Staat der Welt“ betrachtet werden. Das Muslim Council of Britain distanzierte sich zwar eindeutig von den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington sowie von den Anschlägen in Madrid und den Selbstmordattentaten auf die U-Bahn in London; die Verurteilung der palästinensischen Selbstmordanschläge fiel allerdings weniger eindeutig aus, selbst dann, wenn Frauen und Kinder zu den Opfern zählten.47 Nicht nur radikale Islamisten, 42 Tariq Ali, David Barsamian (Hg.): Speaking of empire and resistance. Conversation with Tariq Ali, New York / London 2005. 43 Vgl. Jewish Chronicle (27. 10. 000), S. 4. 44 Muslim Community reacted angrily – Israel accused of “state terrorism against a disabled man”, in: Jewish Chronicle (26. 3. 2004). 45 Jewish Chronicle (28. 5. 2004), S. 1. 46 Concern grows over Muslim Council’s agenda, in: Jewish Chronicle (20. 10. 2006). 47 Vgl. exemplarisch Jewish Chronicle (27. 10. 2000), S. 14.

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auch Sprecher des Muslim Council of Britain und der Muslim Association of Britain, die in der Stop the War-Protestbewegung eine dominante Rolle einnahm, sahen darin ein legitimes Recht zur Selbstverteidigung im „Kampf gegen die Kolonialmacht Israel“, die mit Unterstützung der USA einen „palästinensischen Völkermord“ begehen würde. Salma Yaqoob reihte die Selbstmordanschläge der Palästinenser in die „Tradition des anti-kolonialen Krieges“ ein, der ihrer Meinung nach 1916 mit Irland begonnen habe und in Algerien und Vietnam fortgesetzt wurde. In jedem dieser Kriege sei, so Yaqoob, ein blutiger Guerillakrieg der erste Schritt zur Selbstbefreiung gewesen, womit die Selbstmordattentate von Hamas und Hisbollah gerechtfertigt werden sollten.48 Als logischer Schritt dieser anti-imperialistischen Haltung folgte eine Identifikation mit Hamas und Hisbollah, den „legitimen Widerstandsbewegungen gegen eine Okkupationsmacht“.49 Viele muslimische Organisationen, darunter auch Repräsentanten des Muslim Council of Britain, verweigern Israel bis heute das Existenzrecht, wobei die Vorstellung über eine Einstaatenlösung je nach politischer und religiöser Ausrichtung variiert. Dr. Ghayaduddin Siddiqui vom Muslim Parliament of Great Britain und der Palästinenser Dr. Azzam Tamimi, Vorsitzender der Muslim Association of Britain, forderten in aller Öffentlichkeit „a united state of the Middle East under Islamic law“, in dem Juden als Minderheit toleriert werden sollten.50 „Israel simply has not right to exist“, vertrat auch der bekannte Journalist Faisal Bodi im The Guardian vom 3. Jänner 2001. Im Jahr 2006 sprachen sich in einer Umfrage allerdings 52 Prozent der befragten Muslime für das Existenzrecht Israels aus.51 Die Repräsentativität muslimischer Organisationen muss somit immer auch hinterfragt werden, zumal auch aus wei­ teren Umfragen hervorgeht, dass nur die Hälfte der britischen Muslime das Muslim Council of Britain als offizielle Vertretung anerkennen will und zu einem noch geringeren Prozentsatz den politischen Ansichten dieser offiziell anerkannten muslimischen Vertretung zustimmt.52 Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass vor allem bei jungen Muslimen Antizionismus gepaart mit Antiamerikanismus weit verbreitet ist. Muslimische Communities zeigten sich nach dem 11. September insgesamt sehr anfällig für krudeste Weltverschwörungstheorien, wonach die CIA und Zionisten für 9/11 verantwortlich seien und Israel als wahrer Profiteur zu gelten habe.53 Laut einer Umfrage der The Sunday Times fanden 40 Prozent der befragten Muslime, 48 Salma Yaqoob: British Islamic political radicalism, in: Tahir Abbas (Hg.), Islamic political radicalism. A European perspective, Edinburgh 2007, S. 279–294. 49 Vgl. exemplarisch: The Guardian (27.09.2001), S. 23; Muslim News (10. 9. 2002) und (22. 2. 2002), S. 1; John Lloyd: The beginning of a virtual revolution, in: The New Statesman (17. 9. 2001); Ed Husain: The Islamist, London 2007, S. 71–176. 50 Abdul Taher: Ditch Holocaust day, advisers urge Blair, in: The Times (11. 9. 2006); Jewish Chronicle (9. 5. 2003), S. 32, und (19. 3. 2004), S. 4. 51 Die Umfrage wurde von Populus im Auftrag von einigen jüdischen Organisationen durchgeführt. Vgl. Jewish Chronicle (10. 2. 2006), S. 1. 52 Kenan Malik: From Fatwa to Jihad. The Rushdie affair and its legacy, London 2009, S. 129; Jenni Frazer: Dialogue of despair, in: Jewish Chronicle (20. 7. 2005). 53 Vgl. Husain, The Islamist, S. 203; Q-News (Sept. 2001), S. 10–11.

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dass Osama bin Laden einen gerechten Krieg gegen Amerika führen würde und unterstützten den Kampf von britischen Muslimen in Afghanistan.54 Die Identifikation mit Bin Laden als Held im Kampf gegen den Westen ist Ausdruck einer seit dem ersten Golfkrieg (1990/91) zu beobachtenden transnationalen muslimischen Identität, die sich stark von der Identifikation mit muslimischen Opfern (Bosnien, Kaschmir, Palästina, Afghanistan) speist. Im Jahr 2002 zeigten sich beispielsweise britische Muslime in einer Umfrage über die Vorgänge in diesen Ländern wesentlich betroffener als über Probleme (Arbeitslosigkeit, Schulbildung, Wohnverhältnisse) im eigenen Land. Die Meinung, dass für tote Muslime in Indien, Palästina oder Bosnien jede Empathie fehle, während der gesamte Westen um amerikanische und israelische Terroropfer trauere, fand zunehmend Verbreitung.55 Die Identifikation mit sämtlichen Muslimen als Opfer des Westens muss aber auch als Ausdruck des Unmutes gegenüber dem eigenen Staat interpretiert werden, der sich nicht nur aktiv am Krieg im Irak beteiligte, sondern von dem sich Muslime politisch und wirtschaftlich ausgegrenzt und missachtet fühlten. Nicht nur junge, sozial deklassierte Muslime, auch muslimische Studenten empfanden sich zunehmend als die „Palästinenser der Briten“, ausgedrückt in den Worten Amjad Hussains: „What we have lived with in Bradford and Palestine is not right.“56 Zur Anerkennung ihres eigenen Leidens zogen britische Muslime auch Vergleiche zwischen dem Antisemitismus der 1930er-Jahre und der gegenwärtigen Islamophobie. Manche setzten das Ausmaß der Islamfeindschaft sogar mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung gleich.57 In dieser Opferrolle gefangen, stilisierten sich britische Muslime sogar zum Opfer Israels, der „Zionisten“ und letztendlich aller Juden. Dazu hieß es beispielsweise in Q-News: Though Muslims and Arabs have suffered just as Jews did at the hands of European Christians, Jews are protected today by certain laws, while Muslims are suffering today at the hands of Americans, Europeans, and of course, Zionist Jews, both Sephardim and Ashkenazi.58 54 Farrukh Dhondy: An Islamic fifth column, in: Wall Street Journal (27. 12. 2001). 55 Towards a British Islam, in: The Guardian (1. 4. 2004); Ziauddin Sardar: Mobilising Islam against terror, in: The Guardian (16. 2. 2003). 56 Joe Ahmed-Dobson, Ajmal Masroor: British Muslims feel betrayed, in: The Guardian (23. 4. 2002). Vgl. auch Muslim News (31. 8. 2007); Jeevan Vasagar: Key role for young muslims in struggle for peace, in: The Guardian (14. 2. 2003); Alan Travis: Desire to integrate on the wane as Muslims resent “war on Islam”, in: The Guardian (16. 3. 2004). 57 Maleiha Malik: Muslims are now getting the same treatment Jews had a century ago, in: The Guardian (2. 2. 2007); Muslims as new Holocaust fodder?, in: Muslim News No. 210 (Oct. 2006 – 4 Shawwal 1427); Faisal Bodi: My claim to Jerusalem, in: The Guardian (24. 10. 2000); India Knight: Muslims are the new Jews, in: The Sunday Times (15. 10. 2006); Fuad Nahdi, editor of Q-News, in: Jewish Chronicle (29. 11. 2002). Ein etwas weniger dramatischer Vergleich wurde zwischen dem britischen Antisemitismus der 1960er-Jahre, wo Juden auch noch isoliert waren, und der derzeitigen Islamophobie gezogen. Vgl. Richard Stone: British Muslims and British Jews, in: Q-News (Oct.–Feb. 2002). 58 Rachard Itani: Oh, the hypocrisy, in: Q-News (Feb. 2006), S. 26–27.

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In dieser Logik gefangen, galten selbst britische Juden als Feinde. Selbst muslimische Organisationen waren alarmiert, als 2006 eine Umfrage veröffentlich wurde, wonach 37 Prozent der 500 befragten Erwachsenen auch britische Juden als „legitimate target as part of the struggle for justice in the Middle East“ betrachteten.59 Die Kontroverse um den HMD trug somit auch zur massiven Trübung der seit der Intifada im Herbst 2000 ohnehin äußerst strapazierten Beziehung zwischen der jüdischen und muslimischen Minderheit bei.60 Während Muslime Juden beschuldigten, sich zu wenig von Israels Politik zu distanzieren,61 verstärkte sich in der jüdischen Community der Eindruck, dass viele, wenn nicht alle Muslime Antisemiten seien.62 Betrachtet man die Haltung offizieller muslimischer Organisationen zum HMD und somit auch zum Palästinakonflikt, so lassen sich die Grenzen zwischen radikalen und gemäßigten Organisationen nur schwer festmachen. Orientiert man sich an der von der EU 2005 vorgelegten Arbeitsdefinition zum Begriff des Antisemitismus,63 so müssen viele Stellungnahmen des Muslim Council of Britain und der Muslim Association of Britain als antisemitisch betrachtet werden; wie in der EU-Definition vorgeschlagen, habe der Vergleich zwischen der heutigen Politik mit der NS-Zeit, Anspielungen auf eine „jüdische Lobby“ oder der Vorwurf, dass Israel den Holocaust instrumentalisieren würde, als antisemitisch zu gelten. Zur Analyse des muslimischen Antisemitismus in Großbritannien sollten jedoch neue Fragestellungen entwickelt werden und der Motivforschung ein zentraler Stellenwert zukommen. Ganz wesentlich ist die Frage, wann und warum dem Palästinakonflikt in einer vorwiegend aus dem indischen Kontinent stammenden muslimischen Bevölkerung eine so dominante Rolle zukommt. Ebenso zentral ist die Frage nach der kolonialen Erinnerung, der selbst in der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration eine identitätsstiftende Rolle zukommt. Während die Motive linker Israelkritik, die sich oft kaum von der muslimischen Haltung unterscheidet und laut EU-Definition ebenfalls als antisemitisch zu verurteilen ist, auf koloniale Schuldgefühle zurückzuführen sind und die Parteinahme für die Palästinenser als längst ausstehende Wiedergutmachung für die eigene Kolonialschuld interpretiert werden kann,64 basiert die Identifikation britischer Muslime mit Palästinensern häufig auf der eigenen Kolonialgeschichte. Die Identifikation mit den vom „Holocaust bedrohten Palästinensern“ soll vor allem der eigenen Leidensgeschichte 59 60 61 62 63

Vgl. Third of Muslims view UK Jews as „legitimate target”, in: Jewish Chronicle (10. 2. 2006), S. 1. Interfaith crisis, in: Jewish Chronicle (9. 5. 2003). Muslim News (26. 4. 2002); Ismail Adam Patel: Al Aqsa Intifada, in: Q-News (Nov. 2000). Jewish Chronicle (15. 2. 2002) und (27. 10. 2001). EUMC, Working definition of antisemitism. Vgl. URL: http://fra.europa.eu/fraWebsite/material/pub/AS/ASWorkingDefinition-draft.pdf (11. 3. 2011). 64 Der umstrittene Linkspopulist Georg Galloway vertrat beispielsweise bei einer Demonstration in London die Position, dass Großbritannien endlich Reparationszahlungen für die Balfour Declaration leisten sollte. Einen Boykott Israels betrachtete er dabei als einen ersten Schritt. Vgl. London: Anti Israel demonstration: URL: http:// www.jihadwatch.org/2005/05/london-anti-israel-demonstration.html (13. 3. 2011). Siehe auch Leserbrief im Independent vom 8. 12. 2001. Vgl. auch Robert Salomon Wistrich: Anti-semitism embedded in British culture, in: Jerusalem Center for Public Affairs, Post Holocaust-Anti-Semitism No. 70 (1 July 2008/28 Sivan 6768).

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zur Anerkennung verhelfen,65 wobei sich das muslimische „Konzept des Leidens“66 an der jüdischen Minderheit orientiert. Aus muslimischer Sicht haben Juden durch die Anerkennung des Holocaust als moralische Instanz und als wesentlichen Teil der europäischen Geschichte Anerkennung und Wertschätzung erfahren, die den Muslimen nach wie vor verwehrt bleiben würde. Die zentrale Bedeutung, die dem Holocaust in Europa mittlerweile zukommt, wird als jüdische Erfolgsgeschichte interpretiert. Wie auch Matti Bunzl betonte, würden Juden mittlerweile als Europäer gelten, während an der Integrationsfähigkeit des Islam gezweifelt wird.67 Während britische Juden den sozialen Aufstieg geschafft haben und mittlerweile als die beliebteste ethnische Minderheit gelten,68 befindet sich ein hoher Prozentsatz der Muslime noch immer auf der untersten Hierarchie der sozialen Stufenleiter.69 Der lange Kampf gegen den HMD kann somit auch als (falscher, hilfloser) Kampf um die Anerkennung der eigenen Opferrolle und letztendlich um eine gleichwertige Behandlung interpretiert werden, mit antisemitischen Vorurteilen und Stereotypen als Begleiterscheinung. An der britischen Debatte um den Holocaust Memorial Day wurde jedenfalls einmal mehr deutlich, dass es keine „reine, vollkommene und unveränderte Erinnerung an den Holocaust, interessenlos und machtfrei“ (Sznaider) gibt, sondern die jüdische Leidensgeschichte so­ wohl von unterschiedlichen Nationalstaaten als auch von ethnischen Minderheiten als eine Art „universeller Container der Erinnerung“ benutzt und somit instrumentalisiert wird. Es wurden zudem die Grenzen einer von der EU propagierten Politik deutlich, die in der gemeinsamen Erinnerung an den Holocaust und in der Holocausterziehung ein Instrument zur Sensibilisierung und Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie sieht. Gerade aufgrund der unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Bezugspunkte der europäischen Minderheiten und nicht zuletzt aufgrund der immer größeren Bedeutung transnationaler Identitäten erweist sich auch eine äußerst gut gemeinte Holocausterziehung als wenig produktiv.

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Towards a British Islam, in: The Guardian (01.04.2004). Vgl. Esther Babbassa: La souffrance comme identité, Paris 2007. Vgl. Bunzl, Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Endelman, The Jews of Britain 1656 to 2000, S. 308. Towards a British Islam, in: The Guardian (01.04.2004).

Carola Sachse

Was bedeutet eine Entschuldigung? Die Überlebenden medizinischer NS-Verbrechen und die Max-Planck-Gesellschaft Vor zehn Jahren im Juni 2001 fand in Berlin-Dahlem auf dem historischen Gelände der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), die 1948 als Max-Planck-Gesellschaft (MPG) neu- und umgegründet wurde, ein in der Wissenschaftsgeschichte außergewöhnliches vergangenheitspolitisches Ereignis statt.1 Umrahmt von einem wissenschaftlichen Symposium über Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten (KWI) wurde ein, wie es der Züricher Philosoph Hermann Lübbe nennen würde, „politisches Bußritual“ inszeniert.2 Der damalige Präsident der deutschen Spitzenforschungsinstitution, Hubert Markl, entschuldigte sich für die Verbrechen, die während des „Dritten Reiches“ von Biowissenschaftlern der ehemaligen KWG an Menschen in Krankenanstalten, Konzentrations- und Vernichtungslagern verübt worden waren.3 Vor zahlreichen Kameras und Mikrophonen deutscher und internationaler Presseteams unterstrich er das Bestreben der MPG, „mit den Mitteln historischer Forschung alle Tatsachen über ihre Geschichte rückhaltlos offenzulegen“ und verwies auf das zu diesem Zweck zwei Jahre zuvor eingerichtete mehrjährige Forschungsprogramm.4 Vor allem richtete der Präsident seine Ansprache an acht als Ehrengäste geladene Frauen und Männer, die als Kinder Opfer der Zwillingsversuche in Auschwitz und der medizinischen 1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um meinen geringfügig überarbeiteten Artikel „Was bedeutet ‚Entschuldigung‘?“ Die Überlebenden medizinischer NS-Verbrechen und die Max-Planck-Gesellschaft, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011), S. 1–18, URL: http://dx.doi.org/10.1002/bewi.201101525 (online seit 18. 3. 2011). © Willy-VHC Verlag GmbH & Co. KGaA. Wiederabdruck mit Genehmigung. 2 Hermann Lübbe: „Ich entschuldige mich“. Das neue politische Bußritual, Berlin 2001. 3 Das Symposium ist dokumentiert in dem Band Carola Sachse (Hg.): Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten, Göttingen 2003. 4 Hubert Markl: Die ehrlichste Art der Entschuldigung ist die Offenlegung der Schuld, in: Sachse (Hg.), Verbindung, S. 41–51, hier 41. Das Forschungsprogramm wurde von der vom MPG-Präsidenten 1997 eingesetzten Kommission unter Vorsitz der unabhängigen Historiker Reinhard Rürup und Wolfgang Schieder 1999 eingerichtet und 2005 abgeschlossen. Das Forschungsteam unter Leitung von Doris Kaufmann (1999–2000), Carola Sachse (2000–2003), Susanne Heim (2004–2005) und Rüdiger Hachtmann (2005) bestand aus 12 wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und zahlreichen internationalen Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftlern. Die Ergebnisse wurden in 17 Bänden der Reihe „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“, hg. v. Reinhard Rürup und Wolfgang Schieder, Göttingen 2000–2008, veröffentlicht; hinzu kommen insgesamt 28 Hefte der Reihe „Ergebnisse. Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm ‚Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus‘“, hg. v. Carola Sachse (Nr. 1–21), Susanne Heim (Nr. 22–24) und Rüdiger Hachtmann (Nr. 25–28) (im Folgenden zitiert als „Ergebnisse“ und Heftnummer), Berlin 2000–2006.

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Experimente in Ravensbrück und Sachsenhausen gewesen waren. Ihnen gegenüber drückte er sein persönliches Bedauern aus und bat im Namen der MPG um Entschuldigung. Zwei der Gäste antworteten ihm mit nahezu gegensätzlich akzentuierten Ansprachen. Jona Laks, die Vorsitzende der Organisation der Mengele-Zwillinge, aus Tel Aviv dankte für die Bereitschaft, den Überlebenden eine „Entschuldigung anzubieten“. Sie hielt sich jedoch weder persönlich, noch als Repräsentantin ihrer Organisation für befugt, Vergebung auszusprechen. Sie berief sich vielmehr auf das Gebot „sich zu erinnern“, das dem Judentum „als Warnung gegen das Vergessen“ gegeben wurde, und mahnte: „Vergebung löscht Erinnerung!“.5 Ganz anders die Erwiderung von Eva Mozes Kor, der Gründerin und Präsidentin der Zwillingsorganisation Children of Auschwitz Nazi Deadly Lab Experiment Survivors (CANDLES) aus Terre Haute im US-Bundesstaat Indiana. Sie appellierte nicht nur an die Opfer der Menschenversuche, sondern an die Menschheit: „Vergebt eurem ärgsten Feind, das wird eure Seele heilen und euch die Freiheit schenken.“6 Tatsachen offenlegen, Leiden erinnern, Schuld vergeben, Seelen heilen, Freiheit gewinnen: Es waren ebenso anspruchsvolle wie heterogene Erwartungen, die sich an diese hybride – Momente eines zivilreligiösen Rituals mit wissenschaftshistorischer Professionalität vermischende  – Veranstaltung banden. Zehn Jahre nach diesem Ereignis und sechs Jahre nach Abschluss des Forschungsprogramms lassen sich die verschiedenen Anliegen der Beteiligten historisch genauer kontextualisieren, ihre Positionen klarer pointieren und ihre Erwartungen evaluieren.

Entschuldigungen zur Millenniumswende Der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker Gerald D. Feldman, der selbst mehrere Maßstab setzende Projekte zur Bearbeitung der NS-Geschichte von deutschen und österreichischen Großunternehmen durchgeführt hat, erkannte in dem von nicht wenigen Firmen, Institutionen und nicht zuletzt einigen europäischen Staaten getroffenen Entschluss, mit der eigenen historischen Vergangenheit in der Ära des Nationalsozialismus „ins Reine zu kommen“ „eines der bemerkenswertesten Phänomene der Wende zum 21. Jahrhundert“.7 Er führte mehrere Gründe dafür an: Im Falle der Wirtschaft und der Staaten wie Österreichs und der Schweiz übten vor allem die in den USA eingereichten Sammelklagen, mit denen Überlebende, Emigranten und ihre Nachfahren erfolgreich Restitutionsansprüche geltend machen konnten, Druck auf Unternehmen, Banken, Versicherungen oder auch Kulturinstitutionen aus. Im Fall 5 Jona Laks: Erinnerung gegen das Vergessen, in: Sachse (Hg.), Verbindung, S. 52–58, hier 54 f., 57. 6 Eva Mozes Kor: Heilung von Auschwitz und Mengeles Experimenten, in: Sachse (Hg.), Verbindung, S. 59–70, hier 68; vgl. auch dies., Mary Wright: Echoes from Auschwitz. Dr. Mengele’s Twins. The Story of Eva and Miriam Mozes, Terre Haute, Ind. 1996. 7 Gerald D. Feldman: Historische Vergangenheitsbearbeitung. Wirtschaft und Wissenschaft im Vergleich, Berlin 2003 (Ergebnisse, 13), S. 8 (Zitat). Zum Folgenden vgl. ebda. S. 8–11.

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der Wissenschaften und der Medizin fiel diese Rolle der wissenschaftshistorischen Forschung zu. Sie förderte seit den späten 1970er-Jahren stetig neue Beispiele der Teilhabe von individuellen Wissenschaftlern und auch Wissenschaftlerinnen sowie von Forschungseinrichtungen, Universitätsinstituten und medizinischen Anstalten an den Verbrechen des NS-Regimes zutage – vor allem aber nicht nur im Bereich seiner mörderischen Rassen-, Bevölkerungs- und Biopolitik.8 Diese Forschungsergebnisse fanden, so wären Feldmans Beobachtungen zu ergänzen, erhebliche Resonanz in den öffentlichen Medien, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern gerade auch in den USA und Großbritannien. Artikel in international führenden Wissenschaftszeitschriften wie „Science“ und „Nature“ über die Skrupellosigkeit deutscher Wissenschaftler im „Dritten Reich“ und das – von dem Genetiker und Wissenschaftshistoriker Benno Müller-Hill so apostrophierte – „Schweigen der Gelehrten“ in den nachfolgenden Jahrzehnten waren geeignet, das Ansehen der deutschen Wissenschaften, zumal der MPG als deren häufig adressiertes Flaggschiff, in den internationalen scientific communities nachhaltig zu beschädigen.9 Einen weiteren wichtigen Grund für die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit bot der Generationenwechsel, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen starben die überlebenden Opfer aus; es boten sich nur noch wenige Möglichkeiten, ihnen endlich persönlich moralische Anerkennung und überfällige finanzielle Entschädigungen zukommen zu lassen. Diejenigen, die als Kinder in die Fänge von Mengele und seinen Kollegen innerhalb und außerhalb der NS-Lager geraten waren, gehören zu den letzten Überlebenden, die noch als Opfergruppe präsent und aktiv sind. Zum anderen hatte in den Führungsriegen der Wissenschaften ebenso wie in der Wirtschaft ein doppelter Generationenwechsel stattgefunden. Nicht nur waren die bereits in der NS-Zeit aktiven akademischen Lehrer und Führungskräfte inzwi­ schen abgetreten, auch ihre unmittelbaren Schüler und Zöglinge erreichten im ausgehenden 20. Jahrhundert den Ruhestand. Intergenerationelle Loyalitäten schwächten sich ab. Im Hinblick auf die Person Hubert Markl, der sich so nachdrücklich für die historische Aufklärung der NS-Vergangenheit der MPG einsetzte, kam sicherlich hinzu, dass er deren erster und bislang einziger Präsident war, der nicht aus ihren eigenen Reihen hervorgegangen war. Schließlich bildeten der Zusammenbruch des Sowjetimperiums, das Ende des Kalten Krieges, die Osterweiterung der Europäischen Union und die unter wirtschaftsliberalen Vorzeichen voranschreitende Globalisierung den breiteren Hintergrund des neuen Vergangenheitsbewusstseins. Wenn es darum ging, der solcherart markierten europäischen Zivilisation Geltung und Legitimität zu verschaffen, dann war es für die wesentlichen Träger dieser 8 Vgl. dazu den Literaturüberblick von Carola Sachse, Benoit Massin: Biowissenschaftliche Forschung an KaiserWilhelm-Instituten und die Verbrechen des NS-Regimes. Informationen über den gegenwärtigen Wissensstand, Berlin 2000 (Ergebnisse, 3); darüber hinaus Hans-Walter Schmuhl: Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-WilhelmInstitut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, Göttingen 2005, S. 15–18. 9 Benno Müller-Hill: Das Blut von Auschwitz und das Schweigen der Gelehrten, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahmen und Perspektiven der Forschung, Bd. 1, Göttingen 2000, S. 189–227.

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Zivilgesellschaften, die Wirtschaft und Wissenschaften, an der Zeit, sich mit dem  – von Jürgen Habermas bereits 1987 so bezeichneten  – „Zivilisationsbruch“ der NS-Verbrechen und der eigenen Anteile daran umfassend auseinanderzusetzen.10 Der gelegentlich spürbar mitschwingende Wunsch, dass dies abschließend sein möge, wurde allenfalls off the records ausgesprochen. Für die osteuropäischen Staaten galt die Anerkennung des Holocaust und der Mitwirkung von Personen und Institutionen aus allen besetzten Ländern am nationalsozialistischen Völkermord als, wie es Tony Judt formulierte, „‚Entreebillett‘ nach Europa“.11 Auch für die MPG war die Anerkennung der Unrechtstaten ihrer Vorgängerinstitution eine vergangenheitspolitische Intervention für zukünftige Zwecke. Nur zwei Wochen nach jenem Bußritual im Juni 2001 und im internationalen Endspurt um die Entschlüsselung der letzten Aminosäuresequenzen des menschlichen Genoms hatte der Präsident die jährliche Hauptversammlung der MPG zu eröffnen. Hubert Markl nutzte die Gelegenheit, um dezidiert für das weiterhin starke Engagement der einschlägigen Max-Planck-Institute in der modernen Genforschung und den zwar gesetzlich eingehegten, aber möglichst freizügigen Zugriff der Forschung auf humane Stammzellen auch in Deutschland zu plädieren.12 Gegenüber einer öffentlichen Kritik, die sich gerade hierzulande argumentativ gern mit wenig reflektierten, aber wirkungsvollen historischen Rückverweisen auf die NS-Rassenpolitik munitionierte, galt es, eine scharfe Trennlinie zu ziehen, zwischen den vergangenen Unheilsverstrickungen einerseits und den gegenwärtigen Forschungsimperativen andererseits. Die Inhalte der historisch-politischen Schuldeingeständnisse, die sich seit Ende der 1990er-Jahre häuften, reichten indessen räumlich über Europa hinaus und zeitlich hinter die Ära der Weltkriege zurück: 1998 bedauerte die kanadische Regierung das Unrecht, das ihrer autochthonen Bevölkerung in der Vergangenheit zugefügt worden war. Australien führte im selben Jahr den National Sorry Day ein zur Erinnerung an die Misshandlungen, die der indigenen Bevölkerung von der weißen Einwanderergesellschaft angetan worden waren; der neu gewählte Premierminister Kevin Rudd ging zehn Jahre später noch einen Schritt weiter und eröffnete das australische Parlament 2008 mit einer an die Aboriginals und Torres Strait Islanders gerichteten Entschuldigungsrede. Bill Clinton bekannte sich als Präsident der Vereinigten Staaten anlässlich einer Afrikareise 1998 zu den Untaten der Sklaverei; der US-Senat folgte 2009 mit einer förmlichen Entschuldigung. Mehrfach, allerdings im eigenen Land nie unwidersprochen, haben sich Japans Premierminister für die Leiden der Völker in Korea und

10 Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt a. M. 1987. 11 Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 2009, S. 933. Dabei waren, wie im Vergleich von Ungarn und Frankreich, die östlichen Neuankömmlinge den westlichen „Alteuropäern“ gelegentlich noch voraus, Vgl. Carola Sachse, Edgar Wolfrum: Stürzende Denkmäler. Nationale Selbstbilder postdiktatorischer Gesellschaften in Europa – Einleitung, in: Regina Fritz, dies. (Hg.), Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008, S. 7–35, hier 22 f. 12 Hubert Markl: Freiheit, Verantwortung, Menschenwürde: Warum Lebenswissenschaften mehr sind als Biologie, in: ders., Schöner neuer Mensch?, München / Zürich 2002, S. 39–60, bes. 50 f., 53, 55.

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China unter japanischer Kolonialherrschaft entschuldigt.13 Das „Heilige Jahr“ 2000 wurde von der umfassenden Vergebungsbitte des Papstes gekrönt, dessen Schuldbekenntnis sich von den Kreuzzügen, über die Zwangsmissionierung, die Inquisition und die Verurteilung Galileis bis hin zur Mitschuld der Christen an der Shoah erstreckte. Die Kette der Entschuldigungsakte ließe sich fortsetzen und verdichten. Sie deutet gerade auch in ihren Wiederholungen, Bekräftigungen, Nachbesserungen und transnationalen Imitationen bis zum heutigen Tag darauf hin, dass hier ein historisch neuer Politikstil mit eigentümlichen Diskursregeln dabei ist, sich global zu etablieren  – ein Prozess, der inzwischen aus vielfältigen Perspektiven wissenschaftlich analysiert wird.14

Ein neues politisches Bußritual Hermann Lübbe war mit seinem Essay, der unmittelbar vor dem hier in Rede stehenden Entschuldigungsakt der MPG erschienen war, wohl der Erste, der die gegen Ende des 20. Jahrhunderts neuartige Praktik führender Politiker, nämlich „die Geschichte gewordenen Untaten der eigenen Nation vor den Nachkommen der Opfer öffentlich zu bekennen“, analysierte. Er konstatierte bereits 2001 „eine neue Üblichkeit in der Pflege internationaler Beziehungen“ und zugleich die vielschichtigen Ambivalenzen, die ihr noch immer anhafteten.15 Da war zum einen die Unsicherheit in der Wahl der Symbole, Gesten, Worte und Formen, die häufig durch Anlehnung an religiöse Riten überspielt werden sollte. Der Kniefall des bundesdeutschen Kanzlers Willi Brandt vor dem Mahnmal für die Ghetto-Opfer in Warschau, der 1970 den Reigen der historisch-politischen Schuldbekenntnisse eröffnete, wurde zwar als Geste noch nicht wiederholt. Aber die christlichen Wort- und Formelemente blieben in den nachfolgenden Entschuldigungsakten ebenso erkennbar wie das dem historisch-kulturellen Kontext des Westens entstammende Bezugssystem der Menschenrechte. Gleichwohl waren und sind diese Akte universal verständlich, ohne dass sich bereits interkulturell konsensuale Formen etabliert hätten.16 13 Deshalb werden immer wieder Entschuldigungsforderungen an Japan herangetragen und auch die letzte im August 2010 an Südkorea gerichtete Entschuldigung des japanischen Ministerpräsidenten Naoto Kan wurde von Opfervertretern insbesondere der ehemaligen Zwangsprostituierten als unzureichend kritisiert, vgl. Florian Coulmas: Politik der Entschuldigung. Warum sich Japan bis heute schwer tut, sich seiner historischen Altlasten zu entledigen, in: Neue Züricher Zeitung (27. 7. 2009), und Henrik Bork: Tiefe Reue und aufrichtige Entschuldigung. Japan bittet Seoul um Vergebung für die Kolonialisierung Südkoreas bis 1945, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) (11. 8. 2010). 14 Zum Beispiel läuft derzeit am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians Universität München unter Leitung von Christopher Daase und Stefan Engert ein Forschungsprojekt über „Entschuldigung und Versöhnung in der internationalen Politik“. 15 Lübbe, Bußritual, Zitate: Klappentext und S. 13. 16 Ebda., S. 13–16, 20–22, 42.

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Statt einer transnationalen Formensprache hat sich sehr rasch eine translinguale Merkwürdigkeit herausgebildet. In der lingua franca der internationalen Politik, in deren Rahmen nicht alle, aber doch die meisten der supranational kommentierten Bußrituale stattfinden, werden „apologies“ gefordert oder angeboten, akzeptiert oder zurückgewiesen. Die nachgeborenen Sprecher historischer Täterkollektive versichern die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens mit der Formel „I apologize for“, gefolgt von der mehr oder minder konkreten Auflistung historischer Übeltaten. Im Deutschen werden an diesen Stellen regelmäßig die Worte „Entschuldigung“ oder „sich entschuldigen“ eingesetzt – mit bezeichnenden semantischen Verkehrungen: Da bieten die Täter oder ihre Sprecher eine Entschuldigung an, statt die Opfer um Entschuldigung zu bitten; da „entschuldigen sich“ die Täter oder ihre institutionellen Nachfolger, sprechen sich also selbst von Schuld frei, wo sie doch bekennen, bereuen und im besten Fall Verantwortung übernehmen sollten – Aspekte, die im modernen Gebrauch des englischen Wortes hinzugekommen sind, im Deutschen aber immer noch nach sprachlicher Differenzierung verlangen, vor allem wenn es sich um schwerwiegende Fehlhandlungen, Untaten oder gar Staatsverbrechen handelt.17 In den Auseinandersetzungen um die Vergangenheitspolitik der MPG, die dem Entschuldigungsakt etwa in den Feuilletons der „Zeit“ oder der „Süddeutschen Zeitung“, aber vor allem in den englischsprachigen Zeitschriften „Nature“ und „Science“ vorausgegangen waren, stießen sprachliche Differenzierungen oder moralphilosophische Reflektionen über historische Schuld und gegenwärtige Verantwortung, um die sich Hubert Markl dezidiert bemühte, auf wenig Resonanz. Dort wurde vielmehr die förmliche und wörtliche „Entschuldigung“ bzw. „apology“ eingefordert und Differenzierungen als Relativierungen diffamiert.18 So 17 Das Oxford English Dictionary (1989, 2. Aufl., Bd. 1, S. 553) fügt dem Eintrag „apologize“ als „modern usage“ hinzu: „To acknowledge and express regret for a fault without defence, by way of reparation to the feelings of the person affected“. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1862, Bd. 3, S. 611) ist „von schuld freisprechen“ noch die erste Erklärung für den Eintrag „entschuldigen“ überhaupt; „sich entschuldigen“ wird mit zahlreichen Zitaten, in denen von Lügen, Ausflüchten, falschen Anklagen etc. die Rede ist, erläutert. Der Duden von 1993 (Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 8 Bde., 2. Aufl., Bd. 2, S. 927 f.) bietet hingegen für „entschuldigen“ und „sich entschuldigen“ an erster Stelle bereits die Erklärung „jmdm. sagen, dass es einem leid tut, was man getan hat; jmdn. wegen eines falschen Verhaltens o. ä. um Verständnis, Nachsicht, Verzeihung bitten“, was dem modernen Gebrauch von apologize in etwa entspricht, aber den hier zur Debatte stehenden Taten kaum angemessen ist. 18 Im Fall von „Nature“ (Bd. 403, 24. 2. 2000, S. 813) empfahlen die Herausgeber in einem Artikel unter der Überschrift „Hollow apologies should be avoided“, der die gesamte Titelseite ausfüllte, den Präsidenten der MPG und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die im gleichen Jahr ein noch größeres Forschungsprogramm startete, zwar auch eher „statements of recognition and condemnation“ anstelle von „hollow apologies“. Der Pressesprecher der MPG Bernd Wirsing, schickte sogleich einen bestätigenden Leserbrief („Not too late to apologize“, in: Nature, Bd. 404, 16. 3. 2000). Aber zwei Leser, Damian Grace und John Carmody von der University of New South Wales, Sydney, bestanden mit positivem Hinweis auf den Papst und den indonesischen Präsidenten Wahid sowie mit negativen Verweisen auf den australischen Premierminister, John Howard, und frühere halbherzige Äußerungen der MPG, darauf, „we have moral authority to apologize for the past“ (Nature, Bd. 405, 1. 6. 2000, S. 508). Ähnlich Robert Koenig, der sich mit seinem Artikel „Reopening the Darkest Chapter in German Science“ (Science, Bd. 288, 2. 6. 2000, S. 1576 f.) der Forderung von Eva Mozes Kor anschloss. Vgl. auch die Kontroverse

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wie dreißig Jahre zuvor Brandts Kniefall in Warschau in der internationalen Öffentlichkeit als Glaubwürdigkeitsbeweis der neuen deutschen Ostpolitik aufgenommen worden war, so wurde jetzt die Entschuldigung des Präsidenten der MPG als Beweis der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit ihrer historischen Aufarbeitungsbemühungen verlangt. „Sich entschuldigen“ beinhaltet aber nicht nur semantische Probleme, zumal wenn sich der Sprechakt auf Taten in der Vergangenheit bezieht. Wenn Sprecher und Täter nicht nur nicht identisch, sondern über Generationen voneinander entfernt sind, stellt sich notwendigerweise die Frage, was beide miteinander verbindet und was den einen veranlasst, legitimiert oder sogar verpflichtet, sich für die Taten anderer, vielleicht längst verstorbener Personen zu entschuldigen, die ihrerseits womöglich nicht das geringste Bedürfnis verspürt hatten, selbst beizeiten diejenigen um Entschuldigung zu bitten, denen sie Leid zugefügt hatten.19 Für welches Kollektiv spricht der Präsident eines Landes, das mit sich selbst einen mehrjährigen blutigen Bürgerkrieg um die Abschaffung der Sklaverei ausgefochten hatte, wenn er doch die Staatsbürger afrikanischer, asiatischer oder indianischer Herkunft ebenso zu repräsentieren hat wie die Nachkommen südstaatlicher Plantagenbesitzer und anderer Profiteure der Sklaverei?20 Mit Blick auf die historische Nähe zu den NS-Verbrechen und die institutionelle Kontinuität von KWG und MPG scheint die Frage für deren Präsidenten einfacher zu beantworten.21 Tatsächlich wurden im Vorfeld des Entschuldigungsaktes Bedenken geäußert, wie wohl die vielen ausländischen Wissenschaftler, die man in den letzten Jahrzehnten verstärkt angeworben hatte und auf die die MPG als Beweis ihres internationalen standings besonderen Wert legt, auf die Zumutung reagieren würden, sich als Teil dieser historischen Verantwortungsgemeinschaft verstehen zu sollen.22 Die Adressaten einer Entschuldigung lassen sich mit Hermann Lübbe „als Subjekte der Leiden, die ihnen in ihrer Kollektivität von jeweils anderen bis hin zur Absicht, sie auszulöschen, zugefügt werden“, leichter als Kollektive definieren23– jedenfalls so lange, wie sie durch die politischen Verwerfungen, wie etwa die zahlreichen nationalstaatlichen Bildungen und Umbildungen des 20. und 21. Jahrhunderts, nicht wieder durchmischt und womöglich in Konkurrenz zueinander gebracht wurden. Relativ klar als Gruppe zu erkennen sind die Adressaten dann, wenn sie sich selbst als Überlebende von Gewaltakten gegen ein selbst- oder fremddefiniertes Kollektiv zusammenschließen, um ihre Ansprüche auf Entschädigung, zumindest aber auf Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts geltend zu machen. Die acht Überlebenden der Menschenversuche in NS-Konzentrationslagern, die als stellvertretend Adressierte am Dah­ lemer Bußritual teilnahmen, waren sich persönlich hingegen keineswegs einig, wie sie mit dem

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zwischen Ernst Klee (Augen aus Auschwitz, in: Die Zeit vom 27. 1. 2000) und Hubert Markl (Anmaßung in Demut. Erst forschen, dann handeln. Eine Erwiderung auf Ernst Klee, in: Die Zeit vom 10. 2. 2000). Vgl. Markl, Entschuldigung, S. 50. Vgl. Lübbe, Bußritual, S. 74–79. Vgl. Markl, Entschuldigung, S. 42. Entsprechende Bedenken von ausländischen MPG-Wissenschaftlern sind mir allerdings nicht bekannt geworden. Lübbe, Bußritual, S. 77.

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Entschuldigungsansinnen der MPG umgehen sollten, zumal ihre individuellen Gewalterfahrungen allenfalls in einem möglichen, aber in keinem direkt rekonstruierbaren Zusammenhang mit Forschungsvorhaben von KWG-Wissenschaftlern standen. Tatsächlich waren die verbrecherischen Kooperationsbeziehungen von KWG-Wissenschaftlern mit den Instanzen der NS-Rassenhygiene und des „Euthanasie“ genannten Krankenmords weit intensiver und betrafen größere Opferzahlen als in dem Verbrechenskomplex der Menschenversuche in den Konzentrationslagern.24 Beide Seiten des Entschuldigungsaktes wiesen ihrem Gegenüber eine Rolle als Repräsentant eines größeren Kollektivs zu: Für die MPG repräsentierten die acht Überlebenden von Menschenversuchen alle Opfergruppen von biowissenschaftlichen NSVerbrechen, an denen KWG-Wissenschaftler beteiligt waren. Für die überlebenden „MengeleZwillinge“ repräsentierte die KWG/MPG die NS-Biowissenschaften, die sie als konstitutiv für ihre spezifischen Gewalterfahrungen erachteten. Es konnte hier wie anderswo nicht ausbleiben, dass Referenten und Adressaten der Entschuldigung unterschiedliche Bedeutungen zuschrieben. Besonders kontrovers wird dies meist in der Frage, wie es sich mit der tätigen Reue, den allfälligen Entschädigungsleistungen verhalten soll. Bill Clinton hatte 1998 in seiner Ansprache an die Community of Kisowera School im ugandischen Mukono zwar bereits – nur als symbolische Geste zu verstehende – Zahlungen von 60 Millionen Dollar für agrarwirtschaftliche Projekte in mehreren afrikanischen Staaten angekündigt, aber die African World Reparation and Repatriation Truth Commission machte in ihrer Accra Declaration eine andere Rechnung auf: „777 trillion dollars in reparation for enslavement“, zahlbar bis 2004  – eine Forderung, die die Weltöffentlichkeit zunächst staunen ließ, über die sie aber bald zur Tagesordnung überging.25 Offensichtlich wollten die Adressaten, jedenfalls diejenigen, die sich organisiert zu Wort meldeten, nicht verstehen, dass ein zivilreligiöser gerade kein zivilrechtlicher Akt sein sollte, dass moralische Schuld zwar unverjährbar sein mag, rechtliche Ansprüche aber beizeiten hätten angemeldet werden müssen. Dieses Problem stellte sich keineswegs nur im Falle der fünfhundertjährigen Geschichte der Sklaverei, sondern es kam auch am Rande des Entschuldigungsaktes der MPG zur Sprache: Manche der Überlebenden hatten sich durchaus eine zusätzliche finanzielle Unterstützung der MPG für die noch immer beträchtlichen Behandlungskosten ihrer anhaltenden schweren psychischen und körperlichen Leiden erhofft. Sie wurden aber auf die bekanntermaßen unzureichenden, mit tückischen Antragsfristen verkürzten und verfahrenstechnisch schwer durchschaubaren Regelungen der bundesdeutschen „Wiedergutmachungspolitik“ einschließlich der erst kurz 24 Vgl. Sachse, Massin, Forschung, und die Beiträge in Hans-Walter Schmuhl (Hg.): Rassenforschung an KaiserWilhelm-Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003. Verbände oder Vertreter von Opfern der Zwangssterilisationen und anderer rassenhygienischer Maßnahmen bzw. von Angehörigen von „Euthanasie“-Opfern waren im Vorfeld der Dahlemer Veranstaltung nicht an die MPG herangetreten, womöglich deshalb nicht, weil die im Besitz von Max-Planck-Instituten zuvor befindlichen Hirnpräparate von „Euthanasie“-Opfern bereits 1990 im Rahmen einer offiziellen Trauerfeier in München bestattet worden waren; vgl. „Den Opfern zum Gedenken – Den Lebenden zur Mahnung“, in: MPG-Spiegel 3 (1990), S. 10. 25 Lübbe, Bußritual, S. 52 f., 85–88.

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zuvor installierten Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ verwiesen, die alle Ansprüche von Überlebenden gegenüber öffentlichen Einrichtungen abzuwickeln habe.26 Anderen Überlebenden war die Frage nach materiellen Entschädigungen peinlich, und im Rahmen des Dahlemer Bußrituals spielte sie aufs Ganze gesehen nur eine untergeordnete Rolle.

Schlimme Vergangenheiten vergessen oder erinnern? In dessen Zentrum stand vielmehr die strittige Frage nach dem richtigen Umgang mit der Vergangenheit. Erst kürzlich hat der Althistoriker Christian Meier darauf hingewiesen, dass sich die „Unabweisbarkeit des Erinnerns“ im öffentlichen und internationalen Umgang mit „schlimmer Vergangenheit“ erst in jüngster Zeit Bahn gebrochen hat. Seine Beispiele reichen von der Amnestie, die 403 v. Chr. den Bürgerkrieg in Athen beenden sollte, über den Westfälischen Frieden von 1648, der die feindlichen Akte aller Seiten „in ewiger Vergessenheit begraben“ wollte, und die Charte Constitutionnelle von 1814, die den französischen Gerichten und Bürgern das „Vergessen“ „sämtlicher Übel“ aus der Zeit vor der Restauration einschließlich des Königsmords auferlegte, bis hin zu Winston Churchill, der in seiner Züricher Rede von 1946 zu einem „blessed act of oblivion“ aufrief, der allerdings erst nach der raschen Ahndung von Verbrechen und Massakern folgen sollte. In der zweieinhalbtausendjährigen dokumentierten Geschichte von Kriegen, Revolutionen und Bürgerkriegen – diesen Schluss legen diese und viele weitere Beispiele nahe – setzten Sieger und Besiegte, wenn sie sich um einen dauerhaften Frieden bemühten, auf das Vergessen, nicht auf Erinnerung und nicht auf Gerechtigkeit, die beide nur wieder das Bedürfnis nach Rache und Widerrache nähren würden.27 Zwei Ausnahmen sind zu konstatieren: Nach dem Ersten Weltkrieg lehnten die Sie­ germächte „eine allgemeine Entschuldigung der Ereignisse“ ab. Dem bis dato größten Verbrechen gegen die Menschheit könne nur mit dem „Grundsatz der strafenden Gerechtigkeit“, einem „Werk der Wiedergutmachung bis zur äußersten Grenze [der] Fähigkeit“ des deutschen Aggressors begegnet werden.28 Zwar wurde diese Leitlinie in den internationalen Anstrengungen zur Bewältigung der Kriegsfolgen nicht durchgehalten, aber allein der Versuch, mit der Festlegung von Reparationen und Gebietsabtretungen Gerechtigkeit zur „einzig möglichen Grundlage für die Abrechnung dieses fürchterlichen Krieges“ zu machen, zeigte verheerende Wirkungen.29 Die andere Ausnahme findet sich in der Geschichte der Juden. Von den bib26 Sachse, Verbindung, S. 33 f.; Lothar Evers: Entschädigungsregelungen und -verfahrensweisen in der Nachkriegszeit – Offene Rechnungen, in: Sachse (Hg.), Verbindung, S. 306–315. 27 Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, Berlin 2010, S. 10, 41, 11. 28 Ebda., S. 43, unter Verweis auf Jörg Fisch: Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979. 29 Mantelnote zur Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte vom 16. Juni 1919 auf die Bemerkungen der deutschen Delegation zu den Friedensverhandlungen, hier zit. nach: Meier, Gebot, S. 44 und Anm. S. 116.

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lischen Texten bis zu den praktizierten religiösen Festen, ob in den Gemeinden oder in den Familien, steht das Gebot der Erinnerung an Jahwes Verheißung im Vordergrund, in die die Erinnerung an das erlittene und selbst begangene Unrecht einbezogen bleibt – „bis Auschwitz alle jüdische Erinnerung vor kaum (oder nicht mehr) lösbare Aufgaben stellt“.30 Es waren die weltgeschichtlich unvergleichbaren Verbrechen des nationalsozialistischen Judenmords, die sich nach einer – in Deutschland wie in vielen europäischen Ländern und auch in Israel bis in die späten 1950er-Jahre reichenden – Phase des Verdrängens einer wie immer begründeten Politik des Vergessens entzogen und die Erinnerung an Auschwitz unabweisbar machten. Für Christian Meier bleibt die Frage, ob damit das Gebot des Vergessens im Umgang mit schlimmen Vergangenheiten überhaupt obsolet geworden ist, offen. Neu sei eher, dass die Erinnerung als vergangenheitspolitische Option seither zumindest den gleichen Rang wie das Vergessen eingenommen hat. Mit Ausnahme von Genoziden, die keinesfalls dem Vergessen überlassen werden dürften, sei jeder historische Fall von Krieg, Revolution, Bürgerkrieg oder Umsturz anders. Es bleibe jeweils abzuwägen, wie damit fürderhin umgegangen werden soll, oder weniger konsensuell formuliert: „Der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen muss also stets neu ausgefochten werden.“31 Die Dahlemer Entschuldigungsveranstaltung der MPG war Schauplatz eines solchen Kampfes. Auch wenn niemand die Unabweisbarkeit der Erinnerung an die mit Auschwitz verbundenen biowissenschaftlichen Verbrechen explizit infrage stellte oder sich für deren Vergessen aussprach, waren doch der Streit darüber, was die angemessene Umgangsweise mit dieser Vergangenheit sei und in welchem Verhältnis Entschuldigung, Vergebung, Aufarbeitung und Erinnerung zueinander stehen sollten, unüberhörbar.

Sich entschuldigen und vergeben Seit Mitte der 1980er wurde an die MPG die Aufforderung herangetragen, sich für die medizinischen Verbrechen, die von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der KWG begangen worden oder an denen sie beteiligt waren, und insbesondere für die Kooperation mit Mengele in Auschwitz, öffentlich zu entschuldigen. Bereits 1990 war der Arzt und Geriatriker William Seidelman, der in Toronto eine Klinik für Überlebende des Holocaust leitete, im Namen seiner Patienten und Patientinnen mit diesem Ansinnen an die MPG herangetreten.32 Benno Müller-Hill forderte die MPG anlässlich der Eröffnung ihres Forschungsprogramms zur Auf30 Ebda., S. 12. 31 Ebda., S. 13, 89 (Zitat) und 97. 32 William E. Seidelman: Medicine and murder in the Third Reich, in: Dimensions. A Journal of Holocaust Studies 13 (1997), S. 1–9; Archiv der Max-Planck-Gesellschaft: Abt. II, Rep. 1 N, Handakten des Generalsekretärs Wolfgang Hasenclever: Briefwechsel zwischen Seidelman und der Generalverwaltung der MPG von September 1989 bis Januar 1991, dem schließlich ein persönliches Gespräch zwischen Seidelman und dem damaligen MPGPräsidenten Hans F. Zacher und Hasenclever folgte.

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arbeitung ihrer NS-Geschichte im März 1999 auf, „die letzten überlebenden Zwillinge zu einer Konferenz“ einzuladen und „offiziell bei den Opfern um Entschuldigung“ zu bitten.33 Anfang 2000 wiederholte der Wissenschaftsjournalist Ernst Klee in einem viel beachteten Artikel in der „Zeit“ diese Forderung, der sich zahlreiche Medien, darunter auch die global führenden Wissenschaftszeitschriften „Science“ und „Nature“, anschlossen.34 Schließlich wandte sich im Sommer 2000 Eva Mozes Kor persönlich an die MPG. Sie hatte Mengeles Zwillingsexperimente in Auschwitz überlebt und 1983 damit begonnen, weltweit nach anderen überlebenden Zwillingen zu suchen und die Experimente, denen sie unterzogen worden waren, aufzuklären.35 Sie stand mit William Seidelman und Benno Müller-Hill schon länger in Kontakt und band ihre Bereitschaft, mit dem Forschungsprogramm zu kooperieren, an die Bedingung einer offiziellen Entschuldigung seitens der MPG.36 Eva Mozes Kor war mit einer ähnlichen Aktion bereits einige Jahre zuvor öffentlich hervorgetreten. 1993 nahm sie – vermittelt über das „Zweite Deutsche Fernsehen“– Kontakt zu dem ehemaligen SS-Arzt und Mengele-Assistenten in Auschwitz, Hans Münch, auf. Sie war dabei, ihren Beitrag zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz vorzubereiten. In diesen Jahren waren die international organisierten und vor allem in Nordamerika und Frankreich aktiven Negationisten, die die fabrikmäßige Ermordung der europäischen Juden in den Vernichtungslagern leugnen, publizistisch im Aufwind, besonders seit sich der bekannte britische NS- und Militärhistoriker David Irving vollends auf ihre Seite geschlagen hatte.37 Eva Mozes Kor wollte der Auschwitz-Lüge etwas entgegensetzen. Sie forderte Münch auf, am 27. Januar 1995 auf den Trümmern der Gaskammern und vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein Dokument zu unterzeichnen. Er sollte die Existenz und technische Funktionstüchtigkeit der Gaskammern, die in dem von Irving 1992 herausgegebenen „Leuchter-Report“ bestritten worden waren, bezeugen.38 Dafür wollte sie sich mit ihrer persönlichen Amnestieerklärung revanchieren. Das Ereignis fand 1995 wie geplant statt. Es war bereits in actu in der Gruppe der überlebenden Mengele-Zwillinge umstritten. Es war es noch mehr, nachdem die Selbstdarstellung Münchs als der gute Arzt in SS-Uniform, der nur im Labor gearbeitet, aber nie selbst selektiert oder Hand an die menschlichen Versuchsobjekte gelegt, vielmehr einigen das Leben 33 34 35 36 37

Müller-Hill, Blut, S. 227. Klee, Augen; Markl, Anmaßung; vgl. die Angaben in Fußnote 18. Mozes Kor, Echoes, S. X–XI. Vgl. Koenig, Chapter. Vgl. Richard J. Evans: Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess. Frankfurt a.M. 2001. 38 Fred A. Leuchter: The Leuchter Report. The first forensic examination of Auschwitz, mit einem Vorwort von David Irving, London 1989. Vgl. dazu Hermann Graml: Auschwitz-Lüge und Leuchter-Bericht, in: Heiner Lichtenstein (Hg.), Täter, Opfer, Folgen. Der Holocaust in Geschichte und Gegenwart, Bonn 1995, S. 91–100; Roni Stauber: From revision to Holocaust denial. David Irving as a case study, Jerusalem 2000; Robert Jan van Pelt: The case for Auschwitz. Evidence from the Irving trial, Bloomington, Ind. 2002.

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gerettet hätte, zuerst im „Spiegel“ 1998 in Zweifel gezogen worden war.39 Während des Dahlemer Symposiums löste dann der Hinweis des britischen Medizinhistorikers Paul Weindling auf die frühen alliierten Ermittlungen gegen Münch eine heftige Kontroverse unter den Überlebenden aus. Es wurde um die Glaubwürdigkeit Münchs gestritten, an die die Sinnhaftigkeit des von Mozes Kor inszenierten Zeugnis- und Vergebungsaktes in Auschwitz unweigerlich gebunden war.40 Dagegen kamen zwei weitere Motive, die Mozes Kor zur Begründung ihrer Vergebung nicht nur für Münch, sondern für alle NS-Täter einschließlich Mengeles und damit auch für seine Kooperationspartner in der KWG vortrug, kaum zur Sprache: Zum einen Vergebung als seelische Befreiung vom eigenen Trauma und insofern unhinterfragbare Anstrengung des Opfers, wieder sozial und politisch handlungsfähig zu werden.41 Und zum anderen – bezugnehmend auf die südafrikanischen Wahrheitskommissionen – als Voraussetzung dafür, dass Täter ihre Taten ohne Angst vor rechtlicher Sanktionierung eingestehen und gegenüber den Opfern als wirklich geschehen anerkennen. Wenn es im Nachkriegsdeutschland solche Kommissi­onen statt der Spruchkammern gegeben hätte, so die kontrafaktische Überlegung von Mozes Kor, hätten die Täter ihr medizinisches Wissen über die Experimente preisgegeben und die überlebenden Opfer möglicherweise wirkungsvoller therapiert werden können. Späte, zu späte Aufklärung darüber erwartete sie noch immer von der Arbeit des Forschungsprogramms. Die Anerkennung dessen, was wirklich geschehen war, erhoffte sich Mozes Kor von der offiziellen Entschuldigung einer international renommierten Wissenschaftsorganisation wie der MPG. Für sie, die in ihrer späteren Heimat in Indiana ein kleines Museum für die MengeleOpfer eingerichtet hatte und noch unterhält, galt, was Tim Cole für viele Überlebende in den USA in seiner Studie „Selling the Holocaust“ von 1999 beschrieben hat: „There is a strong sense that there needs to be concrete reminders of the Holocaust to prove reality of this past when there are no more living witnesses to counter the claims of Holocaust deniers.“42 Für unanfechtbare Dokumente und international gültige Ritualhandlungen, die bestätigten, was wirklich gewesen ist, war sie bereit zu vergeben. Eine andere Überlebende aus Israel brachte noch deutlicher zum Ausdruck, welche prominente Rolle der deutschen Spitzenforschungseinrichtung in diesem Bemühen um hochkarätige Wirklichkeitsbezeugungen zugedacht war. Vera Kriegel hatte gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester und ihrer Mutter Mengeles Experimente und Auschwitz überlebt. Sie hatte, so jedenfalls sagte sie es in ihrem Statement im Anschluss an den offiziellen Ent­ schuldigungsakt der MPG, von ihrer Mutter zweimal – als Sechsjährige nach der Befreiung 39 Bruno Schirra: Die Erinnerung der Täter, in: Der Spiegel 40 (1998), S. 90–100, URL: http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-8001833.html (20.06.2011). 40 Paul J. Weindling: Akteure in eigener Sache. Die Aussagen der Überlebenden und die Verfolgung der medizinischen Kriegsverbrechen nach 1945, in: Sachse (Hg.), Verbindung, S. 255–282. 41 Vgl. Dominick La Capra: History and memory after Auschwitz, Ithaca, NY 1998, S. 204 f. 42 Tim Cole: Selling the Holocaust. From Auschwitz to Schindler. How history is bought, packaged and sold, New York 1999, S. 187.

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in Auschwitz und Jahre später an deren Sterbebett  – den Auftrag erhalten: „Vera, Verale, Verushka  – geh Verale, Verushka  – geh und ruf es vom höchsten Berg herunter. Sage der ganzen Welt, was man uns angetan hat!“ In ihrem Schlusssatz versicherte Vera Kriegel der toten Mutter: „Mami, nun kann ich dir sagen: Hier in Berlin habe ich nun endlich den höchsten Berg gefunden. Mami, ich habe mein Versprechen gehalten.“43

Tatsachen offenlegen Vor diesem emotional aufgeladenen und medial hell ausgeleuchteten Erwartungshintergrund versuchte Hubert Markl als Präsident der MPG, der aus seinem Unbehagen an dem neuen Bußritual und den „inhaltsleeren Begriffen einer Rhetorik der political correctness“ keinen Hehl machte, einen anderen, einer Wissenschaftsorganisation adäquaten Akzent zu setzen.44 Auch ihm ging es um nichts weniger als die „notwendige Feststellung der Wahrheit“, allerdings nicht der NS-Verbrechen im Allgemeinen oder der Gaskammern von Auschwitz im Besonderen, sondern der konkreten Tatbeiträge von KWG-Wissenschaftlern an dem unleugbaren Verbrechensgeschehen. In einem von ihm präzise definierten wissenschaftlichen Dreischritt offenbarte sich der Biologe: Zunächst sei „Stück für Stück mit Fakten [zu] erhärten, was zuvor nur Vermutungen waren“, darauf sei „ein Boden gesicherter Tatsachen [zu] bereiten“, erst dann seien Bewertungen möglich, „die über den allgemeinen Ausdruck der Betroffenheit“ angesichts der NS-Verbrechen hinausgingen.45 Seine Rede folgte diesem Prozedere  – allerdings erst nachdem er seinem „Schaudern“ vor „einem vorgeblich wissenschaftlich begründeten Rassismus und einer angeblich wissenschaftlich gerechtfertigten Menschenvernichtungspraxis“ deutlichen Ausdruck verliehen und die damit verbundenen Verbrechen als „unauslöschliche Schande“ für die eigentlichen Täter, für diejenigen, die sie zuließen, und für die Biowissenschaften selbst gekennzeichnet hatte.46 Auf dieses emotionale Bekenntnis, das sich auf den gesamten biowissenschaftlichen Verbrechenskomplex im „Dritten Reich“ bezog, folgte eine Zusammenfassung der bis dahin vorliegenden, die KWG betreffenden „Fakten“. Sie belegten „historisch zweifelsfrei“, so Markls Urteil, die „geistige Miturheberschaft“ und „aktive Mitwirkung“ von Wissenschaftlern – vor allem aus den beiden Berliner KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik bzw. für Hirnforschung sowie der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie/KWI in München – auf drei Feldern: (1) KWG-Wissenschaftler, vor allem Ernst Rüdin und Eugen Fischer, hatten die NS-Rassengesetzgebung und ihre Anwendung teilweise angeregt und durchgängig unterstützt; (2) Hirnforscher wie Hugo Spatz und Julius Hallervorden forschten 43 44 45 46

Vera Kriegel, „ … endlich den höchsten Berg gefunden“, in: Sachse (Hg.), Verbindung, S. 76 f., hier 77. Markl, Entschuldigung, S. 45 (Zitat) und 50 f. Zitate: ebda., S. 42, 44 f. Ebda., S. 46 f.

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mit menschlichen Präparaten von getöteten Opfern der „Euthanasie“-Aktionen; (3) Anthropologen und Erbpathologen, wie Otmar von Verschuer und seine Mitarbeiter, hatten dank ihrer engen Verbindung zu Mengele in Auschwitz Opfer der dort begangenen Verbrechen für wissenschaftliche Zwecke benutzt und zum Teil auf die Ausführung der verbrecherischen Humanversuche Einfluss genommen. Die KWG als Ganze hatte diese Aktivitäten „wissentlich oder unwissentlich geduldet“.47 Als Boden gesicherter Tatsachen ergab sich daraus, dass „führende deutsche Wissenschaftler“, auch aus Kaiser-Wilhelm-Instituten, daran mitwirkten, „NS-Verbrechen vorzubereiten“, und sie nutzten sie, „um jenseits aller moralischen Grenzen der Menschlichkeit ihre wissenschaftlichen Ziele zu verfolgen“.48 Die „moralische Verpflichtung“, sich zur „historischen Verantwortung“ zu bekennen, war in dieser Rede als Antwort weder auf die Anschuldigungen der Medien noch auf die Aufforde­ rung von überlebenden Opfern konzipiert. Sie erwuchs vielmehr direkt und dezidiert aus den „zweifelsfreien Ergebnissen der historischen Forschung“, denen sich eine Wissenschaftsorganisation schlechterdings nicht entziehen kann.49 Wissenschaftliche Befunde wurden als Wahrheitsfeststellungen aufgerufen, um das nachfolgende Schuldbekenntnis zu legitimieren – nicht zuletzt gegenüber jenen Mitgliedern der eigenen Organisation, die den institutionellen und wissenschaftspolitischen Nutzen der aufwendigen Aufarbeitungsbemühungen noch immer bezweifelten, sich schützend vor ihre Lehrer stellten, den Ruf ihrer Institute gefährdet oder überhaupt Nestbeschmutzer am Werke sahen. Ihnen gegenüber nahm der Redner die Pose des „Ich stehe hier, ich kann nicht anders“ ein und definierte seine Sprecherposition als Doppelrolle: Der Präsident sprach als Person in der Trinität von Mensch, Biologe und Deutscher und zugleich als Repräsentant der MPG. In dieser Doppelung differenzierte er „drei Ebenen der Schuld“, die historisch zu verantworten seien: „die Schuld deutscher Wissenschaftler“, die auch als Spitzenforscher nicht „gefeit vor moralischen Abgründen“ gewesen seien; „die Schuld von Biowissenschaftlern“, die mit einer nicht nur in Deutschland verbreiteten „materialistischen, sozialdarwinistischen, entmenschlichten Biologie“ dem rassistischen Gedankengut des Nationalsozialismus Vorschub geleistet und die in Deutschland den Schritt „von der Erkenntnis, dass der Mensch vom Tier abstammt“, dahin getan hätten, „Menschen wie Vieh zu behandeln“; die Schuld der KWG, die in ihren Reihen Forschung duldete und förderte, „die mit keinen ethisch-moralischen Gründen zu rechtfertigen war“, und zu der sich in der institutionellen Nachfolge die MPG bekennen müsse.50 Erst nach diesem differenzierten, die Taten, die Täter und die Opfer konkret benennenden Schuldeingeständnis und dem Bekenntnis zur historischen Verantwortung beugte sich der Redner der öffentlichen Forderung nach einer förmlichen „Entschuldigung“. „Sich zu entschuldigen“ blieb ihm angesichts der verharmlosenden Vieldeutigkeit dieser umgangssprachlichen 47 48 49 50

Ebda., S. 47 f. Ebda., S. 48. Ebda., S. 49. Ebda., S. 49 f. (Hervorhebungen: CS).

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Phrase ein von außen auferlegter Sprechakt. Er konnte ihn sich nur dadurch zu eigen machen, dass er ihn mit dem ihm angemessen erscheinenden emotionalen Gehalt ausfüllte, nämlich mit dem „ehrlich empfundenen Ausdruck tiefsten Bedauerns, des Mitgefühls und der Scham über die Tatsache, dass solche Schuld aus den Reihen der Wissenschaft begangen, gefördert und nicht verhindert worden ist“.51 Gleich darauf kehrte er zur Aufgabe der Nachgeborenen zurück, die keine persönliche Schuld, wohl aber die „Verantwortung für die Aufklärung und Offenlegung der historischen Wahrheit als Voraussetzung ehrlichen Erinnerns und Lernens“ trügen. Damit bestätigte er abschließend noch einmal die Wissenschaft, konkret die Geschichtswissenschaft, als die entscheidende Instanz im angemessenen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. Tatsachen, Wahrheit, Schuld und Verantwortung waren in dieser Entschuldigungsrede die am häufigsten benutzten und sorgfältig reflektierten Worte. An Erinnerung hingegen appellierte nur die Schlusspassage mit einer vielschichtigen, aber nicht weiter erläuterten „Mahnung, die Erinnerung zu bewahren und aus ihr lehrend zu lernen“.52

Erinnern statt aufräumen und vergeben Erinnerung stand indessen im Fokus der Rede von Jona Laks, der Vorsitzenden der Organisation der Mengele-Zwillinge aus Tel Aviv. Einen zweiten Beitrag von Überlebenden hatte die ursprüngliche Planung des Dahlemer Bußrituals zunächst nicht vorgesehen; er wurde jedoch von den israelischen Gästen nachdrücklich reklamiert und schließlich in das offizielle Programm aufgenommen. Jona Laks setzte sich in ihrer Rede, die sich auf einen ganz anderen vergangenheitspolitischen Reflexionskontext bezog, kritisch von beiden anderen Positionen ab, sowohl des Vergebens als auch des historischen Aufarbeitens. Sie berief sich auf die jüdischen Religionsgesetze und die Bibel, die den Gläubigen gebieten, sich zu erinnern, „dass ihr Sklaven wart“: „Sagt euren Kindern davon und lasst es eure Kinder ihren Kindern sagen und diese wiederum ihren Nachkommen.“53 Ihre Sprecherinnenposition definierte sie im Sinne der Halacha nicht als Interessenvertreterin, sondern als „Gesandte jener Mengele-Opfer, die noch am Leben sind“. Als solche sei sie weder befugt, „im Namen der Toten Vergebung aus[zu]sprechen“, noch sei sie von den lebenden Mitgliedern ihrer Organisation dazu beauftragt worden. Auch als Einzelperson habe sie kein Recht dazu, sondern vielmehr daran zu mahnen, „dass Vergebung zu Vergessen führt“: „Vergebung löscht Erinnerung!“ und widerspreche damit dem religiösen Gesetz, dem sie sich verpflichtet fühlte.54 Jona Laks wandte sich aber auch direkt an die im Publikum versammelten Repräsentanten der MPG und wies sie darauf hin, dass Erinnerung nicht in historischer Aufarbeitung, in der Offenlegung von Tatsachen aufgehen dürfe: 51 52 53 54

Ebda., S. 51. Ebda., S. 51. Laks, Erinnerung, S. 56. Ebda., S. 54 f.

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„Sie wollen mit ‚den Nazi-Verbrechen aufräumen‘, die wir in Erinnerung behalten wollen. […] Wir verlangen von Ihnen, dass Sie sich an das erinnern, was Sie ‚aufräumen‘ und dann vielleicht vergessen wollen.“55 Die Frage, was erinnern an und erzählen von Auschwitz heute heißen kann, war für Jona Laks alles andere als einfach. Sie war sich dessen bewusst, dass die Literatur über den Holocaust längst Bibliotheken füllt. Und nicht nur das: auch die Debatte über angemessene Repräsentationsformen in Museen, Gedenkstätten, Dokumentar- und Spielfilmen, literarischen, biografischen und autobiografischen Texten hält seit der 1978 zuerst in den USA und wenig später in der Bundesrepublik Deutschland ausgestrahlten Fernsehserie „Holocaust“ und erst recht seit der Eröffnung des Holocaust Memorial Museum 1993 in Washington unvermindert an. Wie die anderen, die Auschwitz als Kinder überlebt haben, gehört Jona Laks zu den Letzten, die sich aus eigenem Erleben an Auschwitz erinnern können. Seit den 1980er-Jahren registrierte sie, wie die Erinnerung der Opfer unvermeidlich durch die „Interpretation der Erinnerung“ im öffentlichen Raum verdrängt wird, wie Hollywood Yad Vashem, der 1953 von der israelischen Knesset begründeten Gedenkstätte, die Rolle als zentrale Erinnerungsinstitution streitig macht. Jona Laks rang in ihrer Rede um eine Sprache, die die „angehäuften Klischees“ beiseite wischen und die „metaphysischen Kommentare“ abblocken könnte, die den Wissenschaftler und Arzt Mengele in das „Reich des Bösen“ abdrängen und ihn als Repräsentanten des „Bösen“ im ewigen Kampf gegen das „Gute“ kultivieren wollen.56 Ihr ging es darum, die medizinischen und biowissenschaftlichen NS-Verbrechen innerhalb des wissenschaftlich-medizinischen Systems ihrer Zeit zu verorten sowie auf die institutionellen und kommunikativen Netzwerke hinzuweisen, die einen Mengele innerhalb seiner Gesellschaft und ihres Wissenschaftssystems funktionsfähig gemacht hatten. Aber, so ihre Überzeugung, nur die „lebendigen Stimmen“ der Überlebenden können die nach allen Regeln der historiografischen Profession zutage geförderten und geprüften „Tatsachen“ an die gelebte historische Wirklichkeit zurückbinden, die es als solche zu erinnern gilt. Jona Laks wusste, dass ihre Erinnerungen von Tag zu Tag verblassten, und fürchtete den Moment, in dem die „Aufrichtigkeit der Opfer nicht länger über jede Diskussion erhaben“ sein würde.57 Vielleicht verzichtete sie deshalb – anders als Eva Mozes Kor – darauf, ihre eigenen Erinnerungen an Auschwitz und die erlittenen Experimente wiederzugeben. Dennoch drang sie darauf, dass alle angereisten Mitglieder ihrer Organisation während des Symposiums mit ihren persönlichen Stellungnahmen zu Wort kamen. Die Wirklichkeit bezeugenden „lebendigen Stimmen“ der Überlebenden, nicht diejenigen von „Tatsachen“ bestätigenden Zeitzeugen sollten präsent sein, wenn die Verbindungen zwischen Mengeles Taten und den biowissenschaftlichen Forschungen an Kaiser-Wilhelm-Instituten wissenschaftlich debattiert wurden. Deshalb waren die israelischen Überlebenden der Einladung der MPG gefolgt. Das Ziel ihrer 55 Ebda., S. 56. 56 Ebda., S. 54 f. 57 Ebda., S. 56.

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Reise nach Berlin war der Ort des ehemaligen KWI für Anthropologie, der damaligen Wirkungsstätte von Mengeles wissenschaftlichem Mentor, Otmar von Verschuer. Hier wollten sie die Identität ihrer Erinnerungen, die Authentizität ihrer Zeugnisse in die Geschichte einschreiben und sie, solange sie selbst es noch vermochten, mit der historiografischen Rekonstruktion der Taten Mengeles und ihres biowissenschaftlichen Hintergrunds verknüpfen. Denn Auschwitz, so Jona Laks, „lag auf unserem Planeten und war ein Teil von ihm, hier handelten Menschen gegen das Leben anderer Menschen. Es war hier, mitten unter uns.  Und es gibt keine Garantie, dass es nicht irgendwo wieder passieren wird.“58

Wissen und Erinnern Die wissenschaftshistorische Forschung der letzten dreißig Jahre hat eine überwältigende Fülle von Detailkenntnissen über die biowissenschaftlichen Verbrechen des NS-Regimes in Lagern, Krankenanstalten und Forschungseinrichtungen hervorgebracht. Dennoch sind viele wissenschaftliche Hintergründe dieser Verbrechen und der professionellen Netzwerke, die sie in Gang gesetzt, mitgestaltet und genutzt haben, noch immer nicht aufgeklärt. Es fällt schwer, sich damit abzufinden, dass wir den biowissenschaftlichen, medizinischen, pharmazeutischen und industriellen Kontext von Mengeles Versuchsreihen in Auschwitz, in denen Tausende von Menschen geschunden und ermordet wurden, voraussichtlich nie hinreichend werden rekonstruieren können. Die großen Forschungsprojekte zur Aufarbeitung der NS-Geschichte, die von unabhängigen Historikerkommissionen im Auftrag der MPG, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Robert-Koch-Instituts in den letzten zehn Jahren durchgeführt wurden, haben über die Vermehrung des Detailwissens hinaus das wissenschaftshistorische Verständnis davon, wie Biowissenschaften und Rassenpolitik im Nationalsozialismus Hand in Hand arbeiteten, auf eine neue Basis gestellt: Zwangssterilisationen, Krankenmorde und verbrecherische Humanexperimente waren kein Ausfluss einer kruden Pseudowissenschaft, sie waren tief im wissenschaftlichen, genauer im eugenischen, erbpathologischen, sozialmedizinischen und rassenanthropologischen Denken verankert und in manchen Forschungs- und Anstaltspraktiken ihrer Zeit angelegt. Was die Beschaffung von Humanpräparaten und die Rekrutierung von Versuchspersonen anbelangt, so waren und sind sie zu jeder Zeit heikel und bedürfen der strikten gesellschaftlichen Kontrolle. Das NS-Regime setzte hingegen die schon zuvor unzureichenden Kontrollen außer Kraft; es riss alle ethischen Grenzen ein und ermöglichte den schrankenlosen Zugriff auf die von ihm stigmatisierten und verfolgten Menschen. Allzu viele Biowissenschaftler und Mediziner machten davon bedenkenlosen Gebrauch. Das NS-Regime war mitnichten wissenschaftsfeindlich; wie andere politische Regime davor und danach setzte es seine spezifi58 Ebda., S. 54.

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schen wissenschaftspolitischen Prioritäten, von denen jene bevorzugt profitierten, die sie zu bedienen wussten. Insoweit Wissenschaftler mit ihren Forschungsansätzen die rassen- und bevölkerungspolitischen Programme des NS-Regimes argumentativ oder auch in der Durchführung der entsprechenden Zwangsmaßnahmen unterstützten, konnten sie umfänglicher finanzieller und infrastruktureller Förderung gewiss sein. Wie zu anderen Zeiten gab es auch im „Dritten Reich“ weniger gute Wissenschaftler, die die besonderen politischen Verhältnisse für Forschungsvorhaben zu nutzen wussten, die einer strengen Überprüfung an zeitüblichen methodischen und theoretischen Standards nicht standgehalten hätten. Ebenso gab es gute und exzellente Wissenschaftler, die die politische Gunst der Stunde nicht verstreichen ließen, um etwa mithilfe von Humanpräparaten und Versuchspersonen, auf die sie unter rechtsstaatlichen Bedingungen kaum hätten zugreifen können, ihre Forschungen rascher zum Ziel zu führen oder überhaupt erst Projekte zu konzipieren, die sonst nicht möglich gewesen wären. Ihre Verbrechen widersprachen nicht, sie folgten vielmehr der epistemologischen Logik ihrer Forschungsinteressen, denen das NS-Regime sämtliche ethischen und rechtlichen Schranken aus dem Weg räumte. Wissenschaftliche Forschung hat keine immanenten ethischen Grenzen, sie müssen gesellschaftlich verhandelt, gesetzlich verankert und politisch durchgesetzt werden. Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik im Nationalsozialismus ist inzwischen in vielen disziplinären und institutionellen Facetten ausgeleuchtet und in Dutzenden wissenschaftshistorischen Buchpublikationen, die aus den Forschungsprogrammen der letzten Jahre hervorgegangen sind, differenziert beschrieben worden.59 Für das Verhältnis von Wissenschaftsgeschichte und Erinnerung kann davon keine Rede sein. Kaum eines der Max-PlanckInstitute, dessen NS-Vergangenheit im Rahmen des Forschungsprogramms der MPG durchleuchtet wurde, sah sich veranlasst, die der eigenen Geschichte gewidmeten Passagen in seiner Selbstdarstellung, ob Hochglanzbroschüre oder Internetauftritt, zu aktualisieren.60 Die Vierteljahresschrift „Max Planck Forschung“ berichtete zuletzt 2005 anlässlich der Abschlusskonferenz des Forschungsprogramms ausführlicher über die Zusammenarbeit ihrer Vorgänger­ institution mit dem NS-Regime.61 Sie kehrte in ihren historischen Rückblicken alsbald zu den 59 Vgl. für das MPG-Projekt die Angaben in Fußnote 4. Die Ergebnisse des DFG-Projekts erscheinen in den Studien und Beiträgen zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hg. v. Rüdiger vom Bruch und Ulrich Herbert, Stuttgart, seit 2006; Annette Hinz-Wessels: Das Robert-Koch-Institut im Nationalsozialismus, Berlin 2008; Anja Laukötter, Marion Hulverscheidt (Hg.): Infektion und Institution. Zur Wissenschaftsgeschichte des Robert-Koch-Instituts im Nationalsozialismus, Göttingen 2009. 60 Es bleibt abzuwarten, ob sich daran im Jubiläumsjahr 2011 und angesichts der neuerlichen geschichtspolitischen Diskussion um die kürzlich erschienene Festschrift etwas ändern wird. Vgl. Denkorte. Max-Planck-Gesellschaft und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Brüche und Kontinuitäten 1911–2011, hg. v. Peter Gruss und Reinhold Rürup unter Mitarbeit von Susanne Kiewitz, Dresden 2010, sowie den Hintergrundbericht von Christine Berndt: Blinde Flecken. Nach Jahren vorbildlicher Aufarbeitung geht die Max-Planck-Gesellschaft nun leichtfertig mit ihrer NSGeschichte um, beklagen Historiker, in: Süddeutsche Zeitung (25.01.2011). 61 Susanne Heim: Wissenschaft ohne Gewissen, in: Max Planck Forschung (MPF) 2 (2005), S.  60–65; und die Artikel „Besondere ethische und moralische Verpflichtung“, in: ebda., S. 66–68; „ ‚Selbsteinbindung‘ statt Existenzkampf der Wissenschaft“, in: Max Planck Intern 2 (2005), S. 6 f.

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üblichen Narrativen von wissenschaftlichem Erfolg, Fortschritt und Genie zurück;62 allenfalls den in die Emigration gezwungenen großen Geistern widmete sie gelegentlich ein bedauerndes Gedenken. Es scheint sich zu bewahrheiten, was Jona Laks befürchtet hat: Historische Aufarbeitung mündet nicht notwendig in lebendiger Erinnerung. Aber wie kann Erinnerung auch dann lebendig gestaltet werden, wenn die Überlebenden ihre Stimmen nicht mehr erheben können? Mit Sicherheit kann diese Frage nicht an die Geschichtswissenschaft delegiert werden, die sich der Herausforderung, die Geschichte der Opfer in die Wissenschaftsgeschichte zu integrieren, noch kaum gestellt hat. Diese Frage muss vielmehr auch in den biowissenschaftlichen Disziplinen und Fachverbänden, in den Universitäten und Forschungsinstitutionen diskutiert werden. Aus Erinnerung „lehrend zu lernen“, wie es Hubert Markl postulierte, bedarf zuerst der historisch informierten Empathie mit den Opfern biowissenschaftlicher Hybris, darüber hinaus der kritischen Reflektion des wissenschaftlichen Kanons, der gelehrt und von zukünftigen Generationen von Medizinern und Biowissenschaftlern gelernt werden soll, und nicht zuletzt einer ebenso kreativen wie respektvoll gezügelten Fantasie, um historische Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, ohne die Anliegen der Überlebenden, die Jona Laks formuliert hat, bis zur Unkenntlichkeit zu überformen.

62 In einem Bericht über das am MPI für Wissenschaftsgeschichte betriebene Virtual Laboratory, einer elektronischen Quellensammlung zur Experimentalphysiologie 1830–1930, heißt es über die dort dokumentierten Forschungen lapidar: „Ohne Opfer war der Fortschritt nicht zu haben“, um dann nur kurz mit mildem Schauer ob der experimentellen Gruselkabinette im 19. Jahrhundert auf die Praktiken der Vivisektion an Tieren und auf schmerzhafte Humanexperimente mit „Wechsel- und Gleichstrom“ und „künstlicher Beatmung“ hinzuweisen, die fälschlich als Behandlung ausgegeben wurden (Atonia Rötger: Die Maschine des Lebendigen, in: MPF 1 [2007], S. 62–67, hier 66 f.).

Ernst Wangermann

Linke Intellektuelle, Marxismus und Sozialgeschichte in England Zum historischen und politischen Umfeld der Communist Party Historians’ Group Über die britischen marxistischen Historiker in der Historians’ Group of the Communist Party hat sich im Laufe der Jahre eine beachtliche historische Literatur angesammelt. Da der Anfang meiner wissenschaftlichen Karriere mit der Historians’ Group eng verbunden ist, liegt mir dieses Thema in mancher Hinsicht sehr nahe. Ich kam im Oktober 1946 an das Balliol College in Oxford, um Geschichte zu studieren. Der Tutor für englische Geschichte in der frühen Neuzeit im Balliol College war Christopher Hill. Hill war damals schon für seine umstrittene marxistische Sicht der englischen Revolutionen im 17. Jahrhundert ziemlich bekannt. Mein Interesse für die Debatten um das englische 17. Jahrhundert motivierte mich, der Historians’ Group beizutreten, wo die Thesen Hills lange Zeit hindurch immer wieder auf der Tagesordnung standen. Und dennoch scheint mir das Thema in manch anderer Hinsicht in weite Ferne entrückt. Denn das politische Umfeld, in dem die Historians’ Group agierte, und die Perspektiven der linken Intellektuellen und der marxistischen Historiker waren vom heutigen politischen Klima und von den heutigen Perspektiven sehr verschieden. Das leidenschaftliche Interesse an den Diskussionen der Historians’ Group wurzelte in der Überzeugung, dass wir Historiker mit unseren historischen Kenntnissen zum Übergang in eine egalitäre sozialistische Gesellschaftsordnung beitragen könnten. Heute hingegen nennt mein Kollege Ernst Hanisch Otto Bauer in seiner neuen Biografie den „großen Illusionisten“,1 weil er die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zum Ziel seiner Politik machte, und bringt damit zweifellos das gegenwärtige politische Klima zum Ausdruck. Es ist daher sicher nicht leicht, dem heutigen Leser das damalige politische Klima und die damaligen Perspektiven zu vermitteln. Ich möchte es hier dennoch versuchen. Eine marxistische historische Tradition geht in England auf das letzte Dezennium des 19. Jahrhunderts zurück. Es gab schon zu Lebzeiten Friedrich Engels’ marxistische Intellektuelle, die sich mit Geschichte befassten. Als Beispiel sei hier nur Ernest Belfort Bax erwähnt, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in England Studien über die deutsche Reformation und die Französische Revolution veröffentlichte. Das waren vereinzelte Erscheinungen, so wie marxistische Intellektuelle und marxistische historische Werke bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts vereinzelte Erscheinungen waren. 1 Ernst Hanisch: Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien / Köln / Weimar 2011.

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Erst die Folgen der großen Finanz- und Wirtschaftskrise von 1929/31, insbesondere die Zerstörung der Kommunistischen Partei und der Arbeiterbewegung durch den siegreichen Faschismus in Deutschland, wirkten wie ein Weckruf, der die linken Kräfte in den sozialistischen Parteien mobilisierte und die der Kommunistischen Internationale angeschlossenen Parteien dazu bewog, mit ihnen politisch zu kooperieren. Es war die Zeit der Einheits- und Volksfronten, die sich der Überwindung der Wirtschaftskrise, dem Kampf gegen den Faschismus und nach 1936 auch der Unterstützung der republikanischen Regierung in Spanien gegen den militärischen Aufstand des Generals Franco verschrieben. Das Ende der Konfrontation der Kommunisten gegen Sozialdemokraten und die Politik der Einheitsfront brachte den kommunistischen Parteien zahlreiche neue Mitglieder und Anhänger, unter denen in England die außergewöhnlich vielen Intellektuellen aus mehreren Zweigen der Wissenschaften – darunter Geschichte, Philosophie und Biologie – auffallen. Diese Intellektuellen beteiligten sich nicht nur an den politischen Auseinandersetzungen und Aktivitäten, sondern sie versuchten auch die marxistische Theorie auf ihr jeweiliges Fachgebiet anzuwenden und dieses im Lichte marxistischer Einsichten und Fragestellungen zu entwickeln. Offenbar verstanden sie das als einen Teil ihres politischen Einsatzes. Auf dem Gebiet der Geschichte entstanden bereits in den 1930er-Jahren grundlegende Werke von prominenten Vertretern dieses Fachs, die sich als Marxisten verstanden: Gordon Childes Man Makes Himself erschien 1936; im selben Jahr erschien Benjamin Farringtons Science in Antiquity und 1938 nahm der Left Book Club Leslie Mortons A People’s History of England in sein Programm auf. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 und der im September 1939 folgenden Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs an Deutschland war es dann vorläufig mit der Einheitsfront vorbei. Die britischen Kommunisten unterwarfen sich mehrheitlich der Parteidisziplin. Vermeintlichen Erfordernissen von Stalins Außenpolitik Rechnung tragend, orientierten sie sich auf den Kampf gegen den englischen und französischen ‚Imperialismus‘. Die Losung war a people’s peace. Trotz der Isolation, in die diese Politik die britische Kommunistische Partei in den Jahren 1939 bis 1941 brachte, konnte sie die Marxist Textbook Series herausbringen, in der Probleme in der Philosophie, der Literatur und der Geschichte von marxistischen Autoren allgemein verständlich und populär behandelt wurden. In einem dieser Marxist Textbooks erschien im Jahre 1940 in erster Auflage Christopher Hills The English Revolution 1640, zusammen mit einem Artikel des kommunistischen Dichters Edgell Rickword über Milton: the Revolutionary Intellectual. Der Ausbruch von Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion im Juni 1941 brachte unmittelbar die Wiederauferstehung der antifaschistischen Einheitsfront mit sich, diesmal aber nicht mehr als Oppositionsbewegung, sondern als Teil des internationalen Staatensystems, als Einheit und Bündnis zwischen Großbritannien und der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour schlossen sich auch die Vereinigten Staaten von Amerika diesem Bündnis an. Das Bündnis bezwang das faschistische Deutschland, das im Mai 1945 bedingungslos kapitulierte.

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Es ist heute fast vergessen, dass aufgrund der durch den Sieg über den deutschen und italienischen Faschismus entstandenen neuen internationalen Konstellation und aufgrund der durch den Überlebenskampf Englands bedingten fortschrittlichen Entwicklung in diesem Land die kommunistischen Parteien sich eine neue politische Perspektive erarbeiteten. Das leninistische Revolutionsmodell als unerlässliche Voraussetzung für den Übergang zur sozia­ listischen Gesellschaftsordnung wurde jetzt über Bord geworfen. Nach den neuen kommunistischen Leitlinien hätten der Aufstieg der Sowjetunion zu einer Weltmacht, die Niederlage des Faschismus und die fortschrittliche Entwicklung in den mit der Sowjetunion verbündeten Ländern seit 1941 einen friedlichen Übergang zum Sozialismus historisch möglich gemacht.2 Durch die theoretische Verarbeitung der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs traten also die kommunistischen Parteien endlich aus dem langen Schatten der Oktoberrevolution heraus. Maurice Dobb, Dozent für Politische Ökonomie an der Universität Cambridge und schon seit 1925 Mitglied der Kommunistischen Partei, schrieb am Schluss seiner 1946 veröffent­lichen Studies in the Development of Capitalism: The continuance into peace-time […] of a form of State Capitalism democratically controlled and operated in the interests of Labour towards the maintenance of full employment and the curbing of monopolistic business organization seem the most probable outcome over at least a major part of Europe. This is apparently something that the unprecedented happenings of the Great World War have placed on the historical agenda, where it never was before.3

In seinem Bericht zum ersten Parteitag der Kommunistischen Partei Großbritanniens nach Kriegsende und nach dem Wahlsieg der Labour Party im Sommer 1945 präsentierte der Generalsekretär der Partei, Harry Pollitt, eine entsprechend optimistische Zukunftsperspektive: The full achievement of the declared policy of the Labour Government will be an important advance for the working class. It will seriously weaken the power and influence of capitalism, and help clear the way for great strides forward for the winning of complete political power, thus enabling the working class to carry out its historical mission – the establishment of Socialism.4

In dieser Perspektive eines Übergangs zum Sozialismus, der keine leninistische Revolution, aber selbstverständlich einen ständigen und starken Druck aller linken und marxistischen

2 Manuel Azcarate: Die Europäische Linke, Wien / Zürich 1989 (spanische Erstauflage 1986), S. 49–56. 3 Maurice Dobb: Studies in the Development of Capitalism, London 1946, S. 386. 4 Harry Pollitt: Communist policy for Britain, in: Report of the 18th national congress of the Communist Party (November 1945), o.O. 1945, S. 6.

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Kräfte auf die rechten Führungsschichten der regierenden Labour Party voraussetzte,5 sahen die marxistischen Historiker eine besondere Herausforderung an sich selbst. Der Zeitpunkt schien daher gekommen, sich als eigene Gruppe von Intellektuellen innerhalb der Kommunistischen Partei zu organisieren – als Historians’ Group of the Communist Party –, um ihre spezifische Rolle im Übergang zur sozialistischen Gesellschaftsordnung wahrzu­ nehmen. In einem kurzen Überblick über die Geschichte der Historians’ Group schrieb Eric Hobsbawm: History is the core of Marxism. For us and for the [Communist] Party, history – the development of capitalism to its present stage, especially in our own country, which Marx himself had studied – had put our struggles on its agenda and guaranteed our final victory.6

Obwohl der Ausdruck „guaranteed“ den damals unter den britischen marxistischen Histori­ kern vorherrschenden Optimismus überbetont – sie unterschieden sehr konsequent zwischen dem „historischen Materialismus“ von Marx und dem ökonomischen Determinismus7 –, ist Thomas Krolls Charakterisierung der Historians’ Group als einer „Glaubensgemeinschaft“, deren Mitglieder „von der welterlösenden Funktion der marxistischen Theorie überzeugt waren“, für die ihm Hobsbawms Überblick als Beleg dient, eine die historische Realität arg verzerrende Parodie.8 Versuchen wir also, ganz nüchtern der Frage nachzugehen, warum für Hobsbawm die Geschichte „das Herzstück des Marxismus“ ist. Etwas vereinfacht ausgedrückt lautet meine Antwort auf diese Frage: Weil Marx seinen Begriff von der kommenden sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht aus vorausgesetzten moralischen Grundsätzen ableitete, sondern aus seiner Auffassung der Geschichte als Reihe von mehreren aufeinanderfolgenden Gesellschafts­ ordnungen, deren letzte der industrielle Kapitalismus war, mit dem jedoch die Entwicklung der Gesellschaft, nach seiner Überzeugung, nicht den absoluten Schlusspunkt erreicht haben würde. Daraus ergibt sich für Marxisten die Vermutung, die auch zur Gewissheit werden kann, dass die Menschen den Weg zur zukünftigen Gesellschaftsform, zum Sozialismus, am ehesten finden würden, wenn sie erkennen und verstehen könnten, auf welche Art und Weise sich frühere Übergänge von einer Gesellschaftsordnung zu einer anderen vollzogen haben. Und dazu waren gründliche historische Studien und Erkenntnisse sowie die Vermittlung von deren Ergebnissen notwendig.   5 Siehe ebda., S. 5.   6 Eric Hobsbawm: The Historians’ Group of the Communist Party, in: Maurice Cornforth (Hg.), Rebels and their causes. Essays in honour of A.L. Morton, London 1978, S. 26.   7 Siehe z.B. Christopher Hill: Marxism and history, in: The Modern Quarterly 3.2 (Spring 1948), S. 53–54: „Marxism is not determinist […] The degree of effectiveness of […] revolutionary ideas depended on their clarity and on the extent to which they were spread among the masses of the […] population.“   8 Thomas Kroll: Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945–1956), Wien 2007, S. 608.

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Ich möchte diesen abstrakten Gedankengang anhand von zwei Beispielen ein wenig konkretisieren. Mein erstes Beispiel ist einem Schreiben Edward Thompsons entnommen, das er im Zusammenhang mit seiner ersten Bewerbung um einen akademischen Posten verfasste. Das Schreiben ist an den Vorsitzenden der Berufungskommission gerichtet, die um Thompsons damalige Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei wusste. Thompson wollte offenbar den Verdacht der Kommission entkräften, er würde seine Studenten politisch beeinflussen, wollte aber gleichzeitig nicht auf den Anspruch verzichten, den Studenten das zu vermitteln, was für einen Marxisten das Wesentliche in der historischen Materie ist: Ich würde immer versuchen, die organische Entwicklung einer historischen Periode, […] also den kausalen Zusammenhang zwischen großen Ereignissen, herauszustreichen. Da­ raus würde sich zeigen, dass wir, obwohl wir den Lauf der Geschichte niemals vorhersagen können, vielleicht dennoch uns durch die Einsichten, die wir durch das Studium der vergangenen Geschichte gewonnen haben, eine gewisse Kontrolle über die Gegenwart aneignen können.9

Mein zweites Beispiel stammt aus der programmatischen Einleitung zur ersten Nummer der Zeitschrift Past & Present, durch die in der kältesten Phase des Kalten Krieges der in der Zeit der Einheitsfront geknüpfte Kontakt zwischen marxistischen und linken nichtmarxistischen Historikern aufrechterhalten werden konnte. In dieser Einleitung wurde die Analyse und Erklärung der „in der Gesellschaft durch ihr Wesen selbst sich vollziehenden Veränderungen“ zur Hauptaufgabe der neuen Zeitschrift bestimmt. Diese erklärenden Analysen würden den Lesern „einige allgemeine Schlussfolgerungen“ nahelegen, „ob wir diese [Schlussfolgerungen] […] Gesetze der historischen Entwicklung nennen oder nicht“. Denn das Studium der Vergangenheit könne logisch nicht von der Gegenwart und der Zukunft getrennt werden. Wenn wir verstehen, wie Veränderungen in der Gesellschaft in der Vergangenheit stattgefunden haben, könne die Disziplin der Geschichte ein Instrument werden, welches uns ermöglicht, „zukünftigen Ereignissen mit Zuversicht entgegen zu sehen“.10 Fassen wir also zusammen: Nach Edward Thompson ist es möglich, sich aus dem Verständnis der vergangenen geschichtlichen Entwicklung eine gewisse Kontrolle über die Gegenwart zu beschaffen. Nach den Herausgebern von Past & Present befähigt das Verständnis der gesellschaftlichen Veränderungen in der Geschichte die Menschen, die Zukunft mit Zuversicht zu gestalten. Diese zwei verschiedenen Versuche, einen abstrakten Gedanken einigermaßen zu konkretisieren, gewähren einen guten Einblick in die Perspektive der britischen marxistischen Historiker nach 1945 und in die sich daraus für sie ergebenden politischen Aufgaben.   9 Edward Thompson an Frank Jacques, 28. April 1948 (im Orig. englisch), zit. nach Tom Steele: The emergence of cultural studies 1945–65. Cultural politics, adult education and the English question, London 1998, S. 150. 10 Introduction, in: Past & Present 1 (Feb. 1952), S. i–iv.

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Aufgrund dieser in den angeführten Zitaten ziemlich vorsichtig formulierten Überzeugung von der potenziellen politischen Bedeutung des Verständnisses vergangener gesellschaftlicher Transformationsprozesse beschäftigte sich die Historians’ Group in den 1940er- und 1950erJahren besonders intensiv mit dem Übergang von einer Gesellschaftsordnung zu einer anderen, und vor allem mit dem Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Sie glaubten, aus den darüber gewonnen Erkenntnissen wichtige Schlussfolgerungen hinsichtlich des Weges zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung ziehen und durch entsprechende Publikationen vermitteln zu können. Eine weitere Herausforderung an die marxistischen Historiker ergab sich aus der Erwägung, dass sie, um ihren Zweck zu erreichen, nicht nur intensive und einwandfreie wissenschaftliche Forschung betreiben, sondern auch ihr Material und ihre Gedanken für eine fachlich nicht spezialisierte Leserschaft möglichst fasslich und verständlich präsentieren mussten. In der Kunst, allgemein verständlich zu schreiben, sind die Briten bekanntlich seit jeher den deutschsprachigen Wissenschaftern voraus gewesen. Dennoch bieten m.E. die ersten historischen Serien, die nach 1945 unter der Ägide der Historians’ Group veröffentlicht wurden, ein außergewöhnlich eindrucksvolles Beispiel allgemein verständlicher und zugleich anspruchsvoller Historie. Dona Torr, die die deutsche ausgewählte Marx-Engels-Korrespondenz ins Englische übersetzt und vielleicht schon 1938 versucht hatte, eine Gruppe marxistischer Historiker ins Leben zu rufen, gab eine Auswahl von Quellentexten unter dem Titel History in the Making heraus. Die Auswahl bezog sich auf die sozialen und revolutionären Bewegungen in der englischen Geschichte, vom Bauernaufstand im 14. Jahrhundert bis zur modernen Arbeiterbewegung. Der von Eric Hobsbawm bearbeitete und 1948 veröffentlichte Textband Labour’s Turning Point 1880–1900 war meines Wissens seine erste wissenschaftliche Publikation. Gleichzeitig mit dieser Serie erschienen sieben meist schmale Bände in einer vom Wissenschaftshistoriker Benjamin Farrington herausgegebenen Serie Past and Present. Bei allen Bänden handelt es sich im Wesentlichen, direkt oder indirekt, um den Übergang zwischen Gesellschaftsordnungen, wobei die Verfasser beweisen, dass auch ein von konkreten Einzelheiten weit abgehobenes Problem fasslich und lebendig präsentiert werden kann. Besonders bemerkenswert ist das heute fast vergessene Werk Men, Machines and History von Sam Lilley. Der Untertitel dieses Bandes lautet: „A short history of tools and machines in relation to social progress“. Dahinter versteckt sich der anspruchsvolle Versuch des Verfassers, das Marx’sche Schema der gesellschaftlichen Entwicklung, von der Urgesellschaft über die Sklaverei und den Feudalismus zum industriellen Kapitalismus, durch eine Berechnung der „relativen Erfindungsrate“ in den verschiedenen Zeiträumen zu untermauern. Man kann daraus z.B. ersehen, dass die feudale Gesellschaftsordnung, nicht weniger als die kapitalistische, eine Aufstiegsphase hatte, in der die Produktivkräfte durch wichtige Erfindungen und deren verbreitete Anwendung gesteigert wurden. Nach Lilleys „relativer Erfindungsrate“ dauerte die Aufstiegsphase der feudalen Gesellschaftsordnung bis zum 13. Jahrhundert; während der darauffolgenden Jahrhunderte behinderten die feudalen sozialen Verhältnisse die Anwendung und weitere Entwicklung der

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bereits gemachten Erfindungen, bis die sozialen Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise ihre volle Entfaltung ermöglichten und neue Erfindungen anregten.11 Aus diesen zwei frühen Serien, History in the Making und Past and Present, ist deutlich zu erkennen, wo die Schwerpunkte in der Arbeit der Historians’ Group lagen: erstens auf den revolutionären Bewegungen und radikalen Traditionen in der britischen Geschichte, der Entwicklung des Kapitalismus und der sich innerhalb des Kapitalismus entwickelnden Arbeiterbewegung; und zweitens auf dem Übergang von einer Gesellschaftsordnung zu einer anderen, im Besonderen auf dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, wobei auch die Frage, mit welchen Krisen diese Übergänge verbunden waren, akribisch erörtert wurde. Mit den radikalen Traditionen und revolutionären Bewegungen befasste sich Rodney Hilton in seinen Schriften über die Befreiung der Leibeigenen im Mittelalter und Christopher Hill in seinen Schriften zum englischen Jahrhundert der Revolution. Die Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung, angefangen von ihren ersten primitiven Phasen, ist das Thema von Eric Hobsbawms Trilogie, die sich über das „lange 19. Jahrhundert“ erstreckt, und von seinem Buch über „Sozialrebellen“.12 Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, verbunden mit der Frage, welche Krisen damit verbunden waren, war Gegenstand zahlreicher Artikel in historischen Zeitschriften, die, in zwei Büchern gesammelt, wieder veröffentlicht wurden. Wie sind die Geschichtswerke zu beurteilen, die von marxistischen Historikern zwecks Beförderung ihres Anliegens, die Welt nicht nur zu erkennen, sondern auch zu gestalten, verfasst worden sind? Entgegen oft wiederholter Behauptungen, dass Geschichte, um wissenschaftlich einwandfrei zu sein, ideologisch unbelastet sein muss, genießt die britische marxistische Historiografie aus der Zeit nach 1945 insgesamt und bis heute in der Fachwelt einen ausgezeichneten Ruf. Diesen Ruf verdankt sie natürlich vorrangig nicht ihrer ideologischen Ausrichtung, sondern dem Talent ihrer Verfasser. Rodney Hilton, Christopher Hill, Eric Hobsbawm und Victor Kiernan, um nur einige prominente Mitglieder der Historians’ Group zu nennen, gehören oder gehörten ohne Zweifel zur ersten Riege ihrer Zunft. Ihre ideologische Ausrichtung und ihr politisches Anliegen haben dem wissenschaftlichen Rang ihrer Werke keinen Abbruch getan. Diese Werke haben die Probe der Zeit gut bestanden. Wie breit die Leserschaft dieser Bücher außerhalb der doch eher „geschlossenen Gesellschaft“ der Studierenden, der Lehrer und Akademiker war, habe ich nicht recherchiert. Dass Hobs­ bawms Bücher viel gelesen wurden, ist durch ihre mehrfachen Übersetzungen bestätigt. Das hinsichtlich zahlreicher Leserschaft erfolgreichste Buch eines britischen marxistischen Historikers war sicher Edward Thompsons The Making of the English Working Class. Aber dieses 11 Sam Lilley: Men, machines and history. A short history of tools and machines in relation to social progress, London 1948, S. 207–231. Lilleys grafische Darstellung der „relativen Erfindungsrate“ und seine Erläuterungen dazu sind im Anhang zu diesem Beitrag abgedruckt. 12 Eric Hobsbawm: The age of revolution. Europe 1789–1849, London 1962; ders.: The age of capital, 1848–1875, London 1975; ders.: The age of empire, 1875–1914, London 1987; siehe auch die Fortsetzung in ders.: The age of extremes. The short twentieth century, 1914–1991, London 1994; ders.: Primitive rebels. Studies in archaic forms of social movement in 19th and 20th centuries, Manchester 1959.

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1963 in erster Auflage erschienene Werk gehört nur bedingt zur Geschichte der Historians’ Group, die nach der Krise der kommunistischen Bewegung von 1956 nur mehr ein Schattendasein führte.13 Thompson ist vor der Krise nur sehr selten zu den Tagungen der Historians’ Group gekommen; nach 1956 war er einer der bekanntesten Historiker innerhalb der „Neuen Linken“. Die Kontroverse um sein viel gelesenes Werk kann nur in Zusammenhang mit den theoretischen Auseinandersetzungen innerhalb der Neuen Linken wirklich verstanden werden; ich gehe weiter unten auf einen Aspekt der Kontroverse ein. Die Krise von 1956 war für die britischen Marxisten kein Blitz aus heiterem Himmel. Die linken und marxistischen Kräfte erwiesen sich als zu schwach, um auf das Labour-Ministerium Clement Attlee – Ernest Bevin jenen Druck auszuüben, der nach dem Wahlsieg der Labour Party 1945 den Weg zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung tatsächlich hätte öffnen können. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates war zwar eine wichtige Errungenschaft. Die amerikanische Anleihe von 1946 und der Marshallplan von 1947 schufen jedoch durch die daran geknüpften Bedingungen die für eine mächtige neue Aufstiegsphase des industriellen Kapitalismus nötigen Voraussetzungen.14 Die Begleitmusik dieser neuen Aufstiegsphase war eine teilweise von der CIA finanzierte ideologische Kampagne gegen Kommunismus und Marxismus. In Anbetracht der Einparteiendiktatur, mit der die Sowjetunion und die Staaten in ihrem Einflussbereich auf den bald nach Kriegsende einsetzenden Zerfall der antifaschistischen Allianz und Einheitsfront reagierten, verloren die Gegenargumente der Marxisten jegliche Überzeugungskraft. Die Verdunkelung der aus dem Sieg über Hitlerdeutschland abgeleiteten sonnigen Per­ spektiven und der daraus folgende Verlust an Optimismus und Zuversicht wirkte sich negativ auf das politische Umfeld der Historians’ Group aus. Dazu kam noch, dass die zunehmende Isolierung und Anfeindung der britischen Kommunistischen Partei innerhalb dieser Partei eine ideologische Lagermentalität und einen defensiven Dogmatismus beförderte. Die bis etwa 1948 sehr offene marxistische Zeitschrift Modern Quarterly veröffentlichte danach eine Reihe partei-offizieller Artikel, die einen dogmatischen Marxismus als Parteidoktrin predigten. Maurice Cornforth präsentierte Andrei A. Schdanow, Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, als verbindliche Autorität für das Studium und die Aufgaben der Philosophie.15 Bald darauf schlüpfte er nach dem Vorbild Schdanows in die Rolle des für Kunst und Kultur zuständigen Parteiideologen. Im Winter 1950 – dem Modell Schdanows genau folgend – zog er im Modern Quarterly eine unselige Kritik und Diskussion über angeblich ungenügend marxistische Aspekte in Christopher Caudwells genialem Werk Illusion and Reality an den Haaren herbei.16 Anfang 1954 wurde das Modern Quarterly durch die restriktiver redigierte Zeitschrift Marxist Quarterly als theoretische Zeitschrift der Kommunistischen Partei ersetzt. 13 Zur Auswirkung der Krise auf die Historians’ Group, siehe Hobsbawm, Historians’ Group, S. 39–42. 14 John Saville: C.R. Attlee: an assessment, in: The Socialist Register 20 (1983), S. 144–167. 15 Maurice Cornforth: The recent Soviet discussion on philosophy, in: The Modern Quarterly 3 (Winter 1947/48), S. 22–29. 16 Maurice Cornforth: Caudwell and Marxism, in: The Modern Quarterly 6.1 (Winter 1950), S. 16–33.

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Diese Entwicklungen hinderten und beeinträchtigten die Arbeit der Historians’ Group und deren Wirksamkeit. Auf dem Umschlag eines 1946 in der Past and Present Series veröffent­ lichten Buches war zu lesen: „Forty titles are planned. Many are in active preparation uniform with this volume.“ Tatsächlich erschienen nur sieben Bände. Der 1948 veröffentlichte siebte Band, Sam Lilleys Men, Machines and History, war der letzte. Die Serie History in the Making brachte es 1950 noch zu einem Band über den Bauernaufstand von 1381, ging aber dann auch ein. Eine neue verbesserte Auflage von Leslie Mortons A People’s History of England, deren Vorbereitung sich die Historians’ Group als erste konkrete Aufgabe vorgenommen hatte, verkümmerte zu einem unansehnlichen Study Guide zu dem fast unveränderten Neudruck. Das waren alles Vorboten der Krise, symptomatisch für den fortschreitenden Verlust des Optimismus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das Trauma des Ungarnaufstands und der geheimen Rede Chruschtschows vor dem XX. Parteitag der KPdSU veranlasste die Mehrheit der engagiertesten und bekanntesten Mitglieder der Historians’ Group, diese zu verlassen. Die Mehrheit der in der Historians’ Group verbliebenen Mitglieder waren mit der ambivalenten Reaktion der kommunistischen Parteiführung auf diese Ereignisse ebenso unzufrieden wie jene, die ausgetreten waren. Das sollte unter anderem in der Wahl der Themen für die nächsten Nummern der Serie Our History zum Ausdruck kommen – „Labour-Communist Relations 1920–1939“ und „The Tradition of Civil Liberties in Britain“ (Nr. 5 und 6, 1957).17 Das hatte jedoch wenig Bedeutung, da die Historians’ Group nach 1956 nur mehr ein Schattendasein führte und die Kommunistische Partei politisch wieder in die Isolation geraten war. Die Kontroverse, die unter den marxistischen Historikern über Edward Thompsons The Making of the English Working Class entstand, fand also nicht in den Sitzungen der Historians’ Group, sondern innerhalb der Neuen Linken, hauptsächlich in ihrer theoretischen Zeitschrift New Left Review, statt. Schärfer als jede Kritik aus den Reihen „bürgerlicher“ Historiker war die Kritik des marxistischen Historikers und Herausgebers der New Left Review, Perry Anderson. Wirklich zu verstehen ist diese Kontroverse nur im Zusammenhang mit der Kontroverse um Althussers sogenannten strukturalistischen Marxismus, gegen den Thompson ja mit großem Engagement polemisierte. Es ging auch um das Verhältnis zwischen ökonomischer Basis und politischem und ideologischem Überbau. Ich bin nicht qualifiziert, über die aufgeworfenen Fragen ein Urteil zu fällen, glaube aber, dass sich die Kontrahenten ab und zu auf die Ebene reiner Abstraktionen begaben. Ich möchte dennoch zum Abschluss auf Perry Andersons Artikel in der New Left Review Nr. 161 ( Jan./Feb. 1987) zu sprechen kommen. Darin kehrte Anderson nämlich nach zwanzig Jahren noch einmal zu seiner Auseinandersetzung mit Thompson und dessen Verteidigern zurück. Im Zuge einer erstaunlich bündigen und dichten Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen der britischen Gesellschaft, die Anderson vom 17. bis zum 20. Jahr17 Die Zeitschrift Past and Present war nie, wie manchmal behauptet wird, die Hauszeitschrift der Historians’ Group. Die einzige Publikation, die als solche gelten kann, war eine Reihe von vervielfältigten (d.h. nicht gedruckten) Heften, die unter dem Titel Our History viermal im Jahr an die Mitglieder gratis verteilt wurden.

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hundert durchzieht, von allen möglichen Blickwinkeln aus betrachtet und in vieler Hinsicht anders als Thompson wertet, kommt er zu Schlussfolgerungen, die m.E. unsere Aufmerksamkeit verdienen. Thompson und Anderson waren hinsichtlich der Rolle der aristokratischen Grundbesitzer in der englischen bürgerlichen Revolution verschiedener Meinung. Für Anderson hatte der Kompromiss, den die bürgerlichen Klassen mit den aristokratischen Grundbesitzern in der „Glorreichen Revolution“ von 1688 eingingen, die Folge, dass die bürgerliche Revolution in England ihre „Aufgabe“ nicht ganz erfüllte und unvollendet geblieben ist. Auf dem Boden einer nicht durch und durch bürgerlichen Gesellschaft entstand dann in England eine mit grundlegenden Schwächen behaftete Arbeiterklasse, Schwächen, die Thompson nicht thematisiert.18 Ich glaube nun, dass Andersons Sicht der Entwicklung der Klassenverhältnisse in England den dramatischen Rückzug der britischen Arbeiterbewegung in der Ära Thatcher einigermaßen verständlich macht, während dieser Rückzug aus der Perspektive Thompsons widersprüchlich scheinen muss. Daher halte ich Andersons Artikel für eine wichtige Ergänzung zu Eric Hobsbawms 1978 veröffentlichtem Artikel The Forward March of Labour halted?, in dem er den Rückzug der britischen Arbeiterbewegung aufgrund der jüngsten Veränderungen in der klassenmäßigen Zusammensetzung der Bevölkerung sowie aufgrund seiner nüchternen Analyse der gewerkschaftlichen Kämpfe seit den 1960er-Jahren vorausgesehen hat.19 In Bezug auf die hier nur kurz angedeutete Kontroverse zwischen Thompson und Anderson gibt es unter marxistischen Historikern bis heute verschiedene Positionen. Besonders interessant scheint mir, dass Victor Kiernan, der vielseitigste der britischen marxistischen Historiker und einer der ersten Mitglieder der Historians’ Group, in Anbetracht gewisser Phänomene der Ära Thatcher zu einer Übereinstimmung mit den Hauptthesen Andersons gekommen ist. In einem Problems of Marxist History betitelten Rezensionsartikel schreibt er dazu: Je länger wir dem Zerfall der britischen Industrie und den unanständigen Orgien in [den Geldinstituten] der City [of London] zusehen, desto leichter wird es, mit Anderson übereinzustimmen […] England war das erste Land, in dem sich der Kapitalismus durchsetzte, zuerst der agrarische, dann der industrielle. Aber es ist auch (außer Holland) das erste, in dem der Kapitalismus vom industriellen zum spekulativen, wucherischen Finanzkapitalismus zurückgefallen ist. Das muss doch sicherlich mit der langen Vorherrschaft der Grundbesitzer etwas zu tun gehabt haben. Ein Grundbesitzer wird nie ein vollblütiger Kapitalist sein. Englands alte herrschende Klasse war zu sehr mit der Jagd nach Füchsen und Wilderern beschäftigt […] Sie war im Grunde eine parasitische Klasse, so wie unsere jetzigen City Haie, Gauner und Blutsauger, von denen viele ihre direkten Nachkommen sind.20 18 Perry Anderson: The figures of descent, in: New Left Review 161 ( Jan./Feb. 1987), S. 20–77, hier 25–26 u. 48–55. 19 Zuerst in Marxism Today (1978); neu abgedruckt in: Eric Hobsbawm: Politics for a rational left. Political writings 1977–1988, London 1988, S. 9–22. 20 Victor Kiernan: Problems of Marxist history, in: New Left Review 161 ( Jan./Feb. 1987), S. 105–118, hier 111 (im Orig. englisch).

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Sollten die Opfer dieser bedauerlichen Entwicklung einmal ihren Fatalismus überwinden und es sich wieder in den Kopf setzen, ihre Interessen, die Interessen der Mehrheit, geltend zu machen, würden sie aus den Werken der britischen marxistischen Historiker Ermutigung schöpfen und von dem darin enthaltenen Rüstzeug guten Gebrauch machen können.

Anhang: Sam Lilleys Erläuterungen und grafische Darstellungen zu seiner „relativen Erfindungsrate“ (relative invention rate), in: Men, Machines and History, London: Cobbet Press, 1948, S. 182– 194. Der steile Aufstieg am Ende aller drei seiner Kurven hätte als Ankündigung der bevorstehenden mächtigen Aufstiegsphase des industriellen Kapitalismus wahrgenommen werden können. Den Computer und das Internet hat damals niemand vorhergesehen.

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„(Hi)storytelling“ Die Geschichtswissenschaft zwischen Erzählen, Erklären und Analysieren

I. Storytelling und Historytelling Ein großer Teil muslimischer Populationen, heißt es, ist davon überzeugt, dass es sich bei 9/11 um ein amerikanisch-israelisch-jüdisches Komplott handle. Und ein erheblicher Prozentsatz der US-Bevölkerung (angeblich ca. ein Drittel, zufolge des poll von Scripps Howard und der Ohio University) nimmt an, dass die sogenannten Vorkommnisse in Manhattan, in Virginia und in Pennsylvania von der CIA (möglicherweise unter Beteiligung des Mossad) geplant und durchgeführt worden seien.1 Die Widersprüche spielen dabei offensichtlich keine Rolle: Wie können die „Glorreichen Neunzehn“ verehrt werden, wenn doch der „amerikanische Satan“ hinter allem steckt? Und wie kann irgendjemand glauben, dass eine derartig umfangreiche Konspiration  – CIA, Mossad, Attentäter hauptsächlich saudi-arabischer Herkunft etc.  – durchführbar wäre? Es ist alles eine Frage der Wahrnehmung, der Einbildung, der kollektiven Autosuggestion. Parallel zur sozusagen verbrieften und verbürgten Geschichte gibt es eine andere, untergründige, illegitime, nachweislich falsche Geschichtsauffassung, die im Gegensatz zu ersterer weithin geglaubt wird. Ihre Wirksamkeit ist ungleich höher zu veranschlagen als die der wissenschaftlich abgesicherten Geschichtsdarstellungen. Legendenbildung, Volksmeinung, nationale und kulturale Mythen – wie immer man auf derlei Phänomene Bezug nimmt: die Kraft dieser Entstellungen ist ebenso unterschätzt wie gefährlich. Und diese Kraft nimmt ständig zu. Konspirationshypothesen sind lediglich eine der eindrucksvollsten Spitzen dieser Eisberge von Lügen, bewussten Irreführungen und Selbsttäuschung.2 Die Techniken solcher Deformationen verdanken viel einer sozialen Praxis, die sich unter dem Begriff Storytelling seit einiger Zeit hoher Attraktivität erfreut. Storytelling wird mittlerweile definiert als die (oftmals euphemisierende) Darstellung von Ereignissen durch Wort, Bild und Ton mit dem Ziel, Werte zu perpetuieren und permanent zu den Narrativen spezifischer Gesellschaften und ihrer Gruppen beizutragen. Zu Recht ist dabei von Nachprüf1 Im Internet finden sich bekanntlich buchstäblich Zehntausende Elemente, die die wirrsten und krausesten Ideen vertreten. United Airlines Flug 93 soll beispielsweise „von der Regierung abgeschossen“ worden sein. Es ist nicht zielführend, auf derlei Absurditäten einzugehen; zahlreiche Experten bieten schlüssige Erklärungen für scheinbare Widersprüche und widerlegen damit diese abwegigen Geschichten. Paul Greengrass’ Film United 93 (Universal 2006) scheint die tatsächlichen Ereignisse sehr gut rekonstruiert zu haben. 2 Vgl. generell dazu: Dorothy Rowe: Why we lie, London 2010.

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barkeit, interkulturaler Gültigkeit oder „Wahrheit“ nicht die Rede; es geht vielmehr um die innere Überzeugungskraft und auch den Unterhaltungswert von Geschichten, stories, deren Realitätsbeiwert brüchig bleibt. Die zugrunde liegenden Erzählmuster haben sich im Laufe Tausender Jahre herausgebildet; man könnte sagen, vorbewusst-kollektiv sind Techniken entwickelt und verfeinert worden, um Belehrung, Unterhaltung und soziale Bindekraft auf möglichst effiziente Weise zu kombinieren. Aber es steht zu vermuten, dass inzwischen eine neue Qualität und eine gewisse Verselbstständigung der stories erreicht worden ist: Neue Methoden der Manipulation rufen eine Eigendynamik hervor, die schließlich das glauben macht (im Sinne von Michel de Certeau), was geglaubt werden soll (und was Individuen zu glauben angenehm finden). Es ist kein Zufall, dass der Begriff Storytelling via Werbung, P.R. und Unternehmenskultur (oder -unkultur) in den Vordergrund getreten ist. Christian Salmon hat sinngemäß von einer Maschine gesprochen, die die modern mind verhexe.3 So verstanden, dient Storytelling der Herstellung einer Art Pseudorealität, die die bloße Möglichkeit, Realität zu erfassen, zu verarbeiten und eventuell sogar zu beeinflussen, auslöscht. Storytelling marketing hat nicht nur die Funktion, potenzielle Kunden von der Attraktivität eines Produkts zu überzeugen, sondern verwickelt darüber hinaus die Konsumenten in eine story und liefert plot und thrill, Helden und Heldinnen und die einzunehmende Perspektive gleich mit. Diese stories gehen über Produkte (product placement!) weit hinaus, betten diese zwar ein in einen größeren Zusammenhang, stellen Letztere aber nicht der Tatsächlichkeit gemäß dar, sondern entsprechend den eigenen Zielsetzungen der storyteller. „Fiktion“ tritt an die Stelle von „Realität“. Man hätte recht zu sagen, dass all das kein wirklich neuer Hut ist, und könnte sich fragen, was das mit der Geschichte zu tun habe. Bedauerlicherweise muss die Antwort lauten: sehr viel. Denn Storytelling baut eben die gesamte Wirklichkeit um – und diese hat nicht zuletzt ihre historische Dimension. Die „Vorgeschichte“ dessen, was sich (angeblich) gerade abspielt – etwa auf dem Markt begehrenswerter Produkte –, wird im Hinblick auf momentane kommerzielle Interessen erzählt. Die Eigendynamik, die aus solch willkürlichem Erzählen entsteht, geht allerdings seit geraumer Zeit weit über Kommerz und Konsum hinaus und betrifft inzwischen die Gesamtheit der sozialen und politischen Sphäre. Zum Teil non-intentional, aber in erheblichem Ausmaß auch ganz planmäßig, erfolgt die Umschreibung des Realen auch im Hinblick auf Historisches. Und auch das ist eigentlich nichts wirklich Neues: Die Ideologiekritik hat uns früh gelehrt, dass etwa parteiliche Geschichtsschreibung eine Funktion politischer Zielsetzung ist – ein bestimmtes Geschichtsbild soll als verbindlich installiert werden. Die gesellschaftlich legitimierte Kompetenz, Geschichten – und auch Geschichte – zu erzählen, ist allerdings auch zunehmend von den Spezialisten oder Experten (und auch von den Politikern und Ideologen) auf jedermann und jedefrau übergegangen. Die „Digitalisierung“ der Welt – in der alle Welt, buchstäblich Millionen Menschen, sich zu allem und jedem äußert, vielfach nur groteske Pseudodemokratisierung – steht zwar nicht mehr an ihrem Anfang, hat 3 Vgl. Christian Salmon: Storytelling, la machine à fabriquer des histoires et à formater les ésprits, Paris 2007.

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aber noch eine große Zukunft vor sich. Diese Scheindemokratisierung hat dazu geführt, dass die Geschichte von allen nach Belieben erzählt wird. Geschichte wird darstellbar in blogs von Krethi und Plethi. Das Interesse gilt dabei natürlich nicht primär der Geschichte. Sie ist eine Projektionsfläche, nichts als ein Hintergrund, auf den sich die stories, indem sie eine temporale Dimension haben, unvermeidlich beziehen. Die stories „erzählen sich“ gleichsam von selbst: eine Loslösung von der Tatsächlichkeit ergibt sich aus den Erzähltechniken. Eine fatale Logik untergräbt effektives Wissen und Begreifen von komplexen Strukturen und Prozessen (das alles gilt als unzumutbar, weil angeblich zu „schwierig“), während die Prozeduren des telling aus dem Muster konditionierter Reflexe hervorgehen. Auf solchen Wegen entstehen die absurdesten Vorstellungen. Ein noch nicht genau ermittelter Prozentsatz der US-amerikanischen Bevölkerung soll angeblich der Meinung sein, die Deutschen hätten als Verbündete der USA die Sowjetunion niedergekämpft. (Ein Zusammenhang mit unterstelltem Prestige und empfundener Attraktivität von Produkten ist hier nicht auszuschließen: Automobile deutscher Provenienz sind in den USA Anzeichen von Geschmack ebenso wie von Zugehörigkeit zu begüterteren Klassen, sie fungieren als Bourdieu’sches distinction-Signal, um sich von der Plebs, die koreanische Wagen fahren, zu unterscheiden – und vor allem von den Konsumenten der red oder heartland states, die Fords, Chevys oder Dodges benützen. Ironisch gesagt: ein edles Produkt, ein Benz oder Beamer (BMW), ein Audi oder Porker (Porsche), bedingt ein insgesamt edles Land – dergestalt könnte sehr wohl die vage Annahme zustande kommen, die Hersteller solch „begehrenswerter Konsumgüter“ seien auch ein gallant ally gewesen.) Früher konnte man annehmen, Fabeln dienten dazu, Umstände und Ereignisse zu verdeutlichen und durch bestimmte Präsentationsformen leichter begreiflich zu machen. Aber die heutigen Einbildungen sind in zunehmendem Maß geprägt von immer weiter gehender Entstellung. Zweifellos hat dabei die Verbildlichung der Welt eine entscheidende Rolle gespielt. Diese Verbildlichung hat sicher bereits am Ursprung der Zivilisationen begonnen, doch ein qualitativer Umschlag ergibt sich erst mit Fotografie und Kinematografie. (Ebenso wie der Buchdruck und später die „elektronische Revolution“ sind diese Abbildungsmedien eine entscheidende Schwelle.) Die Malerei früherer Jahrhunderte hatte bei allem realistischen Anspruch doch immer eine spürbare Distanz zu ihrem Gegenstand: die malerische Technik markierte eine gewisse Unvollkommenheit gemessen am Vorbild und vermochte es nie gänzlich, die Illusion einer puren Realitätsabbildung zu generieren. Heute können Realitätseindrücke artifiziell hervorgerufen werden und wirken völlig überzeugend. Es können tatsächlich Bildsequenzen ohne reales Vorbild hergestellt werden, Bilder die keine Authentizität haben, ohne Referenz sind, aber diesen Anschein erwecken. Paradoxerweise hat das zur Konsequenz, dass mehr geglaubt wird – an mehr Dinge und Umstände, die tatsächlich oder auch nur scheinbar vorhanden sind, wie auch auf profundere Weise – denn je. Was ich sehe, ist, und was ich nicht (ein)sehen möchte, ist nicht vorhanden. Im Gegenzug, kompensatorisch quasi, ist krankhafte Skepsis zustande gekommen, die sich in der Neigung zu Konspirationsthesen am

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deutlichsten ausdrückt.4 Der Trend, allenthalben finstere Komplotte zu vermuten, fußt im Allgemeinen auf einem Misstrauen gegen die „Eliten“ und Experten, im Besonderen aber auch gegen die Historiker und Historikerinnen. Diese können noch so viele Studien zu Faschismus und Nationalsozialismus vorlegen, sie werden stets konterkariert durch den einen oder anderen neonazistischen Revisionismus;5 und es genügt, dass ein Report vorgelegt wird – etwa der 9/11 report6 –, und er wird sofort zu einem Beweis für ein cover-up umgedeutet. Die Aushöhlung des Tatsächlichen erfolgt durch manipulative Bilder ebenso wie durch schlaue verbale Operationen (die terroristischen Anschläge von September 2001 beispielsweise werden zu „Vorkommnissen“, damit auch nur ja „politisch korrekt“ gesprochen werde, und schließlich hinweggeredet oder umgedeutet zu einer jüdisch-israelischen Verschwörung). Es ist eine insgesamt besorgniserregende Situation. Was soll man also tun?

II. Strategien und Rezepte Nun ist ja versucht worden, etwas zu tun, und was getan worden ist, lässt sich sehen. Es ist allerdings bedauerlich, dass – im Sinne von visibility – eigentlich nur mehr wahrgenommen wird, was auf Englisch publiziert wird, wozu mit Einschränkungen bei den Human- und So4 Da es schwer zu leugnen ist, dass zwei Boeing 767 in die Twin Towers geflogen worden sind, macht man daraus einfach, altehrwürdigem Brauche entsprechend, eine jüdische Verschwörung. Das Internet ist voll davon; es lohnt sich nicht, auch nur einige Musterzitate zu bringen. Als ich wenige Tage nach den Anschlägen aus Nordamerika kommend in Schwechat eintraf und ein Taxi nach Wien-Zentrum nahm, erklärte mir der Fahrer unaufgefordert, dass ja alles klar sei: viertausend Juden hätten die beiden Gebäude unmittelbar vorher verlassen (in den USA ist der Akzent anders gesetzt: sie seien gar nicht erst zur Arbeit erschienen). Es verdient auch Beachtung, dass einer der größten Buch-Erfolge Frankreichs die Publikationen eines gewissen Thierry Meyssan: L’Effroyable imposture, Paris 2002, und Le Pentagate, Paris 2002, gewesen sind, der behauptete, es sei niemals ein Flugzeug ins Pentagon geflogen worden – eine nicht nur in den USA sehr populäre Auffassung (die beiden Bücher Meyssans sind in 28 Sprachen übersetzt worden). Das Ganze erinnert an die Behauptung, die Mondlandung 1969 sei im Studio nachgestellt worden (dazu gibt es den Film Capricorn One, der Jean Baudrillard begeistert hat), mindestens ebenso sehr wie an die Geschichten über das Kennedy-Attentat in Dallas 1963. Weitere Anhaltspunkte beispielsweise unter 911truth.org. Aber in den zahllosen negationistischen Blogs kann man sich verlieren; einer spricht bezeichnenderweise von “the American Reichstag Fire”. Es ist von Interesse festzuhalten, dass sich diese Negationisten an die Peak Oil- und vor allem an die Climate Change-Debatte anhängen. Sie vertreten die These, die USA hätten via 9/11 den Vierten Weltkrieg angezettelt, um sich die Kontrolle über die verbleibenden Rohöl-, Nahrungsmittel- und Wasser-Vorräte zu verschaffen, die durch global warming an ihr Ende gelangt seien. 5 Es ist in diesem Kontext lehrreich, sich die Phase der Irving-Kontroversen in Erinnerung zu rufen, als Irving den Spieß gleichsam umdrehte und sich als von Lipstadt verleumdet darstellte. Vgl. Deborah Lipstadt: Denying the Holocaust. The growing assault on truth and memory, New York 1993; Richard J. Evans: Telling lies about Hitler. The Holocaust, history and the David Irving trial, London 2002; D.D. Guttenplan: The Holocaust on trial, New York / London 2002. 6 The 9/11 Commission Report. Final Report of the National Commission on Terrorist Attacks Upon the United States, New York / London: Norton, o.J. [2004].

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zialwissenschaften noch Französisch hinzukommt. (Wir reden natürlich nicht, ungeachtet ihrer jeweiligen intrinsischen Qualitäten, von den solitären „Alibi-Stars“, zu denken etwa an Eco oder Habermas, die den Anschein erwecken, jeder Sprachraum habe eine gewisse Position inne.) Unbestreitbar hat die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten ganz erhebliche Fortschritte erzielt: doch, umgekehrt proportional dazu, ist ihr Einfluss in den öffentlichen Sphären zurückgegangen. Diese wird dominiert von TV-Zelebritäten, bloggers, P.R.-Spezialisten aller Couleurs; die Experten hingegen sind so sehr in Misskredit geraten, dass sie eigentlich kaum mehr aufscheinen. Historytelling wird nicht von Historikerinnen und Historikern erbracht, sondern von selbsternannten Größen mit dem entsprechenden Auftreten, jedoch ohne wirkliche Qualifikation. Das kann ohne Larmoyanz, einfach als Diagnose, gesagt werden. Die Gründe für diese Entwicklung sind schwer zu ermitteln, hängen jedoch keineswegs nur mit der Geschichte zusammen. Es ist indessen auffällig, dass diese Entfremdung annähernd parallel verläuft mit der Verabschiedung der Geschichtswissenschaft von a priori-Identifikationen mit nationalen Interpretationen, die ihr gestatteten, parallel zu marschieren mit den Interessen von Nation, Militär, etablierten Autoritäten aller Art. In dem Maß, wie die Wissenschaft mehr kritische Kompetenz zugewonnen hat, sind ihre Zugriffsmöglichkeiten auf das Historytelling minimiert worden. So besehen wurde die Modernisierung (die zweifellos auch eine gewisse Komplizierung mit sich brachte) um einen hohen Preis erkauft. Aber sie war unumgänglich, um moralische Legitimation aufrechtzuerhalten, zum Teil wiederzugewinnen.7 Im deutschen Sprachraum hat sich die Phase des Nationalsozialismus als traumatisch für nachfolgende Generationen gerade von Historikerinnen und Historikern erwiesen. Die Versuche, Abstand zu gewinnen von moralischer Zerrüttung, kombinierten sich mit der Entdeckung und Entwicklung neuer Methoden. Ich habe im ersten Abschnitt auf ein Bündel von „Novitäten“ angespielt, unter denen etwa Quantifizierung, Oral History, Faschismus- und Widerstandsforschung auch recht gut das Werk von Gerhard Botz umreißen. Sein Hochschullehrgang über neue Methoden in der Geschichtswissenschaft trachtete ab den 1980er-Jahren nach einer Modernisierung unseres Umgangs mit Geschichte. Es war dabei auffällig, dass sich neue Methoden und neue Themen ergänzten und überschnitten. Und es ging auch darum, Material auf neue Weisen zu behandeln: visuelle Quellen beispielsweise wurden schon früher verwendet, wenn auch die Erkenntnisinteressen der Kunstgeschichte – wo die Quelle quasi der Gegenstand selbst ist und nicht ein Informationsträger, der unabhängig von ästhetischen Aspekten fungibel gemacht werden kann – anders gelagert sind als die der Geschichte. 7 Dass eine „Remoralisierung“ der Geschichtsschreibung nicht im Widerspruch stehen muss zum Streben nach Objektivität, zeigt eine Reihe von rezenten Publikationen, ich nenne exemplarisch nur: Michael Burleigh: Blood and rage. A cultural history of terrorism, London 2009; Andrew Roberts: The storm of war. A new history of the Second World War, London 2009.

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Storytelling – und damit Historytelling – hat sich jedenfalls verlagert in Bereiche, auf die die Geschichtswissenschaft kaum Zugriff hat. Eine etwas bittere Ironie liegt darin, dass sie ihre Tendenz, einfach „zu erzählen, was gewesen ist”, genau zu der Zeit durch modernere Methoden substituiert hat, als sich Narrative allenthalben stärker zu implantieren vermochten als zuvor und als die Forderung nach Simplizität immer massiver wurde. Der soeben erwähnte Hochschullehrgang, eine Art begleitendes Sonderprogramm zu den normalen Studiengängen, sollte andererseits nicht nur über orthodoxere Fragestellungen und Arbeitsweisen hinausgelangen, sondern war wohl auch als eine Strategie gedacht, die „Zunft“ von innen heraus zu modernisieren. Ein weiterer Ausgriff – beispielsweise auf populäre Medien hin, insonderheit den Film – erwies sich bereits als kaum mehr praktikabel: Filme gehören ins Kino oder äußerstenfalls in eine abermals abgetrennte Filmgeschichte, die Sub-Spezialisten oder „Liebhabern“ überlassen werden kann. Es wäre irreführend, totale Zäsuren zu unterstellen, obzwar offenkundig ist, dass etwa das klassische Archiv, wie es für die diplomatische Geschichte früherer Epochen noch immer relevant ist, für die Zeitgeschichte, gelinde gesagt, viel weniger hergibt. Man könnte sogar, nur leicht ironisch, die Formel einführen: „Leave the archives, young (wo)man; look elsewhere, aspiring scholar!“ Faschismus- und Antisemitismusforschung etwa haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Oral History mehr in den Vordergrund getreten ist. Das ist Historytelling, allerdings nicht von der hohen Warte des Professionalismus aus. Dieser ist unverzichtbar, um kritische Bestandsaufnahmen des Erzählten zu gewährleisten, hat allerdings, scheint es, die Tendenz, sich zunehmend zurückzuziehen und im Hintergrund zu halten. Gerade wenn es sich um Material handelt, das extreme Betroffenheit hervorruft, ist es eine besondere Herausforderung, der Authentizität zum Ausdruck zu verhelfen, ohne die kritische Kompetenz (als Korrektiv perspektivischer Verzerrungen) aus den Augen zu verlieren. Da Historytelling in der Regel die Grenzen zwischen purer Wissenschaftlichkeit und populärer Darstellung verwischt, ist hier besondere Achtsamkeit nötig.8 Die Balance zwischen Erzählen und Erklären war nie leicht zu finden. Im multimedialen Zeitalter (wo sich alle Welt am Zustandekommen von messages beteiligt) ist sie besonders 8 Christopher R. Browning: Remembering survival. Inside a Nazi slave-labor camp, New York / London 2010, ist ein anschauliches – und erschütterndes – Beispiel für die Meisterung des dialektischen Zusammenhangs einer Art microstoria mit dem Gesamtzusammenhang der Geschichte. Die Rekuperation von Geschichten vermittels eines „humanistischen“ und „moralischen“ retelling, das von einem Historiker geleistet resp. vermittelt wird, trägt sich ein in die Makroperspektive. Brownings neues Buch ist quasi der Gegenpol zu dem eben erwähnten von Roberts. Die präzise Detailstudie verlangt immer nach den panoramatischen Darstellungen und vice versa; in der Tat ist das eine im anderen stets implizite vorhanden. Es ist überdies bemerkenswert, dass in den beiden hier genannten Fällen die moralische Betroffenheit nicht verleugnet wird, ohne dem Objektivitätsanspruch der Geschichtswissenschaft Abbruch zu tun. Raum für Debatten bleibt gleichwohl, wie die Snyder-Evans-Kontroverse erweist. Vgl. Richard J. Evans: The Third Reich at war 1939–1945, London 2008, und Timothy Snyder: Nazis, Soviets, Poles, Jews, in: The New York Review of Books LVI/16 (3. 12. 2009), S. 51–53; Richard J. Evans: An exchange, ebda. LVII/2 (11. 2. 2010), S. 44.

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heikel: Dominiert das Erzählen, wird der bloße Unterhaltungswert überschätzt, liegt der Akzent auf Erklären, wird die Sache leicht zu trocken. (Analysieren ginge freilich noch weiter: man gerät da leicht in die Nähe des „Theoretisierens“, das im geschichtswissenschaftlichen Umfeld eine Art Gegenpol zum Narrativen darstellt. Aus der Perspektive der Geschichtstheorie wird hier natürlich auch das uralte Schein-Dilemma Notwendigkeit versus Zufall sichtbar: aber ebenso wie es Gesetzmäßigkeiten gibt, haben wir es immer auch mit letztlich unklärbaren Verursachungen zu tun – das eine schließt das andere nicht aus.) Beim Storytelling sollte das erste Fragenbündel lauten: Wer erzählt wem was, mit welchen Motiven, unter Anwendung welcher Techniken und unter Benützung welcher Kommunikationskanäle? Die Deepwater Horizon-Katastrophe im Golf von Mexiko im Frühjahr 2010 verdeutlicht einige dieser Fragen und ermöglicht die Einsicht, dass die Geschichtswissenschaft früher innegehabte Positionen weitgehend eingebüßt hat. (So etwas wie „Gegenwartsgeschichte“ oder histoire immédiate existiert zwar schon, ist aber noch zu wenig anerkannt und einflussreich.) Die medialen Darstellungen in diesem Fall sind klassische Katastrophen-stories, die nichts erklären und in Zusammenhänge stellen, sondern Schuldzuweisungen vornehmen und Strafmaßnahmen fordern (sogar der angeblich so ruhige und besonnene Präsident Obama will wissen, „whose ass to kick“). Gesellschaftlich relevante Erzählpositionen werden von news networks, bloggers und gigantischen Firmen eingenommen, und es ist nicht häufig, dass ein so mächtiges Unternehmen wie BP den Kürzeren zieht. Statt Analysen gibt es einen fruchtlosen Regelkreislauf zwischen den Medien und dem Storytelling der „breiten Massen“. Viele Medien reden diesen nach dem Maul (der Slogan you decide von Fox News unterstellt Teilhabe an relevanten Entscheidungen), manipulieren aber gleichzeitig diese populären Erzählungs-Bits nach Belieben. Es sind also stories ohne history-background. Und wo doch die Geschichte bemüht wird, wird in der Regel den Spezialisten bzw. Experten nicht ausreichend Raum zur Darstellung gewährt. Man darf aber nicht naiv sein: Geschichte hat nie wirklich interessiert im Vergleich zu Fußball oder rock stars oder was ihre jeweiligen Vorläufer gewesen sein mögen. Im immensen Feld des Storytelling hat die Geschichte kaum jemals mehr als eine ganz kleine geschützte Zone innegehabt; die Aufmerksamkeit des globalen Publikums und der globalen Konsumenten liegt anderswo. Die Geschichte hat den immensen Wettbewerbsnachteil, dass sie seriös ist – nicht einfach Ablenkung und Unterhaltung. Deshalb sollten wir dankbar sein für Filme, die wichtige Geschichten auf verantwortungsvolle Art erzählen, also einem breiteren Publikum nahebringen (tatsächlich handelt es sich um kein wirkliches Massenpublikum, aber immerhin um eine Minorität erklecklichen Ausmaßes). Egal ob es sich um Rugby oder Fußball handelt: Eastwoods Invictus mit Morgan Freeman ist, sind wir realistisch, von ungleich größerer Bedeutung für ein gewisses Verständnis der Geschichte Südafrikas als dutzende wissenschaftliche Abhandlungen. Sinngemäß dasselbe lässt sich von Filmen wie Saving Private Ryan9 oder eben United 93 9

„The opening scene of the movie Saving Private Ryan is the best cinematographic representation of those first

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sagen. Nun sind aber bedauerlicherweise nicht alle Produkte dessen, was man euphemistisch populäre Sphäre (im Gegensatz zur szientifischen) nennen könnte, verantwortungsbewusst gemacht oder entsprechen seriösen Kriterien irgendwelcher Art.10 Gefragt ist in zunehmendem Maß Popularität oder vielmehr Populismus, ja Simplizität, und nicht zuletzt Storytelling scheint diesem Programm zu entsprechen. Aber was wird eigentlich erzählt, in „inhaltlicher“ Hinsicht? Merkwürdigerweise muss die Antwort darauf lauten: Es spielt keine große Rolle, Hauptsache, es wird alles in Form einer story aufbereitet. Nicht zu Unrecht spricht Salmon von einer „mise en scène de la politique“11, was auch eine Inszenierung der Geschichte impliziert. Geschichten über Geschichte, müsste man sagen. Was aber wenn die Geschichten (vielleicht sollte man Hermann Brochs Wort von den „G’schichtln“ wieder aufgreifen) schlicht und einfach wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen? Im „The History-Deniers“ genannten Abschlusskapitel zu seinem neuen Buch schreibt Richard Dawkins: „The real killer is the lamentably strong support for [creationism]. Forty-four percent of Americans deny evolution totally […], and the implication is that they believe the entire world is no more than 10,000 years old.“12 Es geht folglich nicht nur um Story- und Historytelling, sondern auch um Historyteaching, an dem sich bedauerlicherweise auch alle möglichen Interessengruppen beteiligen, von Kirchen und Sekten bis hin zu NGOs und partikulär-politisch motivierten Gruppen aller Couleurs. Wenn gesellschaftlich relevante, ja dominante Instanzen die falschen Geschichten erzählen, und auf falsche Weise, haben alle Wissenschaften, nicht nur die historische, ein Problem. Die Abkehr von einem (natur-)wissenschaftlichen Weltbild, die zunehmende „Wiederverzauberung“ der Welt, ist, steht zu befürchten, das sichtbarste äußere Anzeichen des endgültigen Aufgebens des Rationalismusprojekts.13 Blinde göttliche oder Natur-

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monstrous minutes of the American landings on Omaha beach, but even that cannot begin to show the extent of the chaos and carnage on the beaches.“ Roberts, Storm of war, S. 474. Dieser Satz erinnert überdies daran, dass Vorstellungskraft – vor allem visuelle – immer nötig ist. Ich kann mich allerdings nicht zu Salmons Auffassung verstehen, dass Filme wie Black Hawk Down (2001) oder The Sum of All Fears (2002) eine „Kooperation“ mit dem Pentagon darstellten. (Vgl. Salmon, Storytelling, S. 164.) Problematisch in der Tat ist allerdings gewiss die TV-Serie 24 – nicht erstaunlich, da steckt Fox dahinter. Es ist auch irreführend und ungerecht, alle Filme, in denen Krieg vorkommt, als Kriegsfilme zu bezeichnen und ihnen Affirmation von Kriegen zu unterstellen. Edward Zwicks Courage Under Fire (1996) zeigt Probleme auf; sein vorzüglicher Film The Siege (1998) ist extrem kritisch gegenüber der U.S. Army und mehr noch der CIA gegenüber; vollends Zwicks Defiance (2009) mit Daniel Craig und Liev Schreiber ist ein wertvoller und schätzenswerter Beitrag zur Darstellung des Widerstandes gegen die Nazi-Maschinerie. Salmon, Storytelling, S. 140. „Les succès d‘une candidature ne dépend plus de la cohérence d’un programme économique et de la pertinence des solutions proposées, ni même d’une vision lucide des enjeux géostratégiques ou écologiques, mais de la capacité à mobiliser en sa faveur des grand courants d’audience et d’adhésion.“ (ebda., S. 137). Richard Dawkins: The greatest show on earth. The evidence for evolution, London 2010, S. 429–430. (Der Titel des Buches könnte ebenso gut „The greatest story on earth“ lauten.) In einem rezenten Buch (The narrative of the Occident. An essay on its present state, Frankfurt a.M. et al. 2009)

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Gewalt, unbegreiflich im Sinne von unerklärbar, lassen sich erzählen, jedoch nicht mehr wirklich analysieren, hinfort begreifen, bearbeiten und überwinden. Wir geraten in ein Zeitalter einfach hinzunehmender Katastrophen. Diese story hat sich am deutlichsten in den global warming-Narrativen kristallisiert. Aber weil man zu climate change das Wort science hinzusetzt, wird noch keine Wissenschaft daraus: Deklaration oder Dekretierung allein genügen nicht.

II. Katastrophengeschichten Die Klimakatastrophe mag den meisten als wahrscheinlichstes Zukunftsszenario erscheinen – nicht zuletzt weil es als solches dargestellt, erzählt worden ist –, aber die Wirtschaftsund Finanzkrise der Gegenwart (und wohl mindestens der nahen Zukunft) ist gewiss ebenso alarmierend, wenn sie sich vielleicht auch „schlechter erzählt“. Aber sogar bei ihr lassen sich narrative Muster ausmachen, die in Bezug auf jede Summe von Inhalten eine entscheidende Rolle spielen. Die Präsentation ist immer Teil der message. Die Art, wie erzählt wird, beeinflusst das Verständnis des Erzählten wesentlich, und der Trend zurück zum Storytelling, auch im Bereich der Geschichte, ist auf mehr oder minder bewusste Einsicht in diesen Sachverhalt zurückzuführen. Diese narrativen Muster haben zweifellos antike Ursprünge und sie verändern sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam. Die Narration des Desasters zeigt es in besonderer Deutlichkeit. Der Exposition folgt etwa die Darstellung der Vorzeichen, einige Helden und Heldinnen haben ungute Vorahnungen, geheimnisvolle Dysfunktionen stören gewohnte Abläufe, und bald heißt es schon: „Unglück, nimm deinen Lauf!“ Krisis, Kollaps, verspätete und effektiv zu späte Einsicht, aber die Unabwendbarkeit erzwingt das Durchleben des Desasters; dann eine Art moralischer Schluss-Chor, man schwört sich, in Zukunft alles besser zu machen. Man wird nicht mehr full speed ahead – so glaubt man zumindest – in eine Eisbergzone laufen. „A developing depression would not now be met with a fixed determination to make it worse.“14 Galbraiths klassische Studie über 1929 hat natürlich trotz seines hart am Rande des Zy­ nismus manövrierenden Tons 2007/2008 nicht verhindert, dass es ein remake gibt. Leichtsinn oder Dummheit: absichtlich hat man weder 1929 noch 2008 die sich abzeichnende Depression verschlimmert, und negativistische labels sind auch nicht hilfreich.15 In gewisser Hinsicht wiederholt sich Geschichte eben tatsächlich – vielleicht als Farce, aber selbst höhnisches Gelächter scheint fehl am Platz. Während des US-Wahlkampfs von 2008 sprach John McCain davon, dass die Fundamente der US-Wirtschaft in Ordnung seien (und er hatte damit zumindest habe ich unter anderem zu erklären versucht, weswegen mir Charles Taylors Auffassung, wir lebten in einem säkularen Zeitalter, nicht überzeugend erscheint. Vgl.  Charles Taylor:  A secular age, Cambridge, Mass. / London 2007. 14 John Kenneth Galbraith: The Great Crash 1929, London 1992 [1954], S. 208. 15 Paul R. Krugman: The return of depression economics and the crisis of 2008, London 2008.

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teilweise recht). Herbert Hoover hatte 1929 erklärt, „that ‘fundamentals are sound’ “.16 Aber jede Einschätzung und Beurteilung ist „historisch relativ“; das Problem ist allerdings in der Tat, dass Lehren nicht gezogen werden. Dazu scheint die jeweilige spätere Situation immer ein wenig zu unterschiedlich von den früheren Modellsituationen: Diesmal ist es anders, wie ein vorzügliches Buch so korrekt und ironisch sagt.17 Vorzeichen gehören zum klassischen Instrumentarium des Storytelling. Denken wir wieder an irgendeinen x-beliebigen Katastrophenfilm, egal ob es sich um die Titanic oder um ein Flugzeugdesaster handelt. Rhetorik des Textes und Entschlüsselungsgewohnheiten legen die Anwendung solcher Techniken generell nahe, auch im Bereich der Nationalökonomie. Ein einziges kurzes Beispiel unter zahllosen: Niemand würde heute in Abrede stellen – heißt es in einem Wirtschaftsblatt –, dass „something was rotten in the Eurozone from quite early on“.18 Das ist richtig, sowohl was die Diagnose selbst betrifft, als auch dass sie schon früh geäußert (und weithin überhört) wurde. Es geht aber nicht so sehr um A-posteriori-Besserwissen oder Vorwissen, sondern um Vorahnungen und Vorzeichen, um böse Omen. Das Problem ist, dass wir sie selten erkennen oder richtig interpretieren oder rechtzeitig proaktiv agieren. Dass die Pitot tubes der A330 und A340 Probleme aufwerfen können, war anscheinend seit 2002 bekannt, dennoch kam es nach mehreren nachgewiesenen Zwischenfällen im Juni 2009 zum Crash von Air France-Flug 447 von Rio nach Paris. Hoch brennbares Material als Isolation für empfindliche elektrische Komponenten zu verwenden (das MD-11 Desaster von Peggy’s Cove, Swissair-Flug 111 von New York JFK nach Genf im Jahre 1998) war vorhersehbarerweise riskant. Storytelling bezieht sein Interesse – und wohl auch seine Relevanz – daraus, dass die erzählte story post factum das nachliefert, was durch rationales Verhalten hätte verhindert werden können. In gewisser Weise nimmt die story die Stelle der history ein.19 Der Finanz-Crash von 2008 ist tatsächlich von einigen vorhergesehen worden (Nouriel Roubini ist der prominenteste von ihnen), aber hinsichtlich des Storytelling sind die „Omen“ das entscheidende Moment. Seltsamerweise fällt es sogar dann schwer, ihr Auftreten sinnvoll zu interpretieren, wenn sie in Serie auftreten und die Krise noch andauert. Es deutet zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen (Frühling 2010) alles darauf hin, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise zu einem double-dip wird (oder schon ist), dennoch sind wir im Begriff, aus 16 Galbraith, Crash, S. 128. 17 Carmen S. Reinhart, Kenneth S. Rogoff: This time is different. Eight centuries of financial folly, Princeton 2009. Diese Autoren fordern „early warning systems“ (S. 279), stellen dann aber fest,  dass „the greatest barriers to success [solcher Frühwarnsysteme] is the well-entrenched tendency of policy makers and market participants to treat the signals as irrelevant archaic residuals of an outdated framework“ (S. 281). 18 Tony Barber: A tent to attend to, in: Financial Times (17. 6. 2010), S. 9. 19 Storytelling kann damit Historisches explizieren, und böse Omen können als das dargestellt werden, was sie im realen Leben tatsächlich sind: Hinweise auf Gefahrenquellen. Ein wenig bekannter TV-Film von 1995, Falling From the Sky: Flight 174 mit William Devane, tut genau das: Er erzählt, wie es dazu kommen konnte, dass einer 767 der Air Canada im Jahre 1982 auf einem Flug von Montreal nach Edmonton der Treibstoff ausgehen konnte: nämlich durch die unsinnige Prozedur, sowohl metrisch als auch in imperial gallons zu messen.

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der Kredit- und Bankenkrise von 2007 auch noch eine Staatsfinanzkrise zu machen. (Aber man könnte natürlich argumentieren, dass jede Bankenkrise früher oder später zu einer sove­ reign wealth-Krise werden muss.) George Soros schrieb einige Zeit vor dem Schlimmsten im Jahre 2008: „that we shall slip into recession in the course of 2008 I consider a certainty“,20 aber es erfolgten eben keine Kurskorrekturen. (Ebenso wenig werden sie zurzeit vorgenommen – jedenfalls, wie es scheint, nicht die richtigen, und auf so unterschiedliche Weise, dass das unkoordinierte, ja widersprüchliche Vorgehen den Schaden noch vergrößern wird.) Nun könnte man sagen, solche Prognosen und Warnungen kämen zu spät. Und natürlich ist man nachher immer gescheiter. Es war andererseits nicht so schwer zu begreifen, dass der Wert von Häusern nicht permanent und quasi ins Unendliche steigen würde, während es andererseits keineswegs illegitim war, von Regierungsseite her Hausbesitz zu fördern – wenn auch, wie Ro­ bert Shiller trocken bemerkte, „homeownership […] is not the ideal housing arrangement for all people in all circumstances“.21 Geschichte – und natürlich Wirtschaftsgeschichte, der sintemalen hierzulande viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird – kann nicht anders als aus der Perspektive des nachträglichen Besserwissens geschrieben werden. Storytelling andererseits wendet Techniken an, die aus der Anordnung von Vorzeichen Spannung auf eine Weise generieren, dass man nach dem weiteren Ablauf der story lechzt. In dieser Hinsicht wären Storytelling und Historytelling widersprüchlich: ihre Vektoren gehen in die jeweils entgegengesetzte Richtung. Indem die Rohöl-Katastrophe im Golf von Mexiko nicht nur zu einer weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage beitragen wird, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch den entscheidenden Schritt hinweg von fossiler zu nuklearer Energie auslösen wird, kann sie ihrerseits als Beispiel für Katastrophen-Erzählungen herangezogen werden – zumal ja ein Bombardement mit emotionalisierenden Bildern dafür sorgt, dass einem wirklich Angst wird. Auch im Fall von Deepwater Horizon zeichnet sich die Katastrophe – im Rückblick – klar ab: „A full account of what went wrong […] will have to deal not just with problems in the well’s design and execution but also with why symptoms of an incipient blowout were not spotted during tests or normal operations during the rig’s last days […].“22 Die Symptome der herannahenden Katastrophe – und dann: Unheil, nimm deinen Lauf! Aber es ist natürlich zutreffend, dass viele Katastrophen tatsächlich voraussagbar sind – auf generelle Weise, ohne vorherige präzise Datumsangabe –, und vor allem in der Fliegerei und zur See; das Exxon Valdez-Desaster hat sich seinerseits lange vorher angekündigt, ohne dass etwas dagegen getan worden wäre.23 Und es ist letztendlich erstaunlich, dass nicht mehr passiert: eine neues Tschernobyl lässt sich ohne Zweifel auch für die nahe Zukunft ankündigen. 20 George Soros: The new paradigm for financial markets. The credit crisis of 2008 and what it means, New York 2008, S. 127. 21 Robert J. Shiller: The subprime solution. How today’s global financial crisis happened, and what to do about it, Princeton 2008, S. 6. 22 The oil well and the damage done, in:The Economist (19.–25. 6. 2010), S. 57–59, hier 57. Meine Kursivierung. 23 Siehe dazu: William Langewiesche: The outlaw sea. Chaos and crime on the world’s oceans, London 2005.

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Warnungen helfen also in der Regel nichts.  Und dass die Wirtschaft der Gegenwart so komplex geworden ist, dass sie selbst Spezialisten kaum mehr verstehen, trägt auch nicht gerade bei zu vernünftigen Entscheidungen. „There is something inherently unknowable about the worth of most of these [Aktien, Anleihen etc., etc.] sources of savings in the modern economy,” schreiben Akerlof und Shiller.24 Ökonomisch-finanzielle Katastrophen lassen sich jedenfalls nicht weniger gut erzählen als Flugzeug- oder Schiffsdesaster; es ist aber andererseits fraglich, ob die Psychologisierung der Nationalökonomie (wie sie nicht nur Akerlof und Shiller, und sehr zu Recht) vornehmen, ihre Erzählbarkeit steigern werden, das Gegenteil ist eher anzunehmen. Damit wird sie ihre momentan privilegierte Position in den Katastrophen-Storytellings wieder einbüßen. Hoch spezialisierte, mit Formeln gespickte Studien werden notwendigerweise immer weniger popularisierbar sein.25 Sollte sich Storytelling mit seinem Hang zur Vereinfachung noch mehr durchsetzen – was anzunehmen ist –, wird sich vermutlich auch die Geschichte, gerade in Österreich, noch mehr einem Einfachheitsgebot verschreiben und alles über G’schichtl-Erzählen (H. Broch) Hinausgehende weiter diskreditieren als „Theoretisiererei“. Damit ist Gefahr im Verzug für einen wirklich wissenschaftlichen Status der Geschichte. Man kann zwar stories immer einfach(er) und immer ein wenig anders erzählen, aber wesentlicher Wissens- und Verständnis-Zuwachs wird sich daraus nicht gewinnen lassen. Am deutlichsten wird das bei der Wirtschaftsgeschichte, deren Relevanz sich ganz wesentlich aus nötigen neuen Einsichten und Erklärungsmodellen ergibt.26 Die Geschichte ist damit in einer klassischen double-bindSituation: Sogar innerhalb der Zunft ist der Druck, sich nach unten anzupassen, sehr spürbar, doch wird sich der szientifische Charakter auf solchen Wegen immer mehr ausdünnen.

III. Geschichten über die Geschichte Wie so häufig bei „Neuheiten“ à la Storytelling ist bei näherem Hinsehen rasch erkennbar, dass die Sache weniger neu ist, als sie sich ausgibt. Den Historikern und Historikerinnen sind in der Tat viele von den Motiven, die Storytelling aufwirft, ganz geläufig, z.B. die Probleme der Narrativität, der Tendenz, der Apologie, der Kritik und Hyperkritik etc., etc. Was mit einem Modewort wie to spin ausgedrückt wird, ist im Grunde Proseminar-Stoff: Jede Geschichte wird auf eine Weise erzählt, dass sie den Intentionen des/der Erzählenden entspricht, egal ob und inwieweit diese drifts bewusst (gemacht) werden.27 Und jede Explikation ist bestimmt 24 George A. Akerlof, Robert J. Shiller: Animal spirits. How human psychology drives the economy, and why it matters for global capitalism, Princeton 2009, S. 27. 25 Vgl. beispielsweise Daron Acemoglu, James A. Robinson: Economic origins of dictatorship and democracy, Cambridge / New York 2006. 26 Ein vorzügliches Beispiel dafür ist: Gregory Clark: A farewell to alms. A brief economic history of the world, Princeton 2007, der durch überraschende Hypothesen zu neuen Erklärungen der Malthusianischen Falle gelangt. 27 Salmons bereits erwähntes Buch gibt auch ein schönes Bespiel für ideologische Prädispostionen: „ses enjeux [des

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durch das jeweilige Vermögen zu explizieren: Es handelt sich um einen Rahmen, der sich von kulturellen Programmen bis zu persönlicher Kompetenz erstreckt. Es ist am zweckmäßigsten, diese Probleme unter dem Begriff Perspektive abzuhandeln. Wie eine Sache betrachtet und daher die story erzählt wird, hängt von Grundeinstellung und Urteilsfähigkeit, von Beeinflussungen und Auswahl und Sichtbarkeiten (im Sinne dessen was überhaupt ins Bewusstsein tritt) ab. Alle solche Prädispositionen machen es, wie wir Historiker und Historikerinnen nur zu gut wissen, schwierig (ich würde sagen: letztlich unmöglich) ‚objektiv‘ zu sein. Skeptisch (oder schlicht realistisch) müsste man sagen, Geschichte kann auf tausenderlei Weisen „erzählt“ werden – oder history can be spun any which way. Am anschaulichsten wird das bei uralten Ressentiments, die seit sehr langer Zeit nach dem Muster konditionierter Reflexe funktionieren. Der autogenerative Antisemitismus28 hat, insbesondere nach 1967, auch den Staat Israel ereilt, dem zunächst eine Gnadenfrist eingeräumt schien. Es ist völlig gleichgültig, was dieses Land tut oder unterlässt, es verfällt der Feme. „Conjoined in a state, or stateless, the Jews are wrong.“29 Konditionierter Reflex: Israel habe eine Belagerungsmentalität30, wohlgemerkt als Vorwurf gemeint. Verwunderlich bei einem Belagerungszustand? Niemand ist hingegen autorisiert, Hamas, Hisbollah und all die arabischen Staaten zu kritisieren, die das Existenzrecht des belagerten Staates leugnen. Vernünftige und gerechte Argumente werden nur selten vorgebracht – sie sind, könnte man sagen, außerhalb des vom normierten und normierenden Storytelling vorgegebenen Rahmens: „There is a blockade of Gaza because Hamas, the Islamist party that runs Gaza, wants Israel destroyed. […] Several sources report close links between the IHH (the Turkish charity that supported the trip) and Hamas.“31 Es wäre indessen falsch anzunehmen, dass es nur um „Auslegungen“ geht. Es ist nicht alles gleich gut und richtig. Aber Vernunftargumente zählen weniger denn je. Die Rahmen und Muster, die Storytelling zwingend vorgibt – und die sich nicht nur auf Werbung, corporate culture und dergleichen beziehen –, haben längst die Erzählbedingungen und die erzählbaren Inhalte reguliert. Ich halte es für möglich, dass so ziemlich die letzte Möglichkeit, sich diesen Vorgaben und Einengungen und letztlich vorfabrizierten Auffassungen zu entwinden, in der Adoption ironischer Distanz besteht. Als hübscher Beleg dafür könnte ein ebenso informativer wie amüsanter Teil der Memoiren von Tony Judt herangezogen werden. Über die École

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storytelling] ne seront plus seulement le partage des revenus du travail et du capital, les inégalités au niveau mondial, les menaces écologiques, mais aussi la violence symbolique que pèse sur l’action des hommes, influence leurs opinions, transforme et instrumentalise leurs émotions, les privant ainsi des moyens intellectuels et symboliques de penser leur vie.“ (Salmon, Storystelling, S. 212). Vgl. Georg Schmid: Antisemitismus als autogeneratives System. Reflexionen über ein unerklärliches Phänomen, in: Heinz Wassermann (Hg.), Antisemitismus in Österreich nach 1945. Ergebnisse, Positionen und Perspektiven der Forschung, Innsbruck / Wien / Bozen 2002, S. 268–294. David Mamet: The wicked son. Anti-Semitism, self-hatred, and the Jews, New York 2006, S. 49. The Economist (5.–11. 6. 2010), S. 13 und 30. Christopher Caldwell: Israel had no other choice, in: Financial Times (5./6. 6. 2010), S. 7.

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normale heißt es hier unter anderem: „I was unfailingly astonished by the sheer volume of rote learning on which my French contemporaries could call, suggesting an impacted richness that was at times almost indigestible. Pâté de foie gras indeed.“32 ( Judt bezieht sich natürlich auf das brutale „Stopfen“ oder „Nudeln“ der Gänse und nimmt es als Metapher für das Auswendiglernen stets gleichbleibenden „Wissens“.) Aber es geht eben keineswegs nur um stabile „Inhalte“ und ebenso stabilisierende Techniken, wie sie standardisierte Muster des Storytelling erheischen. Und obzwar die Bildungssysteme Frankreichs und angelsächsischer Kulturen tatsächlich kaum unterschiedlicher sein könnten, ist vielleicht die Grundeinstellung verschiedener Soziokulturen von mindestens ebenso großer Bedeutung. Die empörte Replik der directrice der ENS, Madame Monique Canto-Sperber, ließ nicht lange auf sich warten; sie betonte vor allem, dass zahlreiche Absolventen Posten größten Einflusses innehätten (woran in der Tat nicht zu zweifeln ist: ein Hauptproblem Frankreichs besteht ja gerade in der nachgerade absolutistischen Konzentration der Macht) und warf Judt niedrige Gesinnung vor.33 Ist die Sicht- und Darstellungsweise ironisch, wird fast automatisch eine weitere Perspektive möglich, wohingegen allzu viel Ernst den Horizont einschränkt. In der Replik auf die Replik sagte denn Judt auch: „Perhaps I was too Anglo-ironic?“34

32 Tony Judt: Paris was yesterday, in: The New York Review of Books LVII/4 (11. 3. 2010), S. 36–37. 33 Monique Canto-Sperber: Cheers for the École Normale, in: ebda., LVII/7 (29. 4. 2010), S. 65. 34 Ebda., LVII/7, S. 65.

Peter Dusek

Ein Aufklärer als Demagoge Gerhard Botz und das Fernsehen An was erinnert man sich im Zusammenhang mit der Waldheim-Affäre, die meines Erachtens zum ersten internationalen ‚Medien-Hype‘ Österreichs führte? An das ‚hölzerne Pferd‘ sowie an die mehr oder weniger telegenen Wortmeldungen von den österreichischen Zeithistorikern Erika Weinzierl, Gerhard Jagschitz, Ernst Hanisch und, last, but not least, Gerhard Botz. Seine emotionale Empörung war nie gespielt, wie ein alttestamentarischer ‚Richter‘ empörte er sich über Waldheims ‚Pflichterfüllung‘ und in einem legendären „Club 2“ nahm er zeitgleich die Funktion eines Demagogen sowie eines Aufklärers ein. Vielleicht entdeckt eines Tages die nächste Historiker-Generation, dass man eine Quellen-Gattung intensiver nutzen könnte, die von einem Mann wie Gerhard Botz massiv angereichert worden ist: audiovisuelle Dokumente, und vor allem das Fernsehen, als Spiegelbild jener gesellschaftspolitischen Einstellungen, die von den Historikern üblicherweise nur mithilfe schriftlicher Quellen gedeutet werden. Gerhard Botz hat die methodischen Defizite seiner Zunft in puncto AV-Quellenkunde immer zugegeben; und auch in meiner akademischen Karriere war er sehr wichtig, so holte er mich unmittelbar nach meinen ersten Vorlesungen über ‚Mediendidaktik‘ an der Universität Klagenfurt an die Universität Salzburg, wo ich mit dem Team des Historischen Archivs parallel zu „Österreich II“ von Hugo Portisch und Sepp Riff jahrelang AV-Übungen zu Zeitzeugen und zur Sendeleiste ‚Feindbilder‘ anbieten konnte.1 Gerhard Botz, der am Beginn seines Studiums zunächst einen Kurs zur Ausbildung als Film-Gestalter belegte, dann über den Umweg von Biologie und Geografie zur Historie überwechselte, ortete in der Geschichte zu viele ‚weiße Flecken‘ – er kümmerte sich um die Quantifizierung und um Oral History, um Alltagsgeschichte und um die Aufarbeitung des Ständestaates. Und er förderte durch Rat und Tat das Historische Archiv des ORF, das ich ab 1982 leitete bzw. das „große“ FS-Archiv, mit dessen Modernisierung ich ab 1988 beauftragt war. Kennengelernt habe ich Gerhard Botz allerdings Jahre früher: ich war damals u.a. für die Ö1 „Magazin der Wissenschaft“ unterwegs und stellte darin seinen ersten Buch-Hit „Wien vom ‚Anschluss‘ zum Krieg“2 vor. Botz traf ich in Linz, wo er gemeinsam mit Helmut Konrad 1 Peter Dusek, Andreas Dahm et al.: Das Historische Archiv des ORF als Plattform zu Wissenschaft und Schule, in: Zeitgeschichte 12.3 (1984), S. 100–112. 2 Gerhard Botz: Wien vom „Anschluss“ zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, mit einem einleitenden Beitrag von Karl R. Stadler, Wien / München 1978.

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als Assistent von Friedrich Stadler überaus ambitionierte wissenschaftliche Aktivitäten setzte. Ab 1984 fuhr ich regelmäßig (fast zehn Jahre lang) nach Salzburg, dort galt Botz als etwas chaotischer, aber sehr innovativer Professor und bei den Studenten bildeten sich richtige FanGemeinden (und auch einzelne ‚Widerstandsnester‘ ). Zu meinen Salzburg-Besuchen gehörte auch, dass ich regelmäßig am Familienleben von Gerhard und Maria Botz teilnahm: da turnten drei unterschiedlich große Buben unter dem Tische da bereitete sich die mit griechischmediterranem Temperament ausgestattete Ehefrau während des Gemeinschaftsfrühstücks auf ihren Schulauftritt als Zeichenlehrerin vor – und der Gast aus Wien staunte über diese Energieentladung, die immer leicht chaotisch, aber doch sehr effizient war. Gerhard Botz war auch im Privaten ein Vulkan an Energie, unangepasst und streitbar, aber immer konstruktiv, selbst dann noch, als seine Ehe scheiterte: Die Kinder werden weiterhin gemeinsam ‚betreut‘, Geburtstagsfeste gemeinsam aufgezogen etc. Seine Fernsehauftritte vermittelten also Authentizität, ungekünstelte ehrliche Emotionalität und wirkten deshalb wohl so intensiv. Gleichzeitig kam das damalige „Club 2“-Vehikel seiner unüberhörbaren Weitschweifigkeit entgegen, die mitunter auch kontraproduktiv wirkte. Interessanterweise sind die TV-Auftritte von Gerhard Botz ab dem Jahr 1976 relativ gleichmäßig auf die Kartei der ORF-Sendungen verteilt. Im den ‚Waldheim-Jahren‘ stand er genauso oft vor der Kamera wie 2008 oder 1998. Mit Erschließungsstand vom August 2010 sind in der Datenbank des ORF folgende Botz-Auftritte dokumentiert: 15.12.1976 05.03.1978 22.10.1978 08.02.1979 24.11.1982 28.01.1983 01.03.1983 02.12.1983 25.07.1984 13.07.1984 02.06.1987 12.10.1987 22.03.1989 23.11.1989 13.02.1990 18.05.1995 11.06.1996

Teleobjektiv: Gewalt in der Ersten Republik So kam es zum März 1938 Bücherbasar: Wien vom Anschluss bis zum Krieg Club 2: Wie kam es zum Februar 1934 Porträt Ignaz Seipel Nachtstudio: Politische Gewalt am Beispiel 1933 Zeit im Bild 2: 50 Jahre März 1933 Nachtstudio: Der Untergang Roms – Europas Zukunft? Kulturjournal: Nathan und Toleranz Zeitzeuge Wiesenthal Club 2: Die Österreicher und der Nationalsozialismus Zeit im Bild 1: Waldheim-Kommentar Feindbilder Juden Zeit im Bild 2: Deutsche Einheit Club 2: Die deutsche Einheit Zur Sache: Bomben, Pannen, Misserfolge Zeit im Bild 2: Waldheim-Kommentar

Ein Aufklärer als Demagoge

22.06.1997 05.10.1997 17.10.1997 02.02.1998 11.04.1999 31.03.2000 15.07.2002 25.09.2002 02.10.2002 20.01.2004 23.07.2004 18.04.2006 14.06.2007 14.06.2007 11.04.2007 24.01.2008 13.05.2008 18.05.2008 24.04.2009

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Hohes Haus: NS-Opfer Zur Sache: Briefbombentäter Zeit im Bild 2: Bombenhirn Zeit im Bild: Hitlers’ Befehl zum Judenmord Hohes Haus: Porträt Stoisits Zeit im Bild 2:  Österreich–Israel Zeit im Bild 2: Justizpalast-Brand Dokumentation Preußens Gloria Zeit im Bild 13 Uhr: Jüdisches Leben Zeit im Bild 2: Weltkriegsbilder Zeit im Bild 2+3: Dollfuß Report Spezial: Der Fall Waldheim Menschen und Mächte-Spezial: Kurt Waldheim Zeit im Bild (mehrfach): Nachruf Waldheim Zeit im Bild 2: Justizpalastbrand Zeit im Bild (mehrfach): Strache-Prozess Report Spezial: Die Habsburger Heimat, fremde Heimat: Endlösung Wiener Tschechen Zeit im Bild 2: Historische Zeitungen

Die TV-Popularität von Gerhard Botz ging zweifellos auf diese erstaunlich gleichmäßige Medienpräsenz im Fernsehen zurück;3 zugleich erhielt die akademische Diskussion entsprechende ‚Schubkraft‘ durch die Massenmedien. Und als Gerhard Botz 1994 im Campus-Verlag gemeinsam mit Gerald Sprengnagel den Band „Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte“ herausgab, schrieb er in den Einleitungstext: Seit der Waldheim-Affäre kann die NS-Vergangenheit Österreichs nicht länger ‚verdrängt‘ werden: der Beitrag vieler Österreicher zum Nationalsozialismus und zur Vernichtungspolitik, die unterschiedliche Rolle von Antisemitismus und Widerstand sowie das autoritäre Regime in Österreich vor dem ‚Anschluss‘. Gegenüber den aufklärerischen Anstrengungen der wissenschaftlichen Zeitgeschichte haben sich aber Populartraditionen unterhalb der ‚offiziösen‘ Geschichtsbilder als resistent erwiesen.4

3 Die Frühzeit des Fernsehens ist noch keineswegs vollständig erschlossen; hier könnten in den nächsten Jahren noch einige weitere Botz-Dokumente auftauchen. Die Liste ab 1988 ist jedoch vollständig. 4 Gerhard Botz, Gerald Sprengnagel (Hg): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt a. M. / New York 1994 (Neuauflage 2008).

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20 Jahre nach Beginn der Waldheim-Affäre fasste Botz im Buch „1986 – Das Jahr, das Österreich veränderte“5 das gleiche Thema neuerlich zusammen; gegen Ende seines Aufsatzes schließt er mit dem Wandel der Einsichten von Kurt Waldheim, die er als Erfolg auch seines eigenen massiven Auftretens deutete: Im schon zitierten Interview aus dem Jänner 2006 wurde Waldheim auch auf seinen ominösen Satz von der Pflichterfüllung angesprochen. Waldheim entgegnete, offensichtlich sich hinter einem Anspruch seines Amtsvorgängers, Rudolf Kirchschläger, versteckend, er habe 1986 sagen wollen, er habe nur „den Gesetzen des Nationalsozialismus gehorcht“. Er sei weder Widerstandskämpfer noch ‚Held‘ im Dienste der NS-Diktatur gewesen und räumte ein: „Meine Formulierung von der Pflichterfüllung war schlecht.“ Auch dies ist eine bemerkenswerte kritische Einsicht, wenn man die früheren Argumentationsmuster bedenkt.6

Zieht man eine Gesamtbilanz der Bewertung der NS-Ära in Österreich, dann gilt wenigstens für die politischen Akteure: das Waldheim-Jahr brachte jene Wende, die überfällig war. Die Vranitzky-Erklärung in Israel, der Nationalfonds, der jüngste Vergleich über Schieles Wally, das alles signalisiert einen neuen, selbstkritischen Umgang der Österreicher – zumindest auf der offiziellen Ebene. Historiker wie Botz, Jagschitz, Weinzierl oder Hanisch haben ihren Teil zu diesem Paradigmenwechsel beigetragen. Die engagierten Wortmeldungen von Gerhard Botz im „Club 2“ verstärkten diesen Prozess zusätzlich. Manchmal müssen Zeithistoriker nicht nur als Aufklärer, sondern auch als Demagogen agieren! Und vielleicht analysieren eines Tages Jung-Historiker nicht nur die schriftlichen Dokumente, sondern auch die Medienpräsenz von Historikern vom Typus ‚Gerhard Botz‘. Das Thema wäre jedenfalls neu und vielschichtig!

5 Gerhard Botz: Die ‚Waldheim-Affäre‘ als Widerstreit kollektiver Erinnerungen, in: Barbara Toth, Hubertus Czernin (Hg): 1986 – Das Jahr, das Österreich veränderte, Wien 2006, S.  74–94. 6 Botz, Die ‚Waldheim-Affäre‘, S.  80.

Peter Weinberger

Gerhard Botz – A „Non-Agenarian“? Eine ganz persönliche Widmung Wann genau ich Gerhard Botz kennenlernte, kann ich mich nicht mehr erinnern. Spätestens 1986, im unseligen Jahr der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten. Es kann aber auch schon einige Zeit früher gewesen sein, denn bereits Ende der 70er-Jahre schien Österreich endgültig aus der intellektuellen Lethargie aufzuwachen, die das Land nach 1945 gelähmt hatte. Gerhard selbst sowie einige andere Zeithistoriker in seinem Umfeld haben zu diesem Aufwachen Entscheidendes beigetragen. Und zwar durch permanentes Infragestellen der populären „Opferrolle“ Österreichs während der Nazizeit. Ein Vierteljahrhundert nach der Waldheim-Wahl ist es natürlich viel einfacher, klar zurückzublicken. War es uns während der Amtszeit Waldheims klar, dass 1989 mit dem Fall des Eisernen Vorhangs soeben ein Jahrhundert zu Ende gegangen war? Ein – im wahrsten Sinne des Wortes  – merkwürdiges Jahrhundert, das alte Monarchien zerbröckeln ließ, das zwei Weltkriege mit Millionen Toten brachte, industrielle Vernichtung von (Millionen von) Menschen, und das zugleich einen geistigen Aufbruch beinhaltete, wie es ihn vermutlich in der Geschichte bisher nur einmal gegeben hat, nämlich während der Renaissance. Eine neue Kunst und Literatur etablierte sich in wenigen Jahrzehnten, völlig neuartige Naturwissenschaften haben in knapp 100 Jahren das Alltagsleben in fast allen Kontinenten entscheidend verändert und bestimmt. 1986 haben wir alle vermutlich nicht an das kurz bevorstehende Ende unseres Jahrhunderts gedacht. 1986 galt es vor allem noch, Drachen zu erlegen: den Drachen des Schweigens, den Drachen des Übergehens, den Drachen des Ausklammerns. Bei dieser Art von Jagd war (und ist) Gerhard stets mit dabei, als Teil jener „Jagdgesellschaft“,1 die das Schäbigkeitsmonster zu erlegen sich zur Aufgabe gemacht hat.

Universität & Demokratie Selbstverständlich ergab sich im Laufe der Jahre auch eine Reihe von anderen Überschneidungen unserer Lebensräume, die aus den politischen Erfahrungen unseres Berufs als Universitätslehrer resultierten. Den Verein „Universität und Demokratie“ (U & D) zum Beispiel. Man traf sich zumindest zwei- bis dreimal pro Semester, sehr oft im Seminarraum des Instituts für Zeitgeschichte bzw. in einer anderen Räumlichkeit des Universitätscampus, um bei Tee 1 Beliebte Redewendung eines Kärntner Schönredners (ehem. FPÖ-Parteiobmann Jörg Haider).

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Abb. 1: The Times Higher Education World University Rankings 2010–2011, Top 200

und meist von Gerhard gespendeten Keksen über vergangene oder anstehende (universitäts-) politische Aktivitäten zu diskutieren.2 Wir hatten es sogar geschafft, für eine Zeit lang eine eigene Webseite unter der Web­adresse „www.kriwi.at“ zu führen, wobei „kriwi“ natürlich für „kritische Wissenschaften“ stand. Eine Zeit lang, wie gesagt, denn der Aufwand war ziemlich groß, und die Texte (es gab bissige Nachrichten und Kommentare) wurden auch zum Schluss etwas spärlich. Allerdings, ein wenig können wir alle auf diese „historische“ Webseite stolz sein, denn so selbstverständlich war der Einsatz des Mediums Internet in jenen Jahren noch nicht. Es sind sogar manche Texte in Journalen wie „Profil“ zitiert worden. U & D war ein Verein, in dem der Reihe nach jeder einmal die Funktion eines Obmanns ausüben musste, auch Gerhard. Andere wiederum hatten sich, mehr oder weniger freiwillig, zum Beispiel als Kassier zur Verfügung zu stellen. Dazu gehörte vor allem auch unser allzu 2 „Man“ das waren u.a. Gerö Fischer, Hans-Peter Kirsch, Richard März, Hans Mikosch, Elisabeth Nemeth, Edith Saurer, Birgit Wagner, Michael Weinzierl, Ruth Wodak und natürlich Gerhard und ich. Zum Teil hatte sich die Zusammensetzung dieser Gruppe noch aus den an der Gründung der Gewerkschaftlichen Arbeitsgemeinschaft Kritische Universität (GAKU) beteiligten Personen rekrutiert, zu der übrigens auch Alexander van der Bellen gehörte.

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früh verstorbener Freund Michael Weinzierl. Letztendlich wurde der Verein genauso aufgelöst wie die „kriwi“-Webseite. Die Gruppe hatte es nicht geschafft, personelle Neuzugänge zu verzeichnen. Ein Grund hierfür mag sein, dass eine Welle neoliberaler Reformen zu jener Zeit gerade die Universitäten in eine Art „Servicestätten in Sachen Ausbildung“ degradierte. Mit einem Resultat, das erst Jahre danach so richtig offenkundig wurde: die österreichischen Universitäten sind international uninteressant geworden. Egal, wie man zu university rankings steht, als Trend betrachtet ergeben sie doch ein sehr eindeutiges Bild: 2010 hat es die Universität Wien gerade noch unter die ersten 200 geschafft. Weiterer Trend: abwärts. Als beste Universität in Österreich schnitt 2010 die Universität Innsbruck ab, die es mit dem Rang 185 zum ersten Mal unter die 200 besten Universitäten schaffte. Die Universität Wien ist dagegen in bloß einem Jahr um 63 Plätze (!) nach hinten gefallen.3 Die TU Wien ist längst schon außer Sicht.

Plattform gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit So ganz einschüchtern haben wir uns aber nicht lassen, insbesondere wenn es die immer stärker aufkommende Xenophobie im Land betraf, die auch zunehmend als (partei-)politisches Instrument eingesetzt wurde. Der Wiener Wahlkampf 2005 bot zu einem Engagement gegen dieses Phänomen genügend Anlass.  Die in den Nachkriegsjahrzehnten misslungene ‚Vergangenheitsbewältigung‘ hatte sich plötzlich in einen zu misslingenden Versuch, Zukunft zu bewältigen, verwandelt. So offenkundig fremdenfeindlich lief bisher noch kein Wahlkampf ab – trotz der in der Vergangenheit oft verwendeten Formulierung „ein echter Österreicher“: Antisemitismus spielte sich zwar nur mehr am Rande ab – der Antiislamismus hatte ihn fast zur Gänze ersetzt. Die Konsequenzen in der Form von verschärften Fremden- und Asylgesetzen sind bis zum heutigen Tag mehr als deutlich zu verspüren. Der Wiener Wahlkampf 2010, wie die allerjüngste Vergangenheit zeigte, verlief nach sehr ähnlichem Muster. Aber davon wird noch etwas später die Rede sein. 2005 wurde also eine Internetadresse, nämlich die „Plattform gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, geschaffen, ein mit Meldungen und Kommentaren versehener Aufruf, an dem sich letztlich mehrere Tausend Menschen beteiligten. Wie nicht anders zu erwarten, war Gerhard einer derjenigen, die sich in der Öffentlichkeit mit scharfen Worten gegen Populismus jeglicher Form wandten. Bei allen geplanten Aktionen konnte man stets mit Gerhard rechnen, es war nur mitunter schwer, ihn an das Telefon zu bekommen.

3 Top 200 – The Times Higher Education World University Rankings 2010–2011, siehe URL: http://www.timeshighereducation.co.uk/world-university-rankings/2010–2011/top-200.html (27. 6. 2011).

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Abb. 2: Plakate der Wiener FPÖ aus dem Wahlkampf um die Wiener Landtags- und Gemeinderatswahlen 2005

Die Tatsache, dass es 2010 nicht erneut zur Gründung einer solchen Plattform gekommen ist, lag vermutlich in der von so manchem gehegten Hoffnung auf eine rot-grüne Koalition und der damit verbundenen Hoffnung auf eine endgültige politische Antwort auf Rechtspopulismus, immerhin hatten sowohl SPÖ als auch Grüne im Vorhinein jegliches Arrangement mit den „Rechten“ ausgeschlossen. Betrachtet man die prozentuelle Veränderung des Abstimmungsergebnisses der letzten Wiener Gemeinderatswahlen gegenüber 2005 (siehe Abbildung 4) dann ist offensichtlich, dass die ÖVP und die Grünen in allen Bezirken ziemlich gleichförmig an Stimmen verloren haben. Der Verlust der SPÖ in den „Arbeiterbezirken“ mag zunächst sofort einleuchtend sein, obwohl auch der Begriff „Arbeiterbezirk“ längst nicht mehr eine politische Kategorie im eigentlichen Sinne darstellt. Nimmt man als typisches Beispiel den 21. Wiener Gemeindebezirk, Floridsdorf, so ergibt sich zunächst einmal folgendes Bild (2006): 52,7 Prozent der Floridsdorfer Bevölkerung sind Frauen, der Anteil der ausländischen Bezirkseinwohner lag mit elf Prozent weit unter dem Wiener Durchschnitt von 19 Prozent, etwa 16 Prozent der Floridsdorfer sind Kinder unter 16 Jahren. Im letzten Maturantenjahrgang (2010) des Floridsdorfer Gymnasi-

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Abb. 3: Veranstaltungsankündigung der „Plattform gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“

ums in der Franklinstraße gab es etwa genauso viele Mädchen wie Burschen. Vergleicht man diese Zahlen mit den Wahlanalysen für die Wiener Gemeinderatswahl 2010, in denen festgestellt wurde, dass weitaus mehr Männer im unteren Bildungssegment die FPÖ gewählt haben als Frauen, die sich eher für die SPÖ entschieden haben, dann scheinen die üblichen Begriffe wie „Globalisierungsverweigerer“ oder „Fortschrittsverlierer“, also ökonomische bzw. bildungsorientierte Kategorien, nicht auszureichen, um den überdurchschnittlichen Erfolg der FPÖ in diesem Bezirk zu erklären. Nur von Xenophobie zu sprechen, greift ebenfalls zu kurz. Ganz offensichtlich bedarf es eines neuen Begriffs, um männliches Wahlverhalten in den sogenannten „Arbeiterbezirken“ zu beschreiben, nämlich des Begriffs „Emanzipationsverlierer“. In einer Gesellschaft, in der das Familieneinkommen, trotz der nach wie vor bestehenden Kluft zwischen Männer- und Frauengehältern, nicht mehr allein durch das Einkommen des Mannes gedeckt ist; in der eine familiäre Doppelbelastung (Beruf und Haushalt) von immer mehr Frauen nicht mehr so einfach hingenommen wird; in der das Bildungsniveau von Frauen ihnen immer bessere Berufschancen einräumt, verbleibt wenig Platz für „Sozialmachos“. Der Druck, sich den durch die Emanzipation der Frauen geschaffenen neuen Bedingungen anzupassen, wird auch in Zukunft nicht nachlassen, im Gegenteil, er wird sich verstärken. Immer mehr junge Frauen (im Durchschnitt gibt es mehr Mädchen in den Mittelschulen als Burschen) lassen sich nicht in ein veraltetes gesellschaftliches Rollenbild pressen. Sie sind selbst-

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Abb. 4: Prozentuelle Veränderung des Abstimmungsergebnisses 2010 gegenüber 2005 nach Bezirken

ständig und selbstbewusst. Sie sind zum irrationalen Feindbild geworden, genauso wie „die Ausländer“. In der Hauptsache sind es Frauen, die in typische „Männerberufe“ drängen und so soziale Existenzängste bei manchen Männern auslösen. Es ist „Machismus“, kombiniert mit ungenügendem, Ausländerfeindlichkeit garantierendem Bildungsniveau, der der FPÖ auch in Zukunft Erfolge garantieren wird. Die neue Rechte ist nur zum Teil wirklich „rechts“ (im Sinne von Rechtsradikalen), sie ist vor allem sexistisch.

Die kleinen Narrative Ich – als ausübender Naturwissenschaftler, als einer an Zeitgeschichte bloß besonders Inte­ ressierter – habe von Gerhard auch einiges gelernt, nämlich sein Bestehen auf das Ende „großer Narrative“ und das Betrachten von Geschichte als einer Summe von Einzelgeschichten, als Superposition aus individuellen Lebensgeschichten. Zwar ergibt sich aus vielen Memoiren der Holocaustgeneration mitunter der Eindruck, dass vieles doch sehr ähnlich war, vieles immer wieder nach dem gleichen Schema abgelaufen ist, und dennoch: es sind die Einzelheiten, die besonderen Umstände, die jede einzelne Geschichte als etwas ganz Besonderes erscheinen lassen. Insbesondere jetzt, da ich einen Teil des Jahres in New York verbringe, begegne ich dieser „Geschichte“ fast jeden Tag, pflege ich Kontakt mit vielen, die an ihrer Geschichte (schwer) zu

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tragen haben. Es sind die Einzelheiten, wie gesagt: Das Überleben als Kind in Theresienstadt, die grauenhaften Erinnerungen an Auschwitz, die immer wiederkommen. Ja gewiss doch, man hat überlebt, man ist sogar zu einigem Wohlstand als Immigrant in den USA nach 1945 gekommen, aber es bleibt das Wissen, dass man es gerade noch geschafft hatte. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine Diskussion in New York, im „Stammtisch“,4 unter drei alten Damen, alle drei zwischen 85 und 95 Jahre alt, als es darum ging, sich zu erinnern, ab welchem Zeitpunkt man als jüdische Familie in Deutschland keine Dienstboten mehr haben durfte. Bei dieser Gelegenheit habe ich an Gerhard gedacht, denn es war letztlich keine „lächerliche“ Nebensächlichkeit, die da erörtert wurde, sondern eine allererste Beraubung des sozialen Status, die den betreffenden Familien seinerzeit widerfuhr. Ich höre bei solchen Gelegenheiten aufmerksam zu und stelle immer wieder fest, wie sehr die Flucht aus Europa bzw. das Verlassen dieses Kontinents nach 1945 die Geflüchteten in sozialer Hinsicht durchmischt hat und mitunter auch aus unterschiedlichen „Geschichten“ gemeinsame entstanden sind. Es ist daher ganz selbstverständlich, wenn bei einem Treffen ehemaliger Wiener als Erstes sofort die Frage gestellt wird: „Und aus welchem Bezirk?“ Ein Teil der Geschichte des jeweilig anderen ist dann zumindest summarisch geklärt und braucht nicht ausgeführt zu werden. Die mehr als fünfzigjährige Geschichte in den USA ist dann meist in einigen wenigen Sätzen erzählt. „Ich war Lehrer in ..., Angestellter der ...,“– geradeso, als ob dieser Teil des Lebens nur „pflichtgemäß“ absolviert worden wäre. Es ist die Summe der kleinen Geschichten, die sich zu Geschichte an sich verdichten. Selbstverständlich sind unter den Emigranten auch berühmt gewordene ehemalige Österreicher zu finden, deren Geschichten Teilaspekte des einstigen kulturell-intellektuellen Lebens in Wien erahnen lassen. Der Mathematiker Franz Alt zum Beispiel,5 eben 100 geworden, erinnert sich bestens an das Mathematische Seminar vor 1938 in der Boltzmanngasse und an fast jeden Vortrag, der dort gehalten wurde.6 Darunter auch an jenen von Kurt Gödl, der dessen spätere Berühmtheit als Logiker begründete. Walter Kohn7 oder Eric Kandel8 konnten gerade noch rechtzeitig mit einem Kindertransport das Land verlassen. Als sie später zu hohen Ehren kamen und den Nobelpreis erhielten, wurden sie sofort von der österreichischen Presse als „österreichische Nobelpreisträger“ akqui4 Der Stammtisch wurde 1943 in New York von Oskar Maria Graf und Fritz Glückselig (Pen-Name: Fritz Bergammer) gegründet. Bis zum heutigen Tag treffen sich deutsche und österreichische Emigranten einmal in der Woche, um über amerikanische und europäische Politik zu diskutieren. Es wird nur Deutsch gesprochen. Unabhängig vom Alter ist man per du, auch mit den österreichischen und deutschen Gedenkdienern, die ein Jahr in New York verbringen. Es ist stets ein Mittwochabend und stets wird spaßeshalber gezählt, ob die „Wiener“ oder die „Deutschen“ in Überzahl gekommen sind. 5 Siehe URL http://portal.acm.org/citation.cfm?id=1234040.1234042 (27.06.2011). 6 Siehe URL http://homepage.newschool.edu/het//schools/vienna.htm (07.02.2011). 7 Walter Kohn: Personal Stories andAnecdotes told by Friends and Collaborators, hg. v. Matthias Scheffler u. Peter Weinberger, Berlin / Heidelberg 2003. 8 Eric Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis, München 2006.

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riert. Walter Kohn vermeidet, wie er mir einmal erzählte, bei seinen gelegentlichen Besuchen in Wien immer noch die „Museums-Seite“ der Babenbergerstraße, weil sich tief in sein Gedächtnis das Bild einer dort straßenwaschenden alten Jüdin eingegraben hat. Kann ein solches Bild wirklich wiedergegeben werden? In erzählter Geschichte? Wie viel Geschichte liegt schon in jenem Spielzeug, das Eric Kandel zurücklassen musste? Dazu kommen natürlich noch die vielen Geschichten, die vom schäbigen Verhalten der jungen Republik und der österreichischen Bevölkerung in der Nachkriegszeit handeln und von denen vermutlich viele noch zu dokumentieren sind. Auch die Geschichte Österreichs nach 1945 besteht nicht aus „großen Narrativen“, sondern muss als eine Vielzahl kleiner, ineinander verwobener Geschichten verstanden werden. Es ist vielleicht kaum bekannt, dass ein ‚Ur-Wiener‘ wie Herman Leopoldi nach seiner Rückkehr nach Wien seine ursprüngliche Wohnung im dritten Bezirk nie wieder betreten hat. Das „kleine Café in Hernals“ hat sich Jahre hindurch in Washington Heights abgespielt. Bezüglich dieses Teils der Geschichte ist hoffentlich noch einiges an Publikationen und Diskussion zu erwarten: darunter hoffentlich auch individuelle Lebensgeschichten, wie jene,9 die Gerhard vor einiger Zeit herausgegeben hat.

Musikalische Narratologie Zusätzlich zu den individuellen Lebensperspektiven sind durch Vertreibung und Ermordung auch viele kulturelle Errungenschaften dem alten Kontinent bzw. der Welt abhandengekommen. Das Interesse an der flüchtigsten aller verlorenen Künste, an der „Vertriebenen Musik“, hat erst in den allerletzten Jahren eingesetzt. Dem Komponisten Erich Wolfgang Korngold ist zum Beispiel eine umfangreiche Bibliografie gewidmet,10 den Geschichten nach Frankreich vertriebener österreichischer Musiker wird in dem Band „Douce France“ – ganz im Sinne von Gerhards Geschichtsauffassung – nachgegangen.11 Den Korngolds (Vater und Sohn), Hanns Eisler und Ernst Toch wurden Ausstellungen im Jüdischen Museum in Wien gewidmet.12 Selbst der Unterhaltungsmusik widmeten sich in den letzten Jahren Monografien.13   9 Gerhard Botz (Hg.): Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005. 10 Guy Wagner: Korngold – Musik ist Musik, Berlin 2008. 11 Michel Cullin, Primavera Driessen Gruber (Hg.): Douce France. Musik-Exil in Frankreich, Wien / Köln / Weimar 2008. 12 Michaela Feurstein-Prasser, Michael Haas (Hg.): Die Korngolds – Klischee, Kritik und Komposition, Wien 2007; Michael Haas, Wiebke Krohn (Hg.): Hanns Eisler – Mensch und Masse, Wien 2009; Werner Hanak-Lettner, Michael Haas (Hg.):Ernst Toch – Das Leben als geographische Fuge, Wien 2010. 13 Elisabeth Buxbaum: „Veronika, der Lenz ist da“ – Walter Jurmann, ein Musiker zwischen Welten und Zeiten, Wien 2006.

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Noch stehen eingehende Untersuchungen zum Aufeinandertreffen der Wiener Komponisten in Los Angeles (von Korngold über Eisler und Schönberg bis Zeisl) aus,14 noch fehlt vielfach eine Beschreibung ihres Alltags dort. Noch gilt es, all jenen aus Europa vertriebenen Komponisten und Musikern jenen Platz in der Öffentlichkeit zu verschaffen, den die Versteigerung eines einzigen arisierten Gemäldes, wie etwa Gustav Klimts Porträt von Adele BlochBauer, eingenommen hat.

Schlusswort Beginnend mit der Wahl Waldheims bzw. meinem ersten Zusammentreffen mit Gerhard hat das Erinnern an Gemeinsames (auch ein wenig Zeitgeschichte) bei „Universität & Demokratie“, „kriwi“ und diversen Internetplattformen in diesem Beitrag zu Gerhards Hauptanliegen, zur oral history, geführt. Und irgendwie ist damit der Weg bis in die Gegenwart zurückgelegt. Eines allerdings muss ich unbedingt noch anmerken: Für Gerhard ist eine deadline für einen Aufsatz oder ein Buch die Festlegung eines willkürlichen Datums, das mit einer Fehlerquote von sechs bis zwölf Monaten behaftet ist. In extremen Fällen ist auch das Bestehen auf ein bestimmtes Kalenderjahr nicht zielführend. Ich habe mir auch sagen lassen, dass seine Vorlesungsstunden nicht unbedingt nur 50 Minuten dauern, sondern gelegentlich auf ganzzahlige Vielfache davon ausgedehnt sind. Eloquent, wie immer, aber eben manches Mal diametral der Sitzkraft eines gewöhnlichen Studenten entgegengesetzt. Ja, und eines noch: er ist so etwas wie ein wandelndes Geschichtslexikon der Geschichte des 20. Jahrhunderts: man muss den Suchbegriff akustisch eingeben, um sofort eine Antwort (mitunter eine ganze Vorlesung) zu bekommen. Ich wünsche Gerhard viele, viele ungestörte Stunden, um all die Aufsätze niederzuschreiben, die er in seinem Innersten ohnedies schon mit sich trägt.

14 Hanns Eisler, Wolfgang Fritz Haug (Hg.): Das Argument AS5, Berlin 1975; Willi Reich: Arnold Schönberg oder Der konservative Revolutionär, München 21974; Karin Wagner: Fremd bin ich ausgezogen – Eric Zeisl, Wien 2005.

Lucile Dreidemy

Botz verstehen! Verdienst und Grenzen von Provokation und Empathie im Kontext öffentlicher Geschichtspolitik „Sie wissen doch, ich liebe den Streit!“1 Das Feld der Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte ist heute kaum mehr ohne den Namen Gerhard Botz zu denken, dies allerdings nicht nur aufgrund seines 2008 zu diesem Thema veröffentlichten Referenzwerkes. Egal ob im Rahmen von Seminaren, wissenschaftlichen Veranstaltungen oder öffentlich-medialen Auftritten, immer wieder nahm der Kontroversen-Analytiker Botz auch selbst Teil an lebhaften, polemischen Diskussionen und machte sich einen Namen durch seine inzwischen fast legendär gewordene Lust zu debattieren, um nicht zu sagen: zu streiten. Im Hinblick auf diese Festschrift war es mir daher ein Anliegen, als Dank für die Reflexionsimpulse, die mir Gerhard Botz durch seine manchmal provokanten Stellungnahmen und seine akribischen Hinterfragungen bot, ebendiese Streitlust aus einer theoretischen, methodischen und geschichtspolitischen Perspektive zu thematisieren. Im begrenzten Rahmen dieses kurzen Aufsatzes wird der Fokus allerdings nur auf zwei seiner öffentlich-medialen Auftritte gerichtet: seinen Vortrag „Das Dollfuß-Bild und der ‚kleine Prinz‘“ im Februar 2000 vor der Universität Wien und seine Stellungnahme im Rahmen der bekannten „Botz-Menasse-Kontroverse“ in der Tageszeitung „Der Standard“ im Februar 2004. Der beschränkte Rahmen eines Zeitungskommentars, die Rahmenbedingungen eines öffentlichen Vortrags, aber auch die rhetorische Spezifizität, die solche öffentlich-medialen Auftritte verlangen, setzen deren Autor oder Autorin dem Risiko der Übertreibung bzw. Verkürzung, der Pauschalierung oder der Vereinfachung aus. Anders als vor dem inhaltlich meist eingeschulten Publikum wissenschaftlicher Veranstaltungen kann man in der breiten Öffentlichkeit nie wissen, über welches Vorwissen die Leser und Leserinnen bzw. Zuhörer und Zuhörerinnen verfügen. Dies kann unerwartete Folgen haben: Solche Stellungnahmen können leicht missverstanden, dementsprechend fehlinterpretiert und auch gegen die ursprünglichen Ziele des Autors bzw. der Autorin instrumentalisiert werden. Vor diesem Hintergrund sollen nun anhand von Botz’ Auftritten 2000 und 2004 Verdiens­te und Grenzen von provokanten geschichtspolitischen Stellungnahmen näher betrachtet und in eine breitere Reflexion über Polemik, Empathie und Kompromisslosigkeit in der Geschichtswissenschaft eingebettet werden. 1 Ausruf von Gerhard Botz zwischen zwei Bürotüren des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, April 2009. Für dieses freie Zitieren bitte ich die Leser und Leserinnen sowie vor allem den Ausrufer um Verständnis.

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1. Das Dollfuß-Bild und der ‚kleine Prinz‘ – Polemik als Streitkunst 1.1. Eine geschichtspolitische Satire der zeitgenössischen ÖVP-Politik Mit dem Beginn der Koalitionsregierung zwischen der konservativen ÖVP und der populistischen FPÖ Anfang 2000 erhielt die Debatte um Engelbert Dollfuß erneut Aktualität. Davon zeugen die Eröffnungsworte des damaligen Nationalratspräsidenten Andreas Khol beim Symposium „Österreich 1934. Vorgeschichte – Ereignisse – Wirkungen“, das er zusammen mit dem damaligen Zweiten Nationalratspräsidenten Heinz Fischer am 12. Februar 2004 im österreichischen Nationalrat initiiert hatte: Ich muss an den Regierungswechsel im Jahre 2000 erinnern. Die Versuchung war damals groß, die Analogie zur Zwischenkriegszeit zu ziehen, als zeitweise der so genannte „Bürgerblock“ Österreich regierte. Manche sind dieser Versuchung erlegen. Auch in Zwischenrufen in unserem Hohen Haus, in denen der Bundeskanzler persönlich apostrophiert wurde und ich selbst mit dem Wort „Kholfuß“ begrüßt wurde.2

Von der erneuten Aktualität der Debatte um Dollfuß zeugten aber auch die Protestkundgebungen gegen die schwarz-blaue Regierung im Februar 20003 und darunter insbesondere ein Auftritt des damaligen Vorsitzenden der „Plattform Universität und Demokratie“ Gerhard Botz, der am 19. Februar 2000 im Rahmen einer Demonstration gegen die zwei Wochen zuvor angelobte schwarz-blaue Regierung seine Funktion als Historiker für eine geschichtspolitische Satire nutzte. In einem Vortrag, der später unter dem Titel „‚Gott mit dir, kleiner Prinz‘. Wolfgang Schüssel, Bundeskanzler, erweist sich als wendiger Politiker. Mit Vorbildern“ in der Wiener Stadtzeitung „Falter“ veröffentlicht wurde,4 berichtete er mit dem vorgespielten Ernst des Wissenschaftlers über eine gerade entdeckte Quelle, deren Authentizität, so hieß es im Schlusswort, „noch quellenkritisch geprüft werden“ müsse. Dabei handelte es sich, laut dem Historiker und Provokateur Botz, um die stenografische Abschrift eines Gesprächs am „35. Jänner“ desselben Jahres zwischen dem amtierenden Bundeskanzler Schüssel und dem verstorbenen Bundeskanzler Dollfuß. Um diese erste ironische Pointe nochmals zu schärfen, ließ der Historiker das Gespräch unter dem berüchtigten Dollfuß-Bild in den Räumen des Parlamentsklubs der ÖVP stattfinden und spielte damit subtil auf die bedenkliche Salonfähigkeit dieses Porträts in einem der wichtigsten Repräsentationsräume jener Demokratie an, die Dollfuß selber 1933 ausgeschaltet hatte. 2 Andreas Khol: Einführende Worte, in: Günther Schefbeck (Hg.), Österreich 1934. Vorgeschichte – Ereignisse – Wirkungen, Wien 2004 (Österreich-Archiv), S. 11–16, hier 14. 3 Siehe dazu Herbert Lackner,  Christa Zöchling: Der verdrängte Bürgerkrieg, in: Profil (02.02.2004), S. 14. 4 Gerhard Botz: „Gott mit dir, kleiner Prinz“. Wolfgang Schüssel, Bundeskanzler, erweist sich als wendiger Politiker. Mit Vorbildern, in: Falter (25. 2.–2. 3. 2000), S. 7 f.

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Dieser Text liefert ein Musterbeispiel für die ursprüngliche Bedeutung der Polemik als „Streitkunst“5 und für die Benutzung der Komik als Instrument der offenen Provokation. Spott und Kritik richteten sich in erster Linie gegen die diversen Absichten der Regierung Schüssel, wie zum Beispiel das von Botz so genannte „Wegräumen des Sozialpartnerschaftsschutts“, die „Lösung der Ausländerfrage“ oder die vorgesehenen Sparmaßnahmen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich. Ausgehend von diesen aktuellen Themen wurde aber gleichzeitig auch rhetorisch durch die Inszenierung einer amikalen Gesprächssituation zwischen Dollfuß und Schüssel (Dollfuß duzt ihn und nennt ihn „Wolfgang“ oder „Wolferl“) eine politische Kontinuität zwischen der autoritären Wende unter Dollfuß und den angestrebten Maßnahmen der schwarz-blauen Koalition und eine ideologische Kontinuität zwischen Christlichsozialer Partei und ÖVP aufgedeckt. So lautet der Anfang des von Botz zitierten Stenogramms: ...Wie Du, Kleiner Prinz von Kleinösterreich, die Sozis und die gesamte österreichische Öffentlichkeit seit den Wahlen vom Oktober 99 ausgetrixt [sic] hast, das war ein Meisterstück. Wie ein Hecht im Karpfenteich hast Du Deine Verhandlungsgegner herumgescheucht. Ich habe damals, bei der Ausschaltung des Nationalrates und des Verfassungsgerichtshofs, eigens einen Hecht gebraucht. Alle Achtung auch, wie Du Deine Lektion aus der bisherigen, demokratisch verhunzten Zeitgeschichte gelernt hast!6

1.2. Ein gnadenloses Porträt Engelbert Dollfuß’ als Machtstrategen In diesem Gespräch lobt Dollfuß Schüssels Politik und belehrt ihn über die „Kunst“ des autoritären Regierens. Botz siedelt somit die Satire von Anfang an auf einer doppelten, nämlich gegenwarts- und geschichtspolitischen Ebene an, indem er sowohl die Absichten des neuen als auch die Maßnahmen und Strategien des früheren Bundeskanzlers ironisiert und kritisiert. Wo er Dollfuß ins Visier nimmt, legt Botz nicht nur den Akzent auf seinen Antimarxismus und Antiparlamentarismus, sondern auch auf dessen politisches Kalkül und dessen Machtgier, und liefert somit das Porträt eines listigen, tückischen Strategen. Trotz der zahlreichen Elemente der Komik weiß der Historiker seiner Satire aber zugleich Ernst und Überzeugungskraft zu verschaffen, indem er Dollfuß’ Belehrung durch ständige Anspielungen auf historische Ereignisse und Persönlichkeiten (Miklas, Vaugoin, Starhemberg) an die Realgeschichte anknüpft und den damaligen politischen Jargon in Erinnerung ruft, wie zum Beispiel die berüchtigte Forderung des „Über-Hitlern[s]“.

5 Meyers Konversationslexikon 1890, zit. nach Artur Greive: Comment fonctionne la polémique?, in: Georg Roellenbeck (Hg.), Le discours polémique. Aspects théoriques et interprétations, Tübingen 1985, S. 17–30, hier 17. 6 Botz, „Gott mit dir, kleiner Prinz“, S.  7.

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1.3. Polemik, Wissensvermittlung und politische Bildung Eine rhetorische Stärke dieses Textes besteht in seiner Zugänglichkeit für ein breites Publikum durch das gelungene Gleichgewicht zwischen einerseits spitzfindigen Andeutungen, durch welche Botz seine Imagination genüsslich entfesselt und vor allem einigen Spezialisten und Spezialistinnen zuzwinkert, und andererseits allgemein bekannten Referenzen in einem Stil, der zugleich die Lust an der Sprache und die Seriosität des Historikers vermittelt. Mittels der doppelten, nämlich politischen und historischen Ebene der Satire jongliert Botz zugleich mit zwei Formen der Provokation: mit der Provokation in ihrem üblichen Verständnis als rhetorisches Instrument der Polemik und auf der anderen Seite mit einer Provokation als Impuls der Wissensvermittlung und Triebkraft des Nachdenkens. Polemik und Didaktik gehen hier miteinander einher. Botz’ provozierende Botschaft verfolgt offenkundig ein geschichts- und bildungspolitisches Ziel, nämlich gegenwärtige Ereignisse in einen historischen Rahmen einzubetten, um Geschichtsbewusstsein in den Dienst eines kritischen politischen Bewusstseins zu stellen. Dieses Postulat zählte bereits zu Botz’ früher geschichtspolitischer Einstellung, insbesondere im Hinblick auf das Dollfuß-Schuschnigg-Regime. In diesem Sinne stellte er in einer 1973 veröffentlichten, maßgebenden Analyse des 4. März 1933 und dessen historiografischer Rezeption fest: Die offenkundig gewordene Diskrepanz von wissenschaftlicher Forschung und historischem Bewusstsein der Nicht-Fachhistoriker sollte […] nicht verschleiert, sondern durch eine vielfältige politische Bildung tatsächlich verringert werden, im Interesse der Geschichtswissenschaft wie der Demokratie.7

Im Vergleich zu Botz’ Stellungnahme 2004 löste diese keine besonderen Reaktionen aus. Nichtsdestotrotz stellen zwei Eigenschaften dieses Auftritts, nämlich methodisch die von Botz stringent durchdachte und durchgehaltene Streitkunst als Form der Wissensvermittlung und inhaltlich seine äußerst kritische Einstellung gegenüber Engelbert Dollfuß, einen wichtigen Ausgangspunkt für die kritische Analyse von Botz’ Auftritt im Jahr 2004 dar. In diesem Sinne soll nun anhand der Debatte zwischen ihm und Robert Menasse im Februar 2004 untersucht werden, wie problematisch das Verhältnis von Streitlust und inhaltlicher Botschaft in öffentlich-medialen Auftritten werden kann.

  7 Gerhard Botz: Die Ausschaltung des Nationalrates und die Anfänge der Diktatur Dollfuß’ im Urteil der Geschichtsschreibung von 1933 bis 1973, in: Anton Benya (Hg.), Vierzig Jahre danach. Der 4. März 1933 im Urteil von Zeitgenossen und Historikern, Wien 1973 (Veröffentlichungen des Dr.-Karl-Renner-Institutes), S. 31–59, hier 57 f.

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2. Die „Botz-Menasse-Kontroverse“ – Provokation und deren Grenzen 2.1. Kontext und Chronik der Kontroverse Anlässlich des 70. Jahrestages des Ausbruchs des österreichischen Bürgerkrieges verfasste der für seine polemischen Schriften bereits bekannte Schriftsteller Robert Menasse unter dem Titel „Warum dieser Februar nicht vergehen will“ einen Kommentar für die Tageszeitung „Der Standard“ und gab damit den Ausschlag für eine der bekanntesten geschichtspolitischen Kontroversen der letzten Jahre hinsichtlich der Einschätzung des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes.  In seinem Kommentar wandte sich Menasse gegen die Unzulänglichkeiten der geschichtspolitischen Aufarbeitung dieser Diktatur und entwickelte seine Argumentation rund um zwei Hauptthesen: einerseits die Relevanz und demokratiepolitische Notwendigkeit einer Einordnung des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes unter den Begriff Faschismus; andererseits, und darauf gestützt, die Betonung des problematischen Charakters einer verbreiteten Tendenz zum emotional aufgeladenen und daher meist unreflektierten Verständnis des Geschehenen: Während in der Geschichte Fakten zählen, zählen in der fortwirkenden Geschichte ideologische Entschuldigungen. Solange „Verständnis“ für historische Verbrechen jedes historische Faktum sticht und Verbrechen relativiert, wirkt Geschichte auf trübsinnige Weise nach. Das ist sozusagen der Lackmus-Test, der erkennen lässt, ob eine Gesellschaft aus der Geschichte Konsequenzen gezogen hat oder ob sie lediglich als unbelehrbare Konsequenz der Geschichte einfach „weitermacht“. So gesehen ist Österreich heute immer noch eine trübsinnige (Quasi-)Demokratie.8

Eine Woche später replizierte Gerhard Botz unter dem Motto „Das Dollfuß-Regime verstehen!“ und widersprach beiden Hauptthesen des vorigen Beitrags: Unter Berufung auf die umstrittenen Aspekte der Theorie des Austrofaschismus kritisierte er Menasses ungenauen Umgang mit sogenannten „holzschnittartigen“ Begriffen als „politische Dichtung“9 und durch einen unerwarteten Aufruf zur Empathie für Dollfuß in seinem Schlusswort wandte er sich offen gegen Menasses Kritik an emotionalen Verständnisversuchen.10 Auf Botz’ Replik folgte im „Standard“ eine Reihe von Stellungnahmen, die der Vollständigkeit halber hier nochmals schematisch rekonstruiert wurde:   8 Robert Menasse, Warum dieser Februar nicht vergehen will, in: Der Standard (11. 2. 2004), URL: http://derstandard.at/1567472/12122004–Warum-dieser-Februar-nicht-vergehen-will---Kommentar-von-Robert-Menasse (01.09.2010).  9 Gerhard Botz, Das Dollfuß-Regime verstehen!, in: Der Standard (18. 2. 2004), URL: http://derstandard. at/1572782/18022004–Das-Dollfuss-Regime-verstehen (1. 9. 2010). 10 Volltextzitat weiter unten.

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– Robert Menasse (19. Februar 2004): Wahrhaftig österreichisch! – Gerhard Botz (20. Februar 2004): Drei kleine Antworten – Norbert Leser (20. Februar 2004): Armer Sünder Dollfuß – Christoph Landerer (23. Februar 2004): Dichtung contra Wahrheit – Peter A. Ulram (23. Februar 2004): Die Welt als Wille und Vorurteil – Gerhard Stourzh (25. Februar 2004): Das Zeugnis Rosa Jochmanns – Doron Rabinovici (1. März 2004): Dollfuß-Bild: Die Schönfärber und ihre Zwillingsbrüder.11 Bei der Lektüre dieser Beiträge fällt sofort auf, dass die meisten dem Schriftsteller und NichtHistoriker Menasse den Schwarzen Peter der Unwissenschaftlichkeit und Pauschalierung zuschoben und hingegen die Botz’sche Empathie beinahe unwidersprochen ließen. Allein der Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici versuchte, Botz Anfang März 2004 auf dieser Ebene Paroli zu bieten. Doch das Strohfeuer der Kontroverse war bereits verbrannt und die Debatte seit dem Wogen glättenden Beitrag Gerald Stourzhs am 25. Februar eingeschlafen, so dass Rabinovicis Einwand kaum rezipiert wurde. So sehr Botz seit den 1970er-Jahren für eine „ziselierte“12 Definition von Faschismus in Bezug auf das Dollfuß-Schuschnigg-Regime eingetreten war, so fern blieb er bis zu diesem Zeitpunkt affektiven Stellungnahmen wie der Empathie, die man spontan eher Dollfuß-Anhängern und -Anhängerinnen zuschreiben würde. Vor dem Hintergrund der scharfen Kritik an Engelbert Dollfuß’ Politik in Botz’ Auftritt vom Februar 2000 stellt sich die Frage, was ihn 2004 zu einer derart unerwarteten empathischen Stellungnahme für Dollfuß veranlasste.

2.2. Eine empathische Provokation? Die empathische Stellungnahme im Zentrum dieser Reflexion stammt aus dem Schlusswort von Botz’ Replik „Das Dollfuß-Regime verstehen!“ und lautete: [ J]a ich gehe noch weiter und sage: Der gebückt-servil neben dem „klassischen Helden“ Benito schwitzende Engelbert im Sand von Riccione verdient durchaus Empathie, nicht erst als Sterbender im Bundeskanzleramt. Nur wer diesen von seinen ländlich-autoritären Kindheitskatastrophen geprägten und deformierten Menschen Engelbert Dollfuß historisch versteht, kann auch sein Regime und das, was ich sein österreichspezifisches „Charisma der Kleinheit“ genannt habe, im Gegensatz zu den großen Diktatoren in Italien und Deutschland, erklären.13

11 Alle Beiträge sind online zugänglich, URL: http://derstandard.at/r1246543999319/Nachlese-KontroverseBotz---Menasse (01.09.2010). 12 Botz, Das Dollfuß-Regime verstehen! 13 Ebda.

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Der problematische Charakter dieser Stelle liegt zuerst darin, dass Botz zwei unterschiedliche Betrachtungsebenen vorschnell gleichsetzt: auf der einen Seite eine übliche und meist unabdingbare biografische Herangehensweise, die es erlaubt, sowohl Dollfuß’ Kindheit als auch sein gesellschaftliches Umfeld zur Analyse seiner Ideologie, Politik und Selbstinszenierung heranzuziehen; auf der anderen Seite aber – in Bezug auf Dollfuß’ physische Unterlegenheit gegenüber Mussolini  – die Benutzung des problematischeren, weil oft falsch verstandenen Konzepts der Empathie. Empathie im Sinne von Einfühlung bedeutet zwar nichts anderes als ein Sichhineinversetzen14 in jemandes Lage mit der Absicht, die Gründe und Motivationen für ein bestimmtes Verhalten zu erfassen. Oft wird es aber versehentlich gleichgesetzt mit dessen Pendant, der Sympathie, womit Gefühlsansteckung bzw. Mitleid mit der Bezugsperson gemeint ist. Angesichts Botz’ üblicher Gewissenhaftigkeit im Umgang mit Begriffen und Theorien kann man davon ausgehen, dass er den Begriff der Empathie sehr bewusst wählte. Auch seine legendäre Streitlust lässt stark vermuten, dass er sich damit in erster Linie die (Streit-)Freude gönnte, den Polemos-Helden Menasse mit seinen eigenen Waffen herauszufordern und dessen Argumentation mit einem provokanten, weil unerwarteten Einwand zu destabilisieren. Liegt doch eine Eigenschaft des Polemikers darin, einer bestimmten Ansicht mit möglicherweise auch gewagten Argumenten zu widersprechen, ohne damit einen Konsens anzustreben, darin Neben der Polemik gegen Menasse beabsichtigte Botz mit dieser überraschenden Stellungnahme womöglich auch, die öffentliche Bühne zu nutzen, um – so wie im Februar 2000 – zugleich weitere Leser und Leserinnen zu provozieren und ihr kritisches Potenzial zu reizen. Denn der Begriff Empathie ist eine Falle: Hinterfragt man ihn nicht, könnte man in eine vorschnelle Verwechslung bzw. Gleichsetzung mit seinem Paronym, der Sympathie, tappen und dazu neigen, Botz eine emotionale Geschichtsdeutung zuzuschreiben, die er mit diesem Begriff allein noch nicht ausdrückt. Doch anstelle von kritischen Reaktionen wandten die darauf folgenden Beiträge entweder nichts gegen Botz’ empathische Stellungnahme ein oder übernahmen diese sogar dankbar bzw. bauten darauf rechtfertigende und verharmlosende Aussagen über Dollfuß’ Politik und Ideologie. Somit drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, dass dieser präzis bemessene Stimulus sein Ziel dennoch nicht erreichte und Botz stattdessen über seine eigene Provokation stolperte. Darüber hinaus ist durchaus denkbar, dass Botz seine provokante Empathie auch ernst meinte. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, dass nicht so sehr die Kategorie der Empathie als die Art und Weise, wie sie Botz zu argumentativen Zwecken einbrachte, den problematischen Charakter dieser Stellungnahme ausmacht.

14 Diesen Begriff entnehme ich der Definition von Einfühlung in Hartmut Häcker et al. (Hg.): Dorsch Psychologisches Wörterbuch, Bern 152009, S. 257.

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2.3. Die Falle der Empathie 2.3.1. Empathie als Methode? Spätestens seit dem Ansetzen der Oral History gilt der psychologische Annäherungsprozess der Empathie als anerkanntes wissenschaftliches Hilfsmittel in den Geschichtswissenschaften. Als solche sollte aber Empathie immer nur zum vorsichtigen Aufstellen von Hypothesen über Motivationen und Denkvorgänge der untersuchten Person genutzt werden und keinesfalls zu impulsiven Behauptungen veranlassen. Wird diese Bedingung erfüllt, dann erweist sich ein empathischer Vorgang als durchaus zulässig bzw. zielführend; auch für eine Untersuchung über Dollfuß’ Politik und Ideologie und insbesondere für eine Analyse seines Treffens mit Mussolini in Riccione. Im Falle von Botz’ Stellungnahme aber hat dieser Vorgang einen Haken. Vom Riccione-Treffen sind vor allem die Bildberichte bekannt und davon in erster Linie das zur politischen Ikone verewigte Bild des Strandspaziergangs der beiden lächelnden Staatsmänner, dem großen Mussolini in kurzer Badehose und dem kleinen Dollfuß in Anzug. Entsprechend der oben geforderten notwendigen Vorsicht sollte eine wissenschaftliche Verwendung von Empathie in diesem Fall darin bestehen, ein Sichhineinversetzen in Dollfuß’ Lage zu nutzen, um möglichst viele relevante Hypothesen über seine Gedanken, Motivationen und Gefühle in diesem einzigartigen Augenblick aufzustellen. Dadurch aber, dass Botz von Anfang an Dollfuß nur durch seine im Vergleich zu Mussolini auffallende Kleinheit und sein prüderes Auftreten identifiziert, engt er zugleich das Feld der möglichen Hypothesen ein und lässt de facto keine andere Interpretation zu als die von Dollfuß’ Servilität und Unterlegenheit gegenüber Mussolini. Anders als in dieser üblichen Deutung angenommen, scheint doch diese Szene eine durchaus differenziertere Sprache zu sprechen, berücksichtigt man neben dem Aussehen das weitere, nicht zu unterschätzende Detail von Dollfuß’ Lachen. Zwar könnte man auch dieses als strategisch vorgespielte Entspanntheit deuten, doch wie Botz’ Interpretation würde auch eine solche Erklärung Dollfuß auf eine Art manipulierten Hampelmann reduzieren und sowohl die Verantwortlichkeit, die ihm als Staatsmann zufiel, als auch seine allgemein bekannte politische Nähe zu Mussolini15 unterschätzen. Berücksichtigt man aber diese Elemente, dann sollte man empathisch auch auf eine mögliche Freude oder auf einen möglichen Stolz Dollfuß‘ neben dem charismatischen faschistischen Führer schließen können.

2.3.2. Empathie oder Sympathie? Botz’ vermutliche Provokation ist auch aufgrund eines gewissen rhetorischen Übermuts problematisch. In seinem streitlustigen Elan begnügt sich Botz nämlich nicht mit dem an sich bereits gewagten Begriff Empathie, sondern erwähnt ihn zudem in Zusammenhang mit dem 15 Siehe dazu beispielsweise Wolfgang Maderthaner, Michaela Maier (Hg.): „Der Führer bin ich selbst“. Engelbert Dollfuß–Benito Mussolini, Briefwechsel, Wien 2004.

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Verb „verdienen“, was der Empathie eine gänzlich neue Bedeutung verleiht und Botz’ provokativen Vorgang von Anfang an inhaltlich fragwürdig erscheinen lässt. Denn dadurch deutet er an, dass nicht jedermann der Empathie würdig sei und interpretiert diese als individuelles Zugeständnis bzw. als außergewöhnliche Belohnung für das Erfüllen bestimmter Voraussetzungen. Angewandt auf Dollfuß wirkt es umso fragwürdiger, als die hier angegebenen „Leistungen“ Dollfuß’ seine angebliche Servilität und sein Tod sind. Mit einer als Belohnung präsentierten Empathie wird im Endeffekt bereits Sympathie für Dollfuß angedeutet. Darin liegt der missverständlichste und daher problematischste Charakter von Botz’ Aussage. Empathie oder sogar Sympathie zu empfinden ist eines, diese öffentlich zu bekunden hat gleich eine andere Bedeutung, und vor allem eine unkontrollierbare Wirkung. Als Beispiel für die problematischen Auswirkungen von Botz’ womöglich provokativ gedachter empathischer Stellungnahme kann der gleich darauf erschienene Artikel Norbert Lesers mit dem Titel „Armer Sünder Dollfuß“ genannt werden. Gleich zu Beginn seines Beitrags stellte sich der Politologe in eine Kontinuitätslinie zu Botz’ Empathie, indem er bekräftigte: „Dem Appell von Gerhard Botz, Dollfuß zu verstehen (STANDARD, 18. 2.) und ihn nicht vorschnell zu verurteilen, ist voll beizupflichten.“ Bereits in diesem ersten Satz reduzierte er Botz’ ursprünglichen Aufruf „Das Dollfuß-Regime verstehen!“ auf seine im Schlusswort bekräftigte Empathie gegenüber dem Menschen Dollfuß. Diese Interpretation beweist, wie fließend die Grenzen zwischen Empathie und Sympathie und zwischen kognitivem Verstehen und affektivem Verständnis sind, und wie problematisch daher die Benutzung des Begriffs Empathie trotz aller Vorsicht immer bleibt. Gestützt auf Botz lieferte Leser schlussendlich einen einseitigen Aufruf zur Vergebung für Dollfuß, welches kaum mehr etwas mit einem kognitiven Verstehensversuch gemeinsam hatte – also mit Empathie als einem wissenschaftlichen Annäherungsprozess an Dollfuß –, sondern nur noch mit Sympathie als einem affektiven Verständnis für Dollfuß: Last not least [sic] zur historischen Wertung Dollfuß’: Nach katholischer Tradition sühnt das Martyrium jede vorangegangene Schuld  – sollte man die Wohltat dieser tröstlichen Perspektive sub specie aeternitatis nicht auch dem armen Sünder Dollfuß zugutekommen lassen?16

Christliche Vergebung erscheint hier als die logische Folge des Übergangs von Empathie zur Sympathie. Somit beweist dieses Schlusswort gleichzeitig, inwieweit Empathie und affektives Verständnis zum Versagen einer sachlich-kritischen Geschichtswissenschaft beitragen können. Auch wenn die folgenden Beteiligten an der Botz-Menasse-Kontroverse wesentlich nuancierter als Norbert Leser argumentierten, eine Kontinuität mit Lesers und mit Botz’ Beitrag lässt sich zweifelsohne in den verbreiteten Bemühungen um mehr Verständnis erkennen. 16 Norbert Leser: Armer Sünder Dollfuß. Ein Plädoyer für „mildernde Umstände“ von Norbert Leser, in: Der Standard (20. 2. 2004), URL: http://derstandard.at/1575541/20022004–Armer-Suender-Dollfuss (8. 6. 2011).

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An sich ist diese Bemühung noch nicht problematisch, bildet ja das Prinzip des „VerstehenWollen“ einen zentralen Bestandteil des geschichtswissenschaftlichen Mission-Statements. In diesem Sinne kann man auch Ernst Hanisch zustimmen, der im Juli 2004, zurückgreifend auf die Botz-Menasse-Kontroverse, zu bedenken gab: „Verstehen“ und „erklären“ heißt eben nicht „entschuldigen“. Engelbert Dollfuß trug als Bundeskanzler die Hauptverantwortung für die Zerstörung der Demokratie in Österreich. Das sollte unbestritten sein. Aber um das zu verstehen, müssen wir Erklärungen finden, die nur im historischen Kontext der 1930er-Jahre liegen können: der schwersten ökonomischen Krise der kapitalistischen Industriegesellschaft seit ihrem Bestehen und der Krise der liberalen Demokratie fast überall in Europa.17

Problematisch wird es aber, wenn das Prinzip „Verstehen-Wollen“ verkürzenden Geschichtsdeutungen dient, wie im Falle der öffentlich-medialen Stellungnahme des Zeithistorikers Kurt Bauer anlässlich des 75. Gedenktags von Dollfuß’ Tod. Bauer, der im wissenschaftlichen Kontext für sachlich-kritische Analysen des Dollfuß-Regimes bekannt ist – man denke z.B. an sein Werk „Elementereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934“ (2003) –, veröffentlichte im „Standard“ vom 25. Juli 2009 einen Kommentar mit dem Titel „Dollfuß verstehen“ und kam darin gemäß dem Botz’schen empathischen Motto zum Schluss : „Dollfuß – so ein selbst nach 75 Jahren vorläufiges Resümee – war kein Böser, vielleicht ein Schlechter, vermutlich nur ein Mittelmäßiger. Der falsche Mann am falschen Ort zur falschen Zeit.“18 Im Unterschied zu Botz griff er damit sogar auf die Kategorien von Gut und Böse zurück, die zwar die christliche Moral stark prägen, aus ebendiesem Grund aber in der Geschichtswissenschaft und deren Vermittlung in der medialen Öffentlichkeit keinen Platz haben sollten. Bereits der Moralkritiker und gleichzeitig vermutlich größte Provokateur und Polemiker der Intellektuellengeschichte, Friedrich Nietzsche, betonte, dass sich kritisches und aufgeklärtes Denken nur „jenseits von Gut und Böse“ situieren könne. So ähnlich wie Botz vier Jahre früher mag Bauer wohl mit seiner empathischen Stellungnahme die politisch eher „links“ kategorisierte Leserschaft des „Standard“ provoziert haben wollen. Aber so ähnlich wie Botz stolperte auch er über seine Provokation. Denn indem er die entscheidendste Aussage seines Kommentars auf unkritische Moralvorstellungen stützte, entzog er seiner These jede wissenschaftliche Glaubwürdigkeit und seinem Kommentar den entscheidenden Stimulus zu einem kritischen Nachdenken.

17 Ernst Hanisch: Jung und besessen, in: Die Presse (17. 7. 2004), URL: http://diepresse.com/home/diverse/zeichen/191249/Jung-und-besessen?from=suche.intern.portal (1. 9. 2010). 18 Kurt Bauer: Dollfuß verstehen. Der Ständestaatskanzler und die Irrtümer der Sozialdemokratie, in: Der Standard (25. 7. 2009), S. 34, URL: http://derstandard.at/1246542993389/25072009–Dollfuss-verstehen (8. 6. 2011).

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3. Die Tücke im empathischen Detail und das Gebot der Kompromisslosigkeit In seinem Schlusswort zum Parlamentssymposium im Februar 2004 äußerte Heinz Fischer die Hoffnung, dass „die Historiker  – obwohl ihre Aufgabe natürlich die Geschichtswissenschaft ist – in ihre Betrachtungen, gerade wenn das Erdreich aufgelockert ist, verstärkt auch noch menschliche Komponenten einbeziehen“.19 Wie gefährlich eine vorschnelle Interpretation dieser „Vermenschlichung“ der Geschichtswissenschaft sein kann, haben die zuletzt analysierten „humanen“ Versuche, Dollfuß zu verstehen, gezeigt. Mit ihren Darstellungen eines gebückt servilen Hampelmanns, Verfolgten des Schicksals, armen Sünders oder mittelmäßigen Lückenbüßers propagierten (und popularisierten) die genannten Wissenschaftler eine nicht nur verständnisvolle, sondern auch verharmlosende Darstellung Engelbert Dollfuß’. Alle mögen in ihren wissenschaftlichen Werken nuancierter argumentieren, Botz und Bauer mögen sogar in den untersuchten Fällen die Freiheiten der journalistischen Rhetorik zwecks Provokation genutzt haben wollen, dies ändert aber nichts daran, dass Zeithistoriker und Zeithistorikerinnen trotz der zeitlichen Nähe und der eventuellen gegenwärtigen Auswirkungen ihres Untersuchungsobjekts eben keine Journalisten und Journalistinnen sind. Demzufolge drängt sich der Schluss auf, dass einseitige, provokante Stellungnahmen im öffentlichen Diskurs ein genaues Bemessen deren möglicher Konsequenzen voraussetzen und trotz des medialen Kontexts den wissenschaftlichen Anspruch der kritischen Aufklärung gegen jede Art von Verkürzungen und Vereinfachungen als oberste Priorität setzen sollten. Nur durch ein strikt eingehaltenes Gleichgewicht zwischen Provokation und inhaltlicher Botschaft können Historiker und Historikerinnen jener geschichts- und demokratiepolitischen Verantwortlichkeit gerecht werden, auf die Botz 2008 abermals aufmerksam machte: „Mehr als anderen historischen Disziplinen kommt der zeitgeschichtlichen Wissenschaft eine eminente Bedeutung für die staatsbürgerliche Erziehung zu‘.“20 Eine solche Selbstdisziplin scheint anlässlich von Gedenkjahren umso mehr geboten zu sein, als diese oft genug der Re-Aktualisierung von latenten Mythen dienen und daher auch unbedingt für deren kritische Dekonstruktion genutzt werden sollten. Bedenkt man aber, dass die Hartnäckigkeit solcher Mythen in Bezug auf das Dollfuß-Schuschnigg-Regime den Rahmen von Gedenkjahren sprengt, dann drängt sich die Feststellung auf, dass alle Arten der Auseinandersetzung mit diesem  – wie Botz 2008 betonte  – heute weithin „unterbelichtet[en]“ Forschungsfeld der österreichischen Zeitgeschichte21 Vorsicht gegenüber leicht instrumentalisierbaren Aussagen und Kompromisslosigkeit gegen verharmlosende Erklärungsmuster erfordern. 19 Heinz Fischer: Schlusswort, in: Schefbeck (Hg.), Österreich 1934, S. 109–110, hier 109. 20 Botz, Die Ausschaltung des Nationalrates, S. 57 f. Botz zitiert hier den SPÖ-nahen Historiker Rudolf Neck. 21 Gerhard Botz: Nachhall und Modifikationen (1994–2007): Rückblick auf die Waldheim-Kontroversen und deren Folgen, in: ders., Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt a. M. ²2008 (Studien zur historischen Sozialwissenschaft, 13), S. 574–635, hier 621.

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Vor diesem Hintergrund erscheint in Bezug auf Botz folgende Präzisierung notwendig: So problematisch seine empathische Stellungnahme im Februar 2004 im Hinblick auf dessen unmittelbare Wirkung auch sein mag, langfristig vermag sie die Verdienste seiner kritischen, oft kompromisslosen Auseinandersetzungen mit der österreichischen Zeitgeschichte und insbesondere mit der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur auf keinen Fall zu beeinträchtigen. Wie Provokation erzeugt aber auch eine solche Kompromisslosigkeit Widerspruch. Sie gerät rasch ins Visier jener Historiker und Historikerinnen, die sachlich-kritische Hinterfragungen als ideologische Geschichtsdeutungen abstempeln, um hinter dem Aushängeschild einer unparteiischen Geschichtswissenschaft faktenwidrige Interpretationen weiter zu tradieren. Davon zeugt jenes „Anti-Botz-Manifest“, das der Historiker Ulfried Burz 2008 unter dem Titel „Von der Tücke im Detail“ veröffentlichte, und zwar nicht von ungefähr als Beitrag zur Festschrift für den „liberalen wertkonservativen“22 Zeithistoriker Robert Kriechbaumer. Darin kanzelte er unter anderem Botz’ öffentliche Auftritte als politische Profilierungsversuche23 und seine kategorische Ablehnung der Theorie der geteilten Schuld am Demokratiezusammenbruch der 1930er-Jahre als Parteilichkeit ab.24 Vor dem Hintergrund solcher Attacken erscheinen unmissverständliche, klare Positionierungen umso mehr als eine der entscheidendsten geschichtspolitischen Gebote und Zukunftsmaximen einer Geschichtswissenschaft, die durch Öffentlichkeitswirksamkeit kontinuierlich ein kritisches Nachdenken provozieren sollte, ohne in die Falle der Vereinfachung und der Boulevardisierung zu tappen.

4. Fazit Dieser Beitrag entsprang dem Versuch, die Diskrepanz zwischen Botz’ satirischer Einlassung auf die autoritären Kontinuitäten zwischen Dollfuß und Schüssel 2000 und seiner Forderung nach Empathie gegenüber Dollfuß vier Jahre später zu verstehen. Nachdem beide Stellungnahmen mit der legendären Streitkunst des Autors in Verbindung gesetzt wurden, wurden vor diesem Hintergrund problematische Aspekte von Botz’ provokanter empathischer Stellungnahme näher beleuchtet. Die Antworten auf Botz’ Empathieforderung im Rahmen der Botz-Menasse-Kontroverse 2004 zeigen nämlich, dass empathische Versuche des Verstehens, auch wenn sie vielleicht nur provokant vorgebracht werden, immer die Gefahr eines Verfallens in Sympathie und in affektive oder sogar religiöse Verharmlosung und Rechtfertigung bergen. 22 Dem Politiker und Zeithistoriker Franz Schausberger zufolge Kriechbaumers Eigendefinition. Siehe dazu Franz Schausberger: Robert Kriechbaumer. Der Historiker als „Pförtner“ zu neuen Themen, in: ders., Robert Kriechbaumer (Hg.), Geschichte und Identität. Festschrift für Robert Kriechbaumer zum 60. Geburtstag, Wien 2008 (Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-Historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, 35), S. 11–18, hier 13. 23 Ulfried Burz: Von der Tücke im Detail, in: ebda., S. 281–295, hier 281. 24 Burz, Tücke, S. 283.

Ein Aufklärer Gerhard Botz verstehen! Botz –alsADemagoge „Non-Agenarian“?

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Die Tatsache, dass seine provokante Empathie zugunsten eindeutig sympathisierender Plädoyers für Dollfuss genutzt wurde, überschritt bestimmt Botz’ ursprüngliche Intention. Inwieweit Empathie und Provokation tatsächlich Teil seiner Absichten waren, konnte im Rahmen dieses Beitrags aber nicht endgültig geklärt werden. Angesichts des ausgewählten Titels „Botz verstehen!“ mag dieser offene Schluss enttäuschen. Er zeigt jedoch abermals die Begrenztheit des empathischen Hineinversetzens, auch in seiner Anwendung auf Botz selbst. Rechtfertigen möchte ich diesen vorsichtigen Schluss etwas ironisch als ein sympathisierendes Zugeständnis an den streitlustigen Protagonisten dieses Beitrags, der bis hier nur wehrlos lesen konnte, auf dessen Aufschrei, Erklärungen, Einwände und Kritik ich mich aber bereits freue. Au plaisir!

Mercedes Vilanova

Laudatio auf Gerhard Botz

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Zunächst einmal möchte ich mich dafür bedanken, mit Ihnen zusammen dieses so bewegende Ereignis feiern zu dürfen. Meine Erfahrung mit mündlichen Quellen hat mir die Aussagekraft individueller Lebensverläufe für die Erschließung von Vergangenheit gezeigt. Als ich mich aber dem Historiker und der Person Professor Botz’ näherte, wurde ich von seinem Werk überwältigt, verstärkt es doch die Wirkung dessen, was Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus in uns ausgelöst haben und immer noch auslösen. Ich werde es mit einer Metapher versuchen. Gestern im Flugzeug nach Wien hatte ich das Gefühl, als ob ich mich einem riesigen Wald nähern würde. Und ich freute mich darauf, diesen zu erforschen und meinen Aufenthalt dort zu genießen. Der Wald bestand aus verschiedenen Baumarten, wobei jede Baumart in ihrer Einzigartigkeit eine Nachbildung der Veröffentlichungen Gerhard Botz‘ darstellte. In diesem Traum während meines Fluges über die Pyrenäen und Alpen tauchten vor mir, als ich so durch den Wald lief, plötzlich Wege in dem historiografischen Laubwerk auf. Diese Wege führten mich und alle aufmerksamen und einfühlsamen Leser zu einer wunderschönen Oase, einer Oase, die von Experten „Gedächtnis“ genannt wird. Selbstverständlich meine ich mit „Gedächtnis“ das persönliche, unübertragbare, gegenwärtige und lebendige Gedächtnis. Die Bibliografie, verkörpert durch den Wald, der mich an die Oase geführt hatte, hatte sich nun plötzlich in eine Wüste verwandelt, in der nur die Gelehrten verkehrten. Die heute hier Versammelten dagegen hatten das Privileg, an einigen der Geheimnisse des großen Meisters Botz teilhaben zu dürfen. In dem heutigen Beitrag möchte ich mein Augenmerk vor allem auf die Bedeutung von mündlichen Quellen legen, da mich dieser Punkt – neben anderen – am meisten mit Gerhard Botz sowie mit einigen seiner Schüler – wie Michael Pollak – verbindet. Der Schlüssel für Gerhard Botz’ Werk liegt meiner Meinung nach darin, dass er es in seinen Deutungen der Nachkriegsgesellschaft nicht zugelassen hat, ihre in der Kriegserfahrung verankerten Wurzeln außer Acht zu lassen. Sein Mut bestand darin, diese Wurzeln aufzuspüren und sie bis an die Grenzen der analytischen Möglichkeiten zu begreifen und in all ihren Schattierungen zu erfassen. Dies sollte sein ganzes Leben in Anspruch nehmen, und selbst heute noch sind es historische Fakten, die in ihm eine bleibende Unruhe auslösen. Gerhard Botz ist eben ein Rebell. Daher auch seine unzähligen Veröffentlichungen über Faschismus, Widerstand und Überleben, die ein kohärentes Monumentalkorpus darstellen, zu dessen Anerkennung, Feier und Würdigung wir uns heute – neben der seiner universitären Laufbahn – in diesem Festakt zusammengefunden haben. 1 Diese Rede wurde von Mercedes Vilanova im Rahmen eines ‚Sommerfestes‘ anlässlich der Emeritierung von Gerhard Botz am 26. Juni 2009 an der Universität Wien gehalten.

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Mercedes Vilanova

Sein geschichtswissenschaftliches Werk steht auf soliden Grundlagen. Diese Grundlagen sind eben jene Wege, die uns zum Herzen des vorher schon erwähnten Waldes führten. Der erste Weg geleitet uns zur Lektüre, Analyse und Interpretation von Texten und Dokumenten, dem Ausgangspunkt für die Botz’schen Neuinterpretationen. Denn er wiederholt nichts, noch kommentiert er bereits Bekanntes. Nein, er schafft stets etwas Neues. Er verwendet auch etwa Statistiken, was ihm ermöglicht, Menschenlandschaften zu beschreiben, ihre Proportionen zu bestimmen oder, anders gesagt, das zu erfassen, was wir Mehrheiten, Minderheiten und die jeder Gesellschaft eigenen Besonderheiten nennen, mit deren Hilfe wir verstehen, in welche Welt wir geboren wurden. Ebenso ist er ein geschickter Erschaffer mündlicher Quellen und ohne Zweifel einer der größten der Oral History. Ein Pionier, der Seite an Seite mit einer Gruppe kämpfte, die sich selbst „Internationales Komitee für Oral History“ nannte, und zwar zu einer Zeit, als einige dachten, sie würden eine Geschichte leiten, die alternativ sein wollte, die ich allerdings ganz einfach als eine Geschichte ohne Adjektive begreifen möchte, nicht als Sozial-, Frauen- oder Politikgeschichte, sondern die ich einfach „Geschichte mit mündlichen Quellen“ nenne. Dieser Kampf ist schon viele Jahre her, und ich möchte hier auch nicht näher auf ihn eingehen, würde Sie das Aufzählen der vielen Daten, Schlachten und Akteure doch nur langweilen. Nein, was ich hingegen möchte, ist, mich anzunähern: zusammen mit Ihnen der Oase im Herzen Gerhard Botz’ näher kommen. Ich möchte Ihnen den Schatz seines Gedächtnisses enthüllen, den er in seinen letzten Publikationen zu erzählen begann. Dabei hatte ich das große Glück, ihn aus seinem eigenen Mund zu hören, als wir vor nicht allzu langer Zeit nach einer Besprechung zu einem Projekt über die Überlebenden von Mauthausen – das Botz leitet und an dem ich das Privileg habe teilzuhaben – gemeinsam durch Lissabon spazierten. Diese in den Tiefen seiner Vergangenheit vergrabene Oase enthält schon die ganze Intensität und Intentionalität seines späteren schriftlichen Werkes und historiografischen Engagements und zeigt seine Brillanz in einem Thema, das tief in seinem Wesen verankert ist. Ich meine damit das Thema der Schuld – verbunden mit dem des Traumas – des Zweiten Weltkrieges. Auch wenn er genau weiß, dass er nicht zu der Generation gehört, auf die „der Verdacht einer unmittelbaren Schuldverstrickung” fällt, wollte er dennoch die schwer auf den Schultern der Nachkommen liegende „Last der Vergangenheit” geschichtswissenschaftlich aufarbeiten. Obwohl er sich meines Erachtens noch bis heute unschlüssig darüber ist, was denn nun darunter genau zu verstehen sei. Denn nicht nur die Österreicher und Deutschen, auch wir Spanier sind in gewisser Hinsicht Kinder von Tätern oder von Opfern. Und manchmal sind die Grenzen zwischen ihnen nicht so scharf zu ziehen, wie es ideologisch oder politisch gefärbte Interpretationen a priori behaupten mögen. Wie so viele andere Kinder war auch Botz ein „vaterloser“ Sohn. Und als er mit über 60 Jahren herauszufinden versuchte, wie denn nun sein Vater, den er ja kaum gekannt hatte, eigentlich war, fand er nur Bilder und Erinnerungen, von denen er nicht einmal weiß, ob diese wahr oder erfunden sind, ob es sich um brauchbare Erinnerungen oder reine Fantasien handelt, die sich

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mit Fotografien und den ein ums andere Mal von der Mutter und anderen Familienangehörigen wiederholten Worten vermischt haben. Er weiß nicht, ob die Erinnerungen authentisch sind. Durch sie haben sich jedoch in ihm Gefühle herauskristallisiert: ein leicht bitterer Nachgeschmack und gleichzeitig das Gefühl einer Bewunderung für diesen jungen idealisierten Mann, der ihn als Kind unter Obstbäumen in die Arme genommen hatte. Wirklich interessant, und ich würde sagen „entscheidend“, ist allerdings das Bild in der Erinnerung Gerhard Botz’ vom Vater, der als Soldat der Wehrmacht an der Front starb. Hierbei erkennt Gerhard meines Erachtens allerdings nicht an, dass die eigentliche Botschaft seiner Erinnerungen der Tod des Vaters ist. Und aus diesem Grund glaubt er vielleicht auch, wenn er sich daran erinnert, dass das Transzendentale dieser Szene der Überbringung der Todesnachricht, die er ‚live‘ miterlebt und niemals vergessen hat, eben nicht die Nachricht vom Tod seines Vaters an sich war, sondern vielmehr die Reaktion seiner Mutter, die in Tränen ausbrach, als sie vom Tod ihres Mannes erfuhr; wohingegen er – mit seinen drei Jahren – ganz in das Spiel mit seinem Freund vertieft war. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass Gerhard Botz schon damals wusste, dass sein Spielen niemals mehr dasselbe sein würde, da er selbst nicht mehr derselbe war. Auch die Welt, die ihn umgab, war es nicht mehr. Diese Welt, die er durch die partielle Rekonstruktion der väterlichen Biografie zu erschließen versuchte. Die US-Schriftstellerin Joan Didion drückt sehr gut aus, welche Bedeutung Ereignisse solchen Kalibers haben können, wenn sie in „The Year of Magical Thinking“ schreibt: „Life changes fast. Life changes in the instant. You sit down to dinner and life as you know it ends.“2 Didion hat das erlebt. Ihr Ehemann starb an einem Herzinfarkt, als sie in New York zu Abend aßen. Für Gerhard ist dieser Moment – „when life as you know it ends“ – derjenige, als er erfuhr, dass sein Vater Anton Botz – wahrscheinlich durch eine Kugel – an der Front gestorben war. Als er mir vor einigen Monaten in Mexiko das Buch schenkte, in dem er von dieser Erfahrung berichtet, wusste ich noch nicht, dass ich Ihnen heute von diesem historiografischen Schmuckstück erzählen würde, das sein Leben zusammenfasst und – da es die wichtigsten Züge seiner professionellen Arbeit aufzeigt – gleichzeitig auch seinen Beruf als Geschichtswissenschaftler beleuchtet. Ebenso wenig wusste ich, dass ich von seiner Beharrlichkeit erzählen würde, die er beim Erkennen von Selbsttäuschungen gegenüber der eigenen Biografie an den Tag legte, ohne diesen auszuweichen, dem Sich-Verabschieden von dem, was er für eine Identität hielt, um sich dem Ungewohnten zu öffnen, sich neu zu entdecken und das alles mit uns zu teilen. Und wie Sie ja nur zu gut wissen, gibt es nichts Unvorhersehbareres als die eigene Vergangenheit. Trotzdem kommen uns beim bloßen Erzählen die Erinnerungen unter, oder zumindest das, was wir für Erinnerungen halten. Dann gehen wir den umgekehrten Weg, jenen zurück zum Ausgangspunkt: Und diesem Weg hat sich – glücklicherweise – in letzter Zeit Gerhard Botz gewidmet. 2 Joan Didion: The Year of Magical Thinking, London 2005.

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Das Bild vom Ausgangspunkt einer langen Reise sowie die Bedeutung, die ihm Botz beimisst, machen seine Erfahrung zu einer Initiationserfahrung, ist sie ihm doch – seit er angefangen hat, politisch zu denken – ein ständiger Begleiter. Selbst als er noch ein Kind war und Krieg zu spielen versuchte, wusste er – so wie es ihm seine Mutter und Großmutter auch immer aufs Neue vorsagten: „Krieg ist schlecht, Politik ist schlecht.“ Und aus diesem Grund machte er sich, sobald es ihm möglich war, das Verhindern von Gewalt, faschistischer Politik und Kriegselend zur Lebens- und zur beruflichen Aufgabe. Sich erinnern bedeutet: in eigenen und fremden Gedächtnisräumen zu reisen. Und auf diesem von ihm selbst gebahnten Weg nimmt er sich schriftliche – aber eben auch mündliche – Quellen zur Hilfe, zusammen mit seinem angesammelten zeitgeschichtlichen Wissen und mit den Gesprächen mit seinen Studenten. Aber überzeugen Sie sich selbst davon, ob diese Reise durch das eigene Leben, die er erst 60 Jahre nach jenem entscheidenden und immer gegenwärtigen Erlebnis in Angriff nehmen konnte, als transzendentaler Ausgangspunkt für die Entwicklung seines eigenen Wesens gelten kann. Durch seinen Einsatz wird uns eine neue Interpretation der Geschichte – und seiner Geschichte – geboten. Gerhard Botz deckt Klischees auf und hilft uns, sie zu interpretieren. Und dies nicht zuletzt mithilfe von mündlichen Quellen. Hier ein paar Beispiele: Gerhard Botz bricht Tabus, entmythifiziert die Vergangenheit und schafft es, dass wir uns dem Erlebten persönlich nähern, was wohl am schwierigsten ist, uns aber auch am meisten interessiert. Diese Vorgehensweise erlaubt es ihm, sich Gefühlen anzunähern und Geschichte menschlicher werden zu lassen. Gerhard Botz zeigt aber auch Schwerpunkte einer vaterlosen Generation auf, ein Thema, das ihn immer beschäftigt hat und das unter anderem die folgenden Phänomene erklären kann: Der unausgesprochene „Schweigepakt“ in den Familien verhinderte, dass die mögliche Verstrickung der eigenen Eltern in die Schrecken des Krieges und seiner Zerstörungspolitik untersucht wurde. „Diese Schrecken”, sagt Botz, „haben die meisten Leute meines Alters durch Filme kennen gelernt.” Ich könnte hier eine ähnliche Erfahrung zur Untermauerung dieser These beisteuern, denn auch meine Generation wurde in der gleichen Zeitspanne von Nachrichten über die Franquisten, die ähnliche Taten schilderten, heimgesucht. Ebenso entsetzt waren wohl auch Afroamerikaner, als sie durch Filme erfuhren, dass ihre Großväter Sklaven waren. In dieser Hinsicht haben Bilder manchmal länger Bestand als Worte. Und deswegen ist das persönliche Gedächtnis, das ja wie ein Foto-Archiv funktioniert, auch der einzige – erlauben Sie mir den Ausdruck – heilige Ort dieser Erde. Trotz seines einzigartigen und engagierten historiografischen Beitrages ist Professor Gerhard Botz für mich vor allem eins: ein enger Freund. Er ist der junge, leidenschaftliche Mann, der in seinem Herzen eine Oase trägt. Er ist der ungewöhnliche Schriftsteller und zugleich der Wissenschaftler. Und er ist der Akademiker, der nicht vor Auseinandersetzungen mit der akademischen Bürokratie, die uns immer wieder zu behindern sucht, zurückschreckt.

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Auf Spanisch – und damit komme ich nun auch zum Abschluss – ist das Wort für Pensio­ nierung – jubilación – ein Synonym für Freude. Und so möchte ich Gerhard auch voller Freude, Bewunderung und Respekt für seinen beruflichen und privaten Lebensweg beglückwünschen und mit ihm zusammen diejenigen, die wir das Privileg haben, ihn heute begleiten zu dürfen.

Foto: H. Chr. Ehalt

Hubert Christian Ehalt

Bildessay über Gerhard Botz Die Fotofolge über Gerhard Botz ist Teil meines Projektes, wichtige intellektuelle Menschen aus Wien beim Sprechen über ihre Arbeit zu fotografieren. Als Historiker möchte ich wenigstens in einigen Punkten festhalten, was ich an meinem Freund und Kollegen Gerhard Botz besonders schätze. Ich möchte Originalität und Kreati- Foto: H. Chr. Ehalt vität seiner Arbeit auf drei Qualitäten fokussieren. Es sind das • erstens seine strukturierende, methodisch immer am aktuellsten Stand befindliche theoretische Arbeit am Geschichtsbegriff, an seinen Dimensionen und den jeweils aktuellen Anforderungen an die Methode; • dann ist es zweitens seine aktiv betriebene internationale Vernetzungsarbeit, die er mit seinen summer schools, mit seinen Gastprofessuren und seinen Kursen zur qualitativen und quantitativen Dimension des historischen Geschehens vorangetrieben hat; • drittens schließlich war Botz immer offen für eine intermediale Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Kunst, insbesondere in Richtung der Arbeit mit den Medien Film und Fotografie. Seiner knappen Selbstbeschreibung als „Kreativer Spontanist“ möchte ich uneingeschränkt zustimmen. Vielleicht gehört hierher auch Äußerliches: Bis zu seinen Forschungsaufenthalten in England trug Botz immer Krawatte  – die Autorenfotos aus früheren Büchern bestätigen das. Dann kam eine Übergangszeit mit Jacken und Jeans, in der die Krawatten seltener wurden; seit dem letzten Paris-Aufenthalt im Wintersemester 2001/02 kommen sie kaum noch vor. Als Wiener Wissens- und Wissenschaftsförderer habe ich Gerhard Botz gefragt, was er an Wien schätzt, und ich darf ihn zitieren: • „Erstens die kleine Weltstadt, die etwas Überösterreichisches hat, das gefällt dem Oberösterreicher.“ • „Zweitens: Sie ist klein genug, um in den sozialen Feldern überschaubar zu sein.“ • Drittens fasziniert ihn die alte Kaiserstadt mit ihren sich überschneidenden und überzeichneten Narrativen. • „Viertens: Für den Wissenschafter, der sich als Citoyen in aktuelle Diskussionen einmischt, ist wichtig, dass Wien der Fokus der österreichischen Politik ist.“ • Und fünftens schätzt Botz das „südliche Ambiente der Stadt mit ihren Weingärten“. Ich stimme seinem Befund gerne zu und werde mein Möglichstes dafür tun, die Voraussetzungen für die konstatierten Faktizitäten zu bewahren. Ich freue mich darüber, dass die Wirksamkeit von Gerhard Botz bei der Gestaltung aktueller Verhandlungen über Geschichte und Politik groß ist.

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Abbildungen: Fotos von H. Chr. Ehalt

Hubert Christian Ehalt

Bildessay über Gerhard Botz

Abbildungen: Fotos von H. Chr. Ehalt

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Bibliografie von Gerhard Botz (bis 2010, Auswahl) (siehe auch: http://www.lbihs.at/botz/biblio.htm)

Bücher Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, überarb. u. erw. Neuaufl., Wien 2008, 734 S. (mit Hubert Christian Ehalt, Eric J. Hobsbawm, Jürgen Kocka u. Ernst Wangermann) : Geschichte: Möglichkeit für Erkenntnis und Gestaltung der Welt, Wien 2008, 79 S. Krisenzonen einer Demokratie. Gewalt, Streik und Konfliktunterdrückung in Österreich seit 1918, Frankfurt a. M. / New York 1987, 392 S. Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918–1938, erw. Neuaufl., München, 1983, 460 S. Wien vom „Anschluß“ zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politischsoziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, Wien / München 1978, 646 S.; 3., veränd. Aufl. u.d.T. Nationalsozialismus in Wien, Buchloe 1988, 592 S. Der 13. März 38 und die Anschlußbewegung. Selbstaufgabe, Okkupation und Selbstfindung Österreichs 1918–1945, Wien 1978; 2. Aufl. 1981, 40 S. (mit Gerfried Brandstetter u. Michael Pollak) Im Schatten der Arbeiterbewegung. Zur Geschichte des Anarchismus in Österreich und Deutschland, Wien 1977, XVI u. 190 S. Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1934, München 1976, 358 S. Wohnungspolitik und Judendeportation in Wien 1938 bis 1945. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien / Salzburg 1975, 200 S. Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938–1940), Wien 1972, 192 S. 3., erg. Aufl. 1988, 194 S.

Herausgegebene Bücher (mit Gerald Sprengnagel) Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, mit einem Nachw. von Gerhard Botz und einem erw. Dokumentenanh., 2. erw. Aufl., Frankfurt a.M. / New York 2008, 685 S. Alfred Bader: Chemie, Glaube und Kunst. Fundamente meines Lebens, Wien / Köln / Weimar. 2008, 199 S. Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005, 162 S.; 2. erw. Auflage 2007, 166 S.

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Bibliografie von Gerhard Botz

(mit Doris Sottopietra) Hans Mühlbacher: Zwischen Technik und Musik. Ohne „Ariernachweis“ in der Raketenforschung des Dritten Reiches, Wien 2003, 189 S. (mit Heinrich Berger u. Edith Saurer) Otto Leichter: Briefe ohne Antwort. Aufzeichnungen aus dem Pariser Exil für Käthe Leichter 1938–1939, Wien u.a. 2003, 347 S. (mit Gerald Sprengnagel) Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt a. M. / New York 1994, 586 S. (mit Ivar Oxaal u. Michael Pollak) Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1989, 427 S.; 2., neu bearb. u. erw. Aufl. (auch mit Nina Scholz), Wien 2002, 447 S. (mit Christian Fleck, Albert Müller u. Manfred Thaller) „Qualität und Quantität“. Zur Praxis der Methoden der historischen Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. / New York 1988, 366 S. (mit Ivar Oxaal u. Michael Pollak) Jews, Antisemitism and Culture in Vienna, London 1987, 300 S.  (mit Karl R. Stadler u. Josef Weidenholzer) Perspektiven und Tendenzen in der Sozialpolitik. Oswald Martinek zum 60. Geburtstag, Wien /München / Salzburg  1984, 278 S. (mit Josef Weidenholzer, unter Mitarbeit von Ferdinand Karlhofer) Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte „geschichtsloser“ Sozialgruppen, Wien / Köln 1984, XII und 438 S. Margareta Glas-Larsson: Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz, hg. u. kommentiert v. Gerhard Botz unter Mitarbeit von Anton Pleimer u. Harald Wildfellner, Wien et al. 1981, 272 S. (amerik. Übers.: Margareta GlasLarsson: I Want to Speak. The Tragedy and Banality of Survival in Terezin and Auschwitz, Riverside, CA 1990, 268 S.). (als assistant editor et al., hg. v. Stein U. Larsen, Bernt Hagtvet u. Jan Petter Myklebust) Who Were the Fascists? Social Roots of European Fascism, Bergen et al., 1980, 816 S. (it. Übers.: I fascisti. Le radici e le cause di un fenomeno europeo. Ed. ital. a cura di Marco Tarchi, Firenze 1996, 914 S.). (als Bearbeiter, mit Hans Schafranek) Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung („XIV. Linzer Konferenz“). Linz 1978. Die Frau in der Arbeiterbewegung 1900– 1939, Wien 1980, XIV u. 843 S. (mit Hans Hautmann, Helmut Konrad u. Josef Weidenholzer) Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung. Wien et al. 1978, 841 S. (als Bearbeiter) Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung („X. Linzer Konferenz“). Linz 1974. Arbeiterbewegung und Faschismus. Der 12. Februar 1934 in Österreich, Wien 1976, 466 S. (mit Hans Hautmann u. Helmut Konrad) Geschichte und Gesellschaft. Festschrift für Karl R. Stadler zum 60. Geburtstag, Wien 1974, 582 S.

Bibliografie von Gerhard Botz

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Herausgegebene Buchreihen (mit Thomas Lindenberger, Edith Saurer u. Berthold Unfried) Wiener Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 1 ff., Wien / Berlin 2010 ff. [bisher 2 Bde.] (mit Heinrich Berger, Stefan Karner, Helmut Konrad, Siegfried Mattl, Barbara Stelzl-Marx und Andrea Strutz) Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, Bd. 1 ff., Wien u.a. 2009 ff. [bisher 2 Bde.] Studien zur Historischen Sozialwissenschaft, Bd. 6–10, Frankfurt a. M./ New York 1987– 1988; (mit Gerald Sprengnagel u. Albert Müller) Bd. 11–29, 1989–2001; (mit Josef Ehmer et al.) Bd. 31 ff., 2005 ff. [bisher 28 Bde.] Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Salzburg, Bd. 16, Wien 1983. Materialien zur historischen Sozialwissenschaft, Bd. 1–5, Wien 1982–1986.

Mitherausgeberschaft von Zeitschriften Bios. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Leverkusen – Opladen [seit 1988]. Zeitschrift für österreichische Geschichtswissenschaften, Wien [1990–1999].

Beiträge zu Zeitschriften und Büchern Theorien und Methoden: Dilemmata. Nachwort zur Praxis des Schreibens über „Täter“ in der Oral History, in: Gerhard Botz (Hg.): Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien ²2007, S. 160–164. „Geschichte wurde Legende, Legende wurde Mythos …“. Philosophia Magistra Historiae? Rezension zu Rudolf Burger: Kleine Geschichte der Vergangenheit. Eine pyrrhonische Skizze der historischen Vernunft, Graz 2004, in: Zeitgeschichte 33.6 (2006), S. 345–352. Jenseits der Täter-Opfer-Dichotomie lebensgeschichtlich erforschen und essayistisch beschreiben, in: Gerhard Botz (Hg.): Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005, S. 9–20. Zeitung als Sonde und Konstrukteur historischer Wirklichkeiten. Systematische Auswertungsverfahren von Zeitungen, in: Bericht über den 21. österr. Historikertag in Wien 1996, Wien 1998, S. 232–233. Was könnte „Angewandte Geschichte“ sein?, in: Rudolf G. Ardelt u. Christian Gerbel (Hg.): Österreichischer Zeitgeschichtetag 1995. Österreich  – 50 Jahre Zweite Republik, Innsbruck / Wien 1997, S. 538–544.

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Opfer/Täter-Diskurse. Zur Problematik des „Opfer“-Begriffs, in: Gertraud Diendorfer, Gerhard Jagschitz u. Oliver Rathkolb (Hg.): Zeitgeschichte im Wandel. 3. Österreichische Zeitgeschichtetage 1997, Innsbruck / Wien, S. 223–236. (mit Gerald Sprengnagel), Zeitgeschichte als Multimedia-Geschichte und Hi-Tech-History. Allgemeine Überlegungen zur Implementierung an österreichischen Universitäten, in: Richard März, Jörg-Ingolf Stein (Hg.): Qualität der Hochschullehre, Innsbruck / Wien 1996 (Zeitschrift für Hochschuldidaktik. Beiträge zu Studium, Wissenschaft und Beruf, 20.1–2), S. 254–263. Zentrum / Peripherie in der Politik der Ersten Republik. Drei Makro-Modelle Stein Rokkans, in: Bericht über den 19. österr. Historikertag in Graz 1992, Wien 1993, S. 150–161. Oral History and Computing, in: Virginia Davis et al. (Hg.), The Teaching of Historical Computing. An International Framework. A Workshop of the International Association for History and Computing, University of London 1993, St. Katharinen 1993, S. 63–68. Fernsehen in der Zeitgeschichte. „Zeitgeschichte im Fernsehen“ – „Video History“ in der Zeitgeschichte. Drei Perspektiven, in: Medien und Zeit. Forum für historische Kommunikationsforschung 8.4 (1993), S. 2–5. Kommunikationsgeschichte. Aus zeitgeschichtlicher Sicht. Zwischen disziplinärer Vergangenheitsrekonstruktion und allgemeiner Aspektgeschichte?, in: Medien und Zeit. Forum für historische Kommunikationsforschung 7.2 (1992), S. 5–7. Faschismustheorien Otto Bauers, in: Erich Fröschl u. Helge Zoitl (Hg.), Otto Bauer (1881– 1938). Theorie und Praxis, Wien 1985, S. 161–192. Oral History – Wert, Probleme, Möglichkeiten der Mündlichen Geschichte, in: Gerhard Botz u. Josef Weidenholzer (Hg.), Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte „geschichtsloser“ Sozialgruppen, Wien / Köln 1984, S. 23–37. Was gewinnt die Geschichtsforschung durch die Quantifizierung? Versuch einer Bestandsaufnahme und Bewertung internationaler Strömungen der quantifizierenden Geschichte, in: Herta Nagl-Docekal u. Franz M. Wimmer (Hg.), Neue Ansätze in der Geschichtswissenschaft. Philosophisch-historische Arbeitstagung im Europahaus Wien 1983, Wien 1984, S. 48–70. Der Revolutionsbegriff in der Geschichte, in: Erich Zöllner (Hg.), Revolutionäre Bewegungen in Österreich, Wien 1981, S. 5–27. Ansätze zu sozialwissenschaftlichen Revolutionstheorien, in: Helmut Reinalter (Hg.), Revolution und Gesellschaft. Zur Entwicklung des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs, Innsbruck 1980, S. 175–189. Zeitgeschichte zwischen Quantifizierung und „Oral History“, in: Karl R. Stadler, Rückblick und Ausschau, Wien 1978, S. 29–48. Quantifizierende Methoden in der Politik- und Sozialgeschichte, in: Zeitgeschichte 5.2 (1977) S. 72–83 (Teil 1) u. 5.3 (1977), S. 114–122 (Teil 2).

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Historiografie der Zeitgeschichte: Das Skandalon von Heers Geschichtsauffassung: „Cum ira et studio“, in: Spurensuche NF 19.1–4 (2010) [Themenheft: ‚Schreiber bin ich Worte-Macher …‘ Die vielen Gesichter des Friedrich Heer, 1916–1983], S. 52–56. „Rechts stehen und links denken“? Zur nonkonformistischen Geschichtsauffassung Friedrich Heers, in: Reinhard Krammer, Christoph Kühberger u. Franz Schausberger (Hg.), Der forschende Blick. Beiträge zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ernst Hanisch zum 70. Geburtstag, Wien 2010, S. 277–296. Nachhall und Modifikationen (1994–2007). Rückblick auf die Waldheim-Kontroversen und deren Folgen, in: Gerhard Botz u. Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, Frankfurt a. M. / New York ²2008, S. 547–635. Autobiografische Erfahrung und Geschichtswissenschaft Eric Hobsbawms, in: Gerhard Botz et al., Geschichte: Möglichkeit für Erkenntnis und Gestaltung der Welt, Wien 2008, S. 53– 67. Geschichte als Beruf. ZeitgeschichtlerInnen und neue Berufsfelder, in: Rudolf G. Ardelt u. Christian Gerbel (Hg.), Österreichischer Zeitgeschichtetag 1995. Österreich  – 50 Jahre Zweite Republik, Innsbruck / Wien 1997, S. 521–522. Friedrich Heer aus zeitgeschichtlicher Sicht, in: Gerhard Botz, Johanna Heer, Frederic Morton u. Gertrude Schneider: Zur Aktualität des Denkers Friedrich Heer. Mit einer Einl. v. Erika Weinzierl, Wien 1997, S. 29–47. Zwölf Thesen zur Zeitgeschichte in Österreich, in: Ingrid Böhler u. Rolf Steininger (Hg.), Österreichischer Zeitgeschichtetag 1993, Innsbruck / Wien 1995, S. 19–33. Variationen deutscher Hegemonie? Die deutsche Geschichtswissenschaft und die österreichische Zeitgeschichtsforschung zum Nationalsozialismus, in: Christian Jansen, Lutz Niethammer u. Bernd Weisbrod (Hg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, Berlin 1995, S. 357–370. Krisen der österreichischen Zeitgeschichte, in: Gerhard Botz u. Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt a. M. / New York 1994, S. 16–76.

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Bibliografie von Gerhard Botz

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Antisemitismus, Judenverfolgung, Konzentrationslager, Widerstand: Die geplante territoriale „Endlösung“ der Wiener „Tschechenfrage“, in: DÖW. Jahrbuch (2008), S. 221–231. Regionale Gesellschaft und lange Traditionen und Strukturen des Widerstandes im Salzkammergut, in: Christian Topf, Auf den Spuren der Partisanen. Zeitgeschichtliche Wanderungen im Salzkammergut, Grünbach ²2006, S. 11–34. Resistenz als Widerstand gegen Diktatur, in: Der Ruf des Gewissens. Widerstand gegen Nationalsozialismus zwischen „Walküre“ und „Radetzky“, hg. v. Landesverteidigungsakademie u. Rudolf Hecht, Wien 2005, S. 33–43. Künstlerische Widerständigkeit. „Resistenz“, partielle Kollaboration und organisierter Widerstand im Nationalsozialismus, in: Brigitte Bailer-Galanda, Christa Meehany u. Christine Schindler (Red.), Themen der Zeitgeschichte und Gegenwart, Arbeiterbewegung – NSHerrschaft – Rechtsextremismus. Ein Resümee aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Neugebauer, hg. v. DÖW, Wien 2004, S. 98–119. Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung. Das Ende des Wiener Judentums unter der nationalsozialistischen Herrschaft (1938–1945), in: Gerhard Botz, Ivar Oxaal, Michael Pollak u. Nina Scholz (Hg.), Eine Zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien 2002, S. 315–339, 426–431. Arisierungen in Österreich (1938–1940), in: Dieter Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holocaust. Zur wirtschaftlichen Logik von Verfolgung und „Wiedergutmachung“, Wien / München 2001, S. 29–56. Politischer Widerstand, „Resistenz“ und kulturelle Widerständigkeit unter dem Nationalsozialismus, in: Günter Eisenhut u. Peter Weibel (Hg.), Moderne in dunkler Zeit. Widerstand, Verfolgung und Exil steirischer Künstlerinnen und Künstler 1933–1948, Graz, 2001, S. 14–21.

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Stufen der Ausgliederung der Juden aus der Gesellschaft. Die österreichischen Juden vom „Anschluß“ zum „Holocaust“, in: Zeitgeschichte 14.9–10 (1987), S. 359–378. (mit Michael Pollak) Survivre dans un camp de concentration. Entretien avec Margareta GlasLarsson, in: Actes de la recherche en sciences sociales 41 (1982), S. 3–28. (mit Peter Kammerstätter, Günther Marchner u. Franziska Schneeberger) Resistencia en Salzkammergut. Grupos y organizaciones, in: Mercedes Vilanova (Hg.), El Poder en la Sociedad. Historia y fuente oral. Traducción de Paloma Villegas, Barcelona 1986, S. 81–94. Methoden- und Theorieprobleme der historischen Widerstandsforschung, in: Helmut Konrad u. Wolfgang Neugebauer (Hg.), Arbeiterbewegung –Faschismus –Nationalbewußtsein. Festschrift zum 20jährigen Bestand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und zum 60. Geburtstag von Herbert Steiner, Wien et al. 1983, S. 137–151 u. 449–453. Widerstand von Einzelnen. Einleitung, in: Widerstand und Verfolgung in Oberösterreich 1934–1945. Eine Dokumentation, hg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Bd. 1, Wien et al. 1982, S. 351–363 u. 552–556. Das Geschäft mit dem Tod. Die Errichtung des Konzentrationslagers Mauthausen, in: Die Zukunft 9–10 (1970), S. 22–23.

Vergangenheits- und Geschichtspolitik: Beschweigen und Erinnern des Nationalsozialismus am Beispiel der Verfolgung ungarischer Juden und Jüdinnen in Österreich 1944/45, in: István Majoror, Zoltàn Maruzsa u. Oliver Rathkolb (Red.), Österreich und Ungarn im Kalten Krieg, Wien / Budapest 2010, S. 11–42. Gesellschaftliche Anerkennung als „Wiedergutmachung“ nach Genozid und extremer Gewalt, in: Siegfried Mattl, Gerhard Botz, Stefan Karner u. Helmut Konrad (Hg.), Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft, Wien / Köln / Weimar 2009, S. 269–273. Der Historiker als „Staatsfeind“: Zeitgeschichte in Österreich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54.12 (2006), S. 1068–1081. Dialogversuch. Eine briefliche Kontroverse mit Felix Kreissler über Österreich-Identität, in: Helmut Kramer, Karin Liebhard u. Fritz Stadler (Hg.), Österreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand. Im memoriam Felix Kreissler, Wien et al. 2006, S. 103–112. Die „Waldheim-Affäre“ als Widerstreit kollektiver Erinnerungen. Zur Gegenwärtigkeit und Transformation von Vergangenem, in: Barbara Tóth u. Hubertus Czernin (Hg.), 1986. Das Jahr, das Österreich veränderte, Wien 2006, S. 74–95. Bellendes Crescendo. Die politisch-symbolischen Achsen des Heldenplatzes, in: Das jüdische Echo 52 (2003), S. 197–201. NS-Trauma, „Opfer“-Metaphorik und „Lebenslüge“: Österreich, die Zweite Republik, in: Franz Kaltenbeck u. Peter Weibel (Hg.), Trauma und Erinnerung. Trauma and Memory: Cross-Cultural Perspectives, Wien 2000, S. 197–223 (engl. Übers.: ebda., S. 265–282).

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Nichts als populistisches Kalkül? Gastkommentar in den Salzburger Nachrichten vom 23. Dezember 1996, in: Helga Embacher, Albert Lichtblau u. Günther Sandner (Hg.), Umkämpfte Erinnerung. Die Wehrmachtsausstellung in Salzburg, Salzburg / Wien 1999, 233–237. (mit Daniela Ellmauer u. Alexander Prenninger) Mauthausen als „Erinnerungsort“. Probleme der „Authentizität“ und des österreichischen „kollektiven Gedächtnisses“, in: DÖW. Jahrbuch (1998), S. 15–29. (mit Alexander Prenninger) Traditionsbildungen um die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, in: Gertraud Diendorfer, Gerhard Jagschitz u. Oliver Rathkolb (Hg.), Zeitgeschichte im Wandel. 3. Österreichische Zeitgeschichtetage 1997, Innsbruck / Wien, S. 290–298. Herrschaftstopographie Wiens. Historische Dimensionen und politisch-symbolische Bedeutung des österreichischen Regierungszentrums, in: Helmut Engel u. Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichtsmeile Wilhelmstraße, Berlin 1997, S. 153–187. Lebenslüge – das stimulierende Prinzip … Eine Auseinandersetzung mit neuen Verfechtern der österreichischen „Opferthese“, in: Europäische Rundschau. Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte 24.1 (1996), S. 29–45. Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik. „Opferthese“, „Lebenslüge“ und „Geschichtstabu“ in der Zeitgeschichtsschreibung, in: Wolfgang Kos u. Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, S. 51–85. Wie 1995 den 50. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus begehen? Überlegungen zu Gedenkveranstaltungen im ehemaligen KZ Mauthausen und zum Hitler-Geburtshaus, in: DÖW. Jahrbuch (1995), S. 76–88. „Neonazismus ohne Neonazis?“ Inszenierte NS-Apologetik in der „Neuen Kronen Zeitung“, in: Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus, hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, akt.u. erw. Neuausg., Wien 1994, S. 595–617. Erstarrter „Antifaschismus“ und „paranazistisches“ Substrat. Zwei Seiten einer Medaille, in: Gerhard Botz u. Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt / New York 1994, S. 452–464. „Staberl“-Gutachten. Die „Auschwitz-Lüge“ in der Neuen Kronen Zeitung, in: Forum. Internationale Zeitschrift für kulturelle Freiheit, politische Gleichheit und solidarische Arbeit 40. 473–477 (1993), S. 48–52. „Der Volkstreue.“ Politische Ausrichtung und Wirkungsabsicht eines rechtsradikalen Druckwerks (1982–1992), in: DÖW. Jahrbuch (1993), S. 121–181. „Lebenslüge“ und nationale Identität im heutigen Österreich. Nationsbildung auf Kosten einer vertieften Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, in: History of European Ideas 15.1–3 (1992), S. 85–91 [u.d.T. „Infelix Austria.“ Lebenslüge und nationale Identität in Österreich heute, auch in: Das jüdische Echo, 29.1 (1990), S. 116–120].

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Österreichs verborgene Nazi-Vergangenheit und der Fall Waldheim, in: Forum. Internationale Zeitschrift für kulturelle Freiheit, politische Gleichheit und solidarische Arbeit 36.430–431 (1989), S. 47–55. Verdrängte Geschichte  – Lebendige Vergangenheit, in: Rüdiger Liedtke (Hg.), Österreich. Menschen, Landschaften, Berlin 1988, S. 36–42. Anschluß an die Vergangenheit! Überlegungen zum Zusammenhang von Verdrängung der NS-Vergangenheit und aktueller Krise von Zeitgeschichte, Antifaschismus und Demokratiebewußtsein in Österreich, in: DÖW. Jahrbuch (1987), S. 23–41. Österreich und die NS-Vergangenheit. Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung, in: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a. M.: 1987, S. 141–152 u. 276–279 (13.–14. Tsd. 1993).

Erinnern, autobiographische Erzählung: (mit Regina Fritz u. Alexander Prenninger) Mauthausen überleben und erinnern. Vergleichende Analyse von lebensgeschichtlichen Interviews mit Überlebenden des KZ Mauthausen. Ein Bericht aus dem „Mauthausen Survivors Research Project“ (MSRP), in: Jahresbericht 2009 der Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2010, S. 39–48. Nazi, oportunista, „cazapartisanos“, víctima de guerra. Retazos de memoria y pruebas documentales de mi padre: reflexiones autobiográficas, [erweitert mit 8 Abb.] in: Historia, Antropologíay Fuentes Orales 42.1 (2009), S. 5–32. Michael Pollak. Les survivans des camps nazis et le maintien de l’identité sociale, in: Liora Israël u. Danièle Voldman (Hg.), Michael Pollak. De l’identité blessée à une sociologie des possibles, Paris / Brüssel 2008, S. 145–154. Beschweigen, Ausblenden und Externalisieren: Der „Fall Grass“ und der „Fall Waldheim“, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 20 (2007), Sonderheft, S. 213– 222 (span. Übers. in: Historia, Antropología Fuentes Orales 38.3 [2007], S. 129–144). (mit Helga Amesberger u. Brigitte Halbmayr), Le camp de concentration de Mauthausen dans le souvenir de 800 survivant(e)s, in: Cahier international sur le témoignage audiovisuel 91 (2006), S. 57–74. Nazi, Opportunist, „Bandenbekämpfer“, Kriegsopfer. Dokumentarische Evidenz und Erinnerungssplitter zu meinem Vater, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 18.1 (2005), S. 28–47. (mit Helga Amesberger u. Brigitte Halbmayr) „Mauthausen“ im Gedächtnis der Überlebenden. Das „Mauthausen Survivors Documentation Project“, in: Bertrand Perz, Christine Schindler, Christian Sturminger u. Mario Wimmer (Red.), Das Gedächtnis von Mauthausen, hg. v. Bundesministerium für Inneres, Wien 2004, S. 104–123. (mit Bernadette Dewald u. Alexander Prenninger) Mauthausen erzählen – Narrating Mauthausen, in: ebda., S. 76–103.

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(mit Brigitte Halbmayr u. Helga Amesberger) Das „Mauthausen Survivors Documentation Project“. 860 lebensgeschichtliche Interviews mit Mauthausen-Überlebenden, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 16.2 (2003), S. 297–306. Die zwei „Ich“ des Hans Mühlbacher. Vorwort der Herausgeber, in: Hans Mühlbacher, Zwischen Technik und Musik. Ohne „Ariernachweis“ in der Raketenforschung des Dritten Reiches, hg. v. Gerhard Botz u. Doris Sottopietra, Wien 2003, S. 7–10. (mit Michael Pollak) Le rôle d’un récit biographique dans le travail d’historien, in: IVe Colloque International d’Histoire Orale. Aix-en-Provence 1982. Communications Presentées, Aix-en-Provence / Paris 1982, S. 312–327.

Sonstiges: Von Notwendigkeit und Gefahren der Utopien, in: Hubert Chr. Ehalt, Wilhelm Hopf u. Konrad P. Liessmann (Hg.), Kritik und Utopie. Positionen & Perspektiven, Wien / Münster 2009, S. 36–42. Bildung statt Angst, in: Franz Richard Reiter (Hg.), 100 Vorschläge für ein besseres Österreich/100 Österreicherinnen und Österreicher, Wien 2006, S. 24–27. „In der Ringstraße hat sich eine neue Gesellschaft in voraus Quartier bestellt …“ Repräsentation von Beharrung, Aufstieg und Massenpolitik an der Wiener Ringstraße, in: Das jüdische Echo 51 (2002), S. 25–32. (mit Heinrich Berger) Die „zweite Gesellschaft“ der Büsten. Eine historisch-quantitative Studie, in: Klaus Pinter (Hg.), Wiener Mischung. Installationen mit unbekannten Objekten aus dem Depot des Historischen Museums der Stadt Wien, Hermesvilla, Wien 2000, S. 50–57. Die bleibenden Zivilsationsschäden des Kosovokrieges. The Lasting Damage of the Kosovo War on Civilisation, in: Peter Noever u. Carl Pruscha (Hg.), Stop the Violence!!! Stop nasilju!!! Ndal dhunes!!! Posters of Artists.  Ausstellung 1999, Akademie der Bildenden Künste, Wien 1999, S. 16–19. Will Unification Bring „the German Question“ to an End? The Case of Austria, in: German Politics and Society 21 (1990), S. 1–18 (franz. Übers. in: Austriaca. Cahiers d’ Information sur l’Autriche, 16.32 (1991), S. 91–106). Die atemberaubende Vereinigung. Nach der „deutschen“ die „österreichische“ Frage? In: Austria Today. Österreichs Internationales Magazin, 2 (1990), S. 6–9 u. 54 (engl. Übers.: ebda., S. 7–11). Ponton Österreich. Das österreichische EG- und Osteuropa-Verhältnis als doppelte Neutralität, in: Die Zukunft 11 (1988), S. 53–55. Ende des politischen Traumwandelns? Zukunftsperspektiven der österreichischen Sozialdemokratie für die neunziger Jahre, in: Josef Weidenholzer (Hg.), Rekonstruktion der Sozialdemokratie, Linz 1987, S. 51–58.

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Geschichtswissenschaft und Datenschutz in Österreich, in: Historical Social Research. Historische Sozialforschung. Quantum Information 21 (1982), S. 83–90. Entstehung und Wesen der griechischen Diktatur. Neue Literatur über die hellenische Tragödie, in: Die Zukunft 13–14 (1973), S. 24–28. Würm-Löß und fossile Frostspalten bei Suben am Inn, in: Bundesrealgymnasium Schärding. 9. Jahresbericht über die Schuljahre 1961/62 und 1962/63, Ried i.I. 1963, S. 3–13.

Publizistische Interventionen und Kontroversen (Titel der Artikel oft seitens der Redaktionen) [mit Regina Fritz], Trianon-Debatte nicht den Rechten überlassen. Die Geschichte eines Friedensvertrages und seine Relevanz für die „ungarische Seele“, in: Der Standard (03.06.2010), URL: http://derstandard.at/1271378119693/Kommentar-der-anderen-Trianon-Debattenicht-den-Rechten-ueberlassen. Einsteins Gesetz von der Wirkung des Blödsinns, in: Der Standard (08.10.2009), S. 39. Die scheinbare eiserne Logik der Krise, in: Der Standard (10.03.2009), S. 39. Waldheim doch krasser als Grass, in: Die Presse (06.09.2006), S. 33, URL: http:// diepresse.com / home / meinung / gastkommentar / 81130 / Waldheim- doch- krasser- als- Grass? from= suche. intern. portal. „Deutlicher, weil erzählbar, ist mir ein Ereignis“. Der „Fall Grass“ und der „Fall Waldheim“?, in: Die Presse (19.08.2006), S. 35, URL:http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/81359/Deutlicher-weil-erzaehlbar-ist-mir-ein-Ereignis?from=suche.intern.portal. Bericht über meinen Vater, in: Die Presse (27.08.2005), Spectrum, S. I–IV. Die Rhetorik der Ausblendung. Warum häufen sich gerade im Gedankenjahr revisionistische Aussagen wie jene von John Gudenus? Zur „unheiligen Allianz“ von Opferthese und Auschwitz-Leugnung, in: Der Standard (11./12.06.2005), S. 39. Herr Professor schlägt tote Hunde tot. Anstoß erregen wollend: Rudolf Burgers „Kleine Geschichte der Vergangenheit“, in: Die Presse (19.03.2005), Spectrum, S. 9–10. Wolfgang Schüssel richtig verstehen: Ein zweiter Klärungsversuch, in: Der Standard, 19./20. 3. 2005, S. 38. Der Kanzler als Schulmeister der Zeitgeschichtsforschung?, in: Der Standard, 12./13. 3. 2005, S. 38–39. Die beschleunigte Universität. Was hat das dem „Schneller, schlanker, effizienter“-Prinzip verpflichtete neue Uni-Gesetz bisher konkret gebracht?, in: Der Standard (08.03.2005), S. 31. Das Dollfuß-Regime verstehen! Von der „holzschnittartigen“ Zurichtung historischer Realität durch „politische Dichtung“: Eine Replik auf Robert Menasses Gedenkschrift, in: Der

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Standard (18.02.2004), S. 27, und: „Drei kleine Antworten“ an Robert Menasse, in: ebda. (20.02.2004), S. 27, URL: http://derstandard.at/r1246543999319/Nachlese-KontroverseBotz---Menasse. Wie lange noch „forschen“? Fragen zur „österreichischen Antwort“ in der Restitutionsdebatte, in: Der Standard (15.11.2000), S. 39. Kaputtsparen und Drohgebärden. Universität und Demokratie sehen sich in Österreich im Jahr 2000 vor neue Herausforderungen gestellt, in: Die Universität. Zeitung der Universität Wien (30.09.2000), S. 1–2. „Gott mit dir, kleiner Prinz“. Wolfgang Schüssel, Bundeskanzler, erweist sich als wendiger Politiker. Mit Vorbildern, in: Falter 8 (23.02.2000), S. 8–9. „Entsorgungshäuser“ der Zeitgeschichte?, in: Der Standard (19.11.1999), S. 39. Museumsstreit als Geschichtspolitik. Kontroverse um die Nutzung des Palais Epstein am Ring, in: Der Standard (02.12.1998), S. 37. Die Mahnung. Aufgaben eines Denkmals für die ermordeten österreichischen Juden: Versäumte Gelegenheiten – gefundene Chancen?, in: Wiener Journal 205 (1997), S. 13–15. „Kameradschaft, Ehre und Treue …“ (Teil 1) u. Eindeutig geistige Verbindungslinien. Haider und die Tradition der Waffen-SS im Lichte der Geschichtswissenschaft (Teil 2), in: Der Standard (12.01.1996) S. 31, u. (14./15.01.1996), S. 25. Von der Angstparole zur Gewalt. Kommt nach der Zweiten Republik wieder die Erste?, in: Der Standard [07./08.12.1993], S. 31. „Atemberaubende“ Geschichte. Konsequenzen und mögliche Gefahren der deutschen Vereinigungseuphorie aus österreichischer Sicht (Teil 1) u. Nach der „deutschen“ die „österreichische Frage“? (Teil 2), in: Der Standard (06.03.1990), S. 27 u. (07.03.1990), S. 27. Zeichen an der Wand. Was hat sich in Österreich durch das „Bedenkjahr 1938/39“ geändert?, in: Profil (16.05.1988), S. 73–75. Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung. Probleme des „typischen Österreichers“ mit seiner NS-Vergangenheit, in: Sterz. Unabhängige Zeitschrift für Literatur, Kultur und Kunstpolitik 40 (1987), S. 8–11. Pferd ohne Reiter. Kritik der neuen Fernsehreihe „Österreich I“, in: Falter (27.11.–03.12.1987), S. 4. Ein Versuch der Bagatellisierung. Nicht durch Verdrängung, sondern durch Aufklärung gegen den Faschismus, in: Die Furche 30 (27.07.1985), S. 1–2. Kienzls „7. Prozent-Antisemiten“: Eine Vorgeschichte, in: Die Gemeinde (01.06.1987), S. 5. Pflichterfüllung (I) und (II), in: Kurier (15.05.1987), S. 5 u. (16.05.1987), S. 5. Stellungnahmen im Fall Waldheim. Zwei Opfer der Nazis?, in: Die Zeit 21 (15.05.1987), S. 49–50. Marzabotto war kein Einzelfall, in: Kurier (12.02.1985), S. 5, und: Unsere unbewältigte Vergangenheit, ebda. (13.02.1985), S. 5. Fernsehserie „Ö II“ macht Zeitgeschichte, in: Salzburger Nachrichten (28.01.1985), S. 2. 25. Juli 1934. Putschversuch der Nazis. Kampf zweier Diktaturen, in: Salzburger Nachrichten (21./22.07.1984), S. 21.

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Österreichische Koalitionsgeschichte, in: Die Zukunft 13/14 (1974), S. 42–43. Wo bleibt die sozialistisch-demokratische Sicherheitspolitik für Österreich?, in: Die Zukunft 7/8 (1972), S. 8–11. Hochschulreform in Österreich: Umfrage. Utopie, evolutionärer Prozeß – oder Aufforderung zur Revolution?, in: Die Republik. Beiträge zur österreichischen Politik 4 (1972), S. 38–40.

Hochschulschriften und „graue Publikationen“ (mit Alexander Prenninger) Befreiungsfeiern in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Fotodokumentation der Befreiungsfeier in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen am 4. Mai 1997 und Gespräche mit Hans Marsálek, Josef Klat, Walter Beck, Pierre Serge Choumoff und Paul Brusson, Wien / Salzburg 2002 (LBIHS-Arbeitspapiere 19), 204 Bl. (mit Philipp Mittnik) Oral History des Überlebens von Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück, Wien 2002 (LBIHS-Arbeitspapiere 17), Bd. 1: KZ-System und Frauen, 210 Bl., Bd. 2: Lebensgeschichtliche Fallstudien, 291 Bl. (mit Daniela Ellmauer, unter Mitarbeit v. Oliver Wurzer u. Alexander Prenninger) Gedenkstätten-Museum Mauthausen. Rahmenkonzept zur Neugestaltung der Gedenkstätte Konzentrationslager Mauthausen, Salzburg / Wien 1997, 82 Bl. (auch 2000: LBIHS-Arbeitspapiere 18). (unter Mitarb. v. Barbara Eitzinger, Daniela Ellmauer, Jutta Hangler, Bernadette Märzinger u. Alexander Prenninger) KZ Mauthausen 1945–1995. 50 Jahre Befreiung. Dokumentation eines öffentlichen Erinnerungsrituals. Ergebnisse einer Lehrveranstaltung am Institut für Geschichte der Universität Salzburg im Sommersemester 1995, Salzburg 1996 (LBIHSArbeitspapiere 16), X u. 176 Bl. (mit Ulrike Gschwandtner) „Angewandte Geschichte“ und Berufskarrieren von Historikern und Historikerinnen, Salzburg 1996 (LBIHS-Projektberichte, 10.1/2), Bd. 1: 167 Bl., Bd. 2: Tabellen und Interviews, 147 Bl. (mit Arbeitsgemeinschaft am Institut für Geschichte der Universität Salzburg) Der „Holocust“ in Ungarn. Deportation, Überleben und Erinnerung. Eine zeitgeschichtliche Dokumentation zur Aufführung von George Taboris „Mutter Courage“, Salzburg 1995 (LBIHSArbeitspapiere 13), 62 S. (als Hg.) Texte und Dokumente aus dem Konzentrationslager Mauthausen. George Tabori: „Der Steinbruch“. Gerhard Botz, Daniela Ellmauer u. Oliver Wurzer: „Die Zeit unseres Lebens zählten wir nach Wochen“, Salzburg 1995 (LBIHS-Projektberichte 9), 87 S. (mit Bernhard Schausberger u. Gerald Sprengnagel, Hg.) Antisemitismus nach 1945. Antisemitismus-Seminar 2, Salzburg / Wien 1990 (LBIHS-Arbeitspapiere 7), 420 Bl. (mit Bernhard Schausberger u. Gerald Sprengnagel, Hg.) Antisemitismus vor 1945. Antisemitismus-Seminar 1, Salzburg / Wien 1990 (LBIHS-Arbeitspapiere 6), 388 Bl.

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Schwarz auf Weiß. Stellungnahme zum geschichtswissenschaftlichten Wert des „WaldheimWeißbuches“, Salzburg 1987 (LBIHS-Arbeitspapiere 5), 28 Bl. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel Wiens 1938/39, Habilitationsschrift, Univ. Linz 1977, Teil 1 u. 2, 629 Bl. Beiträge zur Geschichte der politischen Gewalttaten in Österreich von 1918 bis 1933, phil. Diss., Univ. Wien 1966, Bd. I: XIII, 243 Bl., Bd. 2: 319 Bl., Beilagenbd.: 258 Bl.

Die Autorinnen und Autoren Mitchell G. Ash ist ordentlicher Universitätsprofessor für Geschichte der Neuzeit, Leiter der Arbeitsgruppe Wissenschaftsgeschichte am Institut für Geschichte und Sprecher des DKplus-Programms „Naturwissenschaften im historischen, philosophischen und kulturellen Kontext“ an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Wissenschafts- und Universitätsgeschichte seit 1850; Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert; Geschichte der Humanwissenschaften und der Mensch-Tier-Beziehungen. Kurt Bauer ist freier Mitarbeiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: NS-Geschichte, Erste Republik, politische Gewalt, Alltags- und Mentalitätsgeschichte. Peter Becker ist derzeit Gastprofessor am Institut für Geschichte an der Universität Wien; er hat bisher am Europäischen Hochschulinstitut sowie an den Universitäten Basel, Linz und Salzburg unterrichtet. Forschungsschwerpunkte: Kultur-, Sozial- und Politikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Kulturgeschichte der Verwaltung, Internationalismus in der Habsburgermonarchie, Geschichte von Kriminologie und Neurowissenschaften. Publikationen u.a.: Verderbnis und Entartung. Zur Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002; Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011 (Hg.). Ruth Beckermann lebt als Filmschaffende und freie Autorin in Wien. Zu ihren Büchern zählen „Die Mazzesinsel“ und „Unzugehörig. Österreicher und Juden seit 1945“, zu ihren Filmen „American Passages“, „Die papierene Brücke“, „Jenseits des Krieges“ und „Zorros Bar Mizwa“. Heinrich Berger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft in Wien und Lehrbeauftragter der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Quantifizierung und E-Learning in der Geschichtswissenschaft, Sozialgeschichte von Juden in Wien, historische Mobilitätsforschung, biografische Studien. Traude Bollauf ist Journalistin (ORF) und Historikerin und studierte nach Übertritt in die Pension Geschichte. Dissertation 2009: Dienstboten-Emigration. Die Flucht jüdischer Frauen aus Österreich und Deutschland nach England 1938/39. Forschungsschwerpunkt: Exil und Migration. Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2010. Eva Brücker ist Historikerin und Kunsthistorikerin. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft in Wien schreibt sie an ihrer Dissertation zum Thema „Handeln im Angesicht der Verfolgung“. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ist sie derzeit beurlaubt. Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialismus, Oral History, Arbeitergeschichte, historische Nachbarschaftsuntersuchungen, Architekturgeschichte, Alltagsgeschichte. Melanie Dejnega ist derzeit Promovierende an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology an der Universität Bielefeld und war Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft, Wien. Forschungsschwerpunkte: Oral History, öster-

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Die Autorinnen und Autoren

reichische Zeit- und Gedächtnisgeschichte, Konzentrationslager sowie Migrationsgeschichte. Lucile Dreidemy ist wissenschaftliche Assistentin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Lehrbeauftragte an der Universität Strasbourg; sie arbeitet an einer Dissertation zum Thema „Engelbert Dollfuß als Objekt der österreichischen Geschichtspolitik 1934–2009“. Forschungsschwerpunkte: das Dollfuß-Schuschnigg-Regime und dessen geschichtspolitische Rezeption, die europäische Zwischenkriegszeit, Faschismustheorien, Korporatismus und ständestaatliche Ideologien, Personenkult und politische Mythen, Gedächtnistheorien, Diskursanalyse, Biografieforschung. Peter Dusek war von 1972 bis 2007 im Österreichischen Rundfunk u.a. FS-Archivchef, derzeit Honorarprofessor für Archivwissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Wien. Hubert Christian Ehalt ist Prof. an der Universität Wien, Wissenschaftsreferent der Stadt Wien, Koordinator der Wiener Vorlesungen und Honorarprofessor an der Universität für angewandte Kunst in Wien und an der Technischen Universität Wien. Forschungsschwerpunkte sind Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, Sozial-, und Mentalitätsgeschichte Wiens in der Neuzeit, Kultur-, Zivilisations- und Alltagsgeschichte (18.–20. Jh.) und Gesellschaftsgeschichte der bildenden Künste. Josef Ehmer ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: neuere Sozialgeschichte im internationalen Vergleich, insbesondere Geschichte von Arbeit und Alter sowie Migrationen und demografische Entwicklungen. Helga Embacher ist a.o. Univ.-Prof. am Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialismus, jüdische Geschichte, Antisemitismus, Islam in Europa. Von 2005–2008 Leiterin des FWF-Projekts „(Neuer) Antisemitismus und Antiamerikanismus in Europa am Beispiel von Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Eine vergleichende Studie“; derzeit Leiterin der Provenienzforschung der Universitätsbibliothek Salzburg, zuletzt veröffentlicht: Margit Reiter und Helga Embacher (Hg.): Der 11. September 2001 in Europa, Wien u.a. 2011. Christian Fleck ist a.o. Univ.-Prof. am Institut für Soziologie der Universität Graz. 1993/94 Schumpeter Fellow Harvard University, Cambridge, Massachusetts, USA, 1999/2000 Fellow am Center for Scholars and Writers, The New York Public Library, New York, USA, 2008 Visiting Fulbright Professor University of Minnesota. 1987–2005 Leiter des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ), Graz; 2006–10 Präsident des Research Committee History of Sociology der International Sociological Association (ISA); 2005–09 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie (ÖGS). Regina Fritz ist Projektmitarbeiterin am Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien und Lehrbeauftragte am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien; 2008 bis 2011 Projektmitarbeiterin des „Mauthausen Survivors Research Project“ (MSRP); Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Ungarische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen, Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und Oral History.

Die Autorinnen und Autoren

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Richard Germann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft in Wien. Forschungsschwerpunkte: „Österreicher“ in der deutschen Wehrmacht 1938–1945 und Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg. Bernt Hagtvet ist seit 1994 Professor für Politikwissenschaften an der Universität Oslo; Studium an der Yale University, 1983–1994 Leiter der Forschung am Chr. Michelsens-Institut. Wichtigste Werke: Who Were the Fascists? Social Roots of European Fascism (Mithg., 1980), Modern Europe after Fascism 1943–1980s (Mithg., 1998), Folkemordenes svarte bok [Schwarzbuch des Völkermords] (Hg., 2008). Ernst Hanisch war von 1979 bis 2005 Professor für Neuere Österreichische Geschichte an der Universität Salzburg, seit 2005 in Pension. Wichtigste Werke: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20.Jahrhundert (1994), Gau der guten Nerven. Die nationalsozialistische Herrschaft in Salzburg (1997), Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20.Jahrhunderts (2005), Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938) (2011). Gernot Heiss ist ao. Prof. für österreichische Geschichte i.R., Institut für Geschichte, Wien. Gastprof. an der Georgetown University, Washington DC (1997) und an der Karlsuniversität, Prag (1996). Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Adels, der Kultur der Gegenreformation, des Hofes und des Schulwesens in der frühen Neuzeit; Wissenschafts- bzw. Universitätsgeschichte (20. Jh.); Film als Quelle für HistorikerInnen. Waltraud Kannonier-Finster, Soziologin, arbeitete als Assistenzprofessorin am Institut für Soziologie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Methoden der interpretativen Sozialforschung, Biografieforschung, Erinnerungskulturen, subkulturelle Phänomene, gesellschaftliche Konstruktionen von Normalität. Sir Ian Kershaw war bis zu seiner Emeritierung Professor für Neuere Geschichte an der Universität Sheffield in Großbritannien. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Hitler (2 Bde., München 1998, 2000), Der Hitler-Mythos (München 1999), Wendepunkte (München 2008) und Das Ende. Kämpfen bis in den Untergang. Deutschland 1944/45 (München 2011). Tim Kirk ist Professor für europäische Geschichte an der Universität Newcastle. Forschungsschwerpunkte: vergleichende Geschichte des Faschismus; österreichische Zeitgeschichte; Stadt und Kultur in Mitteleuropa. Walter Kissling ist Ass.-Prof. am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, Curriculumforschung (unter bes.  Berücksichtigung der Schulbuchforschung), Hochschuldidaktik; 2000–2010 Leiter der Präsenzbibliothek. Helmut Konrad ist o. Prof. für Allgemeine Zeitgeschichte an der Universität Graz, Altrektor, Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät 2011 bis 2013. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte und Arbeitergeschichte.

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Die Autorinnen und Autoren

Stein Ugelvik Larsen ist Professor emeritus des Department of Comparative Politics der Universität Bergen. Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialismus und Faschismus, vergleichende Faschismusanalyse; Zusammenbruch von Demokratien und Übergang zu autoritären Regimen; Neo-Autoritarismus und Liberalisierung; Publikationen: Charisma and Fascism in Interwar Europe (2007); Theorien und Methoden in den Sozialwissenschaften (2003); Fascism Outside Europe (Hg., 2001). Hannah Lessing ist Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, des Allgemeinen Entschädigungsfonds sowie des Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich. Selma Leydesdorff ist Professor für Oral History und Kultur an der Universität Amsterdam. Forschungsschwerpunkte: Oral History und Trauma, Holocaust und Srebrenica; zuletzt Interviewprojekt mit den Nebenklägern des Demjanjuk-Prozesses und den letzten Überlebenden von Sobibor und Projekt von CNRS/NYU zu „Memory and Memorialization“ in New York; 1990–96 Sekretärin der International Oral History-Association. Albert Lichtblau ist Leiter des Zentrums für Jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg; Forschungsschwerpunkte: qualitative Methoden, insbesondere Oral History, jüdische Geschichte, Antisemitismusforschung, Migration, afrikanische Geschichte. Thomas Lindenberger, Historiker, ist Direktor des Ludwig Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit, Wien; apl. Prof. Universität Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Deutschlands und Europas im 20. Jahrhundert, Alltagsgeschichte, Mediengeschichte, Geschichte kommunistischer Diktaturen. Helene Maimann ist Historikerin, Autorin, Ausstellungsmacherin, Filmemacherin. Unterrichtet an der Filmakademie der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Hat einige große Ausstellungen zur Zeitgeschichte und Geschichte der Arbeiterbewegung geleitet und kuratiert. Schwerpunkt ihrer Filme, Bücher und Texte sind methodologische und biografische Studien entlang des 20. Jahrhunderts, Exil- und Mentalitätsgeschichte sowie jüdische Identitäten. Peter H. Merkl ist Professor Emeritus of Political Science an der University of California, Santa Barbara. Forschungsschwerpunkte: Internationaler Vergleich von Parteiensystemen, von politischer Gewalt, Faschismus, Nationalsozialismus, Neofaschismus und anderen rechtsradikalen Bewegungen und sozialem Wandel im kleinstädtischen und ländlichen Süddeutschland. Hans Mommsen war von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1996 Professor für Neuere Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum und von 1977 bis 1985 Direktor des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung. Publikationen u.a.: Verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918–1933; Berlin 1990; Von Weimar nach Auschwitz, Stuttgart 1999, Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Demokratie, Diktatur, Widerstand, München 2010. Klaus-Dieter Mulley ist Leiter des Instituts für Geschichte der Gewerkschaften und Arbeiterkammern in der Arbeiterkammer Wien; Forschungen und Veröffentlichungen zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert mit den Schwerpunkten Regionalgeschichte Niederösterreichs, Nationalsozialismus, Arbeiterkammern und Gewerkschaften.

Die Autorinnen und Autoren

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Wolfgang Neugebauer war bis 2004 wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Honorarprofessor für Zeitgeschichte am Institut für Zeitgeschichte Wien. Forschungsschwerpunkte: Widerstand und Verfolgung in Österreich 1934–1945, NS-Justiz, NS-Euthanasie, Rechtsextremismus nach 1945, FPÖ, Geschichte der Sozialdemokratie. Sandra Paweronschitz war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft, Wien; Chefredakteurin von „NachRichten. Österreich in der Presse: Sammeledition vom Anschluss zur Befreiung 1938 – 1945. 52 Ausgaben, Wien 2008“ und „Zeitungszeugen. Sammeledition. Die Presse in der Zeit des Nationalsozialismus. 96 Ausgaben, Hamburg 2009–2010“; seit 2011 Mitarbeiterin im Bereich Kommunikation und Public Affairs im Österreichischen Sparkassenverband. Studium der Geschichte an der Universität Wien. Diplomarbeit, betreut von Gerhard Botz, 2006 publiziert unter dem Titel „Zwischen Anspruch und Anpassung. Journalisten und der Presseclub Concordia im Dritten Reich“. António Costa Pinto ist Research Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Lissabon. Forschungsschwerpunkte: Faschismus, politische Eliten, Demokratisierung und Übergangsjustiz in neuen Demokratien. Zuletzt: António Costa Pinto (Hg.), Rethinking the Nature of Fascism, London, Palgrave, 2011. Alexander von Plato, Gründer und langjähriger Direktor des Instituts für Geschichte und Biografie der Fernuniversität Hagen, danach Gastprofessor in Wien, zahlreiche Veröffent­ lichungen und Filme zur Zeitgeschichte und zur Methodik mündlicher Befragungen in den Geschichtswissenschaften, jüngste Arbeiten zur Wiedervereinigung, zur DDR-Opposition (im Druck), zur Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg und zur Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma. Alexander Prenninger ist seit 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig BoltzmannInstitut für historische Sozialwissenschaft, Salzburg; 2007 bis 2011 Projektmitarbeiter des „Mauthausen Survivors Research Project“ (MSRP). Forschungsschwerpunkte: Zweiter Weltkrieg, Konzentrationslager, Deportationen und Oral History, Gedenkrituale und Erinnerungskulturen. Zuletzt: Die Erinnerung an die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Akteure, Inhalte, Strategien, Berlin 2011 (Mithg.). Oliver Rathkolb ist Univ.-Prof. am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Institutsvorstand; 2005–2008 Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit, 1985–2004 wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Bruno Kreisky Archiv, seit 2004 Herausgeber der Fachzeitschrift „Zeitgeschichte“, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Europa-Museums Brüssel, Europäisches Parlament. Ausgezeichnet mit dem Donauland-Sachbuchpreis Danubius 2005 für „Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2005“ und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2005. Dirk Rupnow ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und derzeit Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, Privatdozent am Institut für Zeitgeschichte der

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Die Autorinnen und Autoren

Universität Wien; Mitglied der Jungen Kurie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Forschungsschwerpunkte: Themen der Holocaust- und Jüdischen Studien, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik sowie Wissenschafts- und Migrationsgeschichte. Carola Sachse, Studium der Geschichte an den Universitäten Fribourg (CH), Frankfurt a. M. und Berlin. Promotion und Habilitation an der TU Berlin. Universitätsprofessorin am Ins­ titut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Wissenschafts-, Unternehmens- und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Edith Saurer (†) war Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte waren Geschichte der Materiellen Kultur, Frauen-und Geschlechtergeschichte, Religionsgeschichte 18./19. Jahrhundert, Historische Anthropologie und Geschichte Italiens (19. Jahrhundert). Irina Scherbakova ist Historikerin und Germanistin und seit 1999 Leiterin der Bildungsprogramme und Koordinatorin von Oral History-Projekten der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ in Moskau. Forschungsschwerpunkte: Oral History, Gulag und russische Gedächtnisgeschichte. Christine Schindler ist Redakteurin, Lektorin, Projektmanagerin im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Assistentin der wissenschaftlichen Leiterin des DÖW. Georg Schmid lebt in Südwestfrankreich; 1978 Habilitation für das Fach „Allgemeine Geschichte der Neuzeit“, Lehrtätigkeit vor allem an der Universität Salzburg (sowie auch in den USA und in Paris VIII), literarische Tätigkeit; neuere Buchpublikationen: „The Narrative of the Occident. An Essay on Its Present State“ (2009), „Freud/Film“ (2006), „Profiling the American Detective“ (2003), in Vorbereitung: „In the Presence of the Future. Mapping the Roads to Tomorrow“. Johannes-Dieter Steinert ist Professor of Modern European History and Migration Studies an der University of Wolverhampton, Großbritannien. Forschungsschwerpunkte: Migration, Migrationspolitik und Minderheiten, internationale humanitäre Hilfe, Kinderzwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg. Claudia Theune ist Professorin für Mittelalter- und Neuzeitarchäologie an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: zeitgeschichtliche Archäologie in ehemaligen Konzentrationslagern, Produktion und Austausch im Mittelalter, Ländliche Lebenswelten, Bestattung und Grab von der Völkerwanderungszeit bis zur Neuzeit. Heidemarie Uhl ist Historikerin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, und Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Graz. Forschungsschwerpunkte: Gedächtnistheorie und -kultur, Repräsentationen gesellschaftlicher Erinnerung (Denkmäler, Gedenkstätten, Museen), österreichische/europäische Identitäts- und Geschichtspolitik. Berthold Unfried ist Dozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und Präsident der International Conference of Labour and Social History. Er

Die Autorinnen und Autoren

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schreibt an einem Buch über die Entschädigung für historisches Unrecht in einer globalen Perspektive. Publikationen u.a.: „Ich bekenne“. Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik, Frankfurt a. M. / New York 2006; „Ökonomie der „Arisierung“. Zwangsverkauf, Liquidierung und Restitution von Unternehmen in Österreich 1938 bis 1960, Wien / München 2004 (Koautor). Mercedes Vilanova ist Professor emeritus an der Universität Barcelona sowie Gründerin und Herausgeberin der Zeitschrift „Historia, Anropología y Fuentes Orales“. Sie war 1996 die erste Präsidentin der International Oral History Association (IOHA). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Oral History und spanische Zeitgeschichte. Ernst Wangermann, Februar 1939 Emigration nach England. Studium am Balliol College, Oxford. Promotion 1953 mit Dissertation über die Jakobinerverschwörung im Habsburgerreich. 1962 bis 1984 ao. Professor für Europäische Geschichte der Neuzeit, Universität Leeds. 1984 Rückkehr nach Österreich nach Berufung zum Lehrstuhl für Österreichische Geschichte, Universität Salzburg. Gastprofessuren an den Universitäten Cornell, Ithaca (NY) und Wisconsin, Madison. Robert Kann Memorial Lecturer 1997. Publikationen zur österreichischen Aufklärung, zur Wiener Revolution 1848 und zur österreichischen Arbeiterbewegung, zuletzt: Die Waffen der Publizität: zum Funktionswandel der politischen Literatur unter Joseph II. (2004). Josef Weidenholzer ist Universitätsprofessor und Vorstand des Instituts für Gesellschaftsund Sozialpolitik der Johannes-Kepler-Universität Linz, (ehrenamtlicher) Präsident der Volkshilfe Österreich und (designierter) Abgeordneter zu Europäischen Parlament. Gegenwärtige Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Sozialpolitik, vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung und Europapolitik. Peter Weinberger war bis 2008 Professor an der Technischen Universität Wien, Gebiet: Theoretische Festkörperphysik, und ist nunmehr an der New York University tätig. Neben umfangreicher wissenschaftlicher Publikationstätigkeit auch Verfasser von literarischen Büchern sowie von Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften. Meinrad Ziegler, ao. Univ.-Prof., Soziologe; arbeitet am Institut für Soziologie der Johannes-Kepler-Universität Linz, Abteilung für Theoretische Soziologie und Sozialanalysen. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie und ihre Geschichte, Methodologie und Methoden qualitativer Sozialforschung, Arbeit, Alltag und Biografie.

Personen- und Geografisches Register

Personenregister

Abrahams Ruth  373, 374 Achrainer Martin  287n, 295n, 315n, 316 Achromejew Sergei F.  443n Adorno Theodor W.  404, 404n Akerlof George A.  678 Ali Tariq  626 Alison Joan  31 Allan Mea  366n Alma Bernhardine  255–260, 263 Alt Franz  691 Altemeyer Robert  405 Althusser Louis  661 Aly Götz  66, 217n Améry Jean  491 Amesberger Helga  529 Ammon Ulrich  463, 464 Amstädter Rainer  287n, 289, 295n, 298, 315n Andergast Maria  154n Anderson Perry  661, 662 Andreotti Giulio  433 Antonio Jose  110 Ardelt Rudolf  48, 53, 54, 56 Arnheim Rudolf  466 Ash Timothy Garton  608 Ashbery Margery  368 Assmann Jan  563 Attali Jacques  431, 435, 447 Attlee Clement  660 Auberger Karl  203 Baberowski Jörg  277 Báccari Francesco Maria  256n Bachmann Ingeborg  353n, 357 Bader Alfred  351 Bailer Brigitte  519n, 527

Bajohr Frank  585n Baker James  430, 437–439, 444, 445n Balbo Italo  90 Baltinester Hans  204 Bamber Helen  373, 378, 383 Bari Abdul  626 Bark Evelyn  378 Barkai Avraham  337 Bartov Omer  189, 191 Baudrillard Jean  670n Bauer Franz  265–267, 269, 273n, 283 Bauer Ingrid  53 Bauer Kurt  704 Bauer Leopold  203 Bauer Otto  110, 122, 469, 653 Bauer Yehuda  495 Baum Anton  288 Baumgartner Gerhard  327 Bax Ernest Belfort  653 Beardwell M.F.  367 Beardwell-Wielzynska Myrtle  370n Bebel August  106 Beck Hans  301 Beck Ulrich  68 Benedikt Fritz  291n, 301n, 310n Beneš Edvard  25 Benz Wolfgang  319n, 585n Berger Ferdinand  526 Berger Karin  528 Berger Waldenegg Georg Christoph  172n Berghofer Anton  269, 275, 282 Bergholz Olga  27 Bergman Ingrid  32 Bergmann Georg Franz  300n

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Berner Franz  132, 133 Berthold Michael  203 Bettelheim Bruno  491 Bevin Ernest  660 Billinger Richard  40 Bin Laden Osama  628 Bismarck Otto von  154, 162, 167 Blackman Murial  368 Blair Tony  619, 621–623 Blecha Karl  597 Bloch Marc  356 Bloch-Bauer Adele  693 Bloeme Evers-Emden  490–500 Bock Fritz  518n Bodi Faisal  627 Bodzenta Erich  36 Bogart Humphrey  31, 32 Bono Emilio de  91 Bormann Martin  85 Bottai Guiseppe  90, 91 Botz Anton  713 Botz Gerhard  9, 12, 13, 15–21, 35, 35n, 36, 39, 40–45, 47, 48, 53–57, 60–62, 67, 69n, 71n, 115, 128, 146n, 175, 191, 193, 205, 205n, 216, 259, 261n, 262, 265, 305n, 318n, 319, 349–357, 387, 454, 467–470, 473, 473n, 501, 501n, 502, 515, 515n, 516, 518, 518n, 520–522, 525, 527, 527n, 529, 530, 543, 571, 585, 585n, 671, 681–683, 683n, 684, 685, 695, 695n, 696–705, 705n, 706, 707, 711, 711n, 712–715, 717, 719 Bourdieu Pierre  502, 503, 545n, 669, 535n, 536n Boyer John W.  120n Brandt Willy  599, 599n, 604, 635, 637 Brauner Maria  312n Braunstein Joseph  291n, 298n, 299, 306n, 314, 316 Breckner Roswitha  531n, 533n, 534n–536n

Personenregister

Breschnew Leonid Iljitsch  431, 613–615 Broch Hermann  674, 678 Brockhausen Karl  114, 115, 118, 121 Broda Christian  48, 52, 164 Broszat Martin  83, 237, 199n Broughton Bill  368 Broughton Kit  368 Browning Christopher  582n, 672n Bruha Toni  517, 526, 528 Brüning Heinrich  172 Brunner Alois  419 Brzezinski Zbigniew  75 Buchinger Günter  554 Bunzl John  53 Bunzl Matti  630 Bürckel Josef  205, 206, 209, 217, 262 Burnett Murray  31 Burz Ulfried  706 Bush George H. W.  427–430, 434, 435, 438, 440–442, 444, 447, 453 Canto-Sperber Monique  680 Carlebach Emil  520 Carmody John  636n Carmona Óscar  85, 86 Cartier-Bresson Henri  471 Caudwell Christopher  660 Celan Paul  491 Certeau Michel de  668 Chamberlain Neville  447n Childe Gordon  654 Chruschtschow Nikita S.  611, 612, 661 Churchill Winston  23, 25, 32, 33, 464, 639 Clarkson Beth  368 Clessin Heinrich  123n, 125 Clinton Bill  634, 638 Cole Tim  642 Cooke Paul  609 Cornforth Maurice  660 Craig Daniel  674n

Personenregister

Curtius Julius  172 Curtiz Michael  32 Czischek Fritz  314, 315 Daase Christopher  635 Dagover Lil  164 Dahrendorf Ralf  68 Danisman Günhan  475 Darnton Robert  277 Darré Walther  94 Davy Robert  117, 118 Dawkins Richard  674n De Maizière Lothar  433, 440, 440n, 444, 444n Deleuze Gilles  471 Demjanjuk John  424 Denikin Anton I.  109, 110 Denissowitsch Iwan  612 Des Pres Terrence  491 Deutsch Karl  301, 301n, 309n Devane William  676n Didion Joan  713 Dilthey Wilhelm  458 Dimitroff Georgi  41, 41n Diner Dan  101n, 566 Distel Barbara  585n Dobb Maurice  655 Dobrovský Josef  460 Dollfuß/Dollfuss Engelbert  110, 158, 169, 170, 195, 272, 414, 416 683, 696–707 Donabaum Josef  291n Dönhoff Marion Gräfin  28 Dresen Andreas  607 Drewniak Leszek  164n Dreyer Carl Theodor  471 Dreyfus Alfred  308n Dusek Peter  527 Dylan Bob  32 Eagleburger Lawrence S.  430, 430n, 431, 447

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Eastwood Clint  673 Eberl Franz  204 Eckert Rainer  607 Eco Umberto  32, 545n Eggerth Martha  154 Ehrenburg Ilja  611 Eichmann Adolf  338, 340n, 422, 470 Eisenberg Paul Chaim  588, 597 Eisenstein Sergej  616 Eisler Arnold  124, 124n, 125, 129, 130 Eisler Hanns  692, 693 Elser Georg  148 Emo E. W.  154n, 157, 164 Enderle-Burcel Gertrude  193n Engel-Janosi Friedrich  285 Engels Friedrich  653, 658 Engert Stefan  635n Engler Wolfgang  600, 600n Epstein Julius  32 Epstein Philip  32 Erler Peter  448 Erll Astrid  603 Ernst Otto  205 Ertl Ferdinand  198 Evans Richard J.  65, 102n Fabri Paul  291n, 299 Falin Valentin  434, 436, 443n Falmouth Lady  369 Falter Jürgen  246 Farid Tarek Hussein  419 Farrington Benjamin  654, 658 Fassbinder Rainer  605 Fein Erich  526 Feldman Gerald D.  632, 633 Fest Joachim  42 Figl Leopold  11, 273 Firnberg Hertha  36, 52, 53, 525 Fischer Bernd Jürgen  76n Fischer Eugen  643

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Fischer Gero  686n Fischer Heinz  48, 591, 696, 705 Fischer O.W.  164 Fischer-Rosenthal Wolfram  318n Fiske John  606 Forster Rudolf  159, 162–164, 164n Foucault Michel  602 Fragner Franz  526 Franco Francisco  75, 76, 87–90, 95–98, 102, 105–107, 110, 111, 654 Frank Felix  124 Franklin Benjamin  453 Franz Joseph I. Kaiser  116, 156n, 160 Frauenfeld Alfred Eduard  199 Freeman Morgan  673 Frei Norbert  564n Frenkel-Brunswick Else  403n, 404, 404n Freud Sigmund  477 Frick Wilhelm  84, 94 Friedländer Saul  582, 582n Friedrich Carl J.  75 Friedrich Hans  474 Fritsch Hans  218n Fröhlich Gustav  154n Fromm Erich  404 Fürstenberg Friedrich  36 Galbraith John Kenneth  130, 675 Gallian Julius  310, 311, 311n Galloway Georg  629n Ganauer Ernst  291n Gärtner Reinhold  570 Geertz Clifford  277 Gellhorn Martha  385 Genscher Hans-Dietrich  428n, 433, 435, 435n, 438n, 439, 444, 444n Gentile Emilio  91 Georg II. König  109 George Heinrich  154n, 159, 162, 162n, 164 George Stefan  285

Personenregister

Germino Dante L.  80n Ginsborg Paul  68n Girtler Roland  332n Glas- Larsson Margareta  16n, 44, 468, 473 Glückselig Fritz  691n Glucksmann Andrè  29 Glücksmann Martha  29 Gödl Kurt  691 Goebbels Paul Joseph  24, 93, 94, 141, 144, 153, 157, 157n, 158, 158n, 159, 160, 163, 262, 364, 586, 597 Göhring Walter  1193n, 196n, 197n Goldschmied Louis  291n Gonzàlez Felipe  447 Gorbatschow Michail  429, 431–436, 431n– 436n, 437, 438, 439, 440, 440n, 441, 441n, 442, 443, 443n, 444, 446, 446n, 447, 613, 617 Göring Hermann  171, 172, 172n, 173, 174, 174n, 218, 219, 245, 262, 340n Göttler Leonina  312n Grace Damian  636n Graf Martin  423 Graf Oskar Maria  691n Grandi Dino  80, 90 Greengrass Paul  667n Gregor A. James  104n Grele Ronald  507 Grey Jean Laurent  476, 476n Grimm Jacob  636n Grimm Wilhelm  636n Grohsgart Barbara  592, 593, 596 Grosser Alfred  625n Grosz Paul  518n Grynszpan Herschel  339 Günther Dagmar  290n Habermas Jürgen  565, 602, 634, 671 Hachtmann Rüdiger  208n, 211, 212n, 631n Hackel Heinrich  303, 303n, 304, 304n Hacker Ivan  518n

Personenregister

Hadwiger Anton  320, 320n, 322, 324–327, 327n, 328, 328n, 331, 332 Haffner Sebastian  144 Haidenberger Josef  316n Haider Jörg  334, 334n, 335n, 685n Haider Robert  334n Hainz Leopold  267 Halbmayr Brigitte  476n, 529, 530n Halbwachs Maurice  467, 505, 563, 572 Hallervorden Julius  643 Halsmann Murdoch  308n Hamann Brigitte  158n, 162n Hämmerle Meinhard  204 Hanisch Ernst  48, 53, 55, 60, 60n, 62n, 64, 68, 68n, 69, 265–286, 329n, 653, 681, 704 Hanisch Wilhelm  265, 275, 276, 282 Harmer Gustav  227, 227n, 228n Hartl Karl  159 Haselhoff Lich  220n Hasiba Gernot  113n, 121 Haubenberger Leo  197n, 198, 199 Hauch Gabriella  48, 56 Hauer Josef  282 Haussmann Leander  605 Hautmann Hans  12, 16n, 53 Hazivar Alois  203 Heer Johann  528 Heim Aribert Ferdinand  419, 419n, 420– 425 Heim Susanne  66, 217n, 631n Heine Heinrich  29 Heinisch Heiko  278n Heller Hans  218 Henreid Paul  32 Herbert Ulrich  247, 249n, 533n, 576n Herder Johann Gottfried  265, 459 Herman Eva  589 Hermlin Stephan  384 Herschel Caroline  457

757

Heß Rudolf  83, 93, 262  Hilberg Raul  573 Hill Christopher  653, 654, 656n, 659 Hilton Rodney  659 Himmler Heinrich  24, 84 Hindels Josef  525 Hindenburg Paul von  142, 143 Hinton Michael  368 Hirt Fritz  157, 158n, 159 Hirtz Senta  373 Hitchcock Alfred  471 Hitler Adolf  11, 24, 27, 32, 65, 75, 76, 78, 82–84, 85, 87, 92, 93, 94, 98, 99, 141–163, 167, 168, 169, 170–172, 172n, 173, 174, 198, 221, 227n, 230, 246, 262, 263, 271, 272, 278, 279, 281–283, 329, 334, 337, 389, 393, 410, 435, 447n, 454, 506, 586, 587, 590, 593, 597, 623, 625, 654, 683, 697 Höbelt Lothar  163n Hobsbawm Eric J.  49, 52, 59n, 68n, 69, 656, 658, 659, 660n, 662 Hochner Robert  591 Hoffmann Alfred  205 Holaubek Josef  164n Holzer Willibald Ingo  49, 53 Holzinger Elisabeth  528 Honecker Erich  431 Hoover Herbert  676 Hopton John  136n Hörbiger Paul  154n Horkheimer Max  404 Hornung Ela  480n Horthy Miklós  172 Hoßbach Friedrich  170 Howard John  636n Howard Scripps  667 Hupfauer Theo  208, 209, 212, 213 Hussain Amjad  628 Hussein Saddam  623

758

Impey Lilian  368 Inglehart Ronald  417 Innitzer Theodor  255, 259–264 Irving David  65, 419n, 422, 619, 641, 670n Jägerstätter Franz  40 Jagschitz Ernst  48 Jagschitz Gerhard  681, 684 Jakowlew Aleksandr  436, 436n Jantschge Georg  258 Jaruzelski Wojciech  433 Jedlicka Ludwig  37, 38, 48, 518, 518n, 527 Jenkins Hugh  368 Jeritza Maria  154n Jessen Ralph  460 Jochmann Rosa  518n, 525, 700 John Michael  220n, 477, 486n Johnsen Elna  394n Johnston Colonel  367 Jones Molly Silvia  367 Judt Tony  566, 634, 634n, 679, 680 Jurasek Hubert  518n Jureit Ulrike  521 Kahn-Minden Eva  373 Kaiser Friederike  315n Kaltenbrunner Ernst  150, 311n, 425 Kaltenegger Peter  227 Kammerstätter Peter  44, 526, 527 Kandel Eric  691, 692 Kannonier Reinhard  12, 53, 55, 56 Kannonier-Finster Waltraud  324n, 328n, 331n, 333, 563 Kaplan Marion A.  338 Kapralik Charles J.  338 Karner Stefan  57 Kaufmann Alois  519, 527 Kaufmann Doris  631n Kaufmann Günther  158, 158n, 159n Keller Fritz  408 Kempowski Walter  350

Personenregister

Kepplinger-Perfahl Brigitte  12 Kerenski Alexander F.  110 Khol Andreas  597, 696 Kienzle Gabriele  533n Kierkegaard Søren  471 Kiernan Ben  454 Kiernan Victor  659, 662 Kirchschläger Rudolf  684 Kirsch Hans-Peter  686n Klaus Josef  114, 129, 130, 408 Klausner Hubert  202 Klee Ernst  637n, 641 Klimt Gustav  693 Klüger Ruth  374, 383 Knef Hildegard  154n Knoll August Maria  48 Knopp Guido  472, 592n Knud Erich  154 Koch Howard  32 Kocka Jürgen  59, 60, 61n Koenig Robert  636n Koerber von Ernest  115–117, 120 Koestler Arthur  422 Kohl Helmut  427n, 428, 428n, 429, 430, 430n, 431, 433–435, 438–440, 443, 443n, 444, 445n, 446, 447, 447n Köhler Wolfgang  462 Kohlhaas Michael  131 Kohn Walter  691, 692 Kokesch Karl  203 Kolchak Aleksandr  109 Koller Leopoldine  267 Konrad Hans  312n Konrad Helmut  12, 15n, 18n, 36, 48, 54, 57, 517, 569n, 681 Kopczyński Onufry  460 Körner Paul  174n Korngold Erich Wolfgang  692, 693 Kornilov Lavr  109, 110

Personenregister

Koselleck Reinhart  65, 565n, 570 Koskinen-Koivisto Erika  477n Kostal Rudolf  312n Kotschemassow Wjatscheslaw I.  440 Krauland Peter  204 Kreisky Bruno  35, 51, 114, 129, 130, 130n, 131, 132n, 133, 135n Kreissler Felix  52 Krenz Egon  431, 432, 432n, 433, 433n, 408, 471, 525 Kriechbaumer Robert  706, 706n Kriegel Vera  642, 643, 643n Kriss Susanne  526 Kroll Thomas  656 Kroyer Peder Severin  200 Krjutschkow Wladimir A.  432, 443n Kube Alfred  172n, 174 Kuchler Christian  586n Kuffner Ignaz  228n Kuffner Jakob  228n Kuhn Leo  526 Kundt Klaus  312n Kurzmann Gerhard  425n Lafontaine Oskar  599 Laks Jona  632, 645–647, 649 Lammers Hans Heinrich  83, 93 Landerer Christoph  700 Landis Larry  133 Langbein Hermann  525, 526 Lanzmann Claude  30, 31, 449, 528 Lapace Pierre Simon  457 Laqueur Walter  104, 104n Larsen Stein Ugelvik  104n, 318n, 387n, 388n, 394n Lasker-Walfisch Anita  372 Lausch Heinrich  204 Le Lous Pierre-Marie  266 Leander Zarah  154n, 157 Lehndorff Karin („Sissi“) von  28

759

Lehner Oskar  128n Lehr Toni  528 Lein Hermann  526, 528 Leinkauf Hans  518n Leinsdorf Graf  118 Lekus Roy  528 Lemkin Raphael  452, 453 Lengauer Josef  202 Lengauer Johann  196 Lenin Wladimir I.  110, 612, 614 Lenze Ulrich  446n Leopoldi Hermann  692 Lepsius Rainer M.  564n Leser Norbert  700, 703 Lessing Margit  355 Leverson Jane  368–370, 372, 375 Levi Primo  370, 383, 384, 491, 500, 522 Levinson Daniel  404, 404n Levy Isaac  374 Lewis Paul  95n Ley Raymond  605 Ley Robert  209, 214 Lichtblau Albert  69n, 301n Lichtenegger Fritz  196 Liebmann Maximilian  261n, 278n Ligatschow Jegor K.  443n Lilley Sam  658, 659n, 661, 663 Lindqvist Sven  569 Lingen Theo  154 Linz Juan J.  98 Lipstadt Deborah  670n Loidl Franz  518, 518n Longerich Peter  327n, 384n, 385n Löw Raimund  56 Löwy Fritz  310, 310n Lübbe Hermann  631, 635, 637 Lückemann Clemens  590n Lueger Karl  109, 153–156, 153n–156n, 157– 164, 164n, 471

760

Luhmann Niklas  131, 132, 134 Lupo Salvatore  79 Luschkow Jurij  617 Maclean Pamela  492 Madison James  451 Mailänder Nicholas  291n, 315n Maimann Helene  53, 56 Maitz Alois  204 Maleta Alfred  203 Manaresi Angelo  308 Mandela Nelson Rolihlahla  25, 26 Mandl Mano  291n Mann Michael  450 Mann Thomas  29 Mannlicher Egbert  123, 124, 126 Manoschek Walter  128n, 176n Marcovich Shalom  363 Marek Bruno  518n Marek-Spiegel Tilly  520 Marerl Marius  262, 263 Margulies Otto  291n, 295, 295n, 301 Marisch Franz  201 Marker Chris  472 Markl Hubert  631, 633, 634, 636, 637n, 643, 649 Marmorek Oskar  288n, 289, 289n, 290, 291n, 296n Marrus Michael  372 Maršálek Hans  518n, 526, 528 Marx Karl  38, 656 März Richard  686n Mase Evelyn  26 Massiczek Albert  523 Matejka Viktor  202 Mattl Siegfried  57 Maurer Lutz  316 Mayer Guido  288n, 289, 289, 291n, 299 Mazower Mark  68n, 69 Mazowiecki Tadeusz  439

Personenregister

Mbekeni Garlick  25 McBryde Brenda  384 McCain John  675 McGee Peter  585–588, 588n McNeill Margaret  375 Meckel Markus  444 Medwedew Dmitri  617 Meier Christian  357, 639, 640 Meiler Ludwig  309n Meisel Josef  522n, 526 Menasse Robert  698–702 Mendeleev Dimitri  461 Mendl Bettina  218 Mendl Otto Israel  218, 218n Mengele Josef  633, 640–642, 644, 646, 647 Menghin Oswald  311n Menzel Gerhard  153n, 154, 155, 155n, 156– 158, 164 Merkatz Karl  591 Merkel Angela  608n Merkl Adolf  122 Meyer Michael  338 Meyssan Thierry  670n Michelet Jules  466 Migge Leberecht  538 Miklas Wilhelm  697 Mikosch Hans  686n Mills C. Wright  39, 41, 45 Milza Pierre  90 Mitchell Paul  554n Mitterrand François  429, 431, 433, 435, 441, 446, 447 Modrow Hans-Ulrich  433, 435, 436, 436n, 437, 438 Moltke Helmuth James von  141n Mommsen Hans  585n Mommsen Theodor  466 Montgomery Bernard L.  365 Moore Clement  97

Personenregister

Morris Errol  486n Morton Leslie  654, 661 Moser Hans  154n Moser Jonny  518, 527 Moskowitz Moses  385 Mozes Kor Eva  632, 636n, 641, 642, 646 Mphakanyiswa Gadla Henry  25 Muhr Josefine  518n Muliar Fritz  597 Müller Albert  69n Müller Gustav  303, 303n, 304 Müller Wolfgang  114n, 133n Müller-Hill Benno  633, 640, 641 Münch Hans  641 Murphy Robert  381 Musiedlak Didier  78 Musil Robert  113–115, 118 Mussolini Benito  75, 76, 78, 79, 80, 82, 87, 88, 91, 91n, 98, 103, 110, 170, 171–173, 701, 702 Muzicant Ariel  588, 597 Natter Bernhard  324n, 326n, 329n, 332n, 333n Naoto Kan  635n Neck Rudolf  37, 53, 133n, 705n Neitzel Sönke  585n Nemec Josef  202 Nemeth Elisabeth  686n Neubacher Hermann  163 Neugebauer Wolfgang  515, 515n, 518n, 520, 523n, 527, 529 Neuhaus Helli  526 Neumann Franz  216 Neurath Konstantin von  145, 171, 173 Neusser Erich von  159 Newskij Alexander  616 Niemöller Martin  382 Niethammer Lutz  248n, 520n, 523 Nietzsche Friedrich  704

761

Nolte Ernst  42, 101n Nora Pierre  563, 564, 566, 572 Nowotny Ewald  51 Nowotny Helga  67 Obama Barack  453, 608n, 673 Obenfeldner Ferdinand  523, 523n Oertel Rudolf  154, 154n Olsen Kåre  394n Opalski Viktor  218 Ostermann Dagmar  527 Özturkmen Arzu  475 Padover Saul  364, 365, 377, 379 Palla Edmund  196, 205, 207 Palme Imma  408n Papen Franz von  171 Parker Reginald  124n Parkinson Joyce  368 Parri Ferruccio  236 Pascal Blaise  471 Pattenaude Richard  133 Paxton Robert  97 Payne Stanley  88, 104 Pech Leo  291n Pechkranz Ernst  291n Pekel Gustav  312n Pellar Brigitte  193n, 195n–197n Pennebaker D.A.  32 Pepper Hugo  527 Pereira Verônica Sales  482 Petain Marshall  76 Peterson Sebastian  607 Peukert Detlev  236, 248 Philippovich Eugen  218n Phillips R.J.  374 Pi-Suñer Viver  96 Pichl Eduard  162, 287n, 288, 288n, 291n, 292, 294n, 298n, 303, 310, 311, 311n Pick Anton  518n Pieszczek Eugen  291n

762

Pils Herbert  393 Pinzenöhler Josef  518n Plach Hans  267 Plach Johann  286 Plato Alexander von  248n, 427n, 430n, 446n, 540n Podgornik Lotte  528 Pohl Dieter  585n Pokorny Josefa  268 Polak Henri  493 Pollak Michael  16n, 467n, 491, 501, 501n, 502–513, 711 Pollitt Harry  655 Portisch Hugo  588, 591, 597 Portugalow Nikolai  434, 434n, 441n, 442n, 446, 446n Posener Julius  375 Pöttker Horst  585n Prammer Barbara  597 Preto Rolão  86, 94 Pribram Karl  194n Prodi Romano  619 Proksch Alfred  207 Putin Wladimir W.  111, 617 Rabinovici Doron  620, 700 Rankin Bill  368 Raphael Lutz  61n, 69, 69n, 117n, 452, 452n Rass Christopher  176n–178n, 189n Rath Ernst von  339 Rathkolb Oliver  41n, 130n, 332n, 408n, 411n, 412n, 518n Rathner Günther  411n Rauchensteiner Manfried  592 Reagan Ronald  31 Redlich Josef  115, 116, 118 Rees Laurence  474, 475n Regerl Ernst  320, 322–324, 328n, 333 Rehlen Robert  295n Reichel Peter  328n, 564n

Personenregister

Reichenau Walter von  28 Reitz Edgar  605 Remarque Erich Maria  498 Ribbentrop Joachim von  24, 170 Rice Condoleezza  428, 429, 430n, 444 Richter Karl Hanns  288n, 289n, 291n, 296n, 301, 301n, 305, 311, 312, 314 Rickert Heinrich  458 Rickword Edgell  654 Riehl Walter  288 Riff Sepp  681 Ringelblum Emanuel  579 Rivera Primo de  109, 110 Rivière Joseph  29 Robles Gil  109 Rohner Julia  588, 591 Rohrauer Alois  308n Rokkan Stein  388n Romsics Ignác  68n Roosevelt Eleanor  453 Roosevelt Franklin D.  25, 32 Rösch Otto  164n Rosenberg Alfred  144 Rosensaft Josef  372, 373 Rosenthal Gabriele  318n, 320n, 321n, 531n, 532n Rothfels Hans  575–578, 578n Rothschild Albert  156n Rothschild Alphonse  156n Rothschild Kurt W.  51, 38 Rothschild Louis  154 Rothschild Nathaniel  156n Roubini Nouriel  676 Rousso Henry  568 Rudd Kevin  634 Rüdin Ernst  643 Rühmann Heinz  154n Rummel R.J.  450, 452 Rumsfeld Donald  427, 448

Personenregister

Rürup Reinhard  631n, 648n Rust Bernhard  93 Sabrow Martin  356 Sachse Carola  631n, 633n Sacks Jonathan  622 Sacranie Iqbal  624, 626 Sagladin Wadim  435 Salazar António de Oliviera  76, 80, 85, 86–88, 90, 94–98 Salmon Christian  668, 674, 674n, 678n, 679n Sandor Kurt  225 Sanford Nevitt  404 Sarasin Philipp  536n Sassmann Hanns  153, 154–156, 154n–156n Saunders Hilary  379 Saurer Edith  9, 53, 225n, 686n Saxl Rudolf  291n, 295n Schaffer Simon  458n Schafranek Hans  520 Schärf Paul  48 Schausberger Franz  706n Schausberger Norbert  54 Schdanow Andrei A.  660 Scheiblechner Petra  421 Scherstjanoi Elke  436n, 443n, 448 Scheule Rupert Maria  256n Schewardnadse Eduard  432, 433, 435, 435n, 437, 439, 440, 442, 445n Schiedel Heribert  590n Schieder Wolfgang  631n Schiele Egon  684 Schindler Christine  515, 515n, 523n, 529 Schirach Baldur von  158, 170 Schirck Friedrich  203 Schmid Hans-Christian  607 Schmidl Erwin A.  178n, 191n Schmiedel Werner  528 Schmitz Richard  195

763

Schneider Max  527 Schnitzler Arthur  298n Schoenbaum David  249 Scholz Nina  278n Schönerer Georg von  153–156, 154n–156n, 158n, 159, 160, 162, 162n, 163, 164n, 267, 288, 311, 471 Schreiber Liev  674n Schröder Gerhard  599 Schulz Karl  198 Schulze Gerhard  68 Schumacher Franz  124 Schuschnigg Kurt von  110, 173, 174, 239, 242, 247, 258, 278, 407, 416, 698–700, 705, 706 Schüssel Wolfgang  696, 697, 706 Schwartzenau Erwin Freiherr von  118 Schweitzer Florian  268 Scowcroft Brent  427, 428n, 447 Seidelman Williamson  640, 640n, 641 Seipel Ignaz  110, 682 Selzner Klaus  207 Semprun Jorge  515, 527 Serrao Marc Felix  586, 587 Sesztak Karl  229 Seyß-Inquart Arthur  203, 205, 310 Shakespeare William  23, 458n Sharon Ariel  626 Shiller Robert  677, 678 Shirer William  148 Siddiqui Ghayad Uddin  627 Sieder Reinhard  62, 68n, 130n, 318n, 320n Sinowatz Fred  420n, 525 Sisulu Walter  25, 26 Slezak Leo  154n Šlosar Irina  327 Smith Lilian  368 Snyder Timothy  672n Sobotka Franz  231 Sokoll Bruno  526

764

Solschenizyn Alexander  612 Somerville Mary  457, 458, 458n Sommer Karl-Ludwig  380 Soros George  677 Soswinski Ludwig  518n, 526 Sotier Adolf  290n Soyfer Jura  517, 517n Spatz Hugo  643 Spielberg Steven  528 Spitzmüller Alexander  163, 163n Sprengnagel Gerald  683 Stadler Friedrich  457n, 682 Stadler Karl R.  12, 18, 36, 38, 39, 41, 47, 48, 50, 51, 53, 55, 403, 408, 527, 681n Stalin Josef  27, 29, 245, 254, 590, 611–617, 654 Starace Achille  78, 79, 81 Starhemberg Ernst Rüdiger  697 Starl Timm  535, 536n Staud Johann  195, 196, 202 Staudinger Anton  48 Steedman Carolyn  277 Stefansky Julius  291n Stein Franz  158n, 162, 311n Steiner Herbert  48, 53, 516, 517, 526, 527 Steiner Ludwig  518, 518n Steinert Heinz  62 Steinhauer Erwin  597 Steinmetz Selma  517 Stelzl-Marx Barbara  392, 393, 398, 399 Stern Frank  376 Stiedl Hans  232n Stoifl Rudolf  265, 266, 279 Stojka Karl  519, 527 Stoph Willi  433n Stourzh Gerhard  700 Strache Heinz-Christian  683 Strang William  375 Strecker Heinrich  231, 231n

Personenregister

Streicher Julius  586n Strobl Pius  586n Ströer Alfred  518n Stubenvoll Karl  200n, 202n, 206 Stüdl Johann  291, 304, 304n Stuhlpfarrer Karl  481, 334n Sturm Gerd  312n Stürmer Odo-Neustädter  126, 127n, 196 Suñer Serrano  90 Süßmayr Anton  269 Sznaider Natan  620n, 630 Szöllösi-Janze Margit  71n Taaffe Eduard  168 Tálos Emmerich  62, 128n, 568n Tambo Oliver  26 Tamimi Azzam  627 Taut Bruno  531, 535 Taylor Charles  675n Teltschik Horst  428n, 434, 434n, 438n, 439, 440, 441, 441n, 443n, 444, 447 Tencer Esther  528 Thatcher Margaret  133n, 428n, 429, 433, 435, 443, 446, 447, 447n Thielemann Winfried  465, 466 Thomasitz Josef  203 Thompson Dorothy  25 Thompson Edward  660, 661, 662 Thora Jack Goody zu  257 Tito Josip Broz  110 Toch Ernst  693 Torr Dona  659 Trallori Lisbeth  528 Traverso Enzo  101n Trenker Luis  154n Treßler Otto  164 Troidl Rudolf  291n Trojer Florian  315n Trott zu Solz Adam von  148 Trotzki Leo  104, 109, 110, 478

Personenregister

Truffaut François  471 Tschernjajew Anatoli  434, 443n Turner Pip  378 Tusk Donald  617 Ulram Peter A.  700 Unfried Berthold  217n, 219n, 222n, 227n, 228n, 232n Untermüller Karl  196 Utitz Franz  291n Van der Bellen Alexander  686n Varga Lucie  325, 325n Vaugoin Carl  697 Verschuer Otmar von  644, 647 Vesely Adolf  196 Vogel Hans-Jochen  434 Vogel Jakob  460 Vranitzky Franz  41, 469, 567, 684 Wachs Fritz  526 Wachtel Finni  312n Wagner Birgit  686n Wagner Helmut  278n Wagner Martin  531, 535 Wahsianowicz Otto  204 Waldheim Kurt  63, 111, 327n, 420n, 469, 470, 563, 568, 681–685, 693 Walker Barbara  380 Wallenberg Raoul  518 Wallis Hal B.  31, 32 Wandruszka Adam  37 Wasserstein Bernard  365 Weber Max  43 Weck Peter  592 Wehler Hans-Ulrich  59, 59n, 68n, 69 Weidenholzer Josef  12, 15n, 17n, 18n, 41n, 53, 56, 403, 408, 408n Weindling Paul  642 Weinzierl Erika  18, 44, 48, 54, 469, 527, 581, 684 Weinzierl Michael  686n, 687

765

Welzel Christian  417 Welzer Harald  450 Wenzel Karl  200 Werth Alexander  26, 27 Wessely Paula  154n West Franz  471 Whewell William  458, 458n, 459 Wiesel Elie  515, 527, 528 Wiesenthal Simon  422, 528, 682 Wildt Michael  250, 329n Wilkinson Ellen  381 Williams Eryl  368 Williamson Richard  422 Wilson Roger  380 Wimpfen Graf  233 Windelband Wilhelm  458 Windisch Josef  518n Winkler Heinrich August  250n, 251n Winter Hermann  204 Winter Jay  563 Wippermann Wolfgang  589 Wirsing Bernd  636n Wodak Ruth  131n, 327n, 686n Wodianka Stephanie  603, 603n Wokurek Ludwig  119, 120n Wolf Armin  597 Wortmann Sönke  605 Wössner Jakobus  36 Wyndham Margaret  375 Yaqoob Salma  625, 627 Yassin Sheikh Ahmed  626 Yorck von Wartenburg Peter  141n Zacher Hans F.  640n Zawrel Friedrich  519 Zeininger Pater Josef  518n Zelman Leon  527 Ziegler Meinrad  324n, 563 Ziegler Paul  306n Zilk Helmut  591

766

Zimmerman Abraham  32 Zimmermann Alfred  123, 126 Zuckmayer Carl  23, 24 Zweig Stefan  23, 24 Zwicks Edward  674n

Personenregister

Geografisches Register

Afghanistan  621, 628 Afrika/Africa  25, 171, 300n, 375, 450, 453, 673 Akershus 401 Albanien  109, 236 Algerien 627 Amerika  109–111, 344, 383, 430, 462, 628, 641, 654, 670n Amsterdam  52, 363, 492–495, 521 Amstetten 271 Andalusien  109, 110 Annaberg 182 Antwerpen 363 Argentinien 529 Armenien  443, 623 Aserbaidschan  443, 446 Asien 344 Asturien 110 Asunción 347 Athen  110, 639 Auschwitz/Auschwitz-Birkenau  44, 50, 335, 357, 372, 467, 468, 472, 474, 490, 495, 499, 501, 506, 507, 519, 519n, 527, 549, 566, 573, 580, 619, 622, 624, 631, 640–644, 646, 647, 691 Aust-Agder 401 Australien  300n, 634 Austria  76, 389, 392, 392n, 398–400 Babij Jar  28 Bad Aussee  44 Bad Gastein  303, 304 Baden-Baden 421 Bakel 363 Balkan  109, 110

Baltikum 446 Bamberg 590n Barcelona 110 Baskenland 109 Bayern  40, 585 Belgien  190n, 343–345, 363, 377, 378n, 619 Belsen  372, 373 Berchtesgaden  150, 174 Bergen  401, 402 Bergen-Belsen  362, 363, 365, 368, 369, 370n, 371, 374, 375, 378, 382, 384, 386, 452, 622 Berlin  18, 144–146, 148, 154, 158, 161, 170, 173, 174, 176, 185, 185n, 186, 191n, 212, 214, 340, 346, 382, 399, 404, 405, 422, 428, 428n, 431, 433, 435, 440, 446n, 462, 506–508, 531, 533, 540, 567, 570–572, 605, 643, 647 Berlin Brandenburg  571n Berlin Dahlem  631 Berlin Kreuzberg  605 Berlin Steglitz  188 Berlin Wedding  144 Bislich 364 Bochum 18 Böckstein  303, 304 Böhmen  118, 184n, 273 Bologna 90 Bonn  353n, 430, 431–435, 445, 446, 605 Bosnien  621, 628 Bosruck 314 Bourg-Lastic  28, 29 Bradford 628 Brandenburg 185n Brasilien 23

768

Braunau a. Inn  40  Breslau  187, 340 Brest-Litowsk  109, 110 Bretagne 266 Brie 167 Brioude 30 Brno/Brünn  189, 181n, 461 Brüssel  428, 430 Buchenwald  384, 420, 520, 548, 553 Budapest  64n, 172, 518 Budweis  (siehe České Budějovice) Buenos Aires  479 Burgenland  179n, 185, 204, 320, 322 Burgwartscharte 307 Buskerud 401 Casablanca  31, 32 Celle 384 České Budějovice  180 Chile 419 China  164n, 635 Colchester  19n, 61 Congo  449, 452 Czech Republic  (siehe Tschechien) Dachau  202, 233, 281, 384 Dallas 670n Dänemark/Denmark  389, 393, 588n Danzig 185n Darfur  449, 452, 453 Dargainen-See  27, 28 Den Haag  363 Deutschland/Germany  19, 27, 28, 67, 68n, 75, 76, 85, 90, 92, 93, 97, 98, 103, 107, 109– 111, 128, 142, 146–148, 150, 152, 159n, 162, 167–170, 172, 182, 184–188, 190, 194, 198, 200, 213, 230, 240, 241, 243, 244, 246–251, 260, 262n, 272, 278, 281, 287n, 291, 323, 324, 329, 335n, 337–340, 345–347, 355, 357, 361–364, 376, 377, 379, 380–383, 386, 392, 393, 399 405, 408, 411, 419n, 422, 427,

Geografisches Register

428–432, 435–442, 443n, 444–447, 465n, 469, 470, 506, 548, 549, 564, 566, 568, 571, 572, 576, 579, 585–587, 592, 592n, 593–598, 601, 603, 603n, 604, 605, 608, 608n, 609, 610, 620–622, 633, 634, 640, 642, 644, 646, 654, 660, 691  Dobersberg 285 Dresden 340 Duluth 32 Düsseldorf 185 Ebensee 527 Edmonton 676n Eisenstadt 203 Elbe 364 England  19n, 24, 48, 50, 52, 109–111, 168, 172, 344, 351, 375, 377, 383, 653–665, 717 Essen  185, 270, 284, 378 Estland 24 Europa/Europe  19, 23, 24, 31, 32, 45, 52, 64, 68, 75, 76, 88, 101, 107, 109, 111, 142, 169, 171–173, 235, 236n, 244, 249, 251, 271, 344, 357, 361–363, 379–381, 386, 388–393, 416, 427–448, 428n, 450, 451, 460, 460n, 461, 462, 441, 547, 566, 579, 581, 582, 619, 620, 630, 634, 655, 682, 691, 693, 704 Feldkrich 204 Ferrara 90 Finnmark  400, 401 Frankfurt am Main  340, 344, 345 Frankreich/France  28–30, 52, 76, 110, 148, 167, 169, 189n, 363, 366, 377, 387n, 393, 460, 568, 586, 620, 634n, 641, 654, 670n, 680, 692 Galizien 290 Gaza  623, 626, 679 Genf  126, 676 Gières 476 Glasenbach 276 Graz  50, 53, 54, 180, 320, 426

Geografisches Register

Grenoble 476 Griechenland/Greece  102–107, 109–111, 361, 389 Großbritannien  12, 109, 343, 361, 363, 381, 385, 413, 428n, 586, 619–629, 629n, 633, 654, 655 Großglockner 306 Guantanamo 453 Hall in Tirol  267 Hallein 204 Hamburg  340, 344, 378, 387n Hameln 142 Hannover 383 Hastings-on-Hudson 301n Hedemark  400, 401 Helmond 363 Herford 383 Hinteralm  301, 309, 313 Hofgastein 304 Holland  343–345, 378, 462, 662 Hollywood  31, 32 Hordaland 401 Horn  188, 280 Iglau 284 Indiana  632, 642 Indien 628 Innsbruck  50, 53, 54, 63, 202, 239, 244, 523 Innviertel 40 Irak  101, 427, 445, 623, 625, 628 Irland 627 Israel  304, 467, 529, 568n, 620, 625, 626–629, 629n, 640, 642, 679, 683, 684 Istanbul  475, 593 Italien/Italy  68n, 75, 76, 78, 89, 90, 92, 93, 97, 98, 103, 109–111, 117n, 168–173, 235, 308n, 361, 389, 700  Japan  52, 109, 164n, 405, 635n, 634 Jerusalem 422 Johannesburg 25

769

Jugoslawien/Yugoslavia  109–111, 172, 236, 361, 453 Kairo  419, 420, 424 Kalifornien 31 Kals  287n, 305, 305n, 306, 306n, 307 Kambodscha 623 Kanada/Canada  413, 380, 390 Karlsruhe 340 Kaschmir  621, 628 Katalonien 109 Katyn  547, 617 Kautzen 285 Kiev/Kiew  547n, 28, 435 Kirchberg 182 Kitzbühel 301 Klagenfurt  50, 53, 54, 63, 180, 525 Klagenfurt Annabichl  353n Köln  143, 340, 592, 593, 595 Königsberg 340 Korea  405, 549, 634, 635n Kärnten  179n, 180, 185, 197–199, 209n, 210  Kosovo 623 Krakau 64n Kreisau 141n Kreml  27, 614 Krems 184n Kuba/Cuba  344, 347 Kurland 151 La Bourbole  28 Leipzig  188, 340 Leningrad  (siehe St. Petersburg)  Leoben 180 Lesach  305n, 307 Lettland 24 Libanon 626 Lima 347 Linz  18, 19, 35, 36–39, 43–45, 47–56, 60, 173, 180–182, 272, 407, 525, 681 Lissabon 712

770

Litauen  24, 443, 443n, 444 London  32, 173, 188, 361, 369, 371, 571, 621, 629n, 662 Los Angeles  234, 693 Lötzen 29 Lustenau 219 Luxemburg  190, 345, 377 Lyon 29 Madrid 626 Mainz 428 Manhartsberg 267 Manhattan 667 Massada 467 Masuren  27, 28 Mauritius 479n Mautern 267 Mauthausen  19, 352, 420–422, 476, 515, 525, 526, 526n, 528, 529, 529n, 530, 543, 548, 553, 554n, 555, 712 Mazedonien 109 Mexiko  673, 677, 713 Minnesota 32 Minsk  24, 468 Moislingen 383 Montreal 676n Møre og Romsdal  401 Moskau  110, 164n, 431n, 432, 433–440, 613, 614, 616, 617 Mukono 638 München  289, 292, 340, 343, 344, 414, 447, 447n, 570, 638n, 643 Mürzsteger Alpen  301, 309, 313 Namibia 450 Nauders 301 Neukirchen 182 Neumarkt 182 Neusiedl am See  136 New York  23, 316, 462, 485n, 566, 626, 676, 691, 691n, 713

Geografisches Register

Nieder-Edlitz 284 Niederlande/Netherlands  363, 377, 378, 393, 490, 491, 588n Niedersachsen 185n Nikolsburg/Mikulov 180 Nord-Trøndelag 401 Nordland 401 Normandie  269, 262 Norwegen/Norway  387–389, 392–394, 394n, 395, 396, 398, 400, 402, 588n Nottingham  12, 48 Nürnberg  142, 229, 383, 571 Oberhausen 380 Oberösterreich  9, 185, 198, 203, 220, 239, 245, 247, 276 Obersalzberg 173 Odessa  32, 109 Omaha Beach  674n Oppland 401 Oranienburg 420 Oslo  394n, 395n, 397, 400, 401 Österreich  9, 11, 12, 15, 16–19, 35, 36, 40, 41, 43, 47–49, 54, 55, 60, 62, 63, 63n, 66, 67, 68n, 69, 101, 103, 106, 109–111, 113, 114, 121, 123n, 124n, 127–129, 134, 137, 143, 146, 167–215, 235–251, 256, 258–264, 266, 272, 278, 281, 287n, 291–297, 308, 308n, 311n, 313, 324, 324n, 329, 329n, 335, 337–340, 349–357, 405–411, 411n, 412–417, 435, 445, 459, 468–471, 474, 477, 480, 484, 502n, 516– 519, 519n, 524, 525, 529, 563–572, 578n, 579, 585–598, 632, 681–685, 687, 692, 695–704 Østfold 401 Ottawa 439 Oxford  521, 653 Palästina/Palestine  344, 376, 467, 479n, 622, 625, 628  Paris  18, 29, 30, 169, 269, 277, 339, 342, 391, 431, 502, 571, 676, 717

Geografisches Register

Pearl Harbor  31, 32 Pennsylvania 667 Perm 614 Petrópolis 23 Philadelphia 462 Polen/Poland  24, 109, 148, 244, 281, 412, 413, 416, 429, 430, 435, 444, 445, 445n, 447, 491, 548, 549 Portugal  75, 76, 76n, 85, 89, 90, 92, 93, 96, 98, 110 Posen 300n Prag  174, 304n, 461, 471, 506 Puchberg am Schneeberg  314 Pyrenäen 711 Radkersburg 419 Radstädter Tauern  301, 302 Ravensbrück  517, 520, 529, 530, 632 Rax  295n, 298n Regensburg 383 Rhein 364 Rheinland  142, 143, 145, 146, 385 Riccione  700, 702 Ried i. I.  180 Rio de Janiero  676 Rioja 110 Robben Island  26 Rogaland 401 Rom/Rome  80, 90, 173, 256 Rosenheim 306 Rotterdam 363 Ruanda  475, 622, 623 Ruhr 378 Ruhrgebiet  51, 146, 185n Rumänien/Romania  76, 172 Russland  24, 26, 101, 104, 106, 109–111, 149, 167, 168, 280, 331, 383, 445, 586, 611, 615, 616 Rwanda 453 Sachsen 239

771

Sachsenhausen  548, 550–557, 557n, 558, 559, 632 Saint-Germain 109 Salzburg  9, 19, 53, 54, 60, 61, 63, 179, 185, 187, 197, 198, 202, 204, 210, 304n, 407, 525, 682 Salzkammergut  44, 320, 527 Samara/Kuybischew 110 San Francisco  452 San-Domingo 347 São Paulo  482, 483 Saragossa 110 Sarajevo 181n Schanghai 347 Schärding  17, 40, 203 Schwechat 670n Schweden  343, 372 Schweiz  117n, 343, 345, 366, 593, 632 Schwertberg 203 Serbien 266 Siam 347 Sibirien  110, 111, 377 Sizilien 32 Smolensk 617 Sogn og Fjordane  401 Solowki 614 Sonnblick 304n Sør-Trøndelag 401 Soweto 26 Sowjetunion  24, 26, 27, 32, 105, 109, 111, 149, 179, 244, 280, 429–433, 437, 439–443, 445–447, 613, 654, 655, 660, 669 Spanien/Spain  75, 76, 76n, 87, 88, 90, 92, 93, 98, 101–103, 105–107, 109–111, 517, 517n, 588n, 654 Sri Lanka  101 St. Johann/P.  301 St. Petersburg  27 St. Pölten  267, 268 Stalingrad  27, 32, 149, 282, 332n

772

Steiermark  109, 179n, 180, 185, 204, 210, 239, 242, 320 Stein 276 Steinort 27 Steyr  180, 239 Straßburg 447 Stuttgart  340, 570 Sudan  101, 453 Sudeten  161, 421n, 447 Südtirol  168, 287n, 308 Suez 391 Sum 401 Tel Aviv  632, 645 Telemark 401 Tercio 110 Terre Haute  632 Theresienstadt  44, 691 Tirol  179n, 185, 197, 204, 209n, 210, 239, 244, 244n Torgau 533 Toronto 640 Trentino 308 Trinidad 347 Troms  400, 401 Tschechien 411–414 Tschechoslowakei  169, 172, 173, 187n, 413 Tschernobyl 677 Türkei  109, 475, 623 Tutzing 444n USA  25, 32, 52, 111, 121, 121n, 133, 133n, 164n, 351, 390, 404, 413, 427–48, 529, 568n, 576, 578, 586, 592, 593, 622, 623, 627, 632, 633, 642, 646, 669, 670n, 691 Ukraine  24, 109 Ulrichsberg 426n Ungarn  68n, 103, 109, 111, 168, 274, 282, 284, 411–413, 429, 634n Unterlesach bei Kals  305 Uralgebiet 614

Geografisches Register

Uruguay 344 Valle de los Caidos  107, 111 Vatikan 366 Vermont 24 Versailles 439 Vest-Agder 401 Vestfold 401 Vichy 28 Vienna 454 Virginia 667 Vlotho 361 Vogesen 421 Vorarlberg  179, 185, 197, 202, 204, 244, 419 Wachau 265 Waidhofen a. d. Thaya  265, 270, 276, 284, 285 Warschau  579, 635, 637 Washington D.C.  25, 429–431, 442, 443n, 445–447, 450, 571, 608n, 626, 646 Washington Heights  692 Wattenscheid 185 Weinviertel 320 Weißrussland  28, 30, 109 Wels 180 Werfenweng 304n Wien  9, 11, 18, 19, 20n, 23, 29, 48, 50, 53, 54, 60, 61, 63, 64n, 103, 109–111, 123, 150, 153–164, 168–171, 179n, 180, 181n, 185, 187, 198–206, 210, 219, 221, 225, 238, 239–241, 251, 259–263, 265, 272, 275, 276, 279, 284, 285, 288, 289, 293, 297, 301, 310, 311, 314, 317, 320, 320n, 326, 340, 351, 354, 407, 420, 422, 457, 469, 470, 473, 474, 501n, 516, 519, 525, 526, 567, 570, 571, 572, 670n, 682, 691, 692, 711, 717 Wien Döbling  228n Wien Floridsdorf  688 Wien Hietzing  233 Wien Ottakring  225, 227n, 228n

Geografisches Register

Wien -Strebersdorf  180 Wienerwald 313 Wiesenegg 302 Witten-Annen 548 Wolfsburg 571 Wuppertal-Barmen 383 Zlabings 284 Znaim/Znojmo  180, 282

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SIEGFRIED MATTL, GERHARD BOTZ, STEFAN KARNER, HELMUT KONRAD (HG.)

KRIEG. ERINNERUNG. GESCHICHTSWISSENSCHAFT VERÖFFENTLICHUNGEN DES CLUSTER GESCHICHTE DER LUDWIG BOLTZMANN GESELLSCHAFT, BAND 1

Gewalt, Krieg, Vertreibung und Vernichtung sind am Beginn des 21. Jahrhunderts zu dominanten Gegenständen historiografischer, erinnerungspolitischer und populärkultureller Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geworden. Gegenüber der militärhistorischen und diplomatiegeschichtlichen Perspektive gewinnen dabei Fragen nach den Erfahrungen von Opfern organisierter Gewalt und die Auseinandersetzung mit den kulturellen Kontexten, in denen Kriege und kriegsförmige Akte stattfinden und legitimiert werden, an Bedeutung. Die Beiträge in diesem Band spannen einen weiten Bogen: vom Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg zu NS-Vernichtungslagern und Massenvertreibungen während des jüngsten Balkankrieges; von medialen Strategien im Ersten und Zweiten Weltkrieg über massive, gewaltförmige Bevölkerungsverschiebungen nach 1945 bis zu aktuellen Formen der ritualisierten und gedächtnispolitischen Erinnerung an diese Ereignisse. 2009. 378 S. 5 S/W-ABB. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78193-6

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com

HELMUT KONRAD, GERHARD BOTZ, STEFAN KARNER, SIEGFRIED MATTL (HG.)

TERROR UND GESCHICHTE VERÖFFENTLICHUNGEN DES CLUSTER GESCHICHTE DER LUDWIG BOLTZMANN GESELLSCHAFT, BAND 2

Krieg und Gewalt prägten die Entwicklung Europas und der Welt im 20. Jahrhundert ganz wesentlich. Einen zentralen Stellenwert nimmt dabei der Umgang mit dem Erlebten und Erzählten ein; stellen Traumatisierungen von einzelnen Personen und ganzen Gruppen Gesellschaften doch immer wieder vor Herausforderungen – in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart. In diesem Band präsentieren nicht nur HistorikerInnen, sondern auch PolitikwissenschafterInnen, PsychologInnen und VertreterInnen anderer Fächer Ergebnisse aktueller Forschungen. Darin werden nicht nur Gewalt- und Terrorerfahrungen thematisiert, die durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts verursacht wurden, sondern viele unterschiedliche Formen des Terrors, etwa im Umfeld der Revolution in Ungarn 1919, in NS-Konzentrationslagern, in der Sowjetunion oder im Kambodscha der Roten Khmer. 2012. CA. 272 S. CA. 40 S/W-ABB. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78559-0

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com