Jahrbuch für Universitätsgeschichte 21 (2018): Studentische Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert 351512893X, 9783515128933

Der aktuelle Band des Jahrbuchs berichtet über die jüngsten Forschungen zu Formen des studentischen Protests und der Gew

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German Pages 275 [278] Year 2021

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
(Martin Kintzinger)
Editorial
AUFSÄTZE
(Simon Groth)
Das Mittelalter – Eine „endliche“ Geschichte. Über einen Denkstil der deutschen Mediävistik
(Marcel Bubert)
Empiricism and the Construction of Expertise in Handbooks of the Later
Middle Ages
(Benjamin Johnson)
Combinations of Knowledge: The Science Behind Ammonia Synthesis
(Karsten Linne)
Witzenhausen: Von der Lehranstalt zur Universität
THEMENSCHWERPUNKT: STUDENTISCHE GEWALT IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT
(Oliver Auge und Martin Göllnitz)
Radikale Überzeugungstäter? Studentische Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert:
Konzeption und Fragestellung
(Konrad H. Jarausch)
Studentischer Protest im Wandel der Zeiten. Ideologische Seitenwechsel der
Studierenden im 19. und 20. Jahrhundert
(Dirk Alvermann)
Demagogische Theoretiker oder radikale Sozialisten? Das Ende der Greifswalder Burschenschaft
(Miriam Rürup)
Eine Frage der Ehre. Anerkennungskämpfe jüdischer Studentenverbindungen
in Kaiserreich und Weimarer Republik
(Martin Göllnitz)
Spirale der Gewalt. Radikalisierungsprozesse studentischer Gewalttäter in den
Anfangsjahren der Weimarer Republik und der Ersten Republik Österreich
(Michael Grüttner)
Nationalsozialistische Gewaltpolitik an den Hochschulen 1929–1933
(Jan Mittenzwei)
Der „Greifswalder Blutsonntag“ und die Universität – studentische Gewalt
und ihre Folgen
(Wolfgang Kraushaar)
Die „Tupamaros West-Berlin“ im Kontext des Transformationszusammenhangs studentischer in terroristische Gewalt
(Elisabeth Westphal)
Die Bologna Reform und studentischer Protest. Im Fokus: die uni-brennt-Bewegung 2009/2010
(Holger Zinn)
Ergebnisse und Ausblick
BERICHTE UND REZENSIONEN
(Gisela Boeck)
Briefwechsel von Leonhard Euler mit Johann Andreas von Segner und anderen
Gelehrten aus Halle (Leonhardi Euleri Opera Omnia, Ser. IVA: Commercium
epistolicum 8)
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Jahrbuch für Universitätsgeschichte 21 (2018): Studentische Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert
 351512893X, 9783515128933

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Jahrbuch für Universitätsgeschichte herausgegeben von Martin Kintzinger Wolfgang Eric Wagner

Wissenschaftsgeschichte

Band 21 (2018)

Franz Steiner Verlag

schwerpunkt Studentische Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert gastherausgeber Oliver Auge und Martin Göllnitz

Jahrbuch für Universitätsgeschichte Begründet von Rüdiger vom Bruch Herausgegeben von Martin Kintzinger und Wolfgang Eric Wagner Beirat: Robert Anderson, Michael Borgolte, Marian Füssel, Notker Hammerstein, Akira Hayashima, Walter Höflechner, Konrad H. Jarausch, Dieter Langewiesche, Charles E. McClelland, Sylvia Paletschek, Hilde De Rider-Symoens und Rainer C. Schwinges Redaktion: Prof. Dr. Martin Kintzinger Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, D–48143 Münster E-Mail: [email protected] https://elibrary.steiner-verlag.de/yearbook/JB-JUG

Jahrbuch für Universitätsgeschichte Band 21 · 2018 Schwerpunkt (S. 89–269): Studentische Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert Gastherausgeber: Oliver Auge und Martin Göllnitz

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021 Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1435-1358 ISBN 978-3-515-12893-3 (Print) ISBN 978-3-515-12898-8 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Martin Kintzinger Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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AUFSÄTZE Simon Groth Das Mittelalter – Eine „endliche“ Geschichte. Über einen Denkstil der deutschen Mediävistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Marcel Bubert Empiricism and the Construction of Expertise in Handbooks of the Later Middle Ages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Benjamin Johnson Combinations of Knowledge: The Science Behind Ammonia Synthesis . . . . . . .

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Karsten Linne Witzenhausen: Von der Lehranstalt zur Universität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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THEMENSCHWERPUNKT Studentische Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert Oliver Auge und Martin Göllnitz Radikale Überzeugungstäter? Studentische Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert: Konzeption und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Konrad H. Jarausch Studentischer Protest im Wandel der Zeiten. Ideologische Seitenwechsel der Studierenden im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Dirk Alvermann Demagogische Theoretiker oder radikale Sozialisten? Das Ende der Greifswalder Burschenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Miriam Rürup Eine Frage der Ehre. Anerkennungskämpfe jüdischer Studentenverbindungen in Kaiserreich und Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

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Inhaltsverzeichnis

Martin Göllnitz Spirale der Gewalt. Radikalisierungsprozesse studentischer Gewalttäter in den Anfangsjahren der Weimarer Republik und der Ersten Republik Österreich . . . 155 Michael Grüttner Nationalsozialistische Gewaltpolitik an den Hochschulen 1929–1933 . . . . . . . . . 179 Jan Mittenzwei Der „Greifswalder Blutsonntag“ und die Universität – studentische Gewalt und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Wolfgang Kraushaar Die „Tupamaros West-Berlin“ im Kontext des Transformationszusammenhangs studentischer in terroristische Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Elisabeth Westphal Die Bologna Reform und studentischer Protest. Im Fokus: die uni-brenntBewegung 2009/2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Holger Zinn Ergebnisse und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

BERICHTE UND REZENSIONEN Gisela Boeck Briefwechsel von Leonhard Euler mit Johann Andreas von Segner und anderen Gelehrten aus Halle (Leonhardi Euleri Opera Omnia, Ser. IVA: Commercium epistolicum 8). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

EDITORIAL Martin Kintzinger

Nach dem Ausscheiden des bisherigen redaktionellen Mitarbeiters Stefan Hynek hat mit dem vorliegenden Band Simon Keimeier (Münster) die Arbeit an der Redaktion der Bände übernommen. Die Herausgeber sind Herrn Hynek für die geleistete Zusammenarbeit dankbar verbunden. Der durch die Umstellung unvermeidliche Zeitfaktor wird durch das Erscheinen der Bände 21 und 22 in kurzer Folge ausgeglichen werden. Im Band 21 legen wir in der Rubrik AUFSÄTZE zwei Beiträge zur Mittelalterforschung vor, die sich mit der Methodologie des Historismus sowie dem innovativen Ansatz der Knowledge History befassen. Ein Beitrag aus der Perspektive der naturwissenschaftlichen Wissenschaftsgeschichte und ein weiterer über die Institutionengeschichte der Agrarwissenschaften bereichern das interdisziplinäre Profil des Jahrbuchs. Im THEMENSCHWERPUNKT wird das heute globalgeschichtlich erneut brisante Thema der studentischen Protestkultur und Gewalt exemplarisch für deutschsprachige Universitäten der Moderne und Gegenwart untersucht. In der Rubrik BERICHTE UND REZENSIONEN informiert eine Besprechung über die Ausgabe eines frühneuzeitlichen Gelehrtenbriefwechsels. Damit wird zugleich die Publikation von Literaturberichten und Rezensionen fortgeführt, die künftig verstärkt werden soll. Herrn Dr. Schaber vom Steiner Verlag danken die Herausgeber für die konstruktive Kooperation.

AUFSÄTZE

DAS MITTELALTER – EINE „ENDLICHE“ GESCHICHTE Über einen Denkstil der deutschen Mediävistik Simon Groth

Abstract: The search for a historical truth was (and remains) a, or perhaps even the most important epistemology of historians, so that their discipline may be defined as a positivist science of the past. This view bears far-reaching consequences. By accepting the existence of an accessible historical reality (as a historical truth), thus determining the past as an object of perception, it follows logically that there must exist an end to this past: once all surviving “sources” have been edited and examined by means of the historical-critical method, the historical science would lose its subject matter. Hence, the medieval period, as the example chosen here, would become a “finite” part of history. Disproving this epistemologically untenable position will not be the aim of the present contribution – this endeavour has already been undertaken satisfactorily. Rather, the essay seeks to reveal the (advantageous) consequences of this Denkstil (way of thinking) exercised on the developing historical scholarship in the 19th century by way of analysing three large-scale (German-language) medievalist projects of the time: the editions of the MGH, the volumes of the Regesta imperii and the Jahrbücher der deutschen Geschichte.

EINLEITUNG: DIE ZWEI KÖRPER DES HISTORIKERS Es ist eine letztlich seltsame Aporie, die der Wissenschaft der Geschichte zugrunde liegt. Sich den Grenzen der Erkenntnis, der jeweiligen Standortgebundenheit und damit der unhintergehbaren Subjektivität aller Äußerungen durchaus bewusst – bereits 1752 von Johann Martin Chladenius auf die eingängige Formel der „Sehepunckte“ gebracht1 –, bleibt ein absichtsvoll kritikloser „Positivismus“2 notwendige Trieb-

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Vgl.: Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit gelegt wird, Leipzig 1752, S. 91–115 (Kap. V.). Der Begriff „Positivismus“, also die Vorstellung, dass eine Repräsentation einen Schluss auf die Existenz von einer Sache ermögliche, wird in der Regel auf die Werke Auguste Comtes (1798–1857) und Henry Thomas Buckles (1821–1862) zurückgeführt und bedeutet in dieser Ausrichtung, mittels naturwissenschaftlicher Methoden zur Formulierung universaler Gesetze zu gelangen, Geschichte also zu generalisieren (vgl. zu Comte: Angèle Kremer-Marietti, Le positivisme d’Auguste Comte. L’Harmattan, Paris 2006; und zu Buckle: Eckhardt Fuchs, Henry Thomas Buckle. Geschichtsschreibung und Positivismus in England und Deutschland, Leipzig 1994); der hier gemeinte „Positivismus“ zielt dagegen auf die Vorstellung, mittels Forschung und Quellenkritik zu einer objektiven Rekonstruktion der (Ereignisse der) Vergangenheit zu gelangen. Davon zu unterscheiden wäre ein „naiver“ Positivismus, der jede Quellenaussage (unkritisch) als „Beweis“ für ein Ereignis/ eine Tatsache der Vergangenheit versteht.

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Simon Groth

feder und oftmals berufener „Zauber“ der Zunft,3 will man nicht in der Sackgasse eines entgrenzten Relativismus enden, der spätestens seit Nietzsches Schrift ,Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‘4 eine immer wieder variierte Dissonanz im vielstimmigen Klangteppich der Geschichtswissenschaft darstellt, aus der Hayden Whites „Metahistory“5 als die vielleicht lauteste Irritation heraussticht. Dieses Dilemma ist vielfach erörtert worden,6 wobei die Intensität derartiger methodologischer Reflexionen verschiedene Konjunkturen durchlaufen hat und es scheint, dass die alltägliche Praxis des „Historikers“ in der Regel unbeschwert neben den Gedankengebäuden der „Theoretiker“ ihren (dominanten) Platz hat. Dieses friedliche Mit- (oder eben) Nebeneinander – man könnte somit auch von den „zwei Körpern des Historikers“ sprechen7 – wird nur selten in der nachhaltigen Form eines Paradigmenwechsels gestört. Es überwiegt das Phänomen einer oftmals nur kurzen Phase der Verunsicherung, in der es zu einem geschärften Problembewusstsein kommt, dessen Virulenz schon nach wenigen Jahren die Gelegenheit rückblickender Sammelbände als Aufarbeitung bietet.8

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Vgl. aus mediävistischer Sicht: Werner Paravicini, Die Wahrheit der Historiker, München 2010 (vgl. dazu in kritischer Besprechung: Achim Landwehr, Rezension von: Werner Paravicini, Die Wahrheit der Historiker, München 2010, in: H-Soz-Kult, 05.04.2011, (abgerufen am 06.07.2018)). Vgl. zur „Aktualität erkenntnistheoretischer Fragen und dem Desinteresse der Historie“: Klaus Ries, Jenseits des Rankeanismus. Historismus als Aufklärung, in: Geschichtswissenschaft in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert. Ideen – Akteure – Institutionen, hg. von Dems. gem. mit Christine Ottner, Stuttgart 2014, S. 46–78, hier S. 46–49. Vgl.: Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874), in: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, Berlin/New York 2 1988. Vgl. dazu: Otto Gerhard Oexle, Von Nietzsche zu Max Weber. Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus, in: Ders.: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116), Göttingen 1996, S. 73–94; vgl. auch: Johannes Heinßen, Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 489–559. Vgl.: Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, Baltimore u.a. 1973 (dt.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991). Vgl. (pars pro toto): Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt am Main 2016; Jens Kistenfeger, Historische Erkenntnis zwischen Objektivität und Perspektivität (Epistemische Studien 19), Frankfurt am Main 2011; Jens Pape, Der Spiegel der Vergangenheit. Geschichtswissenschaft zwischen Relativismus und Realismus (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften), Frankfurt am Main u.a. 2006; Hans J. Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität (Reclams UniversalBibliothek), Berlin 2001; Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (Beiträge zur Geschichtskultur 13), Köln/Weimar/Wien 1997. Frei nach: Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Mit einem Geleitwort v. J. Fleckenstein, München 1989 (engl.: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957). Vgl. (wiederum aus mediävistischer Warte): Johannes Laudage (Hg.), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln/Weimar/Wien 2003 als Antwort auf den sogenannten „Lin-

Das Mittelalter – Eine „endliche“ Geschichte

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Bis heute hält sich jedoch, ebenfalls in vielen Abwandlungen formuliert,9 die von Wilhelm von Humboldt schon früh auf den Punkt gebrachte Vorstellung: „Die Aufgabe des Geschichtsschreibers ist die Darstellung des Geschehenen. Je reiner und vollständiger ihm diese gelingt, desto vollkommener hat er jene gelöst.“10 Diese Handlungsanleitung Humboldts, selbst weniger Historiker als Bildungsreformer und Sprachwissenschaftler,11 bestimmt in lakonischer Klarheit eine (vielleicht sogar die) hauptsächliche Epistemologie der Zunft als positivistische Vergangenheitswissenschaft,12 was man in der Terminologie von Ludwig Fleck auch als „Denkstil“ bezeichnen könnte.13 Damit einher ging eine Veränderung des Ideals der eigenen Tätigkeit, die nicht mehr pragmatisch, auf die Erziehung des Menschen zielend, verstanden, sondern in der „Objektivität“, gebunden an die Binarität von „wahr“ und „unwahr“, zentral gesetzt wurde.14 Die Folgen einer derartigen Suche nach der historischen Wahrheit sind jedoch immens. Denn wenn man die Existenz einer solchen akzeptiert, also die Vergangenheit zum Gegenstand der Erkenntnis bestimmt (woraus sich das Ziel einer möglichst genauen (Re)konstruktion dieser Vergangenheit ergibt), dann muss es zwangsläufig ein Ende dieser Vergangenheit geben: Sobald alle überlieferten „Quellen“ – die Überlieferungslage fungiert also als Regulativ – ediert und mittels der historisch-kritischen Methode untersucht sind, verlöre die Wissenschaft von der Erforschung vergangener Zeiten ihren Gegenstand: Das Mittelalter, um das es hier exemplarisch gehen soll, würde zu einer „endlichen“ Geschichte.15

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guistic Turn“ (vgl. dazu auch: Gabrielle Spiegel, The Past As Text. The Theory and Practice of Medieval Historiography, Baltimore 1997). Vgl. allgemein: Stefan Jordan, Der Linguistic Turn und seine Folgen für die Geschichtswissenschaft, in: Text und Geschichte. Geschichtswissenschaftliche und Literaturwissenschaftliche Beiträge zum Faktizitäts-Fiktionalitäts-Geflecht in antiken Texten, hg. von Christof Landmesser und Ruben Zimmermann, Leipzig 2017, S. 55–71. Vgl. etwa: Richard Evans, In Defense of History, New York 1997 (dt.: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt am Main 1998). Wilhelm von Humboldt, Ueber die Aufgabe des Geschichtsschreibers (1821), in: Abhandlungen der historisch-philologischen Klasse der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus den Jahren 1820–1821, Berlin 1822, S. 305–322, Zitat S. 305. Vgl. dazu: Lothar Gall, Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, Berlin 2011, S. 351–356; Ries, Jenseits des Rankeanismus (Anm. 3), S. 60–62. Vgl.: Gall, Wilhelm von Humboldt (Anm. 10). Vgl.: Otto Gerhard Oexle, Ranke – Nietzsche – Kant. Über die epistemologischen Orientierungen deutscher Historiker, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2 (2001), S. 224–244. Vgl.: Ludwig Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Herausgegeben und kommentiert von Sylwia Werner und Claus Zittel, unter Mitarbeit von Frank Stahnisch (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1953), Berlin 2011. Vgl. zum Problemfeld allgemein auch: Thomas Etzemüller, „Ich sehe das, was Du nicht siehst“. Wie entsteht historische Erkenntnis?, in: Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, hg. von Jan Eckel und Thomas Etzemüller, Göttingen 2007, S. 27–68, zu Fleck S. 37–42. Vgl. etwa: Stefan Jordan, Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Schwellenzeit zwischen Pragmatismus und Klassischem Historismus (Campus Forschung 793), Frankfurt am Main 1999, S. 90–99. Vgl. beispielsweise: Wilhelm Giesebrecht, Die Entwicklung der modernen Geschichtswissenschaft in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 1 (1859), S. 16: „Man hat das höchste Ziel in das Auge gefaßt: das Leben der Menschheit, wie es sich in dem Zusammen- und Auseinandergehen der Völkerindividualitäten gestaltet, in seiner Entwicklung zu begreifen, in der Totalität

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Simon Groth

Im Folgenden wird es nun nicht darum gehen, diese erkenntnistheoretisch unhaltbare Position zu widerlegen – dies ist bereits zur Genüge passiert;16 vielmehr soll versucht werden, die sich daraus ergebenden (positiven) Konsequenzen für die sich entwickelnde Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert am Beispiel der Mittelalterforschung sichtbar zu machen. Bevor dieser „produktive“ Positivismus jedoch an den drei aus dem 19. Jahrhundert stammenden Großprojekten der (deutschsprachigen) Mediävistik – den Editionen der MGH, den Bänden der Regesta Imperii sowie den Jahrbüchern der deutschen Geschichte – erfolgen kann, bedarf es zwei kurzer methodologischer Vorüberlegungen.

GRUNDLAGEN: POSITIVISMUS UND OBJEKTIVISMUS ALS DENKSTIL Das angerissene Objektivitätsproblem17 der Geschichtswissenschaft war und ist in die ebenfalls antiquierte wie moderne, heutzutage oftmals aus einer Abwehrstellung heraus geführte Debatte über den Status der Geschichte als Wissenschaft und die Abgrenzung dieser von den sogenannten Naturwissenschaften18 eingebunden.19 Sie

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aller seiner Erscheinungen zu erfassen, und zwar nicht allein mit dem Verstande, sondern mit der ganzen Kraft der Phantasie vollständiger Gegenwärtigkeit. Aber man hält sich überzeugt, daß man nicht durch irgend eine wunderbare Enthüllung des Geistes zu diesem Ziel gelangen wird, sondern nur durch die gründlichste Untersuchung jedes einzelnen Erbstückes aus der reichen geistigen Hinterlassenschaft der Vorzeit, nur durch das Hineinleben und Sichversenken in die ganze Fülle der echten Tradition, welche vor Allem von der unechten mit Nothwendigkeit zu scheiden ist“. Mit anderem Zugriff hingegen: Ferdinand Seibt, Glanz und Elend des Mittelalters. Eine endliche Geschichte, Berlin 1987 (dazu: Hans-Werner Goetz, Das Mittelalter – Eine „endliche Geschichte“? Ein Essay über den Stellenwert und die Ausrichtung der Mediävistik in Geschichtswissenschaft und Gesellschaft, in: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstages, hg. von Bea Lundt und Helma Reimöller, Köln u.a. 1992, S. 3–16), wo die Wendung in einem anderen Sinne gebraucht wird. Vgl. Anm. 6. Dazu auch: Etzemüller, „Ich sehe das, was Du nicht siehst“ (Anm. 13). Vgl. auch: Jörn Rüsen, Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln/Weimar/Wien 2013. Ein Problem, das keineswegs auf die Geschichtswissenschaft beschränkt ist, vgl.: Ulrich Lüke und Georg Souvignier (Hg.), Wie objektiv ist Wissenschaft?, Darmstadt 2017. Vgl. dazu: Otto Gerhard Oexle, Begriff und Experiment. Überlegungen zum Verhältnis von Naturund Geschichtswissenschaft, in: Geschichtsdarstellung: Medien, Methoden, Strategien, hg. von Vittoria Borsò und Christoph Kann (Europäische Geschichtsdarstellungen 6), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 19–56. Die bekanntesten und rezeptionsgeschichtlich bedeutsamsten Abgrenzungsversuche stammen von Wilhelm Dilthey und Wilhelm Windelband. Das eingängigste Schlagwort ist hierbei die von Windelband getroffene Unterscheidung in nomothetische und idiographische Wissenschaften; vgl.: Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rektorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg, gehalten am 1. Mai 1894, in: Ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, Freiburg i. Br./Tübingen 1894, S. 136–160. Vgl. zu Dilthey: Gudrun Kühne-Bertram, Zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in der Philosophie Wilhelm Diltheys, in: Dilthey als Wissenschaftsphilosoph, hg. von Christian Damböck und Hans-Ulrich Lessing, Freiburg/München 2016, S. 225–248.

Das Mittelalter – Eine „endliche“ Geschichte

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geht letztlich auf die Verwissenschaftlichung der Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (und der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte) zurück,20 als aus der bis in die Antike zurückreichenden anthropologischen Konstante Geschichtsschreibung (als Teilgebiet einer Geschichtskultur)21 sich die Universitätsdisziplin Geschichtswissenschaft konstituierte22 (und damit Wissenschaft als Forschung und Forschung als Arbeit gedacht wurde).23 Dabei setzte die Geschichtsschreibung als Selbstzweck den Forscher gleichermaßen als (übergeordnete) Instanz zentral,24 wie sie ihn zugleich als zwangsläufiges Subjekt der Forschung (teilweise) marginalisierte. Im 18. und langen 19. Jahrhundert hatten noch Wissenschaftler wie NichtWissenschaftler gleichermaßen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gesucht;25

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Vgl.: Jörg Christöphler, Geschichte als Anschauung. Geschichtstheoretische Reflexionen über Historiographie von der Aufklärung bis zum Historismus, Kamen 2015; Johannes Süßmann, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824) (Frankfurter historische Abhandlungen 41), Stuttgart 2000; Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860 (European cultures 7), Berlin u.a. 1996; Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft in Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991; Wolfgang Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und die Ästhetisierung der Darstellung, in: Formen der Geschichtsschreibung, hg. von Reinhart Koselleck u.a. (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 4), München 1982, S. 147–192 (ND in: Ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 58–102). Vgl. auch: Heiko Feldner, The New Scientificity in Historical Writing around 1800, in: Writing History. Theory & Practice, hg. von Stefan Berger, Heiko Feldner und Kevin Passmore, London 2003, S. 3–23, der bereits um 1800 eine verstärkte Konzeptualisierung von Geschichte als Wissenschaft in den Diskursen der Zeit aufzeigen konnte. Vgl.: Daniel Woolf, A Global History of History, Cambridge 2001. Vgl. in prägnanter Kürze: Ulrich Muhlack, Geschichtsschreibung als Geschichtswissenschaft, in: Geschichtsdiskurs, Bd. 3: Die Epoche der Historisierung, hg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin, Frankfurt am Main 1997, S. 67–79. Einen Überblick über die (globale) Entwicklung der Historiographiegeschichte bietet der Sammelband: Georg G. Iggers, Q. Edward Wang und Supriya Mukherjee (Hg.), Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute, Göttingen 2013; grundlegend für den Begriff „Geschichte“ ist: Reinhart Koselleck, Art. Geschichte, Historie – I.: Einleitung und V.: Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2 (1975), S. 593–595 und S. 647–691. Vgl. aus mediävistischer Perspektive auch: Frank Rexroth, Das Mittelalter und die Moderne in den Meistererzählungen der historischen Wissenschaften, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 151 (2008), S. 12–31. Vgl. etwa: Wolfgang Hardtwig, Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität, in: Historische Zeitschrift 252 (1991), S. 1–32 (ND in: Ders.: Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters [Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 169], Göttingen 2005, S. 51–76, hier S. 66–76); Ders., Konzeption und Begriff der Forschung in der deutschen Historie des 19. Jahrhunderts, in: Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Referate und Diskussionen des 10. Wissenschaftshistorischen Kolloquiums 1975, hg. von Alwin Diemer (Studien zur Wissenschaftstheorie 12), Meisenheim am Glan 1978, S. 11–26. Vgl. aus mediävistischer Perspektive auch: Daniela Saxer, Die Schärfung des Quellenblicks. Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914 (Ordnungssysteme 37), München 2014. Vgl. auch: Jordan, Geschichtstheorie (Anm. 14), S. 73–75. Vgl.: Martin Nissen, Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848–1900) (Beiträge zur Geschichtskultur 34), Köln/Weimar/Wien 2009. Vgl. zur Reflexion der Erkenntnismöglichkeiten in historischen Romanen auch: Jan-Arne Sohns, An

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Simon Groth

erst die Spezialisierung und Abgrenzung26 an der Wende zum 20. Jahrhundert sorgten für eine Separation, durch die die „Wissenschaft“ bewusst ihren Markt verkleinerte und zu einer Fachdisziplin wurde.27 Diese Abgrenzung wurde auf drei Achsen vollzogen; einmal, diachron, gegenüber unwissenschaftlichen Vorläufern, zweitens, synchron, gegenüber populären, aber aus fachhistorischer Sicht dilettantischen Konkurrenten und drittens, zukunftsgerichtet, durch die Etablierung eines allgemein anerkannten Ausbildungsweges zum Historiker durch ein Geschichtsstudium (Akademisierung) mit Prüfungen sowie einer grundsätzlichen Institutionalisierung des Faches. Das bis heute gültige Schlagwort der „Historisch-kritischen Methode“,28 eigentlich aus dem Bereich der Theologie stammend, diente hierbei gleichermaßen als inkludierendes wie exkludierendes Moment, indem es die Ergebnisse der professionellen (an eine Universität oder geschichtswissenschaftliche Institution gebundenen), und nach eben dieser Methode arbeitenden Historiker von allen anderen Formen der Geschichtsschreibung trennte, deren Protagonisten somit zu Amateuren degradiert wurden.29 Oftmals als Selbstvergewisserung beziehungsweise immer stärker als scharfe Trennung zwischen Geschichte als Wissenschaft und den in das Gebiet der (Sach-)Literatur zurückgesetzten Werken von Amateuren wollte man Teil der sich auch auf anderen Feldern professionalisierenden Wissenschaften sein, die von der allgemeinen Zuversicht getragenen wurden, dass eine methodisch abgesicherte „Forschung“ objektive Erkenntnis ermögliche.30 Der paränetische Impetus der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts trat, ohne diesen vollends aufzugeben, zurück und wurde von einem Streben nach Objektivität abgelöst. Dieses Streben kann bezüglich der deutschen Geschichtswissenschaft – wenngleich der Wurzelgrund natürlich tiefer reicht – auf den wohl wichtigsten Protagonisten dieser Entwicklung, den Universalhistoriker Leopold von Ranke,31 zurückgeführt werden. Sein Aphorismus eines „[s]agen“ beziehungsweise in späterer Fassung

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der Kette der Ahnen. Geschichtsreflexion im deutschsprachigen Roman 1870–1880 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 32), Berlin/New York 2004. Vgl. dazu allgemein: Martin Mulsow und Frank Rexroth unter Mitarbeit von Katharina Ulrike Mersch (Hg.), Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne (Campus Historische Studien 70), Frankfurt am Main 2014. Vgl.: Horst Walter Blanke, Historiographiegeschichte und Historik. Aufklärungshistorie und Historismus in Theorie und Empirie (Fundamenta Historica 3), Stuttgart 1991, S. 275. Vgl. auch: Anthony Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin 1995. Vgl.: Sascha Müller, Die historisch-kritische Methode in den Geistes- und Kulturwissenschaften, Würzburg 2010; Ulrich Muhlack, Von der philologischen zur historischen Methode, in: Historische Methode, hg. von Christian Meier und Jörn Rüsen (Beiträge zur Historik 5), München 1988, S. 154–180; Thomas Kornbichler, Deutsche Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. Wilhelm Dilthey und die Begründung der modernen Geschichtswissenschaft, Pfaffenweiler 1984, S. 39– 54. Vgl. auch: Friedrich von Bezold, Zur Entstehungsgeschichte der historischen Methodik, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 8 (1913), S. 274–306. Diese Eingrenzung der eigenen Zunft wurde auch auf anderen Ebenen vollzogen. Vgl. etwa bezüglich des Aspektes Geschlecht: Falko Schnicke, Die männliche Disziplin. Zur Vergeschlechtlichung der deutschen Geschichtswissenschaft 1780–1900, Göttingen 2015. Vgl.: Wolfgang Hardtwig, Konzeption und Begriff der Forschung in der deutschen Historiographie des 19. Jahrhunderts, in: Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts (Anm. 23), S. 11–26. Vgl.: Andreas Dieter Boldt, Das Leben und Werk von Leopold von Ranke, Oxford/Bern/Berlin 2016 (engl.: The Life and Work of the German Historian Leopold von Ranke (1795–1886). An

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„[z]eigen, wie es eigentlich gewesen“,32 seine Prämisse der Selbstauslöschung des Forschers, damit die Dinge an sich reden könnten,33 ist hinlänglich bekannt. Gleiches gilt für seine Stoßrichtung, die gegen die etwa von Hegel und seinen Anhängern vertretene Ansicht einer Geschichte gerichtet war, die, ob nun als Fortschritts- oder Verfallsphilosophie gedacht, teleologisch auszulegen sei,34 wogegen Ranke postulierte, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott.35 Damit hatte er sich einen eigenständigen Bezugspunkt geschaffen, auf den bei ihm alle Geschichte gleichermaßen bezogen wie daraus abgeleitet wurde. Der studierte Theologe Ranke betrieb, um es auf einen Begriff zu bringen, „Geschichtsreligion“:36 Denn was kann es wohl Angenehmeres und dem menschlichen Verstande Willkommeneres geben, als den Kern und das tiefste Geheimnis der Begebenheiten in sich aufzunehmen [. . .] Und wie dann, wenn man allmählich dahin kommt, daß man entweder mit gerechtem Selbstvertrauen ahnen oder vermittelst der schon geübten Schärfe der Augen vollständig erkennen kann, wohin in jedem Zeitalter das Menschengeschlecht sich gewandt, was es erstrebt, was es erworben und wirklich erlangt hat. Denn das ist gleichsam ein Teil des göttlichen Wissens. Eben nach diesem

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Assessment of His Achievements, Lewiston 2014); Dominik Juhnke, Leopold Ranke. Biografie eines Geschichtsbesessenen, Berlin 2015. Leopold Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 1824, S. VII. Vgl. dazu auch: Konrad Repgen, Über Rankes Diktum von 1824: „Bloß sagen, wie es eigentlich gewesen“, in: Historisches Jahrbuch 102 (1982), S. 439–449; Michael-Joachim Zemlin, ,Zeigen, wie es eigentlich gewesen“. Zur Deutung eines berühmten Rankewortes, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 37 (1986), S. 333–350. Vgl.: Leopold von Ranke, Englische Geschichte, vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, 2. Bd., Berlin 1860, 5. Buch, S. 3: „Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen“. Einführend: Jörg Baberowski, Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 3 2014, S. 31–62; Wolfgang Bialas, Das Geschichtsdenken der klassischen deutschen Philosophie. Hegels Geschichtsphilosophie zwischen historischem Erfahrungsraum und utopischem Erwartungshorizont, in: Geschichtsdiskurs in fünf Bänden, Bd. 3: Epoche der Historisierung, hg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin, Frankfurt am Main 1997, S. 29–44; dezidiert: Max Winter, Hegels formale Geschichtsphilosophie (Philosophische Untersuchungen 38), Tübingen 2015; Christoph Johannes Bauer, „Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck“. Geschichtsphilosophie bei Hegel und Droysen (Hegel-Studien 44), Hamburg 2001. Vgl.: Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximilian II. von Bayern im Herbst 1854 zu Berchtesgaden gehalten. Vortrag vom 25. September 1854. ND in: Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Theodor Schieder und Helmut Berding, München 1971, S. 60: „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst“. Vgl.: Hardtwig, Geschichtsreligion (Anm. 23). Vgl. auch: Thomas Nipperdey, Zum Problem der Objektivität bei Ranke, in: Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, hg. von Wolfgang J. Mommsen, Stuttgart 1988, S. 215–222, hier S. 217, der festhält: „Gott“ sei für Ranke „Voraussetzung der Objektivität“, seine Historie sei „Gottesdienst“. Die Wirkmächtigkeit Rankes wird auch dadurch illustriert, dass Nipperdey, trotz seiner Betonung der Rankes Position zugrunde liegenden Metaphysik, betonte, Rankes Theorie der historischen Erkenntnis sei auch ohne seine religiöse Prämisse eine „starke Theorie“ (S. 222).

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Simon Groth aber suchen wir mit Hülfe der Geschichte vorzudringen; ganz und gar in dem Streben nach diesem Erkennen bewegt sie sich.37

Und abseits der hagiographischen Äußerungen seiner Zeitgenossen und Schüler, die in Ranke die „Inkarnation des historischen Sinnes“38 sahen, ist es vielmehr die Kritik Nietzsches, der Ranke als „klügsten aller klugen „Thatsächlichen“39 und als „Herrn „Objektiven“ mit schwachem Willen“40 ironisierte, die Rankes positivistische Position treffend charakterisiert. Doch hinter Rankes ostentativer Berufung auf „Objektivität“, die er mit Unparteilichkeit gleichsetzte,41 habe sich, so Georg G. Iggers, „nicht nur eine ganze Metaphysik [also Gott], sondern auch eine Gesellschaft, Staat und Kultur umfassende Ideologie [versteckt], die eben einen „objektiven“, d. h. wertfreien Zugang zur Geschichte gerade verhinderte.“42 Die Objekte von Rankes Objektivität waren Nationalstaaten (nicht nur der eigene); und Objektivität kein Ergebnis einer wissenschaftslogischen Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen historischer Erkenntnis. Das immer wieder beschworene Leitbild der „Objektivität“ wurde von Ranke selbst also in einer substanziell anderen Weise verstanden. Rankes Geschichtsauffassung war jedoch – wenngleich keineswegs umfassend – in einem doppelten Zusammenhang prägend: einmal, indem der wissenschaftliche Betrieb in großen Teilen (oftmals sogar ausdrücklich) zumindest grundsätzlich dem von Ranke beschrittenen Pfad vermeintlicher „Objektivität“ als des „[z]eigen, wie es gewesen“ folgte, und zum anderen dadurch, dass die auf den „Staat“ bezogene 37

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Leopold von Ranke, Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik. Eine Rede zum Antritt der ordentlichen Professur an der Universität Berlin im Jahre 1836, in: Leopold von Ranke: Sämtliche Werke, Bd. 24, Leipzig 1877, S. 280–293, Zitat S. 285. Joachim Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, Bd. 3: Das Verstehen in der Historik von Ranke bis zum Positivismus, Tübingen 1933, S. 89. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887), in: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5., Berlin/New York 2 1988, S. 245–412, Zitat S. 387: „Ranke, diesem gebornen klassischen advocatus jeder causa fortior, diesem klügsten aller klugen „Thatsächlichen“. Friedrich Nietzsche, Die deutschen Mystiker, in: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884–1885, Berlin/New York 2 1988, S. 268–274, Zitat S. 270 [26 (449)]. Vgl.: Leopold von Ranke, Die deutschen Mächte und der Fürstenbund. Deutsche Geschichte von 1780 bis 1790, Bd. 1., Leipzig 1871, Vorwort, S. VIII: „Unmöglich wäre es, unter allen den Kämpfen der Macht und der Ideen, welche die größten Entscheidungen in sich tragen, keine Meinung zu haben. Dabei aber kann doch das Wesen der Unparteilichkeit gewahrt bleiben. Denn dies besteht nur darin, daß man die agirenden Mächte in ihrer Stellung anerkennt und die einer jeden eigenthümlichen Beziehungen würdigt. Man sieht sie in ihrem besonderen Selbst erscheinen, einander gegenüber treten, und miteinander ringen; in diesem Gegensatz vollziehen sich die Begebenheiten und die weltbeherrschenden Geschicke. Objektivität ist zugleich Unparteilichkeit“. Vgl. dazu auch: Rudolf Vierhaus, Rankes Begriff der historischen Objektivität, in: Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, hg. von Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen (Beiträge zur Historik 1), München 1977, S. 63–76, hier S. 67. Georg G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 2007, S. 28.

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Politikgeschichte als dominierender Gegenstand fest- und fortgeschrieben wurde. Die Rezeption von Perspektivenerweiterungen (etwa durch die aufkommende Historische Kulturwissenschaft) stand dagegen affirmativ zurück, was zugleich eine Geltungsrelativierung der in dieser Weise arbeitenden Historiker bedeutete.43 Zwar gab es mit der „Historik“ Droysens44 und seiner kantianisch geprägten, „reflektierten, kritischen Aufklärungshistorie“45 in der deutschen Geschichtswissenschaft gleichsam eine konstruktivistische Orientierungsmöglichkeit,46 so dass auch das Problem der Objektivität keineswegs mit Ranke und seiner spezifischen „Geschichtsreligion“ in eins gesetzt zu werden braucht, doch war diese47 weit weniger dazu angetan, das Selbstverständnis der Historiker als Wahrheitssucher (und -finder) zu befriedigen: 43

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Deutlich wird diese Perspektive etwa in der Ausrichtung des „Archivs für Kulturgeschichte“, die sich nicht etwa an Lamprechts Kulturgeschichte orientierte (vgl. dazu unten Anm. 144), sondern Politikgeschichte als zentralen Teil der Kulturgeschichte definierte, da der Staat, so ihr Hauptherausgeber Walter Goetz, „den wesentlichen Mittelpunkt“ des „geschichtlichen Lebens“ bilde und „für einen großen Teil des Kulturlebens das ordnende, das bedingende Prinzip“ sei (Walter Goetz, Geschichte und Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 8 [1910], S. 4–19, Zitat S. 12). Für die Mediävistik ist Giesebrechts mehrbändige Geschichte der deutschen Kaiserzeit (in einem gewissen Sinne bis heute) prägend; vgl. dazu: Simon Groth, Giesebrechts „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“. Über ein Schlüsselwerk der deutschen Mediävistik, in: Historische Mitteilungen 30 (2018), S. 311–335. Vgl. vor allem: Arthur Alfaix Assis, What is history for? Johann Gustav Droysen and the functions of historiography (Making sense of history 17), New York u.a. 2014. Vgl. darüber hinaus die Sammelbände: Stefan Rebenich und Hans-Ulrich Wiemer (Hg.), Johann Gustav Droysen. Philosophie und Politik – Historie und Philologie (Campus Historische Studien 61), Frankfurt am Main 2012; Klaus Ries (Hg.), Johann Gustav Droysen. Facetten eines Historikers (Pallas Athene 34), Stuttgart 2010; Horst Walter Blanke (Hg.), Historie und Historik. 200 Jahre Johann Gustav Droysen. Festschrift für Jörn Rüsen zum 70. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 2009. Vgl. auch: Wilfried Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008, der Droysens theoretische Schriften dagegen als karrieristisches Blendwerk ohne tiefergehende Substanz interpretierte (vgl. dazu die Besprechung von: Thomas Welskopp, Der „echte Historiker“ als „richtiger Kerl“. Neue Veröffentlichungen (nicht nur) zum 200. Geburtstag von Johann Gustav Droysen, in: Historische Zeitschrift 288 [2009], S. 385–407). Klaus Ries, Johann Gustav Droysens „Historik“ und die Tradition der Aufklärungshistorie, in: Johann Gustav Droysen, hg. von Ries (Anm. 44), S. 57–78, Zitat S. 77. Vgl.: Uwe Barrelmeyer, Vom Wirklichkeitsverständnis der Historiker. Geschichtstheoretische Überlegungen im Anschluss an die Historik Johann Gustav Droysens, in: Geschichte und Gegenwart 17 (1998), S. 24–40. Vgl. auch: Jordan, Geschichtstheorie (Anm. 14), S. 166–172. Wenngleich auch er geschichtsphilosophisch auf eine religiös definierte absolute Wahrheit abstellte, die er aber als unerreichbares Ziel verstand; vgl.: Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik. Die letzte Druckfassung (Leipzig 3 1882). In: Johann Gustav Droysen. Historischkritische Ausgabe in 5 Bänden hg. von Peter Leyh und Horst Walter Blanke, Bd. 1: Historik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 413–488, hier §81, S. 443, Z. 29–31: „Der höchste, der unbedingt bedingende, der alles bewegt, alle umschließt, alles erklärt, der Zweck der Zwecke ist empirisch nicht zu erforschen“. Vgl. dazu auch: Dirk Fleischer, Geschichtserkenntnis als Gotteserkenntnis. Das theologische Fundament der Geschichtstheorie Johann Gustav Droysens, in: Historie und Historik, hg. von Blanke (Anm. 44), S. 73–89; Werner Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart 1980, S. 122: „Zusammenfassend heißt dies: die Grundlage von Droysens Geschichtsphilosophie ist trotz der ausdrücklichen Berufung auf die Empirie eine materielle Hermeneutik auf spekulativer bzw. metaphysischer Grundlage“.

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Simon Groth Aber was ist es, dessen Werden, dessen Entwicklungen er [der Erzähler] uns so vorführen will? Der Erzähler kann uns nicht alles und jedes erzählen wollen [. . .] Nach welchem Kriterium wählt er aus, von welchem Gesichtspunkt aus relativ als Ganzes und in sich geschlossen stellen sich ihm die Dinge dar? Man sieht, von objektiver Vollständigkeit kann natürlich nicht die Rede sein, und ein Maß für das Wichtige und Unwichtige in den Dingen selbst, ein objektives Kriterium gibt es nicht, die ganze Frage ruht auf dem Gedanken oder Gedankenkomplex, den der Erzähler darlegen will [. . .] Diese erkannte historische Wahrheit ist freilich nur relativ die Wahrheit; es ist die Wahrheit, wie sie der Erzähler sieht, es ist die Wahrheit von seinem Standpunkt, seiner Einsicht, seiner Bildungsstufe aus; in einer verwandelten Zeit wird sie, kann sie anders erscheinen; man könnte sagen, jede Zeit hat von neuem die Gesamtheit der Geschichte durchzuarbeiten, zu begreifen. Und in diesem Begreifen der Vergangenheit wird sich zugleich die fortschreitende und fortgeschrittene Entwicklung jeglicher Gegenwart darstellen.48

Damit stellte sich Droysen deutlich gegen die Methode Rankes und definierte: Wir haben den Mittelpunkt unserer Frage erreicht; wir dürfen jetzt sagen, das Wesen der geschichtlichen Methode ist forschend zu verstehen, ist die Interpretation. Hier ist der Punkt, an dem ich mit Bewußtsein scheide von der jetzt unter meinen Fachgenossen verbreiteten Methode [dies dürfte gegen Ranke gerichtet sein]; sie bezeichnen sie wohl als die kritische, während ich die Interpretation in den Vordergrund stelle.49

Damit ist ein entscheidender Punkt erreicht und gleichzeitig angedeutet, warum Ranke die Rolle eines Nestors der Geschichtswissenschaft zufallen konnte. Denn abseits seines religiösen Begründungszusammenhanges ist es seine strenge Quellenbindung,50 durch die Ranke im Gegensatz zu Droysen und im Gegensatz zu vielen anderen geschichtstheoretischen und -philosophischen Ansätzen zu einem Generationenvorbild werden konnte und eine unmittelbare Anziehungskraft ausstrahlte.51 Die demonstrative Ausrichtung auf die Quellen mittels Quellenerschließung und Quellenkunde52 bedeutete nämlich nicht nur Distinktion, sondern auch Sicherheit im Ringen um den eigenen Status als Wissenschaft durch ein methodisch kontrolliertes Verfahren und garantierte somit Objektivität mit dem Bezugspunkt einer „historischen Wirklichkeit“ gegenüber einer „Illusion von überlieferten Tatsachen“ bei Droysen.53 Der einfache Mechanismus, je mehr „Quellen“ man zusammentrage, desto näher komme man, wenn man die Regeln der Quellenkritik einhalte, der Wahrheit, bot 48 49 50

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Johann Gustav Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857 (Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung aus den Handschriften) (Anm. 47), S. 1–393, hier S. 230 f. Droysen, Historik (Anm. 47), S. 22. Vgl.: Chris. F. G. Lorenz, Drawing the line. “Scientific” History between Myth-making and Myth-breaking, in: Narrating The Nation: Representations in History, Media and the Arts, hg. von Stefan Berger, Linas Eriksonas und Andrew Mycock (Making Sense of History 11), New York/Oxford 2008, S. 35–55. Die Explikation seiner Quellenkritik findet sich zuerst in einer Anmerkung seines Erstlingswerkes „Geschichte der romanischen und germanischen Völker“ (Anm. 32) und erschien dann als selbstständige Schrift; vgl.: Leopold Ranke, Zur Kritik neuerer Geschichtsschreibung. Eine Beylage zu desselben romanischen und germanischen Geschichten, Leipzig/Berlin 1824. Dazu auch: Ulrich Muhlack, Leopold von Ranke und die Begründung der quellenkritischen Geschichtsforschung, in: Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Jubiläumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen 2001, hg. von Jürgen Elvert und Susanne Krauß (Historische Mitteilungen 46), Stuttgart 2003, S. 23–33. Vgl.: Saxer, Die Schärfung des Quellenblicks (Anm. 23). Droysen, Grundriss der Historik (Anm. 47), §89, S. 445.

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der eigenen Arbeit einen sicheren Hafen und eine feste Orientierung gegenüber anderen Disziplinen und Fächern. Zugleich konnte die Geschichtswissenschaft damit im Sinne eines linearen Fortschrittsglaubens davon ausgehen, dass, je länger historische Forschung betrieben werde, je ausführlicher und detailreicher einzelne Teile erforscht werden würden, desto genauer, sicherer und treffender die Erkenntnis des Gewesenen werden würde. Eine ganze Reihe von Mediävisten bezog sich (bemerkenswerterweise in durchaus unterschiedlicher Ausprägung) auf das Vorbild Ranke,54 das in dieser Weise zu einem individuell nutzbaren Mythos transformiert wurde.55 Die von Droysen vertretene (Gegen-)Position (gegen Rankes Auslöschung des Selbst): „Die historische Forschung setzt die Reflexion voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vermittelter, gewordener, ein historisches Resultat ist“,56 bedeutete dagegen, dass die Subjektivität des Historikers sowie die jeweilige Gegenwart des Historikers zu einem konstitutiven Moment der historischen Erkenntnis werden,57 bei der an die Stelle eines fortschreitend besseren Wissens von der Vergangenheit die Erkenntnis einer doppelten Abhängigkeit der Forschung – nämlich von dem historischen Material sowie von der eigenen Zeit – tritt, was zumindest theoretisch die Existenz von Brüchen oder Diskontinuitäten und die Möglichkeit des Verlustes von Wissen einschließt. Dieser, insbesondere von Max Weber dann auf den Punkt gebrachte Relativismus58 hatte weit weniger Strahlkraft.59

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Vgl. zu Karl Hampe: Folker Reichert, Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen (Schriftenreihe der Historischen Komission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 79), Göttingen 2009, S. 324 f.; vgl. zu Percy Ernst Schramm: David Thimme, Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 75), Göttingen 2006, S. 107–116; vgl. zu Friedrich Baethgen: Joseph Lemberg, Der Historiker ohne Eigenschaften. Eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen (Campus Historische Studien 71), Frankfurt am Main 2015, S. 267 und S. 294–299. Vgl. zu Georg von Below auch: Hans Cymorek, Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 142), Stuttgart 1998, S. 209–215, dessen Bezugnahme auf Ranke ambivalenter ausfällt. Vgl. zur sogenannten Rankerenaissance der Neorankeaner den kritischen Forschungsüberblick bei: Jens Nordalm, „Generationen“ der Historiographiegeschichte im 19. und 20. Jahrhundert? Einige Zweifel am Methodendiskurs in den Geschichtswissenschaften, in: Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, hg. von Jan Eckel und Thomas Etzemüller, Göttingen 2007, S. 284–309, hier S. 297–304; Ders., Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861– 1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft (Historische Forschungen 76), Berlin 2003, S. 124–130. Droysen, Grundriss der Historik (Anm. 47), § 19, S. 425. Vgl. grundsätzlich: Günter Johannes Henz, Leopold von Ranke in Geschichtsdenken und Forschung, 2 Bde., Berlin 2014. Dazu auch: Wilfried Nippel, Das forschende Verstehen, die Objektivität des Historikers und die Funktion der Archive. Zum Kontext von Droysens Geschichtstheorie, in: Johann Gustav Droysen, hg. von Rebenich und Wiemer (Anm. 44), S. 337–391, hier S. 375: „Die Historik ist eben nicht reine Theorie, sondern steht in einem engen Zusammenhang mit Droysens Postulaten, Geschichte als Waffe in der Politik einzusetzen [. . .]“. Vgl.: Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904), S. 22–87. Vgl.: Oexle, Ranke – Nietzsche – Kant (Anm. 12).

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WAS IST EINE QUELLE? Der erkenntnistheoretische Unterschied zwischen Ranke und Droysen wird dabei vor allem im Zusammenhang mit dem grundsätzlichen Verständnis davon, was eine „Quelle“ in geschichtswissenschaftlicher Auslegung sei, deutlich.60 Bis auf den heutigen Tag werden in einführenden Lehrbüchern zwei vermeintlich ähnliche Konzepte aus dem 19. Jahrhundert aufgegriffen und skizziert,61 ohne diese ihrerseits in den Werk- und Gedankenkontext ihrer Autoren zu setzen.62 Nachdem nämlich zunächst Droysen in seinem ,Grundriss der Historik‘, die 1868 erstmals im Druck erschien,63 eine Ordnung vorgeschlagen hatte,64 griff Ernst Bernheim65 in seinem vielseitigen ,Lehrbuch der Historischen Methode‘ die Ausführungen Droysens zwar auf, modifizierte sie jedoch in einer epistemologisch entscheidenden Weise und überführte dessen Dreiteilung (Quellen, Denkmäler, Überreste) in eine leicht zugängliche Binarität (Tradition und Überreste).66 Bereits die Begrifflichkeit macht die Differenz sichtbar. Während Droysen die etwas sperrige und nüchterne Wendung „Historische Materialien“ als Oberbegriff einführte, ersetzte Bernheim diese durch den vertrauten Terminus „Quellen“, der bei Droysen lediglich eine Teilklasse der „Historischen Materialien“ darstellt. Die Konsequenz dieser Synekdoche scheint auf den ersten Blick unwesentlich, doch zeigt sich hierin Bernheims Überwindung des kantianisch geprägten Kritizismus Droysens durch einen gemäßigten Positivismus und bedeutet damit dezidiert keine methodologische Weiterentwicklung. Denn mittels der Metapher „Quelle“,67 die munter sprudelnd dem Historiker zur Verfügung stehe und

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Grundlegend: Otto Gerhard Oexle, Was ist eine historische Quelle?, in: Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 4 (2004), S. 165–186. Vgl. aus der mediävistischen Einführungsliteratur etwa: Hiram Kümper, Materialwissenschaft Mediävistik. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften (UTB 8605), Paderborn 2014, S. 19; Hans-Werner Goetz, Proseminar Geschichte. Mittelalter (UTB 1719), Stuttgart 3 2006, S. 91. Vgl.: Helmut G. Walther, Droysens „Historik“ und der Positivismus des deutschen Historismus. Die Quellensystematik in Droysens Historik-Vorlesungen und in Ernst Bernheims „Lehrbuch der Historischen Methode“, in: Johann Gustav Droysen, hg. von Ries (Anm. 44), S. 43–56. Vgl.: Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, Leipzig 1868 (3 1882). Vgl. auch Anm. 75. Vgl.: Droysen, Grundriss der Historik (Anm. 47), § 21, S. 426. Vgl. zu Person, Werk und Rezeptionsgeschichte: Mircea Ogrin, Ernst Bernheim (1850–1942). Historiker und Wissenschaftspolitiker im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Pallas Athene 40), Stuttgart 2012; vgl. darüber hinaus: Knut Langewand, Historik im Historismus. Geschichtsphilosophie und historische Methode bei Ernst Bernheim (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3 / 1059), Frankfurt am Main u.a. 2009. Vgl: Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte. Leipzig 5./6. neubearb. Aufl. 1908 (1889; 3./4. Aufl. 1903; ND München 1914; New York 1970), S. 255–259. Vgl. auch: Ernst Bernheim, Einleitung in die Geschichtswissenschaft (Sammlung Göschen 270), Leipzig 1905 (ND 1909 und 1912), S. 79–113, wo Bernheim zwischen „Beobachtung“, „Bericht“ (im Sinne von „Tradition“) und „Überrest“ differenzierte. Vgl.: Michael Zimmermann, Quelle als Metapher. Überlegungen zur Historisierung einer historiographischen Selbstverständlichkeit, in: Historische Anthropologie 5 (1997), S. 268–287; Oexle, Was ist eine historische Quelle ( Anm. 60), S. 165 f.

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zugleich eine „Aura des Ursprünglichen“68 bedinge, hatte Bernheim Droysens fundamentale Prämisse des Historikers als erkennendes Subjekt der Forschung wieder aufgehoben69 und konnte analog zu Rankes Selbstauslöschung des Historikers postulieren: „Quellen sind Resultate menschlicher Betätigungen, welche zur Erkenntnis und zum Nachweis geschichtlicher Tatsachen entweder ursprünglich bestimmt oder doch vermöge ihrer Existenz, Entstehung und sonstiger Verhältnisse vorzugsweise geeignet sind.“70 Im Gegensatz dazu waren für Droysen „Quellen“ keine Objekte, durch die die Erkenntnis oder der Nachweis/Beweis geschichtlicher Tatsachen möglich seien. Vielmehr biete sich lediglich das „Historische Material“ dem Forscher als Bezugspunkt dar, so dass für diesen die Geschichtswissenschaft unmöglich eine Wissenschaft der Vergangenheit sein konnte. Die Vergangenheit (oder: die Vergangenheiten)71 existiere einzig und allein in Form des „Historischen Materials“, das jedoch nicht von sich aus zum Forscher spreche; denn am Anfang aller Geschichtswissenschaft stehe die „historische Frage“ des Forschers als maßgebende Heuristik.72 Historische Erkenntnis könne damit zwangsläufig kein Abbild der Vergangenheit, keine Rekonstruktion sein, sondern – mit den Worten Droysens – einzig ein „geistiges Gegenbild“.73 Die Rezeptionsgeschichte beider Werke – Bernheims Lehrbuch erschien zwischen 1889 und 1908 in sechs Auflagen, wurde durch eine 1905 publizierte Kurzfassung ergänzt und in mehrere Sprachen übersetzt,74 wohingegen Droysens Historik

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Zimmermann, Quelle als Metapher (Anm. 67), S. 282. Vgl.: Droysen, Grundriss der Historik (Anm. 47), § 20, S. 426: „Der Ausgangspunkt des Forschens ist die historische Frage“. Bernheim, Lehrbuch (Anm. 66), S. 253. Vgl.: Droysen, Grundriss der Historik (Anm. 47), § 5, S. 422: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein“; Droysen, Historik, ebd., S. 484: „Diese kritische Ansicht, daß uns die Vergangenheiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur in vermittelter Weise vorliegen, daß wir nicht „objektiv“ die Vergangenheiten, sondern nur aus den „Quellen“ eine Auffassung, eine Anschauung, ein Gegenbild von ihnen herstellen können, daß die so gewinnbaren Auffassungen und Anschauungen alles sind, was uns von der Vergangenheit zu wissen möglich ist, also „die Geschichte“ nicht eigentlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht und so gewusst da ist, – das muß, so scheint es, der Ausgangspunkt sein, wenn man aufhören will, in der Historie zu naturalisieren“. Vgl.: Droysen, Historik [Anm. 47], S. 58: „Die Forschung sucht etwas, sie ist nicht auf ein bloß zufälliges Finden gestellt; man muß zuerst wissen, was man suchen will, erst dann kann man finden; man muß die Dinge richtig fragen, dann antworten sie [. . .]“. Vgl.: Droysen, Historik (Anm. 47), S. 215: „Wir wissen wohl, daß dieser Tatbestand [als Ergebnis der Heuristik] nicht der unmittelbare, reale der einstigen Gegenwart ist; sondern er ist aus den Überbleibseln und Erinnerungen desselben in dem Bereich unserer Vorstellungen hergestellt, er ist nur ein geistiges Gegenbild dessen, was einst war und geschah; und dies ist ein Werk unseres Geistes“. Vgl. auch: Otto Gerhard Oexle, Im Archiv der Fiktionen, in: Rechtshistorisches Journal 18 (1999), S. 511–525. Vgl. zum innovativen Gehalt von Droysens Geschichtsdenken auch: Arthur Alfaix Assis, Droysens Historik und die Krise der exemplarischen Geschichtstheorie, in: Historie und Historik, hg. von Blanke (Anm. 44), S. 11–26. S. Anm. 66. Vgl. zur internationalen Rezeption: Ogrin, Ernst Bernheim (Anm. 65), S. 319–342.

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(nicht nur aufgrund eines komplizierten Veröffentlichungsverlaufs)75 (bis heute) ausgeklammert erscheint – verdeutlicht, kurz gesagt, die Ausrichtung der Zunft.

PRODUKTIVER POSITIVISMUS: DIE DEUTSCHE MEDIÄVISTIK IM 19. JAHRHUNDERT Es sind vor allem drei (deutschsprachige) Großprojekte, die dafür sorgten, dass das 19. Jahrhundert als eine Zeit gilt, in der die „mediävistische Forschung in Deutschland mit dem vollsten Glanz und größten Erfolg gepflegt wurde.“76 Hierbei handelt es sich um die Quelleneditionen der Monumenta Germaniae Historica (MGH),77 um die Transformation der überlieferten Tätigkeitsbelege der mittelalterlichen Könige und Kaiser in eine chronologisch-tabellarische Reihe namens Regesta Imperii78 und um die Überführung dieser Sammlungen in eine monographische Form als zunächst Jahrbücher des Deutschen Reichs später als Jahrbücher der Deutschen Geschichte, die als Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften publiziert wurden.79 Neben dem produktiven Positivismus, der allen drei Unternehmungen inhärent war, kann an ihrer Geschichte zugleich ein Wandel innerhalb der Mediävistik nachgezeichnet werden.

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1868 erschien eine erste Fassung unter dem Titel „Grundriß der Historik“; eine vollständige Ausgabe wurde erst 1937 veröffentlicht und war nun mit „Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte“ überschieben. Vgl. dazu: Peter Leyh, Vorwort des Herausgebers, in: Johann Gustav Droysen. Historisch-kritische Ausgabe in 5 Bänden (Anm. 47), S. IX-XXIX. Vgl. auch: Horst Walter Blanke, Die Historik im Kontext der Lehr- und Publikationstätigkeit Droysens, in: Johann Gustav Droysen, hg. von Rebenich und Wiemer (Anm. 44), S. 393–426; Mario Wimmer, Die Lagen der Historik, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18 (2007/2), S. 105–125. Vgl. auch die pointierte Einschätzung von: Welskopp, Der „echte Historiker“ (Anm. 44), S. 398: „Die „Historik“ könnte auch zu avanciert und ambitioniert gewesen sein, um von Droysens Historikerschülern wirklich aufgegriffen zu werden“. Raoul Charles van Caenegem unter Mitarbeit von François Louis Ganshof, Kurze Quellenkunde des Westeuropäischen Mittelalters, Göttingen 1964 (frz. 1962), S. 180. Zur Geschichte der MGH: Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae historica, Hannover 1921 (Nachdruck Hannover 1976); Georg Winter, Zur Vorgeschichte der Monumenta Germaniae Historica, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 46 (1926), S. 1–30; Karl Obermann, Die Begründung der MGH und ihre Bedeutung, in: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. 1: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, hg. von Joachim Streisand, Berlin (Ost) 1963, S. 113–120; Herbert Grundmann, Monumenta Germaniae Historica 1819–1969, München 1969; vgl. auch: Horst Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter. Unter Mitarbeit von Markus Wesche, München 1996. Vgl.: Johannes Bernwieser, Les „Regesta Imperii“. Un recueil de sources sur l’histoire du Moyen Âge européen, in: Francia 40 (2013), S. 189–205. Vgl.: Friedrich Baethgen, Die Jahrbücher der deutschen Geschichte, in: Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858–1958, Göttingen 1958, S. 70–81.

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Am Anfang stand Optimismus. So glaubte der maßgebliche Initiator der MGH, Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein,80 man werde innerhalb weniger Jahre sämtliche „Alterthümer“ ediert und dem deutschen Volke zugänglich gemacht haben.81 Nachdem in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der ,Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde‘ im Jahre 1819 eine beeindruckende Zahl an Editionen mittelalterlicher Quellen veröffentlicht worden war,82 ebbte die rege Betriebsamkeit keineswegs ab, sondern nahm mit fast schon stoischer Geschäftigkeit weiter ihren Gang, und es entwickelte sich eine effiziente Routine, über die jahrweise penible Rechnung abgelegt wurde.83 Die schiere Masse der erschlossenen und edierten Quellen lassen die Zeit zwischen 1875, der „Verstaatlichung“ des Unternehmens, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 als „Glanzzeit der Monumenta“ erscheinen.84 Zumindest eine kurzzeitige Mitarbeit bei den Monumenten galt als Karrieresprungbrett (fallweise wohl auch als -notwendigkeit)85 und die festen Mitarbeiter wurden in der Regel als ausgewiesene Größen des Faches angesehen. Flankierend wurden auch in den Historischen Kommissionen, die auf einen Vortrag Rankes vor Maximilian II. im Jahr 1854 in Bayern zurückgehen, mittelalterliche Quellen, hier mit einem stärker regionalgeschichtlich orientierten Fokus, ediert, und der wissenschaftliche Nachwuchs ausgebildet.86 Gleiches gilt für das 80 81

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Vgl.: Rudolf Schieffer, Stein und die Anfänge der Monumenta, in: Stein. Die späten Jahre des preußischen Reformers 1815–1831, hg. von Heinz Duchhardt, Göttingen 2007, S. 1–14. Vgl.: Brief Stein an Pertz (26. April 1820): „Erwägt man, daß die Sammlung so Bouquet anfing, vor 70 Jahren begonnen wurde, so kann man zufrieden seyn, wenn wir mit unserer Sammlung innerhalb 10 Jahren bis zu Rudolfs Tod vorrücken“ (vgl.: R. Hering, Freiherr vom Stein, Goethe und die Anfänge der „Monumenta Germaniae historica“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts [1907], S. 278–323, Dokumentenanhang, Brief S. 318–320, Zitat S. 320). Die Vorstellung einer endlichen Aufgabe findet sich auch im Titel des hauseigenen Periodikums, das zunächst den Namen ,Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde‘ (12 Bände, 1820–1874) trug und anschließend in ,Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde‘ (NA / 50 Bände, 1876–1935) umbenannt wurde, jeweils aber den Titelzusatz „zur Beförderung einer Gesamtausgabe der Quellenschriften deutscher Geschichten des Mittelalters“ beinhaltete. Vgl. auch: Georg Waitz, Georg Heinrich Pertz und die Monumenta Germaniae historica, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 2 (1877), S. 451–473, hier S. 463: „Ueber den Umfang der Sammlung machte man sich allerdings in früherer Zeit Illusionen: Pertz schlug ihn wohl einmal auf 30 Bände an und meinte die Vollendung dieser wohl erreichen zu können, [. . .]“. Vgl. zur Anfangszeit: Gerhard Schmitz, Zur Entstehungsgeschichte der „Monumenta Germaniae Historica“, in: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hg. von Heinrich Beck u.a. (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 34), Berlin 2004, S. 503–522. Vgl. die entsprechenden Jahresberichte im Periodikum der Gesellschaft (vgl. Anm. 98). Rudolf Schieffer, Weltgeltung und nationale Verführung. Die deutschsprachige Mediävistik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1918, in: Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hg. von Peter Moraw und Rudolf Schieffer (Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005, S. 39–61, Zitat S. 41. Vgl.: Fuhrmann, Gelehrtenleben (Anm. 77), S. 93–98. Vgl.: Lothar Gall, 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: „ ... für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Dems., München 2008, S. 7–58 (vgl. dort auch: Rudolf Schieffer, Mittelalterliche Geschichte, S. 59–78).

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Historische Institut in Rom (1888 als Preußische Historische Station gegründet)87 sowie das Kaiser-Wilhelm-Institut für deutsche Geschichte88 mit der Germania Sacra.89 Damit verfügte die deutsche Mediävistik (neben den Universitäten) über eine einzigartige Topographie wissenschaftlicher Kaderschmieden.90 Und nicht nur den MGH als dem zentralen Kristallisationspunkt der Editionstätigkeit kam eine Vorbildfunktion im internationalen Vergleich zu. Auch andere Editionsreihen, etwa das Göttinger Papsturkundenwerk (Regesta Pontificum Romanorum),91 waren (und sind) von gesamteuropäischer Bedeutung. Bezüglich diesem dachte ihr Gründer Paul Fridolin Kehr ebenso wie der Freiherr vom Stein, dass für das Projekt „ein Jahrzehnt und einige Mitarbeiter“ genügen würden,92 als er im Jahr 1896 begann, die älteren Papsturkunden und -briefe nach dem Vorbild der Diplomata-Bände der MGH möglichst vollständig zu edieren.93 Die dadurch vermittelten Prägungen philologischer Verfahren,94 also die Prüfung der Verwandtschaft von Handschriften, die Erstellung von Stemmata, die Suche 87

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Vgl.: Reinhard Elze, Das Deutsche Historische Institut in Rom 1888 – 1988, in: Das Deutsche Historische Institut in Rom 1888–1988, hg. von Reinhard Elze und Arnold Esch (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 70), Tübingen 1990, S. 1–32; Arnold Esch, Die Gründung deutscher Institute in Italien 1870–1914, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen (1997), S. 159–188. Vgl.: Eckart Henning und Marion Kazemi, Kaiser-Wilhelm-Institut für deutsche Geschichte / Max-Planck-Institut für Geschichte, in: Handbuch zur Institutsgeschichte der Kaiser-Wilhelm-/ Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1911–2011. Daten und Quellen, Berlin 2016, 2 Teilbände, Teilband 1: Institute und Forschungsstellen A-L, Seite 558–574. Vgl.: 100 Jahre Germania Sacra. Kirchengeschichte schreiben vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, hg. von Hedwig Röckelein (Studien zur Germania Sacra NF 8), Berlin 2018; vgl. auch: Gottfried Wentz, Die Germania sacra des Kaiser-Wilhelm-Instituts für deutsche Geschichte, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 86 (1941), S. 92–106. Vgl. auch: Irene Crusius, Die Germania Sacra. Stand und Perspektiven eines langfristigen Forschungsprojekts, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 52 (1996), S. 629–642. Vgl.: Hermann Heimpel, Über Organisationsformen historischer Forschung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 189 (1959), S. 139–222. Vgl.: Rudolf Hiestand, 100 Jahre Papsturkundenwerk, in: Hundert Jahre Papsturkundenforschung. Bilanz – Methoden – Perspektiven, hg. von Dems. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse. Folge 3, Bd. 261), Göttingen 2003, S. 11–46. Paul Fridolin Kehr, Über die Sammlung und Herausgabe der älteren Papsturkunden bis Innocenz III., 1198, in: Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, PhilosophischHistorische Klasse 10 (1934), S. 71–92, Zitat S. 72 (ND in: Paul Fridolin Kehr, Ausgewählte Schriften. Zwei Teilbände, hg. von Rudolf Hiestand [Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 250], Göttingen 2005, Tbd. 1, S. 40–61). Vgl.: Dieter Girgensohn, Kehrs Regesta Pontificum Romanorum. Entstehung – wissenschaftlicher Ertrag – organisatorische Schwächen, in: Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia, hg. von Klaus Herbers und Jochen Johrendt (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse NF 5), Berlin u.a. 2009, S. 215–260. Als Begründer der historisch-kritischen Editionspraxis, bei der für das Erstellen von Texten feste Normen als maßgeblich gesetzt wurden, gilt Karl Konrad Friedrich Wilhelm Lachmann (* 4. März 1793; † 13. März 1851); vgl. dazu: Sebastiano Timpanaro, Die Entstehung der Lachmannschen Methode. Autorisierte Übertragung aus dem Italienischen von Dieter Irmer. Hamburg zweite, erweiterte und überarbeitete Auflage 1971; Harald Weigel, „Nur, was du nie

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nach Abhängigkeiten etc. sind vielfach greifbar und evozierten eine spezifische Ausrichtung der Mittelalterforschung, die man vielleicht als „Editionsaffinität“ verschlagworten könnte. Dies bedingte zugleich eine hohe Sensibilität für sämtliche Aspekte der Editionstätigkeit; sowohl bezüglich der praktischen Frage, welche Kriterien eine gelungene Edition zu erfüllen habe, als auch bezüglich der konkreten Arbeit mit dem historischen Material im Sinne klassischer Quellenkritik,95 deren Kern die Bewertung (und Hierarchisierung) von Textzeugen war, beziehungsweise sich um die grundsätzliche Frage nach der Echtheit (discrimen veri ac falsi) von Urkunden drehte.96 Der teils erbitterte Streit über Detailfragen und Abhängigkeiten von Handschriftenklassen und Leithandschriften war dabei von einem positivistischen Endlichkeitsstreben durchdrungen und auf das Ziel allgemein akzeptierter, überzeitlich gültiger Editionen ausgerichtet.97 Gleichzeitig führte dieser Umstand zu einer gewissen

gesehn wird ewig dauern“. Karl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition, Freiburg im Breisgau 1989; Winfried Ziegler, Die „wahre strenghistorische Kritik“. Leben und Werk Carl Lachmanns und sein Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft (Theos 41), Hamburg 2000. 95 Vgl.: Horst Fuhrmann, Die Monumenta Germaniae Historica und die Frage einer textkritischen Methode, in: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo 100 (1995/96), S. 17–29; Hartmut Hoffmann, Die Edition in den Anfängen der Monumenta Germaniae historica, in: Mittelalterliche Texte. Überlieferung – Befunde – Deutungen. Kolloquium der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica am 28./29. Juni 1996, hg. von Rudolf Schieffer, Hannover 1996, S. 189–232. 96 Die Diplomatik stellt hier eine im Grunde eigenständige Richtung dar, bei der die Echtheit einer Urkunde anhand von äußeren wie inneren Idealtypen bestimmt wird. Dieses Verfahren geht (mit gleichsam wichtigen Vorläufern – hier wäre etwa Jean Mabillon zu nennen) vornehmlich auf Theodor von Sickel zurück, der von Lachmann selbst in dessen textkritischer Methode unterwiesen worden war. Der entscheidende Auslöser war die Regestenarbeit Johann Friedrich Böhmers. Vgl. zur Methode Sickels: Theodor Sickel, Vorrede, in: Die Urkunden Konrad I., Heinrich I. und Otto I. Conradi I., Heinrici I. et Ottonis I. Diplomata, ed. Theodor Sickel (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 1), Hannover 1879–1884, S. I-XIX; davor zudem: Georg Waitz, Wie soll man Urkunden ediren?, in: Historische Zeitschrift 4 (1860), S. 438–448. Vgl. auch: Saxer, Die Schärfung des Quellenblicks (Anm. 23), S. 323–384. 97 Die entscheidende Grundlegung der Editionsarbeit geht auf Pertz zurück, der für Stein einen Entwurf ausarbeitete (nachdem zuvor bereits innerhalb der Gesellschaft darüber diskutiert worden war), der als „Cappenberg-Entwurf“ firmiert. Abgedruckt findet sich eine von der Zentraldirektion abgesegnete Fassung in: Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 5 (1824–1825), S. 788–798. Ziel war eine „endliche Bestimmung der Grundsätze“ (S. 788) bei der eine „diplomatisch-treue Herstellung des [zu edierenden] Werks“ vor dem Hintergrund eines „vollständigen Urtheils“ über Werk und Werkkontext (S. 796): „Der Zweck der Gesellschaft ist die Herausgabe einer vollständigen und berichtigten, möglichst wohlfeilen und anständig gedruckten Sammlung geschriebener Quellen der deutschen Geschichte“ (S. 790). Vgl. auch: Georg Heinrich Pertz, Das Leben des Freiherrn vom Stein. Fünfter Band: 1815–1823, Berlin 1854, S. 824 f.: „Der Cappenberger Entwurf [. . .] forderte für die gleichmäßige Ausführung ein streng-wissenschaftliches Verfahren, wie es sich dem Geschichtsforscher als natürlich und nothwendig darstellt. Die urkundlich-treue Herstellung der Texte ward als die Hauptsache bezeichnet, welcher alle anderen Leistungen untergeordnet werden müßten; sie sollte erreicht werden durch Benutzung aller erreichbaren Handschriften, durch die Erforschung der Entstehung jedes Werkes und die Kenntnis der aus ihm abgeleiteten Schriften. Der Herausgeber sollte also

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Vorläufigkeit einiger Studien, die immer wieder angezeigt wurde. Viele Publikationen stellen demnach work-in-progress Arbeiten dar, deren Halbwertzeit durch neue Funde oder überzeugende Gegenargumente begrenzt war, weswegen einige Werke mehrmals ediert wurden. Doch ging es stets um die Suche nach einem festen editorischen Boden, auf dem die Forschung sicheren Stand finden würde. Ein vielfach reger Briefaustausch unter der überschaubaren Zahl der Spezialisten lassen ein kommunikatives System erkennen, das dem Topos des einsamen Schreibtischgelehrten entgegensteht. Teilweise überführten Veröffentlichungen in der institutseigenen Zeitschrift der MGH98 die dialogische Form der Auseinandersetzungen in Briefen auf die höhere Ebene einer scientific community. Paradigmatisch ist hier die Auseinandersetzung99 über eine befriedigende Edition der Lex Salica.100 Nachdem Georg Heinrich Pertz 1843 an einer Ausgabe gescheitert war, hatte zunächst Georg Waitz eine textkritische Grundlage aufgestellt, von der der neue Bearbeiter Mario Krammer jedoch absah und das bis dahin angenommene Handschriftenverhältnis umkehrte. Bruno Krusch publizierte dann gegen die sich bereits im Druck befindliche Edition eine auf philologischen, historischen und rechtshistorischen Argumenten fußende Fundamentalkritik,101 die von Claudius Freiherr von Schwerin aus juristischer Perspektive ergänzt wurde.102 Daraufhin sah sich die Zentraldirektion der MGH dazu veranlasst, zahlreiche Gutachten einzuholen und diese zu veröffentlichen.103 Wenngleich Krammer die Gelegenheit einer Entgegnung eingeräumt wurde,104 stand, als über diese wiederum der Stab gebrochen worden

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durch den, nach ihrer Abstammung von einander geschichtlich gegliederten, Vorrath sämtlicher Handschriften bis zu ihrer ersten Quelle, der ehemaligen Urschrift, hinaufsteigen und deren Herstellung auf den Grund der besten Handschrift, mit Benutzung der übrigen ausführen. Dieses auf klarer geschichtlicher Anschauung beruhende und die Beherrschung des ausgebreiteten handschriftlichen Stoffes fordernde Verfahren unterschied sich von Allem, was früheren großen Werken der Art und unter Philologen hergebracht war; es ertheilte der Deutschen Arbeit ihren bestimmten Charakter und sicherte ihr einen Werth für alle Zeiten“. Zu Pertz: Klaus Gantert, Mittelalterbilder am Bodensee und in Berlin. Zum Wissenschaftsverständnis von Joseph von Laßberg und Georg Heinrich Pertz, in: Das Mittelalterbild des 19. Jahrhunderts am Oberrhein, hg. von Hansmartin Schwarzmaier (Oberrheinische Studien 22), Ostfildern 2004, S. 47–64. Vgl. auch: Waitz, Georg Heinrich Pertz (Anm. 81). Vgl.: Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 1–12 (1820–1874) / Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 1–50 (1876–1935). Zum Ablauf vgl. auch: Karl Hampe, Mittelalterliche Geschichte (Wissenschaftliche Forschungsberichte. Geisteswissenschaftliche Reihe 1914–1920), Gotha 1922, S. 22 f. Allgemein zur Forschungsgeschichte: Hans-Achim Roll, Zur Geschichte der Lex SalicaForschung (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 17), Aalen 1972. Vgl. auch: Karl Ubl, Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs. Die Lex Salica im Frankenreich (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 9), Ostfildern 2016, S. 11–36. Vgl.: Bruno Krusch, Der Umsturz der kritischen Grundlagen der Lex Salica. Eine textkritische Studie aus der alten Schule, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 40 (1916), S. 497–579. Vgl.: Claudius Frhr. von Schwerin, Zur Textgeschichte der Lex Salica, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 40 (1916), S. 581–637. Vgl.: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 41 (1919), S. 375–418. Vgl.: Mario Krammer, Zum Textproblem der Lex Salica. Eine Erwiderung, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 41 (1919), S. 103–156.

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war,105 als Ergebnis dieser sich über mehrere Jahre hinziehenden Kontroverse ein Beschluss der Plenarversammlung der Zentraldirektion, die Ausgabe Krammers einzukassieren und die Editionsarbeit an Krusch zu übertragen. Doch in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, der auch innerhalb der Mittelalterforschung einen signifikanten Einschnitt bedeutete,106 war ein gewisser Sättigungspunkt erreicht: „Die Erschließung neuer belangreicher Quellen zur frühmittelalterlichen Geschichte gehört zu den großen Seltenheiten.“107 Auf dieser Grundlage veränderten sich die Möglichkeiten der Mediävistik in einem kontinuierlichen Übergang von der zunächst notwendigen Grundlagenforschung des 19. Jahrhunderts, in dem editorische Belange (in einem weiten Verständnis von Edition) Priorität eingeräumt worden war, zu einer darauf aufbauenden Tätigkeit mit veränderten Zielen. Das fachimmanente Verständnis von Forschung veränderte seinen Bezugspunkt. Denn die editorischen Erfolge verschoben die Gewichte: „das Vorhandene [gestattet] einen vorläufig hinreichenden Überblick.“108 Selbstverständlich ging die Editionstätigkeit unbeirrt weiter, doch war die Bibliothek der Editionsbände auf eine beachtliche Zahl angewachsen, und einige Reihen wurden als abgeschlossen erachtet, so dass sich das Produktionstempo deutlich verlangsamte. Zugleich bedingten immer wiederkehrende Probleme bei der Besetzung des Präsidentenamtes, Fragen der Finanzierung sowie die allgemeinen Schwierigkeiten der Kriegs- und Nachkriegszeit Veränderungen, die bereits Harry Breßlau, der die Geschichte der Monumenta Germaniae Historica anlässlich ihres hundertjährigen Bestehens im Jahr 1919 im Auftrag der Zentraldirektion monographisch aufarbeitete, als „Wendepunkt“109 verstand. Obschon die Präsidentschaft Paul Fridolin Kehrs (1919–1935) zunächst eine mehrjährige Kontinuität an der Spitze bedingte, gilt die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus im Gegensatz zur „Glanzzeit“ bis 1914 als „Durststrecke“ (Horst Fuhrmann).110 Dieser „Wendepunkt“ hatte zudem eine prosopographische Dimension. Wie auch in der Rechtsgeschichte, in der es mit dem Ableben von Heinrich Brunner († 11. August 1915), Richard Schröder († 3. Januar 1917), Rudolph Sohm († 16. Mai 1917) und Otto von Gierke († 10. Oktober 1921)

105 Vgl.: Ernst Heymann, Zur Textkritik der Lex Salica, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 41 (1919), S. 419–524. 106 Vgl.: Schieffer, Weltgeltung (Anm. 84), S. 59–61. 107 Manfred Stimming, B. Mittelalter, in: Jahresberichte der deutschen Geschichte 4 (1921), Breslau 1923, S. 41–71, Zitat Kapitel III. Die deutsche Kaiserzeit, S. 46. 108 Hampe, Mittelalterliche Geschichte (Anm. 99), S. 27. 109 Bresslau, Geschichte (Anm. 77), S. 752. 110 Vgl. dagegen aber auch die Einschätzung von Karl Jordan zur Zwischenkriegszeit: „Überblickt man die Leistung der deutschen Mediävistik vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Beginn der 30er Jahre, so wird man sagen dürfen, daß sie trotz der großen finanziellen Schwierigkeiten, unter denen sie zunächst unter der Inflation und dann wieder seit dem Ende der 20er Jahre unter der großen Wirtschaftskrise zu leiden hatte, gerade auf dem Gebiet der Quellenpublikationen ein sehr beachtliches Ausmaß erreicht hat. Auch sonst brachten jene Jahre eine Fülle neuer wissenschaftlicher Impulse, die sich in der Folgezeit als sehr fruchtbar erwiesen“ (Karl Jordan, Aspekte der Mittelalterforschung in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters [Kieler historische Studien 29], Stuttgart 1980, S. 329–344, Zitat S. 334).

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zu einem Generationenwechsel ab der zweiten Hälfte der 1910er Jahre kam, schied auch eine ganze Reihe führender Editoren der MGH aus dem Leben: Mit Oswald Holder-Egger († 1. November 1911), Karl Zeumer († 18. April 1914) und Bernhard von Simson († 15. August 1915) starben drei äußerst leistungsfähige Mitarbeiter, mit Heinrich Brunner ein Mitglied der Zentraldirektion und mit Reinhold Koser († 25. August 1914) der von 1905/06 bis 1914 amtierende Präsident. Darüber hinaus wurden mehrere Mitarbeiter zum Kriegsdienst eingezogen, auch hierbei gab es Todesfälle zu beklagen, oder wechselten ihre Anstellung, so dass viele Projekte zwar geplant und angefangen, aber nicht zu einem Ende geführt wurden oder sich immer weiter hinauszögerten.111 Auch das zweite Großprojekt der deutschsprachigen Mediävistik, die sogenannten Regesta Imperii, war (und ist) positivistischer Grundlagenforschung verpflichtet und konnte schnell fruchtbringende Erfolge vorweisen. Die von dem Frankfurter Stadtbibliothekar Johann Friedrich Böhmer (1795–1863)112 zunächst als Vorarbeit für die MGH konzipierten Regesten-Bände wurden sukzessive modernisiert und mit neuen Projekten die Geschichte weiterer mittelalterlicher Herrscher erschlossen.113 Die Bände selbst stehen gewissermaßen als Brücke zwischen Editionen und Darstellungen,114 indem sie keine eigenständige wissenschaftlich-kritische Edition der Quellen sind, sondern eine Sammlung der in den Quellen zu findenden Handlungen mit den jeweiligen Verweisen auf die Editionen der Quellen. Das dabei entstehende, chronologisch geordnete Inventar aller urkundlichen und historiographischen Nachrichten über die Könige und Kaiser von den frühen Karolingern bis zu Maximilian I. bietet nicht nur ein (bis heute) wirkmächtiges Hilfsmittel der Forschung,115 sondern in zwangsläufiger Konsequenz ebenfalls die Manifestation eines positivistisch-endlichen Grundverständnisses, läuft ein Regestenband doch auf eine Sammlung von vermeintlichen Fakten hinaus und strebt eine vollständige Erfassung an.116 Ergänzend zu diesem tabellarischen Verzeichnis der herrscherlichen Akte überführten die sogenannten Jahrbücher der Deutschen Geschichte die reine Sammlung in eine

111 Vgl.: Bresslau: Geschichte (Anm. 77), S. 710–752. 112 Vgl.: Christine Ottner, Joseph Chmel und Johann Friedrich Böhmer. Die Anfänge der Regesta Imperii im Spannungsfeld von Freundschaft und Wissenschaft, in: Wege zur Urkunde, Wege der Urkunde, Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, hg. von Karel Hruza und Paul Herold (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 24), Köln 2005, S. 257–291. 113 Vgl. die Bestandsübersicht unter: (abgerufen am 06.07.2018). 114 Vgl. auch die maßgeblichen methodologischen Texte in: Harald Zimmermann (Hg.), Die Regesta Imperii im Fortschreiten und Fortschritt (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 20), Köln/Weimar/Wien 2000. 115 Vgl. zur zukünftigen Ausrichtung auch: Julian Schulz, Regesta Imperii Online, in: RIDE (2017) ( [06.07.2018]). 116 Vgl.: Harald Zimmermann, Verschiedene Versuche, Vergangenheit vollständig zu vermitteln, in: Die Regesta Imperii im Fortschreiten und Fortschritt, hg. von Zimmermann (Anm. 114), S. 1–18.

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monographische Form.117 Die von der Historischen Kommission in München herausgegebenen, auf die Initiative von Leopold Ranke zurückgehenden Darstellungen der Herrschergeschichte erschließen in 38 Bänden die früh- und hochmittelalterliche Geschichte bis 1233.118 Auch hier wurde die Quellenüberlieferung mittels der eigenen, historisch-kritischen Methode streng geprüft, vermeintlich geschwätzige Geschichtsschreiber für ihre Sorglosigkeit getadelt und generell urkundlich überlieferte Nachrichten priorisiert. Der „Archetyp“ bestand in einer kritischen Durchdringung der Quellen mit dem Ziel, zu der verborgenen, verschütteten historischen Wahrheit vorzudringen. So bemühte sich Heinrich Eduard Bonnell, Autor des chronologisch ersten Bandes der Jahrbücher darum, „ein Bild der Anfänge des karolingischen Hauses zu geben, das möglichst frei wäre von allen Zutaten, welche ihnen seit früher Zeit aufgebürdet, und mit den Jahrhunderten zu einer die geschichtliche Wahrheit fast [!] erdrückenden Lawine angewachsen sind.“119 Bereits Ranke, im Bewusstsein der schwierigen mittelalterlichen Überlieferung, durch die eine „eigentliche Geschichte“ nicht möglich sei, hatte in seinem Vorwort des ersten Bandes die „Feststellung der Thatsachen nach ihrer chronologischen Folge“ als (vermeintlich bescheidenes) Ziel ausgegeben120 und bei seinem folgenden Kommissionsantrag von Grundlagenforschung gesprochen.121 Nach dieser Maßgabe bildete sich für die Darstellung selbst eine „strenge Form“ der Jahrbücher aus,122 die darauf hinauslief, im besten Fall jahrweise die Entwicklung der jeweiligen Herrschergeschichte nachzuzeichnen.123

117 Vgl. zum Selbstbild: Baethgen, Jahrbücher (Anm. 79). Vgl. dagegen auch: Alexander Deisenroth, Deutsches Mittelalter und deutsche Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Irrationalität und politisches Interesse in der deutschen Mediävistik zwischen aufgeklärtem Absolutismus und 1. Weltkrieg (Reihe der Forschung 11), Rheinfelden 1983, S. 88–98. 118 Eine (chronologische) Bandübersicht auf: (abgerufen am 06.07.2018). 119 Heinrich Eduard Bonnell, Die Anfänge des karolingischen Hauses (Jahrbücher der Deutschen Geschichte), Berlin 1866, Vorwort, S. VIII. 120 Vgl.: Leopold Ranke, Vorrede, in: Georg Waitz, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter der Herrschaft König Heinrichs I. (Jahrbücher des Deutschen Reichs unter dem sächsischen Hause 1,1), Berlin 1837, S. XI: „Unsere Absicht konnte nun aber nicht seyn eine eigentliche Geschichte dieses Zeitraums zu Stande zu bringen. Die Beschaffenheit der Quellen macht dieß, wie gesagt, an und für sich außerordentlich schwierig, unmöglich aber wäre es für sechs junge Männer, zwar von gleichem Bestreben, aber doch von verschiedenartigem Geist. Wir haben daher diesen Anspruch auch gleich auf dem Titel vermieden. Unsere Absicht geht lediglich auf jene kritische Durcharbeitung und Sichtung der vorhandenen Nachrichten, die, wie berührt, hier ohnehin das zunächst Nothwendige ist, auf die Feststellung der Thatsachen nach ihrer chronologischen Folge. Eine solche ließ sich auch durch Verschiedene erreichen“. 121 Vgl.: Leopold von Ranke, Denkschrift, in: Historische Zeitschrift 1 (1859), S. 28–35, hier S. 33: „nicht ein abgeschlossenes definitives Werk, das es überhaupt in der Natur der Dinge nicht gibt, sondern nur Grundlagen weiterer Studien wünschen wir zu provociren. Eine herrliche Sache wäre es doch, wenn man kritisch gesichtete Annalen der deutschen Geschichte in einem umfassenden Werke vor sich hätte, um sich darin Raths zu erholen“. 122 Vgl.: Bonnell, Die Anfänge des karolingischen Hauses (Anm. 119), Vorwort, S. VII. 123 Vgl.: Georg Waitz, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter König Heinrich I. (Jahrbücher der Deutschen Geschichte), Leipzig 3. Aufl. 1885, Aus dem Vorwort zur zweiten Bearbeitung, S. V: „In der Darstellung habe ich mich jetzt noch strenger als früher an die Folge der Jahre gebunden, die der Titel dieser Unternehmung verspricht. Mehr und mehr bin ich zu der Ueberzeugung

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Das dadurch entstehende Tatsachenpanorama war das Ergebnis eines greifbaren Denkkollektivs,124 für das die möglichst genaue Rekonstruktion der Vergangenheit der Kern ihrer Wissenschaftlichkeit bedeutete, und die als „kritische“ (und damit im eigentlichen Sinne wissenschaftliche) Form der Geschichtsschreibung verstanden wurde.125 Doch auch hier hatte sich um die Jahrhundertwende ein gewisser Sättigungsgrad eingestellt: Seitdem die ,Jbb. d. Deutschen Reiches‘ in zusammenfassender Weise die Regierungszeit der einzelnen Könige und Kaiser zur Darstellung gebracht haben und zum Teil noch bringen, ist in der Forschung jeweils ein gewisser Stillstand zu konstatieren. Auf ein reiches Fruchtjahr folgt ja auch in der Natur zumeist ein mageres Jahr. Die Quellen für diese Zeit sind annähernd ausgeschöpft, neue erschließen sich nur wenigen eindringenden Forschern.126

Ein strukturelles Problem schloss sich an. Als 1908 Henry Simonsfelds erster Band zu Friedrich I. erschien, war die Kritik verheerend; doch richtete sie sich nicht nur gegen das Werk an sich, als vornehmlich gegen die dahinterstehende Konzeption. Ferdinand Güterbock registrierte spöttisch den „Bienenfleiss“ des Autors, doch wisse dieser keinen „Nutzen“ aus „dem Material zu ziehen“: „Auf eine künstlerische Gestaltung des Stoffes verzichtet er von vornherein durch die starre Einhaltung der Jahrbucheinteilung.“127 Und Karl Hampe sekundierte mit einer „grundsätzlichen Stellungnahme zu der Auffassung von Wesen und Aufgaben der Jahrbücher der deutschen Geschichte.“128 Denn in der Konzeption der Jahrbücher habe Simons-

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gekommen, daß für eine Arbeit, welche das ganze Detail der Begebenheiten untersuchen und feststellen will, dies wie die einfachste auch die zweckdienlichste Form ist“. Vgl.: Heinrich von Sybel, Die Gründung und die ersten Unternehmungen der MünchenerHistorischen Kommission, in: Ders., Vorträge und Abhandlungen. Mit einer biographischen Einleitung von C. Varrentrapp, München/Leipzig 1897, S. 336–361, hier S. 354 f.: „Der erste betraf ein großes Annalenwerk, Jahrbücher des deutschen Reiches, nicht eben zur Lektüre des großen Publikums bestimmt, sondern ein Nachschlagebuch für den historischen Forscher und Lehrer, wo er den geschichtlichen Stoff aus den Quellen gesammelt, kritisch gesichtet und nach den bisherigen Ergebnissen der Forschung verarbeitet fände, in chronologischer Folge mit möglichster Objektivität geordnet, ohne die Absicht, ein darstellendes Kunstwerk oder politisch-kirchliche Erörterung zu liefern“. Vgl.: Theodor Breysig, Jahrbücher des fränkischen Reiches 714–741. Die Zeit Karl Martells (Jahrbücher der Deutschen Geschichte), Leipzig 1869, Vorwort, S. VII f.: „Es war jedoch schon möglich, der Aufgabe, welche für die Jahrbücher des deutschen Reiches gestellt ist, die Thatsachen den Jahren nach genau zu trennen, mehr als bei der Geschichte der ersten Pippiniden zu genügen. Nur widerstrebend zwar fügt sich die gewaltige Gestalt Karl Martells in diese Zerlegung ihrer Thätigkeit; doch es entspricht die annalistische Darstellung der ursprünglichen Aufzeichnungsweise der Ereignisse in jener Zeit und unterstützt die kritische Untersuchung des dürftigen Materials. [. . .] Je dürftiger das geschichtliche Material ist, desto mehr ladet es zu künstlicher Combination ein, um den Personen und Thatsachen eine kunstvolle Gestaltung zu geben; doch dieser verführerische Weg liegt der Aufgabe der Jahrbücher fern, und der Verfasser des vorliegenden Bandes zieht es vor, die Geschichte der Jahre 714–741 nach möglichst gesicherten Grundlagen einfach zu erzählen, als die Anzahl der schon vorhandenen glanzvollen, aber unkritischen Darstellungen zu vermehren“. G. Schrötter, §14. Konrad I. und die Ottonen, in: Jahresberichte der Geschichtswissenschaft im Auftrage der Historischen Gesellschaft zu Berlin hg. von Ernst Berner, XXIX. Jahrgang (1906), Erste Hälfte, II, S. 333. Rezension in: Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 33 (1908), S. 552 f., Zitate S. 552. Rezension in: Historische Zeitschrift 102 (1909), S. 106–114, Zitat S. 109.

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feld „schlecht und recht geleistet“, doch sei dieser „Standpunkt“ für Hampe das entscheidende Hindernis: „Beide [sowohl Simonsfeld als auch Meyer von Knonau, an dessen Jahrbücher diese Kritik ebenfalls gerichtet werden könne] sehen das Ideal der Jahrbücher darin, den gesamten Rohstoff der betreffenden Epoche kritisch hergerichtet dem Forscher vorzulegen.“129 Doch fehle diesen Werken jede künstlerische Gestaltung, durch die sie zu profanen Nachschlagewerken herabsänken und zu einem unlesbaren (und unbezahlbaren) Umfang anwüchsen. Denn die Grundsätze, die für das quellenarme Frühmittelalter gälten, könnten für das 12. und 13. Jahrhundert keine Geltung beanspruchen. Das Ziel einer „sinnvollen“ Geschichtsschreibung liege demgegenüber jedoch nicht in einer Materialsammlung mit angestrebter Vollständigkeit, sondern in einer darüber hinausgehenden Verarbeitung des Stoffes: „Ich meine, eine sehr ausführliche und ins einzelne gehende Darstellung, die nicht darauf Verzicht leistet, Wertvolles von Wertlosem zu scheiden, Licht und Schatten zu verteilen, sachlich zu gruppieren und künstlerisch zu gestalten, vermag Editoren und Einzelforschern annähernd dieselben Dienste zu tun, wie diese Materialsammlungen; aber sie wird zugleich darüber hinaus weitere und tiefere Wirkungen erzielen: Wer ist denn schließlich berufen, das letzte aus einem Stoffe herauszuholen, wenn nicht der Forscher, der sich viele Jahre lang bis ins einzelnste hinein mit ihm beschäftigt?“130 Seine selbst übernommene Aufgabe, die Jahrbücher zu Friedrich II. zu verfassen, lehnte Hampe elf Jahre und einen verlorenen Weltkrieg später mit einer analogen Argumentationslinie ab.131 Damit war das Unternehmen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – selbst zur Geschichte geworden und auch die inhaltliche Ausrichtung des Faches begann sich zu wandeln.132 Zwar blieb die Konzentration auf Herrscher und Reich (Staat) bestehen, doch hatte der produktive Positivismus (nicht nur in der Mediävistik) ein Fundament geschaffen, das auf der einen Seite eine notwendige Spezialisierung bedingte, die auf der anderen Seite kritisch hinterfragt wurde. Für Hampe hatten sich die Grundkoordinaten des Historikers verschoben: Er wird nicht leicht, wie so manche tüchtige Forscher der vergangenen Generation das mit recht konnten, Genüge daran finden, eine kleine Spanne der Geschichte auf das Gründlichste zu bearbeiten, um sich da vollkommen auszukennen, denn der Grund, von dem er solche Aufnahmen machen könnte, schwankt ihm heute, auf das tiefste erschüttert, unter den Füßen,

129 Ebd. 130 Ebd., S. 113. 131 Vgl.: Folker Reichert, Der Historiker des Mittelalters und seine Gegenwart. Zeitgeschehen in Briefen Karl Hampes, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 152 (2004), S. 393–436, hier S. 410–420. 132 Vgl. dazu, festgemacht an Fritz Kern: Johannes Liebrecht, Fritz Kern und das gute alte Recht. Geistesgeschichte als neuer Zugang für die Mediävistik (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 302), Frankfurt am Main 2016. Vgl. grundlegend: Otto Gerhard Oexle, Vom „Staat“ zur „Kultur“ des Mittelalters. Problemgeschichten und Paradigmenwechsel in der deutschen Mittelalterforschung, in: Die Deutung der mittelalterlichen Gesellschaft in der Moderne = L’imaginaire et les conceptions modernes de la société médiévale = Modern conceptions of medieval society, hg. von Natalie M. Fryde, Pierre Monnet, Otto Gerhard Oexle und Leszek Zygner (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 217), Göttingen 2006, S. 15–60.

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Simon Groth und von dem alten Wertmaßstab sind erhebliche Stücke abgeschlagen. Erst wenn er mit neuen Fragestellungen den großen Gang des weltgeschichtlichen Geschehens durchdacht und von dem stark verschobenen Beobachtungsposten der Gegenwart aus sich wieder in den unergründlichsten Rätseln der Menschheit leidlich zurechtgefunden hat, vermag er seine Stellung zu den Dingen neu zu befestigen und seinen Wertmaßstab zu regulieren. Diese für sein ganzes Schaffen wichtigste Aufgabe der nächsten Jahre aber kann er wohl nur erfüllen, wenn sich seine Forschung in größeren Zusammenhängen bewegt.133

EPILOG: UNENDLICHE EINIGKEIT Das Erkenntnisinteresse der „viri eruditi“ und ihrer Schüler,134 wie Jacob Burckhardt in Basel abschätzig die erste Generation der Monumentisten nannte,135 zielte auf eine faktenorientierte Rekonstruktion der Vergangenheit auf der Grundlage von kritischen Quellenenditionen als Referenzobjekten der Darstellung, worüber Burckhardt in Briefen an Freunde und Familienangehörige nur maliziösen Spott übrig hatte: „Der liebe Gott will auch bisweilen einen Jocus haben, und dann macht er Philologen und Geschichtsforscher von einer Sorte, welche sich über die ganze Welt erhaben dünken, wenn sie wissenschaftlich ermittelt haben, daß Kaiser Conrad II. am 7. Mai 1050 zu Goslar auf den Abtritt gegangen ist und dergleichen Weltinteressen mehr.“136 Die Vorstellung, auf der Grundlage validierter Quelleneditionen mittels einer historisch-kritischen Methode zu gesicherten, „objektiven“ Ergebnissen gelangen zu können, blieb jedoch die Programmatik des Faches137 und diente auch als Argument in politischen Auseinandersetzungen oder als Rückzugsort in Debatten. 133 Karl Hampe an die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. München, Archiv der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Allgemeine Korrespondenz des Sekretärs 1918/19; Edition bei: Reichert, Der Historiker des Mittelalters und seine Gegenwart (Anm. 131), S. 412–416. 134 Vgl. mit den entsprechenden Nachweisen: Peter Ganz, Jacob Burckhardt und die Universität, in: Georgia Augusta 45 (1986), S. 21–32, hier S. 25–30. 135 Dazu auch: Horst Fuhrmann, Jacob Burckhardt und die Zunft der Historiker, in: Das andere Wahrnehmen. Beiträge zur europäischen Geschichte. August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet, hg. von Martin Kintzinger, Wolfgang Stürner und Johannes Zahlten, Köln/Weimar/Wien, S. 23–38. 136 Jacob Burckhardt, Briefe. Vollständige und kritisch bearb. Ausgabe, mit Benützung des handschriftl. Nachlasses bearb. von Max Burckhardt, Bd. 3: Erster Aufenthalt in Rom, Arbeiten in Berlin im Auftrage Kuglers, zweiter Aufenthalt in Rom, Extraordinariat in Basel, das Italienjahr des „Cicerone“, Professur am Polytechnikum in Zürich, April 1846 - März 1858, Basel u.a. 1955, Nr. 197 (an Gottfried Kinkel), S. 68. In diesem Sinne auch die Bemerkung Nietzsches, derartige Forschung habe „fast immer auch etwas Drückendes, Gedrücktes“: der „Specialist kommt irgendwo zum Vorschein, sein Eifer, sein Ernst, sein Ingrimm, seine Überschätzung des Winkels, in dem er sitzt und spinnt, sein Buckel, – jeder Specialis hat seinen Buckel“ (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [1882/1887], in: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA], hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3., Berlin/New York 1980, S. 343–651, Zitat S. 614). 137 Vgl. auch: Heinrich von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, 2 Bde. München 1950–1951, hier Bd. 1, S. 293–313, etwa S. 294: „Die kritischmittelalterliche Forschung widmete sich mehr und mehr ohne die großen philosophischen Blickrichtungen Rankes unter dem Einfluß der positivistischen Gedankenströme dem rein Tat-

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Paradoxerweise betonte etwa Sybel,138 der innerhalb seiner Kontroverse mit Ficker den Aspekt des mittelalterlichen Kaisertums in einer politisch subjektiven Form instrumentalisiert hatte,139 gleichzeitig die Unparteilichkeit seiner Quellenforschung, durch die er „Objektivität“ beanspruchte. Die Anrufung dieses wenig greifbaren Ideals140 trotz kaum verdeckter politischer Agitation ist dabei jedoch nicht nur bei Sybel festzustellen, sondern gilt in ähnlicher Weise etwa für die Arbeiten von Georg von Below141 oder Dietrich Schäfer142 und anderer. Das Ringen um den eigenen Status hatte dabei im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert noch unter anderen Vorzeichen gestanden, als die Geschichtswissenschaft nicht nur als modern und innovativ galt, sondern ihr in der außeruniversitären Welt als eine oder sogar die führende Disziplin enorme gesellschaftliche Relevanz zukam. So war die Problematik der Wissenschaftlichkeit der Geschichte auch keineswegs eine fachintern verlaufende Spiegelfechterei; vielmehr ein aus vielen verschiedenen Blickwinkeln geführter Abgrenzungskampf einer in einzelne Disziplinen zerfallenden Gelehrtenwelt, deren vorausgegangene Möglichkeit der Universalität damit zu Ende ging. Obgleich es etwa mit Johann Gustav Droysen oder Ernst Bernheim gleichfalls Stimmen aus den eigenen Reihen gab, die sich substanziell hieran beteiligten, wurden die einflussreichsten Abgrenzungsversuche von „Fachfremden“ verfasst: Ob Wilhelm Dilthey oder Wilhelm Windelbald, Max Weber und Heinrich Rickert, oder auch

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sächlichen, ja oft dem Kleinen und Kleinsten“; Walter Goetz, Die deutsche Geschichtschreibung des letzten Jahrhunderts und die Nation (Vorträge der Gehe-Stiftung zu Dresden 10/2), Leipzig 1919, S. 12: „Sollte echte Wissenschaft entstehen, so mußte sie, im Grundsätzlichen wenigstens, unabhängig von irgendwelchen außerwissenschaftlichen Zielen sein. Und diese Richtung läßt sich in der nächsten und übernächsten Generation [nach Ranke, Savigny, Eichhorn und anderen] weiter verfolgen: Georg Waitz, Ernst Dümmler, Karl Hegel, Wilhelm Wattenbach, Wilhelm Giesebrecht und so mancher andere standen fest zu dem Rankeschen Ziel: festzustellen, wie die Vergangenheit in Wahrheit gewesen sei“. Und auch die detektivische Ableitung genauer Daten aus unzureichender oder widersprüchlicher Quellengrundlage bleibt ein Forschungsgegenstand; vgl.: Gerhard Lubich und Dirk Jäckel, Das Geburtsjahr Heinrichs III. 1016, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 72 (2016), S. 581–592. Vgl.: Heinrich von Sybel, Über die Gesetze des historischen Wissens. Festrede am Geburtstage König Friedrich Wilhelm III., gehalten in der Universitäts-Aula zu Bonn, 3. August 1864, Bonn 1864. Die Literatur zur Kontroverse in: Simon Groth, in regnum successit. „Karolinger“ und „Ottonen“ oder das „Ostfränkische Reich“? (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 304 / Rechtsräume 1), Frankfurt am Main 2017, S. 4 Anm. 15. Die Streitschriften selbst lassen sich am bequemsten in: Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten Deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich von Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, hg. von Friedrich Schneider, Innsbruck 1941 (2 1943) greifen. Vgl. auch: Wolfgang Mommsen, Der perspektivische Charakter historischer Aussagen und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis, in: Objektivität und Parteilichkeit, hg. von Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 1), München 1977, S. 441–468. Vgl.: Cymorek, Georg von Below (Anm. 54), S. 191–238. Vgl.: Jens Ackermann, Die Geburt des modernen Propagandakrieges im Ersten Weltkrieg. Dietrich Schäfer. Gelehrter und Politiker (Europäische Hochschulschriften, Reihe III Band 987), Frankfurt am Main u.a. 2004, S. 99–122.

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Georg Simmel und Ernst Cassirer, es waren vornehmlich Philosophen und Soziologen, die, Gedankengänge von Immanuel Kant aufgreifend, um die Jahrhundertwende herum die bedeutsamen Beiträge lieferten,143 während der sich an Karl Lamprechts „Deutscher Geschichte“ entzündende Methodenstreit der 1890er Jahre144 in einem „hochgelehrten Stillstand“145 um 1900 endete: Der Versuch, den Geisteswissenschaften eine wesenseigene Theorie ihres Forschungszweckes und Forschungsverfahrens zu unterbauen, ist versackt. Man erinnert sich, daß er seinen Ausgang nahm von zwei Anstößen, einer Feierrede Windelbands und einer Akademieabhandlung Diltheys; daß er wiederum zwiefältig sich verdichtete in den scharfsinnig geschlossenen Formungen Heinrich Rickerts und den konzeptionskühn anlaufenden Fragmenten Max Webers; alles Übrige blieb in Trabantenrollen. Die Schlacht, mit Bravour geschlagen, hat zu keinem Siege und zu keiner Niederlage geführt; sie ist abgebrochen, die Partie steht remis und kann so nicht weitergespielt werden.146

Die Komplexität einer durch industrielle Notwendigkeiten geprägten Welt, die Beschleunigung der Kommunikation und Mobilität, durch die tradierte Rhythmen des Lebens aufgelöst wurden, und die Überführung sämtlicher Wissenschaftszweige in ein Arkanprinzip, zu dem nur noch Spezialisten zutritt hatten,147 hinterließen eine Leerstelle, die durch die Sehnsucht nach Sinndeutung und Orientierungswissen bestimmt werden kann. 143 Vgl. etwa: Barrelmeyer, Geschichtliche Wirklichkeit (Anm. 46). 144 Vgl.: Luise Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 22), Göttingen 1984; Jonas Flöter (Hg.), Karl Lamprecht (1856–1915). Durchbruch in der Geschichtswissenschaft, Leipzig 2015 (hier insbesondere die Beiträge von Michael Maurer, Lars Deile und Katja Naumann); Thomas Mergel, Evolution, Entropie und Reizsamkeit. Naturwissenschaftliche Kategorien im Lamprecht-Streit, in: Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, hg. von Ulrich Muhlack (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 5), Berlin 2003, S. 211–227; Stefan Haas, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880 – 1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität (Münstersche historische Forschungen 5), Köln/Weimar/Wien 1994, S. 98–158; Roger Chickering, Karl Lamprecht. A German Academic Life, Atlantic Highlands 1993, S. 254–284; Karl Heinz Metz, Grundformen historiographischen Denkens. Wissenschaftsgeschichte als Methodologie, dargestellt an Ranke, Treitschke und Lamprecht. Mit einem Anhang über zeitgenössische Geschichtstheorie (Münchener Universitäts-Schriften 21), München 1979, S. 424–645; Sam Whimster, Die begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten der Historischen Soziologie im Methodenstreit. Karl Lamprecht und Max Weber, in: Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentger, Göttingen 1988, S. 380–402; Gerhard Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung, in: Historische Zeitschrift 205 (1969), S. 320–363. 145 Bernard Guttmann, Schattenriß einer Generation. 1899–1919, Stuttgart 1950, S. 188. 146 Willy Hellpach, Geschichte als Sozialpsychologie. Zugleich eine Epikrise über Karl Lamprecht, in: Kultur- und Universalgeschichte. Walter Goetz zum 60. Geburtstag, Leipzig/Berlin 1927, S. 501–517, hier S. 501. 147 Vgl. etwa die emphatisch-kritische Stellungnahme gegen die Spezialisierung von: Julius von Pflugk-Harttung, Gefahren in der Geschichtswissenschaft, in: Die Grenzboten 47 (1888/3), S. 344–352 und S. 399–405. Diese Frage wurde auch in allgemeinen Zeitungen und Zeitschriften debattiert; vgl. dazu: Peter Schumann, Die deutschen Historikertage von 1893 bis 1937. Die Geschichte einer fachhistorischen Institution im Spiegel der Presse, Selbstverlag, Marburg 1975, S. 121–128.

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Rückblickend erscheinen diese Diskurse als Auftakt einer „Krise“, die die folgenden Jahrzehnte – insbesondere die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges – prägen sollten148 und die damit als höchst problematische Signatur der Weimarer Republik gelten kann. Ausgangspunkt war auf der einen Seite die Verdichtung und Fragmentierung der Geisteswissenschaft als solche, die zu einer Konkurrenz der Zugänge aufgrund der fachlichen Binnenpluralisierung geführt hatte, wobei gleichzeitig die Geisteswissenschaften selbst auf der anderen Seite von den Naturwissenschaften bezüglich der Frage der eigenen „Wissenschaftlichkeit“ herausgefordert wurden. Positivismus wurde dabei als negativ besetzter Kampfbegriff zur Diskreditierung des akademischen Gegners eingesetzt, ohne dass eine Übereinkunft über seinen Gehalt zu konstatieren ist. Und während man etwa Lamprecht „Positivismus“ und „Materialismus“ vorwarf, und seinen kollektiv-ökonomischen Ansatz verwarf, wurde die eigene positivistische Position vehement verteidigt. Es ging um nicht weniger als um die Orthodoxie der historischen Methode;149 sowohl im Sinne einer Abgrenzung von Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften als auch im Sinne einer Abgrenzung der Geschichtswissenschaft von den aufkommenden Sozialwissenschaften150 oder dem Versuch, Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte neu zu fassen.151 Doch anders als etwa in der Philosophie hat dieser Werterelativismus in der Geschichtswissenschaft keine tiefergehende Methodenreflexion ausgelöst.152 Man blieb an der Oberfläche des Problems, ohne Impetus, in die Tiefe zu gehen: „Machen wir es wie Faust, der Greis Gewordene, und rufen wir der Sorge zu, daß wir am rechten Ort seien.“153 Die Gründe hierfür scheinen auf zwei verschiedenen Ebenen zu liegen. 148 Vgl.: Hans Schleier, Historisches Denken in der Krise der Kultur. Fachhistorie, Kulturgeschichte und Anfänge der Kulturwissenschaften in Deutschland (Essener kulturwissenschaftliche Vorträge 7), Göttingen 2000; Otto Gerhard Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, hg. von Dems. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 228), Göttingen 2007, S. 11–116; Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116), Göttingen 1996; Hans Schleier, Historisches Denken in der Krise. Fachhistorie, Kulturgeschichte und Anfänge der Kulturwissenschaften in Deutschland, Göttingen 2000; vgl. allgemein auch: Volker Drehsen und Walter Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996; Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987. Vgl. darüber hinaus: Liebrecht, Fritz Kern (Anm. 132), S. 41–59; Bastian Schlüter, Explodierende Altertümlichkeit. Imaginationen vom Mittelalter zwischen den Weltkriegen, Göttingen 2011. 149 Vgl. dazu etwa: Georg von Below, Die neue historische Methode, in: Historische Zeitschrift 81 (1898), S. 193–273 (unter demselben Titel auch als Separatabdruck: München/Leipzig 1898). 150 Vgl. dazu auch: Daniel Šuber, Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft. Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900, Bielefeld 2007. 151 Vgl.: Karl Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte. Beitrag zu einer empirischen Historik, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft N.F. (1896–97), S. 75–150; Karl Lamprecht, Die gegenwärtige Lage der Geschichtswissenschaft, in: Die Zukunft 14 (1896), S. 247–255. Vgl. auch: Eberhard Gothein, Die Aufgaben der Kulturgeschichte, Leipzig 1889. 152 Vgl. allgemein auch: Blanke, Historiographiegeschichte (Anm. 27), S. 354–493. 153 Max Lenz, Die Stellung der historischen Wissenschaften in der Gegenwart, in: Deutsche Rundschau 93 (1897), S. 355–363, Zitat S. 363.

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Auf einer inhaltlichen Orientierungsebene konnte der Vorwurf des Werterelativismus die Geschichtswissenschaft nicht tiefergehend treffen, da diese mit ihrer Ausrichtung auf die eigene Nation hiergegen immunisiert blieb und somit vordergründig mitten im Leben stand.154 Und auf einer praxeologischen Grundlagenebene blieb die tagtägliche Arbeit ohnehin von derartigen Diskursen getrennt. Die positivistische Maxime diente dem Praktiker folglich als Inbegriff der Objektivität. Man emanzipierte sich zwar von der Konzeption der Jahrbücher, hielt jedoch sowohl am Editionsziel der Rekonstruktion eines Urtextes wie an der minutiösen Arbeit an Regestenbänden fest und eine quellengestützte Objektivität blieb das Axiom der Mittelalterforschung. Weder Droysens noch Webers Postulat der Unhintergehbarkeit der eigenen Subjektivität wurden – obschon bekannt – für die eigene Arbeit in einer konsequenten Weise berücksichtigt oder anerkannt.155 So hatte bereits Droysen diese in Teilen der Mittelalterforschung verabsolutierte Form der eigenen Methode, also der Quellenkritik als dem zentralen Punkt der geschichtswissenschaftlichen Tätigkeit, kritisiert, da sie in seiner Konzeption lediglich einen Bereich neben (und unter) anderen darstellte.156 Wagte ein Außenseiter des Faches, dies zu problematisieren, war ihm die Ablehnung der Mehrheit der Ordinarien gewiss.157 Umgekehrt hatte sich zumindest der positivistische Furor in gewisser Weise überlebt und man konnte sich auf eine (bequeme) Position der Pragmatik zurückziehen: „Ist uns die volle Objektivität versagt, so soll der Wille zur Objektivität um so stärker, das Streben nach ihr um so unverdrossener sein“158 (Johannes Haller) und dabei von der Grundlagenforschung des 19. Jahrhunderts profitieren. Bis heute liefert diese nämlich ein notwendiges Fundament des Faches. Die (positive) Konsequenz des „produktiven Positivismus“ dürfte folglich in ihrer Rezeptions- und Anknüpfungsfähigkeit liegen. Denn die Ergebnisse der drei hier behandelten Großprojekte bilden nach wie vor

154 Vgl. dazu auch: Simon Groth, Sanctus amor patriae dat animum. Über eine Grundlage des Selbstverständnisses der deutschen Mediävistik (in Vorb.). 155 Vgl. dazu auch: Otto Gerhard Oexle, Staat – Kultur – Volk. Deutsche Mittelalterhistoriker auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit 1918 – 1945, in: Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hg. von Peter Moraw und Rudolf Schieffer (Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005, S. 63–101. 156 Vgl.: Droysen, Historik (Anm. 47), S. 113: „In der Schule von Pertz und Ranke entwickelte sich eine neue Weise der historischen Kritik, die Kritische Schule, die das von Niebuhr Begonnene zunächst im Interesse der Mittelalterlichen Geschichte weiterführte. Ihr Charakter ist, daß sie die ganze Methode unserer Wissenschaft in der Kritik findet, und zwar in einer Kritik, die wesentlich auf die Quellen gerichtet sein will. [. . .] Es fehlt nur, daß gesagt würde, die fertigen Quaderstücke, nämlich die eigentlichen Tatsachen, müßten nur zusammengebaut werden, und dann sei das schöne historische Werk fertig“; Droysen, Grundriss der Historik (Anm. 47), Einführung, S. 417: „Man hat dann das Wesen der Geschichte in der Methode erkannt und diese als „Kritik der Quellen“, als Herstellung der „reinen Tatsache“ bezeichnet“. 157 Vgl.: Eckhart Grünewald, Sanctus amor patriae dat animum – ein Wahlspruch des GeorgeKreises? Ernst Kantorowicz auf dem Historikertag zu Halle a. d. Saale im Jahr 1930. (Mit Edition), in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 50 (1994), S. 89–125; Ders., Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk „Kaiser Friedrich der Zweite“ (Frankfurter historische Abhandlungen 25), Wiesbaden 1982. 158 Johannes Haller, Über die Aufgaben des Historikers, Tübingen 1935, S. 29.

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das in stillschweigender Übereinkunft als gegeben gesetzte Arbeitsmaterial, das seit seiner Entstehung durchgängig in den Anmerkungsapparaten mediävistischer Arbeiten zu finden ist. Im Gegensatz zu vielen Werken des 20. Jahrhunderts, die (zeitgebunden) dominanten theoretischen oder politischen Implikationen unterworfen waren, ist eine nicht geringe Zahl aus dem 19. Jahrhundert (ohne eine scharfe Trennlinie ziehen zu wollen) zwar alt, aber nicht grundsätzlich veraltet und der ihnen innewohnende Denkstil wird keineswegs als untauglich deklariert. Vielmehr blieb und bleibt die historische Wahrheit (oder Wirklichkeit) in vielen Arbeiten der Mediävistik (nunmehr eher implizit als explizit) der maßgebliche Bezugspunkt. Damit ist das Mittelalter (erkenntnistheoretisch) zwar oftmals eine „endliche“ Geschichte, doch die grundsätzliche Zugkraft eines dergestaltigen Positivismus scheint (als Sinngenerator der eigenen Tätigkeit) bis heute ohne ernsthafte Alternative. Dr. Simon Groth Goethe-Universität Frankfurt, Exzellenzcluster Normative Orders, Max-Horkheimer-Str. 2, 60323 Frankfurt am Main, [email protected]

EMPIRICISM AND THE CONSTRUCTION OF EXPERTISE IN HANDBOOKS OF THE LATER MIDDLE AGES Marcel Bubert

Abstract: This article aims at analyzing the textual strategies which are applied in medieval handbooks in order to construct and promote a specific sort of expert knowledge in opposition to other kinds of expertise. For this purpose, two prominent examples – the hunting manual of Frederick II. and the manual for the inquisitor by Bernard Gui – are compared with regard to their specific approach. In particular, the role of empirical observation and practical experience in each case is seen in the context of polemical attitudes against learned university scholars. By doing so, the revaluation of empirical knowledge that can be observed in high and late medieval handbooks is related to a specific social context and strategies of demarcation.

At first glance, the practical manual by Emperor Frederick II (1194–1250) and the one by the inquisitor Bernard Gui (1261–1331) do not seem to have any specific features in common. Whereas the first treatise, De arte venandi cum avibus (1240s), deals with the art of falconry,1 the latter work, Practica officii inquisitionis (1323–1324), aims to provide useful knowledge for the inquisitor.2 Each work has been repeatedly acknowledged as an outstanding example in its particular field of knowledge. Little attention, however, has been given to the specific strategies used in the texts to construct and demarcate expertise. Both Frederick and Bernard Gui employed a similar strategy of distinguishing their own practical knowledge from the supposedly useless and inexperienced knowledge of learned university scholars – at least those who kept teaching in the schools instead of applying their skills in practice. In doing so, they not only participated in a broader discourse of university critics. They in fact used the demarcation to construct

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Frederick II, De arte venandi cum avibus, ed. by Carl Arnold Willemsen, 2 Vols., Frankfurt a.M. 1964; see Michael Menzel, Das „Falkenbuch“ und die Natur, in: Kaiser Friedrich II. (1194–1250): Welt und Kultur des Mittelmeerraums, ed. by Mamoun Fansa, Mainz 2008, pp. 258–267; Ragnar Kinzelbach, Kaiser Friedrichs II. De arte venandi cum avibus: Die Arten der Vögel, in: Kaiser Friedrich II., ed. by Fansa, pp. 268–299; Michael Menzel, Die Jagd als Naturkunst: Zum Falkenbuch Kaiser Friedrichs II., in: Natur im Mittelalter: Konzepte – Erfahrungen – Wirkungen, ed. by Peter Dilg, Berlin 2003, pp. 342–359; and Johannes Fried, Kaiser Friedrich II. als Jäger oder ein zweites Falkenbuch Kaiser Friedrichs II.?, Göttingen 1996. Bernard Gui, Practica officii inquisitionis heretice pravitatis, ed. by Guillaume Mollat, Paris 2007. See Annette Pales-Gobilliard, Bernard Gui, inquisiteur et auteur de la Practica, in: Inquisition et société en pays d’Oc, ed. by Jean-Louis Biget, Toulouse 2014, pp. 125–132; Jacques Paul, La mentalité de l’inquisiteur chez Bernard Gui, in: Inquisition et société, ed. by Biget, pp. 133–154; Anne-Marie Lamarrigue, Bernard Gui (1261–1331). Un historien et sa méthode, Paris 2000; and Marie-Humbert Vicaire (ed.), Bernard Gui et son monde, Toulouse 1981.

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the character and nature of their own expertise. Both the specific content of their knowledge and the particular structures in which it was organized, were shaped by their individual endeavors to criticize and dismiss a certain type of scholar, whose learned knowledge they depicted as impractical and superfluous. Frederick II of the Hohenstaufen dynasty, who was king of Germany and Sicily and Emperor of the Romans from his coronation in 1220 until his death in 1250, is one of the most famous rulers of the European Middle Ages.3 Besides his explosive struggles with the Papacy and his ‘diplomatic’ efforts in the crusades (1228/1229),4 the Emperor is in particular well known for his remarkable interest in the sciences and his contact to some of the most distinguished scholars of his time. As he was brought up in the kingdom of Sicily where he spend a great part of his life, Frederick was from the very beginning accustomed to a multicultural environment which was characterized by longstanding processes of cross-cultural entanglement of Byzantine, Arabic, and Latin Christian traditions.5 As far as his scientific curiosity is concerned, it is not surprising against this background that Frederick displayed a broad interest in different philosophical and intellectual traditions as well. At his court in southern Italy, the famous scholar Michael Scot translated philosophical and scientific treatises from Arabic into Latin, among which the translations of Aristotle’s works in natural philosophy became particularly influential in the Latin West.6 Nevertheless, unlike most university trained philosophers and theologians of the 13th century, Frederick,

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James Matthew Powell, The Papacy, Frederick II and Communal Devotion in Medieval Italy, Farnham 2014; Wolfgang Stürner, Staufisches Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zur Herrschaftspraxis und Persönlichkeit Friedrichs II. (Stuttgarter historische Forschungen 14), Köln 2014; Richard Bressler, Frederick II. The Wonder of the World, Yardley Penn. 2010; Hubert Houben, Kaiser Friedrich II. (1194–1250). Herrscher, Mensch, Mythos, Stuttgart 2008; Knut Görich/Theo Broekmann/Jan Keupp (ed.), Herrschaftsräume, Herrschaftspraxis und Kommunikation zur Zeit Friedrichs II. (Münchener Beiträge zur Geschichtswissenschaft 2), München 2008; Wolfgang Stürner, Friedrich II, 2 Vols., Darmstadt 2003; Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927-1931. Bodo Hechelhammer, Kreuzzug und Herrschaft unter Friedrich II. Handlungsspielräume von Kreuzzugspolitik (1215–1230), Ostfildern 2004. Theresa Jäckh/Mona Kirsch (ed.), Urban Dynamics and Transcultural Communication in Medieval Sicily, Paderborn 2017; Wolfgang Stürner, Friedrich II. und der Islam. Das normannische Königreich Sizilien und seine muslimischen Bewohner, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 31 (2012), pp. 105–116; Hubert Houben, Kulturkontakte und Kulturtransfer im normannisch-staufischen Königreich Sizilien (1130–1266), in: Transfer. Innovationen in der Zeit der Kreuzzüge, ed. by Volker Herzner, Speyer 2006, pp. 113–122; Theo Kölzer (ed.), Die Staufer im Süden. Sizilien und das Reich, Stuttgart 2000. On the scholars at Frederick’s court and the contact to Michael Scot: Matthias Heiduk, Hermes am Stauferhof. Zum Wissenstransfer im 13. Jahrhundert, in: Transfer. Innovationen in der Zeit der Kreuzzüge, ed. by Volker Herzner, Speyer 2006, pp. 123–134; id., Sternenkunde am Stauferhof. Das „Centiloquium Hermetis“ im Kontext höfischer Übersetzungstätigkeit und Wissensaneignung, in: In frumento et vino opima. FS Thomas Zotz, ed. by Heinz Krieg/Alfons Zettler, Ostfildern 2004, pp. 267–282, here pp. 274–275; Micheal Scot became in later manuscripts known as astrologus Frederici imperatoris: Wolfgang Stürner, Friedrich II, Vol. 2, p. 411; on the transmission of knowledge at the court: Charles Burnett, Michael Scot and the Transmission of Scientific Culture from Toledo to Bologna via the Court of Frederick II of Hohenstaufen, in: Micrologus II (Le scienze alla corte di Federico II), Turnhout 1994, pp. 101–126.

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the emperor, was not primarily eager for purely theoretical discussions. His interest in scientific knowledge was in the first place characterized by a rather utilitarian attitude. This rather pragmatic stance towards learned culture and science in general is already evident with regard to Frederick’s foundation of the school of Naples in 1224 which was from the very beginning intended to serve practical ends by producing academically trained professionals for the kingdom of Sicily.7 It is hardly surprising against this background that the emperor was especially interested in the education of lawyers and judges that were capable of supporting the ruler in matters of law and administration. The emperor’s appreciation of the political relevance of learned jurists had been equally striking when he issued his Constitutio in basilica beati Petri on the day of his coronation on November 22, 1220 in Rome8 and subsequently ordered to deliver the newly passed leges to the professors of jurisprudence at Bologna.9 This specific attitude towards learned knowledge, however, would have surely been incompatible with the idea of science for its own sake. For Frederick, scientific theory and academic institutions were supposed, at least ultimately, to serve useful ends. Consequently, when the emperor wrote his famous treatise on the art of falconry at the end of his life, he restricted theoretical considerations to their actual relevance for practical purposes. His work De arte venandi cum avibus was supposed to serve as a manual with practical instructions for hunters, not to inform about the nature of birds for its own sake. This principal aim of the treatise is repeatedly reflected. In the context of his consideration of the behavior of birds, Frederick declares explicitly: Of all these things we will only speak partially and only insofar as it serves our purposes (quantum sufficit ad nostrum propositum).10 [. . .] For not shall a mischievous eye accuse us

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Wolfgang Stürner, Die Gründung der Universität Neapel durch Kaiser Friedrich II., in: id., Staufisches Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zur Herrschaftspraxis und Persönlichkeit Friedrichs II., Köln 2011, pp. 191–204; Lidia Capo, Federico II e lo Studium di Napoli, in: Studi sul Medioevo per Girolamo Arnaldi, ed. by Giulia Barone/Lidia Capo/Stefano Gasparri (I libri di Viella 24), Rom 2001, pp. 25–54; Martin Kintzinger, Macht des Wissens: Die Universitäten Bologna und Neapel, in: Die Staufer und Italien, ed. by Alfried Wieczorek/Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter, Vol. 1, Darmstadt 2010, pp. 395–402. On Frederick‘s coronation as Holy Roman Emperor by Pope Honorius III in 1220: Hubert 8 Houben, Kaiser Friedrich II., pp. 37–38; Wolfgang Stürner, Friedrich II, Vol. 1, pp. 246–253; James Matthew Powell, Frederick II and the Church in the Kingdom of Sicily, 1220–1224, in: id., The Papacy, Frederick II and Communal Devotion in Medieval Italy, Farnham 2014, pp. 28–34. 9 MGH, Const. 2, ed. by Ludwig Weiland, Hannover 1896, Nr. 85 f., pp. 106–110; see also Frank Rexroth, Kodifizieren und Auslegen. Symbolische Grenzziehungen zwischen päpstlichgesetzgeberischer und gelehrter Praxis im späteren Mittelalter (1209/10–1317), in: Frühmittelalterliche Studien 41 (2009), pp. 395–414, p. 410; Filippo Liotta, Federico II, la „Constitutio in basilica beati Petri“ e il „Liber Augustalis“, in: Gli inizi del diritto pubblico. Da Federico I a Federico II, ed. by Gerhard Dilcher/Diego Quaglioni, Bologna 2009, pp. 113–130; the procedure was of course a strategy of authentication that Frederick apparently adapted from the established practice of papal legislation. 10 De hiis eisdem non dicemus nisi figuraliter et quantum sufficit ad nostrum propositum, scilicet ut artifex, qui exercet venationem cum avibus rapacibus, sciat [. . .] ubi et quando et quomodo cum rapacibus valeat predari non rapaces (Fredericki II, De arte venandi cum avibus, p. 7).

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Marcel Bubert of prolixity. Therefore, we do neither futilely repeat anything, nor mention superfluous or inappropriate things, but only those things that are necessary for this art.11

The superfluous things, however, that do not immediately pertain to the practical requirements of hunting, these details about the breeding and growing of birds for example are to be found, as Frederick states, in Aristotle’s book on animal biology: We omit these questions and everything else about them, as they are treated sufficiently in the Book of Animals (in libro animalium) and do not concern our purpose, which is rather related to full-grown raptors, and how to teach them to hunt other full-grown-birds, already hatched from the egg.12

However, it is not merely the supposed “prolixity” of Aristotle’s writings of which Frederick is rather skeptical. In his manual, Frederick repeatedly underscored the impracticality of natural philosophy for the specific challenges of hunting, with respect to its theoretical and “inexperienced” character. According to him, Aristotle’s book on animal biology was not only full of superfluous details, but also of many errors that supposedly resulted from his lack of practical experience. Since Aristotle had never actually practiced the art of hunting, but only repeated what he had read or heard in schools, Frederick considered many of his judgements worthless for practical application.13 In any case, the validity of Aristotle’s statements has to be checked on the basis of personal experience and observation: In our writing, we consented to Aristotle only where it was appropriate. In many cases, however, in particular as concerns the nature of certain birds, he seems to depart from the truth, as experience has taught us. For that reason, we do not consent to the prince of the philosophers in every respect. For rarely has he practiced the hunting of birds himself, whereas we, by contrast, have constantly enjoyed and exercised it.14

Now, this basically skeptical attitude towards Aristotle leads Frederick to question the statements of the Philosopher several times, when they do not correspond to his own empirical observation. Many of Aristotle’s assertions, are proved wrong by the practitioner’s experience:

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Neque livoris oculus nos de prolixitate redarguat, cum neque eadem inutiliter repetamus, neque apponamus superflua aut impertinentia, sed tantummodo necessaria huic arti (Frederick II, De arte venandi cum avibus, p. 124). 12 Quomodo autem generatur pullus in ovo, et que membra ipsius prius apparent et formantur, et quod tempus est aptius cubationi, et per quantum tempus cubant aves, et reliqua constantia circa hec pretermittimus, eo quod sufficienter dictum est de huiusmodi in libro animalium, nec spectat ad nostrum propositum, quod est de perfectis avibus rapacibus, qualiter docentur rapere aves non rapaces iam exclusas de ovibus et perfectas (Friedrich II, De arte venandi cum avibus, p. 58). 13 Frederick II, De arte venandi cum avibus, pp. 123–124. 14 In scribendo etiam Aristotilem, ubi oportuit, secuti sumus. In pluribus enim, sicut experientia didicimus, maxime in naturis quarundam avium, discrepare a veritate videtur. Propter hoc non sequimur principem philosophorum in omnibus, raro namque aut nunquam venationes avium exercuit, sed nos semper dileximus et exercuimus (Frederick II, De arte venandi cum avibus, p. 1).

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In this respect, the opposite is shown of what Aristotle claims in his book on animals, when he says that those birds, that do fly modestly, are good at running – the genus of the loons namely flies poorly, but it runs even worse.15

Frederick’s critical attitude towards Aristotle, however, is in the 13th century by no means a matter of course. From the 1240s onwards, the writings of the Philosopher in natural philosophy and ethics were established as basic textbooks in the teaching of the recently founded universities, above all the universities of Paris and Oxford.16 It was in these very years that the masters of arts at the University of Paris became more and more self-confident of their own profession as university teachers and began to write extensive commentaries on the works of Aristotle, whose authority they broadly accepted.17 Questioning the validity of his judgements on the basis of empirical observation, was no conventional practice in the learned culture of that time. Precisely when Aristotle had become a “new paradigm” for the profession of the university man,18 Frederick II, however, boldly challenged the authority of “the Philosopher” with his personal experience and powers of observation. In doing so, Frederick in fact freely adapted particular elements of a discourse of criticism that emerged almost simultaneously with the European universities around 1200.19 From the very beginning, the new scholastic learning was criticized by contemporaries, as Walter von Châtillon or Nigellus Wireker for instance, for the supposed failure to serve either personal or social needs. Frederick’s creative adaptation of this criticism, combined with his act of demarcation, in effect contributed to the emergence of alternative types of expertise centered on the concepts of utility and experience. In Frederick’ treatise, empirical knowledge is remarkably revalued, as compared to the academic culture. By way of this demarcation, the emperor created a specific type

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[. . .] de quibus videtur contrarium ei, quod sentit Aristotiles in libro de animalibus, dicens, quod que aves sunt modici volatus, sunt boni gressus – mergonum namque genus modici est volatus et peioris gressus (Frederick II, De arte venandi cum avibus, p. 13). Claude Lafleur, L’enseignement philosophique à la Faculté des arts de l’Université de Paris en la première moitié du XIIIe siècle dans le miroir des textes didascaliques, in: Laval théologique et philosophique 60,3 (2004), pp. 409–448; Olga Weijers/Louis Holtz (ed.), L’enseignement des disciplines à la Faculté des arts (Paris et Oxford, XIIIe et XIVe siècles) (Studia artistarum 4), Turnhout 1997. Marcel Bubert, Philosophische Identität? Sozialisation und Gruppenbildung an der Pariser Artistenfakultät im 13. Jahrhundert, in: Zwischen Konflikt und Kooperation. Praktiken europäischer Gelehrtenkultur (12.–17. Jahrhundert), ed. by Jan-Hendryk de Boer/Marian Füssel/Jana Madlen Schütte (Historische Forschungen 114), Berlin 2016, pp. 309–326; it was not until 1255 that the entire range of the available works of Aristotle was officially prescribed for the curriculum of the arts faculty (Chartularium Universitatis Parisiensis I, ed. by Heinrich Denifle/Émile Chatelain, Nr. 246, pp. 277–279); however, Aristotle’s writings in natural philosophy, logic, and ethics had been studied and commented on by the masters much earlier, beginning already the 1220s. Charles Lohr, The Medieval Interpretation of Aristotle, in: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy: From the Rediscovery of Aristotle to the Disintegration of Scholasticism 1100–1600, ed. by Norman Kretzmann et al., Cambridge, UK 1982, pp. 80–98, p. 91. Stephen Ferruolo, The Origins of the University: The Schools of Paris and Their Critics, 1100–1215, Stanford, CA 1985); Frank Rexroth, Wenn Studieren blöde macht: Die Kritik an den Scholastikern und die Kritik an Experten während des späteren Mittelalters, Bern 2015.

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of know-how or expertise as a practical and empirical alternative to the verbal and ‘bookish’ culture of the recently established universities. The intellectual dynamics, however, which brought about these concepts of practical expertise were obviously somehow connected to specific media. It can hardly be a coincidence that another work of basically the same type, Bernard Gui’s famous manual for the inquisitor, evinces an analogous strategy of criticism and demarcation for the purpose of conceptualizing a specific sort of expert knowledge. Like the emperor Frederick, Bernard Gui was not a university man but had acquired his skills through actual experience as a professional inquisitor in southern France at the beginning of the 14th century. In 1307 Bernard took initially office as inquisitor of Toulouse and later extended his competence to Albi, Carcassonne, and Pamiers.20 The “Manual for the Inquisitor” (Practica officii inquisitionis haereticae pravitatis) which he compiled during his activities, was intended as a guideline and compendium for the practice of the interrogation of heretics. For that purpose, the work in sequence deals with several supposedly heretical and suspicious groups, in particular the Cathars, Waldensians, the Pseudo-Apostles, and Beguines, whereas further chapters are concerned with Jews and magicians.21 With respect to the particular doctrines and customs of all these groups, Bernard outlines specific techniques and strategies of interrogation. His expertise, however, on the basis of which he is capable to do so, is supposed to rely on his long lasting experience as inquisitor. In his handbook, therefore, he continuously emphasized that all his knowledge was based on personal observation and direct interaction with heretics. The effectiveness of his techniques of interrogation, for instance, and the specific conditions under which heretics would finally confess to their sins, are exemplified by Bernard’s practical experience which is frequently evoked throughout the treatise: I have seen (vidi ego) and I have experienced (expertus sum) how someone refused to tell the truth, although he was kept in prison for two years and questioned many times. Eventually, however, he broke his silence and surrendered and repented.22

The fact that his manual is directed to practical aims in the first place, however, is not only connected to Bernard’s specific evaluation of empirically acquired knowledge. Just like Frederick II., Bernard repeatedly expresses his intention to avoid prolixity, 20 21

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Jean-Louis Biget (ed.), Inquisition et société en pays d’Oc, Toulouse 2014. For contemporary perceptions of heresy and the relation of the Dominicans and the Inquisition to heretical groups (which provide the epistemic background of Bernard’s categorization): Denis Crépin, Les frères Prêcheurs et le catharisme albigeois. De saint Dominique à Bernard Gui, Paris 2017; Sita Steckel, Falsche Heilige. Feindbilder des ‘Ketzers’ in religiösen Debatten der lateinischen Kirche des Hoch- und Spätmittelalters, in: Von Ketzern und Terroristen. Interdisziplinäre Studien zur Konstruktion und Rezeption von Feindbildern, ed. by Alfons Fürst, Münster 2012, pp. 17–44; Christine Caldwell Ames, Righteous Persecution. Inquisition, Dominicans, and Christianity in the Middle Ages, Philadelphia 2009; and the classical studies by Herbert Grundmann, Ausgewählte Aufsätze, Vol. 1: Religiöse Bewegungen (Schriften der MGH 25/1), Stuttgart 1976. Vidi ego et expertus sum de uno quod per duos fere annos detentus in carcere et sepius examinatus tergiversando veritatem noluit confiteri, quam tandem aperuit et detexit et penituit et fuit tanquam penitens hereticus ad peragendum penitentiam inmuratus (Bernard Gui, Practica officii inquisitionis, p. 106).

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to exclude superfluous data, in order to present a useful handbook. With regard to the letters of a heretic, which he used as sources for his manual, Bernard states: After I had extracted the basic facts from two of these [letters], which were at my disposal, I collected what follows as a compendium. For the sake of brevity, I passed over other things which did not seem to be relevant to the purpose.23

With his explicit intention to rely on personal experience and to present his knowledge in a brief and appropriate fashion, Bernard purposefully featured himself as a practical expert. This remarkable phenomenon, however, was not independent from the specific social and historical contexts of 14th century France in which Bernard was writing. As a supposed expert for heretics and heresies, Bernard pretended a particular position in a social field that was related to other positions. Just at the same time, other protagonists had successfully established themselves in France as acknowledged experts for orthodoxy and heresy. Since the beginning of the 13th century already, the learned theologians of the university were repeatedly consulted by bishops, archbishops, and popes in the context of contentious debates about suspicious or heretical doctrines and writings. Both in the case of the followers of Amalrich of Bena (whose doctrines were officially condemned by the fourth Lateran Council of 1215), and in the forefront of the Parisian condemnations of 1270 and 1277, theologians had given their expert assessment.24 In the 1240s, Parisian theologians participated several times in the condemnation of the Talmud where their learned judgement gave legitimacy to the sentences of the prelates.25 And when the French king, Philip the Fair (1285–1314), became involved in multiple explosive struggles with the papacy, the Order of the Templars, or the French mystic Marguerite Porete,26 the court repeatedly asked the 23

In ipsis epistolis suis de scripturis sanctis copiose delirans et simulans in exordio litterarum suarum fidem Romane ecclesie se tenere, cujus perfidiam consequenter pandit series earumdem, ex quarum duarum tenore quas tenui excerpendo, collegi sub compendio que secuntur, pretermissis aliis brevitatis causa, que ad rem minime facere videbantur (Bernard Gui, Practica officii inquisitionis, II, p. 76). 24 On censorship see: Luca Bianchi, Censure et liberté intellectuelle à l’université de Paris (XIIIe–XIV siècles), Paris 1999; Johannes M. M. Hans Thijssen, Censure and Heresy at the University of Paris, 1200–1400, Philadelphia 1998; Fernand van Steenberghen, La philosophie au XIIIe siècle (Philosophes médiévaux 28), 2. Ed., Louvain-La-Neuve 1991. 25 André Tulier, La condamnation du Talmud par les maîtres universitaires parisiens, ses causes et ses conséquences politique et idéologique, in: Le brûlement du Talmud à Paris 1242–1244, ed. by Gilbert Dahan, Paris 1999, pp. 29–78; the papal legate, Odo of Châteauroux, explicitly emphasizes that he has consulted experts (viros discretos et expertos in talibus) before his decision: Exhibitis nobis auctoritate apostolica a magistris Judeorum regni Francie quibusdam libris, qui Talmud appellantur, quos inspeximus et per viros discretos et expertos in talibus Deum timentes et zelum habentes fidei christiane fecimus inspici diligenter (Chartularium Universitatis Parisiensis I, ed. by Heinrich Denifle/Émile Chatelain, Nr. 178, p. 209). 26 According to William Courtenay, the royal court was probably the driving force behind the trial against Marguerite Porete; in any case, the theologians of the university were asked to give their judgement on the Mirror of the Simple Souls: William J. Courtenay, Marguerite’s Judges. The University of Paris 1310, in: Marguerite Porete et le Miroir des simples âmes. Perspectives historiques, philosophiques et littéraires, ed. by Sean L. Field/Robert E. Lerner/Sylvain Piron, Paris 2013, pp. 215–231.

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masters of theology at the university of Paris for their learned opinion.27 In the process, however, these communicative practices inevitably attributed the social role or status of expert in a certain field of knowledge to a particular group of university scholars, performatively creating a specific type of institutionalized expertise.28 Bernard Gui had, of course, attentively recognized the existence and widely accepted authority of the learned experts for matters of the faith. In order to delineate his own expertise and to define his own social status as professional inquisitor, he inevitably had to distinguish himself from the group of university scholars and their specific type of expert knowledge. The fact, however, that this academic expertise was based on the knowledge of theological textbooks, such as the writings of the church fathers or the Sentences of Peter Lombard, and not on practical experience, seemed to offer a suitable point of departure. Whereas the theoretical and speculative reasoning of the theologians certainly enabled them to pass judgements on the content of doctrines and writings, their ability to deal with heretics in practice was, from Bernard’s perspective, highly questionable. Consequently, the inquisitor repeatedly highlighted the inaptitude of the academic scholars to uncover the deceptions of the heretics: For today’s heretics try and seek to clandestinely hide their errors, instead of confessing them publicly. The learned men, therefore, are unable to convict them with the science of the Scriptures (per scientiam Scripturarum), because they manage to escape through the falsities of their words and through their intended frauds. And hence the learned men get rather confused by them, and the heretics themselves are boasting and become even stronger, when they see how they can play with the scholars, and how they can escape from their hands through the vulpine, shifty, and intricate ways of their answers.29

From Bernard’s point of view, the theologians of the university could easily be deceived by the frauds of the heretics because they lacked practical experience.30 However, this critical attitude towards the university scholars does not imply that the inquisitor rejected the authority of learned experts out of hand. As far as the 27

William J. Courtenay, Learned Opinion and Royal Justice: The Role of Paris Masters of Theology during the Reign of Philip the Fair, in: Law and the Illicit in Medieval Europe, ed. by Ruth Mazo Karras/Joel Kaye/E. Ann Matter, Philadelphia, PA 2008, pp. 149–63; William J. Courtenay/Karl Ubl, Gelehrte Gutachten und königliche Politik im Templerprozess, Hannover 2010; Karl Ubl, Haeretici relapsi. Jean de Pouilly und die juristischen Grundlagen für die Hinrichtung der Tempelritter, in: 1308. Eine Topographie historischer Gleichzeitigkeit ed. by Andreas Speer/David Wirmer (Miscellanea mediaevalia 35), Berlin 2010, pp. 161–170. 28 For the performative attribution and social construction of expertise see: Frank Rexroth/Teresa Schröder-Stapper (ed.), Experten, Wissen, Symbole. Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen (Historische Zeitschrift, Beihefte 71), Berlin 2018; in that volume also: Marcel Bubert/Lydia Merten, Medialität und Performativität. Kulturwissenschaftliche Kategorien zur Analyse von historischen und literarischen Inszenierungsformen in Expertenkulturen, pp. 29–68. 29 Set quia moderni heretici querunt et nituntur latenter palliare errores suos magis quam aperte fateri, ideo viri litterati per scientiam Scripturarum non possunt eos convincere, quia per fallacias verborum et per excogitatas astutias dilabuntur; et ideo potius confunduntur ab eis viri litterati, et ipsi heretici gloriantes per hoc amplius roborantur, videntes quod viris litteratis ita illudunt quod de manibus eorum per suas vulpinas, versutias et tortuosas responsionum ambages callide celabuntur (Bernard Gui, Practica officii inquisitionis, p. 6). 30 Bernard Gui, Practica officii inquisitionis, p. 6.

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assessment of writings was concerned (in this case: the evaluation of heretical books), Bernard readily accepted the responsibility of the university men. For when Bernard talked about the treatise on the apocalypse by the Franciscan Peter John Olivi, he referred without hesitation to its examination by eight Parisian masters of theology, in order to prove the heresy of the work. The expert testimony of the theologians which had noticed multiple heretical articles, is cited by Bernard as reliable authority: By recording their judgment on the aforementioned articles in a written account with their proper seals, they published it as an official document. And whoever sees it and reads it and holds it in his hand, will accept it as true.31

This acknowledgement of the learned opinion, however, apparently implies a relatively clear and well delineated demarcation of particular sorts of expertise, a division of labor so to speak, that leaves the assessment of writings to the scholars, but insists on the authority of the inquisitor insofar as direct interactions and personal interrogations are concerned. The internal dynamics of the social field of different types of experts, and the necessity to demarcate a particular position within this network, therefore, had profound effects on the character and the specific contents of Bernard’s manuals.

CONCLUSION By way of a comparison, it can be shown how the manuals of the emperor Frederick II. and of the inquisitor Bernard Gui, at first glance entirely unconnected, applied a similar strategy of demarcation, which helped shape the nature of both treatises. In each case, a prominent manual author’s barb against the incapability of learned scholars converged with a recent development in the history of the universities. Frederick criticized the uselessness of many of the contents of Aristotle’s work on animal biology precisely at the time, when the writings of the Philosopher in natural philosophy became established as textbooks in the universities. This definite act of demarcation from the social role of the academic philosopher, eventually causes Frederick to elaborate a concept of expertise that is based on practical experience in the first place. Insofar as purely theoretical questions are concerned, Frederick and Bernard readily acknowledged the authority of the scholars. Nevertheless, when it came to the practical application of knowledge, to the practical requirements of falconry and the inquisition, they departed radically from their learned counterparts. In multiple ways, this endeavor to define and demarcate a certain social position and to represent an alternative sort of expertise, contributed to bring about two highly original approaches,

31

Suumque judicium de predictis redactum in scriptis sigillis propriis cum instrumento publico muniverunt; et qui vidit et perlegit ac tenuit, hic testimonium perhibet veritati (Bernard Gui, Practica officii inquisitionis, p. 112).

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Marcel Bubert

in which new types of practical and above all empirical knowledge are developed und organized.32 Dr. Marcel Bubert Westfälische Wilhelms-Universität, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster, [email protected]

32

The focus on intellectual ‘constellations’, on relations and acts of demarcation, which is proposed in this article for a new contextualization of Frederick II and Bernard Gui, is methodologically inspired, at least in principal, by theories of the sociology of knowledge; for this approach in general: Pierre Bourdieu, Les usages sociaux de la science. Pour une sociologie clinique du champ scientifique, Paris 1997; Martin Mulsow/Marcelo Stamm (ed.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005; see also: Marcel Bubert, Towards a Sociology of Medieval Philosophy, with Special Reference to Paris around 1300. Some Preliminary Remarks, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 19 (2018), pp. 113–126.

COMBINATIONS OF KNOWLEDGE The Science Behind Ammonia Synthesis Benjamin Johnson

Abstract: The history of ammonia synthesis is used to illustrate how combinations of knowledge can lead to developments in scientific research. Five examples are given, each offering different perspective. Of these, the 14th Annual Meeting of the Bunsen Society in Hamburg in 1907 acts as the main example. This specific incident was chosen not only because of its illustrative power, but also because it has often been presented and discussed in the historical and popular literature as little more than a dramatic episode. Here it is embedded in the context of physical chemistry and the then-evolving approach to the synthesis of ammonia. Through this change of perspective, it takes on the character of an exchange of knowledge central to the breakthrough that became the Haber-Bosch process. In addition, the ammonia synthesis reaction and the difficulties it presented to researchers of the nineteenth century are described in straightforward language.

Large-scale change or innovation, be it in art, politics, technology or other fields, often requires a heterogenous environment of operation and actors able and willing to link diverse interests and sets of knowledge. Through repetition, these processes can produce viable options for advancement which, when successful, may branch out into increasing webs of influence in other disciplines.1 The same is true – possibly with unique variations – in the case of scientific investigations where researchers at universities and institutions are in a strong position to tackle a problem from a variety of angles through the use of novel, hybrid approaches. The synthesis of ammonia, along with the actions of the scientists and engineers involved in its discovery, illustrates this well – the open research setting of a university allowed the actors to develop multifaceted backgrounds while remaining in close contact with one another and then, when it becomes necessary, join with industry to provide the necessary momentum to push past the laboratory level. Ammonia synthesis represents both the culmination of over a century of scientific and technical achievement as well as the origin of a good portion of what we recognize as our modern way of life. In this way it is a nodal point in the history of science through which the preceding process of knowledge collection can be linked to subsequent

1

John F. Padgett and Christoph K. Ansell, Robust Action and the Rise of the Medici, 1400– 1434, in: American Journal of Sociology 98 (1993), pp. 1259–1319; Ronald S. Burt, Structural Holes and Good Ideas, in: American Journal of Sociology 110 (2004), pp. 349–399; Stoyan V. Sgourev, How Paris Gave Rise to Cubism (and Picasso). Ambiguity and Fragmentation in Radical Innovation, in: Organization Science 24 (2013), pp. 1601–1617; David Obstfeld, Getting New Things Done, Stanford 2017.

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technological developments to describe an arena for scientific discovery. It also illustrates the potential – and in some cases surely imperative nature – of a conceptual leap.2 Beginning with developments in the first half of the nineteenth century, agriculture was at the time subjected to an increasingly scientific treatment as the nature of plant and animal nutrition was understood and the cycle of the elements (specifically nitrogen) through our biosphere illustrated the detailed interdependencies of living things with their environment. The roll of nitrogen in a specific form, called fixed nitrogen, was the key to this cycle. Fixed nitrogen is nitrogen not in the molecular form found in the atmosphere – two nitrogen atoms bound together as N2 – but, rather, nitrogen bound to another atom such as hydrogen or oxygen. Common examples are nitrates, containing an NO2 - ion, or ammonia, NH3 . Only in this form can nitrogen be assimilated by plants and built into tissue or DNA. In turn, animals incorporate the nitrogen – animal protein consists of about 16% nitrogen – by consuming the plants. Natural, and now synthetic processes, can convert nitrogen between several fixed forms, called oxidation states, each of which forms a step along the nitrogen cycle.3 This knowledge was elucidated by progress in organic chemistry during the nineteenth century as increased access to accurate elementary analysis and better understanding of chemical combination made clear the importance of fertilizer (rich in fixed nitrogen) to crop yields and as well as the place of fixed nitrogen in the nitrogen cycle.4 These developments were also key to the isolation and preparation of substances known as hydrocarbons, used for the first synthetic dyes. They, along with ever more exact understanding of the role of a catalyst in chemical reactions, were important for the rise of the chemical industry (BASF, Hoechst, Bayer, AGFA and others) in the second half of the nineteenth century.5 Here infrastructure, know-how and capital were amassed which now form the basis of modern chemical synthesis – and our way of life. Already at this point, before the discovery of synthetic ammonia production, a combination of knowledge had taken place that identified a “problem-solution pair”. Agricultural science had illustrated the need for fixed nitrogen for crops, something that was increasingly satiated by imports of guano and nitrates from South America.6 These were stock resources and a synthetic, domestic solution was considered a

2 3 4

5

6

Benjamin Johnson, forthcoming, Weinheim 2020. Constant C. Delwiche, The Nitrogen Cycle, in: Scientific American 223 (1970), pp. 136–146. Marion W. Gray, From Household Economy to “Rational Agriculture”. The establishment of Liberal Ideas in German Agricultural Thought, in: In Search of Liberal Germany: Studies in the History of German Liberalism from 1789 to the Present, Edited by Konrad H. Jarausch and Larry E. Jones, New York 1990, pp. 25–54; Peter M. Jones, Agricultural Enlightenment. Knowledge, Technology and Nature, 1750–1840, Oxford 2017, ch. 7. Ludwig F. Haber, The Chemical Industry 1900–1930. International Growth and Technological Change, Oxford 1971, ch. 4; Anthony S. Travis, The Rainbow Makers. The Origins of the Synthetic Dyestuffs Industry in Western Europe, Bethlehem 1993; Werner Abelshauser et al., German Industry and Global Enterprise. BASF. The History of a Company, Cambridge 2004. Gregory Cushman, Guano and the Opening of the Pacific World. A Global Ecological History, Cambridge 2013, ch. 2.

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high priority.7 The goal was pursued in Europe where the chemical industry, after its success with the (catalytic) production of a growing number of chemicals such as the dye indigo, sulfuric acid, sodium hydroxide and sodium carbonate, appeared poised to offer a solution: the economical production of ammonia which could be used to easily manufacture fertilizer. But the combination of nitrogen and hydrogen continued to elude researchers. Something was missing: a conceptual building block that would bring chemistry into the modern era and was itself a hybrid discipline. In the final decades of the nineteenth century the application of energy science and thermodynamics to chemistry led to the establishment of the field of physical chemistry. It combined elements of two disciplines to provide holistic guidelines by which chemical reactions could be planned and executed with predictable outcomes according to whatever wishes the chemist may have. However, the researchers adept at using this theory had to be well-versed in the laboratory techniques of the chemists as well as the mathematical techniques of the physicists – it was not a common attribute. In part due to this circumstance, physical chemistry was not immediately accepted despite demonstrated success. The theory provided the tools to solve a riddle that had confounded researchers for over a century: the synthesis of ammonia from the elements. Ammonia could be readily broken down into nitrogen, N2 , and hydrogen, H2 . But how was one to take the raw ingredients of N2 and H2 and combine them to make NH3 ? That is: 2 N2 + 3 H2 ←→ 2 NH3

(1)

The reaction was deceptively close to that of water, where H2 combines with oxygen, O2 , to form H2 O, 2 H2 + O2 ←→ 2 H2 O

(2)

But there is a difference and identifying it required understanding an intimate balance in nature. In the case of water, the diatomic constituents hydrogen and oxygen split relatively easily into single atoms to unite into H2 O. In the case of ammonia, however, the two nitrogen atoms in N2 are bound so tightly they form a barrier which blocks their combination with hydrogen and, therefore, the production of ammonia.8 Consider a ball rolling toward a valley which must first overcome a small hill in order to roll down to the valley floor. The ball must have a certain initial speed to overcome the hill or else it will not reach its final descent. That is, it requires an initial energy investment for the process to take place at all. In terms of chemical reactions, the 7 8

William Crookes, The Wheat Problem. Based on Remarks made in the Presidential Address to the British Association at Bristol in 1898, London 1917. There are actually several barriers, known more precisely as energy barriers, associated with the catalytic and hydrogenation processes in ammonia formation. For the scientifically adventurous, see Aleksandra Vojvodic et al., Exploring the limits: A low-pressure, low-temperature HaberBosch process, in: Chemical Physics Letters 598 (2014), pp. 108–112. This modern perspective may also be compared to an earlier stage of research: Gerhard Ertl et al., Interactions of Nitrogen and Hydrogen on Iron Surfaces, in: Applications of Surface Science 8 (1981), pp. 373–386.

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extra energy can be imparted through an increase in temperature. At a certain point the N2 will break apart at a sufficient rate to form ammonia with hydrogen (which splits apart more easily) so that the reaction can “arrive at the bottom of the hill.” This is simple enough, but a problem arises because the increase in temperature also causes the newly formed ammonia to split apart, or dissociate, so that with or without high temperatures, only a tiny quantity of ammonia is created. As we will see, this does bring us a step toward our goal, but from the point of view of nineteenth century chemistry the result meant simply that little (or no) ammonia could be formed by combining nitrogen and hydrogen. At the time, chemical reactions were believed to proceed from the reacting substances to the product substances. Otherwise, no reaction was possible. It took physical chemistry and the powerful concept of reversibility to change this. In our modern view of a chemical reaction, all substances present are continuously being formed and dissociated – both the forward and backward reaction are always taking place, even when the reaction is “finished”. In this way “finished” refers to a very special scenario in which each substance is being generated and dissociated at the same rate so that there is no net change in any quantity. Rather than “proceeding” from one set of substances that combine to form another set, specific conditions (temperature, pressure, ratio) dictate the amount of each substance one will find. A chemical reaction is not a directional flow, but a choice. A decision is made to favor one set of substances over the other, or, to favor one side of an equation like equation 1 or 2 over the other side (thus, the double-ended arrows). Because the reaction is reversible, another set of conditions may be chosen later to alter the quantities of chemicals present – we may shift the equation back and forth and wherever we end up we call the equilibrium (the amounts of each substance present) under our chosen conditions. In the case of water, if we have hydrogen, oxygen and water in a glass beaker, we may choose conditions which give us essentially only water, or conditions under which we have only hydrogen and oxygen – or any mixture in between. We may then change our mind and choose new conditions as it suits us. In this way, of thinking, hydrogen and oxygen do not combine to form water so much as all three exist together in a specific equilibrium in amounts determined by outside conditions. Alternatively, if we wish to stay with the idea that hydrogen and oxygen do combine to form water, we must also accept that it is equally legitimate for water to decompose to form hydrogen and oxygen. From a fundamental stand point, this “backward” reaction is no more remarkable than combination. The reaction is, to emphasize the concept again, reversible. In the case of ammonia, it behaves much like water and splits readily enough into nitrogen and hydrogen – there is no difficulty there. However, the problem posed by agricultural science was the production of ammonia from nitrogen and hydrogen, a process in which the reluctance of diatomic nitrogen to split into single atoms presents a considerable challenge. It is straightforward to find conditions under which ammonia should form, at least theoretically. That is, conditions under which ammonia is stable and preferred. However, if one begins with the constituents nitrogen and hydrogen nothing happens under these conditions. There is no chemical reaction because the nitrogen stays tightly bound together and does not react with

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hydrogen. The central question becomes: how can the nitrogen atoms be made available without destroying the ammonia already formed? This was the riddle. Physical chemistry provided three options, best used in combination. The first, as we have mentioned, is to raise the temperature – but not too much! Otherwise the ammonia will be destroyed. Then a catalyst is applied. Iron works well. A catalyst has the effect of lowering the energy barrier that needs to be overcome to split nitrogen – or lowering the height of the small hill the ball must overcome to descend into the valley. In this way it increases the rate of reaction because more nitrogen becomes available at a lower temperature. We now lose less of the ammonia which otherwise would not have survived the higher heat. Finally pressure is applied – we pump our glass beaker (now filled with nitrogen, hydrogen and ammonia) until it contains about 200 times the pressure we feel at see level (or 200 atmospheres). Nature likes to respond to anything done to it by enacting a counter reaction. If a system is put under pressure, nature will try to decrease the number of particles in that system so that the pressure remains constant – it tries to negate the outside influence. In chemistry, this is known as Le Chatelier’s Principle. Ammonia is made of three atoms and nitrogen and hydrogen each have two – but all three molecules are roughly the same size.9 Higher pressure will, therefore, favor the creation of one molecule ammonia because that will lower the overall number of particles and, thus, the pressure. This shift allows the temperature to be decreased even more and our ammonia yield rises still further. Still, despite our tricks with the catalyst and with pressure, it remains a balancing act. Enough heat must be used to split the nitrogen adequately, but not so much that the ammonia we have created is destroyed. There is only a tiny window of conditions which enables useful production rates. Fortunately for the physical chemists Fritz Haber and Walther Nernst, the conceptual leap to physical chemistry from the empirical approach that preceded it (the nineteenth century organic chemistry mentioned above) enabled the identification of that window between 1903 and 1908. In order to find it, they needed only to understand the details of a complex mathematical theory and its implications for real-life systems. It was, of course, no easy task. Fritz Haber, at the time professor of chemistry at the University of Karlsruhe, is credited with the discovery of ammonia synthesis. But while a historical examination of the development of his work makes it clear that, at the least, indispensable contributions were made by his technical assistants Gabriel van Oordt, Robert Le Rossignol and Friedrich Kirchenbauer, it does not answer the question why, of all people, Haber and his team made the breakthrough. Over the final decades of the nineteenth century, several attempts had been made to synthesize ammonia: William Ramsay and Sydney Young, Henri Le Chatelier and Wilhelm Ostwald were all renowned researchers with knowledge of modern physicochemical principles.10 However, none of their pursuits were successful. 9

10

This may seem like a contradiction, but in terms of the pressure of a gas, the number of atoms in a molecule is not important – only the total number of molecules. The reason is because for determining the pressure, it works very well to view all molecules as geometric points, no matter their actual size. William Ramsay and Sydney Young, The decomposition of ammonia by heat, in: Journal of the Chemical Society, Transactions 45 (1884), pp. 88–93; Henri Le Chatelier, Recherches

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A possible explanation can be found in Haber’s personality, abilities and resulting career path, combined with the skills of other able personalities and external circumstances. In the beginning, Haber bounced between academic research and industry before deciding definitively on the former (although he never lost his proximity to the latter). He began in the field of organic chemistry, but after initial success (based mainly on the empirical approach of the nineteenth century) he moved on to what were considered more modern fields of research. Haber had a strong drive toward the esoteric and this meant delving into physics and the hybrid field of physical chemistry. As archival research and secondary reports attest, Haber was an autodidact who did not shy away from the challenges of new ways of thinking.11 “In my early years,” wrote Haber in a letter to Wilhelm Ostwald in 1911,12 “I had no understanding of physical chemistry or physics and so I was forced to learn these things on the side during other work in later years as I moved from engineering to technology and from there to theory...”13 One intriguing conundrum concerned the movement of matter during chemical recombination and how in very dilute solutions the matter associated with chemical reactions, the electrons, appeared to move faster than light.14 Haber was, however, never able to provide a solution – the necessary quantum perspective would not be developed until later. His interest and drive to explore these new fields were not enough on their own: branching out also required extensive mathematical skill and Haber had that ability. In fact, he was a gifted theorist an par with the more renowned mathematical physical chemists of the day such as Walther Nernst. The starkest example of this is Haber’s 1905 text book, Thermodynamics of Technical Gas Reactions, published in English in 1908.15 In it, he tackled the difficult problem of calculating the key value in a chemical reaction, the free energy. The free energy is minimized in a chemical reaction and, thus, provides a quantitative means for predicting how the reaction will proceed. At the turn of the twentieth century, the determination of this quantity had become one of the central problems in physical chemistry. It was not

11

12 13

14 15

expérimentales et théoriques sur les équilibres chimiques, Paris 1888, p. 184; Wilhelm Ostwald, Lebenslinien. Zweiter Teil, Leipzig 1887–1905, Berlin 1927, ch. 12. Wilhelm Schlenk, Nachruf an Fritz Haber, in: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 67 (1934), A20–A24; John E. Coates, The Haber Memorial Lecture, in: Journal of the Chemical Society 2 (1937), pp. 1642–1672; Johannes Jaenicke, Interview with Max Mayer, 9 November, 1958, in: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. Va, Rep. 0005: HS 1483. Fritz Haber, Letter to Wilhelm Ostwald, 2 February, 1911, in: Archiv der Max-PlanckGesellschaft, Abt. Va, Rep. 0005: HS 852. “...in meinen jungen Jahren [habe] ich weder von der physikalischen Chemie noch von der Physik eine Kenntnis gehabt und so habe ich, indem ich mich von der Technik zur Technologie und von dieser zur Theorie gewandt habe, immer neben anderer Arbeit die Dinge in reiferen Jahren zulernen müssen...” Fritz Haber, Über die kleinen Konzentrationen, in: Zeitschrift für Elektrochemie 40 (1904), pp. 773–776. Fritz Haber, Thermodynamik technischer Gasreaktionen, Munich/Berlin 1905; Fritz Haber, Thermodynamics of Technical Gas Reactions, London 1908.

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only of theoretical interest, it was also important for industry. With full knowledge of the free energy, a chemical company would be able to determine suitable chemical reactions for their production processes without having to invest in costly research to determine the desired outcome by trial and error. They could simply calculate what they wished to produce. In the end, although Haber made important contributions to the theory of the free energy, his work lacked daring and creativity rather than mathematical prowess. For it was Walther Nernst who solved the problem with his “heat theorem” by introducing an equation later known as the third law of thermodynamics.16 At the time it was no more than a mathematical tool based on a hunch Nernst had had after considering experimental data.17 . Due to such contributions Nernst is mainly considered a theorist today, but it will not be surprising that he was no stranger to experiment and was able to approach chemical systems from both theoretical and laboratory perspectives. It is doubtful the senior scientist Nernst conducted experiments on ammonia himself but he did have experience in laboratory procedure from his time at Göttingen in the 1890s.18 Although there was overlap, he and Haber had differing backgrounds and expertise – an exciting predicament which brings us to the third example of combinations of knowledge: the interaction between the two researchers during their work on ammonia synthesis and the exchange of knowledge from theory and from the laboratory. There are many articles and books which, in sufficient detail, recall the events between 1903 and 1908 that led to the first synthesis of ammonia and later formed the basis for upscaling at BASF, completed in 1913. For those interested in further details, see the sources cited here.19 Here we will describe enough to give 16

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18 19

Walther Nernst, Ueber die Berechnung chemischer Gleichgewichte aus thermischen Messungen, in: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Mathematisch-physikalische Klasse 1 (1906), pp. 1–39. Werner Haberditzl, Walther Nernst und die Tradition der Physikalischen Chemie an der Berliner Universität, in: Forschen und Wirken. Festschrifte zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin 1810–1960 1 (1960), pp. 401–416. Hans-Georg Bartel, Walther Nernst (Biographien hervorragender Wissenschaftler, Techniker und Mediziner, 90), Leipzig 1989, pp. 21–39. Max Schwarte, Die Technik im Weltkriege, Berlin 1920, pp. 537–551; Alwin Mittasch, Geschichte der Ammoniaksynthese, Weinheim 1951; Lothar Suhling, Walther Nernst und der Dritte Hauptsatz der Thermodynamik, in: RETE Strukturgeschichte der Naturwissenschaften, edited by Eberhard Schmauderer and Ivo Schneider, Stuttgart 1972, pp. 331–346; Alfred von Nagel, Stickstoff. Die Chemie stellt die Ernährung sicher, Mannheim 1991; Lothar Suhling, Nernst und die Ammoniaksynthese nach Haber und Bosch, in: Naturwissenschaft und Technik in der Geschichte, edited by Helmut Albrecht, Stuttgart 1993, pp. 343–356; Tony Travis, The Haber-Bosch Process. Exemplar of 20th Century Chemical Industry, in: Chemistry & Industry 15 (1993), pp. 581–585; M. Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934, Munich 1998; Dieter Stoltzenberg, Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Deutscher, Jude, Weinheim 1994; Dieter Stoltzenberg, Fritz Haber: Chemist, Nobel Lauereate, German, Jew (English Version), Philadelphia 2004; Gerhardt Ertl, The Arduous Way to the Haber-Bosch Process, in: Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 638 (2012), pp. 487–489; Gerhardt Ertl, Walther Nernst and the Development of Physical Chemistry, in: Angewandte Chemie, International Edition 54 (2015), pp. 5828–5835; Bernd Scherer, Die Monster, in: Das Anthropozän, edited by Jürgen Renn and Bernd Scherer, Berlin 2006, pp. 226–241; Jürgen Renn, Benjamin Johnson and Benjamin Steininger, Ammoniak und seine Synthese. Wie eine epochale Erfindung das Leben der Menschen und die Arbeit der Chemiker verändert, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 10 (2017), pp. 507–514.

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context to Haber and Nernst’s interaction. During the years around the turn of the nineteenth century, the study of the free energy fit well into Haber’s shift toward topics of increasingly basic research (the reaction of nitrogen and hydrogen to ammonia, as well as the reverse reaction, was, like any other chemical reaction, governed by the free energy). Because an economical ammonia synthesis would also be a boon for industry, it was a research endeavor Haber was willing to take up – especially after the Margulies Brothers of the Österreichische Chemische Werke in Vienna wrote to him in 1903. They asked whether he could help them work out an industrial production method and offered financial compensation.20 It sweetened the deal enough for Haber and he took up the challenge. He published his initial results on direct ammonia synthesis from the elements with Gabriel van Oordt in 1905 which contained meticulous testing of iron and nickel catalysts.21 Included was a study of another process, called the multi-step or cyanamide process, which at the time was also considered a viable form of ammonia production. In a separate, parallel investigation Haber also began to examine a third method of producing fixed nitrogen with Adolph König, this time in the form of oxidized nitrogen (or nitrates), called the electric arc process.22 Thus, within several years Haber had begun studying all three potential synthetic sources of nitrogen fixation. The 1905 publication on direct synthesis caught the attention of Walther Nernst, then professor at Berlin University and renowned authority in physical chemistry, who was already at work on his heat theorem. Nernst had calculated the outcomes of several chemical reactions including the formation of water vapor, nitric oxide (NO) and hydrogen chloride (HCl). Only one of the systems he examined theoretically could not be confirmed by experimental data: ammonia. Haber’s measurements did not support Nernst’s calculated numbers. In response, Nernst wrote the junior professor in Karlsruhe a letter in the fall of 1906 outlining the situation, but saved the details for the 14th Meeting of the Bunsen Society the next summer in Hamburg. Initially, Haber had had no intention of determining more than an order of magnitude for the equilibrium of ammonia – it was enough to inform the Margulies Brothers that industrial production was unlikely with current technical capabilities and his result was sufficient for application to his mathematical theory. However, the letter from Nernst caused Haber to reassess. He began a second set of measurements with increased accuracy, this time with a new assistant, Robert Le Rossignol. For Haber, this was partly to defend himself against public attack by Nernst, but it was also part of a fundamental shift toward viewing the ammonia system as emblematic of basic chemical dynamics. Although Haber had dealt with fundamental systems for 20

Fritz Haber, Letter to Wilhelm Ostwald, 29 July, 1903, in: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. Va, Rep. 0005: HS 844 1903; The exact reasons for Haber’s interest in the process of ammonia synthesis are complex. I have worked them out in detail in a forthcoming book. 21 Fritz Haber and Gabriel van Oordt, Über die Bildung von Ammoniak aus den Elementen, in: Zeitschrift für anorganische Chemie 44 (1905), pp. 341–378. 22 Fritz Haber and Adolf König, Über die Stickoxydbildung im Hochspannungsbogen. I. Mitteilung, in: Zeitschrift für Elektrochemie 13 (1907), pp. 725–743.

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some time, it appeared his knowledge of them – especially the accuracy required to describe them appropriately – stood to be improved by the urging of someone like Nernst. Haber and Le Rossignol completed their new experiments in time for the gathering in Hamburg in May of 1907. The discussion on ammonia synthesis began with Prof. Nernst presenting the results of experiments he had undertaken with Karl Jellinek and Friedrich Jost.23 Nernst and his assistants had found, both theoretically and experimentally, that Haber’s values for ammonia equilibrium from 1905 were three to four times higher than their own. Haber then had the chance to report his new results which, while they reduced the discrepancy, did not bring the agreement into a range acceptable to Nernst. The senior scientist from Berlin was of the opinion that Haber’s numbers were of questionable veracity because the quantities of ammonia he had observed were too small to be measured accurately – something that could be remedied by repeating the measurements under pressure. Not only would it increase the amount of ammonia produced in the reaction, it would also increase the reaction rates. This meant that the formation of ammonia would proceed more quickly and be less susceptible to error. It is at this point in the story that the narrative found in the popular and academic literature describes a dramatic confrontation in which the senior scientist Nernst gave the junior scientist Haber a public (and humiliating) lesson in physical chemistry.24 Although this episode did provide impetus for Haber to begin a third round of measurements, this time under pressure as Nernst had suggested, the account found in the literature does not do justice to Haber’s abilities as a physical chemist, nor does it adequately illustrate Nernst’s objectives as a scientist – or as a businessman. As discussed above in the context of his 1905 textbook, Haber was well-versed in the mathematics and theory of physical chemistry and aware of the effect of pressure on his experiments – the basic idea, Le Chatelier’s Principle, had been described at the end of the prior century. Haber stated as much in his 1905 article but had chosen to work at atmospheric pressure because high pressures posed additional experimental difficulties. However, after the confrontation in Hamburg, Haber felt compelled to perform a third round of measurements at increased pressure although he did not expect any deviation from the prior results at atmospheric pressure. When the new measurements were completed, they substantiated this expectation. Nernst’s 23

Walther Nernst, Ueber das Ammoniak Gleichgewicht, in: Zeitschrift für Elektrochemie 13 (1907), pp. 521–524. 24 John E. Coates, The Haber Memorial Lecture, in: Journal of the Chemical Society 2 (1937), pp. 1642–1672, here p. 1652; Morris Goran, The Story of Fritz Haber, Norman 1967, pp. 46–50; Lothar Suhling, Nernst und die Ammoniaksynthese nach Haber und Bosch, in: Naturwissenschaft und Technik in der Geschichte, edited by Helmut Albrecht, Stuttgart 1993, pp. 343–356; Dieter Stoltzenberg, Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Deutscher, Jude, Weinheim 1994, pp. 154– 156; M. Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934, Munich 1998, pp. 167–169; Hans-Georg Bartel, Walther Nernst (Biographien hervorragender Wissenschaftler, Techniker und Mediziner, 90), Leipzig 1989, p. 167; Jan W. Erisman et al., How a century of ammonia synthesis changed the world, in: Nature Geoscience 1 (2008), pp. 636–639; Thomas Hager, The Alchemy of Air. A Jewish Genius, a Doomed Tycoon, and the Scientific Discovery That Fed the World but Fueled the Rise of Hitler, New York 2008.

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comments had not solved the problem at hand, but they did represent a critical – and successful – test of the theory of physical chemistry. Rather, despite Nernst’s reputation, senior standing and self-assured remarks, it was Fritz Haber who, in his pertinent statements at the Bunsen Society meeting, offered the solution to the problem. Haber had always been (and would remain) more interested in the role of the catalyst in the ammonia formation reaction than Nernst. Haber surmised in Hamburg (as well as in his prior 1907 publication) that Nernst’s smaller yields were due to the use of platinum as a catalyst. Haber had used a variety of metals to observe catalytic activity while Nernst had only used one: platinum. The metal was often a superior catalyst, but not in the case of ammonia. To remind ourselves of the finicky nature of the nitrogen-hydrogen-ammonia system, it is a simple matter to break ammonia into its constituent elements nitrogen and hydrogen, but because of the stubborn di-atomic nitrogen molecule, ammonia can only be formed under special conditions. These include an appropriate catalyst. If a sub-optimal catalyst is used, the formation reaction will proceed slowly and if one is not careful, the measured yields of ammonia will be artificially small – that is, the measurement will have taken place before the reaction is complete. Nernst and his assistants measured only formation experiments with a platinum catalyst. This justified Haber’s reference to the pitfalls of Nernst’s methodology and explains why Nernst was incorrect in claiming that Haber’s numbers were to large. It was in fact Nernst’s numbers which were too small. Robert Le Rossignol later repeated the measurements with platinum and his results further strengthened Haber’s objections. From our perspective today, with the help of modern theoretical calculations, we know the results presented by Haber in his second (1907) and third (1908) publications were highly accurate. And so, in commenting on Nernst’s methods, it was Haber’s turn to contribute the value of his insight, which in this case was based on experimental observation and experience. The interaction between Haber and Nernst was not limited to this meeting in Hamburg, it had begun the year before with Nernst’s letter and would continue for several years in the literature. It showed an explicit exchange between two actors with backgrounds differing in mixtures of experiment and theory which combined to illuminate the realities of a physical system. It was key to an adequate understanding of the ammonia system with regards to both basic research and industrial application and went well beyond a superficial, dramatic confrontation. Furthermore, it helped cement the authority of physical chemistry in the investigation of chemical systems. There is one other component to the interplay in Hamburg that is worth mentioning because it illuminates not only Haber’s experimental skill and the effect it had on Nernst, but also the significance of economic potential and financial incentive from industry. Although several other researchers had attempted to synthesize ammonia, it was Haber who made and reported strikingly accurate measurements in 1905: he had gotten to within an order of magnitude of the correct value although at the time “absolutely no knowledge of the equilibrium position existed,” as Haber

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put it in 1908.25 26 Based on this, he concluded an upscaled process was unlikely to be economical within the limits of the technical realities of the first decade of the twentieth century. However, when the results were published, Nernst must have seen the striking similarity between them and his own calculated numbers. Within a year the state of knowledge about ammonia had gone from nothing to the precision of an order of magnitude, substantiated by two independent reports, one theoretical and one experimental. Nernst claimed correctly that the discrepancy and error were unsatisfactory: they were too large to properly assess the promise of industrial upscaling in 1906 and 1907. But he was a skilled and thorough scientist and could see that the results did not yet preclude successful industrialization.27 He must have realized Haber or he were close to something with large economic potential. It just might work and Nernst wanted in on the action. This challenges the supposition that Nernst’s main objective in Hamburg was to humiliate Haber. Rather, someone of Nernst’s stature stating that industrialization was unlikely would go a long way in dissuading Haber and anyone else present from pursuing such a venture. Nernst himself was not dissuaded. A year before the meeting of the Bunsen Society, he had entered into a contractual agreement with Griesheim-Elektron to determine whether ammonia synthesis could be upscaled.28 The basis for this relationship could have been no more than his heat theorem and Haber’s initial 1905 study. Nernst was no stranger to business – several years before he had sold the patent for his Nernst-Lampe to AEG for a sizeable profit.29 While the relationship with Griesheim did not result in the same success – in a patent suit all of the rights to the ammonia synthesis process later went to BASF – it shows the promise Nernst saw in his own results. And in Haber’s. This is meant both in the sense of business and science. Nernst was surely interested in ensuring the physical details of the ammonia system were correctly understood. It was not just about money. Haber did not learn of Nernst’s relationship with Griesheim until 1908 after Haber had already begun working with BASF to upscale the oxidation of nitrogen in the electric arc process – this had always been the process Haber found most interesting and most promising. The synthesis of ammonia was also being pursued at BASF but was on the back burner at the time. His priorities changed after a meeting in Berlin where Nernst told Haber of his relationship with Griesheim-Elektron – Haber was understandably surprised – and it became one of the factors which pushed Haber toward direct ammonia synthesis as the most viable option. The result was that by 1909, he and Le Rossignol constructed a working apparatus, capable of

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Fritz Haber and Robert Le Rossignol, Bestimmung des Ammoniakgelichgewichtes unter Druck, in: Zeitschrift für Elektrochemie 14 (1908), pp. 181–196. “...keinerlei Kenntnis über die Gleichgewichtslage bestand.” Haber described this in more detail in Fritz Haber, Fünf Vorträge aus den Jahren 1920–1923, Berlin 1924, p. 16 and pp. 22–23 reference 5. AG Farbwerke Hoechst (publisher), Griesheimer Versuche zur Stickstoffgewinnung aus der Luft, 18, Frankfurt 1966, pp. 19–24. Hans-Georg Bartel, Walther Nernst (Biographien hervorragender Wissenschaftler, Techniker und Mediziner, 90), Leipzig 1989, pp. 45–49.

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continuously producing ammonia, which formed the basis for industrial upscaling by Carl Bosch and Alwin Mittasch at BASF.30 Like the compensation offered by the Margulies Brothers, which originally helped interest Haber in the fixation of nitrogen, interaction with industry proved again a powerful force. It would not be the last time. However, before industry reenters the story, we take a closer look at the prototype apparatus completed in 1909. This was not the work of Haber alone of course: our fourth example of the combination of knowledge on the road to ammonia synthesis is between Haber and his assistants. The decisive technical abilities of Gabriel van Oordt, Robert Le Rossignol and Friedrich Kirchenbauer have been described regularly in the literature (Nernst and his assistants Jellinek and Jost31 also made contributions).32 While it was Fritz Haber’s accomplishment to have used knowledge from physical chemistry to determine the conditions under which ammonia could be produced in measurable quantities, those conditions were not attainable with any existing apparatus. The experimental equipment needed to be custom-built and the expectation of precision was high because the resulting ammonia yields were dauntingly small. The first measurements resulted in 0.012% ammonia by volume (in total several milligrams), a result which was later found to be too large! The job of the technical assistants was to create (and operate) an apparatus that could not only produce ammonia in exact quantities but also extract it with limited error. One of the most prolific achievements was Robert Le Rossignol’s invention of the needle valve for the accurate dosing of gases; he overcame the challenge by building them from scratch.33 Another problem which, judging by the debate in published literature between Haber and Nernst, never found a satisfactory solution was the accurate assessment of temperature via thermocouple inside the closed reaction chamber. The extent of the final prototype is complex, further developments included enabling production under pressure, keeping moisture from falsifying results, gas circulation and a heat exchange system (exact details are available in Haber’s, 30

Alwin Mittasch, Geschichte der Ammoniaksynthese, Weinheim 1951, pp. 91–121; Karl Holdermann, Im Banne der Chemie. Carl Bosch – Leben und Werk, Düsseldorf 1960, pp. 65–102; Alfred von Nagel, Stickstoff. Die Chemie stellt die Ernährung sicher, Mannheim 1991, pp. 23–33. 31 By the time knowledge of ammonia synthesis had reached an advanced stage in 1908 and 1909, Friedrich Jost had published his own results without Nernst and had taken up the debate against Haber and Le Rossignol. In this way he made his own independent contributions to research on ammonia. See: Friedrich Jost, Über das Ammoniak Gleichgewicht, in: Zeitschrift für anorganische Chemie 57 (1908), pp. 414–430 and Friedrich Jost, Über die Lage des Ammoniakgleichgewichtes, in: Zeitschrift für Elektrochemie 14 (1908), pp. 373–375. 32 Paul Krassa, Zur Geschichte der Ammoniaksynthese, in: Chemiker-Zeitung 90 (1966), pp. 104– 106; Tony Travis, The Haber-Bosch Process. Exemplar of 20th Century Chemical Industry, in: Chemistry & Industry 15 (1993), pp. 581–585; Margit Szöllösi-Janze, Friedrich Kirchenbauer, Diener. Die berufliche Karriere von Fritz Habers Mechaniker an der Technischen Hochschule Karlsruhe, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), pp. 233–238; Deri Sheppard: Robert Le Rossignol, 1884–1976, in: Notes and Records: The Royal Society Journal for the History of Science 71 (2017), pp. 263–296. 33 Paul Krassa, Zur Geschichte der Ammoniaksynthese, in: Chemiker-Zeitung 90 (1966), pp. 104– 106; Tony Travis, The Haber-Bosch Process. Exemplar of 20th Century Chemical Industry, in: Chemistry & Industry 15 (1993), pp. 581–585.

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Nernst’s and Jost’s publications on the subject).34 It is sufficient here, however, to contemplate the intricate planning needed to transfer theoretical expectations from physical chemistry into technical reality. As is indicated by the publications, Haber was closely involved with the experiments. However, considering the number of diverse projects he oversaw within his own group between 1903 and 1908, it is likely the technical assistants were more than proficient at operating the sensitive machinery they had built. A quote from Le Rossignol years later, that “Haber was not good as experimentalist [sic]...[he] did the theoretical side, and I did the engineering side,”35 lends credence to this postulation. However, the sentiment is best viewed with relation to Le Rossignol’s own impressive skill – not measuring up to him does not mean a complete lack of ability. From his years as an assistant in Karlsruhe, Haber was no stranger to experimental work and at the very least, was critical in facilitating the translation from theory to experiment. Regardless of the actual dynamic during work in the laboratory, the exchange of knowledge was vital to the experiments’ success. This process included the subsequent analysis: the results needed to be evaluated in terms of physicochemical theory – something only possible with a solid grasp of the technical operations in the laboratory. It was a task Haber could best perform in tandem with his assistants. Finally, as the role of industry reappears, we discuss a fifth combination of knowledge, one which was global in extent: the development of the catalyst used at BASF for the industrial production of ammonia. As discussed, the main role of a catalyst is to increase the rate (speed) of a chemical reaction. In the case of ammonia, the reaction was expedited via the breaking of the bonds between two nitrogen atoms so they could combine with hydrogen.36 By the time Haber and Le Rossignol were prepared to demonstrate their working apparatus for continuous ammonia production on June 2nd, 1909 in front of Carl Bosch and Alwin Mittasch of BASF, they had tested the suitability of a large number catalysts. Experiments had been performed with iron, nickel, chromium, manganese, uranium, osmium and other materials. Osmium had been identified only recently and while it exhibited sufficient characteristics for upscaling, its availability and cost were not a good match for industrialization. Something more economical needed to be indentified.37 34

Fritz Haber and Garbriel van Oordt, Über die Bildung von Ammoniak aus den Elementen, in: Zeitschrift für anorganische Chemie 44 (1905), pp. 341–378; Walther Nernst, Ueber das Ammoniak Gleichgewicht, in: Zeitschrift für Elektrochemie 13 (1907), pp. 521–524; Fritz Haber and Robert Le Rossignol: Über das Ammoniakgelichgewicht, in: Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft 40 (1907), pp. 2144–2154; Fritz Haber and Robert Le Rossignol, Bestimmung des Ammoniakgelichgewichtes unter Druck, in: Zeitschrift für Elektrochemie 14 (1908), pp. 181–196; Friedrich Jost, Über das Ammoniak Gleichgewicht, in: Zeitschrift für anorganische Chemie 57 (1908), pp. 414–430, as well as other sources. 35 Johannes Jaenicke, Notes on Robert Le Rossignol’s recollections of Fritz Haber (1959), in: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. Va, Rep. 0005: HS 1496. 36 Again, this is only one of several ways the catalyst facilitates the ammonia production reaction. A detailed description can be found in Aleksandra Vojvodic et al., Exploring the limits: A low-pressure, low-temperature Haber-Bosch process, in: Chemical Physics Letters 598 (2014), pp. 108–112. 37 Alwin Mittasch, Geschichte der Ammoniaksynthese, Weinheim 1951.

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The theory of physical chemistry could predict the thermodynamic outcomes of chemical reactions, but it could not forecast the behavior of individual catalysts in those reactions. This meant that such a search was only possible in the context of a large trial-and-error study – something impossible in an academic setting of limited financial means and inadequate infrastructure. It could only be accomplished with the cooperation of industry (remember that a large infrastructure and financial means had been built up within the chemical industry in the final decades of the nineteenth century). Alwin Mittasch, who had been at BASF since 1904, took up the problem and over the course of several years tested more than 20,000 materials and material mixtures using as many as 20 high pressure test-ovens at a time. His prior work with the multi-step process made him an excellent candidate to lead the investigation because of his prior experience with catalytic materials in chemical reactions.38 It was a return to the empirical approach used before the advent of physical chemistry, but now it was tightly coupled to modern advancements: every catalyst prepared and tested by Mittasch and his team had to be assessed in terms of the new science and how well it facilitated the generation of ammonia. After the lengthy trials, they identified a porous iron catalyst with alumina and alkali additives that represented the best compromise of efficacy and cost. And it worked: the Haber-Bosch Process is still the most prolific source of synthetic ammonia the world over.39

CONCLUSION I would like to begin the conclusion by making a distinction. Haber had a unique scientific mind; my appreciation for this has certainly been made clear in this article. However, it must be separated from the man. His private life (which I have not studied independently), for one, is never held in the same esteem as are his scientific achievements.40 This split is sometimes difficult to discuss, just as the synthesis of ammonia is far from homogeneous in its consequences. It provided a vast synthetic source of fertilizer as well as explosives. Mixing the science with the man results in yet another quandary. Concerns about blockades of sea routes in the run-up to World War I forced Germany to confront potential shortfalls of fixed nitrogen from South America. The Haber-Bosch process provided the solution to this, but also 38 39

Alfred von Nagel, Stickstoff. Die Chemie stellt die Ernährung sicher, Mannheim 1991, pp. 11–15. Jan W. Erisman et al., How a century of ammonia synthesis changed the world, in: Nature Geoscience 1 (2008), pp. 636–639. 40 M. Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934, Munich 1998; Gerit von Leitner: Der Fall Clara Immerwahr. Leben für eine humane Wissenschaft, Munich 1993; Regine Zott: Gelehrte im Für und Wider. Briefwechsel zwischen Adolf v. Baeyer und Wilhelm Ostwald (mit Breifen von und an Victor Meyer) sowie Briefwechsel zwischen Wilhelm Ostwald und Richard Abegg (mit Briefen oder Briefausschnitten von Fritz Haber und Clara Immerwahr sowie an Svante Arrhenius), Münster 2002; Dieter Stoltzenberg, Fritz Haber: Chemist, Nobel Lauereate, German, Jew (English Version), Philadelphia 2004; Bretislav Friedrich and Dieter Hoffmann, Clara Immerwahr. A Life in the Shadow of Fritz Haber, in: One Hundred Years of Chemical Warfare. Research, Deployment and Consequences, edited by Bretislav Friedrich et al., Berlin 2017, pp. 45–68.

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provided the technical know-how for a new form of weapon: poison gas.41 Haber was instrumental in pushing for the development of these weapons which eventually included chlorine and mustard gas. On 22 April, 1915 the German attack on Ypres proved the potential of chemical warfare: hundreds dead, thousands wounded. Still, Germany lost the war – but Haber did not regret his choices. He continued his work on gas, half under the guise of pesticide research, this time resulting in the development of Zyklon A. Haber died in 1934 before its infamous successor, Zyklon B, was employed on civilian populations. It was, of course, not something he could have foreseen, but it does remind us of the importance of the bigger picture. Returning to our main focus, the combinations of knowledge during scientific research (whether they be found in the experience of one actor, in the interaction between several actors, between an academic setting and industry or by crossing the boundary of scientific theories) were not only chosen to illustrate a mechanism by which science (and industry) may move forward. They also make clear the historical folly of ascribing scientific success to one person – that is, it brings us away from the “single story” in which, for example, a protagonist (or antagonist) scientist spends years in a lonely laboratory, devoting himself to an arduous, narrowly focused study. It is something we are apt to do in our culture.42 All of the (in this case, yes) men discussed here made unique contributions that were crucial to the final outcome. With some of them, it need not have been the exact individuals themselves – there may have been others with their specific skill sets – but in other cases, the particular career experiences of the men made it unlikely they could have been easily replaced. Furthermore, the importance of the context, or arena, in which these men acted was provided by the prior generation of scientific knowledge and cannot be understated. It is a combination of many factors that enables scientific advancement as many elements come together to illuminate a new path forward. Science is, however, unlike many disciplines because of the existence of an objective truth – at least within a given paradigm. A consensus may make an innovation valuable in art, politics or engineering when, for example, a popular new product appears on the market. However, the factors that unite to enable a scientific breakthrough do not have to produce something popular or sufficiently suitable – they have to produce something that is exactly correct. Still, so far it has not been possible to know ahead of time what this combination will be in science or in any other field. There is much work to be done to identify and explain this dynamic.

Ludwig F. Haber, The Chemical Industry 1900–1930. International Growth and Technological Change, Oxford 1971, pp. 208–217; Margit Szöllösi-Janze, The Scientist as Expert. Fritz Haber and German Chemical Warefare During the First World War and Beyond, in: One Hundred Years of Chemical Warfare. Research, Deployment and Consequences, edited by Bretislav Friedrich et al., Berlin 2017, pp. 11–24; Bretislav Friedrich and Jeremiah James, From Berlin-Dahlem to the Fronts of World War I. The Role of Fritz Haber and His Kaiser Wilhelm Institute in German Chemical Warfare in: One Hundred Years of Chemical Warfare. Research, Deployment and Consequences, edited Bretislav Friedrich et al., Berlin 2017, pp. 25–44. 42 Chimamanda Ngozi Adichie, The Danger of a Single Story, TED, July 2009, (abgerufen am 15.06.2020). 41

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Benjamin Johnson Dr. Benjamin Johnson Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Bolzmannstr. 22, 14195 Berlin, [email protected]

WITZENHAUSEN: VON DER LEHRANSTALT ZUR UNIVERSITÄT Karsten Linne

Abstract: At first glance the case of the various schools for tropical and subtropical agriculture in Witzenhausen seem to be exotic in many ways. But their development from an apprenticeship to higher education was typical for the structural changes in the field of higher education policy in the Federal Republic in the 1960s and 1970s. There was a demand for an academic professionalization and at the same time a longer duration and new organizational forms of studies. This was especially significant for the study of agriculture. In our example these political and sociological trends were accompanied by changes in content: from tropical to ecological agriculture. The former school turned into a section of the University of Kassel.

DIE LEHRANSTALT FÜR TROPISCHE UND SUBTROPISCHE LANDWIRTSCHAFT Mit der 1898 gegründeten Deutschen Kolonialschule (DKS) begann die Geschichte des Ausbildungsstandorts Witzenhausen.1 Sie bildete bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Tropenlandwirte aus – damals so genannte deutsche „Kulturpioniere“. Die Arbeit ruhte dann über zehn Jahre, bevor es mit Unterstützung des Bundes und des Landes Hessen gelang, am 8. Januar 1957 die Lehranstalt für tropische und subtropische Landwirtschaft (LTSL) zu eröffnen. Sie nahm die Tradition tropenlandwirtschaftlicher Ausbildung in Witzenhausen wieder auf und war insofern mitentscheidend für den Weg der Bildungsinstitution hin zum heutigen Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften der Universität Kassel.2 Träger der Anstalt war die „Deutsches Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (DITSL). Die Schulaufsicht oblag dem Hessischen Ministerium für Landwirtschaft und Forsten, die Aufsicht in Organisations- und Haushaltsfragen dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (BML). Der Lehrgang umfasste zwei Semester mit insgesamt 40 Unterrichtswochen.3

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Vgl. zum Gesamtkontext: Karsten Linne, Von Witzenhausen in die Welt. Ausbildung und Arbeit von Tropenlandwirten 1898–1971, Göttingen 2017. Peter Wolff, Die Lehranstalt für tropische und subtropische Landwirtschaft in Witzenhausen – ein Rückblick, in: Der Tropenlandwirt 84 (1983), 2, S. 228–240, hier S. 228 und S. 233. Vorläufige Bestimmungen für das Deutsche Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft in Witzenhausen des Hessischen Ministers für Landwirtschaft und Forsten vom 13.8.1956, in: Hessischer Staatsanzeiger, Nr. 43 vom 27.10.1956, S. 1112–1115; Abschrift des Erlasses des Hessischen Ministers für Landwirtschaft und Forsten vom 13.8.1956, in: Bundesarchiv Koblenz (BAK), B 116, Nr. 22541, unpag.

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Der erste Lehrgang startete am 8. Januar 1957 mit zunächst 14 Teilnehmern. Für einen Neustart war das durchaus bemerkenswert.4 Nach den ersten Erfahrungen musste Direktor Horst Bieber einräumen, dass es für die Studierenden nicht leicht war, den Umfang des Stoffs innerhalb der kurzen Zeit zu bewältigen. Insgesamt erwies sich also bereits frühzeitig, dass die Zeit von einem Jahr für den umfassenden Lehrstoff zu kurz war.5 Es zeichnete sich 1960 ab, dass die Höheren Landwirtschaftsschulen (HLS) ihren Unterricht auf vier Semester erweitern würden. Das bedeutete eine Änderung der Zulassungsbedingungen für die Lehranstalt; wünschenswert erschien ebenfalls eine Verlängerung auf zwei Jahre.6 Im Zuge der von der Kultusministerkonferenz beschlossenen Vereinheitlichung der Ausbildung an den Ingenieurschulen und Höheren Fachschulen entwickelten sich die HLS ab 1962 zu Ingenieurschulen für Landbau. Dies führte letztlich zum sechssemestrigen Ingenieurstudium und zur Graduierung der Absolventen zum Ingenieur.7 Der Lehrgang 1963 der Lehranstalt endete noch im Dezember. Der neue Lehrgang sollte aber, entsprechend den veränderten, zum Teil auf drei Semester und mehr verlängerten Studiengängen der HLS erst am 1. April 1964 beginnen, die Zwischenzeit mit einem Vorbereitungslehrgang für ausländische Bewerber ausgefüllt werden. Der weitere Ausbau der Anstalt selbst war in Planung. Staatssekretär Friedrich Karl Vialon vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) hatte bei der Feier zum 65-jährigen Bestehen der Schule im Juni 1963 die Bereitstellung von über einer halben Million DM zum weiteren Ausbau der Lehreinrichtungen angekündigt.8 Die Entwicklung an den HLS, ihre Umwandlung in Ingenieurschulen, führte im Oktober 1964 zur Entscheidung, die Lehranstalt ebenfalls zu einer sechssemestrigen Ingenieurschule für tropische und subtropische Landwirtschaft weiterzuentwickeln.9 Der zahlenmäßige Rückgang der Studierenden auf 37 im letzten Lehrgang 1965/66 im Vergleich zu den Zahlen der beiden vergangenen Jahre mit jeweils 57 Hörern war bemerkenswert und wohl in erster Linie auf die Verlängerung des Unterrichts an den HLS zurückzuführen. Ansonsten war seitdem eine ständige Aufwärtsentwicklung zu verzeichnen. Der Direktor zog ein positives Fazit der Arbeit der Lehranstalt, vor allem eingedenk der finanziellen und personellen Restriktionen. Er bedauerte im Nachhinein, dass man sich nicht früher dazu entschlossen hatte, die 4

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Tropen-Träume in nördlichen Breiten, in: Hessische Nachrichten vom 14.2.1957, zit. nach: Archiv des Deutschen Instituts für tropische und subtropische Landwirtschaft (AD), KKI II, 12–13, unpag. Protokoll der Kuratoriumssitzung vom 27.2.1959, gesandt an Legationsrat I. Kl. Dumke, Auswärtiges Amt, am 23.3.1959, S. 2 f., in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA), B 58-III B 2, Nr. 303, unpag. Auch in: Staatsarchiv Marburg (StAM), 314/1, Nr. 155, unpag. Jahresbericht über den Lehrgang 1960 der LTSL vom 14.3.1961, S. 1 f. und S. 7, in: ebd., Nr. 156, unpag. Wolff, Lehranstalt (Anm. 2), S. 238; Bruno Hamann, Geschichte des Schulwesens. Werden und Wandel der Schule im ideen- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang, Bad Heilbrunn 2 1993, S. 274. Neues aus Witzenhausen, in: Unter uns Nr. 3, Oktober 1963, S. 27–28. Wolff, Lehranstalt (Anm. 2), S. 239.

Witzenhausen: Von der Lehranstalt zur Universität

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Schule grundständig und dreijährig auszubauen. Dann wäre der Übergang von dieser Schule zur Ingenieurschule für tropische Landwirtschaft leichter gewesen – wie etwa bei den Ackerbauschulen in Bayern.10 Mit der Vereinbarung über die Einrichtung und Unterhaltung einer Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft in Witzenhausen zwischen dem Land Hessen und der Bundesrepublik Deutschland vom 6. Oktober 1966 sowie dem Erlass des Hessischen Ministeriums für Landwirtschaft und Forsten vom 1. November 1966 zur Einrichtung der Deutschen Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft, ging die Geschichte der Lehranstalt formal zu Ende.11 Vom Beginn ihrer Tätigkeit an hatte sie in der Kritik gestanden. Ursprünglich hatte man eine grundständige Schule – oder womöglich sogar eine Hochschule – angestrebt; herausgekommen war aber nur ein Aufbaustudium. Da die Dauer der Lehrgänge von lediglich zwei Semestern ohnehin einen Kompromiss darstellte, gab es unmittelbar Forderungen nach deren Verlängerung. Diese nahmen an Schärfe zu, als die HLS zu Ingenieurschulen umgewandelt wurden.12 Gleichzeitig wuchs der Druck auf die Lehranstalt durch die Einrichtung von Universitätsinstituten mit einer ähnlichen Ausrichtung. Zu guter Letzt hemmten die private Form der Schule und der Dualismus zwischen Schule und GmbH die Entwicklung. Der Haushaltsausschuss des Bundestags beschloss in seiner Sitzung am 23. Juni 1960 deshalb eine Empfehlung für die Witzenhäuser Schule: Eine Namensänderung der Lehranstalt sollte geprüft, ein Ausbauplan mit Finanzierung erstellt werden. Bieber überreichte dem BML daraufhin eine Denkschrift mit Gedanken zur Ausgestaltung der Lehranstalt, die darauf abzielten, neben dem bisherigen mittleren Ausbildungsweg auch einen akademischen einzurichten.13 Er hatte selbst aber massive Zweifel daran, ob sich ein akademischer Ausbildungsgang realisieren lassen könnte. Für unabdingbar hielt er jedoch eine Verstaatlichung der Schule. Den Dualismus von GmbH und Schule bezeichnete er als unglücklich.14 Ministerialrat Hans Hartan aus dem BML erteilte ihm auf einer Kuratoriumssitzung Ende November 1960 den Auftrag, für unterschiedliche Situationen Stundenpläne auszuarbeiten: Für den einjährigen Lehrgang in der bestehenden Form, jedoch mit Verschiebung der Fächer hin zu den wichtigeren und für einen verlängerten Lehrgang. Bieber wies darauf hin, dass die Lehranstalt unmöglich auf die 10

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Bericht über das Schuljahr 1965/66 der LTSL, S. 3–4 und S. 14–15, in: BAK, B 116, Nr. 22542, unpag. Auch in: DITSL, Jahresberichte der Lehranstalt, unpag. und in: StAM, 314/1, Nr. 175, unpag. Wolff, Lehranstalt (Anm. 2), S. 239. Karl Büscher, Entstehung und Entwicklung des landwirtschaftlichen Bildungswesens in Deutschland, Münster-Hiltrup 1997, S. 246–249; Peter Wolff, Entwicklung zum landwirtschaftlichen Fachhochschulstudium. Von der Höheren Lehranstalt für praktische Landwirte zum Fachbereich einer Fachhochschule oder Gesamtschule, Münster-Hiltrup 1987, S. 76–80. Aktennotiz aus dem DITSL vom 23.6.1960, in: StAM, 314/1, Nr. 165, unpag.; Schreiben der LTSL, Bieber, an Ministerialrat Hartan, BML, vom 10.10.1960 (im Anhang: „Gedanken zur Ausbildung der Studierenden an der Lehranstalt für tropische und subtropische Landwirtschaft“ von Bieber vom 8.10.1960), in: BAK, B 116, Nr. 22540, unpag. Auch in: StAM, 314/1, Nr. 165, unpag. Durchschrift eines Schreibens der LTSL, Bieber, an Ministerialrat Hartan, BML, vom 11.10.1960, in: ebd., unpag.

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Ausbildung von Akademikern verzichten könne, ohne der Schule größeren Schaden zuzufügen, da nicht nur die wissenschaftlichen Stellen, sondern die zahlenmäßig häufiger vorkommenden Staatsstellungen mit Akademikern besetzt würden.15 Er überreichte dem Hessischen Ministerium für Landwirtschaft und Forsten Abänderungsvorschläge des Studiengangs der Lehranstalt, die im Kern die Umwandlung von einer Aufbauschule zu einer dreijährigen Vollschule für tropische und subtropische Landwirtschaft vorsahen.16 Zumindest im BML hatte man nun auch erkannt, dass der notwendige Unterrichtsstoff nicht in zwei Semestern vermittelt werden konnte. Vor allem gab es angesichts des gedrängten Stoffs keine Möglichkeit zu einer Spezialisierung in verschiedenen Disziplinen. Diese könne bei einer Verlängerung um weitere zwei Semester erfolgen.17 Seitens des hessischen Landwirtschaftsministeriums setzte sich Staatssekretär Tassilo Tröscher für einen Ausbau der Lehranstalt als zentrale Ausbildungsstätte der Bundesrepublik für den praktischen Tropenlandwirt ein. Auch der Minister selbst befürwortete öffentlich den Ausbau der Lehranstalt. Es sei vorgesehen, dass der Bund die laufende Unterhaltung der Institution übernehme, während das Land Hessen für die erforderlichen Investitionen in der nächsten Zeit aufkommen wolle.18 Gleichzeitig berieten die Vertreter der Ministerien über die Möglichkeiten und Form einer Zusammenarbeit zwischen Bund, Land Hessen, GmbH und Deutscher Stiftung für Entwicklungsländer (DSE) bei der Vorbereitung von Agrartechnikern für eine Tätigkeit in Entwicklungsländern. Die Finanzierung der laufenden Kosten wollten sich Bund und Land Hessen teilen. Als Dauerlösung schwebte ihnen eine eigene Anstalt zur Ausbildung von Agrartechnikern vor.19 Der Fluchtpunkt, auf den der Ausbau hinauslaufen sollte, blieb die Wiedereinrichtung einer Vollanstalt, wie sie früher bestanden hatte. Mittlerweile war von allen beteiligten Stellen erkannt worden, dass auch für das bisherige Studium an der Lehranstalt der Zeitraum von einem Jahr nicht mehr ausreichte. Deshalb war geplant, von 1965 ab die Ausbildung an der LTSL zunächst um ein Semester auf insgesamt drei Semester zu erhöhen.20 Der Kurator der DSE, Gerhard Fritz, hielt nach einem Besuch in Witzenhausen das Ziel eines Ausbaus zur sechssemestrigen Tropen-Ingenieurschule für das einzig Richtige. Er vertrat den Standpunkt, dass die beteiligten Ministerien, die DSE und 15 16

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Schreiben der LTSL an Legationsrat I. Klasse Dumke, Auswärtiges Amt, vom 29.12.1960, in: PA AA, B 58-III B 2, Nr. 303, unpag. Protokoll auch in: StAM, 314/1, Nr. 156, unpag. Durchschrift eines Schreibens der LTSL, Bieber, an das Hessische Ministerium für Landwirtschaft und Forsten vom 9.5.1962 (im Anhang: „Abänderungsvorschläge des Studienganges der Lehranstalt für tropische und subtropische Landwirtschaft Witzenhausen“), in: BAK, B 116, Nr. 22540, unpag. Auch in: AD, Akte Lehranstalt – Hessisches Landwirtschaftsministerium, unpag. Vermerk von ORR Dr. Kappenstein, BML, vom 9.7.1962, in: BAK, B 116, Nr. 52314, unpag. Ergebnisprotokoll über die Aussprache im Hessischen Ministerium für Landwirtschaft und Forsten in Wiesbaden am 11. Juli 1962 vom 12.7.1962, in: ebd., unpag.; Minister Hacker: HLS in Witzenhausen belassen!, in: Niederhessische Zeitung vom 7.9.1962, zit. nach: AD, Zeitungsausschnittsammlung, unpag. Kurzprotokoll über eine Dienstbesprechung im BMZ am 8.2.1963 vom 6.3.1963, in: BAK, B 116, Nr. 22541, unpag. Auch in: AD, Ordner DSE, Arbeitskreis, Seminar, unpag. Hartwig Golf, Rückblick und Ausblick, in: Der Tropenlandwirt 65 (1964), S. 5–9, hier S. 7.

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das Land Hessen den Ausbau rasch vorantreiben sollten, bei einer Drittelung der Anteile (ein Drittel Bund, ein Drittel Hessen, ein Drittel private oder interessierte Gesellschaften). Das Land Hessen wollte erhebliche Mittel zum Ausbau und für den laufenden Etat zur Verfügung stellen und auch Staatssekretär Vialon war der Ansicht, dass Witzenhausen nun endlich großzügig und auf das modernste ausgebaut werden sollte.21 Die Vertreter des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie des Hessischen Ministeriums für Landwirtschaft und Forsten forderten Direktor Bieber auf, bis Mitte September 1964 den Grundriss der Lehrstoffverteilung für einen sechssemestrigen Lehrgang zu entwerfen.22 Der eingereichte Lehrplanentwurf für eine Ingenieurschule ging von der Überlegung aus, dass der Studiengang nicht über sechs Semester hinaus ausgedehnt werden konnte, um auch von der Dauer her attraktiv zu bleiben. In den ersten drei Semestern sollte ein Überblick über die heimische Landwirtschaft durch sorgfältig ausgewählte Kernstoffe unter Verzicht auf Vollständigkeit geboten werden. Das vierte Semester war dann überwiegend der Tropenlandwirtschaft gewidmet, das fünfte und sechste komplett.23 Hinsichtlich des Organisationsproblems waren sich der hessische Ministerpräsident und Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel als Aufsichtsratsmitglied einig, dass die GmbH für die Schule keine geeignete Rechtsform darstellte. Das Land Hessen hatte sich bereit erklärt, Anteile zu übernehmen, um parallel zu den Ingenieurschulen daraus eine staatliche Anstalt zu entwickeln.24 Diese Linie vertrat auch das Hessische Kultusministerium. Dort schlug man vor, die GmbH sollte auf das Recht, eine Schule zu betreiben, verzichten und diese Aufgabe aus ihren Satzungen streichen. Träger der Schule sollte das Land Hessen werden, die Lehrkräfte hessische Landesbeamte. Der Bund sollte dem Land jährlich 85 Prozent der Aufwendungen für die Schule erstatten, da es sich um eine über das Land hinausgehende Aufgabe handele. Auch dort ging man von einer Umwandlung in eine grundständige sechssemestrige Ingenieurschule aus.25 Darauf liefen auch die Ergebnisse einer Besprechung im hessischen Landwirtschaftsministerium Anfang Februar 1965 hinaus. Demnach sollte die Lehranstalt in eine Ingenieurschule übergeleitet werden und in der Übergangsphase vom Sommersemester 1965 bis zum Wintersemester 1966/67 jeweils ein erstes und zweites Semester anbieten, die Ingenieurschule dann vom Sommersemester 1967 an ein drittes (bis zum sechsten im Sommersemester 1968) und dann im Wintersemester 1968/69 wieder ein drittes Semester.26 21 22 23 24

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Durchschrift eines Schreibens von Gerhard Sontag an Kai-Uwe von Hassel vom 20.6.1964, in: AD, AHV, Ordner Schriftwechsel 1964, A-L, unpag. Durchschrift eines Schreibens des Hessischen Ministers für Landwirtschaft und Forsten an die Lehranstalt vom 3.8.1964, in: BAK, B 116, Nr. 22541, unpag. Schreiben der LTSL, Dr. Bieber, an das BML, Min.Rat Hartan, vom 17.9.1964, in: ebd., unpag. Protokoll der 2. Sitzung des Fachausschusses Landwirtschaft der ZL am 6.11.1964 in Wiesbaden, in: ebd., Nr. 31959, unpag.; Zu von Hassel vgl. Mark Speich, Kai-Uwe von Hassel. Eine politische Biographie, Diss. Phil. Bonn 2001; Volker Koop, Kai-Uwe von Hassel. Eine politische Biographie, Köln/Weimar/Wien 2007. Abschrift einer Aktennotiz für den Staatssekretär im Hessischen Kultusministerium vom 11.12.1964, in: AD, Akte DKS – Unterlagen zur historischen Entwicklung, unpag. Gedanken zur Planung einer Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft (Ergebnisse einer Besprechung im Hessischen Landwirtschaftsministerium am 8.2.1965), in: BAK, B 116, Nr. 22541, unpag.

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Das hessische Kabinett beschloss die Umwandlung der HLS Witzenhausen in eine Agraringenieurschule für den 1. Oktober 1965 und die Überleitung der Lehranstalt in eine Staatliche Ingenieurschule für tropische Landwirtschaft unter Trägerschaft des Landes Hessen für den 1. Juli 1966.27 Als Partner für die zukünftige „Deutsche Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft“ traten nun der Bund auf, vertreten durch das BMZ, und weiterhin das Land Hessen, vertreten durch das Hessische Staatsministerium für Landwirtschaft und Forsten, und zwar je zur Hälfte. Das Land Hessen sollte Schulträger werden, der Unterricht etwa Mitte November 1966 mit dem dritten Semester beginnen. Die ersten beiden Semester waren vorerst noch auf der neu erbauten Max-Eyth-Schule (MES), der „Ingenieurschule für heimische Landwirtschaft“, in Witzenhausen zu absolvieren. Erst später, wenn die Hörerzahl größer geworden sei, sollte die neue Schule auch die beiden ersten Semester erhalten. Bei der GmbH verblieben das Archiv mit Bibliothek, das Museum und die Verwaltung der Liegenschaften.28

DIE DEUTSCHE INGENIEURSCHULE FÜR TROPENLANDWIRTSCHAFT Peter Wolff verortet die Ingenieurschule in einem größeren Rahmen der Wandlungen im landwirtschaftlichen Ausbildungswesen der Bundesrepublik. Zu Recht betont er, sie sei Teil des Entwicklungsprozesses gewesen, den das höhere landwirtschaftliche Fachschulwesen in den 1960er Jahren durchlief. Durch die zunehmende Mechanisierung und Rationalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Absolventen der HLS stärker in die landwirtschaftlichen Dienstleistungsbereiche ausweichen und konnten häufig nicht mehr die Leitung eines Großbetriebs übernehmen. Das machte eine Verbreiterung und Vertiefung des Unterrichts notwendig. Die Höheren Gartenbauschulen waren die ersten, die ihre Ausbildungsdauer auf sechs Semester verlängerten und damit den Ingenieurschulen anglichen und so Ingenieurprüfungen abhalten durften. Die HLS dehnten ihre Ausbildungsdauer ebenfalls mehr und mehr aus, und in Bayern erhielten die drei Ackerbauschulen Landsberg, Schönbrunn und Triesdorf 1962 Ingenieurabteilungen für Landwirtschaft. Die anderen Bundesländer folgten nach.29 Das Land Hessen errichtete als Träger am 1. Juli 1966 in Witzenhausen eine Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft, die den Namen „Deutsche Ingenieurschule

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Niederschrift über die Sitzung am 14.7.1965 im Hessischen Ministerium für Landwirtschaft und Forsten in Wiesbaden, in: AD, Akte Lehranstalt – Hessisches Landwirtschaftsministerium, unpag.; Vermerk, Abteilungsleiter II, vom 17.9.1965, in: BAK, B 116, Nr. 22541, unpag. (Zitat ebd.); Tropische Lehranstalt soll Ingenieurschule werden, in: Hessische Allgemeine vom 24.7.1965, zit. nach: AD, Zeitungsausschnittsammlung, unpag. 28 Otto Schmaltz, Neues aus Witzenhausen, in: Unter uns Nr. 6, Oktober 1966, S. 9–11; Vgl. zur MES: Hans Stahl, Wiederaufbau und Weiterentwicklung nach dem Kriege, in: 50 Jahre Ausbildung, S. 14–18, hier S. 16–18; Heinz Feltz, Max-Eyth-Schule. Ingenieurschule für Landbau 1967–1971, in: ebd., S. 18–22. 29 Peter Wolff, Deutsche Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft in Witzenhausen – ein Rückblick, in: Der Tropenlandwirt Beiheft Nr. 21, Witzenhausen 1984, S. 2–6.

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für Tropenlandwirtschaft“ erhielt. Sie sollte ihren Lehrbetrieb mit dem Wintersemester 1966/67 aufnehmen. Damit war nach einer Unterbrechung von rund 25 Jahren wieder ein grundständiges Studium zur „Internationalen Agrarwirtschaft“ (sic!) möglich, so Franz-Hermann Riebel, der neue Leiter der Schule. Die Schulaufsicht übte der Hessische Minister für Landwirtschaft und Forsten aus. Dieser entschied in entwicklungspolitischen Fachfragen im Benehmen mit dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Kosten trugen der Bund und das Land je zur Hälfte.30 Dem folgte eine formale Vereinbarung zwischen dem Land Hessen und dem DITSL. Die GmbH überließ dem Land zum Betrieb einer Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft ihre Grundstücke und Gebäude einschließlich aller für den bisherigen Schulbetrieb benötigten Ausstattungsgegenstände und Lehrmittel zur Benutzung. Ferner machte sie Archiv, Lehrmaterialien und die Bibliothek den Lehrkräften und Studierenden der Ingenieurschule zur Benutzung zugänglich. Im Gegenzug übernahm das Land Hessen alle Versorgungslasten der GmbH in Höhe von über 100.000 DM pro Jahr.31 Am 9. November 1966 wurde die Ingenieurschule dann feierlich eröffnet. Als Vertreter des BMZ betonte Ministerialdirektor Wolfram Ruhenstroth-Bauer die Notwendigkeit einer zentralen Ausbildungsstätte und überreichte an Staatssekretär Tröscher einen Bewilligungsbescheid über 800.000 DM zur Instandsetzung der von der GmbH übernommenen Gebäude.32 Mit der staatlichen Finanzierung war man aber auch an die Ausgabenpolitik dieser Seite gebunden. So hielt man angesichts der Wirtschaftskrise 1966/67 zwar die laufende Finanzierung des Lehrbetriebs trotz der allgemeinen Finanzlage in Bund und Ländern für gesichert, einmalige Ausgaben für an sich notwendige Dinge wurden jedoch erschwert und verzögerten den weiteren Ausbau der Ingenieurschule.33 Die Zeit zur Vorbereitung der neuen Schule betrug nur wenige Monate, vieles war daher am Anfang eher behelfsmäßig. Man begann zunächst nur mit einem dritten Semester für Bewerber mit einem erfolgreichen Nachweis einer anderen Ingenieurschule.34

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Vereinbarung über die Errichtung und Unterhaltung einer Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft in Witzenhausen vom 26.10.1966, in: Staats-Anzeiger für das Land Hessen, Nr. 47/1966, S. 1481, zit. nach: AD, Vertragsangelegenheiten, unpag.; Franz-Hermann Riebel, Deutsche Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft 1966–1971, in: Unter uns Nr. 79, April 2007, S. 8–9 (Zitat S. 8); Schreiben des BMZ, Ruhenstroth-Bauer, an das BML vom 4.11.1966, in: BAK, B 116, Nr. 22544, unpag. Vereinbarung zwischen dem Land Hessen und dem DITSL vom 18.11.1966, in: AD, Vertragsangelegenheiten, unpag. Markstein der Landwirtschaft. Neue Tropeningenieurschule eröffnet, in: Hessische Allgemeine vom 10.11.1966, zit. nach: ebd., Diverses, Zeitungsausschnittsammlung; Eröffnung der „Deutschen Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft“, in: Unter uns Nr. 6, Oktober 1966, S. 43–44. Wolfgang Delfs-Fritz, Protokoll über den Konvent des Verbandes Alter Herren vom Wilhelmshof e.V. am 10.6.1967 in Witzenhausen, in: ebd., Nr. 8, Oktober 1967, S. 6–8, hier S. 7; Zur Wirtschaftskrise vgl. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 290–292.; Michael von Prollius, Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Göttingen 2006, S. 150–153. Franz-Hermann Riebel, Deutsche Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft 1966–1971, in: Unter uns Nr. 79, April 2007, S. 8–9.

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In einem Merkblatt fasste Riebel Ende 1966 die wesentlichen Züge der neuen Schule zusammen: Sie habe wie die übrigen Ingenieurschulen in der Bundesrepublik die Aufgabe, in einem sechssemestrigen Studium auf wissenschaftlicher Grundlage eine höhere fachliche Bildung zu vermitteln. Ihre Besonderheit bestehe darin, dass sie ihre Studierenden auf eine selbständige Tätigkeit als Ingenieur für den Landbau in tropischen und subtropischen Ländern vorbereite.35 Wie Peter Wolff zu Recht anmerkt, blieb der Deutschen Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft kaum die Chance zu einer wirklichen Konsolidierung, da sie in einer Zeit der bildungspolitischen Neuorientierung gegründet worden war. Das deutsche Hochschulsystem geriet seit Anfang der 1960er Jahre in heftige politische Auseinandersetzungen, die bald auch auf den Bereich der Ingenieurschulen übergriffen. Deren Studenten drängten ab Mitte der 1960er Jahre auf eine Reform des Studiums. Daneben war eines ihrer Ziele, einen international vergleichbaren Status der deutschen Ingenieurschulen und eine adäquate Anerkennung des Ingenieurschulabschlusses im Ausland zu erreichen.36 Im Wintersemester 1968/69 begann zum ersten Mal ein 1. Semester, in das 26 Hörer aufgenommen wurden. Für das dritte Semester wurden aufgrund des großen Andrangs zwei Parallelklassen eingerichtet. Für die ausländischen Studenten wurde mit dem Wintersemester ein Ausländerkolleg zur Hinführung auf das Studium in Deutschland eröffnet.37 Am 28. Oktober 1968 entließ die Ingenieurschule in einer Feierstunde ihre ersten Absolventen als graduierte Ingenieure. Gleichzeitig wurde das neu hergerichtete Hauptgebäude von der Schule übernommen, laut Riebel ein Markstein in der Geschichte der Ingenieurschule.38 In einer aus dieser Zeit stammenden Selbstdarstellung der Schule knüpfte man an die „lange Tradition in der Ausbildung von Fach- und Führungskräften für die Landwirtschaft in Übersee“, also an die Kolonialschule an. Im Gegensatz dazu sei die

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Merkblatt der Deutschen Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft, Witzenhausen, verfasst von Franz-Hermann Riebel, vom Dezember 1966, in: BAK, B 116, Nr. 22542, unpag.; Sehr ähnlich: Thomas Neumaier, Ausbildung von Tropenlandwirten, in: Informationen. Artikeldienst Landund Forstwirtschaft, Ländliche Hauswirtschaft 17 (1968), 5, zit. nach: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), 509, Nr. 7680, unpag. 36 Peter Wolff, 85 Jahre tropenlandwirtschaftliche Ausbildung in Witzenhausen, in: Witzenhausen – 85 Jahre im Dienste der Agrarentwicklung in den Tropen und Subtropen, in: Der Tropenlandwirt Beiheft Nr. 18, Witzenhausen 1983, S. 7–113, hier S. 68; Ders., Ingenieurschule (Anm. 29), S. 35; Elmar Lang, Musterknaben streiken, in: Die Zeit vom 17.5.1968; Reife Köpfe, in: Der Spiegel, Nr. 27 vom 1.7.1968, S. 50–51; Helmut Kahlert, Vergessene Aktionen. Wie die Fachhochschule entstanden ist ( (abgerufen am 10.06.2020)). 37 Franz-Hermann Riebel, Neues von der Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft, in: Unter uns Nr. 10, Oktober 1968, S. 7–8. 38 Durchschlag eines Schreibens des Hessischen Ministers für Landwirtschaft und Forsten, Tröscher, an den Hessischen Minister für Wirtschaft und Verkehr, Arndt, vom 21.10.1968, in: HHStAW, 507, Nr. 11207, unpag.; Wolfgang Delfs-Fritz, 1898–1968. In Witzenhausen beginnt ein neuer Abschnitt in der Ausbildung von Tropenlandwirten, in: Der Tropenlandwirt 69 (1968), S. 5–7, hier S. 6; Zentralgebäude der Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft übergeben, in: Hessische Allgemeine vom 29.10.1968, zit. nach: AD, Zeitungsausschnittsammlung, unpag.

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Ingenieurschule jedoch staatlich. Sie umfasse drei Ausbildungszweige: ein Vorstudienkolleg (gegründet 1968), die eigentliche Ingenieurschule und das Beraterseminar für ländliche Entwicklungshilfe. Die drei Ausbildungszweige seien zwar in Lehrplänen und Lehrmethodik unterschiedlich, ergänzten sich aber gegenseitig. So diene das Vorstudienkolleg der Vorbereitung ausländischer Studienbewerber (insbesondere solcher aus den Entwicklungsländern) auf ein landwirtschaftliches Studium in der Bundesrepublik. Das Beraterseminar leiste keine fachliche Grundausbildung, sondern setze sie bei den Lehrgangsteilnehmern voraus und wolle sie, bezogen auf eine Tätigkeit in der ländlichen Entwicklungshilfe, ergänzen und fruchtbar machen.39 Im Oktober 1968 beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder den Übergang der Ingenieurschulen für Landbau in Fachhochschulen oder Gesamthochschulen. Mit dieser Entwicklung, also in unserem Falle mit dem späteren Übergang in die Gesamthochschule Kassel (GhK), sollte auch die Existenz der Deutschen Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft enden.40 Ende November 1968 debattierte das hessische Kabinett über eine Umbenennung der Schule, da sich die Frage aufdrängte, ob die Bezeichnung „Tropenlandwirtschaft“ die Ausbildungsaufgabe der Schule und die Verwendungsmöglichkeit ihrer Absolventen umfassend und deutlich genug wiedergab. Tatsächlich umfasste der Unterricht nicht nur die Landwirtschaft der Tropen, sondern auch jene subtropischer Gebiete und weiter Bereiche gemäßigten Klimas.41 Kurze Zeit später wurde die bisherige Deutsche Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft in Deutsche Ingenieurschule für ausländische Landwirtschaft (DIAL) umbenannt.42 Die politischen Bestrebungen zielten auf eine allgemeine „Überführung der Ingenieurschulen und der Höheren Fachschulen in die Fachhochschule“. Mit Erlass vom 17. März 1970 forderte der Hessische Kultusminister sie auf, eine Studienreform mit Beginn des Sommersemesters 1970 einzuleiten. 43 An der DIAL wurde diese „innere“ Studienreform im Frühjahr 1970 in Angriff genommen. Die wesentlichen Grundsätze sahen die Gliederung der mindestens dreijährigen Studienzeit in ein Grund- und ein Hauptstudium vor. Die Lehrfächer wurden in Pflicht-, Wahlpflicht-

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Selbstdarstellung „Die Deutsche Ingenieurschule für Tropenlandwirtschaft Witzenhausen“, o.Dat. (Ende 1968), in: HHStAW, 507, Nr. 11207, unpag. Wolff, Ingenieurschule (Anm. 29), S. 14 f.; Christoph Oehler, Die Entstehung der Gesamthochschule Kassel. Hochschulpolitische Rahmenbedingungen, in: Norbert Kluge, Aylâ Neusel, Christoph Oehler und Ulrich Teichler (Hg.), Gesamthochschule Kassel 1971–1981. Rückblick auf das erste Jahrzehnt, Kassel 1981, S. 15–41; Allgemein zu den neuen Gesamthochschulen vgl. Christoph Oehler, II. Hochschulen. Die Hochschulentwicklung nach 1945, in: Christoph Führ und Carl-Ludwig Fuhr (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 412–446, hier S. 436–439. Kabinettsvorlage des Hessischen Ministers für Landwirtschaft und Forsten, Tröscher, vom 28.11.1968, in: HHStAW, 509, Nr. 7661, unpag. Durchschrift eines Schreibens des Hessischen Ministers für Landwirtschaft und Forsten an den Hessischen Ministerpräsidenten vom 21.3.1969, in: BAK, B 116, Nr. 22542, unpag; Ingenieurschule nicht auf Tropenlandwirtschaft spezialisiert, in: Hessische Allgemeine vom 15.3.1969, zit. nach: AD, Zeitungsausschnittsammlung, unpag. Wolff, 85 Jahre (Anm. 36), S. 68 und S. 70.

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und Wahlfächer differenziert, um den allgemeinen Trend zur Spezialisierung durch ein Angebot von Wahlpflichtfächer-Gruppen der Studienbereiche in den höheren Semestern gerecht werden zu können. Bei den Lehrveranstaltungen erhielten Übungen und Seminare gegenüber den Vorlesungen ein höheres Gewicht, unter Verringerung der Wochenstundenzahl. Anstelle der starren Semesterprogramme traten aufgelockerte Studienprogramme für Grund- und Hauptstudium. Die Abschlussprüfung sah neben einer größeren Studienarbeit Klausuren und mündliche Prüfungen in mehreren Fächern vor.44 Das Studienjahr 1969/70 schloss im Juli mit der Ingenieurprüfung ab. Dabei kam die innere Studienreform bereits zum Tragen. Im Rahmen eines Schulversuchs konnte eine in den letzten Semestern angefertigte Studienarbeit als Abschlussarbeit (Ingenieurarbeit) anerkannt werden. Darüber hinaus bestand die Prüfung nur aus einem mündlichen Teil, einem praxisbezogenen Fachgespräch von 45 Minuten, das seinen Ausgangspunkt in einem vorher benannten Wahlfach fand. Innerhalb der inneren Reform wurde auch der Lehrplan, d.h. das Studienprogramm, neu gestaltet. Das Grundstudium, das sich im dritten Semester teilweise mit dem dort beginnenden Hauptstudium überschnitt, blieb im Wesentlichen gleich. Das Hauptstudium dagegen bekam ein neues Gepräge: Der für alle Studenten verbindliche Kern des Lehrstoffs schloss mit den Pflichtfächern im fünften Semester ab. Im sechsten Semester gab es ein differenziertes Angebot in vier Wahlpflichtfächergruppen: Pflanzenproduktion, Tierproduktion, Sozialökonomik und Agrarpädagogik. Damit konnten die Studierenden nun innerhalb des Studiengangs Ausländische Landwirtschaft gewisse Schwerpunkte setzen.45

AUF DEM WEG IN DIE GESAMTHOCHSCHULE KASSEL Der Wissenschaftsrat empfahl im Juli 1969, an zwei Universitäten im Rahmen eines Aufbaustudiums einen Studiengang für die Landwirtschaft der Tropen und Subtropen einzurichten; dabei hatte er Göttingen und Hohenheim im Blick. Ferner sollte das Verhältnis zwischen Agraringenieurschulen und wissenschaftlichen Hochschulen neu geordnet und qualifizierten Studierenden der Übergang erleichtert werden.46 Im Zuge der Weiterentwicklung der deutschen Ingenieurschulen rechnete auch die Schulleitung der DIAL Ende 1969 mit der kommenden Umwandlung in eine Fachhochschule zum Wintersemester 1971/72.47 44

Friedrich Siegel, Bericht vom Ausbildungszweig Ingenieurschule, in: Unter uns Nr. 13, April 1970, S. 14. 45 Friedrich Siegel, 2. Abteilung: Ingenieurschule, in: ebd., Nr. 14, Oktober 1970, S. 17–18; Tätigkeitsbericht der DIAL für das Jahr 1970, S. 4, in: BAK, B 116, Nr. 35990, unpag.; Franz-Hermann Riebel, Tätigkeitsbericht der Ingenieurschule für das Jahr 1970, in: Unter uns Nr. 15, April 1971, S. 13–17. 46 Wissenschaftsrat für strafferes Studium der Agrarwissenschaften, in: Die Welt vom 17.7.1969, zit. nach: AD, Unsortiertes Material, unpag. 47 Entwurf eines Prospekts „Deutsche Ingenieurschule für Ausländische Landwirtschaft Witzenhausen“, vom Oktober 1969, in: ebd., Kiste Diverses, GhK, unpag.; Vgl. allgemein dazu: Wolff, Entwicklung (Anm. 12), S. 98–101.

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Ende 1969 war in diesem Kontext die Überleitung der beiden Witzenhäuser Ingenieurschulen in eine Fachhochschule Gießen im Gespräch.48 Der Witzenhäuser Ortsverein der SPD legte als Gegenvorschlag den Plan zu einer eigenen Fachhochschule Witzenhausen vor, der die beiden Ingenieurschulen vereinigen und neun Fachbereiche umfassen sollte: Ausländerkolleg, Ausländische Landwirtschaft, Pädagogik, Beratungswesen in der ländlichen Entwicklungshilfe, Landbau, Forstwirtschaft, Hauswirtschaft, Landwirtschaftliches Beratungswesen und Kontaktstudium.49 In dieser Zeit präsentierte der Hessische Kultusminister einen Referentenentwurf für ein Fachhochschulgesetz. Dieser sah, wie auch der Gesetzentwurf der Landesregierung, die angesprochene Überleitung der beiden Witzenhäuser Ingenieurschulen in eine Fachhochschule Gießen vor. Dieser Lösung hielt Riebel ebenfalls den Vorschlag einer eigenen Fachhochschule Witzenhausen entgegen. Vehement wehrte er sich gegen die Überleitung der beiden Schulen in die Fachbereiche Ausländische Landwirtschaft und Landbau der Fachhochschule Gießen. Er verwies dabei auf das „Modell für ein demokratisches Bildungswesen“ des Bundesvorstands der SPD vom Januar 1969. Danach war die Dezentralisierung von Hochschulen in der Form von Teilhochschulen im System einer Gesamthochschule gefordert, ferner die „offene Hochschule“, die auch Studienbewerber annehmen könnte, die nicht über die formale Qualifikation verfügten sowie die Weiterbildung der Absolventen. Die Witzenhäuser Ingenieurschulen seien zu einem guten Teil von diesen Vorstellungen geprägt. Eine Fachhochschule Witzenhausen stünde auch der Weiterentwicklung zu Gesamthochschulen nicht im Wege. Für ihn lag es daher nahe, sie der geplanten GhK zuzuordnen.50 Den auch vom hessischen Landwirtschaftsminister mitgetragenen Wunsch nach Errichtung einer eigenen Fachhochschule lehnte das Kabinett jedoch ab, sicherte aber nach Intervention des Ministers einen Verbleib der Ingenieurschulen in Witzenhausen zu. Allerdings schien im Frühjahr 1970 eine Zuordnung zu Gießen schon so 48

Werden die Witzenhäuser Ingenieurschulen in die Fachhochschule Gießen verlegt?, in: Hessische Allgemeine vom 23.12.1969, zit. nach: AD, Unsortiertes Material, unpag.; Gegen diese Pläne wehrten sich die Lokalpolitiker vehement. Vgl. Fotokopie eines Schreibens von Wilhelm Brübach (Landrat, MdL) an den Hessischen Kultusminister vom 18.12.1969, in: StAW, Mappe Ingenieurschulen in Witzenhausen, unpag.; Durchschrift eines Schreibens von Bürgermeister Rudolf Harberg an den Hessischen Minister für Landwirtschaft und Forsten, Tassilo Tröscher, vom 23.12.1969, in: ebd., unpag.; Durchschrift eines Schreibens von Bürgermeister Rudolf Harberg an den Hessischen Städtebund vom 2.1.1970, in: ebd., unpag.; Bedenken der Stadt vorgetragen, in: Hessische Allgemeine vom 6.1.1970, zit. nach: ebd., unpag. 49 Fachhochschule Witzenhausen gefordert. SPD-Ortsverein unterbreitet Vorschlag, in: Hessische Allgemeine vom 29.1.1970, zit. nach: AD, Zeitungsausschnittsammlung, unpag.; Riebel reagierte positiv auf den Vorschlag. Diese Pläne seien ähnlich denen, welche die Dozenten und Studenten dem Kultusminister zugeleitet hätten. Er forderte aber, dass die Fachhochschule in eine größere Bildungskonzeption eingebaut und der Gesamthochschule Kassel zugeordnet werden müsse. Vgl. Fachhochschul-Plan findet Echo, in: Hessische Allgemeine vom 31.1.1970, zit. nach: ebd., unpag.; Für eigene Fachhochschule. Dozenten begrüßen Vorschlag der SPD Witzenhausen, in: Hessische Allgemeine vom 4.2.1970, zit. nach: StAW, Mappe Ingenieurschulen in Witzenhausen, unpag. 50 Denkschrift „Entwurf einer Fachhochschule Witzenhausen“ der DIAL, Riebel, vom 23.2.1970, in: BAK, B 213, Nr. 5533, unpag.; Modell für ein demokratisches Bildungswesen, hg. vom Vorstand der SPD, Bad Godesberg 1969.

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gut wie sicher zu sein. Demgegenüber gab der Staatssekretär im Hessischen Kultusministerium ebenfalls eine Standortgarantie ab: Witzenhausen werde Mittelpunkt der Entwicklung im landwirtschaftlichen Ingenieurschulwesen bleiben, an einen Standortwechsel für die beiden Ingenieurschulen sei nicht gedacht.51 Das am 15. Juli 1970 verabschiedete hessische Fachhochschulgesetz sah dann tatsächlich die Überleitung der beiden Ingenieurschulen in die künftige Fachhochschule Kassel vor. Als Termin war der 1. August 1971 vorgesehen, die Verantwortung sollte vom Landwirtschafts- auf das Kultusministerium übergehen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes sollte die Schule dann ihre Eigenständigkeit verlieren.52 Mit dem „Gesetz zum weiteren Ausbau der Gesamthochschule Kassel“ vom 13. Juli 1971 wurde die Eingliederung der Fachhochschule Kassel in die GhK zum 2. August 1971 gesetzlich geregelt. Am 1. August 1971 trat das Gesetz in Kraft; die beiden Witzenhäuser Ingenieurschulen wurden als Fachbereiche Landbau und Ausländische Landwirtschaft in die Fachhochschule Kassel übergeleitet, die einen Tag später in der GhK aufging.53

DIE ENTWICKLUNG AB 1971 Mit der Gründung von Gesamthochschulen verband sich ein anspruchsvolles Programm zur Neugestaltung des Hochschulbereichs. Die Bildungspolitiker strebten damit eine Integration unterschiedlicher Studiengänge und eine erhöhte Durchlässigkeit an, sie erwarteten eine Angleichung der Ausbildungs- und Berufschancen, unabhängig von sozialer und regionaler Herkunft, hofften auf eine Verkürzung der Studienzeiten, verbunden mit Effektivierung der Lehre, sowie auf ein neues Verhältnis von Theorie und Praxis. In der Gesamthochschule Kassel, die als erste von insgesamt elf so bezeichneten Institutionen gegründet wurde, sollten besonders weitgehende Reformziele verwirklicht werden. Die GhK führte in diversen Fächern integrierte Studiengänge nach dem so genannten Konsekutivmodell ein. Nach diesem

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Ergebnisbericht über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der DIAL am 23.3.1970 in Bonn vom 1.4.1970, in: BAK, B 116, Nr. 52314, unpag.; Witzenhausen bleibt Mittelpunkt des landwirtschaftlichen Schulwesens, in: Hessische Allgemeine vom 25.4.1970, zit. nach: AD, Unsortiertes Material, unpag.; Wolff, Ingenieurschule (Anm. 29), S. 55 f. 52 Gesetz über die Fachhochschulen im Lande Hessen (Fachhochschulgesetz – FHG) vom 15.7.1970, in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Hessen, Teil I, (1970) 31 vom 22.7.1970, S. 415–430; Franz-Hermann Riebel, Neues aus der Ingenieurschule, in: Unter uns Nr. 14, Oktober 1970, S. 16–17; Tätigkeitsbericht der DIAL für das Jahr 1970, S. 1, in: BAK, B 116, Nr. 35990, unpag. 53 Gesetz zum weiteren Ausbau der Gesamthochschule Kassel vom 13.7.1971, in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Hessen, Teil I, (1971) 20 vom 20.7.1971, S. 190; Wolff, Ingenieurschule (Anm. 29), S. 57; ders., 85 Jahre (Anm. 36), S. 75–77. Damit existierten neben der GhK mit den Organisationseinheiten Internationale Agrarwirtschaft und Landwirtschaft in Witzenhausen die Fachhochschulen Nürtingen, Weihenstephan, Osnabrück, Südost-Westfalen mit der Abteilung Soest, Rheinland-Pfalz mit der Abteilung Bingen, Bad Kreuznach und Rendsburg; Vgl. Eduard Nohe, Fachhochschulen mit Fachbereich Landbau in der Bundesrepublik, in: Ausbildung und Beratung 25 (1972), 12, S. 203–206, hier S. 203 f.

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„Kasseler Modell“ gab es eine erste gemeinsame Studienphase für Studierende mit Fachhochschulreife und Hochschulreife, die zu einem ersten Abschluss führte. Die Zahl der Studiensemester an der Hochschule entsprach dem Fachhochschulstudium, es sollte jedoch in der Zielsetzung eine praxisorientierte Synthese zwischen den Funktionen von Universität und Fachhochschule erreicht werden. Den Studierenden stand es frei, in einer zweiten Studienstufe ein zweites Diplom zu erwerben, das dem der Universitäten entsprach. Den Praxisbezug sollten die Berufspraktischen Studien sicherstellen, zwei zusätzliche Semester, die an einem Arbeitsplatz verbracht und durch vorbereitende, begleitende und nachbereitende Veranstaltungen in das Studium eingebettet wurden.54 Die Eingliederung der Ingenieurschule in die Gesamthochschule führte zu einigen Problemen. Der Arbeitskreis zur Vorbereitung der Erarbeitung der Grundlage für die Gesamthochschule hielt eine Umorientierung speziell der rein landwirtschaftlichen Fachgebiete der Ingenieurschule für notwendig. Zur Koordination sollten 13 Ausschüsse gebildet werden, sofort etabliert wurde ein solcher für Information und Planung, der die laufende Verbindung mit Kassel halten und die Arbeit der anderen Ausschüsse vorbereiten sollte.55 Das Sommersemester 1971 schloss mit der Ingenieurprüfung ab; mit der feierlichen Graduierung der neuen Ingenieure durch den Landwirtschaftsminister verbunden war die Übergabe der Schule in den Bereich des Kultusministers und damit der Prozess der Eingliederung als Fachhochschule in die Gesamthochschule Kassel eingeleitet.56 Insgesamt, so resümierte Franz-Hermann Riebel zehn Jahre später, bereitete die Eingliederung auf beiden Seiten Probleme. In Kassel seien die Witzenhäuser Ingenieurschulen zunächst schlicht vergessen worden – im Einrichtungserlass des Hessischen Kultusministers für den Gründungsbeirat der Gesamthochschule kamen sie nicht vor. Die allmähliche Adaption der beiden Fachbereiche 20 (Landwirtschaft) und 21 (Internationale Agrarwirtschaft) war Teil des Lernprozesses, den die Gesamthochschule durchlief.57 Die Projektgruppe der GhK betonte im Januar 1972, dass die von der früheren Ingenieurschule vertretenen Lehr- und Forschungsschwerpunkte Entwicklungspolitik und Agrarpolitik zwar im Bildungsangebot der Gesamthochschule singulär seien und deshalb wenig Ansatzpunkte zur Integration böten, gleichwohl stellten sie bundesweit den einzigen Bereich dieser Art dar. Ein Verzicht auf einen weiteren Ausbau würde außerdem den Zielsetzungen der Bundesregierung zuwiderlaufen. Als Alternativmodelle für eine organisatorische Integration wurde unter anderem

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Norbert Kluge, Aylâ Neusel, Christoph Oehler und Ulrich Teichler, Zehn Jahre Gesamthochschule Kassel in der Retrospektive, in: dies. (Hg.), Gesamthochschule (Anm. 40), S. 7–14, hier S. 8 f.; Aylâ Neusel, Das „Kasseler Modell“ der integrierten Studiengänge – von innen betrachtet, in: ebd., S. 65–90. Protokoll 10/71 über die Schulkonferenz am 4. Juni 1971, in: Archiv des Fachbereichs, Schulkonferenzen 1970–1973, unpag. Siegel, Abt. Ingenieurstudium, in: Unter uns Nr. 16, Oktober 1971, S. 12–13. Franz-Hermann Riebel, Agrarwirtschaft in Witzenhausen, in: Kluge et al. (Hg.), Gesamthochschule (Anm. 40), S. 178–199, hier S. 178.

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ein dezentrales Standortmuster thematisiert, das keine Verlagerung nach Kassel und damit keine vollständige Integration vorsah. Der Zusammenschluss beider Organisationseinheiten zu einem Fachbereich Agrarwirtschaft wurde hierbei bereits erwogen.58 Ein Vertreter der Bundesstelle für Entwicklungshilfe konstatierte Anfang 1972 eine regelrechte Reformpsychose in Witzenhausen: Die Schule habe ihren Namen 80 Jahre nicht gewechselt und jetzt laufend. Die Angliederung an die GhK sei eine „Krampflösung ohne sachlichen Bezug“. In Witzenhausen war man hingegen überwiegend der Meinung, dass eine Integration in die Gesamthochschule Kassel unter den gegebenen Verhältnissen hochschulpolitisch die sinnvollste Lösung sei.59 Offensichtlich waren alle Beteiligten der Meinung, dass die OE Internationale Agrarwirtschaft mehr und mehr zu einer „Zentrale für die Belange der Dritten Welt“ entwickelt werden sollte. Durch eine verstärkte Mitwirkung des Bundes und eine enge Kooperation mit ähnlichen Organisationen, konnte der Wirkungsbereich und damit die Nutzung vorhandener Einrichtungen erweitert und intensiviert werden.60 Das BMZ zeigte nach wie vor Interesse an einer hochwertigen Ausbildung auf dem Agrarsektor in Witzenhausen, deshalb sollten die hochschulpolitischen Integrationsbemühungen auch keinen Vorrang haben vor der ordnungsgemäßen Ausbildung für die Entwicklungspolitik.61 Die OE plante 1973 die Einrichtung eines achtsemestrigen neuen integrierten Diplomstudiengangs Internationale Agrarwirtschaft zum Wintersemester 1975/76. Eigene Berufsfeldanalysen hatten ergeben, dass aufgrund der gestiegenen Ansprüche im Bereich der internationalen Agrarwirtschaft und einer veränderten Einstellung der Entwicklungsländer gegenüber formal nicht vollqualifizierten Fachkräften der bisherige Studiengang geändert werden musste. Dafür sprach auch die wachsende Zahl von Absolventen, die im Anschluss an Witzenhausen ein weiteres Studium in einem wissenschaftsbezogenen Studiengang anschlossen. Die OE hatte bereits im Sommer 1973 eine aus Vertretern der Hochschullehrer und Studierenden zusammengesetzte Arbeitsgruppe „Neuer Studiengang“ eingerichtet, die auf der Basis der vorangegangenen Berufsfeldanalysen Zielsetzung und Curriculum eines neuen Diplomstudienganges erarbeitete.62 Die Kosten der OE übernahmen Bund und Hessen gemeinsam, es war die erste volle Gemeinschaftsaufgabe zwischen dem Bund und einem Bundesland im Hochschulbereich, bei der sich der Bund auch an den laufenden Kosten beteiligte. Die 58 59

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Schreiben der Projektgruppe der GhK an den Gründungsbeirat der GhK vom 5.1.1972, in: Archiv des Fachbereichs, Gründungsbeirat, Protokolle 1–10, unpag. Fachbereichsinternes Protokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe betreffend die weitere Förderung der OE Ausländische Landwirtschaft der GhK durch den Bund am 15.3.1972, in: BAK, B 116, Nr. 52314, unpag. (Zitat ebd.); Vermerk aus dem BML, Lieber, vom 3.4.1972, in: ebd., unpag.; Friedrich Siegel, Neues aus dem Fachbereich. Abteilung Hochschulstudium, in: Unter uns Nr. 18, Oktober 1972, S. 5. Protokoll Nr. 17 über die OE-Konferenz am 5. Juni 1973 vom 6.6.1973, in: Archiv des Fachbereichs, Schulkonferenzen 1970–1973, unpag. (Zitat ebd.). Vermerk über eine Besprechung am 18.7.1973 in der Hessischen Landesvertretung in Bonn vom 19.7.1973, in: HHStAW, 509, Nr. 7671, unpag. Hans-Joachim Glauner, Entwurf eines Antrags an den Gründungspräsidenten auf Einrichtung eines integrierten Diplomstudienganges an der OE 20 vom 22.4.1974, in: Archiv des Fachbereichs, Protokolle der OE-Konferenzen 1972–1977, unpag.

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anfangs mit der Eingliederung in die GhK auf Seiten der OE verbundene Euphorie war mittlerweile einer gewissen Skepsis gewichen. Viele Hoffnungen waren enttäuscht worden. So hatte der Titel des graduierten Ingenieurs trotz aller Bemühungen der Bundesregierung im Ausland keine Anerkennung als akademischer Abschluss gefunden. Die rigiden Studienbedingungen, die hohen Stundenbelastungen der Studierenden und Dozenten, die unzureichende materielle Ausstattung und die Distanz zur Forschung waren geblieben. Auch die interdisziplinäre Kooperation an der GhK hatte sich nicht wie erhofft entwickelt.63 Im März 1975 setzte der Hessische Kultusminister eine Curriculumarbeitsgruppe (CAG) ein, die prüfen sollte, ob, und unter welchen Bedingungen die Studiengänge der beiden landwirtschaftlichen Organisationseinheiten zu einem gemeinsamen dreijährigen Studiengang mit Diplomabschluss zusammengefasst werden könnten.64 Zu den Leitlinien der CAG für das Integrierte Studiengangsystem Agrarwirtschaft zählte die Betonung der Interdisziplinarität, die Auseinandersetzung mit der beruflichen Praxis unter Einbezug der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. Für das Studium war eine Dreiteilung vorgesehen: Eine Orientierungsphase (1–2 Semester), das Kernstudium (2–3 Semester) und das Schwerpunktstudium (2–4 Semester).65 Das BMZ machte seine Bereitschaft, sich weiter an der Finanzierung zu beteiligen, davon abhängig, dass der Lehrplan auf eine Grundausbildung ausgerichtet wurde, bei der die spezielle Tropenlandwirtschaft als Zusatzausbildung angehängt werden konnte.66 Die Mitarbeiter der OE arbeiteten weiter an der Reform der Studiengänge in Witzenhausen. Im November 1977 schlugen sie dem Gründungsbeirat der GhK für den Teilstandort Witzenhausen drei Fachbereiche vor: Internationale Agrarwirtschaft, Agrarproduktion/Agraringenieurwesen und Ökologische Umweltsicherung. Auf jeden Fall sollte aber ein Fachbereich am Standort Witzenhausen bestehen bleiben, der den Bezug zum Berufsfeld Internationale Agrarentwicklung erkennen ließ.67 Der Hessische Kultusminister, Hans Krollmann (SPD), war fest entschlossen, die in Witzenhausen vorhandenen Studiengänge der GhK vom gegenwärtigen Fachhochschulniveau auf die Ebene wissenschaftlicher Studiengänge mit entsprechenden Abschlüssen anzuheben. Dabei beabsichtigte er, ein integriertes Studiengangsystem Agrarwirtschaft einzurichten, in dem die gegenwärtigen Fachhochschulstudiengänge mit ihren jeweiligen fachlichen Schwerpunkten vertreten sein sollten.68 63 64

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Franz-Hermann Riebel, Internationale Agrarwirtschaft am Standort Witzenhausen der Gesamthochschule Kassel, in: Unter uns Nr. 22, Oktober 1974, S. 43–48. Durchschlag eines Schreibens des Hessischen Kultusministers, Wellmer, an den Gründungspräsidenten der GhK vom 25.3.1975, in: HHStAW, 509, Nr. 7671, unpag. Auch in: AD, Akte CAG Agrarwirtschaft bis 1979, unpag. Franz-Hermann Riebel, Neues Studiengangsystem Agrarwirtschaft in Witzenhausen, in: Unter uns Nr. 23, April 1975, S. 27–33. Kurzprotokoll der 44. Sitzung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit am 23.4.1975, in: HHStAW, 509, Nr. 7671, unpag. Protokoll Nr. 74 der OE-Konferenz am 29. November 1977 vom 1.12.1977, in: Archiv des Fachbereichs, Protokolle der OE-Konferenzen 1972–1977, unpag. (Zitat ebd.). Fotokopie eines Schreibens des Hessischen Kultusministers an den Magistrat der Stadt Witzenhausen vom 30.1.1978, in: AD, Akte CAG Agrarwirtschaft bis 1979, unpag.

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Es gab allerdings Anzeichen dafür, dass sich der Bund aus seinem finanziellen Engagement zurückziehen und nicht mehr die Hälfte der Kosten der OE Internationale Agrarwirtschaft mittragen wollte. Rein zahlenmäßig war das Interesse des Bundes an in Deutschland ausgebildeten Agrarexperten für die Länder der Dritten Welt seit Jahren rückläufig. Auch der Typus der benötigten Agrarexperten hatte sich gewandelt. Gefragt waren nun vor allem hochqualifizierte, möglichst mit Diplomabschluss versehene Agrarexperten mit solider breiter Allgemeinausbildung, die lediglich eine zusätzliche Ausbildung in den Spezialgebieten der tropischen und subtropischen Agrarwirtschaft erhalten hatten. Außerdem hatte der Standort Witzenhausen seine frühere Monopolstellung mittlerweile eingebüßt. Wenn es dennoch eine grundsätzliche Bereitschaft des Bundes gab, Witzenhausen als zentrale Ausbildungsstelle für Agrarexperten für tropische und subtropische Landwirtschaft weiter zu fördern, lag das an der vom Land Hessen angestrebten Anhebung des Ausbildungsniveaus und am Vertrauen zu Lehrkörper, Einrichtungen und dem guten Namen Witzenhausens im Ausland.69 Nach dem Hessischen Hochschulgesetz vom 6. Juni 1978 entwickelte sich die OE zum Fachbereich der GhK weiter. Die GhK wurde gleichzeitig zu einer selbständigen Universität in Hessen. Der Fachbereich sollte auch künftig einen Studiengang mit dem Schwerpunkt tropische und subtropische Landwirtschaft anbieten.70 Der Hessische Kultusminister und der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit trafen endgültig am 15. August 1978 eine Vereinbarung über die Ausbildung und Weiterbildung in tropischer und subtropischer Agrarwirtschaft an der GhK, die dem Land die Federführung bei der beizubehaltenden Ausbildung, Weiterbildung und Forschung in Internationaler Agrarwirtschaft sicherte. Der Bund wollte seine Förderung am Bedarf an Absolventen für eine Tätigkeit in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit ausrichten.71 Mit Beginn des Wintersemesters 1979/80 sollte der neue integrierte Diplomstudiengang eingeführt werden.72 Nach mehrjähriger Vorbereitung durch die CAG 69

Durchschrift eines Schreibens des Hessischen Kultusministers an den Hessischen Minister der Finanzen, Heribert Reitz, vom Februar 1978, in: HHStAW, 509, Nr. 7673, unpag. 70 Erster Entwurf eines Vertrages zwischen dem Land Hessen, vertreten durch den Präsidenten der GhK und dem DITSL, vertreten durch die Geschäftsführung, vom 25.8.1978, in: ebd., 504, Nr. 470/250 (Zugang 107/2008), unpag.; Gerhard Küthe, Neues aus der OE, in: Unter uns Nr. 30, Oktober 1978, S. 27–28. Am 17. Oktober 1978 trat die Verordnung über die Bildung von Fachbereichen an der GhK in Kraft. Damit erhielt die ehemalige OE Internationale Agrarwirtschaft den Titel Fachbereich 21 – Internationale Agrarwirtschaft; Vgl. Rundschreiben von Gerhard Küthe an die Kollegen im Hause vom 15.12.1978, in: AD, Dokumente zu Fachbereich und DITSL, unpag.; Verordnung über die Bildung von Fachbereichen und Studienbereichen an der Gesamthochschule Kassel vom 17. Oktober 1978, in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Hessen, Teil I, Nr. 31 vom 8.12.1978, S. 671–675. 71 Durchschrift eines Schreibens des Hessischen Kultusministers an das DITSL vom 17.10.1978, in: HHStAW, 509, Nr. 470/250 (Zugang 107/2008), unpag.; Vereinbarung über die Ausbildung und Weiterbildung in tropischer und subtropischer Agrarwirtschaft an der Gesamthochschule Kassel vom 30.6.1978, in: Bundesanzeiger, Nr. 46 vom 7.3.1979, S. 6, zit. nach: AD, Vertragsangelegenheiten, unpag. 72 Hans Walter, Neues aus dem Fachbereich 21, in: Unter uns Nr. 31, April 1979, S. 19–21; Vgl. insgesamt zum Studiengang: Hans Bichler, Der „Integrierte Diplomstudiengang Agrarwirtschaft“.

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Agrarwirtschaft und die beteiligten Fachbereiche Landwirtschaft und Internationale Agrarwirtschaft wurde Anfang 1979 die neue Studien- und Prüfungsordnung verabschiedet.73 Den wichtigsten Punkt bildete der Einbezug von Praxisphasen in das Studium: Zunächst zwölf Monate auf einem landwirtschaftlichen Ausbildungsbetrieb, durch Begleitseminare flankiert. Dann folgte ein zweisemestriges Grundstudium sowie ein zweisemestriges Kernstudium, danach kam die zweite Phase der Berufspraktischen Studien für sechs Monate. Im Anschluss daran folgte die zweisemestrige Spezialisierung auf vier mögliche Studienschwerpunkte: Landwirtschaftliche Betriebslehre, Pflanzenproduktion, Tierproduktion oder Internationale Agrarwirtschaft für zwei Semester. Das Studium schloss mit dem Diplom ab und entsprach einem sechssemestrigen Fachhochschulstudium.74 Mit dem Ende des Sommersemesters 1981 lief der alte Studiengang Internationale Agrarwirtschaft aus, ab Herbst 1981 gab es dann nur noch den Integrierten Studiengang Agrarwirtschaft. Abgeschlossen wurde nun auch der Teil II der Studienordnung für das Ergänzungs- und Vertiefungsstudium. Ein dreisemestriges Spezialstudium sollte zum zweiten Abschluss führen, der damit dem universitären Diplom gleichkam.75 Ende 1983 kündigte das BMZ die Vereinbarung zwischen dem Bund und dem Land Hessen über die Ausbildung und Weiterbildung in tropischer und subtropischer Landwirtschaft an der GhK zum Ende des darauffolgenden Jahres. Aber auch künftig sollte es einen Bundeszuschuss geben, allerdings strikt entsprechend des Bedarfs an Absolventen, die in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit tätig werden sollten. Er durfte eine Million DM nicht übersteigen.76 Der Integrierte Studiengang Agrarwirtschaft sollte durch die Aufbaustudiengänge „Ökologische Umweltsicherung“ und „Internationale Agrarentwicklung“ ab 1984 weiter ausgebaut werden. Dies entsprach auch den Intentionen von GhK-Präsident Prof. Franz Neumann, der forderte, dass die Entwicklung wissenschaftlicher Reformstudiengänge in den agrarwirtschaftlichen Fachbereichen nicht auf halbem Weg stehen bleiben dürfe.77 Das ereignisreiche Jahr 1990 brachte auch für den Fachbereich Internationale Agrarwirtschaft deutliche Veränderungen oder leitete sie ein. Hochschulpolitisch wurde das Jahr durch die Weiterführung der Hochschulentwicklungsplanung der GhK geprägt. Für den Standort Witzenhausen führten diese Überlegungen zu dem Beschluss, die beiden dort ansässigen Fachbereiche zukünftig zu einem gemeinsamen Fachbereich zusammenzuführen.78 Seit dem Sommerhalbjahr 1991 liefen dann sehr

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Ein Beitrag zur Geschichte einer fast 20-jährigen Phase einer Ausbildung in Witzenhausen, Witzenhausen 1998. Wolff, 85 Jahre (Anm. 36), S. 99 f. Jahresbericht 1979 des Fachbereichs Landwirtschaft der GhK, Witzenhausen 1980, S. 1 f. Johannes Wörz, Neues aus dem Fachbereich 21, in: Unter uns Nr. 35, April 1981, S. 15–17. Kopie eines Schreibens des BMZ an das Hessische Kultusministerium vom 23.12.1983, in: HHStAW, 509, Nr. 7673, unpag. Agrarwirtschaft in Witzenhausen: GhK plant Ausbau mit Aufbaustudiengängen, in: Unter uns Nr. 42, Oktober 1984, S. 16–17. Jahresbericht 1990 des Fachbereichs Internationale Agrarwirtschaft der GhK – Universität, Witzenhausen 1991, S. 7.

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intensive Diskussionen über die geplante Zusammenlegung. Dabei zeichnete sich ab, dass eine Reihe von Arbeitsgruppen und Instituten im Entstehen begriffen war, die gerade das internationale Profil stärken könnten.79 Zum Ende des Sommersemesters 1992 legte eine Kommission unter Leitung von Prof. Peter Wolff Empfehlungen zur Durchführung der Zusammenlegung vor, mit denen der Rahmen abgesteckt wurde. Im Januar 1993 stimmten die Gremien der Hochschule dann den Vorstellungen und Forderungen der Fachbereiche zu, und am 26. Januar 1993 wurde die Bildung des neuen Fachbereichs 11 Landwirtschaft, internationale Agrarentwicklung und ökologische Umweltsicherung durch Erlass des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst genehmigt.80 Im März 1993 erfolgte der offizielle Zusammenschluss der beiden Fachbereiche. Damit sei – so titelte die Hessische Niedersächsische Allgemeine – das „Fundament für die Zukunft“ gelegt.81 Die Tradition der internationalen Ausbildung sollte mit neuen Ideen fortgeführt werden. Dazu war unter anderem vorgesehen, parallel zur zweiten Stufe des Diplomstudiums, einen englischsprachigen Schwerpunkt mit dem Abschluss Master of Science einzurichten.82 Neue Gefahr drohte dem Standort Witzenhausen durch ein Gutachten der Hessischen Hochschulstrukturkommission, das im Dezember 1994 die Schließung des Fachbereichs empfohlen hatte. Die Professoren des Fachbereichs forderten dagegen die Durchsetzung einer Bestandsgarantie für den Hochschulstandort in den Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer Landesregierung Anfang 1995. Ihr Positionspapier für die Hessische Fachkommission Agrarwissenschaften sah für Witzenhausen eine Umorientierung vor: Der Integrierte Studiengang Agrarwirtschaft sollte sich künftig vorrangig auf Fragen der ökologischen Landwirtschaft konzentrieren. Trotzdem sollte nach wie vor eine umfassende Ausbildung, auch für spätere Experten der Entwicklungszusammenarbeit gewährleistet werden.83 Eine parallel stattfindende Evaluation aller „grünen Standorte“ mit tropisch/ subtropischen Aktivitäten durch den Wissenschaftsrat erschwerte die zukunftsorientierte Planung zusätzlich. Die Zielsetzung einer Konzentration an wenigen, wissenschaftlich profilierten Standorten stellte die tropisch/subtropische Ausbildungsrichtung des Fachbereichs auf den Prüfstand. Ein erster Schritt war eine Bestandsgarantie für den Hochschulstandort Witzenhausen, die tatsächlich in den Koalitionsverhandlungen zur Bildung der Landesregierung Anfang 1995 erreicht werden konnte. Für das neue Profil des Fachbereichs waren drei Überlegungen maßgeblich: Witzenhausen 79 80

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Michael Fremerey, Bericht des Fachbereichs Internationale Agrarwirtschaft, in: Unter uns Nr. 56, November 1991, S. 32–33. Michael Fremerey, Bericht des Fachbereichs Internationale Agrarwirtschaft, in: ebd., Nr. 57, Mai 1992; S. 22–23; Jahresbericht 1992 des Fachbereichs Internationale Agrarwirtschaft der GhK – Universität, Witzenhausen 1993, S. 7. Fundament für die Zukunft ist gelegt, in: Hessische Niedersächsische Allgemeine vom 22.3.1993, zit. nach: Unter uns Nr. 59, Mai 1993, S. 26. Frischer Wind in alten Mauern, in: Hessische Niedersächsische Allgemeine vom 23.3.1993, zit. nach: ebd., S. 27. Samuel C. Jutzi und Hans Bichler, Zukunftsperspektive für den Fachbereich Landwirtschaft, Internationale Agrarentwicklung und Ökologische Umweltsicherung, in: Unter uns Nr. 63, Februar 1996, S. 19–22.

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musste, um gegenüber anderen agrarwissenschaftlichen Standorten konkurrenzfähig zu werden, eine zweite Studienstufe erhalten, die einem vollwertigen universitären Abschluss (Diplom II) entsprach, die besonderen Anstrengungen und Leistungen auf dem Gebiet der ökologischen Landwirtschaft mussten sich in der Profilbildung niederschlagen, die Tradition der international orientierten Lehre und Forschung sollte erhalten bleiben.84 Der Wissenschaftsrat kam 1996 in seinen Empfehlungen zu den Internationalen Agrarwissenschaften an den Hochschulen zu dem Ergebnis, dass eine zentrale Einrichtung für die Internationalen Agrarwissenschaften nicht mehr zeitgemäß sei. Er plädierte für eine enge Zusammenarbeit mit der allgemeinen Landwirtschaft; auch Tropenlandwirte müssten eine breite methodische Ausbildung haben. Den angebotenen zweijährigen postgradualen Studiengängen mangele es an der Zielorientierung. Der Wissenschaftsrat präferierte ein neues, dreijähriges, zur Promotion führendes Graduiertenstudium unter Zusammenarbeit mehrerer Fakultäten und forderte eine Vereinheitlichung der Studienabschlüsse sowie eine Verbesserung der Weiterbildungsmöglichkeiten. An zwei bis drei besonders geeigneten Fakultäten sollten Schwerpunkte in Forschung und Lehre gebildet werden, allerdings zeitlich begrenzt auf zehn Jahre, um den Wettbewerb zu erhalten.85 Durch Fokussierung auf Ökologische Landwirtschaft und Erhalt der internationalen Orientierung, konnte die Ausbildung mit dem zweistufigen Diplomstudiengang Ökologische Landwirtschaft 1996 fortgesetzt werden (Schwerpunkte: Ökologischer Landbau, Agrarmanagement oder Internationale Agrarentwicklung).86 Durch einen Erlass der Hessischen Ministerin für Wissenschaft und Kunst von Mitte Oktober 1996 wurde der Standort gesichert und die Reform der agrarwissenschaftlichen Ausbildung vorangetrieben. Der bisherige Diplomstudiengang Agrarwirtschaft lief aus; an seine Stelle trat der Diplomstudiengang Ökologische Landwirtschaft. Bis zum Diplom I wurde weiterhin eine Spezialisierungsmöglichkeit auf Internationale Agrarentwicklung beibehalten. Das Diplom II-Studium betonte pflanzenbauliche sowie wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen unter starkem Einbezug der internationalen Dimension von Landbewirtschaftung.87 Mit dem Wintersemester 1996/97 startete der neue Diplomstudiengang Ökologische Landwirtschaft. Der Studiengang bekam dem „Kasseler Modell“ entsprechend eine zweite Studienstufe, damit erfolgte die Aufwertung zum vollwertigen Universitätsstandort.88 84 85

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Jahresbericht 1995/96 des Fachbereichs Landwirtschaft, Internationale Agrarentwicklung und Ökologische Umweltsicherung (FB 11) der Universität GhK, Kassel 1996, S. 5–8. Stefan Tangermann, Wissenschaftspolitische Perspektiven für die international ausgerichtete agrarwissenschaftliche Ausbildung und universitäre Forschung in Deutschland, in: Samuel C. Jutzi (Hg.), Agrarwissenschaften der Tropen und Subtropen. Perspektiven des deutschen Beitrages, in: Der Tropenlandwirt Beiheft Nr. 62, Witzenhausen 1998, S. 1–17. Holger Mittelstraß, Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften, in: Unter uns Nr. 83, Juni 2011, S. 25 f. Hans Bichler, Bericht vom Fachbereich, in: ebd., Nr. 64, Januar 1997, S. 10–12. Neuer Studiengang in Witzenhausen, in: Hessische Niedersächsische Allgemeine vom 18.10.1996, zit. nach: ebd., S. 52; Hauptarbeit steht noch bevor, in: Hessische Niedersächsische Allgemeine vom 14.3.1997, S. 10, zit. nach: ebd., Nr. 65, September 1997, S. 51.

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Die Universität feierte am 15. Februar 2002 – 30 Jahre nach Gründung der Hochschule – ihren ersten Universitätstag. Ab diesem Tag verzichtete sie auf die Bezeichnung „Gesamthochschule“ und änderte entsprechend einem Beschluss des Senats vom 16. Januar ihren Namen in „Universität Kassel“.89 So wurde Witzenhausen endgültig zur kleinsten Universitätsstadt Deutschlands, womit das Stadtmarketing gerne wirbt.

SCHLUSSBEMERKUNG Auf den ersten Blick mag der Fall Witzenhausen und die Entwicklung einer Lehranstalt für tropische und subtropische Landwirtschaft, die nur ein Aufbaustudium anbot, als ein exotisches Beispiel erscheinen. Zumal es sich zudem bei der tropischen und subtropischen Landwirtschaft um ein ausgesprochenes Orchideenfach handelt, das in Deutschland stets nur an wenigen Institutionen gelehrt wurde. Auf der anderen Seite ist das Beispiel wohl durchaus nicht untypisch: zum einen für den Wandel im landwirtschaftlichen Ausbildungswesen und zum anderen für die Zeitläufte, insbesondere für die 1960er und 1970er Jahre, als es in der Bundesrepublik zu einem rasanten Ausbau der Hochschulbildung kam. Im Zuge der mit der Regierung Brandt einsetzenden Bildungsreform kam es zu Universitätsneugründungen und zur Bildung von Gesamthochschulen. Parallel dazu setzte in vielen Fächern und Institutionen ein Prozess der Akademisierung ein. Dieser Prozess war in Witzenhausen noch ausgeprägter, da man von einer eher praktisch orientierten Ausbildung herkam. Unter dem Druck der Anforderungen des Berufsfeldes, vor allem auch des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, sah man sich hier mehr oder minder gezwungen, diesem Trend zu folgen. Ein früher Hinweis auf die Notwendigkeit zur Weiterentwicklung lag in der Tatsache, dass immer mehr Absolventen auf Universitäten weiterstudierten. Insgesamt betrachtet, scheint es typisch zu sein, dass sich die Ausbildungsinstitution immer wieder neuen, teilweise auch existentiellen, Herausforderungen stellte und sich erfolgreich an sie anpasste. Immer wieder gelang es, durch innovative Ideen, wie der ökologischen Landwirtschaft, die eigene Existenz zu sichern. Wie ein Blick in die Geschichte zeigt, war das auch schon vor 1945 der Fall. Und auch die Diskussionen um den Charakter der Institution – Schule oder Universität – ist alles andere als neu, sondern begleitet sie seit ihrer Gründung.90 Dr. Karsten Linne Freie Universität, Osteuropa-Institut, Garystr. 55, 14195 Berlin, [email protected]

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Ausführliche Chronik der Universität Kassel (abgerufen am 10.06.2020). Linne, Witzenhausen (Anm. 1), bes. S. 42–44.

THEMENSCHWERPUNKT STUDENTISCHE GEWALT IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT

RADIKALE ÜBERZEUGUNGSTÄTER? Studentische Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert: Konzeption und Fragestellung Oliver Auge und Martin Göllnitz

Es ist in der Forschung verbreitet, Universitätsgeschichte über die Entwicklung von Disziplinen und Fakultäten sowie über die Individualbiographien von Hochschullehrenden zu schreiben.1 Darstellungen zu den gelehrten Köpfen deutscher Universitäten bieten aber oftmals nur eine begrenzte Sicht auf das regionale und überregionale Hochschulwesen, da die zahlenmäßig größte Gruppe an den Universitäten, die Studierendenschaft, dabei nicht erfasst ist. Teilweise hat es immer noch den Anschein, als sei die Geschichte des deutschen Hochschulwesens eine Geschichte ihrer Lehrenden und Forschenden, ihrer Institutionen und Einrichtungen, aber nicht ihrer Lernenden oder der von ihnen gebildeten Vereinigungen.2 Obwohl in den vergangenen Jahren einige kritische Arbeiten zu den Studierenden des 20. Jahrhunderts publiziert worden sind, vor allem zu den Hochschülerinnen und Hochschülern der Zwischenkriegszeit und der 1960/70er Jahre, überwiegt in der Quantität die Zahl jener geschichtswissenschaftlichen Studien, die sich überwiegend mit der Professorengeschichte befassen.3 Dabei ist die Forderung nach einer „forschungsstrategischen Verankerung“ der Studierendenhistoriographie in

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Vgl. diesbezüglich und zum Folgenden die Ausführungen bei Martin Göllnitz, Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärskorps am Beispiel der Universität Kiel (1927–1945) (Kieler Historische Studien 44), Ostfildern 2018, S. 11–14. Für neue Ansätze in der Universitätshistoriographie vgl. Sylvia Paletschek, Stand und Perspektiven der neueren Universitätsgeschichte, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 19 (2011), S. 169–189; Frank Sparing und Wolfgang Woelk, Forschungsergebnisse und -desiderate der deutschen Universitätsgeschichtsschreibung: Impulse einer Tagung, in: Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, hg. von Dens. und Karen Bayer, Stuttgart 2004, S. 7–32; Rüdiger vom Bruch, Methoden und Schwerpunkte der neueren Universitätsgeschichtsforschung, in: Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Werner Buchholz (Pallas Athene 10), Stuttgart 2004, S. 9–26. Siehe dazu auch Harald Lönnecker, Quellen und Forschungen zur Geschichte der Korporationen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Ein Archiv- und Literaturbericht, in: „Klassische Universität“ und „akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, hg. von Stefan Gerber und Matthias Steinbach, Jena 2005, S. 401–437, hier S. 401. Vgl. die strukturelle Übersicht zur studentischen Forschungsliteratur bei Marian Füssel und Wolfgang Eric Wagner, Studentenkulturen. Begriff – Forschungsstand – Perspektiven, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 17 (2014), S. 39–55.

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der allgemeinen Universitätsgeschichte nicht neu.4 Mit gutem Grund kritisierten einzelne Historiker lange Zeit deren Nischendasein und die weitgehend laienhafte, anachronistische oder in Einzelfällen auch apologetische Form von Korporationsdarstellungen, die eine wissenschaftliche Distanz zum Forschungsobjekt vermissen lässt.5 Spätestens mit der zunehmenden Politisierung der Studierenden im 19. Jahrhundert wird jedoch deutlich, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen respektive europäischen Hochschülerschaft keine marginale Subdisziplin der innerakademischen Traditionspflege ist, sondern großes Erkenntnispotenzial für die allgemeine Geschichte einer jeweiligen historischen Gesellschaft bereithält. Den Hochschülerinnen und Hochschülern der Moderne attestierte Thomas Nipperdey sogar eine „Seismographenfunktion“6 hinsichtlich gesellschaftlicher Veränderungen, was heißt, dass sich allgemeine politische Trends und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen an den Universitäten und Technischen Hochschulen, speziell in den Studentenverbindungen und Hochschulgruppen, wie in einem Brennglas widerspiegeln. Tatsächlich sind die Studierenden stets aktive und einflussreiche Mitspieler auf dem hochschulpolitischen und gesellschaftlichen Parkett gewesen, auf dem sie mit dynamischen und insgesamt zunehmenden Herausforderungen und Erwartungen aus der sie umgebenden Gesellschaft konfrontiert wurden und in unterschiedlicher Form darauf reagierten. Augenscheinlich wird dies vor allem auf der Akteursebene, auf der Studierende mit Hochschullehrenden sowie mit politischen Entscheidungsträgern vielfältige Verbindungen knüpfen konnten – etwa in akademischen Verbindungen, wissenschaftlichen Vereinen, Zirkeln und Expertengruppen bis hin zu geschlossenen Klubs und klandestinen Gesellschaften – oder eben zahlreiche Konflikte austrugen.7 Es scheint – auch angesichts ganz aktueller Entwicklungen –, als seien insbesondere jene Konflikte, die die deutschen Jungakademiker nicht untereinander,8

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Rüdiger vom Bruch, Langsamer Abschied von Humboldt? Etappen deutscher Universitätsgeschichte 1810–1945, in: Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, hg. von Mitchell G. Ash, Wien 1999, S. 29–57, hier S. 47 f. Marian Füssel, Wie schreibt man Universitätsgeschichte?, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 22 (2014), S. 287–293, hier S. 289, belegt, dass die Forderung nach einer stärkeren Verbindung von Universitäts- und Studierendengeschichte immer noch Aktualität besitzt. Christian Jansen, Mehr Masse als Klasse – mehr Dokumentation denn Analyse. Neuere Literatur zur Lage der Studierenden in Deutschland und Österreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 398–440, hier S. 436, plädiert daher für eine stärkere Professionalisierung der Studentenhistoriographie. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 581. Vgl. für das 20. Jahrhundert am Beispiel einer transnationalen Perspektive Philip G. Altbach (Hg.), Student Political Activism. An International Reference Handbook, New York 1989. Besonders das Duell- und Mensurwesen hat die Forschung kontinuierlich beschäftigt und ist damit gleichsam zu einer Art Symbol für die Kultur des deutschen Studentenwesens im langen 19. Jahrhundert geworden. Siehe dazu u. a. Barbara Krug-Richter, „Ein stund ernennen unnd im ein schlacht lieffern.“ Anmerkungen zum Duell in der studentischen Kultur, in: Das Duell. Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. von Ulrike Ludwig, Barbara Krug-Richter und Gerd Schwerhoff (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 23), Konstanz 2012, S. 275–288; Lisa Fetheringill Zwicker, Dueling Students. Conflict, Masculiniy, and Politics in

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sondern in erster Linie mit ihrer bürgerlichen Umwelt ausgefochten haben, bislang nicht ausreichend betrachtet worden – wenn man einmal von dem Phänomen „68“ absieht.9 In Anlehnung an eine von dem amerikanischen Historiker Philip G. Altbach 1992 getroffene Feststellung, wonach der studentische Aktivismus der Natur der akademischen Gemeinschaft innewohne und sowohl auf dem Campus als auch in der Gesellschaft weiterhin eine starke Kraft besitzen würde,10 verwundert das mangelnde Interesse der universitätshistorischen Forschung an dieser Thematik. Denn wo, wenn nicht im Bereich studentischer Gewalt- und Protestbereitschaft, lassen sich die ineinander übergehenden und vielfach überlappenden Grenzen von Universität, Politik und Öffentlichkeit derart präzise in Augenschein nehmen? Die folgenden Beiträge möchten mithilfe einer ersten Bestandsaufnahme auf diese Forschungslücke aufmerksam machen und thematisieren aus diesem Grund ganz unterschiedliche Proteste und Gewalttaten, die sich gegen die Gesellschaft als Ganzes, gegen bestimmte Gruppen innerhalb dieser oder gegen einzelne Institutionen richteten, sei es die Universität selbst, das bürgerliche Milieu oder staatliche Behörden. Im Mittelpunkt der Aufsätze stehen folglich ausschließlich Ereignisse, an denen eine Gruppe von Studierenden beteiligt war – im Gegensatz zu Einzelaktionen –, und mit denen die Studierenden eine bestimmte Absicht verfolgten, auch wenn durchaus Aktionen thematisiert werden, die versehentlich begonnen wurden und erst im Laufe der Zeit eine eigene Agenda entwickelten. Die Beiträge unternehmen also den Versuch, die studentischen Protest- und Gewaltformen des 19. und 20. Jahrhunderts in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext einzubetten, der multivalente Aspekte und universitätshistorische Entwicklungen ebenso berücksichtigt wie politische, kulturelle oder soziale Faktoren.11 Auf diese Weise werden übergreifende Synthesen

German Universities, 1890–1914, Ann Arbor 2011; Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. Neuere Studien wenden in diesem Zusammenhang vermehrt Ansätze der Männlichkeitsforschung an oder nehmen randständige Phänomene wie jüdische Studentenverbindungen in den Blick: Siehe exemplarisch Miriam Rürup, Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937, Göttingen 2008; Sonja Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929, Göttingen 2006; Paul Deslandes, Oxbridge men. British Masculinity and the Undergraduate Experience, 1850–1920, Bloomington 2005; Rebecca Friedman, Masculinity, Autocracy, and the Russian University, 1804–1863, Basingstoke 2005; Marianne Rachel Sanua, Going Greek. Jewish College Fraternities in the United States, 1895–1945, Detroit 2003; Keith H. Pickus, Constructing Modern Identities. Jewish University Students in Germany 1815–1914, Detroit 1999. 9 Exemplarisch sind zu nennen Detlef Siegfried, 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018; Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig: Eine Bilanz, Berlin 2008; Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 3 2008; Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA, München 3 2005; Dies. (Hg.), 1968 – vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 17), Göttingen 1998. 10 Philip G. Altbach, Politics of Students and Faculty, in: The Encyclopaedia of Higher Education, hg. von Burton R. Clark und Guy R. Neave, New York 1992, S. 1740–1749. 11 Bisherige Studien beschränken sich zumeist auf einzelne studentische Protestbewegungen. Als positive Ausnahmen, die sowohl einen breiten geographischen als auch zeitlichen Blickwinkel einnehmen, sind hier exemplarisch folgende Arbeiten zu nennen: Pieter Dhondt und Elizabe-

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im rigorosen und gewaltbereiten Verhalten von Studierenden aufgezeigt und zugleich herausgestrichen. Ein solches Vorgehen bedarf freilich einiger methodischer Vorüberlegungen und theoretischer Präzisierungen, die hier näher erläutert werden sollen.

1. GEWALTBEREITSCHAFT UND -AKZEPTANZ ALS BESTANDTEIL STUDENTISCHER KULTUR Jüngst haben sich Marian Füssel und Wolfgang Eric Wagner in diesem Jahrbuch mit dem Begriff der „Studentenkultur“ befasst, den die beiden Historiker als die Gesamtheit aller Bedeutungen verstehen, „die sich in den historischen Praktiken der Studenten als einer sozialen Gruppe“ konstituieren.12 Für sie stellt der Terminus „Studentenkultur“ damit kein „abstraktes oder genau zu konturierendes System“ dar, sondern eine dem historischen Wandel unterliegende partizipative Identität auf Zeit, die „allein in actu präsent und zu untersuchen“ ist. An diese Perspektive knüpfen die hier versammelten Beiträge an, indem sie verschiedene Formen militanter und radikaler Verhaltensweisen im jungakademischen Milieu in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses stellen. Die zeitliche Fokussierung auf das 19. und 20. Jahrhundert ergab sich dabei durch die rasante Zunahme politisch-gesellschaftlicher Gewalt- und Protestformen in den vergangenen 200 Jahren, an denen Studierende wiederholt maßgeblich beteiligt waren.13 Will man diese Zeitspanne an zwei prägnanten Ereignissen festmachen, die den Beginn und den Endpunkt des betrachteten Untersuchungszeitraumes markieren, dann bieten sich die Befreiungskriege als prägnanter Ausgangspunkt und die Proteste um den Bologna-Prozess als zumindest vorläufiges Ende an. Der vollständige Titel der internationalen Fachkonferenz, auf die die vorliegenden Aufsätze zurückgehen und die dank der großzügigen finanziellen Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung (Essen) sowie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Landesbüro Mecklenburg-Vorpommern) am 6. und 7. Juli 2017 unter unserer Leitung im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald stattfand, lautete daher folgerichtig: „Radikale Überzeugungstäter?

thanne Boran (Hg.), Student Revolt, City, and Society in Europe. From the Middle Ages to the Present (Routledge Studies in Cultural History 52), New York 2018; Louis Vos, Student Movements and Political Activism, in: A History of the University in Europe, Bd. 4: Universities since 1945, hg. von Walter Rüegg, Cambridge 2011, S. 276–318; Lieve Gevers und Louis Vos, Student Movements, in: A History of the University in Europe, Bd. 3: Universities in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries (1800–1945), hg. von Walter Rüegg, Cambridge 2004, S. 269–361; Mark Edelman Boren, Student Resistance. A History of the Unruly Subject, New York 2001; Altbach (Hg.), Student Political Activism (Anm. 7). 12 Vgl. dazu und zum Nachstehenden Füssel/Wagner, Studentenkulturen (Anm. 3), S. 39. 13 Natürlich sind studentische Revolutionen kein ausschließliches Phänomen der neueren Geschichte, vielmehr fanden sie vom Mittelalter bis heute in Phasen statt, die von unterschiedlicher Intensität geprägt waren und denen Perioden relativer Ruhe folgten. Vgl. dazu neuerdings die Beiträge in Dhondt/Boran (Hg.), Student Revolt (Anm. 11).

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Studentische Protest- und Gewaltformen zwischen den Befreiungskriegen und dem Bologna-Prozess“.14 Die vorgenommene Fokussierung auf studentische Gewalttäter und Protestler kommt nicht von ungefähr, schließlich stellten die Studierenden des 19. und 20. Jahrhunderts als künftige Akademikerinnen und Akademiker das für einen modernen Staat wichtige angehende Führungspersonal. In der auf die Zukunft ausgerichteten akademischen Elitenausbildung liegt aber nicht nur eine wesentliche Funktion der Hochschulen, sondern auch ein wichtiger Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung.15 Aufgrund ihrer besonderen Ausbildung rückten die Studierenden notwendigerweise in führende gesellschaftliche oder staatliche Positionen auf und beeinflussten mit ihrem eigenen Politikverständnis die Entwicklung Deutschlands auf vielfältige Weise.16 Aber auch außerhalb einer genuin politischen Sphäre entfalteten sie in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie beispielsweise dem Staats- und Gesundheitsdienst, der Justiz, der Wirtschaft oder dem Schulwesen ein erhebliches Bewegungs- und Innovationspotenzial. Aus diesem Grund scheint es geboten, sich stärker mit der akademischen Sozialisation der Studierenden zu befassen, aber auch nach der bis weit in die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts konstant gebliebenen universitären Ausbildungsfunktion potenzieller Eliten zu fragen.17 Bei den radikal-militanten Studierenden handelte es sich letztlich immer noch um überdurchschnittlich intelligente, selbstbewusste und tatkräftige Vertreter der deutschen Gesellschaft, die zudem durchaus eigene politische Ideen verfolgten und weitgehend dem Mittelstand beziehungsweise dem Bürgertum entstammten. Eine

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Vgl. den Tagungsbericht von Lisa Bittner und Nele Dittrich, Radikale Überzeugungstäter? Studentische Protest- und Gewaltformen zwischen den Befreiungskriegen und dem Bologna-Prozess, 06.07.2017–07.07.2017, in: H-Soz-Kult, 09.10.2017, (abgerufen am 05.08.2018). 15 Vgl. die Überlegungen bei Harald Lönnecker, „Demut und Stolz . . . Glaube und Kampfessinn“. Die konfessionell gebundenen Studentenverbindungen – protestantische, katholische, jüdische, in: Universität, Religion und Kirchen, hg. von Rainer Christoph Schwinges (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 11), Basel 2011, S. 479–536, hier S. 534. 16 Diesbezüglich siehe die Ausführungen von Holger Zinn, Die studentische Selbstverwaltung in Deutschland bis 1945, in: „Klassische Universität“ (Anm. 2), S. 439–473, hier S. 473. 17 Zur Unterscheidung von Funktions-, Wert- und Repräsentationseliten sowie zur Theorie und Anwendbarkeit von Elitekonzepten siehe den Beitrag von Birgit-Katharine Seemann, Das Konzept der „Elite(n)“. Theorie und Anwendbarkeit in der Geschichtsschreibung, in: Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert. Für Klaus Saul zum 65. Geburtstag, hg. von Karl Christian Führer, Karen Hagemann und Birthe Kundrus, Münster 2004, S. 24–41, hier S. 30: Demnach zählen die Studierenden nach (erfolgreichem) Studienabschluss weitgehend zur Funktionselite, da sie die „institutionell vorgegebenen Karriere- und Aufstiegsmuster und die Erfüllung systemimmanenter Leistungs- und Eignungskriterien aufweisen“. Zur gegenwärtigen Diskussion um Elite-Universitäten siehe u. a. Kerstin Bruckmeier, Eliteuniversitäten – Gewinner im Wettbewerb um Studierende?, in: Wirtschaftsdienst 94 (2014), Nr. 2, S. 125–128; Gerd Grözinger, Eliteuniversitäten. Stärkung des Forschungs- und Wirtschaftsstandorts Deutschland?, in: ifo Schnelldienst 57 (2004), Nr. 16, S. 3–11; Ingo von Münch, „Elite-Universitäten“: Leuchttürme oder Windräder?, Hamburg 2005.

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Betrachtung akademischer „Überzeugungstäter“ nimmt somit zugleich jenen Teil der Bevölkerung in den Blick, aus dem sich diese Elite rekrutierte.18 Dies gilt umso mehr, als die Studierenden aufgrund juristischer, kultureller und gesellschaftlicher Gegebenheiten eine relativ geschlossene Gruppe bildeten.19 Das Studium muss dabei als separater Lebensabschnitt zwischen dem Abschluss der Schulausbildung und dem Berufseinstieg verstanden werden. Das Studiensystem an deutschen Universitäten, das auf wissenschaftlicher Erkenntnis, nicht auf erzieherischen Lerninhalten basierte, bot eine relative Unabhängigkeit von familiären Verpflichtungen und Spielraum für das eigene Tun und Lassen. Insbesondere die großzügige Gewährung akademischer Freiräume sowie die vornehmlich geistige Beschäftigung während des Studiums verhinderten eine allzu starke Beschränkung auf vorhandene Denkmodelle; vielmehr unterstützten sie die Entwicklung der Studierenden zu selbstverantwortlich denkenden und handelnden Individuen.20 Prägnant für diese Lebensphase war aber auch ihr instabiler Sozialstatus – also die finanzielle, berufliche und soziale Ungewissheit. Das Zusammenspiel von akademischer Freiheit und existenziellen Zukunftssorgen bildete eine zentrale Grundlage dafür, dass die Studierenden zu radikalen und militanten Praktiken sowie in ihren politischen Ideen und Idealen zum Rigorismus neigten. Politische oder gesellschaftliche Erwartungshaltungen sind dabei als mentale Strukturen zu verstehen, die zeitbedingt einem starken Umwandlungsprozess unterliegen können.21 Insbesondere allgemein bedeutende Zäsuren wie Revolutionen, Kriege oder politische Systemwechsel verändern Erwartungsstrukturen grundlegend. Hierbei ist zu beachten, dass diese vermeintlich neuen Erwartungen oftmals schon latent vorhanden waren und erst nach dem Umbruch eine enorme Bedeutungsaufwertung erfuhren.

Siehe dazu Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 3 1996, S. 15. 19 Vgl. Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn 1995, S. 9 f. Siehe auch Harald Lönnecker, Studenten und Gesellschaft, Studenten in der Gesellschaft. Versuch eines Überblicks seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Universität im öffentlichen Raum, hg. von Rainer Christoph Schwinges (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 10), Basel 2008, S. 387–438, hier S. 392 f., der sich mit dem Integrationsprozess deutscher Studierender in die bürgerliche Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. 20 Vgl. Johanna Bleker, „Deutsche Wissenschaft ist Männerwerk“. Der Einzug der Frauen in die Gelehrtenrepublik, eine Zeitenwende?, in: Der Eintritt der Frauen in die Gelehrtenrepublik. Zur Geschlechterfrage im akademischen Selbstverständnis und in der wissenschaftlichen Praxis am Anfang des 20. Jahrhunderts, hg. von Ders. (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 84), Husum 1998, S. 17–30, hier S. 21. 21 Vgl. dazu und zum Nachstehenden ausführlich Donald Bloxham u. a., Europe in the World. Systems and Cultures of Violence, in: Political Violence in Twentieth-Century Europe, hg. von Donald Bloxham und Robert Gerwarth, Cambridge 2011, S. 11–39; Thomas Mergel, Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918–1936, in: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, hg. von Wolfgang Hardtwig (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 21), Göttingen 2005, S. 91–127, hier S. 92. 18

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2. RADIKALITÄT UND GEWALT ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION Dieses für eine „Avantgarderolle unerlässliche Selbstbewusstsein“ ging einher mit der den Studierenden zugewiesenen Funktion als gesellschaftliche Schrittmacher.22 Infolge der Befreiungskriege von 1813/14 entwickelten sie sich zu Wegbereitern des liberalen Bürgertums; die Studentenrevolte der Jahre 1967/68 und ihre nachhaltigen sozialen Bewegungsmomente prägen die westliche Welt auf vielfältige Weise bis heute.23 Allerdings waren es auch Studierende, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hinsichtlich völkischer und nationaler Bestrebungen eine Vorreiterrolle einnahmen: Als Träger eines rassisch motivierten Antisemitismus trugen die Jungakademiker seit den 1880er Jahren zu einem aggressiven Nationalismus bei.24 Ähnlich verhielt es sich mit dem Aufstieg faschistischer, völkischer und rassistischer Ideologien im Europa der Zwischenkriegszeit.25 Auch hier zeichneten sich die Studierenden bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt durch eine große Aufnahmebereitschaft gewaltverherrlichender, radikaler und antisemitischer Ideen aus.26 Offenbar waren die Universitäten des 19. und 20. Jahrhunderts – die verstärkt

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Vgl. Pieter Dhondt und Laura Kolbe, Students as Agents of Change?, in: Student Revolt (Anm. 11), S. 1–9, hier S. 4–6; Grüttner, Studenten (Anm. 19), S. 9 f. Dazu siehe Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten 1800–1970 (edition suhrkamp NF 258), Frankfurt a. M. 1984, hier S. 35–44, 226–240; zu den Auswirkungen der „68er“ vgl. Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), „1968“ – Eine Wahrnehmungsrevolution? Horizont-Verschiebungen des Politischen in den 1960er und 1970er Jahren (Zeitgeschichte im Gespräch 16), München 2013. Vgl. Norbert Kampe, Zur Sozialgeschichte jüdischer Studenten im Deutschen Kaiserreich, in: Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur Vorurteilsforschung, hg. von Wolfgang Benz und Angelika Königseder, Berlin 2002, S. 96–101, hier S. 98. Kampe unterscheidet dabei zwischen zwei Phasen in der politisch-weltanschaulichen Entwicklung der deutschen Studierenden: 1) die Phase des „neuen Nationalismus“ (1880–1893), in der sich die antisemitisch-nationalistische Kyffhäuserbewegung in Form der „Vereine Deutscher Studenten“ an den Hochschulen etablierte; 2) die Phase der „Weltpolitik“ (1893–1914), die vom Übergang der großen Korporationen zur antisemitischen und völkischen Einstellung geprägt war. Vgl. dazu ausführlich auch Ders., Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 76), Göttingen 1988, S. 125. Mit dieser Thematik und der von Studierenden ausgehenden politischen Gewalt zwischen 1919 und 1945 befasst sich auch das von Martin Göllnitz und Matteo Millan herausgegebene Themenheft („Studentische Gewalt / Violenza studentesca) der deutsch-italienischen Zeitschrift „Storia e regione“, das im Sommer 2019 erschienen ist. Im Fokus stehen dabei die Länder Deutschland, Italien, Mazedonien, Österreich und Spanien. Grüttner, Studenten (Anm. 19), S. 9. In fast allen rechtsradikalen Parteien und Bewegungen auf dem europäischen Kontinent zwischen 1919 und 1939 nahmen Studierende eine bedeutende, zum Teil dominierende Rolle ein. Vgl. dazu die Beiträge in Regina Fritz, Grzegorz Rossoli´nski-Liebe und Jana Starek (Hg.), Alma mater Antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939 (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien 3), Wien 2016; sowie Stanley G. Payne, Social Composition and Regional Strength of the Spanish Falange, in: Who were the Fascists. Social Roots of European Fascism, hg. von Bernt Hagtvet, Stein Ugelvik Larsen und Jan Petter Myklebust, Bergen 1980, S. 423–434, hier S. 423–428; Jens Petersen, Wählerverhalten und soziale Basis des Faschismus in Italien zwischen 1919 und 1928, in: Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, hg. von Wolfgang Schieder (Kleine

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aus einer nationalen ebenso wie internationalen und transnationalen Perspektive betrachtet werden müssen27 – nicht nur Orte der Gelehrsamkeit, sondern sie wurden von den Hochschülerinnen und Hochschülern auch als Räume perpetuierter Gewalt und suspendierter Normen wahrgenommen.28 Der radikale Teil der Studierenden bildete zwar stets nur eine Minderheit, trug seine Ideen und Ideologien aber wirkungsvoll aus der Gesellschaft an die Universitäten und von dort wieder zurück. Im Zuge dieser Entwicklungen blieben die Hochschulen weder von den Wertemustern des Vormärz noch vom „Radauantisemitismus“ der Nationalsozialisten oder von den Studentenunruhen und linksextremistischen bis terroristischen Nachfolgeprozessen der 68er-Bewegung verschont. Die hier nur kurz angesprochenen Beispiele können aber nicht ohne die mit ihnen verbundenen Protest- und Gewaltformen gedacht werden. Vielmehr spielte eine latent vorhandene Gewaltbereitschaft oder zumindest -akzeptanz eine gewichtige Rolle bei der Durchsetzung oder, um im Ton zu bleiben, beim Durchboxen spezifisch studentischer Ziele oder politischer Vorstellungen. Wie eine Studie zum jungakademischen Funktionärskorps der Zwischenkriegszeit jüngst aufgezeigt hat, verstand der extreme Teil der Studierendenschaft politisches Handeln meist weder als das beharrliche Bohren harter Bretter noch als das unablässige Zustandebringen von Kompromissen oder als das langmütige Formulieren von Verordnungen und Normen.29 Vielmehr betrachteten die Lernenden die Politik als Gestaltungsfeld beziehungsweise als eine „Arena des Willens“.30 Und in dieser Arena galt es, politische

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Vandenhoeck-Reihe 1492), Göttingen 2 1983, S. 119–156, hier S. 142–148. Einen Überblick über die europäischen Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts bieten John Connelly und Michael Grüttner (Hg.), Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2003. Zu den Erkenntnispotenzialen einer transnationalen Universitätsgeschichtsforschung vgl. Heike Bungert und Charlotte Lerg, Transnationale Universitätsgeschichte, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 18 (2015), S. 35–49; sowie auch die Überlegungen bei Emily J. Levine, Nützlichkeit, Kultur und die Universität aus transatlantischer Perspektive, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 18 (2015), S. 51–79. Als grundlegend für die europäische Hochschulgeschichte gilt nach wie vor zu Recht die vierbändige Reihe „Geschichte der Universität in Europa“: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Mittelalter, München 1993; Ders. (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2: Von der Reformation zur Französischen Revolution 1500–1800, München 1996; Ders. (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg 1800–1945, München 2004; Ders. (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 4: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, München 2010. Zur Entstehungsgeschichte siehe Andris Barblan, Von der „Universität in Europa“ zu den Universitäten Europas, in: ebd., Bd. 4, S. 485–506. Vgl. dazu Martin Göllnitz, Völkische Opposition und politische Gewalt an den Hochschulen 1930/31: Die Angriffe auf Otto Baumgarten und Walther Schücking, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 67 (2019), S. 27–42; sowie demnächst Ders., Radikalität, Unbedingtheit, Kälte. Zur Beteiligung deutscher und österreichischer Jungakademiker an politischen Gewaltakten nach dem Ersten Weltkrieg (1919–1922), in: Zeiten des Aufruhrs (Alternative/Demokratien), hg. von Marcel Bois und Frank Jacob, Würzburg 2020 [im Druck]. Ders., Der Student als Führer? (Anm. 1), S. 46. Vgl. dazu und zum Nachstehenden Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2 2008, S. 204 f.

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Probleme mit „Entschiedenheit und Unbedingtheit, mit Schärfe und Rücksichtslosigkeit zu lösen“. Der Terminus Politik schließt somit jede Form der Kommunikation und Kooperation vonseiten der Studierenden mit Staats- oder Parteistellen im 19. und 20. Jahrhundert ein, wodurch jedes Handeln politisch ist, das auf Machterhaltung, -erweiterung und -steuerung zielt.31 Wie neuere Studien zur Geschichte der politischen Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert vielfach belegen, agieren Menschen überwiegend dann gewalttätig, wenn sie keinen anderen Ausweg erkennen.32 Zumeist müssen im Vorfeld viele Barrieren überwunden werden, bevor jemand zu so extremen militanten Ausdrucksformen greift wie die in diesem Band zu betrachtenden studentischen Akteure. Um derartige Radikalisierungsprozesse33 aufzuzeigen, liegt den Beiträgen eine von Sven Reichardt jüngst vorgeschlagene Definition zugrunde, wonach unter Radikalen all jene Personen zu verstehen sind, „die ihre Ziele mit Gewalt und kompromisslos in grundlegender Opposition zur herrschenden Ordnung verfolgen.“34 Radikalisierung ist dabei keineswegs als Ereignis zu begreifen, sondern muss vielmehr als ein verzeitlichter Prozess der Progression geschildert werden, der, abhängig von persönlichen Beziehungen, interpersonellen Netzwerken und Gruppendynamiken, mit dem Mechanismus eines Fließbandes, den sogenannten „action pathways“, vergleichbar ist. Vielfältige Einflüsse und Elemente bedingten in diesem Kontext die Radikalisierungsprozesse der zu untersuchenden Studierenden. Oder anders gewendet: Die Bereitschaft, immer gewalttätiger zu werden, beruht auf einer Kette von 31

Vgl. Rüdiger Hachtmann, Wissenschaftsmanagement im „Dritten Reich“. Geschichte der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Bd. 1 (Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft im Nationalsozialismus 15), Göttingen 2007, S. 24 f. 32 Vgl. Randall Collins, Entering and Leaving the Tunnel of Violence: Microsociological Dynamics of Emotional Entrainment in Violent Interactions, in: Current Sociology 61 (2012), S. 132–151; Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 366–386, hier S. 372 f. 33 Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge unterscheiden somit zwischen einem politischen Extremismus, der sich überdies ausschließlich in den Aktionen der NS-Studierenden sowie besonders gewalttätiger Gruppierungen wie den Tupamaros West-Berlin oder der Organisation Consul ausmachen lässt, und einem Prozess der Radikalisierung, der sich dagegen in fast allen studentischen Protestformen widerspiegelt. Schon aus diesem Grund eignet sich vornehmlich Reichardts offenes Theoriekonzept, da sich dieses auf eine breite Gruppe von historischen Akteuren für das gesamte 19. und 20. Jahrhundert anwenden lässt, wohingegen die Forschung zum Thema Extremismus zwar ein elaboriertes Theorieangebot zur Verfügung stellt, sich dabei aber vor allem auf zeitgeschichtliche Phänomene beschränkt, wodurch die hier behandelten politischen Protestformen in ihrer Gesamtheit nicht analytisch fassbar gemacht werden können. Vgl. dazu beispielsweise die Beiträge in Eckhard Jesse und Tom Mannewitz (Hg.), Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden 2018; Ralf Altenhof, Sarah Bunk und Melanie Piepenschneider (Hg.), Politischer Extremismus im Vergleich (Schriftenreihe Politische Bildung der Konrad-Adenauer-Stiftung 3), Münster 2017; Jan Ackermann et al., Metamorphosen des Extremismusbegriffes. Diskursanalytische Untersuchungen zur Dynamik einer funktionalen Unzulänglichkeit, Wiesbaden 2015; Martin Göllnitz, Thomas Wegener Friis und Adi Frimark, Writing the History of Modern International Terrorism. Where are the Puzzles?, in: Terrorism in the Cold War. State Involvement and Covert Operations, hg. von Adrian Hänni, Thomas Riegler und Przemyslaw Gasztold, London 2019 [im Druck]. 34 Dazu und zum Folgenden vgl. Sven Reichardt, Radikalisierung. Zeithistorische Anmerkung zu einem aktuellen Begriff, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017), S. 68–91, hier S. 71–74.

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zuvor erlebten Ereignissen. Nach Reichardt lässt sich ein ausgeprägter Wille zur Radikalität sogar als körperliche Disposition beschreiben, die sowohl in einem ungebrochenen Aktivismus als auch in extremen politischen Gewalthandlungen zum Ausdruck kam.35 Weiterhin wird in Anlehnung an Heinrich Popitz davon ausgegangen, dass grundsätzlich alle Menschen das Potenzial zum gewaltsamen Agieren besitzen und Gewalt keineswegs sinnfrei ist, sondern als Kommunikationsakt verstanden werden muss, der neue Anschlusskommunikationsmöglichkeiten mit weiteren Akteuren evozieren kann.36 Analog zum Terminus der Politik können damit radikale und gewalttätige Praktiken als immer wiederkehrende Mittel menschlicher Interaktion verstanden werden. Unter den hier beschriebenen Prämissen und unter Hinzuziehung des von Reichardt zur Diskussion gestellten Konzepts wird also der Versuch unternommen, das rigorose und militante Verhalten deutscher und österreichischer Hochschülerinnen und Hochschüler im 19. und 20. Jahrhundert zu analysieren. Dabei wird anhand der in den Blick genommenen Akteure und Gruppen immer auch sichtbar, dass der phasenbezogene und dynamische Prozess der Radikalisierung stets abhängig von der jeweiligen Situation und den Bedingungskontexten war. So spielten etwa Revolutionen, Kriege oder politische Systemwechsel naturgemäß eine ebenso wichtige Rolle wie bereits vorhandene oder neu ausgehandelte Beziehungskonstellationen – sei es innerhalb des militanten Milieus, in dem sich die gewaltbereiten Studierenden bewegten, worunter beispielsweise gewalttolerierende Hochschulgruppen, militärische Verbände, staatsfeindliche Sammlungsbewegungen sowie terroristische Organisationen zu verstehen sind, oder zwischen den radikalen Überzeugungstätern und jener Gesellschaft, innerhalb derer die Hochschülerschaft ihrem politischen Puls Durchschlagskraft verlieh. Schließlich ist noch die eigendynamische Kraft von Gewaltverhältnissen einzubeziehen, welche sowohl zielgerichtet als auch situationsspezifisch codiert ist.37 Das zentrale Anliegen des Themenschwerpunkts ist es somit, die wechselseitigen Beziehungen zwischen den studentischen Gewalttätern und der sie umgebenden Gesellschaft kritisch zu beleuchten. Die Autorinnen und Autoren fragen daher verstärkt nach dem „Wie“ der Radikalisierung, weniger nach dem „Warum“.

3. DIE BEITRÄGE Die im Folgenden abgedruckten Aufsätze befassen sich mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und aus heterogenen Perspektiven mit spezifischen Aspekten der hier 35 36

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Ebd., S. 80. Vgl. dazu Dagmar Ellerbrock und Klaus Weinhauer, Perspektiven auf Gewalt in europäischen Städten seit dem 19. Jahrhundert, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (2013), Nr. 2, S. 5–20, hier S. 9 f.; Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 2 1992, S. 50. Vgl. dazu Ellerbrock/Weinhauer, Perspektiven auf Gewalt (Anm. 36), S. 9; Andreas Pettenkofer und Christoph Liell, Kultursoziologische Perspektiven in der Gewaltforschung, in: Kultivierungen von Gewalt. Beiträge zur Soziologie von Gewalt und Ordnung, hg. von Dens. (Kultur – Geschichte – Theorie. Studien zur Kultursoziologie 2), Würzburg 2004, S. 9–40.

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skizzierten Ausdifferenzierung von studentischer Gewalt beziehungsweise Radikalität und illustrieren ihre Thesen jeweils an Fallbeispielen. Sie sind aus der bereits erwähnten Konferenz, die am 6. und 7. Juli 2017 in Greifswald stattfand, hervorgegangen.38 Mit der vorliegenden Aufsatzsammlung ist ein thematischer Querschnitt entstanden, der versucht, der Forschung auf diesem Gebiet wichtige Impulse zu vermitteln. In ihren Texten bearbeiten die Autorinnen und Autoren ausgesprochen vielfältige historische Bereiche – sie thematisieren politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren, Hochschulen und Städte, Akteure und Gemeinschaften. Sie spiegeln somit das zentrale Anliegen der Herausgeber: eine bewusste, konzeptionelle Pluralisierung von moderner Universitätshistoriographie. Im Idealfall stehen die hier umrissenen Arbeitsfelder also nicht losgelöst nebeneinander, sondern ergänzen sich in einer Form, dass sie immer auch in größere historische Zusammenhänge eingebettet werden können. Ein ganzes Bündel an Forschungsdesideraten wirft schon der Eröffnungsbeitrag von Konrad H. Jarausch auf, der darin das Ausmaß an Präsenz und Relevanz studentischer Gewalt von den Befreiungskriegen bis zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung analysiert. Anhand der exemplifizierten Beispiele aus zwei Jahrhunderten Studierendengeschichte zeigt der Autor auf, dass die Radikalisierungsprozesse in Wellen stattfanden, denen stets Perioden relativer Ruhe folgten. Obgleich es auf dem Höhepunkt der studentischen Proteste und Gewaltakte so ausgesehen haben mag, als würden die Studierenden dauerhaft aufbegehren, so ist ihre Radikalisierung doch eher eine Ausnahme, die nur auf eine Minorität zutrifft. In seiner Untersuchung zur Greifswalder „Gesellschaft der Volksfreunde“ hinterfragt Dirk Alvermann den Radikalisierungsprozess innerhalb einer studentischen Gruppierung, wobei er den Wandel von „dogmatischen Theoretikern“ zu „radikalen Socialisten“ anhand ausgewählter politischer Biographien in den Blick nimmt. Die Radikalität sei je nach zeitgenössischem Betrachter, so die Einschätzung von Alvermann, unterschiedlich hoch eingestuft worden und unterlag mannigfaltigen Merkmalen. In einem Beitrag, der die Anerkennungskämpfe jüdischer Studentenverbindungen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ausleuchtet, spürt danach Miriam Rürup den Herausforderungen nach, die sich deren Mitgliedern infolge eines ab den 1880er Jahren rapide zunehmenden Antisemitismus’ an den Hochschulen darboten. So weist Rürup darauf hin, dass die auf Fechtboden und Kneipe zur Schau gestellte Männlichkeit als Vehikel zur Aufnahme in die Hegemonialgesellschaft beziehungsweise in die deutsche Nation diente. Die Studentenverbindung erwies sich somit gerade für die Studenten als Ort der Manns- und Deutschwerdung gleichermaßen. Im Zentrum des Textes von Martin Göllnitz steht die Beteiligung von österreichischen und deutschen Studenten in paramilitärischen Verbänden und Terrororganisationen 38

Die Referate von Harald Lönnecker („zum fechten wider alle Welt gebildet“. Deutsche Studenten in den Befreiungskriegen 1813–1815), Jan Schlürmann („. . .und sie kamen wieder mit Schwertern in der Hand“. Studentische Gewalt im Vormärz und der 1848er Revolution zwischen Anspruch und Wirklichkeit), Arndt Weinrich (Politischer Protest und Totenkult. Das studentische Langemarck-Gedenken in der Weimarer Republik) und Frank Grobe (Diskursverweigerung und „Jagd auf Korporierte“ als Mittel studentisch-politischer Auseinandersetzung seit 1990) konnten nicht publiziert werden.

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Oliver Auge und Martin Göllnitz

nach 1918/19. Nach Göllnitz waren fieberhafte Rastlosigkeit und entschiedene Gewaltbereitschaft die dominierenden Merkmale jener Jungakademiker, die sich für gegenrevolutionäre, grenzkämpferische oder terroristische Ideen respektive Ziele engagierten und dabei politische Gewalt als legitimes Mittel der Kommunikation favorisierten. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang auch, welche Faktoren die aufgezeigten Radikalisierungsprozesse bedingten und gegebenenfalls sogar beschleunigten. Michael Grüttner stellt die Gewalttaten an den deutschen Hochschulen in der Schlussphase der Weimarer Republik dar. Er zeigt auf, dass sich die Studierenden bereits vor 1933 mit großem Enthusiasmus für den Nationalsozialismus engagierten. Als gewichtige Ursachen hierfür macht Grüttner eine greifbare Furcht vor der gesellschaftlichen Deklassierung sowie den im verbindungsstudentischen Milieu gepflegten Nationalismus, oftmals eng verzahnt mit einem radikalen Radauantisemitismus, aus. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses von Jan Mittenzwei steht dann der Radikalisierungsprozess innerhalb der pommerschen Studentenschaft gegen Ende der Weimarer Republik, der schließlich im sogenannten Greifswalder „Blutsonntag“ vom 17. Juli 1932 gipfelte. Im Anschluss an einen SA-Aufmarsch kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, bei denen auch ein studentisches Mitglied der örtlichen Sturmabteilung tödlich verletzt wurde. Für den NS-Studentenbund Pommerns, so die These Mittenzweis, markierte der Greifswalder „Blutsonntag“ den Höhepunkt seiner „Kampfzeit“. Wolfgang Kraushaars Beitrag zu den „Tupamaros West-Berlin“, einer linksextremistischen Terrororganisation, die sich zum Ende der 1960er Jahre aus den radikalisierten Teilen der damaligen Studentenbewegung rekrutierte, erlaubt differenzierte Einblicke im Hinblick auf studentische Transformationsprozesse, die letztlich sogar in Terrorismus münden konnten. In seiner Analyse kommt Kraushaar zu dem Schluss, dass die „Tupamaros West-Berlin“ davon überzeugt waren, dass Gewalt die einzige Kommunikationsform sei, die von allen verstanden werde. Den Ausbruch von Gewalt nahmen sie demnach als klärend wahr, wohingegen sie Selbstkontrolle und Affektdomestizierung vehement ablehnten. Mit einer Protestbewegung des 21. Jahrhunderts beschäftigt sich nachfolgend Elisabeth Westphal, indem sie der aufgestauten Kritik und Unzufriedenheit österreichischer Studierender hinsichtlich der Bologna-Reformen nachspürt, die – ausgehend von Österreich – ab 2009 zu Protesten in ganz Europa führten. Die Proteste an den einzelnen Hochschulen waren naturgemäß von den lokalen Zuständen geprägt, was unterschiedliche Reaktionen und Ausformulierungen zur Folge hatte. Physische Gewalt spielte in diesem Zusammenhang aber offenbar eine untergeordnete Rolle, wodurch es den meisten österreichischen Universitätsleitungen möglich war, den Studierenden ein gewisses Maß an Verständnis entgegenzubringen und mit diesen auch zu kooperieren. Zum Abschluss des Themenschwerpunktes fasst Holger Zinn noch einmal die Kernergebnisse der Tagung zusammen und bündelt diese in insgesamt acht Thesen, die als Entwicklungslinien über den gesamten Analysezeitraum hinweg fassbar werden und die darüber hinaus als Impulse für künftige Forschungsbemühungen zu verstehen sind.

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Die Betrachtung studentischer Protest- und Gewaltformen und damit zusammenhängend die Analyse eines radikal-militanten Politikverständnisses von Studierenden erscheint also in vielerlei Hinsicht lohnenswert und fruchtbar. Mit Blick auf den Untersuchungszeitraum gilt es, Kontinuität und Wandel von studentischer Gewalt sowie die konkreten Mechanismen der Gewaltausübung beziehungsweise der Artikulation von Protest analytisch fassbar zu machen. Die Kontinuität etwa von Praktiken militanten Verhaltens bedeutet nicht, „dass es sich um kulturelle Konstanten handelt, sondern, dass sich diese im Akt der Wiederholung auch ständig verändern“.39 Ähnliches gilt etwa für die Vorstellungen politischer Partizipation oder die ideologischen Transformationsprozesse von den Befreiungskriegen bis hin zu den Studentenunruhen der 1960er Jahre. Die konkreten Handlungspraxen, Aktionsformen und Weltbilder „unterlagen einem permanenten Wandel, sind aber gleichwohl strukturbildend und erstaunlich persistent“.40 Eine der großen Herausforderungen dürfte es für künftige Untersuchungen sein, den aktuellen Forschungsstand zu bündeln, zu systematisieren und inzwischen überholte Narrative und Befunde zu korrigieren. Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstr. 8, 24118 Kiel, [email protected] Dr. Martin Göllnitz Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Str. 6c, 35032 Marburg, [email protected]

39 40

Füssel/Wagner, Studentenkulturen (Anm. 3), S. 54. Ebd.

STUDENTISCHER PROTEST IM WANDEL DER ZEITEN Ideologische Seitenwechsel der Studierenden im 19. und 20. Jahrhundert Konrad H. Jarausch

Abstract: This essay addresses the ideological transformation of German students in the nineteenth and twentieth centuries from left to right and back. Using seven crucial incidents, beginning with the Wartburg celebration of the national and liberal Urburschenschaft in 1918, the discussion progresses through student involvement in the revolution of 1848, to the founding of the anti-Semitic student association VDSt which solidified social prejudice against Jews. The result of this nationalist wave was the blood toll of German students at Langemarck in the First World War and the book burning of the Nazi students in 1933. It took the disastrous consequences of the Nazi dictatorship, war and Holocaust to turn the students to the Left again, culminating in the 1968 generational revolt and the student protests during the peaceful revolution of 1989. This surprising reversal of affiliations suggests that student involvement is malleable, moving as cutting edge of public opinion from one ideological extreme to the other.

In den Medien tauchen Studierende meist nur durch Meldungen über Proteste auf, wenn sie Universitäten besetzen und Reformen fordern. In den letzten Jahrzehnten hat die strukturelle Unterfinanzierung der deutschen Hochschulen manchen Anlass zu Demonstrationen gegeben, die eine Verbesserung der Studienbedingungen verlangen. Auch hat der Bologna-Prozess heftigen Widerspruch gegen die Einführung der strafferen Bachelorstudiengänge ausgelöst, die als „Verschulung“ verteufelt werden. Gleichzeitig hat sich studentischer Ärger gegen in anderen Ländern gängige Studiengebühren gerichtet, die als Verletzung der Chancengleichheit abgelehnt werden. Im Jahre 2009 gipfelten diese Proteste in einem nationalen Studierendenstreik, in dem bis zu 230 000 Studierende bundesweit auf die Barrikaden gingen, um ihre gewohnte Freiheit gegen administrative Versuche der Rationalisierung des Studiums zu verteidigen.1 In der Hitze solcher Auseinandersetzungen ist es der Hochschullehrerschaft und den Studierenden nur selten bewusst, dass sie ein Konfliktritual aufführen, das bereits eine zweihundertjährige Tradition hat. Aufgrund solch studentischer Demonstrationen ist im gebildeten Publikum der irreführende Eindruck entstanden, dass Studierende quasi automatisch ideologisch links anzusiedeln seien. Das mag zu einigen Zeiten wie im Vormärz oder während der Generationsrevolte von 1968 zutreffen, ist aber für weite Zeiträume durchaus irreführend. So war die Studierendenschaft vom Kaiserreich bis zum Dritten Reich

1

Siehe hierzu den Beitrag „Bildungsstreik auch heute fortgesetzt“ in der Tagesschau-Ausgabe vom 18.06.2009.

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mehrheitlich rechts ausgerichtet, da sie einem radikalen Nationalismus und Antisemitismus huldigte und liberale Strömungen vehement bekämpfte. Trotz ihrer rhetorischen Kritik agieren Studierende in letzter Zeit eher strukturkonservativ und protestieren gegen Veränderungen, die ihre vermeintlichen Rechte beschneiden wollen. Auch wenn Studierende immer wieder aufbegehren, ist ihre Stoßrichtung keineswegs nur auf der linken Seite zu finden. Die analytische Herausforderung besteht deswegen darin, ideologische Seitenwechsel überzeugend zu erklären.2 Leider bietet die vorhandene Literatur zur Studierendenschaft nur eine begrenzte Hilfe für einen solchen Langzeitvergleich. Meist atmen Korporationsgeschichten den nostalgischen Geist alter Herren für die verlorene Burschenherrlichkeit ihrer Jugend und haben deswegen höchstens indirekten Quellenwert.3 Die Festschriften der Hochschulen zu runden Gründungsjubiläen feiern ihre wissenschaftliche Leistung, behandeln aber Lehre und Studium oft nur am Rande. Zu einigen Spezialthemen wie dem Duell, dem Frauenstudium oder den Werkstudenten sind zwar hervorragende Einzelstudien erschienen. Aber erst wenn Studierende in der allgemeinen Politik auftauchen, wie in der Durchsetzung des Nationalsozialismus in den Hochschulen, erregen sie breitere Aufmerksamkeit.4 Seit der grundlegenden Synthese von Friedrich Schulze und Paul Ssymank von 1931 gibt es nur meinen Überblick über deutsche Studenten (1800–1970), der allerdings schon 1984 erschienen ist. Auch weitere Initiativen des Instituts für Hochschulkunde hatten bisher nur wenig Resonanz.5 Die folgenden Bemerkungen werden daher einige Bilder aus dem bunten Album deutscher Studentengeschichte auswählen, welche die Abfolge radikaler Überzeugungstäter illustrieren. Um die jeweiligen Entstehungssituationen ins Gedächtnis zu rufen, beschreiben sie zunächst ein Schlüsselereignis und stellen es dann in einen breiteren Kausalkontext. Daran anschließend skizzieren sie die Rhetorik und Ziele der Aktivisten, um schließlich ihre Erfolge oder Fehlschläge zu bewerten. Ein solch großer Bogen vom frühen 19. bis ins späte 20. Jahrhundert soll die Dramatik der ideologischen Seitenwechsel sukzessiver Studentengenerationen verdeutlichen. Die akademische Jugend ist in der Tat immer wieder in Bewegung gewesen – aber ihre Gesellschaftsformen und Ideologien haben sich über die Jahrzehnte hinweg drastisch gewandelt.

DAS WARTBURGFEST Am 18. Oktober 1817 trafen sich etwa 470 Studenten, einige Jenaer Professoren und andere Gebildete in Eisenach zur Feier des dritten Jahrhunderts der Reforma2 3 4

5

Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten. 1800–1970 (edition suhrkamp NF 258), Frankfurt a. M. 1984. Robert Lebeck (Hg.), Gaudeamus igitur. 80 alte Postkarten (Die bibliophilen Taschenbücher 178), Dortmund 1980. Vgl. dazu neuerdings Martin Göllnitz, Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärskorps am Beispiel der Universität Kiel (1927–1945) (Kieler Historische Studien 44), Ostfildern 2018. Friedrich Schulze und Paul Ssymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart 1931 (Studentenhistorische Bibliothek 4), Schernfeld 4 1991.

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tion, des Sieges [in der Völkerschlacht] bei Leipzig und der ersten freudigen und freundschaftlichen Zusammenkunft deutscher Burschen. Nach dem Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ hielt der Theologe Arminius Riemann eine flammende Rede auf den Geist der Wahrheit und Gerechtigkeit, dass wir alle Brüder, alle Söhne eines und desselben Vaterlands, eine eherne Mauer bilden gegen jegliche äußere und innere Feinde. Beim abendlichen Feuer auf der Burg appellierte der Student Ludwig Rödiger an die Kommilitonen, eines hoffenden Volkes Lehrer, Verwalter seiner heiligen Sache, Zeuge seiner Menschenwürde zu sein. Allerdings verdarb der Turner Ferdinand Maßmann mit einem überflüssigen Satyrspiel die erhebende Stimmung, indem er Schriften von Konservativen ins Feuer warf, gefolgt von einem Zopf, Schnürleib und Korporalstock. Diese offene Kriegserklärung gegen die Reaktion störte die Feier, denn sie schuf einen Präzedenzfall der Unduldsamkeit.6 Das Wartburgfest war ein Produkt der Freiheitskriege gegen Napoleon, in denen ein Teil der akademischen Jugend als Freiwillige teilgenommen hatte. Auch wenn die borussischen Historiker die Zahl von etwa 1 000 Studenten wohl etwas übertrieben haben, war die Kriegsteilnahme der Studierenden ein Anzeichen von fundamentaler Verschiebung des regional und dynastisch geprägten Patriotismus zu einem gesamtdeutschen Nationalismus unter preußischer Führung. Nach Rückkehr an die Universität bildeten Jenaer Studenten eine sogenannte Burschenschaft als einende Vertretung aller männlichen Jungakademiker, die sich über das landsmannschaftliche Brauchtum hinaus der Nation widmen wollten: Wir haben erkennen lernen, dass wir ein Volk sind, dass wir ein Vaterland haben und dass das Heil diesselben einzig in Einheit und Liebe [. . .] bestehen kann. Dazu kam auch noch ein elementarer jugendlicher Freiheitsdrang, der sich im Wahlspruch Ehre, Freiheit, Vaterland niederschlug.7 Die Ideologie, welche die Reden und Verfassungen der Burschenschafter beflügelte, war ein aus dem Protestantismus gespeister liberaler Nationalismus. Das Lutherjubiläum war nicht nur Anlass des Wartburgfestes, sondern auch Ausdruck eines anti-römischen Geistes, der die katholischen Universitäten weitgehend ignorierte. Der teils von Herder, teils auch von Jahn und Arndt inspirierte Nationalismus war ein Versuch, die in 38 Territorialstaaten zersplitterte Kulturnation der Deutschen nach dem Sieg über Napoleon nun auch politisch zu einen. Und der Liberalismus, der sich in glühenden Freiheitsbekundungen äußerte, war eine Reaktion auf die Enttäuschung der Schlussakte des Wiener Kongresses, der die Metternich’sche Reaktion im Sattel ließ, statt Fortschritte in der politischen Selbstverwaltung des Volkes zu initiieren. Die dunkle Unterseite dieser Vorstellungen war ein christlicher Antisemitismus, der Juden aus der imaginierten Volksgemeinschaft ausschloss, solange sie nicht getauft

6 7

Günter Steiger, Aufbruch. Urburschenschaft und Wartburgfest, Leipzig 1967. Herman Haupt, Die Verfassungsurkunde der Jenaischen Burschenschaft vom 12. Juni 1815, in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung, Bd. 1, hg. von dems., Heidelberg 2 1966, S. 114–161, hier S. 114–117; Vgl. Karen Hagemann, „Männlicher Muth und Teutsche Ehre“. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens (Krieg in der Geschichte 8), Paderborn 2002.

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waren. Mit diesen über die Reform des Studentenlebens hinausgehenden Ideen griff die Burschenschaft in die Politik ein.8 Eine radikale Minderheit, die sogenannten Unbedingten der Universität Gießen um Karl Follen, schreckte auch nicht vor Gewaltanwendung zurück, die ihrerseits rigorose Repression hervorrief. Am 23. März 1819 erstach der Theologiestudent Karl Sand den Schriftsteller und zaristischen Informanten August von Kotzebue als Verführer der deutschen Jugend. Dieses Attentat lieferte Metternich im Bundesrat den Vorwand, die liberale und nationale Studentenbewegung mundtot zu machen, indem er eine Mainzer Zentraluntersuchungskommission zu ihrer Verfolgung einrichtete. Trotz zahlreicher Verurteilungen lebte das subversive Ideengut im Untergrund weiter und inspirierte sogar nach der französischen Julirevolution einen Sturm auf die Frankfurter Polizeiwache im Jahre 1833. Dem fehlgeschlagenen Putsch folgten weitere Verfolgungen, die noch mehr Opfer kosteten und zahlreiche Radikale zur Emigration zwangen. Die Burschenschaft politisierte zwar die Studenten des Vormärz, konnte aber ihre Ideen nicht verwirklichen.9

DIE REVOLUTION VON 1848 An der Revolution von 1848 nahmen Studenten an führender Stelle teil, aber sie agierten nun innerhalb einer allgemeinen Volksbewegung. Karl Schurz kommentierte: Man war von einem vagen Gefühl beherrscht, als habe ein großer Ausbruch elementarer Kräfte begonnen, als sei ein Erdbeben im Gange. In vielen Universitätsstädten engagierten sich Studenten in der Bürgerwehr und beteiligten sich an der Formulierung der liberalen Märzforderungen. In Kiel kämpften sie gegen die Dänen, in München stürzten sie die königliche Mätresse Lola Montez, in Jena erzwangen sie die Ernennung eines liberalen Ministeriums, in Bonn agitierten sie die ländlichen Unterschichten und in Heidelberg forderten sie eine demokratische Republik. In Berlin kämpften Studenten auf den Barrikaden, mobilisierten Arbeiter und hatten zwei Tote zu beklagen, ehe sie den von der Krone erlassenen Reformen zustimmten. Und schließlich in Wien verjagten sie den Anführer der Reaktion, Prinz Clemens von Metternich, und bildeten eine akademische Legion, die den Fortgang der Revolution organisierte.10 Dieser revolutionäre Aktionismus war das Resultat einer Progressbewegung, die von der Forschung bisher etwas stiefmütterlich behandelt worden ist. Inspiriert von dem freieren Geist des Vormärz, propagierten diese fortschrittlichen Studenten eine Reform des studentischen Lebens und eine politische Liberalisierung, aber ihre Taktik und Organisationsform gingen über das Vorbild der Burschenschaft hinaus. 8

Konrad H. Jarausch, The Sources of German Student Unrest 1815–1848, in: The University in Society, Bd. 2: Europe, Scotland, and the United States from the 16th to the 20th Century, hg. von Lawrence Stone, Princeton 1974, S. 533–569. 9 Karin Breuer, Constructing Germanness: The Student Movement from the Burschenschaft to the Progress, 1815–1848 (unpubl. Diss. Chapel Hill 2002). 10 Karl Griewank, Deutsche Studenten und Universitäten in der Revolution von 1848, Weimar 1949.

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Der Progress bestand auf Abschaffung der lächerlichen und sinnlosen Gesetze über das Biertrinken, lehnte jeglichen Korporatismus ab und verwarf das Duell. In lockerer Vereinsform strebte er nach studentischer Selbstverwaltung durch Wahlen und Ehrengerichte, verfolgte also eine fundamentale Reform des Studentenlebens. In der allgemeinen Politik verwarf der Progress die Trennung von dem bürgerlichen Leben, beklagte den Pauperismus der unteren Schichten und verlangte eine Mitsprache durch den Erlass von Verfassungen. Progressstudenten erarbeiteten also ein erstaunlich demokratisches Programm für die Hochschule sowie für das öffentliche Leben.11 Zu Pfingsten trafen sich etwa 1.200 Studierende aus allen deutschen Landen zu einem zweiten Wartburgfest, um endlich das Programm der Urburschenschaft in entschiedener Weise durchzusetzen. Bei den Debatten bildeten sich zwei Flügel, von denen aber die Linke in den Abstimmungen dominierte. Eine Adresse an die Frankfurter Nationalversammlung formulierte ihre Reformforderungen wie die Aufhebung aller Ausnahmegesetze, die Überführung der Universitäten in Nationaleigentum und unbedingte Lehr- und Hörfreiheit sowie Beteiligung der Studierenden bei der Wahl der akademischen Behörde und Besetzung der Lehrstühle. Das aus der Versammlung hervorgegangene Studentenparlament formulierte weitergehende Wünsche wie die Abschaffung der Examina, die hundert Jahre später noch aktuell waren. In der allgemeinen Politik konzentrierten sich die Forderungen auf ein freies, einiges Deutschland, obwohl Konstitutionalisten erbittert mit Republikanern über dessen genaue Form stritten.12 Dieses doppelte Reformprogramm war der Höhepunkt des studentischen Radikalismus im 19. Jahrhundert. Letztlich scheiterte der Versuch einer Demokratisierung der Hochschule ebenso wie die Revolution allgemein an eigener Unzulänglichkeit wie äußeren Widerständen. Die Spaltung in Vertreter des gemäßigten konstitutionellen Prinzips und der radikalen Demokraten, welche die Republik wollten, schwächte das Reformlager. Gleichzeitig wuchs die Opposition, denn in Jena trafen sich über 400 Corpsstudenten, die das traditionelle Brauchtum von Komment, Mensur und Fuchssystem sowie ihre soziale Exklusivität vehement verteidigten. Obwohl sie formell der Politik eine Absage erteilten, zogen die Corps reaktionäre Individuen wie Otto von Bismarck an. Auch die Stärkung der Konservativen in der Politik erleichterte es den Verwaltungen und Professoren, ihre Autorität wiederherzustellen und so die Ordinarienuniversität wie den Korporatismus zu verteidigen. Die Reste der radikalen Studenten, die in den Aufständen von 1849 mitkämpften, wurden getötet, eingekerkert oder entkamen wie Karl Schurz nach Amerika. Im Rückblick schien der gesamte Aufruhr als ein Irrweg.13

11

Siehe hierzu die Beiträge in der Zeitschrift für Deutschlands Hochschulen sowie der Akademischen Zeitschrift aus dem Jahre 1844/45. Vgl. Georg Heer, Geschichte der deutschen Burschenschaft, Bd. 3: Die Zeit des Progresses. Von 1833 bis 1859 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung 11), Heidelberg 1929. 12 Siehe hierzu die Deutsche Studentenzeitung aus dem Jahr 1848; Wolfgang König, Universitätsreform in Bayern in den Revolutionsjahren 1848/49 (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 8), München 1977; Schulze/Ssymank, Das deutsche Studententum (Anm. 5), S. 264–269. 13 Rolf-Joachim Baum (Hg.), „Wir wollen Männer, wir wollen Taten!“ Deutsche Corpsstudenten 1848 bis heute, Berlin 1998; Jarausch, Deutsche Studenten (Anm. 2), S. 54–57.

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AKADEMISCHER ANTISEMITISMUS Die nächste größere Politisierungswelle leitete einen Richtungswechsel nach rechts ein, indem sie den Antisemitismus in der Studentenschaft verbreitete. Im November 1879 schrieb der nationalliberale Historiker Heinrich von Treitschke in den Preußischen Jahrbüchern den fatalen Satz Die Juden sind unser Unglück. Auch wenn er den Rassismus ablehnte, machte er Juden für den Gründerkrach von 1873 verantwortlich und verlangte ihre kulturelle Assimilierung. Der Funke sprang schnell auf die Berliner Studentenschaft über, denn gleichzeitig organisierte Bernhard Förster eine Antisemitenpetition, welche die Einwanderung ausländischer Juden angriff. Obwohl der Althistoriker Theodor Mommsen den unermesslichen Schaden in einer Gegenerklärung brandmarkte, begann der Jurastudent Paul Dulon für eine judenfeindliche Petition zu werben, die an norddeutschen Universitäten von erstaunlichen 30 bis 50 Prozent der Studierenden unterschrieben wurde. Am 9. Dezember 1880 entstand aus der Agitation ein neuer Verein Deutscher Studenten, der sich schnell ausbreitete.14 Der unerwartete Rechtsruck der deutschen Studenten war ein Produkt des gleichzeitigen Gesinnungswandels eines wichtigen Teils des Bildungsbürgertums. In den Jahrzehnten davor hatte sich unter den Studenten ein bunter Korporatismus gebildet, in dem zahlreiche Verbindungen von den Corps bis zu religiösen Gruppierungen oder wissenschaftlichen Vereinen ein weitgehend apolitisches Studentenleben pflegten. Nicht im Gegensatz dazu stand jedoch ein warmer, wahrer Patriotismus, denn Vaterlandsliebe wurde sozusagen unter allen Gebildeten vorausgesetzt. Die durch Kriege erzwungene Reichseinigung verstärkte diese Stimmung, da sie nun endlich einen Nationalstaat schuf, auf den man stolz sein konnte. Gleichzeitig spaltete Bismarcks Abwendung den Liberalismus und bereitete einem emphatischeren Nationalismus den Boden. Die neuen Vereine Deutscher Studenten griffen dieses Gefühl auf und brachten es auf einen antisemitischen Punkt. Ihr zentraler Vereinszweck war die Hebung des deutschen Nationalgefühls für jeden Studenten deutscher Abstammung.15 Das Programm der Vereine Deutscher Studenten zielte auf eine nationalistische Repolitisierung der Studentenschaft durch Diffamierung emanzipierter jüdischer Studierender, die in überproportionaler Zahl in die Hochschulen strömten. Am 6. August 1881 trafen sich etwa 600 Studenten am symbolträchtigen Kyffhäuser, dem sagenumwobenen Sitz von Kaiser Barbarossa, zur Bekämpfung des liberalen Erbes: Heute droht nicht der Feind von außen: heute gilt es einzutreten für deutsche Art und deutsche Sitte, für deutsche Treue und deutschen Glauben gegen nackte Selbstsucht und weltbürgerliche Vaterlandslosigkeit. Ein Festredner behauptete, dass eine wirksame Beschränkung und mutige, sachliche Bekämpfung der schlechten und schädlichen Seiten des vaterlandslosen Judentums zur Rettung unseres Vaterlandes 14

Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 76), Göttingen 1988. Vgl. Karsten Krieger (Bearb.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, 2 Bde., München 2004. 15 Herman von Petersdorff (Hg.), Die Vereine Deutscher Studenten. Zwölf Jahre akademischer Kämpfe, Leipzig 3 1900.

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durchaus erforderlich ist. Diese hässliche Rhetorik knüpfte an die Hassparolen der rechtsradikalen völkischen Bewegung an, welche die Juden für gefürchtete Modernisierungstendenzen verantwortlich machte. Diese Macht patriotischer Bewegung begeisterte eine neue Generation nach der Reichseinigung.16 Bei der Verbreitung des akademischen Antisemitismus in den Universitäten waren die Vereine Deutscher Studenten erstaunlich erfolgreich, weil sie einen Nerv des Zeitgeists trafen und innovative Methoden anwandten. Die offizielle Genehmigung für ihre Organisation an den Hochschulen erhielten sie dank der Unterstützung Bismarcks, der in unserer akademischen Jugend eine erfreuliche Entwicklung nach der Richtung der Klärung und Vertiefung des nationalen Bewusstseins hin entdeckte. Liberale Studenten versuchten sich gegen die national-chauvinistische Strömung in Freien Wissenschaftlichen Vereinigungen zu organisieren. Aber mit konsequenter Bündnisbildung schafften es die Vereine Deutscher Studenten trotz begrenzter Mitgliederzahlen, die Wahlen zur Berliner Lesehalle oder zu den Studentenausschüssen meist zu gewinnen. Mit einer systematischen Agitation gelang es ihnen, in anderen Verbindungen wie den Burschenschaften und den Landsmannschaften die Aufnahme von Juden sukzessive zu verhindern. Durch solchen sozialen Druck setzte sich der Judenhass immer mehr unter Akademikern allgemein durch.17

KRIEGSFREIWILLIGE IM WELTKRIEG Der Erste Weltkrieg wurde zur Bewährungsprobe des studentischen Nationalismus, denn dabei kollidierte patriotische Begeisterung mit der grausigen Realität des Kampfgeschehens. Der Morgen kommt. Ein Schrei, erst rechts, dann überall an der ganzen Front das Signal zum Angriff, beschrieb ein Überlebender den Sturm auf feindliche Stellungen bei Ypern am 10./11. November 1914. Hurrah. . .! Kugeln hageln auf uns nieder, Maschinengewehre und Infanterie feuern. Die Opferbereitschaft von Studenten und anderen Jugendlichen führte sie ins Verderben: Stürmende Männer sinken und fallen. . . Unsere Hurrahs werden bald still, vom Eisen erstickt. Unsere Reihen werden nieder gemäht. Obwohl ganze Regimenter dabei starben, und ohnmächtige Verzweiflung durch die totenübersäten Wiesen kriecht – kommt ein Singen auf, das sterbende Augen glänzen macht und die Lebenden erbarmungslos vorwärts treibt...: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt.18 Diese

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Zitiert nach Jarausch, Deutsche Studenten (Anm. 2), S. 82–93; Miriam Rürup, Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 33), Göttingen 2008; Schulze/Ssymank, Das deutsche Studententum (Anm. 5), S. 324–333. 17 Konrad H. Jarausch, Students, Society and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic Illiberalism, Princeton 1982. Vgl. Sonja Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 170), Göttingen 2005; Lisa F. Swartout, Dueling Identities: Protestant, Catholic, and Jewish Students in the German Empire, 1890–1914 (unpubl. Diss. Berkeley 2002). 18 Wilhelm Dreyße, Langemarck 1914. Der heldische Opfergang der Deutschen Jugend, Minden 1934.

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stilisierte Schilderung illustriert die Heroisierung des Opfergangs der akademischen Jugend, die Langemarck zur Legende machte. Die patriotische Begeisterung für die Ideen von 1914 motivierte viele Studierende, sich freiwillig zu melden, noch ehe sie eingezogen wurden. Aufgrund historischer Propaganda verstanden viele den Weltkrieg als eine Wiederholung der Befreiungskriege oder der Vereinigungskriege, die ihnen nun eine Chance gab, sich selbst als Helden zu erweisen und in die Geschichtsbücher einzugehen. Vor allem Mitglieder von Verbindungen waren hochgradig militarisiert, weil sie meist als Einjährig-Freiwillige einen verkürzten Militärdienst geleistet hatten, in dem sie zu Reserveoffizieren ausgebildet worden waren. Auch die nationalen Reden der Mehrheit der Professoren (Werner Sombart: „Händler und Helden“), welche die tiefgründige deutsche Kultur gegen die flache Zivilisation der Entente verteidigten, appellierten an Reflexe nationaler Erziehung. Ein Gedicht in einer katholischen Studentenzeitschrift beschreibt den vaterländischen Enthusiasmus: Gebt mir Waffen – führt mich ins Feld/Lasst mich werden, ein deutscher Held./Für mein Land, für mein Volk im Krieg/Miterkämpfen den deutschen Sieg!19 In dieser nationalistischen Stimmung gelang es der Obersten Heeresleitung, einen militärisch sinnlosen Angriff während der Schlacht um Ypern in ein Heldenepos umzudeuten. Der Heeresbericht machte aus einer bitteren Niederlage einen glorreichen Sieg: Westlich von Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Etwa 2.000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangengenommen und sechs Maschinengewehre erbeutet. Obwohl tatsächlich 2.000 deutsche Soldaten dabei umgekommen waren und nur etwa ein Drittel der Truppen aus akademischer Jugend bestand, wurde der Angriff bei Langemarck durch zahlreiche Gedenkfeiern von rechtskonservativen Jungakademikern und Militärs in der Nachkriegszeit zum Sinnbild der Opferbereitschaft von Studierenden hochstilisiert. Im Jahre 1932 wurde schließlich auf dem Gelände der Schlacht eine Totengedenkstätte mit trutzigem und düsterem Charakter eingerichtet, die den Langemarck-Mythos perpetuierte.20 Die grausame Realität des Krieges führte bei vielen studentischen Soldaten zur radikalen Polarisierung in der Sinndeutung des Kampfes. Zwischen der Hälfte (1914) und zwei Drittel (1918) der Studierenden diente im Militär und etwa 16.000 zahlten mit ihrem Leben dafür – ein höherer Prozentsatz als in anderen sozialen Schichten. Ihre Kriegsbriefe an die Heimat spiegeln die anfängliche Begeisterung, die aber bald

19

L. R., Es gilt!, in: Academia. Zeitschrift des Cartellverbandes der Katholischen Deutschen Studentenverbindungen 27 (1914), S. 205; Karen Hagemann, Revisiting Prussia’s Wars against Napoleon. History, Culture, and Memory, Cambridge 2015, S. 397–416; Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, Leipzig/München 1915. Vgl. Jarausch, Deutsche Studenten (Anm. 2), S. 106–108. 20 Ulrike Brunotte, Mythos Langemarck. Vor neunzig Jahren begann ein folgenreicher deutscher Totenkult, in: Frankfurter Rundschau (11.11.2004). Vgl. Arndt Weinrich, Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte 27), Essen 2013; Bernd Hüppauf, Langemarck, Verdun and the Myth of a New Man in Germany after the First World War, in: War & Society 6 (1988), Nr. 2, S. 70–103.

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der Ernüchterung wich: Mit welcher Freude, welcher Lust bin ich hinausgezogen in den Kampf. . . Mit welcher Enttäuschung sitze ich hier, das Grauen im Herzen. Kriegsteilnehmer reagierten zwiespältig auf ihr Fronterlebnis. Für Kritiker wie Erich Maria Remarque war es ein heimtückischer, grausamer Massenmeuchelmord, während Unterstützer wie Ernst Jünger die Kameradschaft im Felde lobten. Die Niederlage erschwerte die Sinngebung vergeblicher Opfer, obwohl Studentenzeitschriften einen Gefallenenkult entwickelten. Die Rechte behauptete, Langemarck war die Geburtsstunde des völkischen Deutschlands, des Nationalsozialismus.21

NAZIFIZIERUNG DER STUDIERENDEN Die Aktion wider den undeutschen Geist vom Mai 1933 symbolisierte die Eroberung der Hochschule durch nationalsozialistische Studierende. Frustriert von dem schwachen Echo der nationalen Erhebung in den Universitäten, rief die Führung der Deutschen Studentenschaft zur öffentlichen Verbrennung jüdischen zersetzenden Schrifttums auf. Der antisemitische und antikommunistische Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) begann daher, Bibliotheken aufgrund einer Liste von 131 subversiven Büchern zu säubern. Die Aktion erinnerte an das Wartburgfest, da Studierende mit Fackeln zu einem Platz vor der Universität zogen, an dem sie einen Scheiterhaufen errichtet hatten. Mit dramatischen Verfluchungen warfen sie dann missliebige Bücher in die Flammen: Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte und Familie und Staat! Ich übergebe die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Gläser und Erich Kästner.22 Diese Bücherverbrennung signalisierte den anti-intellektuellen Geist der NS-Machtergreifung in den Hochschulen. Statt dem braunen Ungeist die Stirn zu bieten, zeigten sich die deutschen Studierenden überraschend kooperationsbereit gegenüber dem Nationalsozialismus. Obwohl in den frühen Jahren der Weimarer Republik sich auch demokratische und sozialistische Studentengruppen gebildet hatten, war die überwältigende Tendenz der Korporationsstudenten nationalistisch und sogar rassistisch. Daher konnte der erst 1926 gegründete NSDStB durch Bündnisse mit konservativen Gruppierungen die Wahlen zur Studentenvertretung an vielen Universitäten gewinnen. Dadurch gelang es dem NS-Studentenbund trotz seiner nur begrenzten Mitgliederschaft schon 1931, die Führung in der organisierten Deutschen Studentenschaft zu erringen.23 Im Zuge der Eroberung der Hochschulen verboten die NS-Studenten alle jüdischen, demokratischen und sozialistischen Vereine. Gleichzeitig begrüßten sie das Gesetz gegen die

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Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Berlin 1929; siehe dagegen etwa Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, Hannover 1920. Vgl. Jarausch, Deutsche Studenten (Anm. 2), S. 109–116; Schulze/Ssymank, Das deutsche Studententum (Anm. 5), S. 452–454; Robert Wohl, The Generation of 1914, Cambridge 1979, S. 42–84 22 Christian Graf von Krockow, Scheiterhaufen. Größe und Elend des deutschen Geistes, Berlin 2 1983; Werner Treß, „Wider den undeutschen Geist!“. Bücherverbrennung 1933, Berlin 2008. 23 Göllnitz, Student als Führer (Anm. 4); Anselm Faust, Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund. Studenten und Nationalsozialismus in der Weimarer Republik, 2 Bde., Düsseldorf 1973.

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Überfüllung der Hochschulen, das kommunistische Studierende ausschloss, die Zahl der Juden drastisch reduzierte und eine Frauenquote einführte.24 Die Gleichschaltung der Korporationen erwies sich dennoch als ein konfliktreicher und zeitaufwendiger Prozess, dem mehr äußerlicher als innerer Erfolg beschieden war. Ein Problem war die Rivalität zwischen nazifizierter Studentenschaft und dem NSDStB, da beide die Führung der Studierenden beanspruchten. Zwar waren vor allem rechte Verbindungen wie die Burschenschaft bereit, sich selbst zu nazifizieren, indem sie das Führerprinzip einführten und nationalsozialistisches Gedankengut verbreiteten. Aber der Plan der Reichsstudentenführung, die Korporationen durch NS-Kameradschaften zu ersetzen, löste hinhaltenden Widerstand der gut vernetzten Verbindungen aus, der erst 1936 überwunden werden konnte. Bereits ab 1934 sollte das Gros der Studierenden in Kameradschaftshäusern leben, die aber meist aus früheren Verbindungshäusern bestanden. Dadurch war es einzelnen Organisationen möglich, getarnt als Kameradschaften ihre traditionellen Studentenrituale weitgehend aufrechtzuerhalten. Auch wenn sie nationalistische und antisemitische Ziele teilten, wollten sich die Verbindungen nicht selbst auflösen.25 Die Nazifizierung der Studentenschaft führte zwangsläufig zu einem drastischen Niveauverfall in den wissenschaftlichen Leistungen der Studierenden. Im Dritten Reich waren die Studierenden permanent überbeansprucht, denn der Studentenbund organisierte endlose Schulungslager zur Indoktrinierung. Eine weitere Auflage war die paramilitärische Ausbildung im Wehrsport, die viel Zeit in Anspruch nahm. Dann war da noch die Verpflichtung des Reichsarbeitsdienstes, der meist vor dem Studium abgeleistet werden musste. Da die Studentenzahlen aufgrund der antisemitischen Säuberungen, der kleineren Weltkriegskohorten und der Wiederbewaffnung drastisch zurückgingen, senkte das Reichserziehungsministerium die intellektuellen Anforderungen. Langsam regte sich gegen den Rückgang der akademischen Leistungen sogar einiger professoraler Widerspruch, der aber kaum Erfolg hatte. Schließich landeten die NS-Studierenden dort, wohin sie ihre rassistische und militaristische Rhetorik geführt hatte – im Blutbad des Zweiten Weltkrieges.26

GENERATIONSREVOLTE VON 1968 Eine Generation später stand die Studierendenschaft im Rahmen des Internationalen Vietnamkongresses dagegen auf Seiten der anti-imperialistischen Linken. Mitte Februar 1968 versammelten sich etwa 5.000 Studierende im Audimax der Technischen Universität in Berlin, um ihren Widerstand gegen die amerikanische Intervention

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Vgl. dazu Albrecht Götz von Olenhusen, Die „nichtarischen“ Studenten an den deutschen Hochschulen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 14 (1966), Nr. 2, S. 175–206; Michael H. Kater, Studentenschaft und Rechtsradikalismus in Deutschland 1918–1933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weimarer Republik (Historische Perspektiven 1), Hamburg 1975. Geoffrey J. Giles, Students and National Socialism in Germany, Princeton 1985. Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn 1995; Göllnitz, Student als Führer (Anm. 4).

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im Vietnamesischen Bürgerkrieg zu demonstrieren: Eine entscheidende Konfrontation findet zwischen der internationalen Revolution und Gegenrevolution statt. Der charismatische Soziologiestudent Rudi Dutschke hielt eine flammende Rede, in der er Unterstützung für den Befreiungskampf des Vietcongs mit einem Aufruf zum Umsturz in den westlichen Metropolen verband: Die wirkliche Solidarität mit der vietnamesischen Revolution besteht in der aktuellen Schwächung und prozessualen Umwälzung der Zentren des Imperialismus. Die Springer-Presse und der Berliner Senat organisierten eine Gegendemonstration unter dem Motto Unsere Stadt steht für Freiheit und Frieden. Jedoch war es der Appell zur Revolutionierung der Revolutionäre, der den Höhepunkt der Studentenrevolte markierte.27 Die erneute Linkswendung der Studierenden nach 1945 hatte zahlreiche Ursachen, die sich zu einem rebellischen Gemisch verbanden. Der tiefere Hintergrund war die Diskreditierung des Nationalismus durch die vernichtende Niederlage des Zweiten Weltkriegs und die ideologische Umerziehung durch die Alliierten. Der Generationskonflikt der 1960er Jahre war besonders ausgeprägt, weil der Verlust der elterlichen Autorität es den Kindern des Wohlstands erlaubte, die Diskrepanz zwischen demokratischer Rhetorik und autoritärer Praxis anzuprangern. Sie waren fasziniert von dem antiautoritären Lebensstil der Provos und Situationisten, der freiere Sexualität, lautere Musik und unangepasstes Aussehen propagierte. Auch die Überfüllung und Ordinarienherrschaft der Universitäten schürten einen Geist der Revolte, der durch Vorbilder des Widerstands aus den USA und Frankreich verstärkt wurde. Schließlich provozierte der schockierende Tod von Benno Ohnesorg durch den Schuss des für die Stasi arbeitenden Polizisten Karl-Heinz Kurras während einer Anti-Schah-Demonstration in Berlin eine Welle des Protests.28 Die ideologischen Ziele der Studentenrevolte kreisten um drei Themen, welche die unterschiedlichen Strömungen der Demonstrationen charakterisierten. Aus dem künstlerischen Lager kam ein anti-autoritärer Impuls der avantgardistischen Lebensgestaltung, der eine Anpassung an bürgerliche Normen ablehnte. Überhöht wurde diese Richtung durch die kritische Theorie von Mitgliedern der Frankfurter Schule wie Herbert Marcuse. Ein zweiter wirkungsmächtiger Strang kam aus dem neo-marxistischen Lager der Neuen Linken, die mit dem Faschismusbegriff eine Gesellschaftskritik anbot, die den Nationalsozialismus strukturell mit dem westdeutschen Kapitalismus gleichsetzte. Solidarität mit anti-imperialistischen Befreiungskämpfen nach dem Vorbild von Mao oder Che Guevara inspirierte eine 27

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Jürgen Miermeister und Jochen Staadt (Hg.), Provokationen. Die Studenten- und Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1965–1971 (Sammlung Luchterhand 322), Darmstadt 1980; Quinn Slobodian, Foreign Front. Third World Politics in Sixties West Germany (Radical perspectives), Durham 2012. Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA (Beck’sche Reihe 2183), München 2001; Martin Klimke, The Other Alliance. Student Protest in West Germany and the United States in the Global Sixties (America in the World), Princeton 2010; Zur Diskussion über die Hintergründe der Tötung Ohnesorgs und die Motive Karl-Heinz Kurras’ vgl. Sven Felix Kellerhoff, Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex, Hamburg 2010; Armin Fuhrer, Wer erschoss Benno Ohnesorg? Der Fall Kurras und die Stasi, Berlin 2009; Helmut Müller-Enbergs und Cornelia Jabs, Der 2. Juni 1967 und die Staatssicherheit, in: Deutschland Archiv 42 (2009), Nr. 3, S. 395–400.

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Selbststilisierung als Stadtguerilla in den Metropolen. Oft übersehen wird dagegen eine dritte basisdemokratische Strömung, die bestehende Institutionen reformieren statt abschaffen wollte. Aktivisten dieser Gruppe konzentrierten sich vor allem auf die Reform der Universitäten durch Forderungen wie Drittelparität.29 Gemessen an ihren hochtrabenden Zielen war die Studentenbewegung der 1960er-Jahre ein eklatanter Fehlschlag. Trotz der Theorie einer neuen Klasse, die Angestellte als neues Demonstrationsreservoir identifizierte, weigerten sich die von den Segnungen des Wirtschaftswunders verwöhnten Arbeiter auch in Frankreich und den USA, die ihnen zugedachte Rolle als revolutionäres Subjekt anzunehmen. Zwar gelang es den Antiautoritären, durch Kommerzialisierung einen entspannteren Lebensstil von Sex, Drogen und Rockmusik durchzusetzen. Aber die Neo-Marxisten verrannten sich in dem Ghetto rivalisierender K-Gruppen, die sich mehr gegenseitig als den Klassenfeind bekämpften. Noch wirkungsloser war die Wende von Gewalt gegen Dinge zur Gewalt gegen Menschen, die den Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) inspirierte. Sie resultierte in der Ermordung einiger Dutzend Menschen, führte jedoch letztlich ins politische Abseits. Nur die Basisdemokraten leisteten mit dem langen Marsch durch die Institutionen einen wichtigen Beitrag zur Fundamentalliberalisierung der Bundesrepublik.30

FRIEDLICHE REVOLUTION Im Sturz des Kommunismus in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) spielten die Studierenden dagegen nur eine untergeordnete Rolle, da sie systemkonform ausgewählt und streng überwacht wurden. Erst am 11. Oktober 1989 wagten kritische Studierende der Humboldt-Universität, sich zu einem stummen Protest gegen die brutale Niederschlagung von Demonstrationen zu versammeln. Daraus bildete sich am folgenden Tage eine Studierendenversammlung, die eine offene Informationspolitik, Reisefreiheit jetzt, mehr sozialistische Demokratie und Reformierung des Wahlsystems verlangte. Erschreckt von dieser unabhängigen Initiative, versuchte die Hochschulleitung die Proteste in einen Dialog mit der Partei zu kanalisieren. Dennoch verabschiedeten Vertreter der Sektionen minimale Reformforderungen wie Zulassung des gewaltfreien Protests, Gründung einer Studentenzeitung, Verbot von Zensur und freien Zugang zu Bibliotheken. Am 17. Oktober probten dann im Hauptgebäude 4.000 bis 6.000 Studierende Basisdemokratie in offener Diskussion und forderten die Einsetzung eines unabhängigen Studentenrates.31 Timothy S. Brown, West Germany and the Global Sixties. The Anti-Authoritarian Revolt, 1962–1978 (New Studies in European History), Cambridge 2013; Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008. 30 Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München 2004, S. 204–238; Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977 (Fischer 15573), Köln 5 2011. 31 Konrad H. Jarausch, Das Ringen um Erneuerung 1985–2000, in: Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die Humboldt-Universität zu Berlin 1945–2010, hg. von dems., Matthias Middell und Annette Vogt (Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010 3), Berlin 2012, S. 555–690. 29

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Die Zaghaftigkeit der Studierenden in der Opposition gegen die Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands war ein Resultat sowohl von Repression gegen Dissidenz als auch von Anreizen zur Konformität. In den Anfangsjahren unterdrückte die Partei konsequent alle liberalen Strömungen, um die bürgerliche Festung Wissenschaft für den Sozialismus zu erobern. Auch die Förderung von Studierenden, die von Arbeitern und Bauern abstammten, machte die Auserwählten dankbar für das Angebot offener Bildungschancen. Die Kombination von ideologischer Kontrolle der Zulassung zum Studium und Privilegierung durch Verleihung von Stipendien schuf eine ziemlich konforme Studierendenschaft. Zur Verschulung des Curriculums durch Pflichtveranstaltungen kamen noch eine konsequente Rotlichtbestrahlung durch die Freie Deutsche Jugend (FDJ) und die zahlreichen Einsätze in Erntehilfe und Militärsport. Wenn Studierende wie anlässlich der Unterdrückung des Prager Frühlings protestierten, wurden sie in die Produktion verbannt. Die meisten Studierenden reagierten darauf mit einer Mischung von Anpassung und Apathie.32 Ideologisch tendierte die Mehrheit der ostdeutschen Studierenden während der friedlichen Revolution zur Unterstützung eines Dritten Wegs zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Zur Emanzipation von der FDJ stimmten Studierende der Humboldt-Universität Berlin in einer Urabstimmung für die Schaffung eines unabhängigen Studentenrates, der ein Konzept für ein freies und eigenverantwortliches Studium entwickeln sollte. In einem republikweiten Treffen der neuen Studierendenvertretungen wehte fast ein Geist von 68 in der Hoffnung auf eine akademische Basisdemokratie. In den heißen Debatten über Hochschulreform bestanden die Studierenden auf Partizipationsmöglichkeiten, um ihre Ideen einzubringen. Gleichzeitig unternahmen sie Massenaktionen zur Verteidigung ihrer Stipendien, als diese wegen fehlender Steuermittel rigoros zusammengestrichen wurden. Schließlich solidarisierten sie sich mit dem wegen Stasiverbindungen umstrittenen Rektor der HumboldtUniversität, indem sie Unsern Heiner nimmt uns keiner skandierten. Ihr eigentliches Ziel war daher die Demokratisierung des Sozialismus statt einer Überstülpung des westlichen Systems.33 Durch ihre vorsichtige Beschränkung auf eigene Belange gelang es den DDRStudierenden lediglich, im Rahmen der Befreiung der Universitäten eine Gestaltungsfunktion zu übernehmen. Sie kämpften aktiv für die Brechung des FDJ-Monopols an den Hochschulen und die Trennung von Wissenschaft und Ideologie, also die Rückkehr zur Freiheit des Studiums und der Forschung. Durch ihr basisdemokratisches Rätemodell entwickelten sie eine Form der Interessenvertretung, mit der sie die Studierenden auf Mitarbeit in der Selbstverwaltung vorbereiten wollten. Aber gleichzeitig hatten die Studentenräte auch gravierende Nachteile, weil sie eine dauernde Mobilisierung der Studierenden voraussetzten, die sich nicht durchhalten ließ. Schließlich verloren ostdeutsche Studierende mit der Einführung westdeutscher 32

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Matthias Lienert, Zwischen Widerstand und Repression. Studenten der TU Dresden 1946–1989, Köln/Weimar/Wien 2011; Marianne Müller und Egon E. Müller, „. . .stürmt die Festung Wissenschaft!“. Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitäten seit 1945, Berlin 1994 (ND Berlin 1953). Ronald Freytag und Malte Sieber, Kinder des Systems. DDR-Studenten vor, im und nach dem Herbst ’89, Berlin 1993, S. 84–90.

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Universitätsstrukturen einen erheblichen Teil der eben erst erkämpften Mitspracherechte. In dem allgemeinen Sturz des Kommunismus spielten sie aufgrund ihrer Selbstbeschränkung jedoch nur eine Nebenrolle, da der Drang der Bevölkerung nach Vereinigung ihre Utopie des Dritten Weges hinwegfegte.34

STUDENTISCHER AKTIVISMUS Dieser knappe Rückblick auf einige Bilder aus zwei Jahrhunderten der Studentengeschichte zeigt, dass Mobilisierung in Wellen stattfand, denen Perioden relativer Ruhe folgten. Auch wenn es auf dem Höhepunkt von Protesten so aussehen mag, dass die Studierenden dauerhaft aufbegehren, ist ihre Aktivierung eher eine Ausnahme, die nur auf einen Teil zutrifft. So folgte der Erregung der Freiheitskriege eine Periode Metternich’scher Repression, bis sich im Progress eine demokratische Bewegung regte, die in die Revolution von 1848 einmündete. Nach deren Fehlschlag gab es wieder eine Generation lang Ruhe, bevor nach der Reichsgründung eine antisemitische Hetze entstand, die in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs führte und schließlich in den menschenfeindlichen Verbrechen der Nazis endete. Erst zwei Jahrzehnte nach der weiteren Niederlage entstand eine neue Protestbewegung der 68er, die wieder abflaute, bevor sie in der friedlichen Revolution ein unerwartetes Echo fand. Nicht eine gerade Linie, sondern eine Wellenbewegung ist daher typisch für die Entwicklung des Engagements der Studierenden.35 Auch verlief die ideologische Ausrichtung dieser studentischen Mobilisierungen in einem doppelten Richtungswechsel. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte mit der Burschenschaft und dem Progress trotz einiger unduldsamer Anflüge eher eine liberalisierende Tendenz, die von den Regierungen unterdrückt wurde und nach der Reichseinigung langsam auslief. Mit der Gründung der Vereine Deutscher Studenten schwoll jedoch eine nationalistische und antisemitische Strömung an, gegen die sich fortschrittliche Ansätze nicht mehr durchsetzen konnten. Obwohl der männliche Teil der akademischen Jugend dafür mit seinem Leben im Ersten Weltkrieg zahlte, radikalisierten sich die Studierenden weiter nach rechts und unterstützten mehrheitlich den Nationalsozialismus. Erst nach der zweiten Niederlage schlug das Pendel mit den 68ern wieder nach links zurück, bevor sich auch in Ostdeutschland demokratische Werte durchzusetzen vermochten. Diese Zickzackbewegung zeigt die Anfälligkeit der Studierenden für extreme Ideologien.36 Sozialpsychologen erklären die Radikalität der unterschiedlichen Studentenbewegungen meist aus dem jugendlichen Überschwang der Teilnehmer heraus, die noch von Lebenserfahrungen unbelastet sind. Um die Jahrhundertwende von 1900 entdeckten Kommentatoren die Jugend als eine neue Lebensstufe, die zwischen der 34 35

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Ebd., S. 204–210; Vgl. Volker Benkert, Glückskinder der Einheit? Lebenswege der um 1970 in der DDR Geborenen (Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin 2017. Schulze und Ssymank konstatierten daher 1931 eine „überaus bedenkliche Krise weltanschaulicher, politischer und sozialer Natur.“ Schulze/Ssymank, Das deutsche Studententum (Anm. 5), S. 492. Jarausch, Deutsche Studenten (Anm. 2), S. 242–250.

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Kindheit und dem Erwachsensein angesiedelt war und daher in mancher Hinsicht schon unabhängig, in anderer Weise aber noch abhängig war. Psychologen und Literaten argumentierten, dass sich Jugendliche stärker für Ideale begeisterten, ohne deren Konsequenzen ganz zu überschauen, und diese Ziele mit größerer Unbedingtheit verfolgten, als dies Erwachsene tun würden. Verschiedene Historikerinnen und Historiker haben unlängst herausgearbeitet, dass in ideologischen Massendiktaturen wie dem Nationalsozialismus oder dem Kommunismus die bewusste Glorifizierung von Jugend als Träger der Zukunft das Sendungsbewusstsein der Studierenden bestärkt hätte. In einer solchen sozial-psychologischen Perspektive bedeutet Jungsein daher auch gleichzeitig, radikal zu sein.37 Trotz solchen jugendlichen Enthusiasmus’ ist das Ergebnis studentischer Protestbewegungen eher bescheiden. In der Hochschulreform dauerte es über ein Jahrhundert, bis manche Forderungen des Progresses verwirklicht wurden. In der Politik gelang im Vormärz weder die Befreiung der Bürger noch die nationale Einigung, die von preußischer Machtpolitik vollzogen wurde. Eher tragisch waren die Verseuchung des Bildungsbürgertums mit antisemitischen Vorurteilen und die Blutopfer des Ersten Weltkriegs. Auch war die Hinwendung zum Nationalsozialismus ein intellektueller Sündenfall sondergleichen, da sie Kernwerte der Wissenschaft und Humanität verriet.38 Bei den 68ern vermischten sich progressive mit intoleranten Elementen in den K-Gruppen oder dem Terror der RAF. Und in der DDR verhinderte der „verordnete Antifaschismus“ ein Verständnis für Menschenrechte. Alles in allem ist dies keine erhebende Bilanz, sondern eher eine Warnung vor unkritischem Extremismus. So sympathisch die studentische Suche nach Idealen sein mag, so bleibt jedoch ihr Resultat weiterhin problematisch. Prof. Dr. Konrad Jarausch 502 Hamilton Hall, CB# 3195, Chapel Hill, North Carolina 27599 (USA), [email protected]

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John R. Gillis, Youth and History. Tradition and Change in European Age Relations, 1770–Present (Studies in Social Discontinuity), New York 1981; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 3 2015; Göllnitz, Student als Führer (Anm. 4), S. 11–13. 38 Regina Fritz, Grzegorz Rossoli´nski-Liebe und Jana Starek (Hg.), Alma Mater Antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939 (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für HolocaustStudien 3), Wien 2016.

DEMAGOGISCHE THEORETIKER ODER RADIKALE SOZIALISTEN? Das Ende der Greifswalder Burschenschaft Dirk Alvermann

Abstract: This article outlines the development of the old Greifswald fraternity up to the “Frankfurter Wachensturm” (charge of the Frankfurt guard house) and its subsequent dissolution. The political biographies of individual actors of this epoch and the following generation of “underground fraternity members” are compared and presented in change. With reference to older research, the question is asked whether and by which characteristics both generations differ and, if so, which moments have shaped the process of radicalization from “dogmatic theorists” to “radical socialists”. The focus is on the Greifswald “Society of Friends of the People” (“Gesellschaft der Volksfreunde”), whose biographical backgrounds, personal networks and respective motifs are examined on the basis of their journalistic work and analysed until the 1850s.

Am Morgen des 4. November 1834 fand der Milchträger Heinrich Wydler am Spitalhölzli vor den Toren Zürichs eine Leiche. Die bald darauf eingeleiteten Ermittlungen ergaben, dass es sich bei dem Toten um den deutschen Studenten Ludwig Lessing handelte. Sein Körper wies fast 50 Stichverletzungen in Hals, Brust und Armen auf. Trotz der offensichtlichen Brutalität des Täters und des Umstands, dass die Leiche nicht systematisch ausgeraubt worden war, behandelten die Schweizer Ermittlungsbehörden den Fall zunächst als Raubmord. Erst nachdem wertvolle Zeit verloren und die Spuren kalt geworden waren, entpuppte sich der „Züricher Studentenmord“ als einer der größten politischen Kriminalfälle seiner Zeit. Er ist 1837 in einer zweibändigen Aktenedition von Joseph Schauberg dargestellt,1 1872 von Temme in einer Kriminalnovelle2 verarbeitet und 2002 von Lukas Gschwend im Rahmen einer Habilitationsschrift3 intensiv untersucht worden.

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Joseph Schauberg, Aktenmässige Darstellung der über die Ermordung des Studenten Ludwig Lessing aus Freienwalde in Preußen bei dem Kriminalgerichte des Kantons Zürich geführten Untersuchung, 2 Bde., Zürich 1837. Hier nach der Neuauflage Jodocus Donatus Hubertus Temme, Der Studentenmord in Zürich. Criminalgeschichte, hg. von Paul Ott und Kurt Stadelmann (Schweizer Texte NF 23), Zürich 2006. Lukas Gschwend, Der Studentenmord von Zürich. Eine kriminalhistorische und strafprozessanalytische Untersuchung über die unaufgeklärte Tötung des Studenten Ludwig Lessing aus Freienwalde (Preussen) am 4. November 1835. Zugleich ein Beitrag zur Erforschung der politischen Kriminalität im Vormärz, Zürich 2002.

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Ludwig Lessing war als preußischer Agent nach Zürich gekommen, um dort die Gruppe der deutschen Emigranten und ihre politischen Organisationen, unter anderem das „Junge Deutschland“, die „Carbonaria“ sowie Giuseppe Mazzinis „Junges Europa“, zu infiltrieren. Nach dem gescheiterten Frankfurter Wachensturm waren 1833 zahlreiche Burschenschafter aus Deutschland in die Schweiz geflüchtet. Viele hatten sich im Umfeld der neu gegründeten Universität Zürich niedergelassen. Auf die Kreise dieser Emigranten und ihrer Organisationen konzentrierte sich in der Folge die Mordermittlung, die allerdings nie zu einem handfesten Ergebnis führen sollte. Unter den Hauptverdächtigen befanden sich auch die ehemaligen Greifswalder Burschenschafter August Lüning und Gustav Ehrhardt. Beide zählten mehr oder weniger zum Kern der radikalen Flüchtlingsbewegung in Zürich – und der Verdacht, nicht nur in den Mord verwickelt zu sein, sondern ihn selbst begangen zu haben, haftete Ehrhardt bis zu seinem Tode an.4 Die folgende Darstellung möchte keinen Beitrag zur Geschichte des Mordes an Ludwig Lessing leisten. Sie möchte vielmehr die Verwicklung einiger ehemaliger Greifswalder Studenten in die Morduntersuchung zum Anlass nehmen, die letzte Generation der Greifswalder Burschenschafter mit Blick auf die Entwicklung ihrer politischen Überzeugungen und Motive einer erneuten Musterung zu unterziehen. Otto Heinemann hat in seiner umfassenden historischen Untersuchung zur Greifswalder Burschenschaft und angesichts der harten Strafurteile gegen ihre Mitglieder relativierend von jugendlichen demagogischen Theoretikern gesprochen, denen praktische Demagogie eigentlich fernlag.5 Die marxistische Forschung zur Greifswalder Burschenschaft hat sich später hingegen bemüht, deren Ideenwelt in die Vorgeschichte der sozialistischen Ideenbildung der deutschen Arbeiterbewegung einzuordnen.6 Die Bewertung einzelner Akteure schwankt bis heute – je nach Standpunkt des Betrachters – zwischen „ultraradikaler Kommunist“ und „liberaler Demagoge“. Vor diesem Hintergrund mag es hilfreich sein, die Entwicklung der Greifswalder Burschenschaft unter personalen Gesichtspunkten zu verfolgen. Die übliche Perspektive, die von den Organisationsformen und Konstitutionen der Verbindungen, also der Greifswalder Burschenschaft von 1829 bis 1833, dem Lesekränzchen von 1834, der Gesellschaft der Volksfreunde 1834/35 und dem Waffenklub 1834/35 ausgeht, bietet dabei nur den Rahmen. Im Vordergrund sollen die personellen Netzwerke und die Ideenwelt, gegebenenfalls auch die überprüfbaren politischen Ansichten, die damit verbundene Agenda und ihre praktische Umsetzung in der Gesellschaft durch die einzelnen Akteure stehen, wobei dem Echo dieser Ansichten und Motive in deren eigenen Biographien Aufmerksamkeit zugewandt wird. Dabei steht der letzte

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Ebd., S. 98, Anm. 533. Otto Heinemann, Die alte Greifswalder Burschenschaft 1818–1834, in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. 4, hg. von Herman Haupt, Heidelberg 1913, S. 130–236, hier: S. 219. Karl Bittel, Revolutionäre Burschenschafter in Greifswald 1831–1834, in: GreifswaldStralsunder Jahrbuch 4 (1964), S. 99–116; Hans Schröder, Zur politischen Geschichte der Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, in: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, Bd. 1, Greifswald 1956, S. 53–155, hier: S. 84–95.

Demagogische Theoretiker oder radikale Sozialisten?

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Ausläufer der Greifswalder Burschenschaft, die Gesellschaft der Volksfreunde, im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Quellenlage kommt einer solchen Fragestellung nicht unbedingt entgegen. Der größte Teil der Akten besteht aus Verhörprotokollen, deren Ziel die Feststellung juristischer Tatbestände ist, was die Beschuldigten natürlich durch Verschweigen, Gedächtnisverlust und Falschaussagen zu verhindern suchen. Die Überlieferung von persönlichen Aufzeichnungen, etwa Tagebüchern und Briefen, die die Vorstellungen der Akteure unmittelbarer beleuchten könnten, ist der fast paranoiden Angst der zweiten Generation der Burschenschafter vor Enttarnung zum Opfer gefallen. So hat Carl Eduard von Normann, dessen Tagebuch eine Primärquelle für unser Wissen über die Greifswalder Verhältnisse dieser Zeit sein müsste, viele Nachrichten, die mit burschenschaftlichen Aktivitäten in unmittelbarem Zusammenhang standen, in schwer interpretierbarer kryptischer Verkürzung notiert.7 Andere, wie etwa John Brinckman, haben ihre Korrespondenzen systematisch nach dem ersten Lesen vernichtet.8 Diese Praxis ist verständlich. Die Demagogenverfolgung war eine Gesinnungsjagd, die weniger für Verbrechen Täter als vielmehr für Täter Verbrechen suchte.9 Schon der Besitz eines kompromittierenden Briefes, einer Druckschrift, eines Symbols konnte sich da als verheerend erweisen. Den festgestellten Mangel machen die publizistischen Werke der ehemaligen Greifswalder Burschenschafter in den 1830er und 1840er Jahren nur teilweise wieder wett. Auf sie soll am Ende des Beitrags eingegangen werden.

ZUR ÄUSSEREN GESCHICHTE DER GREIFSWALDER BURSCHENSCHAFT Im Juni 1829 hatte sich nach mehreren Anläufen die Greifswalder Burschenschaft in einer Kompromissform von germanischem und arminischem Prinzip konstituiert. Ihr allgemeiner Zweck war als sittliche und wissenschaftliche Ausbildung der Mitglieder beschrieben. Politische Zwecke, etwa Kartellbildungen mit Burschenschaftern anderer Universitäten oder die Einigung Deutschlands, waren nicht vorgesehen.10 Ein politisches Prinzip nahm die Burschenschaft erst im Frühjahr 1830 in ihre Konstitution auf, indem sie die geistige Einheit Deutschlands und konstitutionelle Verfassungen 7

Das Tagebuch Normans befindet sich heute in Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. HA, Rep. 97, Nr. 3670. Auszüge daraus sind in den Greifswalder Verhörprotokollen enthalten, vgl. Universitätsarchiv Greifswald (UAG), Altes Rektorat, Hbg. 970, Acta des Königl. Universitäts-Gerichts zu Greifswald in Untersuchungs-Sachen wider den Stud. juris Carl Eduard August Balthasar von Normann wegen verbotener Verbindungen in specie betr. die im Jahre 1834/35 als hier organisierte politische Verbindung gen. „Gesellschaft der Volksfreunde“. 8 Arnold Hückstädt, Fritz Reuter und die „Allgemeinheit“, John Brinckman und die „Gesellschaft der Volksfreunde“ – Rostocker Studentenverbindungen zwischen 1831 und 1834, in: Fritz Reuter, John Brinckman, Dethloff Carl Hinstorff und Rostock, hg. von Ulf Bichel, Christian Bunners und Jürgen Grote (Beiträge der Fritz Reuter Gesellschaft 12), Rostock 2002, S. 8–38, hier: S. 31, 33. 9 Gschwend, Studentenmord (Anm. 3), S. 22. 10 Heinemann, Burschenschaft (Anm. 5), S. 169 f.

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als Ziele formulierte, die durch Agitation des Volkes erreicht werden sollten.11 Seit diesem Zeitpunkt suchte die Greifswalder Burschenschaft auch Anschluss an die Allgemeine Burschenschaft.12 Dem engeren Verein gehörte damals August Lüning – der oben schon als Verdächtiger im Mordfall Lessing genannt wurde– an.13 An seine Seite trat kurz darauf Theodor Otto, der 1831 wegen burschenschaftlicher Betätigungen bereits eine mehrmonatige Festungshaft verbüßt hatte. Lüning und Otto betrieben die Abwendung vom gemäßigten Charakter der Greifswalder Burschenschaft und die Hinwendung zu dem auf dem Stuttgarter Burschentag 1831 angenommenen revolutionären Prinzip der germanischen Burschenschaften. Die von ihnen erarbeitete Konstitution forderte die Mitglieder zur Herbeiführung einer freien, gerecht geordneten, volkstümlichen, den Bedürfnissen der Zeit entsprechenden, durch Staatseinheit gesicherten, das gesamte Deutsche Volk zu einem ferner ungetrennten Ganzen vereinigenden Verfassung Deutschlands auf.14 Sie verpflichtete die Mitglieder des engeren Vereins zeitlebens auf diesen Zweck, zu dessen Durchsetzung auch ein gewaltsames Eingreifen gebilligt wurde. Die Aufnahmeformel verlangte sogar das Versprechen, an einem zu diesem Endzweck zu unternehmenden gewaltsamen Aufstande Theil nehmen [zu] wolle[n].15 Der beabsichtigte Anschluss an die Allgemeine Burschenschaft gelang abermals nicht. Den Greifswalder Deputierten erklärte man in Heidelberg, dass die Konstitution zu verschärfen sei. Für die Durchsetzung burschenschaftlicher Zwecke seien ausschließlich revolutionäre Mittel anzuwenden. Auch regte man an, dass die Mitglieder des engeren Vereins einen politischen Klub bilden sollten, in den auch Bürger Aufnahme finden müssten.16 Inzwischen hatte der Frankfurter Wachensturm vom 3. April 1833 die Lage aber ohnehin verändert. Untersuchungen wurden nun auch in Greifswald eingeleitet. Der Akademische Senat musste sich den Vorwurf gefallen lassen, die geheime Burschenschaft nicht nur geduldet, sondern sogar unterstützt zu haben. Süffisant bemerkte die Untersuchungsbehörde, dass in Greifswald von einer geheimen Burschenschaft kaum die Rede sein könne. Immerhin hatte die Pomerania noch 1833 in blau-weißen Uniformen mit Federhüten dem neu gewählten Rektor einen Fackelzug gebracht und die Burschenschafter waren in altdeutscher Tracht mit weißen Feldbinden und Schlägern mitmarschiert.17 Umso intensiver wurden jetzt Ermittlungen der akademischen Behörden angestrengt und die Mitglieder des engeren Vereins gerieten unter strenge Überwachung. Die Existenzbedingungen wurden unhaltbar, auch wenn noch immer einzelne neue

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Ebd., S. 175–178. Sie gab den Versuch aber zugunsten eines sich kurzzeitig abzeichnenden „norddeutschen Kartells“ mit Rostock und Kiel auf, das allerdings nie realisiert wurde. Vgl. ebd., S. 193 f. Zu August Lüning vgl. Roland Köhne, August Lüning (1813–1896) und seine Erinnerungen an Georg Büchner, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 79 (1991), S. 191–210. Heinemann, Burschenschaft (Anm. 5), S. 206. Ebd., S. 207. Ebd., S. 213 f. Vgl. ebd., S. 189 f. Der Vorwurf gründet auf der Aussage von Riemschneider, vgl. UAG, Altes Rektorat, Hbg. 395, B. 4r.

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Mitglieder zur Burschenschaft stießen, etwa der vorhin genannte Gustav Ehrhardt oder auch Hermann Behn-Eschenburg. Als der Senat den Studenten den Besuch der Kneipe verbot, verloren die Burschenschafter auch die Möglichkeit, ihre Zusammenkünfte in bewährter Form abzuhalten. Behn-Eschenburg und Lüning regten schließlich im Dezember 1833 die Auflösung der Burschenschaft an. Sie erfolgte förmlich im Ratskeller und schloss die Vernichtung aller Papiere der Burschenschaft ein. Der Kern der Bibliothek wurde einem Renoncen übergeben, der Rest versteigert. Das war zweifellos eine Zäsur. Löst man sich einmal von der Betrachtung der förmlichen Aspekte des Verbindungswesens, zeigen sich in Greifswald aber bemerkenswerte Kontinuitäten, vor allem personeller Art. Mit anderen Worten – was nun folgte, war eine Fortführung burschenschaftlicher Betätigung in sich schnell wandelnder und den fortdauernden Ermittlungen der akademischen Behörden rasch ausweichender Form. Gustav Ehrhardt hatte bei der Auflösung der Burschenschaft bereits dafür geworben, die Arbeit im Sinne burschenschaftlicher Ideen ohne förmliche Verbindung, quasi in neuartiger Form fortzuführen. Das geschah nun auch beinahe unmittelbar – in Gestalt eines Lesekränzchens, das im Rathauskeller regelmäßig zusammenkam. Behn-Eschenburg, Ehrhardt und August Lüning scheinen die Anfänge dieser Gesellschaft mit Tendenz zum politischen Klub noch begleitet zu haben; die wichtigste Rolle darin übernahm aber Lünings jüngerer Bruder Hermann.18 Dieser Zirkel hatte weder in formeller noch in materieller Hinsicht etwas mit einer Verbindung zu tun. Auch die Mitglieder der sich auflösenden Landsmannschaften Pomerania und Borussia schlossen sich an. Als um Ostern 1834 die große Verhaftungswelle infolge der Ermittlungen gegen die aufgelöste Burschenschaft einsetzte, entzogen sich die in Greifswald verbliebenen Mitglieder des engeren Vereins – August Lüning, Gustav Ehrhardt und Hermann Behn-Eschenburg – dem Strafvollzug mehr oder weniger spektakulär durch Flucht.19 Lüning ging nach Zürich, Ehrhardt besuchte zunächst Paris und gelangte von dort in die Schweiz. Behn-Eschenburg misslang die Flucht und er wurde bald auf der nahe gelegenen Insel Rügen verhaftet.

DIE GESELLSCHAFT DER VOLKSFREUNDE An die Stelle der älteren Burschenschafter traten nun Akteure der zweiten Generation, die nie dem engeren Verein angehört hatten, die aber in enger, zum Teil auch verwandtschaftlicher Beziehung zu den älteren Burschenschaftern standen. Zu ihnen gehörten vor allem Hermann Lüning und Eduard Holst. Der erste war der jüngere Bruder des flüchtigen August Lüning, der zweite ein enger Vertrauter von Gustav Ehrhardt, der auch einen Teil der burschenschaftlichen Bibliothek

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Zu Hermann Lüning vgl. insb. das von seinem älteren Bruder August entworfene Lebensbild, neu abgedruckt und eingeleitet von Roland Köhne (Bearb.), Prof. Hermann Lüning (1814–1874) – ein Lebensbild von Dr. August Lüning, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 76 (1986/87), S. 111–130. 19 Bittel, Burschenschafter (Anm. 6), S. 104, 107 f.; Schröder, Geschichte (Anm. 6), S. 88.

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seit ihrer Auflösung verwahrte. Sie bildeten im Juni 1834 aus dem Lesekränzchen heraus einen politischen Klub, wie er schon den letzten Burschenschaftern vorgeschwebt hatte. Bereits der Lesezirkel war dadurch aufgefallen, dass er öffentlich im Ratskeller stattfand, wo die entsprechenden Zeitungen auslagen und wo auch Nicht-Studierende Zugang hatten. Der politische Klub, der den Namen Gesellschaft der Volksfreunde – als Hommage an die Pariser societé des amis du peuple – annahm, setzte diese Tendenz fort. Solche Gesellschaften entstanden auch andernorts und mit ähnlicher Zielsetzung und Organisation, so etwa die von Georg Büchner inspirierte Gesellschaft für Menschenrechte in Gießen. Die Gesellschaft der Volksfreunde war stark an französischen Vorbildern ausgerichtet. Man beging die Jahrestage der Pariser Julirevolution 1830 und des Juniaufstands 1832 in feierlicher Form. Im Sommer 1834 gaben sich die Mitglieder schließlich auch ein Statut und traten damit formell als Verbindung auf. Das Statut kennen wir nur als Rekonstruktion aus den Aussagen der später verhafteten Teilnehmer. Im Wesentlichen folgte es den Zwecken der arminischen Burschenschaft – also Herbeiführung der Pressefreiheit und einer konstitutionellen Verfassung mittels politischer Bildung und Agitation.20 Eine Verpflichtung zur Teilnahme an einem Aufstand bestand nicht. Bemerkenswert und vielleicht auch eine Signatur der veränderten Umstände ist jedoch, dass die Satzung für Verrat an der Verbindung die Todesstrafe vorsah. Ob dies tatsächlich das „erste bekannte Beispiel dieses Wahrzeichens des politischen Fanatismus in einer Studentenverbindung“ ist, wie Leopold Friedrich Ilse meint,21 mag dahingestellt bleiben. Immerhin ist auch in dieser Hinsicht eine Hinwendung zu Pariser Vorbildern, etwa dem Bund der Gerechten, zu greifen, dem der Spiritus Rector der Greifswalder Volksfreunde, Gustav Ehrhardt, ja sehr nahestand. Diese Hypothese wird durch die Beobachtung gestützt, dass Ehrhardt von der Schweiz aus versuchte, brieflichen Kontakt zu Holst und Lüning zu halten, und sie auch über seine Pariser und Züricher Beobachtungen informierte.22 Darüber hinaus beobachtete die Züricher Polizei auch, dass er liberale Druckschriften nach Greifswald versandte.23 Dieser Kontakt bestand anscheinend dauerhaft. Der Volksfreund Eduard von Normann besuchte Ehrhardt und August Lüning noch 1835 (kurz vor dem Mord an Lessing) in Zürich. Sucht man unabhängig von den Statuten der Volksfreunde nach so etwas wie einer politischen Agenda der Verbindung, dann stößt man im Umfeld der Volksfreunde immer wieder auf Johann Georg August Wirths Flugschrift zur politischen

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Das Statut hat sich nicht erhalten und wurde aus den späteren Vernehmungen der Mitglieder „rekonstruiert“ – unterschiedlich weitgehend bei Bittel, Burschenschafter (Anm. 6), S. 105; Heinemann, Burschenschaft (Anm. 5), S. 223 f.; Walther Hübner, Die Gesellschaft der Volksfreunde. Ein Beitrag zur Geschichte der Greifswalder Studentenschaft in den Jahren 1833 bis 1838, in: Greifswalder Zeitung (15.04.1933). 21 Leopold Friedrich Ilse, Geschichte der politischen Untersuchung, welche durch die neben der Bundesversammlung errichteten Commissionen der Central-Untersuchungs-Commission zu Mainz und der Bundes-Central-Behörde zu Frankfurt in den Jahren 1819 bis 1827 und 1833 bis 1842 geführt sind, Frankfurt a.M. 1860, S. 370. 22 Bittel, Burschenschafter (Anm. 6), S. 107. 23 Gschwend, Studentenmord (Anm. 3), S. 97.

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Reform Deutschlands.24 In den späteren Verhören der Mitglieder des Lesezirkels und des Waffenklubs kann man feststellen, dass dies die einzig umfassend zirkulierende politische Schrift im Umfeld der Volksfreunde war. Ihr Manifest-Charakter ist angesichts ihrer Entstehungsgeschichte wenig überraschend. Und ihr Programm deckt sich weitgehend mit den politischen Zielsetzungen der Volksfreunde, die sich durch den Untertitel der Schrift – Noch ein dringendes Wort an die deutschen Volksfreunde – direkt angesprochen fühlen durften. Die Schrift formulierte mit der Forderung nach politischer Einheit Deutschlands mit einheitlicher Außenpolitik, der vollen Wahl- und Pressefreiheit, der tatsächlichen Trennung von Legislative, Judikative und Exekutive, der Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, der kommunalen Autonomie, föderalen Freiheit und Reform des Militärwesens, der Abschaffung des Lehnswesens mit allen Überbleibseln und der Reform des Bildungswesens, des Bank- und Kreditwesens ein ganzes Bündel an Reformzielen. Die Gesellschaft der Volksfreunde rekrutierte sich ganz praktisch als eine Art engerer und geheimer Verein aus Mitgliedern des Lesezirkels. Ihr gehörten neben einer Handvoll Studenten auch zwei Bürgerliche an. Einer von ihnen, August von Scheven, war durch seinen studierenden Bruder mit der Gesellschaft in Berührung gekommen. Der andere war eine schillernde Figur ohne akademische Bindung, Alexander von Brause-Brudzewski. Es gelang der Gesellschaft der Volksfreunde, im Schatten des Lesekränzchens einige Monate unentdeckt zu bleiben. Nach der Neukonstituierung der Landsmannschaft Pomerania bildeten die Volksfreunde Holst und von Normann einen Waffenklub, an dem überwiegend die Mitglieder des Lesezirkels und einige neu hinzukommende Studenten teilnahmen. Der Waffenklub verfügte über kein Statut, war mehr oder weniger formlos organisiert wie der Lesezirkel und fungierte gewissermaßen als dessen Fortsetzung. In dieser „Deckung“ durch Lesezirkel und Waffenklub bestand die Gesellschaft einige Monate in Sicherheit fort. Schließlich wurde sie dann durch den misslungenen Versuch, ein Kartell mit Studenten in Rostock zu bilden, entdeckt. Letztlich dürften die Volksfreunde die Behörden durch ihr exaltiertes Auftreten auf sich aufmerksam gemacht haben. Ein Mitglied des Lesezirkels trug offen die sogenannte deutsche Kleidung, zwei Mitglieder der Volksfreunde wurden mit weißen, rotgeränderten Mützen angetroffen25 – alles Symbole, die auf eine burschenschaftliche Gesinnung schließen ließen. Der stolz getragene „Hambacher Hut“ des Greifswalder Volksfreundes Johann Valerius Kutscheit war es denn auch, der in Rostock für einen Anfangsverdacht genügte und zu einer Hausdurchsuchung bei Rostocker Kommilitonen führte. Dabei fand man kompromittierende Briefe über ein geplantes Treffen der Rostocker und Greifswalder Studenten zu Kartellverhandlungen Weihnachten 1834.26 Ein erster Anlauf der Volksfreunde zur Kartellbildung in

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Johann Georg August Wirth, Die politische Reform Deutschlands – Noch ein dringendes Wort an die deutschen Volksfreunde, Straßburg 1832. Vgl. UAG, Altes Rektorat, R 1800, fol. 52, 57. Ebd., R 1861, „Verkehr Greifswalder und Rostocker Studirenden“.

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Richtung Halle war schon im Herbst 1834 gescheitert.27 Und auch der vielversprechende Rostocker Versuch nahm ein schlechtes Ende.28 Auf die ersten alarmierenden Nachrichten aus Rostock hin löste sich die Greifswalder Gesellschaft sofort auf. Kurz darauf wurde sie von einem ihrer jüngeren Mitglieder – Johann Valerius Kutscheit – denunziert.29 Damit war die letzte förmliche Verbindung beendet. Der Waffenklub entließ seine Vorsteher und hörte damit ebenfalls auf zu existieren. Die Untersuchungen des akademischen Gerichts konzentrierten sich auf das Lesekränzchen und den Waffenklub, konnten aber letzten Endes keine belastenden Beweise zutage fördern. Man war sich aufseiten des Senats dennoch bewusst, dass eine neue Burschenschaft bestanden hatte oder noch bestand und dass deren Haupt Hermann Lüning wäre. Letztlich wurde Lüning der Universität verwiesen.30 Darauf verließen die meisten ehemaligen Volksfreunde im Sommer 1835 die Universität Greifswald. Der Kopf der aufgelösten Verbindung, Eduard Holst, blieb jedoch am Ort. Er nahm bald Kontakt zum ehemaligen Greifswalder Burschenschafter Karl von Hagenow auf, der aufgrund seines Gesundheitszustands einer Verurteilung entgangen war und sich wieder in der Stadt befand. Dadurch gerieten er und die letzten vier in Greifswald verbliebenen Volksfreunde31 erneut in den Fokus der akademischen Behörden und wurden unter besondere Beobachtung gestellt. Als im Sommer 1836 Holsts Stube durchsucht wurde, fand man eine Reihe belastender Dokumente und Druckschriften, auch einige Erinnerungsstücke aus dem Nachlass Ehrhardts, die nahelegten, dass er seine politische Agitation unter Studenten und Handwerkern in Greifswald ganz im Sinne des Programms der Volksfreunde, auch ohne Lesekränzchen und Waffenklub, bis zu diesem Zeitpunkt fortgesetzt hatte.32 Auch wenn ihm die Beteiligung an einer verbotenen Verbindung nicht nachgewiesen werden konnte, erhielt Holst im September 1836 aufgrund seiner Vorstrafen das Consilium Abeundi und verließ Greifswald in Richtung Schweden.33 27

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Hildebrand war im September 1834 nach Halle gegangen und hatte eine Schablone und ein Exemplar der Statuten mitgenommen, beides aber unterwegs verbrannt, weil er Bedenken bekam. Hübner, Volksfreunde (Anm. 20). Der Versuch ist aus Sicht der Rostocker Quellen dargestellt von Hückstädt, Fritz Reuter (Anm. 8), S. 15–38. Pro Memoria des Rektors Barkow vom 16.01.1835, in: UAG, Altes Rektorat, Hbg. 392, fol. 18r–19r. Vgl. Schröder, Geschichte (Anm. 6), S. 90. Er kam als Hauslehrer bei Verwandten seines schon genannten Verbindungsbruders Brause-Brudzewski in Posen unter. Die Sorge um enttarnte Mitglieder ist bezeichnend für die Greifswalder Volksfreunde. Auch der Reformer der älteren Burschenschaft, Theodor Otto, wurde nach verbüßter Strafe auf dem Familiengut eines Volksfreundes im Mecklenburgischen aufgenommen und Eduard Holst floh später zur Familie seines Verbindungsbruders von Normann nach Schweden, wo er ebenfalls Hauslehrer wurde. Auch Hildebrandt wurde später Pfarrer in Speck, wo sein ehemaliger Kommilitone von Scheven als Gutsherr das Patronatsrecht ausübte. Vgl. Hübner, Volksfreunde (Anm. 20). Heidsieck, Natorp, Haacke und Otto Lüning, vgl. UAG, Altes Rektorat, R 1800, Bl. 74–81. Ebd., R 2159, Acta des Koenigl. Universitaets-Gerichts zu Greifswald in Untersuchungs-Sachen wider den Stud. juris Carl Eduard Holst, Stud. juris Heinr. Anton Aschenborn und Stud. med: Otto Bernahrd Seyler, 1836. Vgl. auch Schröder, Geschichte (Anm. 6), S. 90 f. UAG, Altes Rektorat, R 2159, Bl. 76, Urteil des Universitätsgerichts vom 29.09.1836 gegen Holst und Aschenborn.

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Über Eduard Holst wüsste man gerne mehr – allein schon weil die späteren Untersuchungsberichte ihn – neben Hermann Lüning – als den führenden Kopf der Volksfreunde darstellen und weil er nachweislich enge Verbindungen zu Gustav Ehrhardt in Zürich unterhielt. Über Holsts politische Vorstellungen erhalten wir nur indirekt Hinweise aus einem Brief seines Vaters. Kurz vor seiner Verhaftung 1836 hat Holst offenbar sein Tagebuch und einige Briefschaften beim Vater in Stralsund in Sicherheit gebracht. Der wiederum fühlte sich nach der Lektüre des Tagebuchs verpflichtet, dem Sohn Folgendes zu schreiben: Halte dich von jeder politischen Gesellschaft entfernt, sie birgt in ihrem Schoße unabsehbares Unglück. Es steht besser mit unserm Vaterland, als eine Revolution zu bewürken vermag. Wer den Zustand unsers Vaterlandes mit unparteiischem Willen betrachtet, wird gewahr werden, das[s] es rüstig vorwärts schreitet. Das Volk wird durch eine stete Schulverbesserung gebildeter und durch weise Gesetze zum Guten geführt. Für Kunst und Wissenschaft, Handel und Fabriken hat unser Staat beinahe das Unglaubliche gethan. Kannst Du einmal als Staatsbeamter bei gewonnener Übersicht noch etwas Besseres auf gesetzlichem Wege bewirken; so wirst Du dieses gewiß nicht unterlassen, und du wirst alle Weisen und Gerechten des Vaterlandes auf deiner Seite haben.34

Diese Mahnungen lassen zumindest erahnen, welche Themen und welche Mittel und Wege Holst in seinem Tagebuch beschrieben hatte. Ein anderer Volksfreund war weniger vorsichtig mit seinem Tagebuch umgegangen. Als Eduard von Normann 1837 nach Greifswald zurückkehrte und seine Stube wegen der Beteiligung an einem Duell durchsucht wurde, fand man mehr zufällig auch dessen Tagebuch, in dem die Existenz der Gesellschaft der Volksfreunde in ausreichender Breite dokumentiert war.35 Auf der Grundlage dieser Beweise wurden die in Deutschland verbliebenen Greifswalder und Rostocker Mitglieder der Volksfreunde verhaftet. Gegen dreizehn von ihnen wurden 1838 zum Teil mehrjährige Haftstrafen ausgesprochen. Dank der Amnestie nach Friedrich Wilhelms IV. Thronbesteigung, waren 1840 alle wieder auf freiem Fuße.36

AKTEURE, MOTIVE, EINSICHTEN Von den Initiatoren des Lesekränzchens und der Volksfreunde sind literarische und publizistische Arbeiten, vor allem aus den darauffolgenden Jahren bekannt, die unser aus der äußeren Geschichte der Verbindung gewonnenes Bild retrospektiv ergänzen können. Ein eher literarisches Statement hat Hermann Behn-Eschenburg hinterlassen. Er hatte der alten Burschenschaft angehört und die Anfänge des Lesekränzchens miterlebt. Dafür hatte er von 1836 bis 1840 in der Festung Graudenz gesessen. Später gehörte er dem Maikäferbund um Gottfried Kinkel an. 1843 veröffentlichte er ein Versepos unter dem Titel „Zuleima. Ein Jugendtraum im Kerker“. Es ist 34 35

Ebd., Bl. 30. Auszüge aus dem Tagebuch sind veröffentlicht worden von Walther Hübner, Aus dem Tagebuch des Greifswalder stud. jur. Karl v. Normann vom Jahre 1834, in: Greifswalder Zeitung (12.01.1933; 13.01.1933; 14.01.1933; 17.01.1933). 36 Heinemann, Burschenschaft (Anm. 5), S. 230.

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eine Allegorie auf die eingekerkerte Freiheit und das junge Deutschland, das zu deren Erlösung herbeieilt. Zugleich ist es eine deprimierende Reminiszenz an die verlorene Jugend. Die Widmung des Bandes könnte als Motto über dem Leben vieler Burschenschafter stehen: Wir träumten, wie mit zwanzig Jahren Mancher träumt, von einem großen, freien, einigen mächt’gen Volk: Das war die Braut, wonach der strebende Jüngling rang, Die Königstochter, die im langen Zauberbann Jahrhunderte lag, und durch Begeistrungskraft erlöst Ein neues Leben in die heimischen Gaue rief. Als wir erwachten, war uns manches Jahr entflohn, Elendiglich im finstern Kerker hingebracht [...].37

Ganz Ähnliches kennen wir vom ehemaligen Volksfreund und Denunzianten Johann Valerius Kutscheit, der sein Leben als freier Literat in Berlin beschloss. Seine 1846 in Berlin herausgebrachte Sammlung von Gedichten enthält kaum politische Reminiszenzen.38 Seine Libri tristium eines gefangenen Burschenschafters39 sind eher von Melancholie und Selbstmitleid getragene Schöpfungen: Wärter, wer kam denn heut in das Haus mit Ketten beladen? – Einer der tückisch den Freund um ein Paar Thaler erschlug. – Komisch, ein Mörder mit uns in derselben Behausung, die wir doch, Dumme Jungen! vom Tod retten die Freiheit gewollt.40

Diese Art sensibler politischer Romantik des literarischen jungen Deutschland – für die Behn-Eschenburg explizit steht – war Alexander von Brause-Brudzewski eher fremd. Er wurde – obwohl kein Student – 1834 Mitglied der Volksfreunde. Als Sohn des deutschen Landrats August von Brause bei Posen geboren, war er während des Novemberaufstands 1831 zu einem begeisterten polnischen Patrioten geworden, was er durch die Polonisierung seines Namens ausdrückte.41 Brause-Brudzewski war ein leidenschaftlicher und militärisch denkender Aktivist. Er befürwortete revolutionäres Handeln und nahm später an der Vorbereitung des gescheiterten großpolnischen Aufstands von 1846 teil.42 Brause-Brudzewski hat militärtaktische Abhandlungen mit Blick auf den geplanten Aufstand und die Rolle der gefürchteten polnischen Sensenträger darin verfasst. Er hat aber auch in größeren Dimensionen über die künftige polnische Heeresorganisation oder die künftige Regierungsform des befreiten Polen

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Hermann Behn-Eschenburg, Zuleima – Ein Jugendtraum im Kerker, Bonn 1843, Widmung. Johann Valerius Kutscheit, Gedichte, Berlin 1846. Ebd., S. 129–135. Ebd., S. 132 Joachim Rogall, Die Deutschen im Posener Land und in Mittelpolen (Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche 3), München 1993, S. 68. 42 Vgl. Gustav Julius (Hg.), Der Polenprozeß. Prozeß der von dem Staatsanwalte bei dem Königlichen Kammergerichte als Betheiligte bei dem Unternehmen zur Wiederherstellung eines polnischen Staates in den Grenzen vor 1772 wegen Hochverraths angeklagten 254 Polen (in erster Instanz) verhandelt im Gebäude des Staatsgefängnisses bei Berlin, Berlin 1848, insb. Sp. 336 f. Vgl. zur Charakteristik auch Moritz Freiherr von Sala, Geschichte des polnischen Aufstandes vom Jahre 1846, Wien 1867, S. 149.

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geschrieben.43 Ob und inwieweit sein großpolnischer Patriotismus Eingang in die Diskussionen der Volksfreunde fand, ist leider nicht bekannt. In eine vergleichbare Richtung, aber mit wesentlich breiterer Wirkung entwickelte sich die literarische Tätigkeit von Gustav Ehrhardt. Nach seiner Flucht aus Greifswald hatte er sich über Paris nach Zürich begeben. Er unterhielt Beziehungen zum Pariser Bund der Geächteten44 und bemühte sich in Abgrenzung zu den jungdeutschen Bestrebungen in der Schweiz, für ein sozialpolitisches, ja sogar sozialrevolutionäres Programm im Züricher Handwerkerverein zu agitieren.45 Gemeinsam mit Carl Cratz gab er dort ab Frühjahr 1835 die Zeitschrift „Das Nordlicht“ heraus. Die Zeitschrift startete mit einem kämpferischen Aufruf an das Volk: Vertraut auf Euch selbst, Ihr Arbeiter, Handwerker und Bauern, die Ihr von Hochmut und Herrschsucht fern, in reger Tätigkeit ein anspruchsloses Leben führt. Ihr seid der Kern des Volkes, an Euch ist’s, den Wurm zu zertreten, der an dem innersten Marke des Volkes nagt; schüttelt sie ab, die Fesseln, die arbeitsscheue Müßiggänger Euch schmieden! Dann wird Freiheit und Gleichheit, und mit ihnen neues Leben wieder einziehen unter den Völkern; Ungerechtigkeit und Herrschsucht aber zu Schanden werden. So sei es!46

Das „Nordlicht“ beschwor den Geist der Revolution von 1789 und diskutierte die – aus Sicht der Redakteure – unvermeidlich kommende republikanische Staatsform. Die Besonderheit des „Nordlichts“ ist, dass es nicht nur die Forderung im Hinblick auf die Staatsform, also auf die politische Erneuerung erhob, sondern diese Forderung auf den Bereich sozialer Reformen ausdehnte und geradezu von „sozialer Revolution“ sprach. Es mag sein, dass diese Anklänge noch keine sozialistische Ideenbildung einschließen,47 aber die Forderung nach einer „allgemeinen und humangesellschaftlichen“ Revolution – auch wenn sie wenig konkret werden – lassen doch aufhorchen.48 Ehrhardt stand mit seinen radikalen Ansichten im Greifswalder Kreis auch nicht allein da. Für viele ehemalige Greifswalder Burschenschafter der letzten Generation, die sich später publizistisch noch zu Wort meldeten, war die Verbindung von politischen mit sozialen Reformforderungen ein Kernanliegen. Zu ihnen gehörte auch Hermann Lüning. Er hatte schon im Februar 1837 an den Greifswalder Volksfreund Hermann Hecker geschrieben: Je mehr ich darüber nachdenke, desto nothwendiger scheint mir die Umwälzung auf alle sozialen Verhältnisse ausgedehnt werden zu müssen. Das Alte muß mit Stumpf und Stil ausgerottet werden – ginge auch die ganze gegenwärtige Generation darüber zugrunde!49 43 44 45

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Julius, Polenprozeß (Anm. 42), Sp. 336. Dass er Emissär des Generalvenda war, wie Gschwend, Studentenmord (Anm. 3), S. 96, mit Bezug auf Schauberg, Ermordung (Anm. 1), S. 151, meint, wird durch die Quelle nicht gestützt. Wolfgang Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830 (Industrielle Welt 4), Stuttgart 1963; Ernst Schraepler, Geheimbündelei und soziale Bewegung. Zur Geschichte des „Jungen Deutschland“ in der Schweiz, in: International Review of Social History 7 (1962), S. 61–92, hier: S. 76. Das Nordlicht, Heft 1, 1835, S. 1. Schieder, Anfänge (Anm. 45), S. 208. Vgl. auch Bittel, Burschenschafter (Anm. 6), S. 108 f. Briefe Lünings, die aus den Verhandlungsakten im GStA PK stammen, sind hier zitiert nach Walther Hübner, Student und Politik. Nach Akten, Tagebüchern und Briefen aus den Jahren 1833 bis 1835, in: Greifswalder Zeitung (27.02.1933).

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Hermann Lüning hat auch später von seinem Exil in Zürich aus, wo er 1840 wieder mit seinem Bruder August, mit Ehrhardt und Behn-Eschenburg zusammentraf, publizistisch auf das politische Zeitgeschehen reagiert.50 Er kreierte die urige literarische Figur des Nachbarn Knolle, eines belesenen westfälischen Kleinbauern, der in der Dorfkneipe in verständlichen Worten über die neue westfälische Landgemeindeordnung von 1841 philosophiert und seinen Zuhörern dabei zugleich einen Kurs in gelebter Demokratie gibt. Ein andermal diskutiert er den Sinn eines Bildungs- und Hilfsvereins nach dem Vorbild des 1844 gegründeten Berliner Zentral-Vereins zur Verbesserung der geistigen und materiellen Lage der arbeitenden Klassen. Dabei erklärte er auch gleich die Macht des Kapitals und die Beherrschung der Gesellschaft über die Produktionsmittel im Marx’schen Sinne. Er prangert das Mißverhältnis zwischen der Macht des Capitals und der Herabsetzung, der Ohnmacht der Arbeit51 an und fordert dessen Aufhebung: Nein, so etwas kann nur in verkehrten menschlichen Einrichtungen liegen, denn die Güter der Erde sind für alle Menschen bestimmt; es kömmt nur darauf an, diese Einrichtungen zu verbessern, aber dazu muß man sie erst genau erkannt haben.52 Wer hier Anklänge an Marx’ 11. Feuerbachthese vermutet, ist vielleicht nicht ganz auf dem Holzweg. Wen wundert es, dass Hermann Lüning den Ruf eines sozialistischen Agitators besaß? Lüning publizierte seine Texte vor allem im Jahrbuch „Dies Buch gehört dem Volke“, das erstmals 1845 erschien. Der Titel ist eine Anspielung auf Bettina von Arnims 1843 veröffentlichte Schrift „Dies Buch gehört dem König“. Ganz plakativ wurde dabei von Arnims Anspruch, den Monarchen über sein Volk aufzuklären, mit dem Anspruch, das Volk über seinen Monarchen aufzuklären, konfrontiert. Für dieses Konzept stand Otto Lüning, Hermanns jüngerer Bruder, ebenfalls ehemaliger Greifswalder und Angehöriger des Waffenklubs seit 1834.53 Neben dem Jahrbuch hatte er seit 1844 im „Weserdampfboot“ publiziert und nach dessen Verbot die Monatsschrift „Das Westfälische Dampfboot“ gegründet. Die Zeitschrift repräsentierte so etwas wie einen Gesinnungszirkel, in dem Frühsozialisten unterschiedlicher Prägung vertreten waren.54 Otto Lüning bestritt selbst einen großen Teil der Zeitschrift als Autor. Er gab sich gerne als zeitkritischer Beobachter. Aber er verfasste auch programmatische Texte,

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Hermann Lüning, Nachbar Knolle und der Hülfsverein, in: Dieß Buch gehört dem Volke, Bd. 1, hg. von Otto Lüning, Bielefeld 1845, S. 106–121; Ders., Nachbar Knolle, in: Buch (Anm. 50), S. 155–166; Ders., Die griechische Staatsumwälzung vom 15. September 1843, in: Buch (Anm. 50), S. 186–204. Auch August Lüning hat in den Periodika seines jüngsten Bruders veröffentlicht – vgl. August Lüning, Die Jesuiten und ihre Berufung nach Luzern, in: Dies Buch gehört dem Volke, Bd. 2, hg. von Otto Lüning, Bielefeld 1845, S. 45–65. Lüning, Hülfsverein (Anm. 50), S. 120. Ebd., S. 109. Vgl. Otto Lünings Nekrolog in: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart. Monatsschrift zum Conversations-Lexikon NF 5 (1869), Nr. 1, S. 155. Die ausführlichsten biographischen Angaben zu ihm und seinen Brüdern macht Josef A. Klocke, Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Lage der Unterschichten in Ostwestfalen von 1830 bis 1850, Bochum 1972, S. 125–144. Vgl. dazu Alfred Wesselmann, Das Westphälische Dampfboot. Vier Skizzen und Personenregister, Bielefeld 2004. Siehe auch Ders., Burschenschafter, Revolutionär, Demokrat. Hermann Kriege und die Freiheitsbewegung 1840–1850, Osnabrück 2002, S. 64–75.

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etwa „Politik und Socialismus“ oder „Arbeitslohn und Arbeitsfähigkeit“, die in das Fach der politischen Ökonomie einschlagen und in denen er sich weit von liberalen Leitideen entfernte. Leider kann hier im Detail nicht darauf eingegangen werden. Stattdessen soll auf Lünings Dichtungen55 hingewiesen sein, die ihm unmittelbar nach ihrem Erscheinen 1844 eine polizeiliche Untersuchung wegen Majestätsbeleidigung und frechen Tadelns des Deutschen Bundes eintrug.56 Lünings Gedichte atmen ganz Herweghs Geist und sind auf dem Vorsatz der Partei gewidmet. Damit wird der ganze Band in das Licht der Kontroverse zwischen Freiligrath und Herwegh – des sogenannten „Parteienstreits“ – über die Grenzen der Parteinahme (nicht Parteilichkeit!) und die Rolle des politischen sowie des poetischen Glaubens in der Literatur gerückt. Und Lüning hat mit dem letzten Gedicht des Bandes – „Partei“ – dann auch direkt in dieser Frage Position bezogen: Es tagt! es tagt! Stolz wallen unsere Fahnen, Sie rauschen fröhlich in der freien Luft; Das Volk erwacht, es höret unser Mahnen, Und die Partei steigt donnernd aus der Gruft! So schaart euch denn: – jetzt gilt kein weibisch Zagen, Steht zu der Freiheit, steht zur Tyrannei; Das Herz, es soll nicht mehr gleichgültig schlagen, Wir jauchzen laut: Es lebe die Partei!

Verlassen kämpften einst der Freiheit Söhne, Geächtet flohen sie zum fernen Strand; Wohl seufzt das Volk, wohl schallten Klagetöne, Doch schnell erstickte sie der Fürsten Hand. Wir wollen solche Schmach nicht mehr ertragen, Es eilt das Volk zum Kampfe kühn herbei; Das Herz, es soll nun einsam nicht mehr schlagen, Wir jauchzen laut: Es lebe die Partei!

Es ist dahin, das blasse Mondscheinleben, Die Zeit ruft uns zu einem ernsten Streit; Im Kampf nur ist der Freiheit Schatz zu heben: Dieß stille Leben war ihr Grabgeläut! Heran! Heran! Umsonst ist euer Klagen, Gemüthlichkeit, si macht uns nimmer frei; Das Herz, es soll nicht mehr gemüthlich schlagen, Wir jauchzen laut: Es lebe die Partei!

Auf, auf, mein Volk! Bang zittern die Tyrannen, Denn die Partei ruft stets die That hervor; Die träge Ruhe müssen wir verbannen, Dann springt es auf, der Freiheit gold’nes Thor! O laßt nicht ab von eurem stolzen Jagen, Bekennt es kühn, wo es auch immer sei: Das Herz soll für die That hinfort nur schlagen, Und unser Schlachtruf bleibet die Partei!57

Wohl lag sie schwer gefesselt hart danieder, Des Grabes Ruhe herrscht’ im Vaterland; Doch plötzlich bi dem Klang der stolzen Lieder Geharnischt, wie Minerva, sie erstand. Sie stürzt zum Kampf, bereit ihr Blut zu wagen. Sie scheut nicht Pulverdampf, nicht tödtlich Blei; Das Herz, es soll nun nicht mehr zaghaft schlagen, Wir jauchzen laut: Es lebe die Partei!

Lüning gehörte dem Bund der Kommunisten an, vertrat eher pragmatische Ideen und plädierte für vom französischen Sozialismus inspirierte Sozialreformen.58 Anders als seine Brüder hat Otto Lüning auch so etwas wie politische Organisation betrieben. Er war der Mittelpunkt und Initiator des sogenannten „Rhedaer“ oder „Holter

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Heinrich Otto Lüning, Gedichte, Schaffhausen 1844. Klocke, Entwicklung (Anm. 53), S. 132. Zu Lünings Gedichten vgl. auch Roland Köhne, Otto Lüning und Georg Herwegh. Eine dichterische Beziehung im Vormärz, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 92 (2007), S. 91–108. 57 Lüning, Gedichte (Anm. 55), S. 92–94. 58 Die Quelle für seine Mitgliedschaft im Bund der Kommunisten ist unklar. Die Angabe stammt wohl von Wilhelm Weitling nach Wilhelm Johann Carl Eduard Stieber und Carl Georg Ludwig Wermuth, Die Communisten-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 2, Berlin 1854, S. 77.

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Dirk Alvermann

Kreises“, der mit praktisch allen namhaften Vertretern der deutschen radikalen Opposition oder deren Sympathisanten in Verbindung stand – darunter Karl Grün, Joseph Weydemeyer, Moritz Hartmann, Ferdinand Freiligrath, Georg Herwegh, Hermann Kriege, Fritz Anneke, Robert Blum, Moses Heß, Karl Marx, Friedrich Engels und vielen anderen.59 In den behördlichen Polizeiberichten stufte man den Kreis als Sammelplatz aller revolutionären Elemente von weit und breit ein. Diese Berichte deuteten die sogenannten kommunistischen Umtriebe in Preußen insgesamt als eine modifizierte Form des sich weiterentwickelnden revolutionären Geistes der Studentenunruhen von 1830 bis 1834.60 Sicher ist die zeitgenössische behördliche Einschätzung eher dem Vergleich des subjektiv empfundenen Bedrohungspotenzials geschuldet als einer wissenschaftlichen Analyse. Zumindest was einige unserer ehemaligen Greifswalder Protagonisten anbelangt, kann man diese Einschätzung aber nicht ganz von der Hand weisen. Und schließlich wird ein ähnlicher Zusammenhang auch von Otto Lüning beispielhaft im oben zitierten Gedicht hergestellt: Die Entwicklung sozialreformerischer, vielleicht sogar sozialrevolutionärer Ideen aus den ehemaligen liberalen Zielstellungen der Studentenjahre ist bei Ehrhardt und den Brüdern Lüning deutlich ablesbar. Auf der politischen Mess-Skala der preußischen Polizei wurde so etwas als „radikal“ eingestuft. Anderen Zeitgenossen war Lüning aber bei weitem nicht radikal genug. Der Kreis um Lüning führte seinen Kampf nicht für das Proletariat, sondern für die Menschheit. Friedrich Engels verfasste 1847 ein Pamphlet voll böser Häme unter dem Titel „Die wahren Sozialisten“, in dem er Otto Lüning persönlich und den Rhedaer Kreis im Allgemeinen als heuchlerische Menschenfreunde abtat, deren Gesellschaftskritik vor der notwendigen Konsequenz, nämlich der auf wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten gegründeten revolutionären Umwälzung der Gesellschaft, zurückschreckte.61 Dieses Verdikt mag auch der Grund dafür sein, dass die marxistische Geschichtsschreibung des Greifswalder Vormärz die Frühsozialisten unter den Volksfreunden übersah62 und die progressive lokale Tradition erst mit dem militanten 1848er-Freischärler Peter Imandt beginnen ließ.63 Der ist heute übrigens die memoriale Ikone der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Saarland, während Otto Lünings Andenken im SPD-Ortsverein Rheda-Wiedenbrück in Ehren gehalten wird. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Vgl. Josef Winiger, Feuerbachs Kommunismus-Begeisterung Mitte der 1840er Jahre. Eine chronologische Erkundung, URL: (abgerufen am 23.03.2018). So ist ausdrücklich die Deutung der polizeilichen Untersuchung gegen Otto Lüning bei Klocke, Entwicklung (Anm. 53), S. 125–127. Vgl. dort den Exkurs „Otto Lüning, Redakteur der Monatsschrift ‚Das Westfälische Dampfboot‘. Seine redaktionelle, sozialkritische und politische Betätigung“. Friedrich Engels, Die wahren Sozialisten, in: Karl Marx – Friedrich Engels. Werke, Bd. 4, Berlin 61972, S. 248–290. Einzige Ausnahme ist Bittel, Burschenschafter (Anm. 6), der auf Ehrhardts Rolle besonders eingeht. Erhardt Kiehnbaum, Peter Imandt (1823–1897). Greifswalder Student und Kampfgefährte von Karl Marx und Friedrich Engels (Beiträge zur Universitätsgeschichte 3), Greifswald 1987.

Demagogische Theoretiker oder radikale Sozialisten?

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Die Volksfreunde, deren Weg hier nachgezeichnet werden konnte, beendeten ihr politisches Leben in der Regel als liberale Reformer, wieder um einiges entfernt von den Ideen ihrer radikalen Jahre. Otto Lüning hat seine letzten Lebensjahre als sozialliberaler Realpolitiker und Abgeordneter verlebt. Gustav Ehrhardt – der 1835 den radikalen Kampfaufruf im „Nordlicht“ verfasst hatte – wurde wichtiger politischer Berater und Freund des liberalen Reformers, erzkapitalistischen Eisenbahnkönigs und mehrfachen Nationalratspräsidenten der Schweiz, Alfred Escher. Beider Lebenswege stehen ebenso wie die anderen hier vorgestellten Biographien für eine gar nicht so ungewöhnliche Entwicklung politischen Denkens im Vormärz, die sich einer Etikettierung nach heutigen Maßstäben entzieht. Dr. Dirk Alvermann Universitätsarchiv Greifswald, Baderstraße 4/5, 17489 Greifswald, [email protected]

EINE FRAGE DER EHRE Anerkennungskämpfe jüdischer Studentenverbindungen in Kaiserreich und Weimarer Republik Miriam Rürup

Abstract: At the end of the 19th century a new kind of antisemitism emerged especially at German universities. As part of this so called “cultural code” German-Jewish students weren’t accepted as members in student fraternities any more. They were thus excluded from an integral part of university-life. This was – besides, of course, the fight against antisemitism – one of the reasons for the establishment of the first exclusively Jewish student fraternities in the late 1880s and early 1890s, which were split in two branches: A rather assimilationist and a rather Zionist group of fraternities. They adopted the traditional fraternities’ lifestyle, consisting mainly of two rituals. Those were the student duel (called “Mensur”), and the drinking ceremony (called “Kneipe”) which included ritualized beer drinking and singing. The rhetoric both around the fencing and the choice of songs were used as a means of expressing the identity and ideology of the group. I analyse what they considered as “authentically” Jewish – within the Zionist fraternities this was for example a very ritualized ceremony of the “Feast of the Maccabaea” which was held instead of celebrating Hanukkah. Very important for the group-identity was of course the identification with ancient historical ideals and the need to look back in history in search of ancient roots and identities – as the ideal of the Maccabaeans.

Und doch ist es nicht die Empfindsamkeit und die Geistreichelei, sondern die Mannhaftigkeit, der so viel gelästerte Schneid allein, auf den es in der Not – und wer wollte leugnen, dass unser Volk in Not ist – ankommt. Und schuldig sind wir unserem Volk, dass wir ihm Männer schaffen. Dass wir dies tun, gibt uns unsere Existenzberechtigung.1

1

Jerusalem, Central Zionist Archives (CZA), A231/2/4, Pessach-Rundschreiben der VJSt ,Hasmonaea‘ im KJV [1917], S. 5. Der hier vorliegende Aufsatz beruht auf der Monographie der Autorin: Miriam Rürup, Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 33), Göttingen 2008. Die Abschnitte „Das Trinken“ und „Das Singen“ folgen der Argumentation meines zuvor publizierten Aufsatzes Miriam Rürup, Auf Kneipe und Fechtboden. Inszenierung von Männlichkeit in jüdischen Studentenverbindungen in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute (Geschichte und Geschlechter 49), hg. von Martin Dinges, Frankfurt a.M./New York 2005, S. 141–156. Miriam Rürup, Jüdische Studentenverbindungen. Organisationen zur Abwehr des Antisemitismus auf „studentische Art“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2000), S. 113–137. Für ausführliche Literaturhinweise zu Aspekten dieses Beitrages siehe dort. Zum neuesten Forschungsstand siehe auch Matthias Stickler, Jüdische Studentenverbindungen. Anmerkungen zu einem zu wenig beachteten Thema der Universitäts- und Studentengeschichte, in: Einst und Jetzt 61 (2016), S. 11–56.

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Miriam Rürup

So schrieb im Frühjahr 1917 ein Mitglied des ,Vereins Jüdischer Studenten‘, des VJSt ,Hasmonaea‘, in einem Feldrundschreiben an seine Bundesbrüder aus der zionistischen Studentenverbindung. In dieser Äußerung ist bereits das Wesentliche, das die verbindungsstudentische Rhetorik ausmachte, benannt: Schneid, Mannhaftigkeit, Überwindung der Not, Abgrenzung von allem, was mit dem Begriff „Büchermensch“ verbunden werden könnte, und was in der Gegenüberstellung der Quellenbegriffe „Geistreichelei“ und „Mannhaftigkeit“ zum Ausdruck kommt. Wie sollte diese Erziehung innerhalb einer jüdischen Studentenverbindung nun vor sich gehen? Derartige Anerkennungskämpfe, welche die Verbindungen beider Stränge im wahrsten Sinne des Wortes ausfochten, lassen sich auf vielen Feldern veranschaulichen: Die Konflikte mit universitären Disziplinareinrichtungen, die Streitigkeiten um die Zulassung der speziellen Farbenwahl einer Verbindung, die Diskussionen, die in den Verbandszeitschriften geführt wurden, die verbandsinternen Erziehungsprogramme und schließlich die Auseinandersetzungen um Kneipenrituale und um den studentischen Zweikampf, die Mensur. Im Folgenden soll auf zwei exemplarische Orte des verbindungsstudentischen Lebensstils fokussiert werden: Die Kneipe und der Fechtboden. Es gilt diesbezüglich zu erörtern, wie die jüdischen Verbindungsstudenten den Einsatz für die Gleichberechtigung der Juden und damit gegen den Antisemitismus gestalten wollten, wie sie mit der Demütigung, nicht mehr in den traditionellen Studentenverbindungen am studentischen Lebensstil teilhaben zu können, umgegangen sind. Außerdem möchte ich zeigen, wie sie insbesondere die Kneipe und das Fechten dazu zu nutzen versuchten, Bild und Stereotyp vom vermeintlich feigen und verweichlichten Juden zu widerlegen.

JÜDISCHE STUDENTEN Es waren jüdische Studenten, die an den Universitäten als Erste mit dem modernen Antisemitismus konfrontiert wurden, indem sie – als ein wesentlicher Punkt – de facto nicht mehr in die allgemeinen deutschen Studentenverbindungen aufgenommen wurden. Erst mit der Reichseinigung hatten Juden in allen Teilen des Deutschen Reiches die rechtliche Gleichstellung erlangt. Als nach sozialem Aufstieg strebende, sich rasant verbürgerlichende Minderheit waren jüdische Studenten an den deutschen Universitäten überrepräsentiert.2 Die Mitgliedschaft in einer Verbindung zum Erreichen eines (nicht nur) innerakademischen gehobenen sozialen Status bildete einen unabdingbaren Teil der studentischen Geselligkeit, die das allgemeine deutsche Studentenleben seit dem

2

Zur Geschichte jüdischer Studenten an deutschen Universitäten liegen inzwischen verschiedene Untersuchungen vor. Vgl. beispielhaft Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 76), Göttingen 1988, insb. S. 205–212. Siehe für ein Stadtbeispiel Norbert Giovannini, Jüdische Studentinnen und Studenten in Heidelberg, in: Jüdisches Leben in Heidelberg. Studien zu einer unterbrochenen Geschichte, hg. von dems., Jo-Hannes Bauer und Hans Martin Mumm, Heidelberg 1992, S. 201–219.

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18. Jahrhundert prägte und in Kaiserreich und Weimarer Republik hauptsächlich im Verbindungszusammenhang gelebt wurde. So ist es naheliegend, dass jüdische Studenten sich in den 1880er Jahren zusammentaten, um einen konstruktiven Umgang mit der ihnen entgegenschlagenden feindlichen Atmosphäre zu finden. Bis zum Ende der 1870/80er Jahre konnten jüdische Studenten meist unproblematisch Mitglieder in den verschiedenen Studentenkorporationen werden. Erste Statuten, die „Nicht-Arier“ von der Mitgliedschaft ausschlossen, wurden flächendeckend erst im 20. Jahrhundert, zumeist nach dem Ersten Weltkrieg, verabschiedet. Dennoch beförderten die traditionellen deutschen Studentenverbindungen bereits seit den 1880er Jahren den Antisemitismus zu einer sozial anerkannten Norm und wirkten damit richtungsweisend für die antisemitische Bewegung als Ganzes. Dies bedeutete einerseits eine Politisierung der traditionellen Korporationen und andererseits eine Ausschließungspraxis gegenüber jüdischen Studenten, die nunmehr schlicht nicht als Mitglieder aufgenommen wurden, um so unter anderem einen Statusverlust der eigenen Verbindung zu verhindern. Die Studentenverbindungen waren es mithin, die den Antisemitismus zu einer sozialen Norm erhoben, der sich nicht unbedingt in Statuten, wohl aber im alltäglichen Verhalten ausdrückte. Im Konkurrenzkampf um die Stellung innerhalb der akademischen Hierarchie galt jeder Makel als herabsetzend – und jüdische Mitglieder wurden eben als „Makel“ angesehen und waren damit statusmindernd.3 Die jüdischen Studenten waren in vier grundsätzlich unterschiedliche Gruppen unterteilt, von denen zwei Verbindungsorganisationen sind.4 So wurde im Herbst 1886 in Breslau unter dem Namen ,Viadrina‘ die erste exklusive jüdische Verbindung gegründet. 1.) Die erste der oben genannten Gruppen stellten die assimilatorischen Verbindungen dar, die sich als „deutsch-vaterländisch“ bezeichneten. Sie waren im 1896 gegründeten ‚Kartell-Convent der Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens‘ (KC) vereint.5 Die Namensanalogie zur zahlenmäßig größten und bedeutendsten jüdischen Organisation der deutschen Juden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, dem ‚Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ 3

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5

Zum studentischen und universitären Antisemitismus siehe Regina Fritz, Grzegorz RossolínskiLiebe und Jana Starek (Hg.), Alma mater antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939 (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien 3), Wien 2016; Notker Hammerstein, Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871–1933, Frankfurt a. M. 1995. Ein frühes Beispiel studentischer Organisierung in Vereinsform war der 1883 in Berlin gegründete ‚Akademische Verein für jüdische Geschichte und Literatur‘. Dieser Verein war zwar keine studentische Verbindung, hatte aber bereits ein Element, das typisch für studentische Organisationen war, namentlich die Farben (hier: Grün-Weiß-Rot), welche die Gruppe nach außen repräsentierten und an Band und Mütze getragen wurden. Vgl. die Vereinsstatuten von 1883 im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin (HUA), RS, Nr. 649, Bll. 41, 115. Vgl. zur Verbandsgeschichte des KC vor allem Thomas Schindler, Studentischer Antisemitismus und jüdische Studentenverbindungen 1880–1933 (Historia Academica 27), Erlangen 1988. Zum Beispiel Breslau mit Augenmerk auf die Männlichkeit vgl. Lisa Swartout, Mut, Mensur und Männlichkeit, in: Ethnizität, Integration, Exklusion. Die Geschichte der Breslauer Juden im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Manfred Hettling, Andreas Reinke und Till van Rahden, Hamburg 2002, S. 148–166.

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(CV), ist unübersehbar. Der CV war 1893 etabliert worden und bestand bis 1938. Er war die größte „Interessenvertretung“ der deutschen Juden. Die Verbindungen im KC bildeten gleichsam die ideologische Entsprechung des CV auf studentischem Boden. Außerdem hatten sie eine gewisse Vorreiterrolle, denn der CV wurde erst 1893 gegründet; sieben Jahre nachdem die erste Verbindung, die zu den späteren KC-Verbindungen zählte, in Breslau ins Leben gerufen wurde. Im KC waren 2 000 Mitglieder. Ende der 1920er Jahre existierten zwölf Verbindungen. Sie übernahmen anfangs das gesamte studentische Brauchtum. 2.) Die nationaljüdischen und zionistischen Verbindungen waren bis 1914 im ‚Bund Jüdischer Corporationen‘ (BJC) sowie im ‚Kartell Zionistischer Verbindungen‘ (KZV) vereinigt.6 Die gemäßigten jüdisch-nationalen Verbindungen sind dem ersteren Verband zuzuordnen. Die explizit zionistischen Studenten schlossen sich dem KZV an. Da der Zionismus im deutschen Judentum allerdings eine Minderheitenbewegung war, handelte es sich um eine entsprechend kleine Gruppe der Studierenden. Die erste spätere BJC-Verbindung wurde 1882 in Wien, der Dachverband BJC dann 1901 gegründet. Die erste spätere KZV-Verbindung wurde 1902 in Berlin gegründet, der Dachverband KZV entstand 1906. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges vereinten sich die beiden Stränge zum ‚Kartell Jüdischer Verbindungen‘ (KJV). Die Einzelverbindungen betrachteten sich in unterschiedlichen Abstufungen als nationaljüdisch oder zionistisch, sind also gesamtgesellschaftlich als studentisches Äquivalent zur 1898 gegründeten ‚Zionistischen Vereinigung für Deutschland‘ (ZVfD) einzustufen. Die ZVfD hat für die jüdisch-nationalen oder zionistischen deutschen Juden eine ähnliche Bedeutung erlangt wie der CV für die assimilierten Juden. Auch wenn sich nur ein Zehntel aller jüdischen Studenten überhaupt einer zionistischen Verbindung anschloss, so kann dies doch im Vergleich zur Beteiligung der deutschen Juden insgesamt am Zionismus als eine relativ hohe Zahl betrachtet werden. Das KJV hatte 2 000 Mitglieder. 1927 gab es 17 Verbindungen, 110 Mitglieder lebten in Palästina. Auch das KJV übernahm die Formen und Bräuche traditioneller Studentenverbindungen. 3.) Der dritte Strang studentischer Zusammenschlüsse von Juden war der ‚Bund Jüdischer Akademiker‘ (BJA). Der BJA wurde 1906 als Zusammenschluss der ab 1903 entstandenen ‚Vereinigungen Jüdischer Akademiker‘ in Berlin, München und Straßburg gegründet. Sein Wahlspruch war Thora im derech erez („Thora auf dem Weg des Landes“); Mitglied konnten nur strenggläubige Juden werden. Das studentische Brauchtum, von den beiden erstgenannten Gruppen in verschiedenen Formen übernommen, lehnte der BJA ab; politischen Fragen gegenüber verhielt sich der Verband neutral. Ziel war es, säkulare Wissenschaft mit jüdischer Erziehung zu verbinden. 1913 existierten sieben VJA; namentlich in Berlin, Breslau, Heidelberg, Marburg, München, Straßburg und Würzburg. Der BJA hatte etwa 700 Mitglieder, 6

Vgl. zur Verbandsgeschichte der nationaljüdischen Studentenverbindungen vor allem Ze’ev Rosenkranz, „Der Zionismus des Dreinschlagens“. Die Rituale der nationaljüdischen und zionistischen Studenten im ausgehenden Kaiserreich, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 3 (1992), S. 63–84; Moshe Zimmermann, Jewish Nationalism and Zionism in GermanJewish Students’ Organisations, in: Leo Baeck Institute Year Book 27 (1982), S. 129–153. Vgl. Schindler, Studentischer Antisemitismus (Anm. 5), S. 230 f.

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darunter auch Frauen.7 Sowohl beim KC als auch beim KJV wurde nach dem Ersten Weltkrieg die Mensur abgeschafft; das Prinzip der unbedingten Satisfaktion blieb aber beim KC erhalten, beim KJV wurde es auf Verbandsebene abgeschafft. Die aktiven Studentenverbindungen, vereint im KC, KJV oder als religiöse Studierende im BJA, existierten bis 1933. Die Vereinigungen der Alten Herren (die Bezeichnung für die ehemaligen studentischen Mitglieder nach dem Ende ihres Studiums) konnten ihre Arbeit bis 1937 fortsetzen. Der zionistische Verband KJV hatte bereits 1924 einen Landesverband in Palästina gegründet, der nach 1933 teilweise die Arbeit der vorherigen Berliner Hauptstelle übernahm, bis in die 1970er Jahre hinein regelmäßige Treffen veranstaltete und eine Zeitschrift herausgab. Die ehemaligen Verbindungen im KC versuchten, ähnliche Organisationen in den USA zu gründen. Sowohl in Palästina/Israel als auch in den USA trafen sie sich weiterhin im Kreise der Alten Herren, sangen bei diesen Gelegenheiten die alten studentischen Gesänge und träumten von der „Alt-Heidelberger-Zeit“. 4.) Die vierte und größte Gruppe jüdischer Studierender schloss sich allerdings keiner der zuvor genannten Verbindungen an. Vor dem Ersten Weltkrieg war nur etwa ein Drittel aller jüdischen Studenten Mitglied in Studentenverbindungen; gegenüber nahezu 80 Prozent der Nichtjuden.8 Wenn sich Angehörige dieser Gruppe überhaupt organisierten, dann beispielsweise in der sogenannten „Freistudentenschaft“ (der Vereinigung der „Nicht-Korporierten“), in Vereinigungen, die noch immer Juden aufnahmen, oder in paritätisch aufgebauten Vereinigungen. Die paritätischen Verbindungen bestanden de facto mehrheitlich aus Juden, lehnten aber jede jüdische Spezifik in ihrem Programm ab.

VERBINDUNGSSTUDENTISCHER LEBENSSTIL Die erste, 1886 in Breslau gegründete jüdische Studentenverbindung ‚Viadrina‘ gab sich den kämpferischen Wahlspruch Nemo me impune lacessat („Niemand reizt mich ungestraft“). Sie, wie auch die weiteren Neugründungen jüdischer Verbindungen, übernahm die traditionellen verbindungsstudentischen Formen: Sie legte Farben an, trug bei Feierlichkeiten die studentische Uniform, den Wichs, hielt regelmäßig Kneipen ab, bei denen man die studentischen Lieder anstimmte, und war als Lebensbund organisiert. Ihre Mitglieder durchliefen also ab ihrem Eintritt in die Verbindung die Entwicklungsstufen vom Fuxen über den Burschen bis zum Alten Herrn, der auch nach Abschluss seines Studiums dem Verein verbunden blieb.9 Außerdem zeichnete sich jede Verbindung durch eigene – sich oft ähnelnde – Losungen und eine charakteristische Namenswahl aus. All diese traditionellen verbindungsstudentischen 7 8

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Vgl. Schindler, Studentischer Antisemitismus (Anm. 5), S. 230 f. Vgl. Norbert Kampe, Jews and Antisemites at Universities in Imperial Germany (II). The Friedrich-Wilhelms-Universität of Berlin: A Case Study on the Students’ „Jewish Question“, in: Leo Baeck Institute Year Book 32 (1987), S. 43–101, hier: S. 86 f. Zur Bedeutung des verbindungsstudentischen Lebensstils für jüdische Studenten siehe auch die Studie von Lisa F. Zwicker, Dueling Students. Conflict, Masculinity, and Politics in German Universities 1890–1914, Michigan 2011.

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Elemente waren regelmäßig Grundlage erbitterter Durchsetzungskämpfe,10 wurde jüdischen Verbindungsstudenten doch die Wahl ihrer Farben häufig genauso streitig gemacht wie die Wahl ihres Kneipenortes, die Austragung von Ehrenhändeln und das Absingen ihrer Lieder. Die Kneipen waren Orte, an denen ein wiederkehrendes, festgelegtes und streng normiertes Ritual abgehalten wurde. Diese Gepflogenheit sollte dazu beitragen, die Teilnehmer – jüdische Verbindungsmitglieder und ihre Alten Herren, nur bei festlichen Anlässen auch Frauen – zu disziplinieren und zu echten Männern zu erziehen. Diese Erziehung sollte auch durch das einem Regelwerk folgende Trinken sowie dazugehöriges Singen stattfinden. Auch auf dem Fechtboden sollten die Mitglieder zu „ganzen Männern“ herangezogen werden. Zu Männern, die für die Ehre der Verbindung einzustehen bereit sind und diese Ehre mit der Waffe in der Hand gegenüber Angreifern verteidigen können. Es ging dabei um die Demonstration von Gemeinsamkeit, Stärke und Selbstbewusstsein nach außen. Vor allem dem Ehrbegriff und der Wehrhaftigkeit, namentlich der Ehrverteidigung mit der „blanken Waffe“, kam in der verbandsinternen Erziehung innerhalb der Studentenverbindungen eine wichtige Bedeutung zu.11 Die verbindungsstudentische Rhetorik trug letztendlich dazu bei, ein Verständnis von einer spezifisch jüdischen Ehre herauszubilden, das zu einem verstärkten jüdischen Selbstbewusstsein führte und damit – auch aufseiten der assimilatorischen Studentenverbindungen – das bedingte, was insbesondere für die Weimarer Republik häufig als „Jüdische Renaissance“ (Martin Buber) bezeichnet wurde. Dazu gehörten freilich auch gezielte Schulungsprogramme. So wurde in den zionistischen Studentenverbindungen regelmäßig Hebräisch-Unterricht abgehalten und vereinzelt fanden Erkundungsfahrten nach Palästina statt. 1913 wurde eine erste solche Fahrt organisiert. Auf Bildern sind beispielsweise junge Männer zu sehen, die auf der Überfahrt Turnübungen absolvieren. In den Augen der „Palästina-Juden“ wirkte die Gruppe seltsam „deutsch“ und unjüdisch, wahrscheinlich ganz im Gegenteil zur Selbstwahrnehmung.12 Im KC wiederum wurden verschiedene Themen der jüdischen Geschichte gelehrt, jedoch mit einem prinzipiellen Bezug zur vorwiegend modernen Geschichte der Juden in Deutschland und Europa und selbstverständlich mit der Betonung des grundsätzlichen Erfolgscharakters der Emanzipation.

10

Vgl. beispielhaft die Diskussionen um Feierlichkeiten an der Universität Heidelberg im Jahr 1925 im Universitätsarchiv Heidelberg (UAHD), B8914/1. 11 Vgl. zur historischen Genese des Ehrbegriffs allgemein Martin Dinges, Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte und zur Konzeptualisierung, in: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Schreiner (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 5), Köln 1995, S. 29–62; Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1995; sowie zur spezifischen jüdischen Ehre Robert Jütte, Ehre und Ehrverlust im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judentum, in: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Schreiner (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 5), Köln 1995, S. 144–165. 12 Miriam Rürup, Gefundene Heimat? Palästinafahrten national-jüdischer deutscher Studentenverbindungen 1913/14, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 2 (2004), S. 167–190.

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UMGANG MIT DEM ANTISEMITISMUS Den Kampf gegen den Antisemitismus hatten sowohl die assimilatorischen Verbindungen im KC als auch die nationaljüdischen bis zionistischen Verbindungen im KJV oder seinen Vorgängervereinen in Statuten, Flugblättern und Aufrufen als ihr Ziel und ihren Auftrag verkündet. So postulierte der KC in Paragraph 3 seiner Statuten: Die Verbindungen im KC stehen auf dem Boden deutsch-vaterländischer Gesinnung. Sie haben zum Zweck den Kampf gegen den Antisemitismus in der deutschen Studentenschaft und die Erziehung ihrer Mitglieder zu selbstbewußten Juden, die im Bewußtsein, daß die deutschen Juden einen durch Geschichte, Kultur und Rechtsgemeinschaft mit dem deutschen Vaterlande unlöslich verbundenen Volksteil bilden, jeder Zeit bereit und imstande sind, für die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden einzutreten.13

Hier zeigt sich bereits der Versuch der jüdischen Verbindungsstudenten, die Dichotomie „deutsch-jüdisch“ aufzuheben und dabei einerseits für die Akzeptanz als Deutsche zu werben und andererseits das jüdische Selbstbewusstsein nach innen zu stärken. Es ging ihnen nicht um ein Entweder-oder, sondern darum, als selbstbewusste Juden und Deutsche dem Antisemitismus gegenübertreten zu können. Sowohl die Zionisten als auch die assimilatorischen jüdischen Studenten gingen davon aus, dass sie die Antisemiten nur zum Schweigen bekommen konnten, wenn sie nach außen stolz und selbstbewusst auftraten.14 Wie dieser Kampf gegen den Antisemitismus über die Erziehungsarbeit hinaus aussehen sollte, lässt sich aus der „Denkschrift betreffend die Anschaffung eigener Waffen“ ablesen: Schon bei Gründung unserer lieben Verbindung haben die Männer, die sich damals mit dem tiefen Entschlusse zusammenthaten, der antisemitischen Bewegung unter der Studentenschaft Heidelbergs einen Dämpfer aufzusetzen, es als eine unserer ersten Aufgaben bezeichnet, den Körper zu üben und den Mut zu stählen, um im Notfalle den Angreifern unserer Ehre mit der Klinge in der Faust entgegentreten zu können.15

Im Zusammenhang mit dem Abwehrkampf gegen den Antisemitismus wurde dabei geradezu notorisch eine jüdische Ehre beschworen. Der Angriff der Antisemiten gegen sie als Juden wurde als Angriff auf ihre Ehre angesehen. Der antisemitische Abwehrkampf führt somit direkt zum spezifischen Verständnis von „Ehre“ der studentischen Verbindungen. Der Begriff „Ehre“ ist im verbindungsstudentischen Jargon zentral. Bei den jüdischen Studentenverbindungen wurde der Kampf „gegen“ den Antisemitismus zumeist als Kampf „für“ die jüdische „Ehre“ angesehen. Diese Ehre wurde Juden häufig abgesprochen, indem sie zum Beispiel als nicht satisfaktionswürdig erklärt wurden. Damit gerieten sie in ein besonderes Dilemma, denn damit wurde ihr Abwehrmittel gegen den Antisemitismus – mittels Duellen und mit der Klinge in der Hand – buchstäblich stumpfer. 13 14

15

Universitätsarchiv Leipzig, Rep. II/XVI/III, Litt. S, Nr. 2, § 2 der Satzung des ‚Saxo-Bavaria‘ im KC, 07.06.1912. Vgl. Miriam Rürup, Jüdische Studentenverbindungen. Organisationen zur Abwehr des Antisemitismus auf „studentische Art“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2000), S. 113–137; Schindler, Studentischer Antisemitismus (Anm. 5). CZA, A142/90/11 f., „Denkschrift betreffend die Anschaffung eigener Waffen“, hg. von der Freien Verbindung ‚Badenia‘, 29.11.1893.

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AUSHANDLUNGSORT 1: DIE KNEIPE Das Trinken Im Zentrum der Gemeinschaftserfahrung des Verbindungslebens stand die „Kneipe“. Darunter sind sowohl der Ort, an dem die geselligen Zusammenkünfte stattfanden, als auch das Ritual, das sie umgab, zu verstehen. Zu dieser Gepflogenheit gehörte gleichermaßen das Trinken, wie in der ersten Strophe der Verbindungshymne der Göttinger ‚Visurgia‘ erkennbar ist. Das Kneipenritual übernahmen die jüdischen Studentenverbindungen ebenso von den traditionellen Studentenverbindungen wie die Mensur. In ihren Statuten wurde die Abhaltung von Kneipen mit dem Kürzel Pflege studentischer Geselligkeit umschrieben.16 Das Biertrinken spielte dabei eine durchaus wichtige Rolle. Die enorme Bedeutung des Bieres schlug sich auch in der Terminologie des verbindungsstudentischen Kneiprituals nieder, zu der Bierminuten, Bierzeitung, Bieroper, Bierzipfel und dergleichen gehörten. Das Trinken war für die Gestaltung der sozialen Beziehungen innerhalb der Verbindungen von essentieller Bedeutung. Den Ablauf des Trinkens im Rahmen einer Kneipe oder eines Kommerses regelte das sogenannte „Bierkomment“. Dieses Verfahren übernahmen die jüdischen Korporationen von den traditionellen Studentenverbindungen. Darin waren Spiele zur Unterhaltung während der Kneipe vorgesehen; es gab – analog zu den Ehrengerichten – „Biergerichte“, vor denen „Bierskandale“ gelöst wurden; das „Bierjungentrinken“ als Saufwettbewerb entsprach dem Duell innerhalb des Kneiprituals. Die jüdischen Verbindungen im deutsch-vaterländischen KC hegten den Wunsch, dem jüdischen Akademiker einen studentischen Kreis zu schaffen, innerhalb dessen ihm die Möglichkeit gegeben ist, die auf deutschen Hochschulen üblichen Sitten, studentischen Sinn und Geselligkeit zu pflegen.17 Geselligkeit sollte, wie generell „üblich“, in den regelmäßig stattfindenden Kneipen ermöglicht werden. Eine herausragende Stellung nahmen bei den „deutsch-vaterländischen“ jüdischen Verbindungen größere Kommerse ein, die aus Anlass beispielsweise der Reichsgründung gesamtuniversitär und öffentlich begangen wurden. Die Begeisterung, mit der nationale Feste organisiert und abgehalten wurden, offenbart, wie eng die jüdischen KC-Verbindungen der deutschen Gesellschaft verhaftet waren. Außerdem zeigt das Bemühen, bei derart offiziellen Anlässen angemessen vertreten zu sein, das Streben nach gesamt-gesellschaftlicher Anerkennung und nach einem exklusiven sozialen Status. Auch innerhalb der jüdischen Bevölkerung bemühten sich die KCVerbindungen um Akzeptanz und Unterstützung. Eine nur geringe Teilnahme seitens des jüdischen Bürgertums an öffentlichen Veranstaltungen der Korporationen wurde als Verschlechterung des gesellschaftlichen Standes gewertet. Zur Abhaltung von Feierlichkeiten oder auch regulären Kneipen bedurfte es eines repräsentativen Raumes, eines Kneiplokales. Dies erwies sich für die jüdischen Studentenverbindungen oftmals als Problem. Noch bis nach dem Ersten Weltkrieg 16 17

Vgl. exemplarisch HUA, RS, Nr. 721, Statuten der Sprevia im KC, 1894, §1. Ebd., A142/90/11c, Bericht der ‚Rheno-Silesia‘ im KC, WS 1899/1900, S. 3.

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hatten generell nicht alle Verbindungen eigene Häuser beziehungsweise Kneipen. Stattdessen war es üblich, sich in einem Lokal einzumieten. Der Gewinn für den Wirt richtete sich dabei nach dem Bierkonsum der Gäste. Die jüdischen Verbindungen waren sehr häufig gezwungen, ihren Kneipenort zu wechseln; fast jedes neue Semester ging mit einem Lokalitätenwechsel einher. Zumeist wurde den jüdischen Verbindungsstudenten unterstellt, ihr Bierkonsum sei zu gering.18 Doch ein anderer Aspekt scheint von größerer Bedeutung gewesen zu sein: Antisemitische Studenten und ihre Verbindungen vermieden ein Lokal oftmals, sobald der Wirt auch an eine jüdische Verbindung vermietete. Dies brachte den Besitzer der Gaststätte folglich in ein Dilemma – wenn er nicht ohnehin selbst antisemitisch eingestellt war – aus dem er meist auf Kosten der jüdischen Verbindung herauskam, indem er dieser den Vertrag aufkündigte. Über den tatsächlichen Umfang des Bierkonsums gibt es nur wenige Auskünfte. Die Menge der Trink- und Sauflieder, die in den Liederbüchern der jüdischen Studentenverbindungen zu finden sind, deuten eher auf einen recht hohen Stellenwert des Bieres hin. Naheliegender ist die Vermutung, dass das Argument des geringen Alkoholverbrauchs nur eine vorgeschobene Begründung des Inhabers der Gaststätte war, mit der er seine etwaigen antisemitischen Beweggründe verschleiern wollte. Oder er beabsichtigte durch eine Kündigung die oben erwähnte Gefahr abzuwenden, dass das Ansehen seines Lokals bei den antisemitischen Korporationen durch die Anwesenheit von jüdischen Verbindungen sinken könnte. Interessant ist, dass die zionistischen Verbindungen diese Argumentation in der Regel nicht hinterfragten, sondern sich zuweilen erfolgreich um die Anschaffung eigener Lokalitäten bemühten. Teilweise reproduzierten sie auch das Bild des abstinenten jüdischen Verbindungsstudenten. Die Bemühungen der deutsch-jüdischen Studenten, dieses Bild als falsch zu belegen, ironisierte Verbindungsstudent Shmaryahu Levin in seinen Erinnerungen an seine Studienzeit in Berlin: Die hundert und etlichen von uns waren nicht so viel wert wie ein halbes Dutzend guter Deutscher. So wurden wir von Lokal zu Lokal getrieben. Unser Verein nahm den Nomadencharakter des jüdischen Volkes an. In jeder Versammlung pflegte Motzkin, fast mit Tränen in den Augen, die Studenten anzuflehen: ‚Freunde, trinkt um Gottes Willen mehr Bier. Nehmt ein wenig Rücksicht auf unsern Verein¡ Es half nichts. Jemand kann wohl ein einzigs Mal ein großes Opfer bringen, aber nur wenige Menschen sind fähig, sich dauernd kleine Opfer aufzuerlegen.19

Auch die zionistischen Kneipen fügten sich mit ihren Ritualen in die kulturellen Codes des Verbindungsstudententums ein.20 Sie beteiligten sich ebenfalls an oben bereits erwähnten „nationalen“ Kommersen. Weitere Feiern, die Stiftungskommerse, fanden zu Jubiläen der Verbindungen und anlässlich von Kartelltagen statt. Anhand der unzähligen Presseerklärungen und Veröffentlichungen im Rahmen dieser Feierlichkeiten lässt sich die Bedeutung großer feierlicher Kommerse für die zionistischen Verbindungen ermessen. Vgl. beispielhaft die Beschwerde der ‚Bavaria Heidelberg‘ wegen des Rauswurfes durch den Wirt des Lokals ‚Perkeo‘ im Jahr 1929, in: UAHD, B8915/7. 19 Shmaryahu Levin, Jugend in Aufruhr, Berlin 1933, S. 275 f. 20 Vgl. HUA, RS 723, Berichte des VJSt Berlin von 1895–1910; ebd., RS 759, ,Hasmonaea‘ Berlin von 1902–1910.

18

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Über diese rein verbindungs-traditionellen Rituale hinaus entwickelte sich eine unverkennbar national-jüdische Festkultur, die sich allerdings an den Regeln der traditionellen Trinksitten orientierte. Hier war die ‚Kadimah‘ in Wien Vorreiterin der Entwicklung. Sie organisierte am 20. Dezember 1883 erstmals anstelle des Chanukkafestes eine Makkabäerfeier, bei der ein ehemals religiöses in ein nationales Fest umdefiniert wurde. Von nun an fanden in allen nationaljüdischen Vereinen und Verbindungen jährliche Makkabäerfeiern statt; das Makkabäerfest entwickelte sich zum „höchsten zionistischen Feiertag“.21 Der Ablauf dieser Feste war recht einheitlich und – wie die anderen Kommerse auch – reglementiert. Stets hielten Verbindungsmitglieder und Alte Herren Ansprachen, in denen die Bedeutung des „nationalen Befreiungskampfes“ der Makkabäer hervorgehoben wurde und die mit gemeinschaftlich gesungenen Liedern abgeschlossen wurden. Die ‚Kadimah‘ sang an dieser Stelle ihr Bundeslied zur Melodie von „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“ und dessen Refrain die folgende Aufforderung enthielt: Du Juda darfst nicht Sklave sein, Du hattest Makkabäer; Die süße Freiheit, sie ist dein, Nichts sei, mein Volk, dir höher!22 Die deutschen zionistischen Verbindungen hatten die Makkabäerfeste ebenfalls als festen Bestandteil in den Jahresablauf integriert. Diese Feste wurden entsprechend den Regeln studentischer Kommerse begangen; neben zionistischen Liedern, wie zum Beispiel der späteren Nationalhymne Israels („Hatikwa“) auf Hebräisch, wurden verbindungsstudentische Lieder wie „O alte Burschenherrlichkeit“ gesungen.23 Welch immens identitätsstiftende Bedeutung dem Fest der Makkabäer beigemessen wurde, verdeutlicht folgende Rede von Franz Oppenheimer aus dem Jahr 1906: Die Feier, die wir heute begehen, gilt einer nationalen Heldentat [. . .]. So dürfen auch wir, unbeschadet unserer Staatbürgerpflicht, unbeschadet unserer Liebe zu dem Vaterland, das uns gebar, die hohen Ahnen feiern. [. . .] Ein adlig Volk waren unsere Ahnen, als sie aus der Wüste hervorbrachen, um das gelobte Land zu erobern, ein ritterlich Kriegervolk mit speer- und schwertgewohntem Arm, wie seine Geschichte, ein adlig Volk von milden Sitten und frommen Herzen, wie seine unvergänglich ewigen Gesetze zeigen, die zum Grundfundament aller europäischen Kultur geworden sind. [. . .] Von diesem adligen Volk stammen wir ab, in gerader Linie [. . .]. In diesem Bewußtsein dürfen wir das Makkabäerfest feiern, und bleiben doch gute Deutsche, wenn wir der trotzighohen Ahnen mit Stolz gedenken [. . .].24

Hierin zeigt sich wie selbstverständlich die doppelte „Zugehörigkeit“, gepaart mit einem starken jüdischen Selbstbewusstsein. In dieser Identitätskonstruktion des starken Juden findet ein Rückgriff auf die ruhmreiche Vergangenheit statt. Zugleich ist dies eine bewusste, wenn auch unausgesprochene Abkehr vom „Ghettojuden“.

21

Inka Bertz, Zionismus und Jüdische Renaissance im wilhelminischen Berlin, in: Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien, hg. von Reinhard Rürup, Berlin 1995, S. 149–180, hier: S. 166. Der Name Makkabäer bezieht sich auf Juda Makkabi (und seine Nachkommen), Anführer eines Aufstandes gegen Antiochos IV. Epiphanes im Jahr 164 v.Chr. 22 Jüdisches Vereinsliederbuch, Berlin 1911. 23 Vgl. CZA, A231/4/2, Makkabäerfestzeitung und Weihelied zur Makkabäerfeier 1903 von VJSt Berlin. 24 Ebd., A142/64, Sonderausgabe der ‚Jüdischen Rundschau‘, Gedenkrede von Dr. Franz Oppenheimer, „Alte und neue Makkabäer“, 22.01.1906.

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Der ideologische Rahmen dieser Feste zeigt den Versuch, eine Brücke zwischen jüdischer und deutscher Identität zu schlagen, sowie das Bedürfnis, sich auf eine identitätsstiftende gemeinsame Vergangenheit zu berufen und eine Kontinuität zu den als Helden verehrten Urahnen herzustellen. Die verehrten Helden waren dabei durchweg starke Kämpfer; männliche Krieger mit kräftigen Körpern. Dieser Rückgriff auf antike Vorbilder sollte zugleich das Streben nach Palästina historisch legitimieren. Dennoch erwiesen sich auch die zionistischen Verbindungen als in der deutschen (Studenten-)Kultur verhaftet, indem sie einerseits besorgt waren, ihre Loyalität zum deutschen Vaterland könnte durch den Bezug zu „Zion“ infrage gestellt werden, und indem sie andererseits die gängigen deutschen Studentenbräuche gänzlich übernahmen.

Das Singen Das Singen war neben dem Biertrinken das zweite Standbein der festlichen Kneipenrituale der studentischen und damit auch der jüdischen Verbindungen. Es fand zu allen feierlichen Anlässen statt. Ebenso wie das Trinken war auch das Singen ritualisiert.25 Das gemeinschaftliche Singen diente zur Stärkung des internen Zusammenhaltes in der Verbindung. Da die Lieder aber nicht nur im internen Kreis der Verbindung, sondern gerade auch öffentlich bei Stiftungsfesten und anderen Kommersen gesungen wurden, hatten sie auch eine erhebliche Außenwirkung und dienten dazu, das Bild von der Verbindung in der Öffentlichkeit zu gestalten. Vor allem die Studentenlieder sowie die allgemein-studentischen Trinklieder sollten die Stellung innerhalb der Gesellschaft symbolisieren. Die klare Zuordnung zum exklusiven Stand des Studenten fungierte zugleich als Legitimierung der vorübergehenden „Auszeit“, die ein junger Mann während seiner Studienjahre genoss, und die sich im Hedonismus der studentischen Subkultur äußerte. Die Übernahme der studentischen Bräuche bezüglich der Gesangskultur weist ein weiteres Mal auf den Versuch der jüdischen Studenten hin, auch auf dieser Ebene als vollberechtigte Mitglieder der bildungsbürgerlichen Gesellschaft akzeptiert zu werden.

Die KC-Verbindungen Die nichtzionistischen jüdischen Studentenverbindungen strebten danach, eine angesehene Stellung in der deutschen Studentenschaft zu erlangen. Da sie sich selbst bereits als Teil der deutschen Studentenschaft betrachteten, lag es nahe, zentrale Lieder, die in den anderen Verbindungen auch ihren festen Platz hatten, in das eigene Repertoire aufzunehmen; darunter etliche deutschnationale Vaterlandslieder. Die Liederbücher der „deutsch-vaterländischen“ jüdischen Verbindungen unterschieden

25

Vgl. zum Liedgut und seiner Bedeutung für nationale Bewegungen Dietmar Klenke, Der singende „deutsche Mann“. Gesangvereine und deutsches Nationalbewußtsein von Napoleon bis Hitler, Münster 1998.

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sich kaum von denen anderer Korporationen; eine spezifisch jüdische Prägung der Lieder durch Umdichtung von Texten oder eigene Kompositionen ist kaum oder, wenn überhaupt, erst in der Weimarer Republik zu erkennen. Stets finden sich die gleichen Lieder mit einem recht eingeschränkten Motivfundus wieder. Dieser war durch eine Überbetonung der studentischen, männlichen, deutschen Ehre und Heldenhaftigkeit geprägt. Zudem wurde ein enger Bezug zum deutschen Vaterland und als Symbol dafür zu „Vater Rhein“ hergestellt.26 Ein Beispiel soll verdeutlichen, welche Attribute der Männlichkeit und Stärke in den Liedern besungen wurden. Es finden sich regelmäßig Gegenüberstellungen der Topoi Schwarz, Vergangenheit, Unterdrückung und Weiß, Zukunft, Stärke; so in diesem von Max Oppenheimer, Mitbegründer der KC-Verbindung ‚Badenia‘ in Heidelberg, gedichteten Text für das Farbenlied der ‚Sprevia‘ in Berlin, das nach der Melodie von „Sind wir vereint“ angestimmt wurde. Es besang die drei Farben Gelb, Weiß und Schwarz: [. . .] / Die Farben zeigen an, was wir erstreben; / Drum schützet sie mit Eurem Schwert. // Gelb war das Mal, mit dem die rohe Menge / Einst unsre Väter hat geplagt. / [. . .] Was Schandfleck war, ward unser Ehrenzeichen / Und Denkmal unsrer Feinde Schuld! // Weiss wie der Schnee, der eben frisch gefallen, / Sei unser Schild so blank und rein / [. . .] ‚Furchtlos und treu!‘ lasst stets uns sein. / [. . .] // Schwarz ist die Nacht, die noch mit dunklen Schwingen / Der Menschheit Augen fest umhüllt. / Durch tiefes Dunkel müssen wir uns ringen / Hin zu der Freiheit lichtem Bild. / Hass und Verleumdung setzt man uns entgegen / Stählt Euern Arm, der Kampf ist heiss; / [. . .].27

Abgesehen von der Erklärung für die gelbe Verbandsfarbe in einigen sogenannten „Farbenliedern“ der KC-Verbindungen finden sich kaum Hinweise auf die jüdische Herkunft der Verbindungsmitglieder. Auch die Wahl der Melodien – durchweg traditionell deutsche, vaterländische und militärische Weisen – zu denen die verbandseigenen Texte gesungen wurden, deutet eher darauf hin, wie stark sie der deutschen Kultur und den vaterländischen Werten verhaftet waren, als dass es für ein spezifisch jüdisches Selbstbewusstsein spräche. Außerdem schien die Betonung der deutschen Ehre und Heldenhaftigkeit wichtiger als die Definition einer jüdischen Ehre oder ihre Verteidigung gegen die drohende Gefahr des Antisemitismus. Dass die Lieder dennoch spezifisch jüdisch waren, zeigt sich im steten Bemühen der KC-Verbindungen, sich zumindest in den Verbandshymnen gegen den Antisemitismus zu wenden. Immer wieder finden sich Hinweise auf den „Hass“, der hoffentlich bald aufhöre, auf den „Kampf ums Recht“, der ihnen Anerkennung verspricht, und eine beständige Spannung zwischen dem „Geist“, mit dem sie vernünftig und wachsam kämpfen wollen, der sich aber nur durchsetzen kann, wenn er mit der schlagkräftigen „Klinge in der Hand“ gemeinsam kämpft.

26

Vgl. CZA, A142/90/11a, Kommerslieder der ‚Licaria‘ München zum Stiftungsfest 1896. Darin waren von zwölf Liedern fünf deutsch-vaterländisch ausgerichtet, vier allgemein-studentisch, zwei Trinklieder und ein Toast. 27 Ebd., Farbenlied der freien Verbindung ‚Sprevia‘. Das Gelb bezog sich auf die mittelalterliche Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung.

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Die zionistischen Studentenverbindungen In der Auswahl der Lieder – sogar bei den Trinkliedern – wird der enge Bezug zur nationaljüdischen Idee deutlich. Was bei den nichtzionistischen jüdischen Verbindungen fast gänzlich fehlte – ein ausdrücklich jüdischer Charakter innerhalb des Liedgutes – wandelte sich bei den zionistischen Verbindungen zu einer deutlichen Hinwendung zu jüdischen Themen und Motiven sowie zu einer Verarbeitung des zionistischen Gedankens in den Liedern. Während die nichtzionistischen Verbindungen dem Deutschen Reich als ihrer Heimat und ihrem Vaterland huldigten, richtete sich das Sehnen der zionistischen Verbindungen nach Palästina aus. Am deutlichsten wurde dies durch die Aufnahme der späteren israelischen Nationalhymne, der ‚Hatikwa‘, in einige zionistische Studentenliederbücher. Die Zionisten räumten dem Singen zionistischer Lieder einen hohen Stellenwert in der Erziehung zum Zionismus ein. Das zentrale Motiv der selbstgedichteten Lieder und Gedichte war die Glorifizierung der Makkabäer und der Verweis auf die edlen Ahnen, in deren Tradition man sich einzureihen gedenke. Die Lieder liefern – auf der „ehrenvollen Vergangenheit“ fußend – die musikalische Grundlage für die Wehrhaftigkeit und das Bemühen, die jüdische Ehre militant gegen antisemitische oder andere Bedrohungen zu verteidigen. Doch nicht immer waren Text und Melodie derart aufeinander abgestimmt. Die Verknüpfung von jüdisch-nationalen Texten mit Melodien deutschnationaler Lieder zeigt, wie eng die zionistischen Verbindungen doch in die deutsche Kultur eingebunden waren. Auffallend ist das recht „uniforme Melodienrepertoire“28 der Verbindungen über die ideologischen Grenzen hinweg. Sowohl die Nichtzionisten als auch die Zionisten griffen auf die gleichen Melodien zurück, wenn es galt, ihre verschiedenartigen Texte zu vertonen. Dies deutet auf die feste Einbindung in die Hegemonialkultur hin, die weiterhin erhalten blieb, selbst bei den sich von aller Deutschtümelei abwendenden zionistischen Studenten. Zugleich war die Wahl von nationalen Melodien aber auch der Versuch, die eigene Verbindung auf den gleichen Stand wie die angeseheneren traditionellen Studentenverbindungen zu heben.

AUSHANDLUNGSORT 2: DER FECHTBODEN Wir Nationaljuden dürfen keine Büchermenschen sein, sondern Männer, die für den Kampf ums Dasein gerüstet sind und ins Leben eingreifen. [. . .] [Dazu braucht es die] Ausbildung aller männlichen Tugenden, der Stählung der Kräfte und der Stärkung des Mutes.29

Im Jahr 1888 – also zwei Jahre nach Gründung der ‚Viadrina‘ – wurde der jüdische Medizinstudent Max Ehrenfried von einem Kommilitonen als Judenjunge beschimpft.

28

29

Heinrich Schwab, Das Vereinslied des 19. Jahrhunderts, in: Handbuch des Volksliedes, Bd. 1: Die Gattungen des Volksliedes, hg. von Rolf Wilhelm Brednich, Lutz Röhrich und Wolfgang Suppan, München 1973, S. 863–898, hier S. 882. CZA, A 15/VII/34, Referat Fabius Schachs auf dem Delegiertentag der deutschen Zionisten in Frankfurt a. M. am 31.10.1897.

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Er forderte darauf auf Pistolen, was der Kommilitone mit dem Hinweis ablehnte, er würde nur ein Säbelduell für zulässig erachten. Daraufhin schlug Ehrenfried dem Studenten ins Gesicht und nahm sich so selbst seine „Satisfaktion“; gleichbedeutend mit der Wiederherstellung seiner beleidigten Ehre. Ein ähnlicher Fall ist aus Freiburg, zwei Jahre später, überliefert. Eduard Salomon war als krummer Judenjunge beschimpft worden, hatte daraufhin erklärt, die Corpsstudenten sollten sich als moralisch geohrfeigt betrachten und er erhielt unmittelbar drei Duellforderungen. Er starb im zweiten Duell.30 Eines der zentralen Rituale der Studentenverbindungen war die Mensur, die ihren Ursprung im Duell hatte. Diese Form des Zweikampfes fügt sich in das umfassendere Konzept der Ehre ein, das auch Ende des 19. Jahrhunderts noch Bestand hatte. Es ging bei der Mensur einerseits um die Verteidigung der Ehre der Verbindung. Andererseits hatte sie aber auch die Funktion, in regelmäßiger Wiederholung den inneren Zusammenhalt der Gruppe zu bekräftigen, was nach außen durch die entstehenden Schmisse symbolisch demonstriert werden sollte. Die in den Liedern häufig besungene Bereitschaft, Gut, Mut und Blut dem Kampf zu weihen, darf hier ganz wörtlich verstanden werden.31 An oberster Stelle wurde immer der sowohl deutsche als auch männliche Charakter des Zweikampfes hervorgehoben. Da nun im Antisemitismus Juden als unmännlich galten, schienen Zweikampf und Mensur besonders geeignet, um die Männlichkeit der jüdischen Studenten und ihre Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis zu beweisen.32 Neben der Ehre Einzelner existierte auch die Vorstellung einer nationalen Ehre. Die Juden waren im christlichen Staatsverständnis „vaterlandslos“ und galten nicht als Teil der Ehrgemeinschaft. Von jüdischer Seite wiederum wurde die Anerkennung einer nationalen Ehre eingefordert. Besonders diejenigen jüdischen Studenten, die sich in der Tradition der burschenschaftlichen Nationalbewegung sahen, beanspruchten die Anerkennung ihrer Ehre, wobei sie sich in einer besonderen Situation befanden. Sie verstanden ihre Ehre als eine zweifache, nämlich studentisch und jüdisch. Die Mitglieder jüdischer Studentenverbindungen übernahmen den Ehrbegriff; „ehrenrührige Handlungen“ wurden als Ausschlussgrund angesehen. Wie selbstverständlich ihnen diese Ehrvorstellung war, zeigt auch die Tatsache, dass dieser Begriff weitgehend unerklärt und undefiniert verwendet wurde. Sie verstanden sich als Teil des Bürgertums und erwarteten folglich auch die Anerkennung ihrer bürgerlichen Ehre. Die Wiederherstellung einer beschädigten Ehre konnte auf zweierlei Wegen erfolgen: Mittels einer Schlichtung beim Ehrengericht oder mittels eines Duells. Von geringerer Bedeutung war dabei ersteres; da in den Berichten über Ehrengerichte 30 31

Vgl. zu diesem Fall Frevert, Ehrenmänner (Anm. 11), S. 194 f. Vgl. zur Bedeutung der Mensur, des Duells und der Ehre beispielhaft ebd.; sowie in methodischer und konzeptioneller Hinsicht wegweisend Dinges, Ehre (Anm. 11). 32 Vgl. hierzu auch Miriam Rürup, Auf Kneipe und Fechtboden. Inszenierung von Männlichkeit in jüdischen Studentenverbindungen in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute (Geschichte und Geschlechter 49), hg. von Martin Dinges, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 141–156; sowie Swartout, Mut, Mensur und Männlichkeit (Anm. 5).

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die spezifische Männlichkeitsrhetorik fehlte, wird es hier nicht weiter betrachtet. Allerdings lässt sich teilweise eine Argumentation finden, die darauf verweist, dass die Abhaltung von Ehrengerichten als Alternative zum Zweikampf als unmännlich anzusehen ist. Meist wurde freilich eine militante Lösung, das Duell oder die studentische Entsprechung dieses Zweikampfes zwischen Männern – die Mensur – favorisiert. Die „satisfaktionsfähige“ Gesellschaft sah eine schwere Beleidigung erst nach Abhaltung eines Zweikampfes als bereinigt und die Ehre folglich als wiederhergestellt an. Im Falle des Duells ging es nicht um eine kollektive, sondern um die persönliche Ehre der Betroffenen; auch wenn die Einzelnen natürlich das Bild ihrer „Ehrgemeinschaft“ durch ihr Verhalten mitprägten. Doch Duelle konnten nur satisfaktionsfähige – besser: satisfaktionswürdige – Mitglieder der Gesellschaft austragen. Schließlich konnten nur ehrbare Männer ihre Ehre verlieren, die sie nach einer Ehrverletzung wiederherstellen mussten. Doch von antisemitischer Seite wurde den jüdischen Studenten der Besitz einer solchen Ehre zunehmend streitig gemacht und die Satisfaktionsfähigkeit aberkannt. Das hieß, ihre Duellforderungen wurden nicht mehr akzeptiert, womit ihnen die Grundlage entzogen wurde, ihre Ehre gegenüber Angreifern auf „studentische Weise“ zu verteidigen. In den Waidhofener Beschlüssen von 1896 hatten die deutschnationalen Verbindungen Österreichs die Juden erstmals generell als „ehrlos“ erklärt und den Angehörigen des Verbandes die bewaffnete Austragung von „Ehrenangelegenheiten“ mit Juden untersagt. Damit wurden sie zum Vorbild für Studentenverbindungen im Deutschen Reich. Nach Ende des Ersten Weltkrieges schließlich hatte sich das Konzept des satisfaktionsunwürdigen Juden allgemein durchgesetzt. Der 1919 gebildete ‚Allgemeine Deutsche Waffenring‘ (ADW), der größte Verband schlagender Verbindungen, schloss jüdische schlagende Korporationen satzungsmäßig aus und versagte ihnen die Satisfaktion grundsätzlich. Diese Entwicklung war für die jüdischen Verbindungsstudenten verhängnisvoll. Sie waren davon ausgegangen, dass der Nachweis von Wehrhaftigkeit in Duellen zur gesellschaftlichen Anerkennung genügen und die Antisemiten eines Besseren belehren würde, sodass diese ihnen schlussendlich Respekt zollen und ihre Ehre anerkennen würden. Die Wehrhaftigkeit und das Bestehen im Duell sollten dazu beitragen, das Bild vom „feigen“ Juden zu zerstören. Der wehrhafte, jüdische Student sollte mit seiner Bereitschaft zum Duell seine Ablehnung des angeblich verweichlichten, vergeistigten „Ghettojuden“ unter Beweis stellen. Damit wurde versucht, gegen das Stereotyp des feigen Juden anzukämpfen. Wie George Mosse festgestellt hat, entwickelte sich im 19. Jahrhundert der „unmännliche Mann“ zum Inbegriff des Anti-Typus; und damit als Gegensatz zum Ideal des starken Helden.33 Indem den jüdischen Studenten nun aber der Weg verwehrt wurde, Duellforderungen zu überbringen, wurde ihnen die Grundlage zur Erlangung gesellschaftlicher Anerkennung entzogen. Die Diskussionen um das Duell wurden mithin zu einer Prinzipienfra-

33

Vgl. George L. Mosse, Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a. M. 1997, insb. Kap. 4.

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ge und antisemitische Beleidigungen wurden zum Anlass von Duellforderungen genommen.34 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fanden zunehmend weniger Duelle mit antisemitischem Hintergrund statt, hingegen erhöhten sich die Zahlen von innerjüdischen Zweikämpfen. Es schien wichtiger zu sein, sich durch forsches Auftreten der jüdischen Konkurrenz zu erwehren, sich nach innen zu konsolidieren und sich nach außen als männliche, starke, ehrenvolle Gemeinschaft zu demonstrieren, als antisemitische Gegner zu bekämpfen. Infolge der mangelnden Anerkennung der Satisfaktionsfähigkeit durch die nichtjüdischen Korporationen waren die unmittelbaren Konkurrenten auf der Prestigeskala der Studentenverbindungen allgemein die anderen Zweige jüdischer Verbindungen. Die Bedeutung der Wehrhaftigkeit zeigt sich auch im Wandel nach 1918. Da wurde zwar sowohl beim KC als auch beim KJV die Mensur abgeschafft, das Prinzip der unbedingten Satisfaktion blieb aber beim KC erhalten, beim KJV wurde sie auf Verbandsebene abgeschafft. Interessanterweise etablierten sich nach 1918 neue Sportarten, die als geeignet für den Abwehrkampf angesehen wurden, nämlich Boxen und Jiu-Jitsu. Es kam darauf an, den Körper zu stählen und zu ertüchtigen, um im Abwehrkampf bestehen zu können. Diese Entwicklung ab 1918 lag auch darin begründet, dass Juden als nicht mehr satisfaktionswürdig angesehen wurden und deswegen die traditionelle Wehrhaftigkeit an Bedeutung verlor. An ihre Stelle traten dann die „Ohrfeige“ und andere Formen der Prügel. Während das Duell ein individuelles Auftreten gegen den Vorwurf von Feigheit war, stellte die Mensur, das zentrale verbindungsstudentische Ritual (und eine Weiterentwicklung des Duells), eine Behauptung der Stärke des Kollektivs dar und war nicht mehr eine bloße Reaktion auf eine Beleidigung, die nicht mal mehr formal notwendig war. Bei der Mensur wird keine Einzelehre, sondern die Ehre der Korporation verteidigt beziehungsweise demonstriert. Die Mensur hatte vielerlei Funktionen: Sie war ein identitätsstiftendes Ritual, stärkte den inneren Gruppenzusammenhalt, demonstrierte die Gruppenstärke nach außen und bildete ein Initiationsritual für Neuzugänge. Mensuren hinterließen körperliche Markierungen, Mutilationen – die Schmisse. Diese Narben im Gesicht symbolisierten die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen exklusiven sozialen Status. Hier zeigt sich die Verknüpfung von quasifeudalen Konzepten mit dem Ehrgeiz, als Teil des (Bildungs-)Bürgertums akzeptiert zu werden.35 Die Übernahme dieses Rituals drückte den Wunsch aus, ebenfalls Prestige zu erlangen und damit seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern. Gerade die Tatsache, dass die Mensur auch nach dem Verlust ihrer ursprünglichen Bedeutung – eines Zweikampfes um der Ehre willen – weiterhin vollzogen wurde, beweist ihre nachhaltige symbolische Funktion. Es ging nunmehr nur noch um das Ruhighalten 34

Erich Rosenkranz, Eine Satisfaktionskomödie in Marburg, in: Jüdischer Student 8 (1911), Nr. 4, S. 120–123, hier S. 120. Vgl. zur Schande als Gegenbegriff zur Ehre etwa Dinges, Ehre (Anm. 11), S. 34. 35 Vgl. Frevert, Ehrenmänner (Anm. 11); sowie Dietmar Klenke, War der „deutsche Mann“ im 19. Jahrhundert ‚bürgerlich‘ oder ‚feudal‘? Anmerkungen zu einer Kontroverse über Duell, Mannesehre und deutschen Sonderweg, in: WerkstattGeschichte 4 (1995), Nr. 12, S. 56–64.

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bei einer Verletzung, wodurch Mut, Tapferkeit und Disziplin – eindeutig männlich konnotierte Tugenden – unter Beweis gestellt werden sollten. Die Schmisse können mithin als „Narben der Zugehörigkeit“ bezeichnet werden.

Die KC-Verbindungen Die im KC vereinten Studentenverbindungen betonten ihre deutsch-vaterländische Gesinnung. Diese sollte vor allem durch „Schneidigkeit“, durch zackiges, selbstbewusstes Auftreten nach außen, hervorgehoben werden. In ihren Statuten hatten sie die Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins als Ziel benannt. Erreicht werden sollte dies durch Pflege körperlicher Übungen sowie geistige Erziehung. In der verbindungsstudentischen Realität nahm dabei die körperliche Ertüchtigung und vielmehr noch der Nachweis der körperlichen Tüchtigkeit wesentlich mehr Raum ein als die geistige Fortbildung.36 Das Fechttraining war fester Bestandteil des Alltags, in den meisten Verbindungen des KC wurde täglich gefochten. In einer Denkschrift setzte sich die Verbindung ‚Badenia‘ das Ziel: Wir müssen das Odium der Feigheit und Weichlichkeit, das auf uns lastet, mit aller Energie zurückweisen.37 Dies erst schaffe die Grundlage für die Entstehung eines neuen jüdischen Selbstvertrauens und jüdischer Selbstachtung. Das „schneidige“ Auftreten war ein elementarer Teil ehrenvollen Verhaltens. Wenn ein Kontrahent den Fordernden für nicht satisfaktionswürdig hielt, so konnte dieser immer noch durch eine Ohrfeige Genugtuung erlangen. Häufig fanden Prügeleien statt, wenn Verbindungsstudenten Forderungen ausschlugen. Fechten diente den deutsch-vaterländischen jüdischen Studentenverbindungen in erster Linie zur Selbstbehauptung gegenüber den anderen, sie verachtenden nichtjüdischen Korporationen. Sie wollten durch das Fechten soziale Anerkennung und Prestige erlangen sowie ihre Ehre als Studenten, als Deutsche, als Männer und als Juden bekräftigen. Die Funktion der körperlichen Ertüchtigung war rein instrumental auf die Stärkung der Kampfkraft ausgerichtet, weniger auf eine Stärkung des sozialen, innerjüdischen Zusammenhalts. Eine nahezu dankbar angenommene Gelegenheit, die eigene Wehrhaftigkeit unter Beweis zu stellen, war der Erste Weltkrieg. Zahlenmäßig wurde die Wehrhaftigkeit nicht nur in Form von studentischen Zweikämpfen sichtbar, sondern auch an der Beteiligung von jüdischen Verbindungsstudenten am Ersten Weltkrieg. In Leipzig beispielsweise meldeten sich 90 Prozent der Verbindungsstudenten zur Front, von den anderen jüdischen Studenten lediglich 60 Prozent. Im Nachhall der Revolutionswirren boten darüber hinaus die Zeitfreiwilligenkontingente und Freikorps den militarisierten Studenten die Möglichkeit, ihre soldatischen „Fähigkeiten“ weiterhin einzusetzen. Die immense Bedeutung dieses Einsatzes wurde bei jeder Gelegenheit betont.

36 37

Vgl. z. B. CZA, A142/90/11a+b, Berichte von 1896–1902. Ebd., A142/90/11f, Denkschrift ‚Viadrina‘ Breslau 1886, S. 6.

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Die zionistischen Verbindungen Die Erziehung zur Männlichkeit war auch oder gerade für die zionistischen Verbindungen zentral. Die Männlichkeitserziehung wurde geradezu als Daseinsberechtigung für die Existenz von Verbindungen schlechthin angeführt, wie das eingangs zitierte Rundschreiben vom Frühjahr 1917 erkennen ließ. Von Beginn an wurde in den zionistischen Verbindungen gefochten. Doch insgesamt hatte das „zionistische Fechten“ allenthalben eine geringere Bedeutung als in den deutsch-nationalen jüdischen Verbindungen. Die Semesterberichte erwähnten zwar auch die regelmäßigen Fechtkurse, doch seitenlange Schilderungen von Erfolgen bei der Mensur blieben aus. Dennoch war auch hier das Erziehungsziel „Männlichkeit“ nicht weniger deutlich. Diese Männlichkeit äußerte sich in der Überbetonung von körperlicher Stärke, wie sie auch Max Nordau mit seinem für die zionistische Bewegung wegweisenden Konzept des Muskeljudentums propagierte.38 Weitaus mehr Raum nahm bei den zionistischen Verbindungen statt des Fechtens das Turnen ein. Sie erstrebten die physische Regeneration des jüdischen Volkes,39 die den verhassten und „degenerierten“ beziehungsweise „entarteten“ „Ghettotypus“ beseitigen sollte.40 Dabei wurde dem Turnen analog zur deutschen turnenden Nationalbewegung eine wesentliche erzieherische Funktion zugeschrieben. Die ersten jüdischen Turnvereine in Deutschland waren von Zionisten eingerichtet worden. Sie sollten – wenn auch zunächst nur den Ostjuden – bei diesem Vorhaben helfen. Während sich also die nichtzionistischen Verbindungen damit befassten, durch exzessives Fechten Ansehen in der deutschen Hegemonialgesellschaft zu erringen, strebten die Zionisten mehr nach innerer Festigung, um sich durch den stärkeren Zusammenhalt auf die zukünftig zu gestaltende Gesellschaft vorzubereiten. Doch auch die zionistischen Verbindungen ließen das wehrhafte Auftreten nach außen nicht gänzlich fallen. Die Übernahme der studentischen Sitte des Duells galt dabei nicht als Widerspruch. Der Sinn des Fechtens und von Mensuren wurde aber anders als bei den nichtzionistischen Verbindungen nicht hauptsächlich in der Steigerung der Reputation gesehen, sondern in der Bedeutung für die innere Festigung der Verbindung. Die unbedingte Satisfaktion erschien als „Zweckmäßigkeit“. So wurde sie nicht als Wert an sich betrachtet, sondern bot sich als Instrumentarium im Abwehrkampf und zur Körperertüchtigung an, und war damit mehr taktisches Mittel als wirklicher Inhalt. Dass der KZV von Beginn an das Prinzip der unbedingten Satisfaktion übernommen hatte, mag auch damit zusammenhängen, dass er eine Elitestellung innerhalb der zukünftigen jüdischen Gesellschaft anstrebte und die Wehrhaftigkeit als Vehikel dazu dienen sollte. Die Übernahme des studentischen Satisfaktionsverständnisses zeigt, wie stark selbst die radikal zionistischen Verbindungen in die Hegemonialkultur eingebettet waren.

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Vgl. Max Nordau, Muskeljudentum, in: Jüdische Turnzeitung 4 (1903), Nr. 8, S. 137 f. CZA, A231/4/10, § 1 der Satzung des VJSt im BJC Königsberg, um 1908. Beispielhaft in ebd., A4/14, Festzeitung zum 10. Stiftungsfest des VJSt München, Mai 1910, S. 4.

Eine Frage der Ehre

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Es ging den Zionisten darum, ihre Ehre nach außen hin offensiv zu vertreten und Geschlossenheit zu demonstrieren. Das Konzept der dezidierten Stärkung des innerjüdischen Ehrgefühls und des demonstrativ „ehrwürdigen“ Auftretens verdeutlicht den Vorrang, den die innerjüdische Festigung bei den zionistischen Verbindungen hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg allerdings lösten sie sich weitgehend von diesen traditionellen Formen, schafften das Prinzip der Satisfaktion ab und wandten sich einem praktischeren Zionismus zu. Das Ehrkonzept unterlag einem Wandel. Nunmehr ging es um die Etablierung einer zionistischen Ehre. Und diese konnte beispielsweise durch selbstlosen Einsatz für zionistische Organisationen erlangt werden. Der Gedanke der klassischen studentischen Wehrhaftigkeit trat damit in den Hintergrund und wandte sich eher praktischen Fragen wie der Selbstbehauptung (und falls nötig auch Selbstverteidigung) in Palästina und der Arbeit an der „Regeneration“ der „jüdischen Nation“ zu.

FAZIT Jüdische Studentenverbindungen waren folglich nicht bloße Abwehrorganisationen, die als Gegenreaktion zum Antisemitismus gegründet wurden und als solche fortbestanden. Vielmehr spielte die Sozialisation in einer jüdischen Studentenverbindung eine aktive oder sogar führende Rolle in der Herausbildung einer neuen, eigenständigen jüdischen „Identität“ in Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg. Die auf Fechtboden und Kneipe zur Schau gestellte Männlichkeit sollte Vehikel zur Aufnahme in die Hegemonialgesellschaft beziehungsweise in die (deutsche) Nation sein. Folglich können Fechtboden und Kneipe als Orte gelten, an denen sich eine „Zugehörigkeitsgemeinschaft“ als Deutsche, Juden, Akademiker oder Männer überhaupt erst konstituierte. Die Studentenverbindung erwies sich somit gerade für die Randgruppe der jüdischen Studenten als Ort der Manns- und Deutschwerdung gleichermaßen. Andersherum führten die praktizierten Rituale in den Kneipen und auf den Fechtböden durch ihre ideologische Befrachtung, die häufig „jüdisch“ aufgeladen wurde, im Gegenzug wiederum zu einer „Re-Judaisierung“ der Verbindungsstudenten. Die vermeintliche Dichotomie zwischen zionistischen Verbindungen im KJV auf der einen Seite und „assimilatorischen“ Verbindungen im KC auf der anderen Seite kann dabei so nicht aufrechterhalten werden. Vielmehr haben die KC-Verbindungen ihre Mitglieder durch die jüdischen Erziehungsinhalte vermutlich unbeabsichtigt näher als zuvor ans Judentum herangeführt, während die zionistischen Verbindungen ihre Mitglieder zwar auf ein Leben in Palästina einschworen, jedoch durch die Konzentration auf die traditionell „deutschen“ studentischen Formen und die damit einhergehende Vermittlung und Übernahme typisch deutscher „Codes“. Die enge Verbindung zum und das Festhalten am Korporationsstudententum führte zu einer distanzierten Haltung gegenüber der Republik, was wiederum zur Folge hatte, dass sich vor allem die assimilierten jüdischen Studentenverbindungen von republikfreundlichen Kräften fernhielten. Erst Anfang der 1930er Jahre wurde diese Haltung aufgegeben. So schloss sich 1931 die ‚Sprevia‘ der vom ‚Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold‘ und dem ‚Deutschen Studentenverband‘ gegründeten ‚Akademi-

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schen Legion‘ in Berlin an; ein Schritt, der fast schon zu spät kam. Ein Teilnehmer berichtete: Es handelte sich um ein paar Schulungsabende in (defensiver) Saalschlachttaktik, die in einer (Polizei-) Turnhalle stattfanden. Instrukteur war ein Polizeibeamter. Hauptsächlich brachte er uns (ca. 20–30 Teilnehmer) bei, eine feste Kette zu bilden. Tatsächlich führte das nunmehr festere Auftreten der Linken (bzw. Juden), das heißt das Formieren einer Kette, wobei man jeweils seinen Nachbarn zur Linken an dessen Hosenbund hielt, während man in der freien rechten Hand den oben erwähnten Gürtel drohend schwingen konnte – dazu, daß die Nazis nicht mehr massiv aggressiv wurden, jedenfalls bis zum 30. Januar.41

Denn nach dem 30. Januar 1933 wurden auch die Verbindungsstudenten allmählich in die Emigration gedrängt. Hier freilich erwies sich der verbindungsstudentische Lebensbund als nützlich, erleichterte er doch häufig die Integration in den Exilländern. Dr. Miriam Rürup Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Beim Schlump 83, 20144 Hamburg, [email protected]

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Michael Freitag, Jüdische Studentenkorporationen in der Weimarer Republik (unpubl. Examensarbeit, Hamburg 1989), S. 85 f.

SPIRALE DER GEWALT Radikalisierungsprozesse studentischer Gewalttäter in den Anfangsjahren der Weimarer Republik und der Ersten Republik Österreich Martin Göllnitz

Abstract: Despite the armistice in November 1918, the weapons were by no means silent. While fighting continued on the eastern borders of the German Reich, in the Baltic States and in Upper Silesia, the revolution and counterrevolution led to bloody conflicts within the borders of the Reich. The Freikorps, financed by the Social Democratic government, fought for previous border demarcations and against attempts at communist insurrection at the same time. Anti-Bolshevism in particular was the driving force for the self-mobilization of many members of the Freikorps, who, although anything but republican or democratic, placed themselves at the service of the Berlin government. Among them were a not inconsiderable number of students from Germany and Austria who, on their own initiative, agreed to take action against the workers’ and soldiers’ councils by joining one of the numerous paramilitary citizens’ militias; not to mention the student involvement in the Kapp putsch – now on the side of the putschists. Although or precisely because this young elite did not know the battlefield of World War I from their own experience, they were able to stylize the war as a heroic experience and make the soldiery one of their virtues. How was the post-war militancy of the students connected to the war and what role did the young academics play in the early crisis years of Germany’s first parliamentary democracy. Selected case studies will help to gain a picture of the militant intellectual of those years.

Als der Philosophiestudent Axel Eggebrecht im März 1920 mit halbem Interesse ein Kolleg über Schopenhauer verfolgte und auf irgendein Ereignis wartete, das alles verändern würde, rechnete er gewiss nicht damit, dass er sich nur wenige Stunden später in einen verschlossenen Hauseingang mitten in der Kieler Innenstadt pressen würde, während um ihn herum die Salven eines Maschinengewehrs einschlugen.1 Für den Nachwuchsakademiker ging es just in diesem Moment um Leben und Tod, wie er in seinen Erinnerungen glaubhaft schildert. Einem seiner Kameraden hatten die Schüsse der Arbeiterwehr bereits die Hirnschale weggerissen, zwei weitere lagen stöhnend auf dem Pflaster. Verstrickt in ein Unternehmen, dem er völlig gleichgültig gegenüberstand und mit dessen Urhebern [ihn] nichts verband, stieg ihm an diesem Nachmittag die Todesangst bis in den Hals. Wie das Gros seiner Kommilitonen war er blindlings, ohne nachzudenken, dem „Abenteuer Freikorps“ gefolgt,2 das 1 2

Axel Eggebrecht, Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche, Reinbek 1975, S. 92–94. Dort finden sich auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 93. Zum Freikorpseinsatz als eine Form männerbündischer Abenteuerromantik vgl. Daniel Schmidt, Abenteuer Freikorps. Deutsche Konterrevolutionäre zwischen Selbstentgrenzung und Selbststilisierung, in: Abenteuer. Zur Geschichte eines paradoxen Bedürfnisses, hg. von Nicolai Hannig und Hiram Kümper, Paderborn 2015, S. 185–201.

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durch kühne Patrouillen-Unternehmungen dem Einzelnen Gelegenheit gab, seine Abenteuerlust, seinen persönlichen Mut und seine Soldateninstinkte zu entfalten.3 In diesem Fall hatte sich der junge Student dazu bereit erklärt, für die illegitime Regierung unter Wolfgang Kapp und Walther von Lüttwitz zu kämpfen. Mit der Entscheidung, die Putschisten in Berlin auch auf regionaler Ebene mit Waffengewalt zu unterstützen, bildeten aber weder der weltanschaulich unentschlossene Axel Eggebrecht, der alsbald vom rechten ins linke politische Spektrum wechseln sollte,4 noch seine zumeist reaktionären Kommilitonen in der Kieler Studentenkompanie Ausnahmeerscheinungen. Allem Anschein nach entstand im Anschluss an den Ersten Weltkrieg eine gewaltbereite gegenrevolutionäre Subkultur an den Hochschulen der besiegten Staaten Mitteleuropas, deren Angehörige sich vor allem in einem transnationalen Oppositionsmilieu militanter und rechtsextremer Gruppierungen bewegten. Im Rahmen paramilitärischer Verbände kämpften diese Jungakademiker auf den Schlachtfeldern Osteuropas oder in den Straßenschluchten mitteleuropäischer Großstädte, um „jene vermeintlichen und realen inneren und äußeren Feinde gewaltsam niederzuschlagen, die sie für die Kriegsniederlage, territorialen Zerfall und revolutionären Umsturz verantwortlich machten“.5 Für diese Gewaltbereitschaft konstatiert die Forschung gleich mehrere Ursachen – unter anderem die um 1918/19 wachsende Angst vor einer bolschewistischen Revolution.6 Ferner wirkten sich die „Dolchstoßlegende“, ein rassistisch dominierter Antisemitismus, die Bestimmungen des Versailler Vertrages sowie die Ablehnung der Novemberrevolution auf eine latent vorhandene Gewaltaffinität aus und begünstigten in Einzelfällen ein republikfeindliches Verhalten. Welche Rolle dabei die Kriegserfahrung und die Niederlage mitsamt Revolution spielten, ist bislang jedoch nicht ohne Weiteres zu erkennen, da das studentische Engagement in Freikorps und Wehrverbänden ein Desiderat der Forschung ist.7 Demgegenüber existiert ein Forschungskonsens hinsichtlich bürgerlicher Gewaltakzeptanz in der 3 4 5

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Ernst Rüdiger Starhemberg, Memoiren, Wien 1971, S. 51. Vgl. Alexander Gallus, Heimat „Weltbühne“. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 50), Göttingen 2012, S. 157 f. Robert Gerwarth, Im „Spinnennetz“. Gegenrevolutionäre Gewalt in den besiegten Staaten Mitteleuropas, in: Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, hg. von dems. und John Horne, Göttingen 2013, S. 108–133, hier S. 109. Vgl. Ders. und John Horne, Bolschewismus als Fantasie. Revolutionsangst und konterrevolutionäre Gewalt 1917 bis 1923, in: Krieg im Frieden (Anm. 5), S. 94–107; Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933 (Schriften des Bundesarchivs 61), Düsseldorf 2003, S. 396–398; ferner siehe Robert Gerwarth und John Horne, Vectors of Violence: Paramilitarism in Europe after the Great War 1917–1923, in: The Journal of Modern History 83 (2011), S. 489–512, hier S. 498 f. Das Thema „Freikorps und Paramilitarismus“ in Deutschland, Österreich und Ungarn nach Ende des Ersten Weltkrieges hat seit den 1970er Jahren erstaunlich wenig Aufmerksamkeit erfahren, weshalb transnationale oder vergleichende Studien fehlen. Zu eher klassischen Studien siehe Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918–1934, München 1976; Hagen Schulze, Freikorps und Republik 1918–1920 (Wehrwissenschaftliche Forschungen, Abteilung Militärgeschichtliche Studien 8), Boppard 1969; Robert George Leeson Waite, Vanguard of Nazism. The Free Corps Movement in Postwar Germany 1918–1923 (Harvard Historical Studies 60), Cambridge 1970.

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Weimarer Republik, die nur bei einer Minderheit auch die Bereitschaft zu eigener politischer Gewaltausübung miteinschloss und nicht als ein direktes Ergebnis der Kriegserfahrung zu deuten ist.8 Wie neuere Studien zur Geschichte der politischen Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert vielfach belegen, agieren Menschen überwiegend dann gewalttätig, wenn sie keinen anderen Ausweg erkennen.9 Zumeist müssen im Vorfeld viele Barrieren überwunden werden, bevor jemand zu extremen militanten Ausdrucksformen greift – wie die in diesem Beitrag zu betrachtenden studentischen Akteure. Zur Analyse derartiger Radikalisierungsprozesse wird auf eine von Sven Reichardt jüngst vorgeschlagene Definition zurückgegriffen, wonach unter Radikalen all jene Personen zu verstehen sind, „die ihre Ziele mit Gewalt und kompromisslos in grundlegender Opposition zur herrschenden Ordnung verfolgen.“10 Radikalisierung ist dabei nicht als ein von äußeren Faktoren losgelöstes Ereignis zu begreifen, sondern als Prozess, der von persönlichen Beziehungen, interpersonellen Netzwerken und Gruppendynamiken beeinflusst wird und mit dem Mechanismus eines Fließbandes, den sogenannten „action pathways“, vergleichbar ist. Vielfältige Einflüsse und Elemente bedingten in diesem Kontext die Radikalisierungsprozesse der zu untersuchenden Studenten. Oder anders gewendet: Die Bereitschaft, immer gewalttätiger zu werden, beruht auf einer Kette von zuvor erlebten Ereignissen.11 In Anlehnung an das von Reichardt zur Diskussion gestellte Konzept soll der Versuch unternommen werden, das rigorose und militante Verhalten jenes Teils der deutschen und österreichischen Studentenschaft zu analysieren, der in den bürgerkriegsähnlichen Jahren der Nachkriegszeit in nationalen Wehrverbänden diente oder sich in rechtsterroristischen Organisationen engagierte.12 Es wird also danach gefragt, welche Erfahrungen und politischen Entwicklungen für das radikale und gewaltbereite Auftreten dieser umtriebigen, überwiegend national-völkisch eingestellten Studenten verantwortlich waren oder dieses Verhalten, einem dynamischen 8

Vgl. Dirk Schumann, Einheitssehnsucht und Gewaltakzeptanz. Politische Grundpositionen des deutschen Bürgertums nach 1918 (mit vergleichenden Überlegungen zu den britischen middle classes), in: Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, hg. von Hans Mommsen (Industrielle Welt 60), Köln 2000, S. 83–105, hier S. 95–98. 9 Vgl. Randall Collins, Entering and Leaving the Tunnel of Violence: Microsociological Dynamics of Emotional Entrainment in Violent Interactions, in: Current Sociology 61 (2012), S. 132–151. Auf diesen Umstand hat Dirk Schumann bereits 1997 hingewiesen. Siehe dazu Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 366–386, hier S. 372 f. 10 Dazu und zum Folgenden vgl. Sven Reichardt, Radikalisierung. Zeithistorische Anmerkungen zu einem aktuellen Begriff, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017), S. 68–91, hier S. 71–74. 11 Ebd., S. 78 f. 12 Mit Heinrich Popitz wird davon ausgegangen, dass grundsätzlich alle Menschen das Potenzial zum gewaltsamen Agieren besitzen und Gewalt keineswegs sinnlos ist, sondern als Kommunikationsakt verstanden werden muss, der neue Anschlusskommunikationsmöglichkeiten mit weiteren Akteuren evozieren kann. Vgl. dazu Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 2 1992, S. 50; siehe auch Klaus Weinhauer und Dagmar Ellerbrock, Perspektiven auf Gewalt in europäischen Städten seit dem 19. Jahrhundert, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (2013), Nr. 2, S. 5–20, hier S. 9 f.

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Prozess gleich, sogar beschleunigten. Zu diesem Zweck wird auf den Terminus der „politischen Gewalt“ zurückgegriffen, der alle, zumeist kollektiv durchgeführten Formen der physischen Gewalt impliziert, die gegen politische Gegner gerichtet waren (etwa gegen Einzelpersonen, Gruppen, den Staat) oder die in einem Prozess der Kommunikation als politisch bezeichnet wurden.13 Ein solches Definitionskriterium bietet sich vor allem deshalb an, weil physische Gewalt zum einen leicht zu identifizieren ist und sich dadurch zum anderen synchrone und diachrone Vergleichsmöglichkeiten eröffnen.14

AUSGANGSLAGE: STUDENTEN ALS ANGEHÖRIGE EINER HOCHEXPLOSIVEN, MÄNNLICHEN SUBKULTUR Es ist in der Forschung bereits vielfach betont worden, dass der europäische Kontinent nach dem Waffenstillstand des Jahres 1918 von einem hohen Maß an innenpolitischer Gewalt geprägt war.15 Mit Blick auf das Deutsche Reich lassen sich für den Zeitraum bis 1923 beispielsweise gleich mehrere ineinander verschränkte Konfliktszenarien ausmachen, die sich von den Gewalterfahrungen des Ersten Weltkrieges grundlegend unterschieden: Während an den Ostgrenzen, im Baltikum wie in Oberschlesien weitergekämpft wurde, kam es innerhalb der Reichsgrenzen zu revolutionären und konterrevolutionären Auseinandersetzungen. Ein dritter Konfliktherd erwuchs aus den Sabotageakten und Fememorden nationalistischer Terrorgruppen. Auch in der Ersten Republik Österreich entwickelte sich Gewalt zu einem wichtigen Bestandteil der politischen Kultur der Zwischenkriegszeit.16 Nach Robert Gerwarth war die Anwendung und Akzeptanz paramilitärischer Gewalt in den besiegten mitteleuropäischen Staaten am stärksten ausgeprägt, besonders in den ethnisch gemischten Grenzräumen des ehemaligen Habsburger Reiches und im Baltikum.17

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Vgl. exemplarisch Birgit Enzmann, Politische Gewalt. Formen, Hintergründe, Überwindbarkeit, in: Handbuch Politische Gewalt. Formen – Ursachen – Legitimation – Begrenzung, hg. von ders., Wiesbaden 2013, S. 43–66, hier S. 46; siehe auch Donatella della Porta, Research on Social Movements and Political Violence, in: Qualitative Sociology 31.3 (2008), S. 221–230. Vgl. Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung (Anm. 9), S. 374. Siehe exemplarisch Gabriele Metzler, Das Jahrhundert der Gewalt und ihrer Einhegung, in: Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters, hg. von Martin Sabrow und Peter Ulrich Weiß (Geschichte der Gegenwart 13), Göttingen 2017, S. 21–39, hier insb. S. 25–30. Der vorliegende Beitrag greift damit zugleich eine These von Mark Jones auf, wonach die Konflikte zwischen linken und nationalen Kräften während der Novemberrevolution einen Eskalationsprozess in Gang setzten, der immer brutalere Gewaltakte zur Folge hatte. Zu diesen Konflikten sind beispielsweise die Berliner Aufstände im Januar und März 1919 oder die Niederschlagung der Münchener Räterepublik Anfang Mai 1919 zu zählen. Vgl. Mark Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 2017, S. 11 f. Klaus Weinhauer, Anthony McElligott und Kirsten Heinsohn, Introduction. In Search of the German Revolution, in: Germany 1916–23. A Revolution in Context, hg. von dens., Bielefeld 2015, S. 7–35, hier S. 22 f. Gerwarth, „Spinnennetz“ (Anm. 5), S. 111.

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Wesentliche Träger eines militanten und extremen Politikverständnisses waren die Freikorps und Heimwehren. In diesen Kampfverbänden kulminierten jene Erfahrungen von Niederlage, Revolution und territorialem Zerfall, die zur Mobilisierung und Radikalisierung einer hochexplosiven, männlichen Subkultur erheblich beitrugen.18 Besonders deren studentische Angehörige zeichneten sich dabei offenbar durch ein überaus erbarmungsloses militantes Verhalten sowie einen rüden soldatischen Umgangston aus.19 Mit einem derartigen Auftreten suchten sie ihren Mangel an Kampferfahrung wettzumachen, wie beispielsweise der Innsbrucker Student und Angehörige des Freikorps Oberland, Ernst Rüdiger Starhemberg, in seinen Erinnerungen nachdrücklich betont.20 Als Ausdrucksform favorisierten sie ein hohes Maß an politischer Gewalt. Obschon Aggression also zu einem elementaren Kennzeichen ihres Bedürfnisses nach Selbstschutz avancierte, dürfte das in der zeitgenössischen Presse bisweilen kolportierte Bild desillusionierter Studenten, die, stinkend nach Schnaps, das Monokel im Auge und eine Zigarette lässig im Mund, auf unschuldige Weiber und Kinder schossen, stark überzeichnet gewesen sein.21 Für die im Mittelpunkt des Beitrages stehende Gruppe von radikalen Gewalttätern aus dem akademischen Milieu stellte der Erste Weltkrieg ein außergewöhnlich starkes und singuläres Jugenderlebnis dar.22 Nach der Kriegsniederlage förderten die weitreichende Popularität des Krieges, die starke jugendliche Faszination für männerbündische Abenteuerromantik und der überhöhte „Frontkämpfer“-Mythos die Radikalisierungstendenzen innerhalb der national gesinnten Nachwuchsakademikerschaft, was sich auch in den „Verhaltenslehren der Kälte“ zeigte, die die Schriftsteller der „Neuen Sachlichkeit“ propagierten.23 Die Studenten wurden dabei von keiner 18

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Vgl. dazu auch Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1977/1978. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Werk von Theweleit bietet Sven Reichardt, Klaus Theweleits „Männerphantasien“. Ein Erfolgsbuch der 1970er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2006), S. 401–421. Vgl. Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkrieges, München 2017, S. 158 f.; siehe auch Barth, Dolchstoßlegenden (Anm. 6), S. 237 f. Linz, Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA), Nachlass Starhemberg, Aufzeichnungen des Fürsten Ernst Rüdiger Starhemberg im Winter 1938/39 in Saint Gervais in Frankreich, S. 16. Zum studentischen Aktionismus im Bund Oberland siehe Michael Gehler, Studenten im Freikorps Oberland. Der „Sturmzug Tirol“ in Oberschlesien 1921, in: Tiroler Heimat 51/52 (1987), S. 129–152; Ders., Studentischer Wehrverband im Grenzlandkampf: Exemplarische Studie zum „Sturmzug Tirol“ in Oberschlesien 1921, in: Oberschlesisches Jahrbuch 5 (1989), S. 33–63. Zit. n. Florian J. Schreiner, Von Langemarck zum Annaberg. Das Verhältnis akademischer und militärischer Akteure in der Nachkriegszeit 1918–1921, in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 25 (2017), S. 299–334, hier S. 327. Ulrich Herbert, „Generation der Sachlichkeit“. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in: Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, hg. von Frank Bajohr, Werner Johe und Uwe Lohalm (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 27), Hamburg 1991, S. 115–144, hier S. 116–118; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2 2008, S. 46–71. Vgl. ferner Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (edition suhrkamp 1884), Frankfurt a. M. 1994. Vgl. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte (Anm. 22); Wildt, Generation des Unbedingten (Anm. 22); siehe auch Sven Reichardt, Violence, Body, Politics: Paradoxes in Interwar Germany,

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revolutionären Vision einer politischen Utopie angetrieben, sondern von einer zackigen Rhetorik, die die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung einforderte und die auf eine ganze Reihe von korrelierenden Feindbildern gerichtet war.24 Die Konstruktion von Feindbildern muss dabei als der Versuch gedeutet werden, mithilfe von soliden Negativzeichnungen die durch die Kriegsniederlage erschütterte Identität zu stabilisieren.25 Obschon sie im Schatten des Krieges aufgewachsen waren, hatten sie die Schützengräben und Materialschlachten zumeist nicht mehr kennengelernt. Geimpft mit den Feindbildern aus Schulfibeln und Bilderbüchern, aufgewachsen im Glauben an den strahlenden Heldensieg ihrer Väter, beeinflusst von den kriegsbejahenden Groschenromanen und erzogen durch die Siegespropaganda des Kaiserreichs, boten die Freikorps eine Chance, die romantisierten Träume vom Krieg zu verwirklichen.26 Auf den europäischen Straßen und Nachkriegsschlachtfeldern erhielten sie im Rahmen verschiedener Freikorpseinsätze die Gelegenheit, Teil der bereits mythisch überhöhten „Frontgemeinschaft“ zu werden, deren Anziehungskraft in der Verknüpfung von männlich-soldatischer Bewährung, aufopfernder Kameradschaft und herausfordernder Todesnähe bestand.27 Vor diesem Hintergrund versuchten die Studenten und Abiturienten, zur jungen Frontgeneration aufzuschließen, indem sie ein Frontkämpferideal verinnerlichten, das den kalten, entschlossenen Kämpfer stilisierte.28

BOLSCHEWISMUSFURCHT UND GEWALTBEREITSCHAFT Von zentraler Bedeutung war in dem hier nachgezeichneten Radikalisierungsprozess die Angst vor einer weiteren Revolution. Heraufbeschworen wurde diese angebliche Gefahr durch teils reale, teils übertriebene Meldungen bolschewistischer Gräueltaten in Russland, wo ein ganzer Staat scheinbar nur darauf wartete, die Gewalt der Revolution auf die übrige Welt auszudehnen.29 Derartige Horrorszenarien und

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in: Political Violence and Democracy in Western Europe 1918–1940, hg. von Chris Millington und Kevin Passmore, Houndmills 2015, S. 62–96. Gerwarth, Die Besiegten (Anm. 19), S. 158 f. Vgl. zu solchen Konstruktionen Sonja Levsen, Männlichkeit als Studienziel. Männlichkeitskonstruktionen englischer und deutscher Studenten vor dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51.2 (2003), S. 109–130, hier S. 117. Vgl. dazu und zum Folgenden Reichardt, Violence (Anm. 23), S. 74 f. Vgl. zum Themenkomplex, wenn auch mit Fokus auf den Zweiten Weltkrieg, die Arbeit von Thomas Kühne, The Rise and Fall of Comradeship. Hitler’s Soldiers, Male Bonding and Mass Violence in the Twentieth Century, Cambridge 2017. Richard Bessel, The ‘front generation’ and the politics of Weimar Germany, in: Generations in Conflict. Youth revolt and generation formation in Germany 1770–1968, hg. von Mark Roseman, Cambridge 1995, S. 121–136, hier S. 130–135; Matthew N. Bucholtz, Kamerad or Genosse? The Contested Frontkämpfer Identity in Weimar Revolutionary Politics, in: Political Violence and Democracy (Anm. 23), S. 48–61, hier S. 49–51; Ulrich Herbert, Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, hg. von Jürgen Reulecke (Schriften des Historischen Kollegs 58), München 2003, S. 95–114, hier S. 99–101. Für die mitteleuropäischen Staaten vgl. Gerwarth/Horne, Bolschewismus als Fantasie (Anm. 6), S. 95 f.; siehe auch Martin Conway und Robert Gerwarth, Revolution and Counter-Revolution, in:

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Weltuntergangsvisionen wurden verstärkt im bürgerlichen Milieu artikuliert.30 Offenbar setzte nach 1918 eine „Vergesellschaftung der Revolutionsangst“31 ein, die dann von konterrevolutionären Kräften zur Legitimation des eigenen militanten Verhaltens ausgenutzt wurde: Im Selbstverständnis ihrer Mitglieder bildeten diese paramilitärischen Verbände gewissermaßen Bollwerke soldatischer Kameradschaft und Konstanten gesellschaftlicher Ordnung in einer instabilen und feindlichen Welt, die aus demokratischer Gleichmacherei und revolutionärem Internationalismus bestand.32 Auch die meisten Jungakademiker waren über den Ausbruch der Revolution von 1918 tief verbittert, da ihnen die Gründung der Republik nicht als eine deutsche Motivation erschien, sondern als Resultat des verlorenen Krieges und feindlicher Propaganda.33 Deutlich wird dies etwa an einem anonymen Flugblatt, das im Frühjahr 1919 zuerst im Freikorpsmilieu und dann an den Hochschulen zirkulierte. In

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Political Violence in Twentieth-Century Europe, hg. von Donald Bloxham und Robert Gerwarth, Cambridge 2011, S. 140–175, hier S. 150–155. Den Zusammenhang zwischen der deutschen Revolution und den US-amerikanischen „Palmer Raids“ als Sicherheitsmaßnahme vor einer sozialistischen Bedrohung hat jüngst Norma Lisa Flores faktenreich dargelegt: Norma Lisa Flores, Fear of Revolution. Germany 1918/19 and the US-Palmer Raids, in: Germany 1916–23 (Anm. 16), S. 127–149. Dirk Schumann, Europa, der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit. Eine Kontinuität der Gewalt?, in: Journal of Modern European History 1 (2003), S. 24–43, hier S. 34 f.; Martin Göllnitz, Knut-Hinrik Kollex und Thomas Wegener Friis, Blandt revolutionære og „Rigsfjender“ i Slesvig-Holsten 1917–1920, in: Arbejderhistorie. Tidsskrift for historie, kultur og politik (2017), Nr. 2, S. 126–149, hier S. 136–139. Bernd Weisbrod, Gewalt in der Politik. Zur politischen Kultur in Deutschland zwischen den Weltkriegen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 391–404, hier S. 394. Gerwarth, „Spinnennetz“ (Anm. 5), S. 117. Vgl. auch Bernhard Sauer, Freikorps und Antisemitismus in der Frühzeit der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56 (2008), S. 5–29. Zur identitätspolitischen Relevanz sowie zu der Konstruktion von Männlichkeit innerhalb militärischer und paramilitärischer Verbände siehe Thomas Kühne, „. . .aus diesem Krieg werden nicht nur harte Männer heimkehren“. Kriegskameradschaft und Männlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, hg. von dems. (Geschichte und Geschlechter 14), Frankfurt a. M. 1996, S. 174–192; Ruth Seifert, Identität, Militär und Geschlecht. Zur identitätspolitischen Bedeutung einer kulturellen Konstruktion, in: Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, hg. von Karen Hagemann und Stefanie Schüler-Springorum (Geschichte und Geschlechter 35), Frankfurt a. M. 2002, S. 53–66. Vgl. exemplarisch Jürgen Schwarz, Studenten in der Weimarer Republik. Die deutsche Studentenschaft in der Zeit von 1918 bis 1923 und ihre Stellung zur Politik (Ordo Politicus 12), Berlin 1971, S. 206–215; Wolfgang Zorn, Die politische Entwicklung des deutschen Studententums 1918–1931, in: Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Bd. 5, hg. von Kurt Stephenson, Alexander Scharff und Wolfgang Klötzer, Heidelberg 1965, S. 223–307, hier insb. S. 235–247. Eine etwas kritischere Argumentation findet sich dagegen bei Sonja Levsen, Eliten am Scheideweg. Kriegsbilder und Rollenvorstellungen deutscher und britischer Studenten nach dem Ersten Weltkrieg, in: Perspektiven der Militärgeschichte. Raum, Gewalt und Repräsentation in historischer Forschung und Bildung, hg. von Jörg Echternkamp, Wolfgang Schmidt und Thomas Vogel (Beiträge zur Militärgeschichte 67), München 2010, S. 239–250, hier insb. S. 242–244. Eine allgemeine Einschätzung dazu liefert Gregor Fröhlich, Soldat ohne Befehl. Ernst von Salomon und der Soldatische Nationalismus, Paderborn 2018, S. 122.

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diesem wurde den fahneneidbrüchigen hochverräterischen Matrosen vorgeworfen, sie seien im Bunde mit Deserteuren, Verbrechern und Arbeitern gewesen und hätten am 9. November 1918 das stolze Staatswesen zertrümmert.34 Die gesichtslose Masse der Revolution mutierte letztlich zu einer scheinbaren Bedrohung der eigenen Ideale und Hoffnungen, was eine sukzessive Radikalisierung bewirkte, die sich in Einzelfällen zu einem ausgeprägten Vernichtungsdrang gegen die Repräsentanten der Novemberrevolution steigerte. Die Ermordung der Spartakistenführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg kann daher gewiss auch als gezielte Entladung dieses Hasses verstanden werden.35 Es ist in der Forschung bereits mehrfach angeklungen, dass der Reichswehrminister Gustav Noske vermutlich selbst zum Opfer des „Anti-Chaos-Reflexes“ wurde, als er zur Niederschlagung von Arbeiterrevolten und Rätebewegungen auf die Freikorps und Zeitfreiwilligenverbände zurückgriff, in denen Studenten etwa zehn Prozent der Mitglieder stellten.36 Noskes Entscheidung erstaunt, denn abgesehen von wenigen Ausnahmen machten die Freikorps keinen Hehl aus ihrer Republikfeindlichkeit. In Anbetracht der politischen Grundpositionen des Bürgertums nach 1918, zu denen die Akzeptanz massiver Gewalt gegen die radikale Linke gehörte, musste zudem jegliche politische Gewalteindämmungsstrategie, an der Freikorps beteiligt waren, fast schon zwangsläufig scheitern. Welcher Stellenwert den jungen Akademikern im Rahmen der Bekämpfung von Spartakisten und angeblichen Bolschewiki beigemessen werden muss, lässt sich an einem Erlass des preußischen Kultusministeriums vom 13. März 1919 ablesen. In diesem wurden die Jungakademiker gezielt für paramilitärische Kampfverbände geworben und sollten derart zur Sicherstellung von „Ruhe und Ordnung“ beitragen: Noch einmal ruft das Vaterland seine waffenfähige junge Mannschaft. Noch einmal heißt es: Freiwillige vor! Heute winken keine Siegeskränze, heute trägt Euch nicht der Aufschwung eines in erster Kriegsnot geeinten Volkes. [. . .] Die gereifte Jugend ergreift freiwillig die Waffen, weil sie den furchtbaren Ernst unserer Lage erkennt und weiß, was die Pflicht der Selbsterhaltung von ihr fordert. Die deutsche Wehrmacht liegt in Trümmern, die Flut des Bolschewismus droht unsern Grenzwall im Osten zu durchbrechen, die Hydra der Anarchie und des Bürgerkrieges erhebt im Innern ihr Haupt. Rette dein Vaterland, deutsche Jugend! [. . .] Schulter an Schulter mit Euren Altersgenossen aus dem Arbeiterstande sollt Ihr jungen Akademiker der Regierung helfen, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Gewiß habt Ihr es besonders schwer, Euch von der lang entbehrten Arbeit loszureißen. Aber es muß sein. Zeigt, daß Ihr zu Führern berufen seid.37

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Zit. n. Barth, Dolchstoßlegenden (Anm. 6), S. 251. Siehe dazu ausführlich Jones, Am Anfang war Gewalt (Anm. 15), S. 212–236. Weisbrod, Gewalt in der Politik (Anm. 31), S. 393. Zu den in der Literatur schwankenden Zahlenangaben von Freikorpsangehörigen vgl. Irmtraud Götz von Olenhusen, Vom Jungstahlhelm zur SA: Die junge Nachkriegsgeneration in den paramilitärischen Verbänden der Weimarer Republik, in: Politische Jugend in der Weimarer Republik, hg. von Wolfgang R. Krabbe (Dortmunder Historische Studien 7), Bochum 1993, S. 146–182; Sauer, Freikorps und Antisemitismus (Anm. 32), S. 5; und Schulze, Freikorps und Republik (Anm. 7), S. 36 f. 37 Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. HA, Rep. 76, Sekt. 1, Tit. 1, Nr. 1, Bd. IV, Erlass des preußischen Kultusministers Haenisch vom 13.03.1919. Vielfach wiesen die örtlichen Studentenausschüsse die Kommilitonen auf die Dringlichkeit des Eintritts in die Zeitfreiwilligenverbände hin, wie beispielsweise in Leipzig. Vgl. dazu die Leipziger Studentenzeitung (31.05.1919), S.1.

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Überall im Deutschen Reich bildeten sich in der Folgezeit sogenannte Studentenwehren, die mehr oder weniger provisorisch mit Waffen ausgestattet wurden.38 Die weitgehend unorganisierte und rasche Etablierung von Wehrverbänden, Milizen sowie Studenten- und Bürgerwehren wurde in erheblichem Maße dadurch erleichtert, dass Waffen und Munition quasi ohne größere Probleme beschafft werden konnten und die Staatsautorität durch den Zusammenbruch des Kaiserreichs und des Habsburger Reiches geschwächt war.39 Zur Kieler Studentenwehr meldeten sich beispielsweise innerhalb weniger Stunden mindestens 50 Jungakademiker, die von der Marine-Brigade mit Lastkraftwagen und Maschinengewehren ausgerüstet wurden.40 Hierbei handelt es sich um ein Prozedere, das sich für die Mehrheit der deutschen Hochschulen belegen lässt. So bestand das zeitgleich in Gießen aufgestellte Studentenkorps aus etwa 600 Mann und bewaffnete sich zum Kampf gegen kommunistische Banden, wie es ein Mitglied später formulierte.41 Der Studentenwehr in Münster gehörten im April 1919 etwa 900 Studenten an und das berüchtigte Marburger Studentenkorps umfasste im März 1920 sogar ganze 1 800 Mann.42 Dagegen scheint es in Erlangen bis zum Sommer 1919 nur deshalb zu keiner Gründung eines autonomen studentischen Wehrverbandes gekommen zu sein, weil sich im März des Jahres eine Mehrheit von „etwa 900 gegen 100 Studenten“ für den direkten „Eintritt ins Freikorps Epp“ entschied.43 Diese jungen Männer kämpften allerdings nicht für die Republik, sondern in erster Linie gegen den vermeintlich drohenden Bolschewismus. Wie manifest diese

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Vgl. Schreiner, Langemarck (Anm. 21), S. 320 f.; siehe auch Kristian Mennen, „Milksops“ and „Bemedalled Old Men“: War Veterans and the War Youth Generation in the Weimar Republic, in: Fascism 6 (2017), S. 13–41, hier S. 32–37. Vgl. dazu Boris Barth, Freiwilligenverbände in der Novemberrevolution, in: Spießer, Patrioten, Revolutionäre. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung in der Neuzeit, hg. von Rüdiger Bergien und Ralf Pröve, Göttingen 2010, S. 95–115, hier S. 99. Martin Göllnitz, Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärskorps am Beispiel der Universität Kiel (1927–1945) (Kieler Historische Studien 44), Ostfildern 2018, S. 54 f.; Werner Franz, Die Spartakusunruhen von 1919 in Kiel und die Kieler Studentenwehr, in: Die Heimat 65 (1958), S. 88–92. Zit. n. Bruno W. Reimann, Avantgarden des Faschismus. Studentenschaft und schlagende Verbindungen an der Universität Gießen 1918–1937. Analyse, Frankfurt a. M. 2007, S. 57. Hugo Elkemann, Wolfram Götz und Brigitte Kranz, Die Universität in der Weimarer Republik (1918–1920). Die Münsteraner Studentenschaft in der Novemberrevolution, dem Kapp-Putsch und den Ruhrkämpfen, in: 200 Jahre zwischen Dom und Schloß. Ein Lesebuch zu Vergangenheit und Gegenwart der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, hg. von Lothar Kurz, Münster 1980, S. 47–63, hier S. 50; Dietrich Heither und Adelheid Schulze, Die Morde von Mechterstädt 1920. Zur Geschichte rechtsradikaler Gewalt in Deutschland, Berlin 2015, S. 142 f.; Siegfried Weichlein, Studenten und Politik in Marburg. Die politische Kultur einer Universitätsstadt 1918–1920, in: Mechterstädt – 25.3.1920. Skandal und Krise in der Frühphase der Weimarer Republik, hg. von Peter Krüger und Anne Christine Nagel (Studien zur Geschichte der Weimarer Republik 3), Münster 1997, S. 27–43, hier S. 38. Vgl. Manfred Franze, Die Erlanger Studentenschaft 1918–1945 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe IX: Darstellungen aus der fränkischen Geschichte 30), Würzburg 1972, S. 23–25, 29 f.; sowie Florian J. Schreiner, Erlanger Studenten und das Freikorps Epp, in: Die Vorträge der 74. Deutschen Studentenhistorikertagung, hg. von Sebastian Sigler (Beiträge zur deutschen Studentengeschichte 32), München 2015, S. 145–166.

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irrationale Furcht war, zeigt sich an einer Resolution gegen den Bolschewismus, die etwa 1 000 Studenten aus Erlangen im Dezember 1918 verabschiedeten und in der sie dazu aufriefen, die bevorstehende Schreckensherrschaft von Lügen, Verhetzungen, Gewalttaten zu verhindern.44 Als Feind galt ihnen die linksradikale Minderheit in den Großstädten. In Heidelberg war das ausgemalte Horrorszenario hingegen von praktischen Bedenken motiviert, befürchtete doch ein Teil der Studentenschaft, dass ihr Studium im Falle eines Sieges des Bolschewismus gänzlich nutzlos sein werde, weshalb alle Kommilitonen angehalten wurden, sich freiwillig in einem der überregionalen Wehrverbände zu melden.45 Im Mai des Jahres 1919 konnte dann der Prorektor der Universität München den Mitgliedern der Tübinger Studenten-Kompagnien in einer Ehrenurkunde seinen Dank dafür aussprechen, dass sie dazu beigetragen hätten, München vom Joch unmöglicher Willkür und Fremdenherrschaft zu befreien, womit die Niederschlagung der dortigen Räterepublik im selben Monat gemeint war.46 Und noch im Herbst 1919 heizte der Frankfurter Rektor die Stimmung gegen streikende Arbeiter und ihre Führer an, indem er diese als vaterlandslose Gesellen bezeichnete und von den Studenten Opfer im Kampf gegen diese verlangte.47 Auch in Wien, Graz und Innsbruck organisierten sich seit 1919/20 die Jungakademiker in Wehrverbänden und studentischen Freikorps, meist im engeren Umfeld der paramilitärischen Heimwehren oder im Rahmen der Organisationen Escherich (Orgesch) und Kanzler (Orka).48 Allerdings, und darauf hat schon Robert Gerwarth hingewiesen, engagierten sich diese gewaltbereiten rechten Aktivisten in der Zeit

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Fränkische Nachrichten (17.12.1918); siehe ferner Franze, Erlanger Studentenschaft (Anm. 43), S. 14 f. Vgl. Universitätsarchiv Heidelberg, B 0853, Protokoll einer Verhandlung mit dem Abgeordneten Remmele, 14.03.1919; sowie Norbert Giovannini, Zwischen Republik und Faschismus. Heidelberger Studentinnen und Studenten 1918–1945, Weinheim 1990, S. 37 f.: Laut Giovannini stellte Baden keine Studentenkompanien auf, weshalb sich die Heidelberger Studenten „auf verschiedene Freikorps verteilt[en].“ Faksimile der Ehrenurkunde vom 21.05.1919, in: Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer, hg. von Ernst von Salomon, Berlin 1938, S. 113. Mit der Beteiligung von Tübinger Studenten an Freikorpskämpfen beschäftigt sich Manfred Schmidt, Die Tübinger Studentenschaft nach dem Ersten Weltkrieg 1918–1923 (Werkschriften des Universitätsarchivs Tübingen 13), Tübingen 1988, S. 89 f., 97–106 u. 115. Barth, Dolchstoßlegenden (Anm. 6), S. 238. In Münster wurde eigens ein Flugblatt in der Universitätsbuchdruckerei hergestellt, in dem der damalige Rektor die Studenten zum Kampf gegen den Bolschewismus im Innern und an der Ostgrenze aufforderte. Vgl. Elkemann/Götz/Kranz, Universität (Anm. 42), S. 55. Vgl. Sabine Falch, Zwischen Heimatwehr und Nationalsozialismus. Der „Bund Oberland“ in Tirol, in: Geschichte und Region 6 (1997), S. 51–86; Michael E. Holzmann, Die österreichische SA und ihre Illusion von „Großdeutschland“, Bd. 1: Völkischer Nationalismus in Österreich bis 1933, Berlin 2011, S. 178; Richard Schober, Die paramilitärischen Verbände in Tirol (1918–1927), in: Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen 1918–1938, hg. von Thomas Albrich, Klaus Eisterer und Rolf Steininger (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 3), Innsbruck 1988, S. 113–141, hier S. 117 f. Mitgliedszahlen der österreichischen Studentenkompanien existieren bedauerlicherweise nicht. Vgl. zur Thematik auch Michael Gehler, Studenten und Politik. Der Kampf um die Vorherrschaft an der Universität Innsbruck 1918–1938 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 6), Innsbruck 1990, S. 175–215.

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von 1918 bis 1921 überwiegend außerhalb Österreichs.49 So gehörten neben deutschen auch österreichische Studenten – unter anderem als Mitglieder des Freikorps Oberland – im Frühjahr 1919 zu jenen hochmobilen Gewaltunternehmern, die dabei halfen, die Räterepublik in München zu zerschlagen.50 Innerhalb jenes Teils der deutschen und österreichischen Studentenschaft, der im Krieg gedient und nach dem Waffenstillstand das Studium wiederaufgenommen hatte, musste es geradezu verlockend klingen, im offiziellen Staatsauftrag gegen die ihnen verhasste radikale Linke kämpfen zu dürfen. In Einzelfällen gab es schließlich noch offene Rechnungen zu begleichen, wie eine Schilderung des Innsbrucker Studenten Starhemberg nahelegt: Bald sah ich eine größere Menschenansammlung, darunter zahlreiche Soldaten in Felduniform. Beim Näherkommen bemerkte ich, daß sie an Stelle der kaiserlichen Kokarde rote Kokarden trugen. Einige hatten rote Armbinden. Etwa 12 bis 15 hieben mit den Fäusten auf zwei junge Offiziere ein, rissen ihnen die Sterne herunter, rissen ihnen Kriegsauszeichnungen von der Brust und warfen sie in den Kot. Ein paar Zivilisten brüllten und Weiber kreischten dazu, „schlagt sie tot, die Offiziersschweine! Nieder mit den kaiserlichen Hunden!“ Ich ging rasch näher [. . .]. Sehr weit kam ich nicht. Ich kam auch gar nicht dazu, meinen Säbel [. . .] zu ziehen. Inzwischen hatte mich eine Gruppe von Soldaten umringt, schon spürte ich die ersten Faustschläge. [. . .] Sich zur Wehr zu setzen, war geradezu unmöglich. Wohl schlug ich mit den Fäusten um mich, doch es waren zu viele. [. . .] Ich spuckte das Blut aus und hob die zerbrochenen Stücke meines Säbels und die Tapferkeitsmedaillen auf. „Verfluchtes Gesindel“, dachte ich, „mit euch werde ich noch abrechnen“.51

Zusätzlich lockte die Gewissheit, auf den Nachkriegsschlachtfeldern Europas, an denen es zwischen 1918 und 1922 nicht mangelte, die fehlenden Kampferfahrungen ausgleichen zu können. Diese jungen, von früher Jugend an durch das Militär geprägten Männer, die durch eine Verfügung des Preußischen Kriegsministeriums zwecks ordnungsgemäßer Ablegung der Reifeprüfung zur Erhaltung eines ausgebildeten Offiziersnachwuchses an der Einziehung zum Kriegsdienst 1918 befehlsgemäß gehindert worden waren, empfanden es als Makel, nicht an der Front gekämpft zu haben.52 Sie suchten diesen Makel nun durch eine Beteiligung in den Freikorps zu kompensieren, wie sich beispielsweise an den Lebensläufen der beiden tonangebenden 49 50

Vgl. dazu und zum Folgenden Gerwarth, „Spinnennetz“ (Anm. 5), S. 119. Die Anwerbung von Deutsch-Österreichern für Verbände der vorübergehenden Reichswehr, zu denen auch die Freikorps gehörten, war seit August 1919 verboten: Deutsch-Österreicher können nur so lange in der Reichswehr verbleiben, als das Angebot an Reichsdeutschen nicht genügt. Neueinstellungen und Werbungen von Deutsch-Österreichern haben zu unterbleiben. Vgl. München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), KA, Reichsw.-Brig. 22, 14. Befehl vom 01.08.1919. Siehe auch Peter Keller, „Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr“. Die deutsche Armee 1918–1921 (Krieg in der Geschichte 82), Paderborn 2014, S. 101–116. 51 Starhemberg, Memoiren (Anm. 3), S. 37 f. 52 Berlin, Bundesarchiv (BArch), R 4901/25523, Fragebogen Reinhard Sunkels, 29.05.1933. Der Kultusminister Preußens, Konrad Haenisch, unterstützte mit einem Erlass vom 18.01.1919 die Freistellung von Kadetten, indem er den angehenden Abiturienten bei Teilnahme am Grenzschutz Ost die Zulassung zur Notreifeprüfung in Aussicht stellte. Vgl. dazu Klaus Schmitz, Militärische Jugenderziehung. Preußische Kadettenhäuser und Nationalpolitische Erziehungsanstalten zwischen 1807 und 1936 (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte 67), Köln 1997, S. 199–202.

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NS-Studenten im norddeutschen Raum während der 1920er Jahre feststellen lässt. Um ihren Dienst am Vaterland dennoch leisten zu können, quittierten Joachim Haupt und Reinhard Sunkel ihre bisherige schulische Ausbildung im Preußischen Kadettenkorps in Berlin-Lichterfelde und meldeten sich als Freiwillige in Georg Maerckers Landesjägerkorps.53 Voller Enthusiasmus nahmen sie an den Straßenkämpfen in Berlin und in den industriellen Hochburgen des Ruhrgebiets und Mitteldeutschlands teil. In der jüngeren Forschung zur politischen Gewalt in den Anfangsjahren der Weimarer Republik wird davon ausgegangen, dass die Studenten und Abiturienten ihren Dienst in den Freikorps zugleich als Chance begriffen, ihre Machtfantasien auszuleben, um dem in der Kriegspropaganda verbreiteten, idealisierten Bild militarisierter Männlichkeit gerecht zu werden.54 Die Glorifizierung von großer Härte und Gewaltbereitschaft, vor allem aber die Erfahrungen der Straßenschlachten in Berlin und der von Gräueltaten und Massenexekutionen begleiteten Niederwerfung der Münchener Räterepublik, trugen erheblich dazu bei, innere Barrikaden einzureißen und einen Radikalisierungsprozess zu begünstigen. Der Fall des nationalistischen Münchener Jurastudenten Anton Graf von Arco auf Valley, der am 21. Februar 1919 den ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, Kurt Eisner, erschoss, ist gewiss ein extremes, aber kein singuläres Beispiel.55 Gestützt wird diese Annahme unter anderem durch einen weiteren Vorfall mit studentischer Beteiligung, der sich in Halle an der Saale ereignete. Dort wurde im März 1919 der Anführer einer aufgelösten Matrosenkompanie von mehreren Angehörigen eines von Georg Maercker eingerichteten Freikorps festgenommen und nur kurze Zeit später bei einem vermeintlichen „Fluchtversuch“ angeschossen. Um mögliche Spuren zu verwischen, warfen die Täter den Schwerverletzten anschließend in die Saale, wo dieser verstarb.56 Während der Haupttäter, ein Medizinstudent, ins Ausland floh, setzten sich seine Helfershelfer vorerst nach Berlin ab und traten in die berüchtigte Garde-Kavallerie-Schützendivision ein, wurden aber bald verhaftet. Derartige radikale Vorstöße militanter Studenten lassen sich auch in Österreich feststellen, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: Am Rande einer Demonstration sozialdemokratischer Volkswehrleute und linker Agitatoren ereignete sich am 22. Februar 53

Schularchiv des Gymnasiums Schloss Plön, Unterlagen: J. Haupt, Parteitätigkeit (undatiert, 1934/35); GStA PK, I. HA, Rep. 77, Nr. 5469, Reichsminister des Innern an den Preußischen Ministerpräsidenten, 23.08.1938. Vgl. auch Göllnitz, Der Student als Führer? (Anm. 40), S. 54 f. 54 Vgl. dazu Robert Gerwarth, The Central European Counter-Revolution: Paramilitary Violence in Germany, Austria and Hungary after the Great War, in: Past & Present 200 (2008), S. 175–209, hier S. 178–180. 55 Vgl. Bernhard Grau, Kurt Eisner 1867–1919. Eine Biographie (C. H. Beck 6295), München 2017; Friedrich Hitzer, Anton Graf Arco. Das Attentat auf Kurt Eisner und die Schüsse im Landtag, München 1988. 56 Dazu und zum Folgenden vgl. Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Reihe A: Darstellungen 17), Essen 2001, S. 58; GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 10432, Ermittlungsverfahren zum Tod Karl Mesebergs. Zu Georg Maercker und dessen Freikorpserfahrungen siehe die verschriftlichten Erinnerungen: Georg Maercker, Vom Kaiserheer zur Reichswehr. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Revolution, Leipzig 1921.

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1919 in Graz ein Vorfall, der insgesamt sechs Todesopfer aufseiten der Demonstranten forderte. Die von der Polizei zur Abwehr gewaltsamer Ausschreitungen mobilisierte Studentenwehr eröffnete aus bis heute nicht gänzlich geklärten Gründen das Feuer auf die Versammlungsteilnehmer sowie auf eine Abteilung des Arbeiterhilfskorps, die diesen zur Hilfe geeilt war.57 Als Kommandant der deutschnationalen Studentenwehr fungierte bei diesem Zwischenfall der Grazer Ingenieursstudent Hanns Albin Rauter, der später als Polizeikommandeur und ranghöchster SS-Führer im Reichskommissariat Niederlande Karriere machte.58 Augenscheinlich radikalisierten sich die Studenten bereits in der Frühphase des „weißen Terrors“, der nach dem Scheitern des Kapp-Putsches rasant zunahm. Die Rolle eines passiven Beobachters lehnten sie dagegen ab, und in Einzelfällen ergriffen sie sogar die Initiative, wenn es darum ging, Entschlossenheit, Kälte und Rücksichtslosigkeit zu demonstrieren.59

KONTERREVOLUTION UND GEWALTESKALATION Eine weitere Gewaltsteigerung ist im Rahmen des Generalstreiks zu konstatieren, den die legitime Regierung als Reaktion auf den Kapp-Putsch im März 1920 ausrief.60 Obschon der Umsturzversuch der extremen Rechten nach viereinhalb Tagen in sich zusammenfiel, gelang es der Reichsregierung um Präsident Friedrich Ebert nicht, die Streikbewegung unter Kontrolle zu bringen. Ermutigt durch den Sieg über die Putschisten, witterten die linken Radikalen ihrerseits die Gelegenheit, die im November 1918 begonnene Revolution zu einem Abschluss zu bringen. Vor allem im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland loderten die Flammen der Revolution erneut auf. Das industrielle Kernland Deutschlands stand dabei unter der Kontrolle der 50 000 Mann starken ‚Roten Ruhrarmee‘, die unter den Bergleuten zahlreiche Sympathisanten besaß. Zur raschen Beendigung dieser „nationalen Notlage“ und zur Niederwerfung der Aufständischen beauftragten Ebert und seine Regierung die Reichswehr sowie jene Freikorps, die wenige Tage zuvor noch Kapps Putschversuch unterstützt hatten. Viele der Freikorpsangehörigen ergriffen nun die Chance, mit der radikalen Linken „abzurechnen“, die sie für das Scheitern des Kapp-Putsches 57

Zu dem Vorfall in Graz siehe Botz, Gewalt in der Politik (Anm. 7), S. 41 f.; Andreas FraydeneggMonzello, Volksstaat und Ständeordnung. Die Wirtschaftspolitik der steirischen Heimwehren 1927–1933 (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 65), Wien 2015, S. 17. 58 Zu Rauter vgl. Ruth Bettina Birn, Hanns Rauter. Höherer SS- und Polizeiführer in den Niederlanden, in: Die SS. Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, hg. von Ronald Smelser und Enrico Syring, Paderborn 2000, S. 408–417. 59 Freilich beschränkten sich derartige Formen politischer Gewalt nicht nur auf deutsche oder österreichische Studenten, wie der Fall des armenischen Studenten Soghomon Tehlirian zeigt, der am 15. März 1921 den ehemaligen Innenminister des Osmanischen Reiches, Talat Patscha, in Berlin erschoss. Vgl. dazu Rolf Hosfeld, Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern, Köln 2005, S. 300 f. 60 Dazu und zum Folgenden siehe Gerwarth, Die Besiegten (Anm. 19), S. 214–216; Dietrich Orlow, Preußen und der Kapp-Putsch, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 26.2 (1978), S. 191–236.

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verantwortlich machten. Ein Student und Angehöriger des Freikorps Epp, der an der blutigen Beendigung des Ruhraufstands beteiligt war, schrieb enthusiastisch an seine Eltern: Pardon gibt es überhaupt nicht. Selbst die Verwundeten erschießen wir noch. Die Begeisterung ist großartig, fast unglaublich. Unser Bataillon hat 2 Tote. Die Roten 200 bis 300. Alles, was uns in die Hände kommt, wird mit dem Gewehrkolben zuerst abgefertigt und dann noch mit einer Kugel. Ich dachte während des ganzen Gefechts an Station A. Das kommt nämlich daher, daß wir auch 10 Rote-Kreuz-Schwestern sofort erschossen haben; von denen hatte jede eine Pistole bei sich. Mit Freuden schossen wir auf diese Schandbilder, und wie sie geweint und gebetet haben, wir sollten ihnen das Leben lassen. Nichts. – Wer mit einer Waffe getroffen wird, der ist unser Gegner und der muß daran glauben.61

Offenkundig waren die Vertreter der extremen Rechten vor dem Hintergrund von Bürgerkrieg und Revolution überzeugt, in einem Zeitalter zügelloser Gewalt zu leben. Aus ihrer Perspektive hatte der innere Feind die Regeln zivilisierten militärischen Verhaltens gebrochen, weshalb er nur durch den Einsatz der gleichen extremen Mittel gestoppt werden konnte.62 Auch in diesem Fall erwiesen sich die jüngeren Mitglieder der paramilitärischen Verbände, die nicht im Ersten Weltkrieg gedient hatten, als besonders brutal. Der wohl bis heute meistdiskutierte Akt paramilitärischer Gewalt in Deutschland ist ein Vorfall in Thüringen, bei dem 15 Arbeiter durch mehrere Angehörige des Marburger Studentenkorps erschossen wurden. Die als „Morde“ und „Massaker von Mechterstädt“ bekannt gewordenen Ereignisse müssen dabei erneut im Kontext des gescheiterten Kapp-Putsches gesehen werden. Unter Führung des Geschichtsstudenten Bogislav von Selchow beteiligten sich im März 1920 knapp 800 studentische Freiwillige der Universität Marburg an einem Aufruf der Reichsregierung, wonach Zeitfreiwillige bei der „Befriedung der Lage in Thüringen“ helfen sollten.63 In der Region um Gotha war es infolge des rechtsnationalen Umsturzversuches zu bürgerkriegsähnlichen Kämpfen, bei denen über 100 beteiligte sowie unbeteiligte Personen ihr Leben verloren, und zu grausamen Verbrechen an Gefangenen gekommen. Von Selchow, der aufseiten der rechten Putschisten gestanden hatte, versuchte, sich bereits im Vorfeld für etwaige Gewalttaten abzusichern, wie seinen Erinnerungen entnommen werden kann.64 Gegenüber Generalmajor Rumschöttel, der als Führer der Thüringen-Aktion eingesetzt worden war, erklärte er vorausschauend, dass er mit größter Rücksichtslosigkeit vorzugehen gedenke, und von Selchow führte weiter aus: Herr General, wenn ich durch 20 Tote das Leben von 20.000 Menschen rette, dann lasse ich diese 20 sofort erschießen. Im übrigen werde ich möglichst immer auf eigene Faust handeln, damit Sie und die Armee dadurch nicht belastet wird[!], werde aber selbstverständlich alle Ihre Befehle befolgen.65

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BayHStA, KA Schützenbrigade 21, Nr. 154, Student Max Zeller (Brigade Epp) an seine Eltern, 02.04.1920. Gerwarth, „Spinnennetz“ (Anm. 5), S. 122 f. Dazu und zum Folgenden siehe Heither/Schulze, Morde von Mechterstädt (Anm. 42), S. 141 f.; Weichlein, Studenten und Politik (Anm. 42), S. 39–41. Bogislav von Selchow, Hundert Tage aus meinem Leben, Leipzig 1936, S. 328. Ebd.

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Ein Teil des Studentenkorps wurde nach Mechterstädt verlegt, wo von Selchow die Order ausgab, dass Angehörige der Studentenwehr nach Bad Thal fahren sollten, um dort die Hauptanführer der Banden gefangen zu nehmen.66 Offenbar willkürlich drangen die jungen Paramilitärs in verschiedene Häuser ein, trieben mehrere Männer auf der Straße zusammen und transportierten schließlich 15 von ihnen ab.67 Einem Befehl der Brigadeführung folgend, sollten die Gefangengenommenen am Morgen des 25. März weiter nach Gotha überführt werden. Für den Transport waren 20 Studenten verantwortlich, die laut späterer Zeugenaussagen den Arbeitern zuvor erläuterten, man werde auf jeden schießen, der einen Fluchtversuch unternimmt. Der exakte Ablauf des Transports lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Als gesichert gilt, dass alle 15 Arbeiter auf einer Strecke von knapp drei Kilometern erschossen wurden. Auffällig waren neben der Lage der Erschossenen auch die Art und Weise der abgegebenen Schüsse. So konnten die Gefangenen höchstens vier bis fünf Meter weit gelaufen sein, bevor die Kugeln sie trafen. Tatsächlich fanden sich bei allen Getöteten Schüsse im Kopf-, Hals- oder Nackenbereich, was auf eine Exekution und nicht auf einen Fluchtversuch hindeutet.68 In der Forschung besteht mittlerweile ein Konsens darüber, dass es sich bei der Tat um politische Morde, ausgeführt von republikfeindlichen Studenten, gehandelt hat, obgleich die Jungakademiker juristisch nicht belangt wurden. Mehrere kritische Studien haben sich bereits erschöpfend mit dem Prozesskomplex auseinandergesetzt, der mehrere Verfahren umfasste und sich insgesamt über knapp vier Jahre hinzog.69 Ohne Zweifel handelte es sich dabei um eines der markantesten Beispiele politischer Gesinnungsjustiz während der Frühphase der Weimarer Republik.70 Mit Blick auf die Mechterstädter Ereignisse konstatierte Bernd Weisbrod schon 1992, dass den Freikorps, Heim- sowie Studentenwehren das Bild eines grausamen und schreckenerregenden Gegners gemeinsam war, mit dem sie ihre entschiedene Anwendung von Gewalt rechtfertigten. Dies hatte wiederum eine deutlich erkennbare innenpolitische Radikalisierung zur Folge.71 Anhand der aufgezeigten Beispiele wird somit eine regelrechte Radikalisierungsspirale im Umfeld der Wehrverbände sichtbar. Daran änderte auch deren Auflösung 66 67

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Ebd., S. 334. Eine ausführliche Rekonstruktion des Tathergangs findet sich bei Michael Lemling, Das „Studentenkorps Marburg“ und die „Tragödie von Mechterstädt“, in: Mechterstädt (Anm. 42), S. 44–88, hier insb. S. 63–80; siehe auch Heither/Schulze, Morde von Mechterstädt (Anm. 42), S. 158–233. Heither/Schulze, Morde von Mechterstädt (Anm. 42), S. 188–192. Vgl. zum Prozesskomplex ebd.; Lemling, „Studentenkorps Marburg“ (Anm. 67); Bruno W. Reimann, Rechts gegen links. Mechterstädt als Symbol (Eckhaus Dossier), Weimar 2017; James J. Weingartner, Massacre at Mechterstädt – The case of the Marburger Studentencorps 1920, in: The Historian 37 (1975), S. 598–618; sowie die zeitgenössische Studie von Emil Julius Gumbel, Vier Jahre politischer Mord, Berlin 5 1922. Vgl. dazu Rudolf Heydeloff, Staranwalt der Rechtsextremisten. Walter Luetgebrune in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 32.3 (1984), S. 373–421; Gotthard Jasper, Justiz und Politik in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 30.2 (1982), S. 167–205; und Daniel Siemens, Die „Vertrauenskrise“ der Justiz in der Weimarer Republik, in: Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, hg. von Moritz Föllmer und Rüdiger Graf, Frankfurt a. M. 2005, S. 139–163. Vgl. Bernd Weisbrod, Violence et culture politique en Allemagne entre les deux guerres, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 34 (1992), S. 113–125, hier S. 115.

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im Jahr 1920 kaum etwas, da sich ihre extremsten Vertreter schon ein Jahr später in der politischen Mörderszene der Republik wiederfanden, vor allem in der konspirativen Organisation Consul (OC).72 Dieser paramilitärische Geheimbund beabsichtigte, durch politische Morde das demokratische System der Weimarer Republik zu destabilisieren und die Bestimmungen des Versailler Vertrages zu revidieren. Gleichwohl der Popanz des vermeintlich drohenden Bolschewismus nur noch eine Fassade darstellte, ist es doch evident, dass die OC versuchte, durch gezielte Anschläge die ihr verhasste Linke zu einem neuen Aufstandsversuch zu provozieren, wie ein Mitglied später offen skizzierte: Wir dürfen nicht zuerst losschlagen. Die Kommunisten müssen es tun! Man muß sie dazu zwingen! Man muß Scheidemann, Rathenau, Zeigner, Lipinski, Cohn, Ebert und die ganzen Novembermänner hintereinander killen. Dann wollen wir doch mal sehen, ob sie nicht hochgehen in Korona, die rote Armee, die U.S.P., die K.P.D.73

Die ideologischen und physischen Konflikte mit linksradikalen Aktivisten, aber auch der Hass gegenüber den Repräsentanten der Republik, der oftmals durch den in weiten Teilen des Bürgertums verbreiteten Antisemitismus noch verschärft wurde, schlugen dabei rasch in Terrorismus um, was in jüngeren Studien bereits mehrfach betont worden ist.74 Zu den bekanntesten Aktionen der Organisation Consul gehörten die Attentate auf den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger sowie auf den deutschen Außenminister Walther Rathenau.75 An der Ermordung Rathenaus am 24. Juni 1922 waren gleich mehrere Studenten maßgeblich beteiligt. Neben den beiden eigentlichen Attentätern Erwin Kern und Hermann Fischer waren mit Günther Brandt und Ernst Werner Techow mindestens zwei weitere Helfershelfer an einer deutschen Hochschule immatrikuliert.76 Sie alle konnten auf verschiedene Freikorpseinsätze

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Vgl. Gabriele Krüger, Die Brigade Ehrhardt (Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte 7), Hamburg 1971, S. 73–94; Susanne Meinl, Brigade Ehrhardt, Organisation Consul und Bund Wiking. Das Spinnennetz rechtsradikaler Verbände in Mittelhessen 1920–1925, in: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins 36 (1993), S. 55–101; Howard Stern, The Organisation Consul, in: The Journal of Modern History 35 (1963), S. 20–32. Friedrich Wilhelm Heinz, Sprengstoff, Berlin 1930, S. 76. Vgl. diesbezüglich Barth, Dolchstoßlegenden (Anm. 6), S. 389–393; Gerwarth/Horne, Bolschewismus als Fantasie (Anm. 6), S. 106; Gerwarth, Central European CounterRevolution (Anm. 54), S. 191–193; Sauer, Freikorps und Antisemitismus (Anm. 32), S. 12–15. Zur Ermordung Matthias Erzbergers und zu den beiden Attentätern, Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen, siehe Cord Gebhardt, Der Fall des Erzberger-Mörders Heinrich Tillessen. Ein Beitrag zur Justizgeschichte nach 1945 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 14), Tübingen 1995, S. 38–46; Reiner Haehling von Lanzenauer, Der Mord an Matthias Erzberger (Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe 14), Karlsruhe 2008. Während Hermann Fischer an der Staatlichen Akademie für Technik in Chemnitz und Ernst Werner Techow an der Technischen Hochschule Berlin eingeschrieben waren (beide Maschinenbau), studierten Günther Brandt (Medizin) und Erwin Kern (Rechtswissenschaft) an der Kieler Universität, wo sie bei Brandts Vater, dem Ordinarius für Zoologie, Karl Brandt, wohnten. Die jungen Rechtsterroristen waren jedoch nur zeitweilig in den Hörsälen ihrer Hochschulen anzutreffen, da sie im Auftrag der Organisation Consul beständig durch die Republik reisten. Lediglich Brandt beendete das Studium erfolgreich – im Jahr 1921 wurde er im Fach Medizin promoviert.

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zurückblicken. Weiterhin war der Schriftsteller Ernst von Salomon als Verbindungsmann in die Vorbereitungen involviert. Dieser ist es auch, der die gewalttätige und extreme Dynamik hinter dem Mordanschlag wohl am eindringlichsten wiedergibt, wenn er einem der beiden Attentäter, Erwin Kern, folgende Äußerung zuschreibt: Ich habe mir, wie es die Ehre befahl, am neunten November 1918 eine Kugel in den Kopf gejagt. Ich bin tot; was an mir lebt, bin nicht ich. Ich kenne kein Ich mehr seit jenem Tage. Ich starb für die Nation, so lebt in mir alles nun einzig für die Nation. Ich tue, was ich muß. Weil ich sterben konnte, sterbe ich jeden Tag. Diese Kraft will Vernichtung, und ich vernichte.77

Am eigentlichen Anschlag in Berlin-Grunewald waren indes nur Kern und Fischer sowie Techow als Fahrer des Tatwagens beteiligt.78 Gemeinsam töteten sie Rathenau im offenen Fond seines dunkelgrauen NAG-Kabrioletts mit einer Handgranate und mehreren Schüssen aus einer Maschinenpistole. Die Attentäter konnten erst nach einer filmreifen Flucht am 17. Juli des Jahres auf Burg Saaleck gestellt werden, in deren Verlauf Kern tödlich verwundet wurde und sich Fischer anschließend selbst einen todbringenden Kopfschuss beibrachte. Kurz zuvor hatten sie zwei Leipziger Studenten, die einen Spaziergang am Schloss unternahmen, noch zugerufen: Wir sind Kieler Studenten, grüßen Sie bitte Kapitän Ehrhardt von uns. Kapitän Ehrhardt, er lebe hoch, hoch, hoch.79 Bislang kaum erforscht ist das Engagement von österreichischen Studenten innerhalb der OC, obgleich Ehrhardt bereits im Oktober 1920 die Aufstellung einer mit seinen Anhängern besetzten geheimen Brigade in Österreich anordnete, die sich zu einem erheblichen Teil aus national gesinnten Innsbrucker, Grazer und Wiener Nachwuchsakademikern rekrutierte.80 Allerdings existieren zu dieser bisweilen als „Studentenbrigade“ bezeichneten Einheit nur wenige Quellen, die keinerlei präzise Aussagen über die Mitgliederzahl oder über eventuelle Operationen erlauben. Bekannt ist dagegen, dass diese Brigade in militärischen Fragen ausschließlich Hermann Ehrhardt unterstand. In allen anderen Angelegenheiten besaß zudem die Bundesleitung der im April 1920 gegründeten Frontkämpfervereinigung DeutschÖsterreichs ein Mitspracherecht, bei der es sich um einen politischen Wehrverband der völkischen Rechten in der österreichischen Ersten Republik handelte.81 Daneben bestand die sogenannte Krüger-Gruppe, die, so eine Einschätzung von Gerhard Botz, als örtliche Abteilung der OC gelten muss und der überwiegend junge Aktivisten aus dem völkischen Oppositionsmilieu beitraten.82 Es ist anzunehmen, 77 78

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Ernst von Salomon, Die Geächteten, Berlin 1931, S. 302 f. (Hervorhebung im Original). Diesbezüglich und zum Folgenden siehe ausführlich Martin Sabrow, Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 69), München 1994, S. 86–103; Ders., Mord und Mythos. Das Komplott gegen Walther Rathenau 1922, in: Das Attentat in der Geschichte, hg. von Alexander Demandt, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 321–344. Zit. n. Sabrow, Rathenaumord (Anm. 78), S. 102. Holzmann, Die österreichische SA (Anm. 48), S. 171. Vgl. Earl C. Edmondson, Heimwehren und andere Wehrverbände, in: Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, hg. von Herbert Dachs u. a., Wien 1995, S. 261–276, hier S. 263. Dazu und zum Folgenden siehe Botz, Gewalt in der Politik (Anm. 7), S. 114 f. Zur Bedeutung der Studenten im Hinblick auf den österreichischen Faschismus siehe ebd., S. 243 f.

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dass sich unter den 30 Mitgliedern dieser Terrorgruppe auch österreichische Studenten befanden, zumal ein enger Kontakt mit anderen terroristischen Gruppierungen gepflegt wurde, denen wiederum mehrheitlich militante Hochschüler angehörten. Hier sind in erster Linie die Trutztruppe Nowosad (vier der sieben Angehörigen waren in Wien oder Graz immatrikuliert) und die Schlageter Brigade (zwei der sieben Mitglieder waren als Studenten eingeschrieben) zu nennen. Zweck dieser Organisationen war die Vorbereitung oder Absicht von Anschlägen gegen politische oder sonst prominente Persönlichkeiten.83 Die jungen Radikalen der Ersten Republik Österreich beließen es freilich nicht bei ihren Absichtserklärungen, wie an einem Attentat vom 23. November 1922 erkennbar wird. Ziel des Anschlags war der Sozialdemokrat und Angehörige des Bundesrats Franz Gruener, der – in Begleitung seiner Frau – auf offener Straße von fünf Attentätern überfallen und mit Gummiknütteln bewusstlos geschlagen wurde; er überlebte den Angriff, trug aber eine schwere Gesichtsverletzung davon.84 Zu den Tätern gehörten neben einem Mitglied der Brigade Ehrhardt auch zwei Hochschüler. Einer der beiden Studenten, Manfred von Schullern, Sohn des Rektors der Universität Innsbruck, hatte den Überfall zudem vorbereitet und initiiert. Für die ‚Volks-Zeitung‘ war dieser Mordanschlag der kaum zu übersehende Versuch, jenes System der politischen Morde, das die Hakenkreuzler Deutschlands zu solcher Vollendung ausgebaut haben, nach Österreich zu verpflanzen.85 Die Bezeichnung „Hakenkreuzler“ bezog sich in diesem Zusammenhang nicht auf die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), sondern auf die Mitglieder der OC, da die Angehörigen der Marine-Brigade Ehrhardt seit der Rückkehr von ihrem Einsatz in Oberschlesien das Hakenkreuz als Symbol an ihren Helmen führten.86 Nachdem die Terrorgruppe durch zwei Republikschutzverordnungen (26. und 29. Juni 1922) und ein anschließendes Republikschutzgesetz (21. Juli 1922) im Deutschen Reich verboten worden war, hatten mehrere ihrer Führungspersönlichkeiten die Flucht ins europäische Ausland – auch nach Österreich – ergriffen. Auf diese Weise versuchten sie den raschen Fahndungserfolgen der deutschen Strafverfolgungsbehörden zu entgehen, die bereits 1921 einen Großteil des Münchener Leitungsstabes verhaften konnten.87

GRENZKAMPF UND GEWALTMOBILITÄT Im Hinblick auf die Gewaltmobilität, die für einen großen Teil derjenigen deutschen und österreichischen Jungakademiker bezeichnend war, die sich an den Einsätzen der 83 84 85 86 87

Zit. n. Neue Freie Presse (04.07.1923), S. 1. Vgl. auch den Bericht der Polizeikorrespondenz ebd. (07.07.1923), S. 3. Dazu und zum Folgenden vgl. Gehler, Studenten und Politik (Anm. 48), S. 207 f.; zum Zitat vgl. Volks-Zeitung (01.12.1922), S. 2. Volks-Zeitung (29.11.1922), S. 1. Krüger, Brigade Ehrhardt (Anm. 72), S. 34. Vgl. Gotthard Jasper, Aus den Akten der Prozesse gegen die Erzberger-Mörder, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10.4 (1962), S. 430–453; Martin Sabrow, Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution (Fischer Geschichte 14302), Frankfurt a. M. 1999.

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Freikorps beteiligten, nahmen die Grenzen nach 1918 eine gewichtige Rolle ein. Ein besonderes Aufgabengebiet der Studenten lag in der sogenannten Grenzlandarbeit, die sich vor allem auf Oberschlesien konzentrierte. Mit der Kriegsniederlage des Deutschen Reiches von 1918, der Besetzung und Entmilitarisierung des Rheinlandes und den territorialen Veränderungen durch den Friedensvertrag von Versailles erlangten die transformierten Grenzen eine enorme politische und symbolische Bedeutung.88 Nationale Verbände und Freikorps etablierten in der Folgezeit die Schlagworte „Grenzland“ und „Grenzkampf“ als sprachliche Symbole des verlorenen Krieges, des demütigenden „Diktatfriedens“ und der volksgemeinschaftlichen Bewusstwerdung.89 Innerhalb des völkischen und nationalkonservativen Milieus entwickelte sich in den Nachkriegskrisen sogar eine eigene Grenzlandideologie, die von politischen Gruppierungen und gesellschaftlichen Verbänden in weite Teile der Bevölkerung getragen wurde.90 Im Gegensatz zu den Zeitfreiwilligenverbänden, die temporär in fast allen Hochschulstädten bestanden und in ihrer Mitgliederstärke variierten, oder jenen Freikorps, die hauptsächlich in den Großstädten oder in Mitteldeutschland und im Ruhrgebiet operierten, rekrutierten sich die paramilitärischen Grenzverbände im Osten, die im Mai 1921 während der Kämpfe in Oberschlesien noch einmal zu den Waffen gerufen wurden, aber nur zu einem Bruchteil aus dem akademischen Spektrum.91 Nach der Auflösung der Freikorps im Jahr 1920 war das Gros der studentischen Paramilitärs relativ unspektakulär in das Zivilleben zurückgekehrt, hatte das Studium fortgesetzt und im Oppositionsmilieu völkischer Jugendbünde und radikaler Gruppierungen wie dem Stahlhelm, dem Jungdeutschen Orden, dem Hochschulring Deutscher Art oder der NSDAP eine neue politische Heimat gefunden. Obgleich keine exakten Einsatzzahlen vorliegen, muss vorerst angenommen werden, dass sich die Jungakademiker im Vergleich zu der gegenrevolutionären Hochphase 1919/20 durch eine geringere Einsatzbereitschaft auszeichneten und nur wenige von ihnen im Jahr 1921 auf den Schlachtfeldern des Baltikums kämpften.92 Mit einer weiteren zeitlichen Verzöge88

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Thomas Müller, Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraums“ im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus (Histoire 8), Bielefeld 2009, S. 14 f. Siehe Vanessa Conze, Die Grenzen der Niederlage: Kriegsniederlagen und territoriale Verluste im Grenz-Diskurs in Deutschland (1918–1970), in: Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, hg. von Horst Carl u. a., Berlin 2004, S. 163–184, hier S. 168–178; Dies., „Unverheilte Brandwunden in der Außenhaut des Volkskörpers“. Der deutsche Grenz-Diskurs der Zwischenkriegszeit (1919–1939), in: Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, hg. von Wolfgang Hardtwig (Ordnungssysteme 22), München 2007, S. 21–48; Herbert, „Generation der Sachlichkeit“ (Anm. 22), S. 134–136. Müller, Imaginierter Westen (Anm. 88), S. 15. Vgl. auch Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933 (dtv 4312), München 4 1994, S. 222–250. Barth, Freiwilligenverbände (Anm. 39), S. 103–112. Fassbar wird der geringe Zustrom an freiwilligen Studenten in den Grenzschutzorganisationen am Beispiel der Universität Münster, wo die zahlreichen Aufforderungen der Universitätsleitung ungehört blieben. Den mangelnden Enthusiasmus der Akademiker, sich an den Kämpfen im Ruhrgebiet oder in Oberschlesien zu beteiligen, beklagte etwa das Westfälische Freikorps Lichtschlag in einem Schreiben an den Rektor der Universität. Vgl. Universitätsarchiv Münster, K 3, Bd. VII, Brief des Freikorps Lichtschlag an die Universität.

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rung des angestrebten Studienabschlusses, die sich aus einer aktiven Beteiligung am Konflikt um Oberschlesien ergeben hätte, konnte sich allem Anschein nach lediglich eine extremistische Minderheit arrangieren. Es waren in erster Linie jene hochmobilen, genuin transnational agierenden Überzeugungstäter, die sich auch in den klandestinen Terrororganisationen wie beispielsweise der OC engagierten oder auf den europäischen Schlachtfeldern und Straßen „nach Gewaltaktionen, materiellem Gewinn oder ideologischer Erfüllung“ suchten.93 Auf der paneuropäischen Ebene entwickelte sich die unmittelbare Nachkriegszeit somit zu einem transnationalen Erfahrungs- und Begegnungsraum, in der die Studenten zum Teil längere Phasen der Gewalt durchliefen, zugleich neue Kontakte knüpften und Anschluss an terroristische Untergrundorganisationen fanden. Ein Beispiel für grenzüberschreitende Gewaltmobilität findet sich in den Angehörigen des Freikorps Oberland und der Universität Innsbruck, die sich in Oberschlesien freiwillig an den Kämpfen gegen polnische Aufständische beteiligten – zu diesen mobilen Gewaltunternehmern gehörte auch der österreichische Student der Nationalökonomie und Heimwehrführer Ernst Rüdiger Starhemberg.94 In seinen Lebenserinnerungen schildert er detailliert die Nachkriegssituation in Tirol und Innsbruck, wo eine großdeutsche Stimmung unter der Bevölkerung überwog, weshalb der tägliche Anblick der dort stationierten italienischen Soldaten als brennende Schmach empfunden wurde, die das vaterländische Selbstbewußtsein in hohem Maße auf [rüttelte].95 Den Aufruf des Freikorps Oberland vom 9. Mai 1921 zum Einsatz in den oberschlesischen Gebieten verstanden die Nachwuchsakademiker daher als nationale Pflicht: Daß unter der Führung des polnischen Nationalisten Korfanty polnische Freischaren im deutschen Oberschlesien eingefallen waren, um dieses Gebiet trotz des für Deutschland günstigen Ergebnisses einer Volksabstimmung, für Polen zu besetzen, wußten wir bereits. Wir hatten auch davon gehört, daß heimattreue Oberschlesier zu einer Art oberschlesischen Selbstschutz zusammengeschlossen, bewaffneten Widerstand leisteten. Was wir aber noch nicht wußten und was uns geradezu elektrisierte, war die Nachricht, daß nun aus allen Teilen Deutschlands junge Patrioten, Studenten, Bürger und Arbeiter nach Oberschlesien eilten, daß dort aus Freiwilligen sich Freikorps bildeten und aus den Freikorps eine Freikorpsarmee im Entstehen begriffen sei. An manchen deutschen Hochschulen bestünden bereits Studentenbataillone. Um nun unsere Verbundenheit mit der gesamten deutschen Studentenschaft zu zeigen, sollten wir Innsbrucker Studenten ebenfalls eine studentische Wehrorganisation bilden und nach Oberschlesien ziehen.96

Es ist heute schwer auszumachen, was die österreichischen Studenten dazu bewog, ihr Leben im Baltikum zu riskieren – zu vielfältig und heterogen waren die Motive

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Robert Gerwarth, „Krieg im Frieden“: Der „Weiße Terror“ in den Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches, in: Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, hg. von Klaus Weinhauer und Jörg Requate, Frankfurt a. M./New York 2012, S. 123–136, hier S. 129. 94 Vgl. Falch, Zwischen Heimatwehr und Nationalsozialismus (Anm. 48), S. 51–86; Walter Wiltschegg, Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung? (Studien und Quellen zur österreichischen Zeitgeschichte 7), Wien 1985. 95 OÖLA, Nachlass Starhemberg, Aufzeichnungen des Fürsten Ernst Rüdiger Starhemberg im Winter 1938/39 in Saint Gervais in Frankreich, S. 33. 96 Ebd., Aufzeichnungen des Fürsten Ernst Rüdiger Starhemberg bis zum Jahr 1938 (verfasst während des Zweiten Weltkrieges in London), S. 19.

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dieser Paramilitärs. Ein Teil schloss sich den Freikorps wohl aufgrund nationaler Erwägungen an, schließlich war ein erneutes Aufflammen der kommunistischen Kräfte in Mitteleuropa, motiviert durch die Siege der Roten Armee im Osten, zu befürchten.97 Andere kämpften in dem Glauben, als Belohnung für ihren Einsatz in Lettland ein eigenes Stück Land zu erhalten. In unzähligen Fällen wurde den Rekruten suggeriert, dass jeder, der sich freiwillig zum Feldzug melde, eine entsprechende Entschädigung in Form von Siedlungsland erhalten würde.98 Unabhängig von diesen materiellen Aussichten spielten auch pangermanische Ideen eine wichtige Rolle, wie etwa den Erinnerungen eines akademischen Freiwilligen aus Tirol entnommen werden kann, der von einem Transfer spricht, den er für seinen Einsatz im Baltikum zu leisten bereit war: Da sollte man dabei sein. Trotz meiner österreichischen Erziehung fühlte ich mich auch von den großdeutschen Schlagworten und Ideen stark angezogen. Aus einem Österreicher war ich zu einem Pangermanisten, zu einem Nationalisten geworden.99

Gleichwohl der vermeintliche Sturm des Annaberges durch Innsbrucker Studenten „in den Bereich der Legendenbildung gerückt werden“ muss, nahm der Studentensturmzug Tirol, dem etwa 40 Jungakademiker der Tiroler Universitätsstadt angehörten und der organisatorisch dem Freikorps Oberland zugeordnet wurde, aktiv an den nachfolgenden Kampfhandlungen teil.100 So schlugen die Studenten am 2. und 3. Juni bei Licinia eine polnische Übermacht zurück und eroberten nur wenige Tage später, am 5. Juni, „nach erbitterten Straßenkämpfen“ die Stadt Kandrzin, wie der wissenschaftliche Nachwuchs in seinen Feldpostbriefen festhielt. Während dieser Auseinandersetzungen verlor mindestens ein aus Breslau stammender Theologiestudent sein Leben; fünf weitere Angehörige der Innsbrucker Studentenkompanie, so eine Formulierung der Neuesten Zeitung, wurden verwundet.101 Bis zur Einstellung der Kämpfe in Oberschlesien Mitte Juni 1921 beteiligten sich die jungakademischen Rekruten an keinen Gefechten mehr; stattdessen warteten sie die weitere Entwicklung ab. Am 5. Juli des Jahres wurden der oberschlesische Selbstschutz und damit auch das Freikorps Oberland auf alliiertes Betreiben hin aufgelöst, was aber die Mitglieder des Studentensturmzugs nicht daran hinderte, vorerst dort zu verweilen und 97 98

Fröhlich, Soldat ohne Befehl (Anm. 33), S. 149 f. Vgl. ebd., S. 150–152; Bernhard Sauer, Vom „Mythos eines ewigen Soldatentums“. Der Feldzug deutscher Freikorps im Baltikum im Jahre 1919, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43.10 (1995), S. 869–902, hier S. 882; Schulze, Freikorps und Republik (Anm. 7), S. 133. Auch von Salomon, Die Geächteten (Anm. 77), S. 59, berichtet von diesen Anwerbemaßnahmen. 99 Zit. n. Wojcech Pieniazek, 1.000 Kilometer gen Nordosten. Der „Tiroler Sturmzug“ als studentische Gewaltgemeinschaft, in: Vorträge der 74. Deutschen Studentenhistorikertagung (Anm. 43), S. 167–208, hier S. 183. 100 Vgl. diesbezüglich und zum folgenden Zitat Gehler, Studentischer Wehrverband (Anm. 20), S. 41–44; Ders., Studenten im Freikorps Oberland (Anm. 20), S. 133–145. Nach Gehlers Einschätzung wurde die Beteiligung von Studenten im Rahmen der Erstürmung des Annaberges in akademischen Kreisen als ein „Symbol ‚der Auflehnung gegen die Regierungsmethoden der Nachkriegszeit‘ und des ‚Durchbruch(s) der deutschen Jugend durch die Front der Unterzeichner der Friedensverträge‘“ gedeutet. 101 Dazu und zum Folgenden siehe die Neueste Zeitung (08.06.1921/11.06.1921), S. 3 bzw. S. 2; Gehler, Studentischer Wehrverband (Anm. 20), S. 44–48.

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vergeblich auf einen weiteren Einsatz zu hoffen. Spätestens Ende August des Jahres kehrte die Mehrheit der Jungakademiker allerdings nach Innsbruck zurück; nur wenige Personen verblieben in Schlesien, um sich in dem nur zum Schein aufgelösten Selbstschutz weiterhin zu engagieren.

FAZIT Fieberhafte Rastlosigkeit und entschiedene Gewaltbereitschaft, so das Fazit dieser knappen Überlegungen, können als die dominierenden Merkmale jener radikalen österreichischen und deutschen Jungakademiker festgemacht werden, die sich nach 1918 für gegenrevolutionäre, grenzkämpferische oder terroristische Ideen und Ziele engagierten und dabei politische Gewalt als legitimes Mittel der Meinungsäußerung favorisierten. Ihr Credo, schneller, pragmatischer, militanter als ihre Gegner zu sein, entwickelte sich erst im Zusammenhang mit den zahlreichen Konflikten und Beziehungsverhältnissen zu ihren Konkurrenten, die oftmals ebenso ein ambivalentes Verhältnis zur Weimarer Republik aufwiesen.102 Studenten wie Kern, Starhemberg oder von Selchow tendierten dabei zu solchen Weltanschauungen, die Gewalt um der Gewalt willen verherrlichten und denen eine zugespitzte Politik der Tabula rasa immanent war. Der Ausnahmezustand wurde so allmählich zur Norm. Für sie spielte es daher auch keine Rolle, ob sie auf den Schlachtfeldern Osteuropas oder in den Straßenschluchten der europäischen Großstädte kämpften. Sogar die Wahl ihrer Feinde besaß nur eine sekundäre Bedeutung, wie an ihren Opfern verschiedenster politischer Couleur sichtbar wird. Ihr Habitus war durch Vitalität, Entschiedenheit, Virilität, Militarismus und jugendlichen Aktivismus geprägt – Lebenswille und heroische Gewalttaten widersprachen sich in diesem Weltbild nicht, vielmehr bedingten sie einander. Nach Sven Reichardt lässt sich ein derart ausgeprägter Wille zur Radikalität sogar als körperliche Disposition beschreiben, die sowohl in einem ungebrochenen Aktivismus als auch in extremen politischen Gewalthandlungen zum Ausdruck kam.103 Der phasenbezogene und dynamische Prozess der Radikalisierung war dabei natürlich abhängig von der jeweiligen Situation und den Bedingungskontexten. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution oder die „Spartakusunruhen“ sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie die Beziehungskonstellationen innerhalb der Freikorps oder der Terrororganisationen. Schließlich ist noch die eigendynamische Kraft von Gewaltverhältnissen einzubeziehen, die sowohl zielgerichtet als auch situationsspezifisch codiert ist.104 Anhand der Beispiele werden somit die

102 Reichardt, Radikalisierung (Anm. 10), S. 78 f. Vgl. auch Barth, Dolchstoßlegenden (Anm. 6), S. 388–392. 103 Reichardt, Radikalisierung (Anm. 10), S. 80. 104 Vgl. dazu Andreas Pettenkofer und Christoph Liell, Kultursoziologische Perspektiven in der Gewaltforschung, in: Kultivierungen von Gewalt. Beiträge zur Soziologie von Gewalt und Ordnung, hg. von dens. (Kultur – Geschichte – Theorie. Studien zur Kultursoziologie 2), Würzburg 2004, S. 9–40; Weinhauer/Ellerbrock, Perspektiven auf Gewalt (Anm. 12), S. 9.

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wechselseitigen Beziehungen zwischen den Individuen und den militanten Organisationen deutlich. Denn mit dem Eintritt in einen paramilitärischen Verband endeten die Radikalisierungsprozesse nicht, sondern kamen erst richtig in Gang. Im Hinblick auf weitere Studien ist daher verstärkt nach dem „Wie“ der Radikalisierung zu fragen, weniger nach dem „Warum“. Dr. Martin Göllnitz Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Str. 6c, 35032 Marburg, [email protected]

NATIONALSOZIALISTISCHE GEWALTPOLITIK AN DEN HOCHSCHULEN 1929–1933* Michael Grüttner

Abstract: The rise of the NSDAP in the last years of the Weimar Republic fundamentally changed the political climate at German universities. The unusually early and extraordinarily intensive turn of students towards National Socialism became apparent at the universities in an increasing aggressiveness of student politics. This aggressiveness was expressed in hateful campaigns against individual university teachers who were attacked because of their political convictions or for racist reasons, and in the growing willingness to use physical violence against Marxist, republican or Jewish fellow students. The text deals with the bearers of this policy, the persuaders of National Socialism – their actions, their mentality and the resonance they found among the students. The author is also interested in the ambivalent behavior of the teaching staff towards student activism: the professors fluctuated between the duty to defend freedom of teaching, the desire to return as quickly as possible to orderly conditions, clandestine sympathies for the “national” goals of the National Socialists and the effort to refrain from doing anything that was suitable to become the object of hatred of the student fanatics themselves.

Es gibt nur wenige Zeitabschnitte in der deutschen Universitätsgeschichte, in denen der Begriff des „radikalen Überzeugungstäters“ den politisch dominanten Studententypus so prägnant charakterisiert, wie die letzten Jahre der Weimarer Republik. Studierende gehörten damals zu jenen Teilen der deutschen Gesellschaft, die sich schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt und mit besonderem Enthusiasmus dem Nationalsozialismus zugewandt hatten. Diese Hinwendung offenbarte sich vor allem in den Ergebnissen studentischer Wahlen, die seit 1929 zu einem wahren Triumphzug des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) wurden. Sie zeigte sich aber auch in der zunehmenden Aggressivität studentischer Politik, in hasserfüllten Kampagnen gegen einzelne Hochschullehrer, die aufgrund ihrer politischen Überzeugungen oder aus rassistischen Gründen an der Lehre gehindert wurden, und in der wachsenden Bereitschaft, mit physischer Gewalt gegen marxistische, republikanische oder jüdische Kommilitonen vorzugehen. Mit diesen Überzeugungstätern nationalsozialistischer Couleur, ihren Aktivitäten, ihrer Mentalität und der Resonanz, die sie in den Universitäten fanden, beschäftigt sich der folgende Text. Die Darstellung konzentriert sich auf vier Schwerpunkte: 1. die Durchsetzung des Nationalsozialismus unter den Studierenden, 2. die Aktionen gegen einzelne Hochschullehrer – exemplarisch werden die Kampagnen gegen Emil Julius Gumbel

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Ich danke der Gerda Henkel Stiftung für die großzügige Förderung meiner Forschungen zur Universitätsgeschichte.

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(Heidelberg), Günther Dehn (Halle) und Ernst Cohn (Breslau) analysiert –, 3. den nationalsozialistischen Terror gegen Studierende, die den Nationalsozialisten aus politischen oder rassistischen Gründen verhasst waren – dieser Aspekt wird hier am Beispiel der Berliner Universität genauer untersucht –, und 4. die Reaktion des Lehrkörpers und der Universitätsspitze auf die studentischen Aktionen.

DIE DURCHSETZUNG DES NATIONALSOZIALISMUS UNTER DEN STUDIERENDEN Die Entwicklung des 1926 gegründeten NSDStB war viele Jahre lang eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte.1 Bereits eineinhalb Jahre vor der nationalsozialistischen Machtübernahme avancierte der Studentenbund an fast allen deutschen Hochschulen zur stärksten hochschulpolitischen Kraft, wie die Ergebnisse der Wahlen für die Allgemeinen Studentenausschüsse (AStA) dokumentieren. Da sich an den studentischen Wahlen damals im Durchschnitt 60–80 Prozent der Studierenden beteiligten, erlauben ihre Resultate durchaus einen Einblick in die politische Haltung eines Großteils der Studentenschaft. 1928 lag der Stimmenanteil des NSDStB bereits bei 12 Prozent; zu diesem Zeitpunkt erhielt die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) bei den Reichstagswahlen noch nicht einmal 3 Prozent der Wählerstimmen. An der Universität Erlangen gewann die Organisation 1929 sogar die absolute Mehrheit. Nichts gibt mir mehr Glauben an die Richtigkeit unserer Idee als die Siege des Nationalsozialismus auf der Hochschule, soll Hitler bereits 1930 gesagt haben.2 1931 entschieden sich an den Universitäten und Technischen Hochschulen insgesamt 44 Prozent aller studentischen Wähler für die nationalsozialistischen Listen. Folgerichtig übernahm der NSDStB im Juli 1931 auch die Führung der Deutschen Studentenschaft, des Dachverbandes der örtlichen Studentenschaften. Sein bestes Ergebnis bei studentischen Wahlen erreichte der NSDStB 1932 mit einem Stimmenanteil von 48 Prozent.3 Die Affinität zahlreicher Studierender zu rechtsradikalen Positionen war keine deutsche Besonderheit. Tatsächlich haben Studierende in vielen faschistischen Bewegungen und Parteien, die sich in den 1920er und 1930er Jahren auf dem europäischen Kontinent formierten, eine bedeutende, manchmal sogar eine dominante Rolle gespielt. Dies gilt für den italienischen Faschismus ebenso wie für die spanische „Falange“ oder die „Eiserne Garde“ in Rumänien.4

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Grundlegend zur Geschichte des NSDStB bis 1933: Anselm Faust, Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund. Studenten und Nationalsozialismus in der Weimarer Republik, 2 Bde. (Geschichte und Gesellschaft), Düsseldorf 1973. Zit. n. Die Bewegung 2 (1930), Nr. 16, S. 4. Ergebnisse studentischer Wahlen nach Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn 1995, S. 54, 496 f. Vgl. Francisco Morente, Estudiantes contra la República. El Sindicato Español Universitario ante el espejo europeo, in: La rabia y la idea. Política e identidad en la España republicana (1931–1936), hg. von dems., Jordi Pomés und Josep Puigsech, Saragossa 2016, S. 261–288; Stanley Payne, Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung,

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Warum waren gerade die Studierenden so anfällig für die nationalsozialistische Propaganda? Eine gewichtige Rolle spielte in Deutschland zweifellos das Zusammentreffen zweier Krisen, die an den Universitäten als existenzbedrohend wahrgenommen wurden. Neben der allgemeinen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftskrise, die den Bestand der Weimarer Republik seit 1930 bedrohte, hatte sich bereits in den 1920er Jahren eine von den Zeitgenossen als katastrophal empfundene Überfüllungskrise in fast allen akademischen Berufen entwickelt. Zeitgenössischen Schätzungen zufolge war die Zahl der Hochschulabsolventen um 1930 etwa zweibis dreimal so groß wie der tatsächliche Bedarf an akademischen Berufsanfängern.5 Der Hinweis auf diese doppelte Krise erklärt allerdings noch nicht, warum die Angst vieler Studierender vor der gesellschaftlichen Deklassierung gerade den Nationalsozialisten zugutekam. Diese Tatsache wird eher nachvollziehbar, wenn man sich die große Empfänglichkeit der Studentenschaft für nationalistische, antisemitische und antiliberale Strömungen lange vor dem Aufstieg der NSDAP vor Augen hält. Dies galt insbesondere für die schlagenden Verbindungen, die ihre Satzungen oft schon im Kaiserreich oder spätestens Anfang der 1920er Jahre durch einen „Arierparagraphen“ ergänzt hatten, der die Aufnahme jüdischer Mitglieder untersagte.6 In der ersten Hälfte der 1920er Jahre war dieses antirepublikanische und antisemitische Protestpotential hauptsächlich vom Hochschulring Deutscher Art zusammengefasst worden.7 Seit 1928/29 trat der NSDStB in die Fußstapfen des Hochschulrings und übernahm die politische Hegemonie in der deutschen Studentenschaft. Studierende, die sich dem Nationalsozialismus zuwandten, mussten ihr Weltbild daher nicht grundlegend verändern. Gleichwohl unterschied sich der NSDStB durchaus von älteren Formen des studentischen Nationalismus. Drei Unterschiede fallen besonders ins Auge: 1. eine egalitäre, antibürgerliche Rhetorik, die ständig die Gemeinsamkeiten von Arbeitern der Stirn und Arbeitern der Faust hervorhob,8 2. die Bereitschaft, innerhalb der Universitäten physische Gewalt anzuwenden, und 3. die enge Verbindung mit einer politischen Partei, der NSDAP, die seit 1929/30 sichtbar im Aufstieg begriffen war. Insofern waren die Erfolge des NSDStB eindeutig Teil eines Radikalisierungsprozesses in der Studentenschaft.9

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Berlin/München 2001, S. 352; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA (Industrielle Welt 63), Köln 2002, S. 299–303. Vgl. Hartmut Titze, Der Akademikerzyklus. Historische Untersuchungen über die Wiederkehr von Überfüllung und Mangel in akademischen Karrieren, Göttingen 1990, insb. S. 263–276. Vgl. Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten. 1800–1970 (edition suhrkamp NF 258), Frankfurt a. M. 1984, S. 82–93., 122 f. Ulrich Herbert, „Generation der Sachlichkeit“. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in: Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, hg. von Frank Bajohr, Werner Johe und Uwe Lohalm (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 27), Hamburg 1991, S. 115–144. Zur antibürgerlichen Rhetorik des Nationalsozialismus vgl. Hermann Beck, The Antibourgeois Character of National Socialism, in: The Journal of Modern History 88 (2016), Nr. 3, S. 572–609. Vgl. dazu als neuere Fallstudie auch: Martin Göllnitz, Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärskorps am Beispiel der Universität Kiel (1927–1945) (Kieler Historische Studien 44), Ostfildern 2018, S. 51–61.

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Wer wählte den NSDStB? Seine größten Erfolge erzielte der Studentenbund an Hochschulen mit einer mehrheitlich protestantischen Studentenschaft. Die Katholiken zeigten sich an den Hochschulen, ebenso wie in der deutschen Gesellschaft insgesamt,10 weitaus weniger aufnahmebereit für die NS-Ideologie. Allerdings war das katholische Element in Deutschland an den wissenschaftlichen Hochschulen traditionell unterrepräsentiert – eine Folge des allgemeinen katholischen Bildungsdefizits.11 Die wenigen AStA-Wahlen, bei denen die Stimmen nach Geschlechtern getrennt ausgezählt wurden, deuten zudem darauf hin, dass Männer die NSDStBListen häufiger ankreuzten als Frauen.12 Die Mitgliederzahlen waren verglichen mit den Wahlergebnissen weniger eindrucksvoll. An den Universitäten und Technischen Hochschulen gehörten Anfang 1933 etwa vier Prozent der Studierenden dem NSDStB an.13 Den Kern der Organisation bildeten einige Hundert Aktivisten, die erfüllt waren von der Vorstellung, vor einer Zeitenwende zu stehen, die mit geradezu chiliastischen Erwartungen verknüpft wurde. Charakteristisch für diese Einstellung war ein Offener Brief, den der nationalsozialistische Studentenführer Fritz Hippler 1932 an Rektor und Senat der Berliner Universität schrieb. Hippler war kurz zuvor von der Universität relegiert worden, nachdem er vom Balkon des Hauptgebäudes die Hakenkreuzfahne gehisst und eine Wahlrede gehalten hatte. Gegenüber dem Vorwurf, er habe durch seine illegale Wahlagitation die akademische Sitte und Ordnung gestört, rechtfertigte er sich mit folgenden Worten: Es ist gut, daß Sie nicht vor 1900 Jahren lebten, als der Gründer des Christentums ans Kreuz geschlagen wurde, vor dem Sie heute ihr Haupt beugen. Auch seinen Opfertod hätten sie vom wissenschaftlichen Standpunkt gutgeheißen und ihn einen Wahlagitator genannt, da er neue Gedanken predigte und die Wechsler aus dem Tempel peitschte. Daß Sie heute zum Heiland ihre Herzen erheben, liegt nur daran, daß er – schon neunzehnhundert Jahre tot ist, daß er zu einer der geschichtlichen Vergangenheit angehörigen Größe geworden ist, zu der sich auch ein Wissenschaftler bekennen kann. Lebten Sie statt heute in zweitausend Jahren und es würde Ihnen die Aufgabe zuteil, sich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen, Sie würden schreiben: „Im 20. Jahrhundert fand ein glaubensloses Volk seinen Glauben, eine uneinige Nation ihre Einigkeit, ein national und sozial unfreies Deutschland seine Freiheit wieder. Beugen wir die Knie vor dem Führer zum Dritten Reich, der Glauben, Einigkeit und Freiheit brachte.“ Aber das würden Sie erst nach zweitausend Jahren schreiben.14

Diese pseudoreligiöse Erwartungshaltung, die Hitler unverblümt als eine Art neuen Heiland feierte, und das daraus erwachsene Sendungsbewusstsein bildeten eine wesentliche Grundlage für die Gewaltbereitschaft der studentischen Aktivisten. In den letzten Jahren der Weimarer Republik wurden zahlreiche Hochschullehrer von

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Jürgen Falter, Hitlers Wähler, München 1991, S. 169–193. Michael Klöckner, Das katholische Bildungsdefizit in Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 32 (1981), S. 79–98. 12 Zur Wählerschaft des NSDStB vgl. Grüttner, Studenten im Dritten Reich (Anm. 3), S. 50–61. 13 Vgl. ebd., S. 500. 14 Fritz Hippler, Offener Brief an Rektor und Senat der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, in: Deutsche Akademiker-Zeitung 24 (1932), Nr. 4, S. 7. Zu Hipplers Biografie vgl. Roel Vande Winkel, Nazi Germany’s Fritz Hippler, 1909–2002, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 23 (2003), Nr. 2, S. 91–99.

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Nationalsozialisten öffentlich angegriffen, verleumdet oder beleidigt. Drei dieser Kampagnen, die seinerzeit in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen sorgten, sollen hier knapp skizziert werden.

DIE KAMPAGNE GEGEN EMIL JULIUS GUMBEL Ich beginne mit dem Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel (1891–1966). Gumbel, der sich 1922 in Heidelberg für das Fach Statistik habilitierte, wuchs in einer liberalen jüdischen Familie auf und wurde unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs zum radikalen Pazifisten und Linkssozialisten. Nacheinander gehörte er der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) an; außerdem war er aktives Mitglied der Liga für Menschenrechte und der Deutschen Friedensgesellschaft. Bekannt wurde er in den 1920er Jahren zunächst durch eine Reihe von politischen Büchern, die sich unter anderem kritisch mit nationalistischen Geheimbünden beschäftigten und mit einer politischen Justiz, die auf dem rechten Auge blind war. Der eigentliche „Fall Gumbel“ begann bereits im Juli 1924, als Gumbel auf einer Veranstaltung zum 10. Jahrestag des Kriegsbeginns dazu aufrief, der Kriegstoten zu gedenken, die – ich will nicht sagen – auf dem Feld der Unehre gefallen sind, aber doch auf grässliche Weise ums Leben kamen.15 Die Formulierung „Feld der Unehre“ sorgte sechs Jahre nach Kriegsende nicht nur in nationalistischen Kreisen für eine Welle der Empörung; selbst manche Sozialdemokraten empfanden sie als taktlose Entgleisung.16 Gumbel wurde nach Bekanntwerden der Äußerung vorläufig suspendiert; sowohl die Philosophische Fakultät Heidelberg als auch der Universitätssenat setzten sich für den Entzug seiner Lehrbefugnis ein. Das badische Kultusministerium teilte diese Auffassung indes nicht und hob Gumbels Suspendierung auf, nachdem dieser den unglücklichen Ausdruck vom Feld der Unehre ausdrücklich bedauert hatte.17 Nachdem Gumbel zuvor mehrfach übergangen worden war, wurde er im August 1930 vom Kultusminister zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ernannt. Das Resultat war ein studentischer Proteststurm, der hauptsächlich vom Heidelberger NSDStB und von der Vereinigung Heidelberger Verbindungen organisiert wurde. Angespornt durch den Wahlerfolg der NSDAP im September 1930, versammelten sich 2 000 Studierende, um gegen die seelische Verseuchung des deutschen Volkes durch Gumbel zu demonstrieren. Gleichzeitig machten die Redner deutlich, dass Gumbel für sie primär der Repräsentant eines „Systems“ war, das zu Fall gebracht werden sollte.18 Da diese Proteste keinen Erfolg hatten, kündigte die AStA-Mehrheit aus Nationalsozialisten und Korporierten an, künftige Veranstaltungen der Universität zu

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Christian Jansen, Emil Julius Gumbel. Portrait eines Zivilisten, Heidelberg 1991, S. 19. Vgl. Faust, Studentenbund (Anm. 1), Bd. 2, S. 58. Zit. n. Jansen, Emil Julius Gumbel (Anm. 15), S. 20. Zit. n. Jansen, Emil Julius Gumbel (Anm. 15), S. 31.

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Abbildung 1: Emil Julius Gumbel (1891–1966)

boykottieren, sofern die Abwesenheit Gumbels nicht garantiert sei. Als der AStA schließlich ultimativ die Entlassung Gumbels forderte, hatte er aus Sicht des badischen Kultusministers Adam Remmele (SPD) seine Kompetenzen endgültig überschritten. Im Januar 1931 löste Remmele die staatlich anerkannte Heidelberger Studentenschaft auf. Die den AStA beherrschenden Gruppen reagierten mit der Gründung der Deutschen Studentenschaft Heidelberg – diesmal als private Vereinigung, die unverzüglich zu einer Protestkundgebung aufrief, an der etwa 700 bis 1 000 Studierende teilnahmen. Nachdem auf dieser Kundgebung Schmährufe gegen Minister Remmele laut geworden waren, räumte die Polizei den Universitätsplatz unter Einsatz von Gummiknüppeln. Das führte zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Studierenden. Ein Teil der Letzteren bewaffnete sich mit Knüppeln und verbarrikadierte sich im Universitätsgebäude. Jüdische Studierende, die zufällig anwesend waren, wurden gewaltsam gezwungen, das Gebäude zu verlassen. Erst nach mehreren vergeblichen Anläufen konnte die Polizei das Universitätsgebäude schließlich räumen und die „Gumbelkrawalle“ beenden.19 Von seiner Universität hatte Gumbel in dieser Situation keine Solidarität zu erwarten. Sowohl die Philosophische Fakultät als auch der Heidelberger Universitätssenat missbilligten öffentlich die Verleihung des Professorentitels, obwohl Gumbels

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Ders., Der „Fall Gumbel“ und die Heidelberger Universität 1924–32, Heidelberg 1981, S. 62–66.

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Lehrveranstaltungen nie Anlass zur Kritik geboten hatten. Auch der Vorstand des Hochschulverbandes schloss sich dieser Einschätzung an.20 Auf Gumbels studentische Gegner wirkten solche Äußerungen wie eine Ermutigung, ihren Kampf fortzusetzen. Die nächste Gelegenheit ergab sich im Sommer 1932, als der Pazifist in einem Vortrag vor der Sozialistischen Studentenschaft erklärte, ein angemessenes Kriegsdenkmal sei für ihn nicht eine leichtbekleidete Jungfrau mit der Siegespalme in der Hand, sondern ein Stein mit einer Kohlrübe.21 Mit dieser Anspielung auf den Hungerwinter von 1916/17, dem sogenannten „Kohlrübenwinter“, wollte Gumbel seine Ansicht verdeutlichen, dass nicht militärische Siege oder kriegerische Heldentaten, sondern das Leid der Zivilbevölkerung die Erinnerung an den Krieg bestimmen sollten. Nachdem diese Äußerung durch zwei NSDStB-Mitglieder, die an der Veranstaltung teilgenommen hatten, bekannt geworden war, gewann die studentische Kampagne gegen Gumbel neuen Schwung: Wieder herrschte Empörung im nationalistischen Lager; es folgten Protestversammlungen, Unterschriftenlisten und ein Disziplinarverfahren. Die studentischen Attacken gegen den Mathematiker machten auch vor seinem Privatleben keinen Halt; mehrfach wurden ihm die Fensterscheiben eingeworfen. Schließlich wagte er sich in Heidelberg nur noch mit einer Leibwache aus der sozialistischen Studentengruppe auf die Straße.22 Innerhalb der Universität wurde Gumbel nun auch von liberalen Hochschullehrern wie Alfred Weber oder Karl Jaspers nicht mehr unterstützt. Selbst der mit Gumbel befreundete sozialdemokratische Jurist Gustav Radbruch ging jetzt auf Distanz. Die Philosophische Fakultät Heidelberg sah in Gumbel einen Ruhestörer und Friedensbrecher des akademischen Gemeinschaftslebens, dessen Verbleib im Lehrkörper nicht erwünscht war. Diesem Urteil schloss sich auch der Universitätssenat an. Anders als im Vorjahr stand an der Spitze des Kultusministeriums nunmehr ein Politiker der Zentrumspartei, der Gumbels Umgang mit Heldentum und Opfer als tief verletzend empfand und keinen Grund sah, sich hinter den Angegriffenen zu stellen.23 Im August 1932 wurde Gumbel die Lehrbefugnis entzogen. Seine Gegner triumphierten, und die Reichsleitung des NSDStB beglückwünschte den zuständigen Kreisleiter zu dem schönen Erfolg Ihrer langen zähen Arbeit.24 Wenige Monate später musste Gumbel Deutschland verlassen.

DER HALLESCHE UNIVERSITÄTSKONFLIKT: GÜNTHER DEHN Günther Dehn (1882-–1970) war ein Pastor und evangelischer Theologe, der den religiösen Sozialisten nahestand und zeitweise auch Mitglied der SPD gewesen war. 1928 hatte Dehn in Kreisen der nationalistischen Rechten für Aufruhr gesorgt, als er 20 21 22 23 24

Vgl. die Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen 11 (1931), S. 30 f. Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Bd. 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München 1991, S. 75. Vgl. Jansen, Emil Julius Gumbel (Anm. 16), S. 40. Zit. n. Heiber, Universität (Anm. 21), S. 76. Zit. n. Faust, Studentenbund (Anm. 1), Bd. 2, S. 62.

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in Magdeburg einen Vortrag hielt, der sich kritisch mit der Tendenz der christlichen Kirchen beschäftigte, den Tod für das Vaterland zu glorifizieren.25 Der Soldatentod, so argumentierte Dehn, werde von der Kirche fälschlicherweise als reiner Opfertod betrachtet. Dabei werde aber übersehen, dass der Getötete selbst ebenfalls töten wollte. Insofern sei eine Parallelisierung mit dem christlichen Opfertod nicht möglich. Dehn schlug deshalb vor, Denkmäler für gefallene Soldaten aus den Kirchen zu entfernen, und regte an, über die Abschaffung der Militärseelsorge nachzudenken. Außerdem plädierte er dafür, Kindern kein Kriegsspielzeug und keine den Krieg verherrlichenden Bücher in die Hand zu geben.26 Zwei über solche Ansichten schockierte Zuhörerinnen behaupteten ferner, Dehn habe am Rande der Veranstaltung geäußert, wenn man in der Kirche Gedenktafeln für gefallene Soldaten aufstelle, könne man dort auch jeden Mörder verewigen. Diese Äußerung hat Dehn jedoch stets bestritten. Zwei Jahre später eröffnete sich für Dehn die Möglichkeit, seine Berliner Gemeinde zugunsten einer Hochschullaufbahn aufzugeben. Die Theologische Fakultät Heidelberg schlug ihn primo loco für einen Lehrstuhl vor; das badische Kultusministerium war einverstanden. Dehn hatte den Ruf nach Heidelberg bereits angenommen, als die Theologische Fakultät Kenntnis von der Magdeburger Rede und den dadurch ausgelösten Turbulenzen erhielt. Die Fakultät reagierte mit Entsetzen auf die Nachricht, zumal sie befürchten musste, sich damit einen zweiten „Fall Gumbel“ ins Haus zu holen. Auf einer Fakultätssitzung im Januar revidierten die Heidelberger Theologieprofessoren ihr ursprüngliches Votum und erklärten, Dehn sei angesichts der neuen Faktenlage nicht für den Lehrstuhl geeignet.27 Daraufhin verzichtete Dehn auf die Heidelberger Professur. Erleichtert wurde ihm diese Entscheidung durch das Angebot des preußischen Kultusministers Adolf Grimme (SPD), stattdessen eine ordentliche Professur für Praktische Theologie in Halle zu übernehmen. Wunschkandidat der Universität war Dehn aber auch dort nicht. Einige Monate zuvor hatte der sozialdemokratische Kultusminister die komplette Vorschlagsliste der Fakultät zur Wiederbesetzung des Lehrstuhls mit insgesamt fünf Namen zurückgewiesen und stattdessen vier Gegenvorschläge gemacht, darunter auch Dehn. Diese Vorschläge stießen durchgängig auf die Kritik der Fakultät, die allerdings durchblicken ließ, Dehn sei von den Kandidaten des Ministeriums noch am ehesten akzeptabel.28 Wenig später berief der Kultusminister den Theologen nach Halle. Die unmittelbar danach einsetzende Kampagne gegen Dehn wurde von einem studentischen Bündnis getragen, zu dem neben dem NSDStB auch der Hochschulring Deutscher Art, faktisch ein Zusammenschluss der lokalen Korporationen, und die Deutsche Studentenschaft Halle gehörten; dabei handelte es sich um eine inoffizielle Vereinigung

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Vgl. Dagmar Pöpping, Kriegspfarrer an der Ostfront. Evangelische und katholische Wehrmachtseelsorge im Vernichtungskrieg 1941–1945 (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen 66), Göttingen 2017, S. 127–131. 26 Dehn hat den Text des Vortrags nachträglich veröffentlicht: Günther Dehn (Hg.), Kirche und Völkerverständigung. Dokumente zum Halleschen Universitätskonflikt, Berlin 1931, S. 6–23. 27 Ebd., S. 40–43. 28 Vgl. Heiber, Universität (Anm. 21), S. 90.

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Abbildung 2: Günther Dehn (1882–1970)

sämtlicher rechtsgerichteter Studentengruppen.29 Den Auftakt bildete ein Flugblatt des NSDStB, in dem es hieß: Herr Pfarrer Dehn will die deutschen Kinder zum krassesten und feigen Pazifismus erziehen. Wollen wir zusehen, wie ein solcher Mann ein Ordinariat an unserer Universität erhält? [. . .] Wir wollen ehrliche deutsche Männer als Professoren unserer [. . .] Hochschulen haben!30

Der Universitätssenat versuchte zunächst, den studentischen Protest durch demonstrative Härte schon in seinen Anfängen zu ersticken, und verbot unmittelbar nach der Verteilung des Flugblatts die Hochschulgruppe des NSDStB in Halle.31 Doch die Aktion erwies sich als Fehlschlag, denn der Studentenbund war schon kurze Zeit

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Der Fall Dehn, 1. Teil: Die Vorgänge, die zum „Fall Dehn“ führten, bearb. von Hans Börner, hektographiertes Ms., 16.10.1931, S. 3, in: Berlin-Lichterfelde, Bundesarchiv (BArch), NS 38/2283. Vgl. Abb. 3. Kirche und Völkerversöhnung (Anm. 26), S. 46–49.

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später unter neuem Namen (Kampfgruppe Hochschule der NSDAP) wieder präsent und gewann drei Monate später erstmals die AStA-Wahlen.32 Als Dehn im November 1931 seine erste Vorlesung halten wollte, wurde er von etwa 2 000 Studierenden empfangen, die den Universitätsplatz sowie die Flure und Treppenhäuser des Universitätsgebäudes besetzt hatten und entschlossen waren, die Lehrveranstaltung zu verhindern. Dehn betrat den Hörsaal in Begleitung des Rektors und musste dabei durch ein dichtes Spalier von Studierenden gehen, die ihre Arme zum Nazi-Gruß erhoben hatten. Seine Versuche, die Vorlesung abzuhalten, wurden durch Trampeln, Geschrei und Gesang verhindert. Obwohl der Rektor, der Nationalökonom Gustav Aubin, nicht davor zurückscheute, die Polizei zu Hilfe zu rufen, musste die Veranstaltung nach einer Stunde ergebnislos abgebrochen werden. Am folgenden Tag konnte Dehn dann erstmals eine Vorlesung halten. Zugelassen wurden diesmal nur Studierende der Theologie, während draußen 300 Polizisten versuchten, etwa 2 000–3 000 Gegner Dehns in Schach zu halten, die in Sprechchören Parolen wie Dehn raus oder Polizei raus brüllten. Schließlich räumte die Polizei den Platz unter Einsatz von Gummiknüppeln und nahm sieben Studierende fest, die später zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt wurden.33 Die Härte des Polizeieinsatzes und die drakonischen Strafen ließen Dehns Gegner offensichtlich nicht unbeeindruckt, denn am 6. November beschlossen der Hochschulring und die Deutsche Studentenschaft Halle, auf weitere Demonstrationen zu verzichten.34 Wenige Tage später, am 11. November, sprach eine Vollversammlung des Lehrkörpers dem Rektor, der sich hinter Dehn gestellt hatte, das Vertrauen aus und kritisierte die protestierenden Studenten, bescheinigte ihnen aber gleichzeitig, sie seien von reinen und edlen Gefühlen zum Vaterlande und zu unserer Universität getrieben.35 Für neuen Zündstoff sorgte eine Dokumentation über den Konflikt, die Dehn Ende 1931 publizierte. Mit Empörung reagierten seine rechtsradikalen Gegner insbesondere auf eine Passage des Nachwortes, die heute aufgrund ihrer Hellsichtigkeit beeindruckt: Man pflegt der Jugend in ihren gegenwärtigen Kämpfen ja meist einen, wenn auch irregeleiteten Idealismus lobend zuzugestehen. Ich möchte dagegen doch ernste Bedenken äußern. Verzerrter Idealismus ist Dämonie. Es ist ja einfach nicht wahr, daß diese fanatische [. . .] Vaterlandsliebe dem Vaterland wirklich hilft. Im Gegenteil, sie wird das Vaterland ins Verderben führen.36

Für Dehns studentische Gegner hatte der Theologe mit seinen gehässigen Ausführungen die vaterländischen Gefühle und Ideale der Studenten beleidigt und dadurch den Burgfrieden gebrochen.37 Doch konnte die Studentenschaft sich nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen. Die Deutsche Studentenschaft Halle rief, um den

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Vgl. Faust, Studentenbund (Anm. 1), Bd. 2, S. 67 f. Vgl. Faust, Studentenbund (Anm. 1), Bd. 2, S. 85; Heiber, Universität (Anm. 21), S. 93 f. Der Fall Dehn, 2. Teil: Der Kampf um D. Dehn, bearb. von Erich Pieper, hektographiertes Ms., 20.01.1932, Anlage 16, in: BArch, NS 38/2283. Faust, Studentenbund (Anm. 1), Bd. 2, S. 69. Kirche und Völkerversöhnung (Anm. 26), S. 90. Der Fall Dehn, 2. Teil (Anm. 34), S. 5 u. Anlage 31.

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Abbildung 3: Flugblatt des NSDStB Halle, Februar 1931

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Druck auf die Professoren zu verstärken, die Studierenden auf, die Universität Halle im Sommersemester 1932 zu boykottieren. Der Aufruf stieß jedoch in den lokalen Altherrenvereinigungen der Korporationen, die eine Schädigung der Stadt und der Universität befürchteten, auf Ablehnung. Dieser Auffassung schloss sich der Hochschulring Deutscher Art an.38 Nach der Publikation von Dehns Dokumentation rückten auch wachsende Teile des Lehrkörpers von Dehn ab. Denn seine Weigerung, den Studierenden „Idealismus“ zuzugestehen, kritisierte indirekt auch die auf Versöhnung zielende Erklärung des Lehrkörpers vom 11. November 1931. Rektor Aubin klagte gegenüber dem Ministerium, Dehns Dokumentation lasse jedes Verständnis für die Psyche der Studenten vermissen. Aubin verwies in diesem Zusammenhang auf eine geradezu eschatologische Stimmung in der Studentenschaft, die vor Strafen, äußeren Nachteilen usw. nicht zurückschreckt, in der Annahme, daß bei einer politischen Neuordnung [. . .] ihr Märtyrertum später doch einmal seine Belohnung finden wird.39 Auf einer studentischen Vollversammlung am 20. Januar 1932 behauptete der Dekan der Juristischen Fakultät Gustav Boehmer, die Mehrheit des Lehrkörpers betrachte die Berufung Dehns inzwischen als schweren Fehler.40 Um die Lage zu beruhigen, genehmigte das Ministerium einen zusätzlichen Lehrauftrag für Praktische Theologie, sodass die Theologiestudierenden nicht mehr gezwungen waren, Lehrveranstaltungen bei Dehn zu belegen. Solche Zugeständnisse konnten Dehns Gegner jedoch nicht zufriedenstellen. Im Lehrkörper wich der ursprüngliche Wille, die akademische Lehrfreiheit zu verteidigen, immer mehr dem Wunsch, endlich die Ruhe in der Universität wiederherzustellen. Als Dehn im April 1932 auf einer Theologentagung in Schmalkalden – wohl irrtümlich – falsche Angaben über die gescheiterte Heidelberger Berufung machte,41 entzog ihm auch der Rektor seine Unterstützung. Im Juli 1932 teilte Aubin dem Ministerium im Namen des Universitätssenats mit, daß der Frieden an unserer Universität nicht erreicht werden kann, wenn nicht ein Weg gefunden wird, der ohne Kränkung seiner Ehre Herrn Prof. Dehn gestattet, seine Tätigkeit auf einem anderen Posten als dem eines Lehrers unserer Universität zu entfalten.42 Faktisch hatte Dehns Position sich seit Beginn des Konflikts ständig verschlechtert. Mittlerweile standen nicht nur die Studierenden, sondern auch die meisten Angehörigen des Lehrkörpers gegen ihn. Als zudem sein Förderer, Kultusminister Grimme, nach dem „Preußenschlag“ durch einen Deutschnationalen ersetzt wurde, gab Dehn auf und ließ sich für zwei Semester beurlauben. Eines der letzten Dokumente in der Ministerialakte, datiert vom 11. Januar 1933, enthält die Bitte der

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Vgl. die Publikation der Altherrenvereine „Der Kampf um ‚Dehn‘ geht weiter!“, in: BArch, NS 38/2283. Aubin an Ministerialdirektor Richter, 16.01.1932, in: Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. HA, Rep. 76, Va Sekt. 8, Tit. IV, Nr. 31, Bd. 10, Bl. 183–187. Boehmer an den Kurator Halle, 21.01.1932, in: GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va Sekt. 8, Tit. IV, Nr. 31, Bd. 10, Bl. 2–4. Heiber, Universität (Anm. 21), S. 99 f. Aubin an den preußischen Kultusminister, 05.07.1932, in: GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va Sekt. 8, Tit. IV, Nr. 31, Bd. 10, Bl. 114.

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Theologischen Fakultät Halle, diese Beurlaubung zu einer dauernden zu machen.43 Drei Wochen später kamen die Nationalsozialisten an die Macht und entließen den Theologen endgültig aus dem Staatsdienst.

DER FALL ERNST COHN Der 28-jährige Privatdozent Ernst Cohn (1904–1976) wurde 1932 auf ein persönliches Ordinariat für Bürgerliches Recht nach Breslau berufen.44 Noch bevor er seine Lehrtätigkeit aufnehmen konnte, wurden von interessierter Seite diverse Gerüchte über seine Person gestreut. Die rechtsgerichtete Schlesische Zeitung meldete, Cohn stehe der SPD nahe und sei der Universität vom sozialdemokratischen Kultusminister aufgezwungen worden.45 Beides war falsch. Im Gegensatz zu den meisten anderen Hochschullehrern, die in der Weimarer Republik von den Studierenden attackiert wurden, neigte Cohn weder zum Pazifismus noch zum Sozialismus, sondern war politisch ein völlig unbeschriebenes Blatt. Der Jurist war auch nicht der Universität oktroyiert worden, sondern kam als Wunschkandidat der Juristischen Fakultät Breslau.46 An seiner wissenschaftlichen Qualifikation bestanden ebenfalls keine Zweifel. Kurz, gegen Cohn lag weiter nichts vor als sein Name, wie der Historiker Arthur Rosenberg zu Recht hervorhob.47 Denn „Cohn“ war der jüdische Name par excellence.48 Und die Tatsache, dass Ernst Cohn in der Tat Jude war, reichte im Jahre 1932 bereits aus, um eine Studentenrevolte in Gang zu setzen, die Breslau mehrere Monate lang in Atem hielt. Unter den Studierenden der Universität Breslau war der NSDStB schon seit 1930 die dominierende hochschulpolitische Kraft, wie die Ergebnisse der studentischen Wahlen zeigen.49 Hinter den Protesten gegen Cohn standen jedoch nicht nur die Nationalsozialisten. Cohn hatte seine Lehrtätigkeit noch gar nicht aufgenommen, da protestierte bereits der Breslauer Waffenring, ein Zusammenschluss der schlagenden

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Aktennotiz vom 11.01.1933, in: GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va Sekt. 8, Tit. IV, Nr. 31, Bd. 10, Bl. 178. Zur Biografie vgl. Leonie Breunung und Manfred Walther, Die Emigration deutschsprachiger Rechtswissenschaftler ab 1933. Ein bio-bibliographisches Handbuch, Bd. 1: Westeuropäische Staaten, Türkei, Palästina/Israel, lateinamerikanische Staaten, Südafrikanische Union, Berlin/Boston 2012, S. 81–102. Schlesische Zeitung (19.07.1932), zit. nach Hartwin Spenkuch, Wissenschaftspolitik in der Weimarer Republik. Dokumente zur Hochschulentwicklung im Freistaat Preußen und zu ausgewählten Professorenberufungen in sechs Disziplinen (1918 bis 1933) (Acta Borussica, Reihe 2: Preußen als Kulturstaat, Abteilung II: Der preußische Kulturstaat in der politischen und sozialen Wirklichkeit 9), Berlin/Boston 2016, Bd. 1, S. 614. Vgl. den Berufungsvorschlag der Fakultät vom 29.10.1931, in: GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va Sekt. 4, Tit. IV, Nr. 34 IX, Bl. 67–70. Arthur Rosenberg, Trotzki, Cohn und Breslau, in: Die Weltbühne 29 (1933), S. 13–15, hier S. 14. Dietz Bering, Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933, Stuttgart 1987, S. 206–211. Grüttner, Studenten im Dritten Reich (Anm. 3), S. 496.

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Abbildung 4: Ernst Cohn (1904–1976)

Verbindungen, gegen seine Berufung, die der gesinnungsmäßigen Zusammensetzung der Breslauer Studentenschaft nicht entspricht.50 Auch die Freie Breslauer Studentenschaft, der neben dem NSDStB und den schlagenden Verbindungen die katholischen Korporationen und viele Einzelmitglieder angehörten, bezog in einem Schreiben an die Juristische Fakultät gegen Cohns Berufung Stellung.51 Cohns erste Vorlesungen am 10. November 1932 erinnern in vieler Hinsicht an den Fall Dehn: Der Hörsaal war überfüllt, aber die Mehrheit der Anwesenden wollte die Vorlesung nicht hören, sondern verhindern – durch Scharren, Pfiffe, Zwischenrufe und antisemitische Parolen. Auch dem von Cohn zu Hilfe gerufenen Rektor, dem Orientalisten Carl Brockelmann, gelang es nicht, die Ruhe wiederherzustellen. Ein Wortführer der Demonstranten, der Jurastudent Helmut Roesler, erklärte in einer kurzen Ansprache: 50 51

Breslauer Waffenring an die deutschnationale Landtagsfraktion, 01.08.1932, in: GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va Sekt. 4, Tit. IV, Nr. 34 IX, Bl. 87. Urteil des Akademischen Senats der Universität Breslau in dem Disziplinarverfahren gegen Hans Bauer u. a., 03.12.1932, S. 3, in: BArch, R 4901/1738, Bl. 343–365. Die folgende Darstellung beruht hauptsächlich auf diesem Dokument.

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Prof. Cohn gehört zu den Todfeinden des deutschen Volkes und zu der Rasse, die am 9.11.1918 schuld ist, an dem Tage, an dem unser deutsches Volk verraten wurde und unsere Kameraden des Weltkrieges um den Sieg betrogen wurden; dagegen wehren wir uns.52

Erst nachdem der Rektor die Polizei gerufen hatte, folgten die antisemitischen Störer schließlich der Aufforderung, den Vorlesungssaal zu räumen. Als Cohn gegen Mittag das Universitätsgebäude verlassen wollte, wurde er erneut zur Zielscheibe studentischer Proteste. Die Flure des Gebäudes waren noch immer voller Studierender, die patriotische Lieder sangen und antisemitische Parolen riefen. Einige schreckten nun selbst vor tätlichen Angriffen nicht zurück, wie aus einem Bericht des Universitätssenats hervorgeht: Nachdem Prof. Cohn sich vom Rektor verabschiedet hatte, ging er, von einem Polizeiwachtmeister begleitet, die Treppe herunter. Hierbei wurde er gegen die Wand gedrückt und gestoßen, auch stieß man ihm den Hut vom Kopfe. Um ihn vor der andrängenden Menge zu schützen, musste der Polizeibeamte mit dem Gummiknüppel um sich schlagen, um Platz zu schaffen. Im Erdgeschoss trat Prof. Cohn zur Seite und wartete [. . .]. Dann verließ er das Gebäude. Auf der Straße erwartete ihn eine etwa 200 Menschen starke Menge, die ihn mit Zurufen empfing und ihn unter dauerndem Lärmen die Schmiedebrücke in der Richtung nach dem Ringe zu begleitete.53

Die nationalsozialistischen Studentenfunktionäre werteten die Aktionen vom 10. November als Erfolg – vor allem, weil es gelungen ist, den Breslauer Waffenring und sogar die Breslauer katholischen Korporationen hinter den NSDStB zu bringen.54 Eine Woche lang gingen die Proteste weiter. Diesmal waren für die Vorlesung besondere Ausweise an Studierende ausgegeben worden, die sich vorher verpflichtet hatten, jede Ruhestörung zu unterlassen. Auf dem Korridor drängten sich jedoch erneut Cohns Gegner, die versuchten, die Vorlesung von außen durch Sprechchöre und Gesänge zu stören, und schließlich den Eingang des Hörsaals aufbrachen. Es kam zu Schlägereien zwischen Cohns Hörern und den Eindringlingen. Cohn brach die Vorlesung ab und wurde auf dem Weg ins Dozentenzimmer erneut gestoßen und getreten. Daraufhin ordnete der Rektor die Schließung der Universität für eine Woche an. Fortan ähnelte die Universität an Tagen, an denen Cohn lehrte, einer belagerten Festung. Im Universitätsgebäude war ein Polizeikommando stationiert; am Eingang kontrollierten Pedelle und Polizisten die Ausweise der Studierenden und in der Umgebung patrouillierte bewaffnete Polizei. Das Juristische Seminar im dritten Stock des Universitätsgebäudes, wo Cohns Lehrveranstaltungen fortan stattfanden, wurde durch einen Stacheldrahtverhau gesichert und konnte nur noch mit Sonderausweisen betreten werden. Damit war die Fortsetzung von Cohns Lehrtätigkeit vorerst gesichert. Angesichts dieser Maßnahmen machte sich unter den studentischen Aktivisten eine gewisse Ratlosigkeit breit. Der nationalsozialistische Vorsitzende der Deutschen Studentenschaft, Gerhard Krüger, prognostizierte Ende November in einem internen

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Zit. n. ebd., S. 17. Ebd., S. 6. Gerhard Krüger (?) an den Kreisleiter IV der Deutschen Studentenschaft, 12.11.1932, in: BArch, NS 38/2282.

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Schreiben bereits ein Abflauen des Konflikts und warnte seine Gesinnungsgenossen in Breslau vor einer weiteren Radikalisierung. Sein Brief zeigt zugleich, wie sehr der NSDStB bei seinen Kampagnen auf die Unterstützung anderer studentischer Gruppierungen angewiesen war: Der NSDStB muss die Führung in diesem Konflikt behalten, jedoch in seinen Kampfmethoden nicht übertrieben scharf vorgehen, damit mit diesen zu scharfen Kampfmethoden kein Abspringen des Waffenrings begründet werden kann und damit auch möglichst die katholischen Korporationen positiv zu dem Kampf gegen Cohn bleiben. Sollte aber, was ich bei den geringen Erfolgsaussichten voraussehe, ein Abflauen des Kampfes zunächst bei den katholischen Korporationen und dann beim Waffenring einsetzen, so halte ich es für völlig falsch, wenn der NSDStB den Kampf allein weiterführt.55

Krügers Annahme, der Kampf werde abflauen, erfüllte sich nicht. Stattdessen erreichte der Konflikt einen neuen Höhepunkt, nachdem Cohn sich im Dezember 1932 auf Anfrage eines Berliner Boulevardblattes zu der Frage geäußert hatte, ob Deutschland Leo Trotzki, der seit 1929 im Exil lebte, Asyl gewähren solle. Cohn plädierte für eine sorgfältige Prüfung der Umstände und wurde dann mit folgendem Satz zitiert: Ein geistiger Arbeiter wird stets schutzwürdig erscheinen, denn an Agitatoren und Nurpolitikern haben wir wahrhaft keinen Mangel.56 Die kryptische Formulierung ließ offen, ob Cohn den russischen Revolutionär eher als „geistigen Arbeiter“ oder als „Agitator“ betrachtete. Aber das störte seine Gegner nicht, die sogleich mit der Behauptung, Cohn wolle seinen Rassegenossen Trotzki nach Deutschland holen, erneut in die Offensive gingen. Die Universitätsleitung, die bislang hinter dem angegriffenen Juristen gestanden hatte, vollzog nun eine abrupte Kehrtwende. In dem Gefühl, Cohn habe ihre Bemühungen um eine Befriedung der Universität zunichtegemacht, erklärten Rektor und Akademischer Senat der Universität Breslau öffentlich, es wäre unter den gegebenen Umständen Cohns selbstverständliche Pflicht gewesen zu schweigen. Eine Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit in Breslau sei im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung und eines ungestörten Lehrbetriebes nicht tragbar.57 Faktisch hatte die Universität allerdings gar nicht die Befugnis, einen planmäßigen Professor zu entlassen, zumal sie ihm höchstens taktisches Ungeschick vorwerfen konnte. Da Cohn sich zudem reumütig zeigte und bedauerte, der Universität Schwierigkeiten bereitet zu haben, konnte er am 24. Januar 1933 seine Vorlesungen wieder aufnehmen. Es folgten neue Demonstrationen von Studierenden, die mit Tränengas, Stinkbomben, Kanonenschlägen und antisemitischen Parolen (Cohn raus, Juda verrecke) ihren Hass auf Cohn zum Ausdruck brachten. Wiederum rief Rektor Brockelmann die Polizei, die das Universitätsgebäude und den Universitätsplatz

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Gerhard Krüger an den Kreisleiter IV der Deutschen Studentenschaft, 28.11.1932, in: BArch, NS 38/2282. Zur Biografie Krügers vgl. Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 6), Heidelberg 2004, S. 100 f. 56 Cohn erklärte später, er sei aufgrund eines Hörfehlers falsch zitiert worden. Tatsächlich habe er gesagt: Ein geistiger Arbeiter kann schutzwürdig erscheinen [. . .]. Vgl. Heiber, Universität (Anm. 21), Bd. 1, S. 125. 57 Zit. n. Faust, Studentenbund (Anm. 1), Bd. 2, S. 76.

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räumte und dabei auch Gummiknüppel einsetzte.58 Der Tag endete mit Verhaftungen, zwei Schwerverletzten und Disziplinarverfahren gegen neun beteiligte Studenten. Sechs Tage später wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Am 1. Februar veranstaltete der Breslauer NSDStB eine Kundgebung, auf der unter anderem der Rückzug der Polizei aus dem Universitätsgebäude und der Abbruch der Vorlesungen Cohns verlangt wurden. Als der Rektor Cohn daraufhin mitteilte, er könne den Schutz seiner Vorlesungen und die Sicherheit für Leib und Leben seiner Hörer nicht länger gewährleisten, musste der Jurist seine Lehrtätigkeit in Breslau beenden. Wenige Monate später wurde er aus dem Staatsdienst entlassen.

NATIONALSOZIALISTISCHE GEWALT GEGEN STUDIERENDE An den meisten deutschen Hochschulen konnten liberale, sozialdemokratische, kommunistische oder jüdische Gruppierungen bei AStA-Wahlen in der Weimarer Republik maximal 10–15 Prozent der Stimmen gewinnen – mit rückläufiger Tendenz seit 1930.59 An einigen Großstadtuniversitäten, insbesondere in Berlin und Hamburg, bot sich jedoch ein anderes Bild. Hier waren republikanische und marxistische Gruppierungen durchaus ein sichtbarer Faktor, der sich dem Aufstieg des Nationalsozialismus entgegenstellte. Das führte in der Endphase der Weimarer Republik immer wieder zu gewalttätigen Konflikten. Diese Auseinandersetzungen möchte ich am Beispiel der Berliner Universität etwas genauer schildern.60 Aus dem vorliegenden Archivmaterial zur Geschichte des Berliner NSDStB ergibt sich das Bild einer Organisation, die durch ständige interne Konflikte geprägt war. Erstaunlicherweise haben solche Querelen den Erfolg des NSDStB aber kaum beeinträchtigt. 1929 ging der NSDStB mit 19 Prozent der Stimmen als zweitstärkste Kraft aus den Wahlen hervor. 1932 erhielten die Nationalsozialisten sogar 65 Prozent der Stimmen, allerdings lag die Wahlbeteiligung deutlich unter dem Durchschnitt.61 Zwischen 1929 und dem Januar 1933 verzeichnen die Quellen an der Berliner Universität insgesamt acht größere Ausbrüche von studentischer Gewalt. Dabei handelte es sich entweder um Auseinandersetzungen zwischen Studierenden und der Polizei oder um Konflikte zwischen verfeindeten Studentengruppen, die so stark eskalierten, dass die Polizei schließlich eingreifen musste. Nicht in allen Fällen ging die Gewalt von den Nationalsozialisten aus, aber der NSDStB war eindeutig die stärkste und bei weitem aggressivste der beteiligen Organisationen.

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Urteil des Akademischen Senats der Universität Breslau in dem Disziplinarverfahren gegen Günther Holtz u. a., 28.01.1933, in: BArch, R 4901/1738, Bl. 381–393. 59 Vgl. Grüttner, Studenten im Dritten Reich (Anm. 3), S. 39–41. 60 Zum Folgenden vgl. Michael Grüttner, Die Studentenschaft in Demokratie und Diktatur, in: Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 2: Die Berliner Universität zwischen den Weltkriegen 1918–1945, hg. von Heinz-Elmar Tenorth, Berlin 2012, S. 187–294, hier S. 239– 249; Christian Saehrendt, Studentischer Extremismus und politische Gewalt an der Berliner Universität 1918–1933, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 9 (2006), S. 213–233. 61 Vgl. Grüttner, Studenten im Dritten Reich (Anm. 3), S. 496 f.

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Die Anlässe dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen waren unterschiedlich. 1929 wurde das Verbot einer von der Universität geplanten Kundgebung gegen den Versailler Vertrag Auslöser für eine von gewaltsamen Auseinandersetzungen begleitete Demonstration, die sich gegen die preußische Regierung richtete. Einige Monate später galt der Protest dem Verbot einer studentischen Veranstaltung durch den Rektor. Im November 1930 führte eine Flugblattaktion des demokratischen Deutschen Studentenverbandes zu gewaltsamen Übergriffen der Nationalsozialisten. In dem Handzettel rief der Studentenverband zum Schutz der Verfassung vor Nationalsozialisten und Kommunisten auf, die, so der Text des Flugblatts, in verantwortungslosester Weise zum Bürgerkrieg hetzten.62 Bezeichnenderweise fühlte sich der Deutsche Studentenverband schon zu diesem Zeitpunkt – mehr als zwei Jahre vor der nationalsozialistischen Machtübernahme – außerstande, solche Flugblätter zu verteilen, ohne vorher Polizeischutz anzufordern. Bereits im Vorfeld wurde die Polizei informiert, die sich mit verstärkten Streifen und mit auf Lastwagen bereitstehenden Eingreifkommandos vorbereitete. Tatsächlich kam es zu Übergriffen gegen Flugblattverteiler, zur Festnahme rechtsradikaler Studierender und zu Protestdemonstrationen nationalsozialistischer Gruppen gegen den Polizeieinsatz.63 Die Berliner Rektoren, die 1929/30 erstmals mit dem Problem massiver studentischer Gewalt in der Universität konfrontiert waren, sahen den Einsatz von Polizeikräften zunächst kritisch. Dahinter stand ein gleichsam exterritoriales Selbstverständnis der Hochschule, die durchgehend bestrebt war, Konflikte intern, ohne Einmischung der Außenwelt zu regeln.64 Zudem befürchteten die Rektoren, Polizeieinsätze würden nur eine weitere Eskalation der Konflikte bewirken. Diese Einstellung verkannte, dass die Gewalt auf dem Universitätsgelände kein zufälliges Resultat einer aufgeheizten politischen Atmosphäre war, sondern essentieller Bestandteil einer politischen Konfliktstrategie, die auf die Einschüchterung des politischen Gegners, auf die Mobilisierung der eigenen Anhänger und auf die Eroberung der Schlagzeilen zielte. Ausgangspunkt politischer Gewalt waren oft die sogenannten „Stehkonvente“ der unterschiedlichen Studentengruppen. Der Begriff „Stehkonvent“ stammt aus der Korporationssprache und bezeichnete regelmäßige Treffen der einzelnen Gruppen, meist im Hauptgebäude der Universität vor ihrem Schwarzen Brett, bei denen die anwesenden Mitglieder einen Kreis bildeten, Informationen austauschten und Instruktionen erhielten. Auf diese Weise standen sich die verfeindeten politischen Gruppen jeden Wochentag während der Vorlesungspause um 11 Uhr gegenüber. In Zeiten politischer Hochspannung – vor Wahlen oder anderen Großereignissen – bedurfte es manchmal nur eines Wortwechsels, eines provozierenden Liedes oder einer Rempelei, damit die Situation eskalierte. Wie Rektor Adolf Deißmann im August 1931 berichtete, verwandte er mindestens ein Drittel seiner gesamten Arbeitskraft während des Rektorats auf die mit den Schwarzen Brettern und den Stehkonventen

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Studentischer Aufruf zur Vernunft, in: Berliner Tageblatt (11.11.1930). Vgl. Saehrendt, Studentischer Extremismus (Anm. 60), S. 226–228. Vgl. Grüttner, Studentenschaft in Demokratie und Diktatur (Anm. 60), S. 242–244.

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der politischen Bünde zusammenhängenden kleinen und großen Explosionen parteipolitischer Leidenschaft und deren Nachwirkungen.65 Auf diese Weise kam es am 22. Januar 1932 im Vorfeld der studentischen Wahlen zu einer Massenschlägerei im Universitätsgebäude. Über die Entstehung dieses Konfliktes schrieb die Deutsche Allgemeine Zeitung: Zwischen den Gruppen der rechts- und linksgerichteten Studenten, welche letztere zum Teil das Abzeichen des Reichsbanners trugen, flogen zunächst provozierende Bemerkungen hin und her. Als die Nationalsozialisten das Horst-Wessel-Lied anstimmten, erwiderten die Kommunisten durch den Gesang der Internationale. Schließlich kam es zu Tätlichkeiten, die zunächst fast lediglich in Drängen und Stoßen bestanden, sich aber zu einem Handgemenge entwickelten.66

Im Verlaufe der Auseinandersetzungen attackierten nationalsozialistische Studierende auch die Mitglieder einer jüdischen Studentenverbindung, die sich vor ihrem Schwarzen Brett versammelt hatten. Einer der angegriffenen Studenten berichtete darüber später: Mit einem Schlag wurden uns jüdischen Verbindungsstudenten die Mützen vom Kopf gerissen, zahllose Fäuste schlugen auf uns ein. Obwohl wir uns erbittert wehrten, war es natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, sich gegen eine zehnfache Übermacht zu halten [. . .]. Unsere Gegner schlugen mit Reitpeitschen, Schlüsseln und Koppelschlössern auf uns ein. Viele von uns wurden verletzt, zu Boden geworfen, einer brach blutüberströmt zusammen und mußte zur Rettungswache gebracht werden. Zähne wurden eingeschlagen und Nasenbeine zerbrochen. Ja, sogar eine jüdische Studentin bekam die Fäuste dieser Rohlinge zu spüren. Dabei schämten sie sich nicht, in den Hallen der Wissenschaft zu grölen: „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut.“ Daneben gellten aus allen Ecken die Rufe „Juda verrecke“ und „Juden raus“ [. . .]. Fensterscheiben klirrten und unser Anschlagbrett wurde zertrümmert. Couleurstudenten nahmen ihre Mützen ab, um sich auf die Seite der Nationalsozialisten schlagen zu können, mit denen sich jetzt auch Kommunisten und Sozialisten herumbalgten. Erst jetzt erschien die Polizei, nachdem es fast zu spät war.67

In den letzten Wochen und Monaten der Weimarer Republik bedurfte die nationalsozialistische Gewalt keiner besonderen Anlässe mehr. Nun ging es nur noch darum, die Gegner des Nationalsozialismus unter den Studierenden zu terrorisieren. Das zeigte sich in aller Deutlichkeit am 17. Januar 1933, als Mitglieder des NSDStB nach einer politischen Kundgebung in den Erfrischungsraum der Universität strömten. Über die folgenden Szenen informiert ein Bericht des Rektors an das Kultusministerium: Ein Teil der Nationalsozialisten hatte sich in den Erfrischungsraum der Universität begeben. Dort saß eine Anzahl von linksgerichteten Studenten, unter ihnen der Führer der Akademischen Legion, stud. Dressler, der bisher noch nicht vernommen werden konnte. Auf ihn und eine Anzahl um ihn sitzender Kommilitonen wurde eingeschlagen, wobei sich ein Nationalsozialist, der später als ein stud. Bader festgestellt wurde, besonders hervorgetan hat [. . .]. Bader soll im Besitz eines Gummiknüppels gewesen sein. Er wird voraussichtlich morgen oder übermorgen bereits dem Schnellrichter vorgeführt werden [. . .]. Zwei Nationalsozialisten, die auf linksgerichtete Studenten eingeschlagen haben sollen, konnten auf der Straße von einem Wachtmeister der Schutzpolizei festgestellt werden. Es handelt sich um 2 Arbeiter, die ebenfalls dem Schnellrichter

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Rektor A. Deißmann an Kultusminister Grimme, 01.08.1931, in: BArch, R 4901/1581, Bl. 165. Die Universität bis Montag geschlossen, in: Deutsche Allgemeine Zeitung (22.01.1932). Bericht eines Augenzeugen, in: CV-Zeitung (29.01.1932), S. 37.

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Der Nationalsozialist Hans-Heinz Bader, der sich bei diesen Gewaltszenen besonders exponiert hatte, wurde daraufhin vor dem Strafgericht in Berlin-Moabit wegen Landfriedensbruchs angeklagt und durch Beschluss des Berliner Universitätssenats vom Besuch sämtlicher deutscher Hochschulen ausgeschlossen – eine Entscheidung, die freilich drei Monate später von den nunmehr an der Macht befindlichen Nationalsozialisten wieder aufgehoben wurde.69

DAS VERHALTEN DES LEHRKÖRPERS Das Verhalten des Lehrkörpers und insbesondere der Rektoren gegenüber den Aktionen des NSDStB lässt sich am besten als ambivalent charakterisieren. Auf der einen Seite sahen die Rektoren es als ihre Aufgabe an, die Lehrfreiheit zu gewährleisten und die Ordnung in der Universität aufrechtzuerhalten. Daraus resultierte die Verpflichtung, Kollegen oder Studierende zu verteidigen, die von den Nationalsozialisten und ihren Bundesgenossen angegriffen wurden, und gegen studentische Gewalttäter vorzugehen. Andererseits wurde die nationalsozialistische Studentenbewegung von vielen nationalkonservativen Professoren als eine von besten patriotischen Gefühlen angetriebene Bewegung wahrgenommen, die leider mit einigen unangenehmen Auswüchsen behaftet war. Was aber wog aus Sicht der Professorenmehrheit schwerer – die lobenswerte patriotische Gesinnung der Studierenden oder die unerfreuliche Unruhe, die sie durch ihr aggressives Auftreten in die Universitäten hineintrugen? Hatte man es hier nur mit jugendlichem Ungestüm zu tun oder mit parteipolitisch motivierten Ausschreitungen, die das akademische Leben in seiner Substanz bedrohten? In dieser Frage bestand Uneinigkeit, wie sich im Oktober 1932 auf dem 7. Deutschen Hochschultag und zwei Monate später auf einer Rektorenkonferenz zeigte. Auf dem Hochschultag, der 1932 in Danzig stattfand, hatte der Vorstand des Hochschulverbandes eine Resolution vorbereitet, deren zentrale Passagen unmissverständlich an die Adresse des NSDStB gerichtet waren: Parteipolitische Zersetzung, unverantwortliches Reden und Kritisieren, krampfhaftes Hoffen auf Unerreichbares zerwühlen den Körper des deutschen Volkes und gefährden die Universitäten.70 Eine Verabschiedung des Entwurfs scheiterte jedoch am Widerspruch des Berliner Erziehungswissenschaftlers Eduard Spranger. Spranger, der der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) nahestand,71 argumentierte, dass eine Erklärung gegen den 68

Rektor E. Kohlrausch an das preußische Kultusministerium, 17.01.1933, in: BArch, R 4901/1581, Bl. 440. 69 Vgl. Grüttner, Studentenschaft in Demokratie und Diktatur (Anm. 60), S. 249 f. 70 Stenographischer Bericht der Arbeitssitzungen des VII. Deutschen Hochschultages vom 5. bis 7. Oktober 1932 in Danzig, in: BArch, R 8088/86, Bl. 331. 71 Vgl. den von Spranger unterzeichneten „Aufruf zum 6. November 1932“ des Deutschen Ausschusses „Mit Hindenburg für Volk und Reich“, in: GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va Nr. 10046, Bl. 75 f.

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Nationalsozialismus unserer immer wieder betonten unpolitischen Haltung widerspräche. Zugleich forderte er seine Kollegen auf, mehr Verständnis zu zeigen für die ungeheure Ursprünglichkeit der nationalsozialistischen Studentenbewegung, obwohl auch er die rüde Form, in der diese Bewegung daherkam, ausdrücklich bedauerte.72 Spranger hat sein damaliges Verhalten nach 1945 erläutert. Er habe sich gegen den Resolutionsentwurf ausgesprochen, weil ich die Bewegung der nationalen Studenten noch im Kern für echt, nur in der Form für undiszipliniert hielt. Auch hätte es eine sehr schädliche Wirkung für die Hochschule gehabt, wenn sie sich zu der nationalen Welle, die damals noch viel Gesundes mit sich führte, und mit heißen Erwartungen begrüßt wurde, nur schulmeisterlich geäußert hätte.73

Andere Redner wandten sich ebenfalls gegen die Resolution – teils aus ähnlichen Gründen wie Spranger, teils aus Furcht, eine Kritik am NSDStB könnte provozierend wirken. Der erste Gesichtspunkt muß der sein, alles zu vermeiden, was Unruhe stiften kann, erklärte beispielsweise der Hamburger Rektor Leo Raape.74 So wurde schließlich anstelle des ursprünglichen Entwurfs einstimmig eine Botschaft an die Studierenden verabschiedet, in welcher die Kritik an der Politik des NSDStB stark abgeschwächt worden war. Zwar kritisierte die Entschließung auch weiterhin parteipolitische Zersetzung, unverantwortliches Reden und Bruderzwist bis zur Gewalttätigkeit. Im Zentrum aber stand nunmehr der Appell an gemeinsame Wertvorstellungen: Wir hoffen zuversichtlich, daß es gelingen wird, das Erbe der akademischen Kriegsgeneration zu neuem Leben zu erwecken und wieder wie in der Frontkämpferzeit eine Zusammenfassung aller deutschen Studenten zu schaffen, die bereit ist, gemeinsam mit uns ein einheitliches Reich des Geistes und der Tat zu bilden, unabhängig von zersetzendem Parteigeist, aufgebaut auf festem nationalem Willen und eingegliedert in das Ganze der deutschen Volksgemeinschaft.75

Andere Akzente setzte eine zwei Monate später in Halle stattfindende außerordentliche Rektorenkonferenz. In einer einstimmig verabschiedeten Resolution übten die versammelten Rektoren scharfe Kritik an dem Volksbildungsminister von Braunschweig, dem Nationalsozialisten Dietrich Klagges, der sich im „Braunschweiger Hochschulkonflikt“ massiv in das Innenleben der Technischen Hochschule Braunschweig eingemischt hatte. Ausdrücklich sprach die Rektorenkonferenz dem Rektor und dem Senat der Technischen Hochschule Braunschweig ihren Dank aus für das mannhafte Eintreten gegenüber den Eingriffen des Braunschweigischen Volksbildungsministers in die Freiheit der Wissenschaft und in die akademische Selbstverwaltung.76 72 73 74 75 76

Stenographischer Bericht der Arbeitssitzungen des VII. Deutschen Hochschultages (Anm. 70), Bl. 332 f. Eduard Spranger, Mein Konflikt mit der national-sozialistischen Regierung 1933, in: Universitas 10 (1955), S. 457 (Hervorhebung im Original). Stenographischer Bericht der Arbeitssitzungen des VII. Deutschen Hochschultages (Anm. 70), Bl. 336. Abgedruckt in den Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen 12 (1932), S. 150 f. Zum Braunschweiger Hochschulkonflikt vgl. Heiber, Universität (Anm. 21), S. 134–142; Daniel Weßelhöft, Von fleißigen Mitmachern, Aktivisten und Tätern. Die Technische Hochschule Braunschweig im Nationalsozialismus (Veröffentlichungen der Technischen Universität CaroloWilhelmina zu Braunschweig 6), Hildesheim 2012, S. 64–95.

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Ebenso einmütig stellten sich die Rektoren hinter ein Schreiben, in dem der Vorsitzende des Hochschulverbandes den Reichspräsidenten Hindenburg gebeten hatte, aufgrund der Artikel 15 und 48 der Reichsverfassung gegen Klagges einzuschreiten.77 Gleichzeitig plädierte die Rektorenkonferenz unter dem Einfluss des Leipziger Philosophen und Pädagogen Theodor Litt für ein härteres Vorgehen gegen nationalsozialistische Ausschreitungen: Angesichts der zunehmenden Häufigkeit von Ausschreitungen parteipolitischen Charakters, die sich gegen Hochschullehrer richten, erklärt die Rektorenkonferenz es für notwendig, daß, wenn gütliche Verhandlungen und Beschwichtigungsversuche ohne Erfolg bleiben, die Freiheit des akademischen Lebens und der akademischen Lehre auch durch Zurückgreifen auf die staatlichen Machtmittel verteidigt wird.

Um solche Konflikte aber gar nicht erst aufkommen zu lassen, wurden die Kollegen gleichzeitig ermahnt, sich nicht soweit in die politischen Kämpfe des Tages zu verwickeln, daß ihre wissenschaftliche Haltung und Objektivität infrage gestellt werden könnte.78

RESÜMEE Am Ende der Weimarer Republik konnten die nationalsozialistischen Studierenden im Rückblick auf die hier skizzierten Aktionen und Kampagnen zufrieden sein. Erstens war es ihnen schon lange vor 1933 gelungen, an den Hochschulen eine Atmosphäre der Einschüchterung zu schaffen, die sich insbesondere gegen Marxisten, Pazifisten oder Juden richtete. Zweitens hatten sie eindrucksvoll ihre Fähigkeit zur Mobilisierung großer Teile der Studentenschaft unter Beweis gestellt. Denn der NSDStB agierte in den hier analysierten Konflikten nicht isoliert, sondern als Speerspitze einer deutlich breiteren Bewegung, zu der vor allem die schlagenden Verbindungen und teilweise auch die katholischen Korporationen gehörten. Und drittens war es in zwei von drei Fällen faktisch gelungen, die angegriffenen Hochschullehrer zu vertreiben. Gumbel hatte seine Lehrbefugnis verloren, während Dehn – von den studentischen Angriffen zermürbt – auf eigenen Antrag beurlaubt worden war. Cohn wurde erst nach der nationalsozialistischen Machtübernahme aus der Universität vertrieben. Aber auch er war Ende 1932 bereits angezählt, wie die scharfe Reaktion der Universitätsleitung auf seine Äußerung zum Trotzki-Asyl zeigt. Die Hochschullehrer der betroffenen Universitäten schwankten zwischen der Pflicht, die Lehrfreiheit zu verteidigen, dem Wunsch, möglichst rasch wieder zu geordneten Zuständen zurückzukehren, klammheimlichen Sympathien für die „nationalen“ Ziele der NS-Studenten und dem Bemühen, alles zu unterlassen, was geeignet sein könnte, selber zum Hassobjekt der studentischen Fanatiker zu werden. Wenn es

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Vgl. das Rundschreiben des Hochschulverbandes an die Rektoren der angeschlossenen Hochschulen, 07.12.1932, in: Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 47, Nr. 1231, Bl. 344–352. Zitate aus der Niederschrift über die 22. außerordentliche außeramtliche Deutsche Rektorenkonferenz am 4. Dezember 1932 in Halle, in: GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va Sekt. 1, Tit. XVIII, Nr. 16, Bd. IX, Bl. 107.

Nationalsozialistische Gewaltpolitik an den Hochschulen 1929–1933

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hart auf hart kam, war ihre Bereitschaft, dem Druck der studentischen Aggressoren standzuhalten, begrenzt. So erhielt Gumbel kaum Rückendeckung von der Universität Heidelberg, obwohl diese als besonders liberale Hochschule galt und obwohl Gumbels umstrittene Aussagen außerhalb der Hochschule gemacht worden waren. Wenn Gumbel sich trotzdem bis 1932 an der Universität Heidelberg halten konnte, lag das im Wesentlichen an der Rückendeckung, die er lange Zeit vom Kultusministerium erhielt. Dehn und Cohn konnten mit größerer Unterstützung ihrer Kollegen rechnen. Aber auch in Halle und Breslau waren schon bald erste Absetzbewegungen zu erkennen, teilweise eine deutliche Distanzierung und in Einzelfällen sogar eine Solidarisierung mit dem studentischen Radikalismus. In allen drei Fällen zeigte sich im Lehrkörper eine wachsende Tendenz, in den angegriffenen Professoren das Haupthindernis für eine Wiederherstellung geordneter Zustände zu sehen. Die Tatsache, dass die von den Nationalsozialisten attackierten Wissenschaftler meist auch im Lehrkörper politische Außenseiter waren, hat diese Haltung zweifellos gefördert. Für Pazifisten und Sozialisten hegte die überwiegend nationalkonservativ eingestellte Professorenschaft in der Regel keine Sympathien. Auch antisemitische Ressentiments waren vielen Hochschullehrern keineswegs fremd, wie die Diskriminierung jüdischer Wissenschaftler in Berufungsverfahren zeigt.79 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die deutschen Hochschullehrer der nationalsozialistischen Säuberungspolitik in den Jahren 1933–1938, der Hunderte von Studierenden und etwa ein Fünftel des Lehrkörpers zum Opfer fielen,80 nur wenig entgegenzusetzen hatten. Prof. Dr. Michael Grüttner Technische Universität, Zentrum für Antisemitismusforschung, Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin, [email protected]

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Vgl. Aleksandra Pawliczek, Akademischer Alltag zwischen Ausgrenzung und Erfolg. Jüdische Dozenten an der Berliner Universität 1871–1933 (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 38), Stuttgart 2011. 80 Vgl. Michael Grüttner, Die „Säuberung“ der Universitäten. Entlassungen und Relegationen aus rassistischen und politischen Gründen, in: Universitäten und Studenten im Dritten Reich. Bejahung, Anpassung, Widerstand (Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e. V. 9), hg. von Joachim Scholtyseck und Christoph Studt, Berlin 2008, S. 23–39.

DER „GREIFSWALDER BLUTSONNTAG“1 UND DIE UNIVERSITÄT – STUDENTISCHE GEWALT UND IHRE FOLGEN Jan Mittenzwei

Abstract: This article uses the regional example of the Pomeranian university town of Greifswald to examine the factors and triggers of student violence in the final phase of the Weimar Republic. The focus of research interest is the so-called “Greifswald Bloody Sunday” of 17 July 1932 during which three SA-men, including one student, died. Students’ fears of economic existence, the structural problems of the world economic crisis, the increasing attractiveness of right-wing national movements and a latent anti-Semitism contributed significantly to the fact that the students of the Pomeranian region – but also elsewhere – more and more turned to the ideology of National Socialism and consequently radicalized themselves. The local university group of the “National Socialist German Student Union” (Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund) acted as a “motor of violence” and as the academic bearer of a militant riot anti-Semitism that brought its ideas into society and from there back to university.

Studentische Gewalt in Greifswald während der Weimarer Republik ist eng verbunden mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten in Pommern. Die ersten Belege für eine Radikalisierung der Greifswalder Studenten finden sich bereits während des Kapp-Putsches 1920. Am 14. und 15. März 1920 wurde in Greifswald ein Zeitfreiwilligen-Bataillon „zur Niederwerfung der kommunistischen Unruhen in Pommern“ aufgestellt, das drei Kompanien umfasste. Das Bataillon bestand „in erster Linie aus den Greifswalder Studenten, die zum größten Teil Offiziere waren“.2 Die studentischen Korporationen traten geschlossen der Zeitfreiwilligenwehr bei und ergriffen Partei für die Putschisten.3 Während zwei Kompanien an verschiedenen Orten Pommerns gegen die streikenden Arbeiter eingesetzt wurden, verblieb eine Kompanie in der Stadt und besetzte die Greifswalder Post.4 Der Postdirektor, der sich als Demokrat zu erkennen gab und gegen die Besetzung protestierte, wurde 1

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Der Begriff des „Greifswalder Blutsonntages“ ist problematisch. Die nationalsozialistischen Studenten nutzten den Begriff nach 1933 zur Schaffung einer eigenen nationalsozialistischen Tradition an der Greifswalder Universität. Die selektive Neudeutung der eigenen Geschichte als auch der Kult um den bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen getöteten studentischen SA-Mann Bruno Reinhard bildete hierbei das zentrale Element nationalsozialistischer Propaganda an der Universität. Der Autor distanziert sich bei der Bezeichnung des „Greifswalder Blutsonntages“ ausdrücklich von einer Auslegung dieses Begriffs im Sinne dieser nationalsozialistischen Propaganda. Vielmehr wird der Terminus aus Gründen der Quellenauthentizität und in Anführungszeichen verwendet, da es sich um einen zeitgenössischen Begriff handelt. Gerhard von Gottberg (Bearb.), Zeitfreiwilligen-Regiment Pommern, Stettin 1938, S. 58. Friedrich Wilhelm Schmidt, ZW verteidigt Greifswald, in: Zeitfreiwilligen-Regiment Pommern (Anm. 2), S. 90–93. Vgl. von Gottberg, Zeitfreiwilligen-Regiment (Anm. 2), S. 59–61.

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in seinem Dienstzimmer eingesperrt.5 Am 20. März 1920 versammelten sich Teile der Greifswalder Bevölkerung auf dem Marktplatz, um gegen die Maßnahmen der Putschisten zu protestieren. Es kam zu einem Schusswechsel, bei dem fünf Arbeiter und zwei Angehörige der Zeitfreiwilligen ihr Leben verloren. Die Beisetzung der Opfer fand getrennt statt. Während am 23. März die fünf Arbeiter unter großer Beteiligung der Einwohner Greifswalds und der Gewerkschaften beigesetzt wurden, fand am 24. März die Beerdigung der im Kampfe gegen die Aufständigen gefallenen Zeitfreiwilligen statt. Mit militärischen Ehren wurden ein Greifswalder Lehrer und ein Student aus Sachsen beigesetzt. Vertreten waren das Militär, die Universität, die Stadt, die Lehrerschaft, studentische Verbindungen und Schüler. Eine Trauerrede hielt der Rektor der Universität Greifswald Friedrich Pels-Leusden.6 Er rechtfertigte den Tod der Zeitfreiwilligen als Opfer für das Vaterland: Aber auch die treuen und teuren Kommilitonen, welche wir heute dem kühlen Schoß der Erde anvertrauen, sind gefallen im Dienste des Vaterlandes. [. . .] In jugendlicher Begeisterung und unverbrüchlicher Pflichttreue haben sie ihre Versprechen, dem Vaterlande in den Zeiten der Not beizustehen, als sie diesen Augenblick gekommen glaubten, gehalten ohne Rücksicht auf den eigenen Vorteil, auf das eigene Leben. Weil Deutschland leben mußte, sind sie gestorben. So lange wir noch eine solch begeisterungsfähige und pflichtgetreue Jugend besitzen, wird und kann Deutschland nicht untergehen.7

Nach dem Zusammenbruch des Kapp-Putsches wurden die Zeitfreiwilligenwehren aufgelöst. Einige der Greifswalder Studenten wollten sich jedoch nicht damit abfinden und beteiligten sich an der Gründung des „Bundes der Heimatfreunde“, der als Ersatzorganisation dienen sollte.8 Als nach der Volksabstimmung und der anschließenden Teilung Oberschlesiens 1921 Kämpfe ausbrachen, fanden die Studenten dort ein neues Betätigungsfeld. Neben den verschiedenen Freikorps-Organisationen9 beteiligten sich auch etwa 40 Greifswalder Studenten an den Kämpfen in Oberschlesien.10 Laut Bernhard Sauer war die Beteiligung der Freikorps in Oberschlesien von großer Bedeutung für die Entwicklung des Rechtsradikalismus in Deutschland, da die Freikorps miteinander in Kontakt traten und sich vernetzten sowie von Agitatoren des „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes“ gezielt antisemitisch beeinflusst wurden.11 Daher erscheint es wenig verwunderlich, dass die ersten Impulse für die Gründung der NSDAP in Pommern auf dieses Milieu zurückgingen. Den Anfang machte der Freikorpsführer Gerhard Roßbach, der nach seinem Einsatz in Oberschlesien im August 1922 zusammen mit Heinz Hauenstein nach München fuhr, um mit Adolf Hitler die Schaffung von NSDAP-Stützpunkten in Norddeutschland zu erörtern. Anschließend reiste Roßbach durch Norddeutschland, um vor Ort

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Schmidt, Greifswald (Anm. 3). Beerdigung der Greifswalder Opfer, in: Greifswalder Zeitung (25.03.1920), S. 1. Die Beerdigung der Zeitfreiwilligen am 24. März, in: Greifswalder Zeitung (28.03.1920), S. 2. Vgl. von Gottberg, Zeitfreiwilligen-Regiment (Anm. 2), S. 63. Bernhard Sauer nennt die Freikorps Roßbach, Aulock, Heydebreck, Consul, Heinz und Oberland. Vgl. Bernhard Sauer, Gerhard Roßbach – Hitlers Vertreter für Berlin, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 50 (2002), Nr. 1, S. 6–21, hier S. 14. Vgl. von Gottberg, Zeitfreiwilligen-Regiment (Anm. 2), S. 64. Sauer, Roßbach (Anm. 9), S. 15 f.

Der „Greifswalder Blutsonntag“ und die Universität

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Gründungsversammlungen durchzuführen. 1922 wurde auch in Stettin eine erste Ortsgruppe der NSDAP durch Roßbach gegründet. Nach dem Verbot der NSDAP in Preußen am 15. November 1922 schlossen sich deren Mitglieder der Großdeutschen Arbeiterpartei (GAP) an.12 Die GAP war eine von Roßbach gegründete Tarnorganisation der NSDAP. Allerdings bestand auch diese Organisation nicht lange. Am 10. Januar 1923 wurde auch sie durch das preußische Innenministerium verboten.13 Ihre Mitglieder wechselten zur Deutschvölkischen Freiheitspartei (DvFP), einer radikalen Abspaltung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Mit dieser Verbindung waren jedoch nicht alle NS-Aktivisten einverstanden. In der Folgezeit entwickelte sich in Greifswald ein politisches Gegenzentrum, das ab 1924 die Geschicke der pommerschen NSDAP bestimmte. Bereits um 1923 existierte in Greifswald eine Studentengruppe, die sich das Ziel gesetzt hatte, „die völkische Bewegung im Geiste ihres Begründers und Führers, Adolf Hitler, auch in Pommern zum Leben zu erwecken“.14 Die Gruppe bestand aus den ehemaligen Freikorps-Angehörigen Joachim Haupt, Reinhard Sunkel15 und dem späteren NSDAP-Gauleiter Wilhelm Karpenstein.16 Gemeinsam mit dem Rektor der Universität, Theodor Vahlen, gründeten sie 1923 die Großdeutsche Volksgemeinschaft (GVG) als Tarnorganisation der NSDAP. Ein Jahr später ließ Hitler Vahlen zum Gauleiter für Pommern ernennen.17 Diese erste Generation nationalsozialistischer Studenten in Greifswald war bereits sehr radikal und organisatorisch gut vernetzt. Insbesondere Haupt und Sunkel beschränkten sich in ihren politischen Aktivitäten nicht nur auf Greifswald. Sie waren „Berufsrevolutionäre“, die durch die Republik reisten, um Reden zu halten und Mitglieder zu werben. Auch juristische Strafverfolgung schreckte sie nicht ab.18 Mehr als ein Jahrzehnt später, im Jahr 1936, charakterisierte die Geheime Staatspolizei Joachim Haupt wie folgt: Haupt war 1924 der geistige Führer der nationalsozialistischen Studentengruppe, die sich damals in Greifswald gebildet hatte und einen scharf revolutionären, stark sozialistisch betonten

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Ebd., S. 17. Bundesarchiv Berlin (BArch), NS 26/894, Undatierter Bericht Eduard Heinzes. Kyra T. Inachin, Die Entwicklung Pommerns im Deutschen Reich, in: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Pommern, hg. von Werner Buchholz, Berlin 1999, S. 447–508, hier S. 491. Vgl. zu Joachim Haupt und Reinhard Sunkel neuerdings ausführlich Martin Göllnitz, Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärskorps am Beispiel der Universität Kiel (1927–1945) (Kieler Historische Studien 44), Ostfildern 2018; sowie Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (Studien zur Wissenschaft und Universitätsgeschichte 6), Heidelberg 2004, S. 172. Vgl. Jan Mittenzwei, Art. „Wilhelm Karpenstein“, in: Biographisches Lexikon für Pommern, hg. von Dirk Alvermann und Nils Jörn, Bd. 2 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe 5: Forschungen zur pommerschen Geschichte 48.2), Köln 2015, S. 141–145. Kyra T. Inachin, „Märtyrer mit einem kleinen Häuflein Getreuer“. Der erste Gauleiter der NSDAP in Pommern Karl Theodor Vahlen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), Nr. 1, S. 31–51, hier S. 36. Haupt und Sunkel wurden 1924 wegen Beteiligung an der verbotenen NSDAP angeklagt, aber durch das Schöffengericht Kassel am 15. Dezember 1924 freigesprochen. Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. HA, Rep 84a, Nr. 58564, Urteil Schöffengericht Cassel, 15.12.1924.

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Jan Mittenzwei kompromisslosen Kurs einhielt. [. . .] Er ist der typische sture Revolutionär, dessen starke Neigung zum Intellektuellen erträglich wird durch echten inneren Schwung.19

Diese revolutionäre Haltung drückte sich insbesondere in einer Neigung zur Gewalt aus, wie sich am Beispiel der gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei im Zusammenhang mit dem sogenannten „Franzosenmontag“ zeigte. Für den 4. August 1924 war in Greifswald eine Kundgebung des Gewerkschaftskartells und des internationalen Bundes der Kriegsopfer in der Stadthalle angesetzt, bei der der französische Kommunist Henry Barbusse auftreten sollte.20 Für die Nationalisten in Greifswald war Barbusse „eine dreifache Provokation“,21 schließlich war er Franzose, Pazifist und ein Mann der Arbeiterklasse in einer Person. Die DNVP und die Deutsche Volkspartei (DVP) reagierten mit einem gemeinsamen Aufruf, in dem sie ein Auftrittsverbot Barbusses forderten.22 Nachdem sich neben einer Reihe lokaler Verbände23 auch der Senat und das Rektorat der Universität gegen die Kundgebung positioniert hatten,24 gab die Stadtverwaltung nach und verbot die Kundgebung.25 Dieses Verbot wurde am 2. August 1924 durch den Regierungspräsidenten von Stralsund, Hermann Haußmann, wieder aufgehoben.26 Zudem wurde ein starkes Polizeiaufgebot nach Greifswald entsandt, um die Veranstaltung zu schützen.27 Dementsprechend war die Stimmung am Tage der Kundgebung außerordentlich nationalistisch aufgeladen.

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Rossiiskii Gosudarstvenni Voennyi Arkhiv (Russisches Staatliches Militärarchiv; RGVA), Fond 503, Opis 1, Akte 596, Abschrift Bericht Gestapo Stettin, 15.08.1936. Vgl. Landesarchiv Greifswald (LAGw), Rep. 65c, Nr. 973, Regierungspräsident Stralsund an die Polizeiverwaltung Greifswald, 02.08.1924. Tatsächlich trat nicht Barbusse, sondern ein gewisser Gauthier in der Stadthalle auf. Vgl. ebd., Aktennotiz über die Besprechung mit dem Auswärtigen Amt, 06.08.1924. Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur 1900–1990 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 122), Düsseldorf 2000, S. 134. Darin hieß es: Eine einmütige Gesinnung und ein fester Wille beseelt uns, wenn wir verlangen und mit gesetzlichen Mitteln durchsetzen werden, daß der Franzose Henri Barbusse den Toren Greifswalds fernbleibt. Vgl. LAGw, Rep. 65c, Nr. 86, Regierungspräsident Stralsund an den preußischen Innenminister, 17.08.1924. In diesem Aufruf hieß es: Wir dulden es einfach nicht, dass in unserer Stadt, der Feste einer starken verantwortlichen nationalen Gesinnung, der Friede gestört wird durch einen Franzosen. Wir erwarten, dass die Behörden ihre Pflicht tun und in dem demokratischen Staate, in dem wir leben, die Forderungen der Mehrheit berücksichtigen. Ebd., S. 1 f. Unterzeichner waren der ,Hochschulring deutscher Art‘, die ,Bürger-Schützen-Kompagnie‘, die ,deutsche Kolonialgesellschaft‘, die ,Handwerkervereinigung‘, der ,Kreiskriegerverband‘, der ,Ostbund‘, die ,Rheinländervereinigung‘, die ,Schlesier‘, die ,Reichsvereinigung ehemaliger Kriegsgefangener‘, der ,Landbund‘ und die ,Vereinigten Wehrvereine‘. Vgl. Gerhard Gülzow u. a., Aufruf verschiedener Verbände und Vereine, in: Norddeutscher Beobachter (01.08.1924), S. 1. Vgl. Matthiesen, Greifswald (Anm. 21), S. 134. Vgl. ebd., S. 135. Haußmann hatte zunächst beim Auswärtigen Amt anfragen lassen, ob er mit Rücksicht auf die außenpolitische Situation das Versammlungsverbot aufheben solle. Das Auswärtige Amt bestätigte ihm, dass es größtes Interesse daran habe, dass Barbusse nicht am Sprechen verhindert würde. Vgl. LAGw, Rep. 65c, Nr. 973, Aktenvermerk über die fernmündliche Unterredung mit dem Auswärtigen Amt, 02.08.1924. Vgl. LAGw, Rep. 65c, Nr. 973, Bericht des Regierungspräsidenten von Stralsund, 08.08.1924.

Der „Greifswalder Blutsonntag“ und die Universität

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Vor der Stadthalle demonstrierten einige „tausend Männer, Frauen und Jugendliche aus den konservativ-nationalen Kreisen“.28 Bereits vor der Veranstaltung hatten Unbekannte Stinkbomben vor und im Saal geworfen.29 Bald entspann sich auch in der Halle eine Schlägerei; und als die Menge vor der Halle versuchte, in den Saal einzudringen, eskalierte die Situation.30 Nachdem Demonstranten die Polizei mit Steinen beworfen hatten, versuchte diese, die Menschenmenge aufzulösen, woraus sich eine Massenschlägerei entwickelte.31 Hierbei taten sich insbesondere Wilhelm Karpenstein und einige seiner Kommilitonen hervor, die den Kern der Schlägertruppe bildeten.32 Für die NSDAP in Pommern war dieses Ereignis ein willkommener Anlass zu weiterer propagandistischer Agitation. Die Auseinandersetzung wurde als das Ereignis mystifiziert, das die Greifswalder Nationalsozialisten so bald nicht vergessen werden.33 Nach dem „Franzosenmontag“ verließen die studentischen NS-Aktivisten Haupt und Sunkel Greifswald in Richtung Kiel. In der Folge wurde es ruhig um die nationalsozialistischen Studenten. Erst 1927 erfolgte mit der Gründung einer örtlichen Hochschulgruppe des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) ein stärkerer organisatorischer Zusammenschluss. Unter der Führung der Brüder Gerhard und Kurt Krüger errang die Greifswalder Hochschulgruppe des NS-Studentenbundes bei der Kammerwahl 1928 bereits 18 Prozent der Stimmen.34 Den Durchbruch erreichten die NS-Aktivisten bei der AStA-Wahl im Februar 1930, in der sie durch den Übertritt zweier Kammermitglieder bereits eine Zweidrittelmehrheit erringen konnten. In der Folgezeit radikalisierten sich die NS-Studenten zunehmend, was sich in immer stärkerem Maße auf das Klima an der Hochschule auswirkte. Schon 1930 riet der Universitätskurator dem preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker von Besuchen ab, da die Greifswalder Studentenschaft [. . .] überwiegend nationalsozialistisch radikalisiert35 sei. Der Landrat von Greifswald berichtete 1931 sogar, dass ein sehr erheblicher Prozentsatz der hiesigen Studentenschaft – annähernd 80 % – nationalsozialistisch eingestellt sei.36 Die Radikalisierung unter den Studenten lässt sich nicht unabhängig von der Situation der pommerschen NSDAP betrachten. Gewaltsame Ausschreitungen waren Teil der Strategie der Nationalsozialisten, bei denen Aufmärsche dezidiert als 28 29 30 31 32

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Matthiesen, Greifswald (Anm. 21), S. 135. Vgl. LAGw, Rep. 65c, Nr. 973, Amtliche Darstellung, 07.08.1924. Matthiesen, Greifswald (Anm. 21), S. 135. Vgl. Kyra T. Inachin, Der Aufstieg der Nationalsozialisten in Pommern, Schwerin 2002, S. 16. Vgl. Matthiesen, Greifswald (Anm. 21), S. 135. Im Bericht des Regierungspräsidenten Haußmann wurde auch Joachim Haupt als Rädelsführer angeführt. Vgl. LAGw, Rep. 65c, Nr. 973, Bericht des Regierungspräsidenten von Stralsund, 16.08.1924. Berichterstattung über die Vorgänge aus nationalsozialistischer Sicht, in: Norddeutscher Beobachter (06.08.1924), S. 1. Vgl. BArch, NS 38/3629, Kurt Krüger an Reichsleitung NSDStB, 07.07.1928. Karl-Heinz Borchardt und Dirk Mellies, Greifswald – 10. Mai 1933 auf dem Marktplatz, in: Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933, hg. von Julius H. Schoeps und Werner Treß (Wissenschaftliche Begleitbände im Rahmen der Bibliothek verbrannter Bücher 1), Hildesheim 2008, S. 392–409, hier S. 393. Archiwum Pa´nstwowe w Szczecinie (Staatsarchiv Stettin; APS), Prezydium Policji w Szczecinie, Nr. 31, Landrat Kogge an den Regierungspräsidenten von Stralsund, 25.04.1931.

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Kampfmittel eingesetzt wurden, um politische Gegner einzuschüchtern, Gewalt zu provozieren und das politische Klima in Pommern gezielt zu radikalisieren. Das charakteristische Muster wiederholte sich hierbei: Bevorzugt wurden Werbeveranstaltungen in pommerschen Mittelstädten angesetzt. Anschließend wurde unter Heranziehung auswärtiger SA-Mitglieder während der Versammlung eine Straßenoder Saalschlacht initiiert, der die lokalen Polizeibeamten zumeist hilflos gegenüberstanden. Da sich insbesondere die örtlichen Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen einließen, ähnelte die Situation in Pommern immer mehr einem sich latent ausbreitenden Bürgerkrieg, bei dem auch vor gegenseitigen Mordanschlägen nicht zurückgeschreckt wurde. Daran änderte auch die zunehmende Überwachung der NSDAP vonseiten der Behörden seit 1930 wenig, da sich die NSDAP-Parteiformationen gezielt den Überwachungsmaßnahmen entzogen und Vorbereitungen für den Rückzug in die Illegalität trafen.37 Die NS-Studenten waren in diese Strategie eingebunden und beteiligten sich unmittelbar an den gewaltsamen Ausschreitungen. 1930 berichtete der Greifswalder NSDStB-Funktionär Karl Königstein, dass ein großer Teil der Hochschulgruppe der Sturmabteilung (SA) angehöre und bereits im Mai an einer Saalschlacht in Anklam teilgenommen habe.38 Innerhalb der Universität beteiligten sich die nationalsozialistischen Hochschülerinnen und Hochschüler an den Protesten gegen die Professoren Klingmüller und Ziegler sowie an den gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei.39 Gezielt verstärkt wurde diese Radikalisierung durch die Person Wilhelm Karpensteins. Im Jahr 1930 bereits NSDAP-Bezirksvorsitzender für Vorpommern und seit 1931 NSDAP-Gauleiter für Pommern, warb er erfolgreich um die Greifswalder Studentenschaft. Bei einer Rede Karpensteins im Mai 1930 waren bereits 400 Studenten anwesend. Im Rahmen seiner öffentlichen Auftritte ließ er sich keine Zurückhaltung auferlegen. Karpenstein tolerierte nicht nur den Einsatz von gewaltsamen Mitteln, sondern rief mehrfach selbst zu Gewalt auf.40 Schließlich waren die NS-Aktivisten auch in den Parteiformationen prominent vertreten. Studenten wie Gerhard Adam befanden sich bereits vor 1933 in leitenden Positionen innerhalb der SA und der Schutzstaffel (SS). Der Medizinstudent Heinz Lohmann trat zudem als Parteiredner auf. Daher erscheint es wenig verwunderlich, dass im Jahre 1932

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Vgl. ausführlich Jan Mittenzwei, Höhepunkt der Kampfzeit – Die pommersche NSDAP zwischen Auflösung und Machtergreifung 1931–1934, in: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 19 (2015), Nr. 1, S. 13–21. 38 Vgl. BArch, NS 38/3629, Karl Königstein an Baldur von Schirach, 11.01.1930. Zum jungakademischen Funktionärskorps des NSDStB vgl. Göllnitz, Student als Führer (Anm. 15). 39 Vgl. diesbezüglich Henrik Eberle, „Ein wertvolles Instrument“. Die Universität Greifswald im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 45 f.; Maud Antonia Viehberg, Restriktionen gegen Greifswalder Hochschullehrer im Nationalsozialismus, in: Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Werner Buchholz (Pallas Athene 10), Stuttgart 2004, S. 271–308, hier S. 286–292. 40 So forderte er auf einer Parteiversammlung im November 1932 die Parteimitglieder dazu auf, die DNVP mit Stumpf und Stiel auszurotten. BArch, NS 22/269, Manuskript einer Rede Karpensteins für die Amtswaltertagung der NSDAP in Pommern, 11.11.1932.

Der „Greifswalder Blutsonntag“ und die Universität

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immer wieder die nationalsozialistischen Studenten im Mittelpunkt der Gewalt in Greifswald standen. Anfang März 1932 kam es zu besonders schweren Ausschreitungen in Greifswald. Am 7. März 1932 fand eine Wahlkampfveranstaltung der NSDAP in der Greifswalder Stadthalle statt. Da die Polizei befürchtete, dass es im Anschluss der Veranstaltung zu Auseinandersetzungen mit den Kommunisten kommen könnte, gab sie den Nationalsozialisten den Rat, so lange im Versammlungslokal [. . .] zu bleiben, bis der Abzug der übrigen Versammlungsteilnehmer erfolgt war und die Polizei hinreichende Kräfte zur Verfügung hatte, um ihren Abzug zu sichern.41 Ein großer Teil der SA und SS hielt sich nicht daran, sondern ging auf Umwegen in die Steinbeckerstraße, wo sich das Geschäftslokal der KPD und der Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen (ARSO) befand. Dort kam es in der Nacht zu gewaltsamen Zusammenstößen, in deren Folge drei SA-Männer, darunter der Student Hans Joachim Werner, zum Teil schwer verletzt wurden. Wenige Minuten später wurden die Polizeibeamten in die Bismarckstraße gerufen. Dort hatten etwa 100 Nationalsozialisten vor dem Gebäude des sozialdemokratischen Volksboten randaliert und die Scheiben eingeworfen. Es gab zahlreiche Verletzte. In dem anschließenden Prozess wurden mehrere Nationalsozialisten, darunter der Student Werner Gehrke, wegen schweren Landfriedensbruchs zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt.42 In der zweiten Hälfte des Jahres 1932 verstärkten sich die gewaltsamen Ausschreitungen. Nach der Aufhebung des SA-Verbotes Mitte Juni 1932 explodierte die Gewalt bis zum sogenannten „Preußenschlag“ überall in Deutschland. Binnen eines Monats waren fast 100 Tote und über 1 000 Verletzte zu beklagen. Auch in Pommern starben mehrere Menschen.43 Befeuert wurden die Gewaltexzesse insbesondere durch die Wahlkampfveranstaltungen, die für die vielen Neumitglieder der NSDAP und SA als Bewährungsprobe angesehen wurden. Verschärfend kam hinzu, dass sich Adolf Hitler 1932 zu mehreren Wahlkampfveranstaltungen in Pommern befand. In dieser Situation kam es am 17. Juli 1932 zum sogenannten „Greifswalder Blutsonntag“. An diesem Sonntag führte die Greifswalder SA zusammen mit auswärtigen SA-Mitgliedern einen Aufmarsch in Greifswald durch, an dem etwa 800 Nationalsozialisten teilnahmen.44 Auf dem Marktplatz weihte Gauleiter Karpenstein die Hakenkreuzfahne des NS-Studentenbundes.45 In der Mittagspause kam es in der Langen Reihe zu Auseinandersetzungen zwischen den Nationalsozialisten und vermeintlich politisch Andersdenkenden. Anschließend warfen die SA-Angehörigen

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APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11971, Regierungspräsident Stralsund an Minister des Innern, 09.03.1932. Noch einmal Nazisturm auf die Greifswalder Volkszeitung, in: Der Vorpommer (30.11.1932). Am 12. Juli kamen u. a. der SA-Standartenführer Kurt Kreth und der Berliner Lehrer und SA-Angehörige Günther Roß nach einem gewaltsamen Zusammenstoß mit Kommunisten in Köslin ums Leben. Am 20. Juli wurde der Stralsunder Lehrer Kurt Krull durch einen Kopfschuss getötet, nachdem ein Kommando der Stettiner Schutzpolizei in ein Lager der ,Roten Falken‘ eingedrungen war. APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11971, Regierungspräsident Stralsund an Minister des Innern, 18.07.1932. Vgl. Eberle, Universität Greifswald (Anm. 39), S. 48.

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Flaschen auf das Haus des Konsumvereins, während andere Nationalsozialisten den städtischen Wohnhof stürmten, in den sich angeblich Gegner der vorangegangenen Auseinandersetzung geflüchtet hatten.46 Schließlich gelang es der Polizei, den Wohnhof zu räumen und die Ruhe wiederherzustellen. Für den Abend hatte die Polizei mit den Nationalsozialisten vereinbart, dass sie die Gruppen aus der Stadt geleiten würde. Eine Gruppe von 19 SA-Männern, darunter mehrere Studenten, nahm das Angebot jedoch nicht an und fuhr mit dem Fahrrad die Loitzer Landstraße stadtauswärts. Dort kamen sie an Baracken vorbei, die überwiegend von Kommunisten bewohnt waren. Nachdem von den Baracken her ein Schuss gefallen war und Wortwechsel stattfanden, rief die SA um Verstärkung. Anschließend stürmten sie die Baracken. Die Bewohner setzten die SA unter Feuer. Dann gingen sie mit Knüppeln, Eisenstangen und Forken zum Gegenangriff über.47 Bei der folgenden gewaltsamen Auseinandersetzung starben drei SA-Männer: Der arbeitslose Schmied Ulrich Massow erhielt einen Lungenschuss und wurde anschließend von zwei Frauen mit Knüppeln erschlagen. Der Student Bruno Reinhard wurde ins Herz getroffen und starb unmittelbar.48 Der Handlungsgehilfe Herbert Schumacher wurde auf der Flucht angeschossen und starb, nachdem der Melker Albert Peters mehrfach mit einer Latte auf den am Boden Liegenden eingeschlagen hatte.49 Die gewaltsame Auseinandersetzung endete mit dem Rückzug der Nationalsozialisten. Die Nachricht über die gewaltsamen Ausschreitungen ließ die nationalistische Stimmung in Greifswald hochkochen. Da einer der toten Nationalsozialisten, Bruno Reinhard, Student der Universität gewesen war, hielt Rektor Deißner eine Rede, in der er Reinhard würdigte, der in treuer Pflichterfüllung für seine Überzeugung von des Vaterlandes Größe, Macht und Freiheit gefallen sei.50 Die aufgewühlte nationalistische Stimmung in der Stadt führte auch an der Universität zu gewaltsamen Ausschreitungen. Einen Tag nach den blutigen Ereignissen berichtete die Greifswalder Zeitung, dass nationalsozialistische Studenten einen Kommilitonen verprügelt hätten, weil dieser angeblich an der Schießerei beteiligt gewesen sei.51 Der Greifswalder Oberbürgermeister berichtete von Schlägereien zwischen Kommunisten und Studenten auf dem Rubenowplatz und bat dringend um zusätzliche Polizeikräfte, da die Greifswalder Polizei Mühe hatte, Herr der Lage zu werden.52 Am 20. Juli 1932 reagierte der Regierungspräsident von Stralsund und bat das preußische Innenministerium schließlich um zusätzliche Polizeikräfte, da er nicht glaubte, die öffentliche Ordnung allein mit den Kräften der Landjägerei und der kommunalen Polizei aufrecht erhalten zu können.53 Ob diese Bitte den preußischen Innenminister 46 47 48 49 50 51 52 53

APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11971, Regierungspräsident Stralsund an Minister des Innern, 18.07.1932. APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11971, Schlussbericht Kriminalpolizei Greifswald, 25.07.1932. Vgl. Eberle, Universität Greifswald (Anm. 39), S. 49. APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11971, Schlussbericht Kriminalpolizei Greifswald, 25.07.1932. Greifswalder Zeitung (22.07.1932), zitiert nach: Matthiesen, Greifswald (Anm. 21), S. 275. Universitätsarchiv Greifswald (UAG), Kurator K 1826, Greifswalder Zeitung (18.07.1932), Artikel: „Schon wieder Unruhen“. APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11971, Vermerk Regierungspräsident Stralsund, 18.07.1932. APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11971, Regierungspräsident Stralsund an Minister des Innern, 20.07.1932.

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Carl Severing noch erreichte, ist jedoch zweifelhaft. Am selben Tag wurde er im Zuge des sogenannten „Preußenschlages“ abgesetzt. Die Beerdigung von Bruno Reinhard und Ulrich Massow fand vier Tage nach den blutigen Ausschreitungen statt und wurde zu einer nationalsozialistischen Opferfeier stilisiert.54 Bei der Trauerfeier waren neben Vertretern der pommerschen NSDAP auch der Führer der Deutschen Studentenschaft und ehemalige Führer der NS-Hochschulgruppe Greifswald, Gerhard Krüger, anwesend. Die Rede auf der Gedenkfeier für Reinhard sprach der pommersche Gauleiter Wilhelm Karpenstein. Er erklärte, dass Massow und Reinhard im unbedingten Glauben an die Idee eines neuen Deutschland gestorben seien. Dann beschwor er die Einheit von Arbeiter und Student und stimmte die Parteimitglieder auf weitere Kämpfe ein.55 Der „Greifswalder Blutsonntag“ hatte zudem noch ein juristisches Nachspiel. Bei seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft gab SA-Standartenführer Arwed Theuermann dem SA-Trupp die Schuld an dem Zwischenfall, da dieser die Anordnungen missachtet und die Stadt ohne Polizeischutz verlassen hätte. Wichtiger für die Staatsanwaltschaft war jedoch die Klärung der Frage, wer zuerst geschossen hatte. Nach Zeugenaussagen und einer ballistischen Untersuchung kam der Staatsanwalt zu dem Schluss, dass sich die Kommunisten defensiv verhalten hätten und der erste Schuss von den Nationalsozialisten abgegeben worden sei.56 Der Prozess vor dem Schwurgericht Greifswald gegen die 22 Angeklagten endete am 8. November 1932 mit differenzierten Urteilen. Sieben Angeklagte wurden freigesprochen. Die Frauen, die Ulrich Massow erschlagen hatten, erhielten acht Monate beziehungsweise ein Jahr Gefängnis. Albert Peters und Paul Behrens erhielten zehn Jahre Zuchthaus.57 Während „Der Vorpommer“ von ungewöhnlich hohe[n] Strafen sprach, waren die Nationalsozialisten mit diesen Urteilen nicht einverstanden.58 Infolge der sogenannten „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten im Januar 1933 kam es zu einer neuen Welle gewaltsamer Ausschreitungen. Nachdem die SA durch Erlass des preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring vom 24. Februar 1933 zur Hilfspolizei ernannt worden war, rissen die SA-Männer die Aktionsgewalt an sich. Es wurden zahlreiche politische Gegner verhaftet und in „Schutzhaft“ genommen. In Greifswald besetzte die SA am 29. März 1933 das Gewerkschaftshaus.59 Die SA begründete ihr Vorgehen damit, dass im Gewerkschaftshaus die Vorbereitungen für den „Blutsonntag“ getroffen worden seien.60 Zudem wurden 54

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Monate später überreichte die Mutter Bruno Reinhards Adolf Hitler vor seiner Rede in Anklam noch ein Bild ihres Sohnes. Vgl. RGVA, Fond 535, Opis 1, Akte 36, Pommersche Zeitung (27.10.1932). Erich Heyden, Der Blutsonntag, in: Greifswalder Universitätszeitung. Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald 8 (1933), S. 7–13, hier S. 12. Vgl. Eberle, Universität Greifswald (Anm. 39), S. 50. APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11971, Urteil Schwurgericht Greifswald Strafsache gegen Peters und andere. APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11971, Der Vorpommer (09.11.1932), Artikel: „Schwere Zuchthaus- und Gefängnisstrafen. Das Urteil des Greifswalder Schwurgerichts“. APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11791, Oberbürgermeister Greifswald an Regierungspräsidenten Stettin, 29.03.1933. APS, Rejencja Szczeci´nska, Nr. 11791, Oberbürgermeister Greifswald an Regierungspräsidenten Stettin, 07.04.1933.

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zwischen März und Juli 1933 insgesamt 54 Bewohner der Stadt verhaftet und in „Schutzhaft“ genommen. Davon waren allein 13 Personen betroffen, denen man die Beteiligung am „Greifswalder Blutsonntag“ vorwarf.61 Darüber hinaus organisierte die NS-Führung einen landesweiten Boykott gegen jüdische Geschäftsleute, Ärzte und Juristen. Am 1. April 1933 standen auch in Greifswald und in anderen Orten Pommerns uniformierte SA-Männer vor jüdischen Geschäften und forderten die Einwohner auf, nicht dort zu kaufen.62 Schließlich fand am 10. Mai 1933 die Bücherverbrennung auf dem Marktplatz statt. Nachdem sich am 26. April 1933 die Greifswalder Studentenschaft an die Bevölkerung gewandt und diese aufgefordert hatte, ihre Bücherbretter von den Feinden deutschen Geistes zu reinigen,63 versammelten sich am 10. Mai 1933 die studentischen Vereine und Korporationen zusammen mit der SA auf dem Marktplatz. Nach einer Rede des Vertreters der nationalsozialistischen Studenten wurden die beschlagnahmten sozialdemokratischen und kommunistischen Transparente, Fahnen und Flugblätter zusammen mit den abgelieferten Büchern verbrannt.64 Wenngleich sowohl Boykott als auch die Bücherverbrennungen vom sogenannten „Zentral-Komitee zur Abwehr der jüdischen Gräuel- und Boykotthetze“ bzw. von der Deutschen Studentenschaft geplant waren, zeigte sich doch bald, dass insbesondere die studentischen NS-Aktivisten in Greifswald die Geschicke der Universität mitbestimmen und -gestalten wollten. Bereits im Anschluss an die Bücherverbrennungen hatten die NS-Studenten mit einer Aktion für den deutschen Geist begonnen, bei der in Broschüren für echte, volksverbundene Literatur geworben wurde.65 Weiterhin organisierten die nationalsozialistischen Studenten mehrere Vorträge. Bei einem dieser Vorträge referierte der gebürtige Greifswalder und Sachverständige für Rassefragen im Reichsinnenministerium, Achim Gercke, über die „Lösung der Judenfrage“. In seiner Rede forderte er, dass alles [ausgemerzt werden müsse], was unserem Volk schädlich, was rassisch minderwertig sei. Seinen Zuhörern gegenüber bezeichnete er die Juden als eine Gefahr, die endgültig beseitigt werden müsse. Dies sollte nicht ausschließlich mithilfe von Gesetzen geschehen. Diese Gesetze sollten lediglich das Volk aufrütteln und seien keine endgültige Lösung. Er schloss mit der unheilvollen Drohung: Die endgültige Lösung wird kommen und sieht etwas anders aus.66

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Insgesamt befanden sich zum 31. August 1933 insgesamt 548 Personen aus dem Regierungsbezirk Stettin in Schutzhaft. Die Mehrzahl, 231 Personen, war in Polizeigewahrsam. 164 Menschen befanden sich im Konzentrationslager (KZ) bei Papenburg, 96 im KZ Sonnenburg und 57 im KZ Lichtenburg. Vgl. RGVA, Fond 503, Opis 1, Akte 413, Polizeipräsident Staatspolizeistelle Stettin an Regierungspräsidenten Stettin, 31.08.1933. Wolfgang Wilhelmus, Juden in Vorpommern (Beiträge zur Geschichte MecklenburgVorpommern 8), Schwerin 3 2007, S. 74. Vgl. Unser Kampf wider den undeutschen Geist – Aufruf der Greifswalder Studentenschaft an die Greifswalder Bevölkerung, in: Greifswalder Universitätszeitung. Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald 8 (1933), Nr. 3, S. 31 f. Borchardt/Mellies, Greifswald 1933 (Anm. 35), S. 395 f. BArch, NS 38/2417, Aufruf der Greifswalder Studentenschaft an die Greifswalder Bevölkerung. Achim Gercke, Lösung der Judenfrage, in: Greifswalder Universitätszeitung. Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald 8 (1933), Nr. 5, S. 63 f.

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In diesem antisemitisch aufgeladenen, gewaltgeprägten Klima erhielten die NSAktivisten an den Hochschulen neue Macht. Die neue Satzung der preußischen Studentenschaft vom 22. April 1933 sicherte den studentischen Vertretern neue Mitbestimmungsrechte innerhalb der universitären Selbstverwaltung.67 Die Vertreter der Greifswalder NS-Studentenschaft machten von diesen Machtbefugnissen schnell Gebrauch und waren maßgeblich an mehreren Entlassungen von Universitätsangehörigen beteiligt.68 Darüber hinaus gingen die NS-Aktivisten nun gegen vermeintliche Gegner innerhalb der eigenen Studentenschaft vor. Am 29. Juni 1933 war ein Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung veröffentlicht worden, wonach alle Studierenden an Preußischen Hochschulen, die sich in den letzten Jahren nachweislich im kommunistischen Sinne betätigt haben [. . .], mit sofortiger Wirkung vom Universitätsstudium auszuschließen seien.69 Zur schnellen Feststellung griff man auf die örtlichen Studentenvertretungen zurück. Von diesem Erlass betroffen waren unter anderen der Physikstudent Peter Adler sowie die beiden jüdischen Medizinstudenten Ernst Askenasy und Walter Orloff.70 Peter Adler wurde vorgeworfen, an Sitzungen der Internationalen Arbeiterhilfe und an Gewerkschaftsveranstaltungen teilgenommen zu haben. Aus diesem Grund wurde ihm auch die Nähe zu den Ereignissen des „Greifswalder Blutsonntags“ unterstellt.71 Er wurde daraufhin verhaftet und anschließend vom Studium relegiert. Adler wurde zwar wieder freigelassen, allerdings wurde ihm anschließend von Manfred Pechau, dem Führer der verfassten Greifswalder Studentenschaft, die Wiederzulassung zum Studium verweigert. Walter Orloff wurde dagegen am 27. Juni 1933 in Greifswald festgenommen und kam in Untersuchungshaft.72 Ihm wurde als Hauptbeschuldigtem vorgeworfen, zusammen mit anderen, ebenfalls verhafteten Personen geplant zu haben, die KPD

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Satzung der Studentenschaft der Universität Greifswald (Beilage zum Taschenbuch der Universität Greifswald 1933), Greifswald 1933. Dies betraf den jüdischen Assistenzarzt Dr. Julius Zádor und den Lektor für schwedische Sprache Dr. Stellan Arvidson. Darüber hinaus waren die studentischen NS-Aktivisten mitverantwortlich für die Entziehung der Ehrendoktorwürde des Konsuls Arthur Kunstmann und der Entziehung der Ehrensenatorenwürde des ehemaligen pommerschen Oberpräsidenten Julius Lippmann. Vgl. Jan Mittenzwei, „Dem Führer entgegenarbeiten“ – NSD-Studentenbund und NSD-Dozentenbund in Greifswald, in: „. . .Die letzten Schranken fallen lassen“. Studien zur Universität Greifswald im Nationalsozialismus, hg. von Dirk Alvermann, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 90–128, hier S. 103. UAG, Kurator K 1760, Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 29.06.1933. Vgl. dazu Jan Mittenzwei, Verfolgte Studierende in Pommern, in: Studium und Terror. Jüdische Studierende in der Zeit des Nationalsozialismus, hg. von Johanna Eleonore Weber (Greifswalder Universitätsreden NF 149), Greifswald 2016, S. 18–32, hier S. 22–24. UAG, Kurator K 1755, Beschluss des akademischen Senats gegen Peter Adler, 13.07.1933. Der amerikanische Student Walter Orloff wurde am 1. November 1903 geboren und wuchs in Brooklyn/New York auf. 1927 erwarb er seinen Bachelor-Abschluss an der Universität von Pennsylvania und absolvierte anschließend Vorbereitungskurse für das Medizinstudium an der Columbia University. 1930 begann er sein Medizinstudium in Berlin, bevor er 1932 nach Greifswald wechselte. Vgl. Consul acts to free Orloff, in: The Brooklyn Daily Eagle (22.07.1933), S. 2.

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in Greifswald neu zu gründen. Weiterhin habe er Geheimversammlungen73 einberufen und versucht, Mitglieder für die illegale Arbeit der KPD zu gewinnen.74 In seinen Vernehmungen soll er außerdem eingestanden haben, am Aufbau kommunistischer Kampfgruppen beteiligt gewesen zu sein.75 Aufgrund dieser vermeintlichen Vergehen wurde ein Verfahren wegen Hochverrats eröffnet, und die Akten wurden dem Oberreichsanwalt in Leipzig zugesandt. Dieser gab das Verfahren an den Generalstaatsanwalt beim Landgericht in Berlin.76 Tatsächlich waren die vermeintlichen Beweise gegen Orloff eher fragwürdig. In seinem Schreiben an den amerikanischen Generalkonsul George Messersmith schilderte Orloff, dass er zwar mit der Arbeiterklasse sympathisiere, aber politisch nicht organisiert sei.77 Er habe oftmals das Gewerkschaftshaus in Greifswald besucht und sich mit einem gewissen Wilhelm Vonthien getroffen, der von der Polizei als Kommunistenführer bezeichnet wurde. Dieser war ebenfalls festgenommen worden und hatte im Verhör Orloff schwer belastet.78 Unabhängig von den Aussagen Vonthiens konnte die Polizei jedoch zunächst keine weiteren belastenden Beweise finden. So konnte Orloff nicht nachgewiesen werden, dass er sich an illegalen Treffen der KPDMitglieder oder an der Neugründung der KPD beteiligt hatte. Schwerwiegender war dafür ein Schreiben Orloffs an die KPD-Führung in Stettin, das Vonthien der Polizei übergeben hatte.79 Wenngleich dieses Schreiben eher den Charakter einer politischen Schwärmerei aufwies und keine belastenden Informationen enthielt, machte ihn dieses Schriftstück in den Augen der Strafverfolgung dringend tatverdächtig. Weitere Anhaltspunkte zu den Hintergründen ergeben sich zudem aus den Berichten amerikanischer Zeitungen, in denen Walter Orloff wenige Monate später seine Erinnerungen präsentierte.80 Orloffs Schilderungen zufolge bekam er bereits

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Vgl. BArch, R 3001/165163, Generalstaatsanwalt an Preußischen Justizminister, 25.07.1933. University of Delaware Library (Universitätsbibliothek Delaware; UDL), MSS 109, George S. Messersmith papers, 209, Geheimes Staatspolizeiamt an Generalkonsul der Vereinigten Staaten von Amerika, 07.07.1933. BArch, R 3001/165163, Notiz zur Strafsache gegen Walter Orloff, 21.07.1933. BArch, R 58/3962, Oberbürgermeister Greifswald an Regierungspräsidenten in Stettin, 18.07.1933. UDL, MSS 109, George S. Messersmith papers, 207, Walter Orloff an Generalkonsul der Vereinigten Staaten von Amerika, 04.07.1933. Vonthien hatte ausgesagt, dass er Orloff im Winter 1932/33 im Gewerkschaftshaus und im Sportklub Fichte kennengelernt habe. Dieser habe ihm erklärt, er sei überzeugter Kommunist, und habe ihn nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten dazu aufgefordert, die KPD neu zu gründen. Darüber hinaus habe Orloff sich als Kurier betätigt und für die Greifswalder KPD-Gruppe 13 RM an einen Funktionär der KPD in Stettin überbracht. In diesem Zusammenhang soll er auch Instruktionen für die illegale Parteiarbeit der KPD erhalten haben. Bei einer Gegenüberstellung mit Vonthien bestritt Orloff diese Angaben vehement. Die KPD-Führung in Stettin hatte Orloff anscheinend misstraut und vermutete in ihm einen Spitzel. Daraufhin hatte Orloff ein Schreiben verfasst, in dem er seine Tätigkeit für die KPD und die ,Rote Hilfe Deutschlands‘ (RHD) vor der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ schilderte und die Genossen in Stettin zu überzeugen suchte, dass er aus Überzeugung Kommunist sei. Vgl. BArch, R 3001/165163, Generalstaatsanwalt an Preußischen Justizminister, 25.07.1933. Brooklyn student tells of cruelty of Nazi jailers in German prison, in: The Sunday Spartanburg Herald-Journal (22.10.1933), S. 7.

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am 3. April 1933 Besuch von der Polizei, die erfolglos sein Zimmer nach illegalen Flugblättern durchsuchte. Wenige Wochen später wurde sein Zimmer während seiner Abwesenheit nochmals durchsucht. Auf Anfrage bei der Polizei wurde ihm mitgeteilt, dass er sich am nächsten Morgen erneut einfinden solle. Orloff wurde jedoch bereits in der Nacht verhaftet und nach acht Stunden in Polizeigewahrsam wieder entlassen. Ende Juni 1933 wurde Orloff auf seinem Fahrrad von SA-Männern durch die Stadt verfolgt. Nachdem er zunächst erfolglos einen Polizisten um Hilfe gebeten hatte und es ihm nicht gelungen war, die Verfolger abzuschütteln, entschied er sich, zur Polizeistation zu gehen. Trotz der Bitte, ihn unter Arrest zu stellen und ihn somit vor seinen Verfolgern zu schützen, warf ihn der anwesende Kriminalkommissar Voss aus seinem Büro und drohte, ihn der Lynchjustiz zu übergeben. Nachdem einer seiner Verfolger die Polizeistation betreten hatte, stellte sich jedoch heraus, dass der Polizeikommissar selbst den SA-Männern befohlen hatte, Orloff zu überwachen. Daraufhin wurde Orloff aufgrund der bekannten Beschuldigungen verhaftet und im Gerichtsgefängnis in Einzelhaft untergebracht. Während seines Verhörs wurde Orloff von zwei Polizeibeamten mit Schusswaffen bedroht, nach vermeintlichen Informationen befragt und brutal mit „Totschläger“ und Peitsche misshandelt. Zudem wurde ihm Nahrung verweigert. Trotz der Intervention des amerikanischen Konsuls Raymond Geist in Greifswald wurde Orloff in das Berliner Hauptquartier der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße überstellt und erneut schwer misshandelt.81 Nach mehrfachen Verlegungen wurde Orloff schließlich in das Polizeigefängnis am Alexanderplatz gebracht, bevor er Wochen später über Hamburg nach Cuxhaven gebracht wurde und von dort aus nach New York zurückkehren konnte. Dass Orloff überhaupt freikam, verdankte er in erster Linie der amerikanischen Berichterstattung sowie dem energischen Einsatz des amerikanischen Generalkonsuls George S. Messersmith. Nachdem Letzterer von den beiden amerikanischen Studenten Simon Kaye und Bernhard Goodman,82 die zu dieser Zeit in Greifswald studierten, überhaupt erst über die Verhaftung informiert worden war, bemühte sich Messersmith sofort, die Freilassung Orloffs zu erwirken.83 Der Staatssekretär im Justizministerium, Franz Schlegelberger, erklärte jedoch, dass er sich außerstande sehe, die Ermittlungen gegen Orloff auszusetzen, da dies einen Eingriff in die Arbeit der Justiz bedeuten würde. Dennoch konnte Messersmith mit Verweis auf die amerikanische Berichterstattung zu Orloff und in Anbetracht gewaltsamer Übergrif-

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Dort musste er sich mit dem Gesicht zur Wand stellen und Übungen mit Gewichten ausführen. Nachdem er die Frage, ob er Jude sei, wahrheitsgemäß beantwortet hatte, wurde ihm zudem befohlen, sich vor ein Bild Adolf Hitlers zu stellen. Anschließend wurde Orloff von einem SS-Mann mehrfach ins Gesicht geschlagen. Vgl. ebd. 82 Die beiden amerikanischen Studenten waren aufgrund ihrer Verbindung zu Orloff ebenfalls in Verdacht geraten und am 29. Juni 1933 vernommen worden. Da sich keine Anhaltspunkte für ihre Beteiligung ergaben, war von einer Hausdurchsuchung abgesehen worden. Vgl. BArch, R 3001/165163, Generalstaatsanwalt an Preußischen Justizminister, 25.07.1933. 83 UDL, MSS 109, George S. Messersmith papers, 224, Generalkonsul der Vereinigten Staaten von Amerika an den amerikanischen Außenminister, 26.07.1933.

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fe auf amerikanische Staatsbürger genügend politischen Druck aufbauen, um die NS-Führung dazu zu bewegen, Orloff ohne Verfahren freizulassen.84 Aufgrund dieses politischen Drucks gelang es dem amerikanischen Botschafter, den preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring davon zu überzeugen, dass eine Ausweisung Orloffs die sinnvollste Lösung für die deutsche Regierung wäre. Göring erklärte sich schließlich damit einverstanden – unter der Voraussetzung, dass Walter Orloff sich nicht zu den Umständen seiner Verhaftung äußerte.85 Es ist eher zweifelhaft, ob Messersmith dieser Forderung nachkam. Dennoch ordnete Göring am 4. August 1933 per Erlass die Niederschlagung des Ermittlungsverfahrens an.86 Anschließend wurde das Verfahren eingestellt und Orloff unter Ausschluss der Öffentlichkeit nach Cuxhaven gebracht.87 In den folgenden Wochen ergriffen die nationalsozialistischen Aktivisten in Greifswald weitere Maßnahmen gegen jüdische Studenten. Eine Woche nachdem Orloff von der Universität ausgeschlossen worden war, trafen sich die vier Dekane der Fakultäten mit dem Führer der Studentenschaft, um über die Zulassung jüdischer Studenten an die Universität zu beraten. Am 16. Juni 1933 war vom Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ein neuer Runderlass für das „Gesetz gegen die Überfüllung der Deutschen Hochschulen und Schulen“ vom 23. April 1933 erschienen. Der Runderlass legte fest, dass, sobald an den jeweiligen Fakultäten bereits 1,5 Prozent aller Studenten nicht-arischer Abstammung eingeschrieben seien, keine weiteren jüdischen Studenten an diesen Fakultäten zugelassen werden würden.88 Gleichzeitig sollten die „überzähligen“ Studenten exmatrikuliert werden. Darüber hinaus legten die Bestimmungen fest, dass der Ausschuß [. . .] ohne Angabe von Gründen berechtigt [sei], die Höchstgrenze von 1.5 v. H. herabzusetzen. Auf Drängen des Führers der Greifswalder Studentenschaft, Karl Heinrich Koepke, beschlossen die Dekane bei der Besprechung mit dem Greifswalder Studentenführer unmittelbar von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Nachdem bei dem Treffen 84

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In den ersten Monaten nach der Machtübernahme war es immer häufiger zu gewaltsamen Übergriffen gegenüber Ausländern, darunter auch amerikanischen Staatsbürgern, gekommen. Neben dem Fall von Walter Orloff war in der amerikanischen Öffentlichkeit auch das Schicksal des Amerikaners Philip Zuckermann bekannt geworden. Dieser war Mitte Juli 1933 in Leipzig brutal von der SA zusammengeschlagen worden. Während der Fall in der amerikanischen Öffentlichkeit für Entsetzen sorgte, blieben die verantwortlichen Täter in Leipzig unbehelligt. Diesen Umstand nutzte Messersmith, indem er in Gesprächen mit der nationalsozialistischen Staatsführung sein Unverständnis darüber zum Ausdruck brachte, dass gegen Orloff der gesamte juristische Apparat in Bewegung gesetzt wurde, während im Zusammenhang mit den zahlreichen Überfällen auf amerikanische Staatsbürger bisher noch kein SA-Mann vor Gericht gestellt worden war. In seinem Bericht an das State Department zitierte Messersmith Göring mit den Worten: Koennen Sie mir versprechen Ihm den Mund zu stopfen? Vgl. UDL, MSS 109, George S. Messersmith papers, 309, Generalkonsul der Vereinigten Staaten von Amerika an den Außenminister, 26.09.1933. BArch, R 3001/165163, Preußischer Ministerpräsident an den Preußischen Justizminister, 04.08.1933. UDL, MSS 109, George S. Messersmith papers, 303, Generalkonsul der Vereinigten Staaten von Amerika an den Außenminister, 16.09.1933. Vgl. UAG, R 376, PMWKV an Universitätskurator Greifswald, 16.06.1933.

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festgestellt worden war, dass an der Universität bei 2 000 Studenten angeblich nur drei rein jüdische Studenten immatrikuliert waren,89 wurde festgelegt, die Zahl der Neuimmatrikulationen auf 1,5 Promille herabzusetzen, um einen Zuzug von Juden in den nächsten Semestern zu verhindern.90 Nach der Vertreibung der politischen Gegner von der Universität ging es für NS-Aktivisten in Greifswald um die Sicherung und Institutionalisierung nationalsozialistischer Macht an der Hochschule. Dazu gehörte auch die Schaffung einer eigenen nationalsozialistischen Tradition. Hierfür bot sich der „Greifswalder Blutsonntag“ als zentraler Bezugspunkt nationalsozialistischer Propaganda an. Für die NS-Hochschulaktivisten markierte der „Greifswalder Blutsonntag“ den Höhepunkt ihrer „Kampfzeit“ und sie bezogen sich in späteren Jahren häufig auf dieses Ereignis. Am Tatort der gewaltsamen Auseinandersetzung wurde ein Gedenkstein aufgestellt. Am Universitätshauptgebäude brachten sie eine Gedenktafel an, die einen SA-Mann in Uniform zeigte. Darunter stand: Für die Volksgemeinschaft und im festen Glauben an das Dritte Reich fielen im Kampfe der Student Bruno Reinhard, der Kaufmann Herbert Schuhmacher, der Arbeiter Ulrich Massow. An dieser Stätte deutschen Wesens und Wissens gedenken wir ihrer Allzeit in Ehren.91 Zudem wurde im Herbst 1933 dem Kameradschaftshaus des NSDStB der Name „Reinhardhaus“ verliehen und auf einem Ehrenmal in der Universität der Greifswalder „SA-Gefallenen“ gedacht. Schließlich erschien 1933 in der Greifswalder Universitätszeitung ein Sonderheft, in der die Ereignisse aus nationalsozialistischer Sicht beschrieben und die getöteten SA-Männer als Märtyrer dargestellt wurden. Manfred Pechau leitete aus dem Tod der drei SA-Männer die Verpflichtung ab, ebenfalls das Leben für den Nationalsozialismus einzusetzen.92 Nicht weniger pathetisch verherrlichte der spätere Führer der Deutschen Dozentenschaft, Heinz Lohmann, die Ereignisse in seinem Buch ,SA räumt auf‘.93 Darin betonte er insbesondere seine eigene Rolle bei dem Sturm auf die Loitzer Baracken im Jahr 1932. Die Darstellung unterschied sich wenig von anderen subjektiv gefärbten Verklärungen des „Greifswalder Blutsonntages“ und doch wurde sie zum Bestandteil einer parteiinternen Auseinandersetzung um die Macht an den Hochschulen. Mit der Machtübernahme bemühten sich die Nationalsozialisten nun auch, die Bereiche der Hochschulen für sich zu gewinnen, die ihnen bisher in weiten Tei89

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Die Auflistung der Universität vermerkte acht Namen: Erika Matze, Ernst Askenasy, Walter Lewy, Arkadi Frenkel, Gerhard Stapler, Gerhard Will, Betty Waldheim, Gottfried Sello. Von den Genannten waren nur Walter Lewy, Arkadi Frenkel und Gerhard Stapler „reine Juden“. Walter Orloff wurde als amerikanischer Staatsbürger nicht mit aufgeführt. Dafür tauchte der Name Ilse Reinke auf, die auf der vorangegangenen Liste nicht erwähnt wurde. Vgl. UAG, R 376, Verzeichnis der an der Universität Greifswald immatrikulierten Juden; sowie UAG, R 376, Besprechung Dekane Universität Greifswald mit Führer der Studentenschaft, 07.07.1933. UAG, R 376, Besprechung Dekane Universität Greifswald mit Führer der Studentenschaft, 07.07.1933. Abbildung, in: Greifswalder Universitätszeitung. Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald 8 (1933), S. 1. Manfred Pechau, Was wir unseren Toten schuldig sind, in: Greifswalder Universitätszeitung. Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald 8 (1933), S. 13–15. Vgl. Heinz Lohmann, SA räumt auf! Aus der Kampfzeit der Bewegung, Hamburg 1933.

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len verschlossen gewesen waren. Dies betraf insbesondere die Hochschullehrerschaft. In der Folge konkurrierten eine Reihe von Parteistellen und das zuständige Reichserziehungsministerium (REM) um die Auswahl, ideologische Kontrolle und Berufung der Hochschullehrer. Auf der einen Seite stand das Reichserziehungsministerium, welches die neu gegründeten Dozentenschaften sowie die Fachschaften des NS-Lehrerbundes an den Universitäten kontrollierte. Die Verantwortlichen im REM hatten eine gemeinsame Greifswalder Vergangenheit: Joachim Haupt fungierte als Ministerialrat, Reinhard Sunkel als Ministerialdirektor und Theodor Vahlen war Leiter des Amtes Wissenschaft. Zum Führer der Deutschen Dozentenschaft wurde der ehemalige Greifswalder Medizinstudent Heinz Lohmann ernannt.94 Auf der anderen Seite stand der von Rudolf Heß eingesetzte Stab der Hochschulkommission, der sich um Habilitationen, Ernennungen und Überwachungen der Hochschulen kümmern sollte. Geleitet wurde die Hochschulkommission von Professor Franz Wirz aus München, der jedoch wenig Interesse hatte, mit den vom REM geführten Dozentenschaften zusammenzuarbeiten, und stattdessen auf das System der Vertrauensmänner an den Medizinischen Fakultäten zurückgriff, das der Reichsärzteführer Gerhard Wagner installiert hatte.95 Das REM bemühte sich daher in der Folgezeit, den Einfluss der Hochschulkommission in Berufungsangelegenheiten zu begrenzen. 1935 trat der Konflikt zwischen REM und Hochschulkommission schließlich offen zutage. Geführt wurde er jedoch nicht innerhalb der beteiligten Institutionen, sondern auf persönlicher Ebene vor dem Obersten Parteigericht der NSDAP. Zunächst reichte Wirz vor dem Obersten Parteigericht eine Verleumdungsklage gegen Heinz Lohmann ein. Hierbei beschuldigte er Lohmann der systematischen Hetze gegen die Vertrauensmänner und warf ihm parteischädigendes Verhalten vor. Zudem erklärte er, dass Lohmann seine Rolle während der Kampfzeit in Greifswald in seinem Buch ,SA räumt auf‘ maßlos übertrieben habe.96 Im April 1935 zeigte der Konflikt zwischen Lohmann und Wirz auch Auswirkungen an der Universität Greifswald.97 Gaustudentenführer Manfred Pechau beklagte, dass an der Universität eine fortlaufende Beunruhigung infolge der Gegeneinanderarbeit verschiedener Kreise eingetreten sei.98 Der Greifswalder NSD-Studentenbund stellte sich in der Folgezeit auf die Seite Lohmanns. In der Auseinandersetzung vor dem Parteigericht gelang es Lohmann schließlich, die Vorwürfe zu entkräften. So präsentierte er für die Beurteilung seiner Rolle beim „Greifswalder Blutsonntag“ eine Reihe von Entlastungszeugen aus der Greifswalder Kampfzeit, die entweder

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Reece Conn Kelly, National Socialism and German University Teachers: The NSDAP’s Efforts to create a National Socialist Professoriate and Scholarship, Seattle 1973, S. 179. Ebd. BArch, OPG-Akten, Heinz Lohmann (10.09.1907), Antrag von Professor Franz Wirz auf Eröffnung eines Parteigerichtsverfahrens gegen Heinz Lohmann an das Oberste Parteigericht, 18.05.1935. Vgl. ausführlich dazu Mittenzwei, NSD-Studentenbund und NSD-Dozentenbund (Anm. 68), S. 122–128. BArch, R 4901/621, Manfred Pechau an Heinz Lohmann, 30.04.1935.

Der „Greifswalder Blutsonntag“ und die Universität

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zugunsten Lohmanns aussagten oder verschiedentlich Erinnerungslücken aufwiesen.99 Am 19. März 1936 wurde das Verfahren schließlich vom Gaugericht Berlin eingestellt.100 Die Hochschulkommission gewann somit die machtpolitische Auseinandersetzung. Am 24. Juli 1935 wurde der aus dem NS-Lehrerbund neu gegründete NSD-Dozentenbund der Partei unterstellt.101 Dennoch konnten sich auch die NSAktivisten als Gewinner fühlen. Der Mythos des „Greifswalder Blutsonntages“ blieb weiterhin unangetastet. Jan Mittenzwei Achtermannstr. 15, 13187 Berlin, [email protected]

Vgl. BArch, OPG-Akten, Heinz Lohmann (10.09.1907), Bescheinigung Manfred Pechau, 04.04.1935. 100 Vgl. BArch, OPG-Akten, Heinz Lohmann (10.09.1907), Aktenvermerk über Spruchsitzung des Obersten Parteigerichts am 10.11.1938, 12.01.1939. 101 Der NSD-Dozentenbund war somit neben dem NSD-Studentenbund die zweite Parteigliederung an den Universitäten. 99

DIE „TUPAMAROS WEST-BERLIN“ IM KONTEXT DES TRANSFORMATIONSZUSAMMENHANGS STUDENTISCHER IN TERRORISTISCHE GEWALT Wolfgang Kraushaar

Abstract: At the end of the 60s, many societies of the western industrialized nations saw the emergence of early terrorist movements from radicalized parts of the student movements at that time. This was the case in the USA with the “Weathermen”, in Japan with the “Nihon Sekigun”, in Italy with the “Brigate Rosse”, in France with the “Gauche Prolétarienne” and in Great Britain with the “Angry Brigade”. The Federal Republic of Germany was no exception in that regard. The first German urban guerilla was not, however, the “Red Army Fraction” (RAF) that was founded in May 1970, but the “Tupamaros West-Berlin” (TW) who started their actions half a year before that. The short history of the TW (1969–1972) who had a sister organization with the “Tupamaros München” (TM) let us follow the traces of a student sub-culture way better than the history of the RAF. This is the case because the TW were the result of two communes in Berlin – the “Kommune I” and the “Wieland-Commune”. Their armed and conspiratorially acting members even tried to continue to keep their sub-cultural habits alive after they went off the grid. Two of their most notable members were Georg von Rauch (1947–1971) and Thomas Weisbecker (1949–1972), two sons of University Professors from Kiel. Taking them as an example – both were shot and killed by the Police – we can observe the transformational process from militant students to terrorists in an exemplary manner.

Am Ende der 1960er Jahre gingen in vielen entwickelten Industriegesellschaften westlichen Typs aus radikalisierten Teilen der damaligen Studentenbewegungen erste terroristische Bewegungen hervor. Das war so in den USA mit den „Weathermen“, in Japan mit der „Nihon Sekigun“, in Italien mit den „Brigate Rosse“, in Frankreich mit der „Gauche Prolétarienne“ und in Großbritannien mit der „Angry Brigade“. Die Bundesrepublik Deutschland machte in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Jedoch nicht erst die im Mai 1970 gegründete „Rote Armee Fraktion“ (RAF) wurde als erste Stadtguerilla-Gruppierung gegründet, sondern die bereits ein halbes Jahr zuvor ins Leben gerufenen „Tupamaros West-Berlin“ (TW). Es war alles andere als Zufall, dass sich diese Radikalisierung hierzulande zuerst und am schärfsten in West-Berlin abgespielt hat. In der geopolitischen Abkapselung entstand eine eigene Studentenbewegung und aus ihr heraus etablierte sich wiederum ein ganz spezifisches Milieu, eine linksradikale Szene, wie sie nirgendwo sonst zu finden war. Von vorentscheidender Bedeutung war dabei ganz gewiss das Koordinatensystem des Kalten Krieges: West-Berlin war schließlich eine Insel im Ostblock. In dieser Stadthälfte drückte sich wie an keinem anderen Ort sonst sowohl die deutsche Teilung als auch der Systemkonflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus aus. Da hier beide Machtblöcke unmittelbar aufeinanderprallten, stand die westliche Stadthälfte politisch und kulturell wie unter Strom. Alle wichtigen

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Fragen, insbesondere solche weltanschaulicher Natur, waren hochgradig aufgeladen. Wer zu jener Zeit in West-Berlin lebte, der musste offenbar Position beziehen. Eine unentschiedene, ausweichende Haltung zu den brennendsten Problemen konnte sich kaum jemand leisten. Für die große Mehrzahl der Bevölkerung hieß das allerdings Antikommunismus. Das galt für Christdemokraten ebenso wie für Sozialdemokraten. Gegen diese Haltung begann ein Teil der jüngeren, insbesondere der akademischen Generation zu rebellieren. All dies schlug sich auch im besonderen Charakter der Freien Universität (FU) nieder. Sie war ja 1948 aus einem Konflikt mit den östlichen Machthabern hervorgegangen und beanspruchte schon von ihrem Namen her, eine Antithese zur Erziehungsdiktatur des sozialistischen Staates zu sein. Insofern symbolisierte die FU einen weltanschaulichen Anspruch, den es, wenn nicht einzulösen, so zumindest hin und wieder zu überprüfen galt. Die akademische Institution verkörperte wie keine zweite den Wertekodex des sogenannten „freien Westens“. Die in einer beschaulichen Umgebung im Stadtteil Dahlem angesiedelte Universität lag in Wirklichkeit an einer ideologischen Front. Nicht zufällig wurden die uneingelösten Werteimplikationen ihrer Gründung in dem Moment virulent, als die USA 1965 dazu übergingen, in Vietnam einen offenen Krieg zu führen. Die antikommunistische Rechtfertigung dieses Einsatzes, der schließlich über ein Jahrzehnt anhalten sollte, ging mit einem erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust einher. Der Garant westlicher Freiheit erschien plötzlich als imperiale Macht, die auch vor der Unterdrückung eines armen südostasiatischen Volkes nicht zurückschreckte. Diese Desillusionierung bildete zusammen mit der Unaufrichtigkeit in der älteren Generation gegenüber der NS-Vergangenheit, dem Mangel einer parlamentarischen Opposition nach der Koalitionsbildung von Christund Sozialdemokraten in Bonn und der Furcht vor der Inauguration eines neuerlichen autoritären Staates mittels der Notstandsgesetze ein Gemisch grundsätzlicher Zweifel an der Verfasstheit des westlichen Demokratiemodells. Der Funke eines einzelnen Ereignisses reichte nun aus, um die Revolte zu entfachen. Dieser Funke bestand in der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizisten am Rande der Anti-Schah-Demonstration vom 2. Juni 1967. Während zuvor verschiedene andere Konflikte noch im Rahmen der Universität versandet waren, entzündete sich durch den Tod eines Kommilitonen nicht nur die Stimmung in der geteilten Stadt, sondern der Funke sprang auch auf die Hochschulen und Universitäten Westdeutschlands über. Zwei Gewaltereignisse waren schließlich von ausschlaggebender Bedeutung – die Attacken auf das Gebäude des Axel-Springer-Verlags nach dem DutschkeAttentat Ostern 1968 und einige Monate später die Angriffe auf die Polizei bei der sogenannten „Schlacht am Tegeler Weg“. Der Mordanschlag auf Rudi Dutschke, die unbestrittene Gallionsfigur der Bewegung, und die Anklage gegen Rechtsanwalt Horst Mahler, der vor dem Moabiter Kriminalgericht beschuldigt wurde, durch seine Teilnahme an den Protestaktionen gegen das Verlagshaus Axel Springer nach dem Dutschke-Attentat die Standesehre und seine Berufspflichten verletzt zu haben, wurden mit Angriffen auf die eigene Identität gleichgesetzt. In beiden Fällen war es so, als sei von einer latent vorhandenen Gewaltbereitschaft ein unsichtbarer Riegel

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weggezogen worden. Da das Attentat des rechtsradikalen Josef Bachmann als Folge einer systematischen Hetzkampagne der Springer-Presse angesehen wurde, kam es bereits am Abend des 11. April 1968 an dem nahe der Berliner Mauer gelegenen Verlagsgebäude zu ersten massiven Versuchen, die Auslieferung der Springer-Zeitungen zu verhindern. Rund 2 000 Studierende wollten mit aller Kraft das Springer-Hochhaus in der Kochstraße stürmen. Nachdem es starken Polizeikräften gelungen war, die Erstürmung des Gebäudes zu verhindern, wurden zahlreiche Lieferwagen in Brand gesetzt. Tatkräftige Hilfe leistete dabei mit Peter Urbach ein Agent Provocateur des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz. Er hatte in einem Korb Molotow-Cocktails vorbereitet, die er unter den empörten Demonstranten verteilte. Zusammen mit den beiden Kommunarden Michael Baumann und Fritz Teufel fuhr er anschließend mit einem VW-Käfer durch die Stadt, um nach neuen Anschlagszielen Ausschau zu halten. Am 4. November 1968 rannten vom frühen Morgen an 1 000 Studierende mit wehenden roten Fahnen und dem Sprechchor Hände weg von Mahler gegen von der Polizei vor dem Berliner Landgericht am Tegeler Weg errichtete Absperrgitter an. Die zum Teil behelmten Demonstranten wollten sich durch ihre Aktion mit einer Symbolfigur der APO-Szene solidarisieren. Der Generalstaatsanwalt beim Kammergericht des Landes Berlin hatte gegen den 32-jährigen Rechtsanwalt Horst Mahler, der so viele Demonstranten und Aktivisten der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) wie kein anderer seiner Anwaltskollegen verteidigt hatte, ein Ehrengerichtsverfahren bei der Berliner Rechtsanwaltskammer beantragt. Axel Springer persönlich hatte Mahler auf die Zahlung der am Springer-Hochhaus entstandenen Schäden in Höhe von mehr als einer halben Million Deutsche Mark verklagt. Der „Sozialistische Deutsche Studentenbund“ (SDS) sah in dem juristischen Schritt einen weiteren Versuch, die APO zu kriminalisieren und sie einer ihrer wichtigsten anwaltlichen Stützen zu berauben; deshalb hatte er zur Protestaktion am Tegeler Weg aufgerufen. Die 400 eingesetzten, noch nicht mit Helmen, sondern den traditionellen Tschakos ausgerüsteten Polizisten waren von dem in seiner Massivität unerwarteten Angriff völlig überrascht. Vergeblich versuchten sie, unter einem Hagel roter Farbeier, um sie herum detonierender Knallkörper und Unmengen von Pflastersteinen in Deckung zu gehen. Bald schon stellte sich heraus, dass die Uniformierten dem Ansturm nicht gewachsen waren. Sie mussten immer wieder zurückweichen, um sich vor den Wurfgeschossen zu schützen. Als die Wurfmunition auszugehen drohte, hielten die von einer Gruppe von Rockern unterstützten Studierenden einen mit Ziegelsteinen beladenen Lastkraftwagen an und bedienten sich. Die Polizisten, die mehr und mehr Verletzte zu beklagen hatten, gingen nun dazu über, selbst zu den Pflaster- und Ziegelsteinen zu greifen und diese zurückzuwerfen. Aber auch eine zur Verstärkung eingesetzte Hundertschaft konnte das Blatt nicht wenden. Erst als eine Reiterstaffel dazwischenpreschte, wurden die Angreifer, die das Gerichtsgebäude trotz aller Anläufe nicht hatten einnehmen können, zurückgedrängt und auseinandergetrieben. Das Fazit der Straßenschacht lautete: 130 verletzte Polizisten, 22 verletzte Demonstranten, ein von Rockern umgeworfener Rentner, der mit einem Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, mehrere verletzte Poli-

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zeipferde und über 2 000 umherliegende Pflastersteine. Das Verfahren, um das es ursprünglich ging, war durch den Gewaltausbruch beinahe in den Hintergrund gedrängt worden. Das Ehrengericht der Berliner Anwaltskammer wies den Antrag des Generalstaatsanwalts beim Kammergericht zurück. Der Versuch, gegen den Rechtsanwalt, der sich nur kurze Zeit später auf die Suche nach geeigneten Mitkämpfern machte, mit denen er die spätere RAF gründete, ein Berufsverbot zu verhängen, war vorerst gescheitert. Im Jubel über die vermeintlich gewonnene Schlacht ging unter, dass die zusätzliche Gewalteskalation nichts anderes als ein weiteres Zeichen für den Zerfall der außerparlamentarischen Bewegung darstellte. Mit den tagelang anhaltenden Oster-Unruhen im April und den gescheiterten Protest- und Widerstandsaktionen gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai hatte die 68er-Bewegung ihren Zenit bereits überschritten. Der gestiegene Anteil der Militanz war umgekehrt ein Indiz für die allmählich schwindende politische Dimension der Rebellion. Je mehr auf der einen Seite gewaltbereite Akteure in den Vordergrund drängten, umso stärker verwischten sich auf der anderen Seite die Zielsetzungen. Die zunehmende Fetischisierung der Gewaltmittel und eine um sich greifende politische Orientierungslosigkeit gingen Hand in Hand.

DIE LINKSRADIKALE BERLINER SUBKULTUR-SZENE Das gesamte Jahr 1969 war in West-Berlin von einer folgenreichen Entmischung und Neuformierung der Szene geprägt. Der im Sommer 1967 begonnene Aufbruch war zum Stillstand gekommen und die Muster kollektiver Empörung hatten sich offenbar verbraucht. Die Protestbewegung hatte ihre Kohäsionskraft mehr und mehr eingebüßt. Doch das Potential an Akteuren, deren Zahl in die Tausende ging, blieb auch weiterhin vorhanden. Zentrum der Aktivitäten war nicht mehr die FU Berlin. Der Schwerpunkt verlagerte sich mehr und mehr von Dahlem nach Charlottenburg und in andere Teile der Stadt. Nun galt, was viele sich nicht einzugestehen bereit waren: Die Bewegung war im Grunde vorüber. Was zurückblieb, war ein hedonistisches Milieu, eine spezifische Form der Subkultur. Aus der Dynamik von Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen hatten sich stationäre Elemente herausgeschält. Kommunen und Wohngemeinschaften, deren Zahl auf mehrere Hundert veranschlagt werden musste, bildeten dabei nichts weniger als das Rückgrat der Szene. Aber auch Cafés, Teestuben und Kneipen kristallisierten sich als Anlaufpunkte heraus und traten zunehmend in den Vordergrund. Dabei spielte der Drogenkonsum eine immer größere Rolle. Zunächst wurden Haschisch, Lysergsäurediethylamid (LSD) und Marihuana konsumiert, später auch Opium, Meskalin und Heroin – letzteres zumeist in Form der sogenannten „Berliner Tinke“, einem mit Heroin versetzten Essiggemisch. Die Hemmschwellen waren niedrig und die Übergänge von weichen zu harten Drogen fließend. Das meiste hatte zu dieser Zeit noch den Touch einer „bewusstseinserweiternden Funktion“. Da sich der Drogenkonsum keineswegs im Geheimen vollzog, sondern mit Parolen wie Am Morgen ein Joint und der Tag ist dein Freund! in aller Öffentlichkeit dafür

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geworben wurde, ließen die Folgen nicht lange auf sich warten. Wochenlang kam es in den einschlägigen Lokalen wie dem „Zodiac“ am Halleschen Ufer, dem „Pan“ in der Fasanenstraße, dem „Park“ in Halensee und dem „Mr. Go“ in der Yorckstraße allabendlich zu Razzien. Doch die jugendlichen Konsumenten ließen sich nicht so einfach kriminalisieren. Nicht wenige von ihnen reagierten mit unerwarteter Militanz auf die fortwährenden Durchsuchungsaktionen und deckten die eintreffenden Polizeifahrzeuge ein ums andere Mal mit einem Steinhagel ein.1 Sie litten nicht an einem Mangel an Selbstbewusstsein und bezeichneten sich von nun an als Haschrebellen. Mit dem Gestus, dass auch noch die Flucht aus dem Alltagsbewusstsein ein Protestakt sei, gingen sie in die Offensive und forderten die Legalisierung von „Pot“.2 Auf einem Flugblatt wurde nun nach dem Vorbild der kalifornischen Hippies für ein erstes Smoke-In im Tiergarten geworben. Ihre anarchistisch angehauchte Parole lautete: Haschisch, Opium, Heroin für ein schwarzes West-Berlin! Am 5. Juli 1969, einem Samstag, trafen sich mehrere Hundert dieser Haschrebellen an einer hinter dem Zoo im Tiergarten gelegenen Stelle, machten Musik und hielten wie angekündigt ihr Smoke-In ab. Die Polizei griff nicht ein. Der Einzige, der Schwierigkeiten bekam, war ein gewisser Georg von Rauch. Nach dem Genuss von Haschkeksen blieb er besinnungslos im Gebüsch liegen. Nachdem ihm der Magen ausgepumpt worden war, wurde er wegen des Besitzes von Haschischresten in Untersuchungshaft genommen. Der Sohn des gleichnamigen Kieler Universitätsprofessors Georg von Rauch, der als einer der renommiertesten Osteuropa-Experten galt, war die Gallionsfigur der Szene. Immer wenn es militante Aktionen gab, stand er in der ersten Reihe. Gemeinsam mit Michael „Bommi“ Baumann und anderen gehörte er zur „WielandKommune“. Zusammen mit seinem Freund Thomas Weisbecker, auch er Sohn eines Kieler Universitätsprofessors – ein Mediziner jüdischer Herkunft, ehemaliger Buchenwald-Häftling, der zu jener Zeit als Rektor gegenüber den aufbegehrenden Studenten einen schweren Stand hatte –, zählte er zu den wenigen Studenten unter den Haschrebellen. Einen Sommer lang spielten sie zusammen mit einigen Versprengten aus der „Kommune I“ in der Berliner Subkultur, dem „Blues“, die erste Geige.3 Sie galten als der harte Kern der Szene, in gewisser Weise als ihr militanter Flügel. Ihre Flugblätter sind von einem ominösen „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ unterzeichnet. Der Name war allerdings nicht wörtlich zu verstehen. Die Bezeichnung, die von dem Kommune-Begründer Dieter Kunzelmann stammen soll, bezog sich auf

1

2

3

Vgl. o. V., Steinhagel aus dem „Unergründlichen“, in: Der Abend (27.06.1969). Einer der SzeneTreffpunkte war das am Charlottenburger Fasanenplatz gelegene In-Lokal mit dem merkwürdigen Namen „Unergründliches Obdach für Reisende“. „Pot“ ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Drogen, die Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) enthalten. Das ist der Hauptwirkstoff von Cannabis (Haschisch, Marihuana). THC löst psychische Effekte wie Euphorie, Entspannungs- und Unbeschwertheitsgefühle, zuweilen aber auch Angstzustände aus. Vgl. Günter Langer, Der Berliner „Blues“. Tupamaros und umherschweifende Haschrebellen zwischen Wahnsinn und Verstand, in: Che Schah Shit. Die sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow, hg. von Eckhard Siepmann (BilderLeseBuch), West-Berlin 1984, S. 195–203; o. V., Der Blues. Gesammelte Texte der Bewegung 2. Juni, Dortmund 2001.

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eine Schrift Mao Tse-tungs4 und war als eine Persiflage auf die zur selben Zeit in ihrer Gründungsphase begriffenen ersten maoistischen Sekten zu verstehen.

DIE „TUPAMAROS“ Als im Oktober 1969 in der wichtigsten Zeitschrift der Neuen Linken, dem „Kursbuch“, wie damals üblich in Plakatform als Beilage ein „Kursbogen“ erschien, wurde deutlich, dass dessen Herausgeber – der Lyriker und Essayist Hans Magnus Enzensberger – wohl ein intellektueller Sympathisant des bewaffneten Kampfes geworden sein musste. Am Kopf des bräunlichen Papierbogens prangte ein bis dahin in Deutschland unbekanntes Emblem: ein fünfzackiger roter Stern mit einem schwarzen „T“ in seiner Mitte. Im Laufe von nur wenigen Wochen und Monaten wurde es in West-Berlin und München zum Erkennungszeichen bei Brand- und Bombenanschlägen. Mit dem „T“ gemeint waren die „Tupamaros“ in Uruguay, die erste Stadtguerilla-Gruppierung, die es weltweit gab. In dem „Kursbogen“, der eine Montage von Erfolgsnachrichten über Aktionen der „Tupamaros“ enthielt, wurden die Guerilleros als Vorbild hingestellt. Im Zentrum des Blattes stand in fetten Lettern: Stadtguerilla | Neue Strategie. Der „Kursbogen“ war unzweifelhaft eine Werbung dafür, sich das Modell der lateinamerikanischen Stadtguerilla einmal genauer anzusehen. In diesem Sinne hieß es in einem Kommentar über „Die Tupamaros und die europäische Linke“: Was die Originalität der Tupamaros ausmacht, ist nicht ihre politische Theorie, sondern ihre Praxis. Die ideologische Plattform der Befreiungsbewegung [. . .] spiegelt lediglich cubanische Positionen wider und enthält kaum Hinweise auf selbständige theoretische Arbeit. Dagegen ist die Praxis der Bewegung von strategischer Bedeutung auch für Europa, weil sie unter großstädtischen und hochindustriellen Bedingungen entfaltet worden ist, und zwar in einem Land, das lange Zeit als Musterdemokratie („die Schweiz Lateinamerikas“) gegolten hat.5

Als ihre größte Leistung wurde dabei ausgegeben, dass ihre Aktionen mobilisierend wirkten und „von den Massen“ umstandslos verstanden würden. Abschließend hieß es über die „Tupamaros“: Ihre Praxis unterwirft somit die Aktivität der revolutionären Bewegungen in Europa einer vernichtenden Kritik. Wer sie mechanisch nachahmt, hat sie nicht verstanden; wer ihr Beispiel ergreifen will, muß nicht auf Uruguays, sondern auf die neuralgischen Punkte seiner eigenen Gesellschaft zielen.6

Mit anderen Worten: Ihr Modellcharakter bestand nicht darin, eine bislang an den Tag gelegte Praxis zu kopieren, sondern an ihrem Vorbild eine eigene, auf die Bedingungen des eigenen Landes spezifizierte Form der Praxis zu entwerfen. Nicht

4 5 6

Mao Tse-tung, Über die Mentalität umherschweifender Rebellenhaufen, in: Mao Tse-tung. Ausgewählte Werke, Bd. 1, Peking 1966, S. 129. K. B., Die Tupamaros und die europäische Linke, in: Kursbogen als Beilage zu Kursbuch 5 (1969), Nr. 18. Ebd.

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die Guerilla und ihre Aktionen seien also das Problem, sondern die Herausforderung, diesen Ansatz in einer Form der Stadtguerilla zu spezifizieren und zu konkretisieren. Nie waren die „Tupamaros“ in der Bundesrepublik und in West-Berlin populärer als in der Zeit vom Herbst 1969 bis zum Sommer 1970. Sie verkörperten eine Art Robin-Hood-Effekt7 in einer seit dem Ende der APO und der reformerischintegrativen Sogwirkung der sozialliberalen Koalition immer perspektivloser werdenden Neuen Linken. Die insgeheime Parole lautete: Gewalt anwenden und damit zugleich etwas Gutes tun. Nicht ohne Grund befasste sich in dieser Zeit eine Vielzahl von Publikationen mit der uruguayischen Stadtguerilla.8 Doch es blieb nicht bei publizistischen Imitationen. Innerhalb kürzester Zeit versuchte die Kerngruppe der Haschrebellen das südamerikanische Modell auch praktisch zu kopieren.9 Nach dem Besuch eines sogenannten „Knast-Camps“, mit dem im fränkischen Ebrach gegen die Haftstrafe für einen Münchner Demonstranten protestiert werden sollte,10 einem wochenlangen Italien-Aufenthalt und einer Reise in den Nahen Osten, wo sich fünf Ex-Kommunarden, darunter Dieter Kunzelmann und Georg von Rauch, in einem in Jordanien gelegenen Palästinenserlager von „Al-Fatah“-Mitgliedern militärisch ausbilden ließen, kehrten sie Ende Oktober nach West-Berlin zurück. Sie waren fest entschlossen, in den Untergrund zu gehen und eine erste Guerilla-Organisation aufzubauen. Die Entscheidung, sich dabei nach den bereits seit 1964 in Uruguay im Untergrund operierenden „Tupamaros“ zu benennen, hatte mehr als nur symbolische Gründe. Es ging nach der Rückkehr von der „Palästina-Reise“ offenbar darum, die offene Form aus der Zeit des „Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen“ abzulösen durch eine neue, der Praxis im Untergrund angemessenen Organisationsform in einzelnen abgeschotteten und zum Teil auch untereinander abgekapselten Zellen. Dafür schienen die bewaffneten Aktionen der „Tupamaros“ in Montevideo eher ein erfolgversprechendes Modell abzugeben als die aus der durch die Kommune-Ära subkulturell geprägte Phase der Haschrebellen. Mit der Rückkehr der Kunzelmann-Gruppe nach West-Berlin änderte sich innerhalb weniger Tage Entscheidendes. Kunzelmann und seine Gefährten waren kaum noch wiederzuerkennen. Durch Kurzhaarfrisuren hatten sie die Einbindung in die Subkultur zwar nicht aufgekündigt, jedoch unmissverständlich klargemacht, wo nun ihre Prioritäten lagen. Äußerlich als Haschrebellen wahrgenommen zu werden, hätte 7

In dem Kommentar heißt es ebd. weiter, dass die uruguayische Stadtguerilla mit peinlicher Sorgfalt vorginge: Unbeteiligte dürfen nicht zu Schaden kommen. Jeder auch nur scheinbare Angriff auf die Interessen der Lohnabhängigen unterbleibt. Lohnausfälle und Sachschäden werden ersetzt. Das gilt sogar für die Croupiers des überfallenen Spielkasinos. Vgl. Alain Labrousse, Die Tupamaros. Stadtguerilla in Uruguay (Reihe Hanser 65), München 8 1971; Alex Schubert, Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay – Rote Armee Fraktion in der Bundesrepublik (Rotbuch 26), West-Berlin 1971. Als mit Dieter Kunzelmann im Juli 1970 der Kopf der „Tupamaros West-Berlin“ verhaftet wurde, 9 fand man in seinem Unterschlupf neben einer Vielzahl an schriftlichen Unterlagen auch jenen heroisierenden „Kursbogen“ vom Oktober 1969. Sich in der sozialromantischen Darstellung der „Kursbuch“-Autoren widerzuspiegeln, dürfte ihm nicht schwergefallen sein. 10 Vgl. Werner Kohn, In der Provinz – 1968 (Das Foto-Taschenbuch 12), West-Berlin 1988; Ders. (Hg.), In Bamberg war der Teufel los. K(l)eine 68er APOlogie, Bamberg 1993.

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ihre Untergrund-Strategie nur unnötig gefährdet. Sie benötigten zwar die militante Subkultur weiter, aber eher als Unterstützer-Szene, auf die jederzeit zurückgegriffen werden konnte. Was dagegen aufgehört hatte, war die öffentliche Selbstinszenierung als gegenkultureller Entwurf zu der in West-Berlin als besonders stark empfundenen „Tyrannei des Kleinbürgertums“. Mit der Deponierung einer Bombe am 9. November 1969, dem Jahrestag des nationalsozialistischen Novemberpogroms, im Jüdischen Gemeindehaus setzte eine ganze Serie von Anschlägen ein.11 Aus der Szene der ehemaligen Haschrebellen ging plötzlich eine Vielzahl an terroristischen Aktivitäten hervor. Ein Journalist fasste den rapiden Wandel anderthalb Jahrzehnte später in den Worten zusammen: In dem Zeitraum vom Juli bis November 1969 stellte die Polizei in Berlin eine bemerkenswerte Ruhe fest. Es gab keine „nennenswerten Straftaten“, registrierte die Senatsverwaltung für Inneres. Dieser Umstand wurde auf die Abwesenheit Kunzelmanns und seiner Gesinnungsgenossen zurückgeführt. In dem Bericht über das zweite Halbjahr 1969 heißt es: „Die Situation änderte sich schlagartig, als Kunzelmann mit seinem Anhang im November 1969 wieder nach Berlin zurückkehrte.“12

Für die Beamten der Politischen Polizei, die mit einer Sonderkommission die Ermittlungen nach den Urhebern der Bombenanschläge aufgenommen hatten, gab es deshalb von Anfang an keinen Zweifel, wer hinter diesen Attacken steckte. Es mussten die ehemaligen Haschrebellen sein, die nun offenbar aufs Ganze gehen wollten. Anschlagsziele waren mit Staatsanwälten und Richtern vor allem Vertreter der verhassten Justiz, die Polizei, Kaufhäuser sowie amerikanische, jüdische und israelische Einrichtungen. Es ging Schlag auf Schlag. Die Politische Polizei listete im Januar 1970 auf, dass seit dem Auftakt im Jüdischen Gemeindehaus zahlreiche weitere Anschläge mit Spreng- und Brandsätzen in West-Berlin verübt worden waren. Zum Jahreswechsel 1969/70 hingen an den Litfaßsäulen bereits die ersten Plakate mit Steckbriefen aus. Die Überschrift lautete: Gesuchte Anarchisten. Die Fahndungsaktivitäten der Polizei wurden nach der ersten Anschlagswelle, wie nicht anders zu erwarten, maßgeblich verstärkt. Und der Druck auf die gewaltbereiten Teile der Subkultur nahm von Tag zu Tag stärker zu. Doch die „Tupamaros“ hatten ein ganzes Netz an Kommunen und Wohngemeinschaften aufgebaut, die sie als konspirative Wohnungen nutzen konnten. Mit den Erfahrungen, die sie zwei Jahre lang mit dem Hit-and-Run bei militanten Demonstrationen gewonnen hatten, kamen sie jedoch kaum weiter. Nun versuchten sie beim Untertauchen Geschick zu beweisen. Mal nannten sie sich Palästina-Fraktion, mal Schwarze Ratten TW, mal Panthertanten, mal Onkel Tuca, mal Amnestie International oder Viva Maria. Bei den Bezeichnungen handelte es sich nicht um Organisationsbezeichnungen in einem festen Sinne, sondern um vorübergehende Namensnennungen für bestimmte Kommandoaktionen. Das alles war offenbar als Teil eines Verwirrspieles gedacht. Zum

11 12

Vgl. Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005. Werner Kahl, Vorsicht Schußwaffen! Von kommunistischem Extremismus, Terror und revolutionärer Gewalt, München 1986, S. 54.

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einen sollten die Namen den Fahndungs- und Ermittlungsbehörden eine höhere Verbreitung und eine insgesamt sehr viel größere Stärke vorgaukeln, zum anderen aber auch die Identifizierbarkeit der Aktionskommandos erschweren. Die Verteufelung der Justiz und die Verherrlichung des Gesetzesbruchs, ja des Verbrechens gingen Hand in Hand. In einem „Kriminellen Katechismus“ wird das große Loblied auf Gangster aller Herren Länder gesungen: An einem Verbrechen ist nichts zu verachten. Im Gegenteil: ein Verbrechen ist immer ein Act des Muts. Verächtlich wird es erst dann, wenn man so dumm war, sich erwischen zu lassen. Aber auch dieser Fehler kann durch mutigen kämpferischen Widerstand bei der Verhaftung, stolzes kriminelles Verhalten während des Prozesses und durch unbeugsame renitente Kampflust im Strafvollzug wieder gut gemacht werden!13

Als besonders vorbildlich wurden prominente Mitglieder der Black-Power-Bewegung wie Eldridge Cleaver und Malcolm X herausgestellt, wobei auf deren Zuchthausstrafen Bezug genommen wurde: Cleaver war mit elf Jahren und Malcolm X mit zehn Jahren Zuchthaus bestraft worden. Auch Stokely Carmichael, der bereits als Sechzehnjähriger Autos geknackt und später mit „Rauschglück“ gedealt hatte, wurde als jemand genannt, dem es nachzueifern galt. In einem weiteren Schritt jedoch wurde auf den letzten Rest einer politischen Begründung verzichtet und der „reine Kriminelle“ regelrecht in den Himmel gehoben: Große Gangster wie Capone [. . .] haben für uns den gleichen Wert wie Christus für die Christen, Marx für die Sozialisten [. . .]. Wer klaut, krönt sich selbst zum König. Er macht sich frei, unabhängig von den Ausbeutern. Für ihn kann alles laufen wie es läuft. Er wird nicht mehr von außen dirigiert. Sein Weg wird nur von ihm selbst bestimmt.14

Mit anderen Worten: Nur derjenige, der es wagte, das Gesetz zu brechen, war in ihren Augen wirklich autonom. Die hemmungslose Romantisierung der Kriminalität wurde hier zum Programm erhoben. Die von den Haschrebellen und den „Tupamaros West-Berlin“ favorisierten Parolen waren entsprechend: High sein, frei sein – Terror muss dabei sein, Macht kaputt, was euch kaputt macht oder Pig is pig und pig muß putt. In den auf militanten Demonstrationen skandierten Sprüchen verriet sich nicht nur ein cartoonartig-klischeehafter Bewusstseinsstand, sondern auch ein geradezu überschäumendes Aggressions- und Destruktionspotential. Sie pendelten zwischen einem in der Szene bereits ohnehin verbreiteten Sarkasmus und einem menschenverachtenden Zynismus hin und her. Die Hassgefühle und Eliminierungsphantasmen gegenüber der Polizei wurden regelrecht kultiviert. Die Kombination von Gewaltobsession und Rauschzustand wurde als Krönung eines Freiheits- und Unabhängigkeitsgefühls gefeiert. In der Ankündigung eines Teach-Ins im Audimax der Technischen Universität gaben sie beispielsweise ein Bekenntnis ab, in dem sie ihre Aktivitäten

13 14

Langer, Der Berliner „Blues“ (Anm. 3), S. 36. Ebd. Der letzte Abschnitt findet sich auch in einer Dokumentation, die das Redaktionskollektiv der „Agit 883“ gegenüber dem, wie es heißt, kleinbürgerlichen Anarchismus des Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen und der Palästinafront (tw) mit einer distanzierenden Vorbemerkung abdruckte: Der naive Anarchismus. Drei Dokumente, in: Agit 883 1 (1969), Nr. 41, S. 7.

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jeglicher Zielgerichtetheit entkleideten und sie auf unterschiedliche Modalitäten von Triebabfuhr reduzierten. Unter der Überschrift Superkultur hieß es: Wir sind Energiebündel, wir erlangen Befriedigung durch Entladung. Denn Spannung in unserem Körper können wir über Sex, Sprache, Musik, Bewegung, Terror Entladungsmöglichkeiten geben. Nun haben wir uns bewusstseinserweiternder Mittel bedient und sehen, dass uns unser Bewußtsein überholt hat. Die Möglichkeiten in unseren Köpfen sind „super“, die Möglichkeiten unsere „Supergedanken“ mitzuteilen sind dagegen noch äußerst begrenzt. Unsere Entladungsventile sind noch auf das „Normal-Bewusstsein“ eingestellt, auf ein mausgraues Bewusstsein mit meist ebenso farblosen Entladungen. Wir sehen den Riss zwischen unseren Köpfen und unserem wirklichen Verhalten. Lasst uns gemeinsam diesen uns so lähmenden Riß zusammenfügen.15

Hier war die Rede von der Diskrepanz zwischen Rausch- und Normalzustand, die es gemeinsam zu überwinden gelte. Ihr Ziel bestand offenbar in der Ausbreitung einer Art ozeanischen Wohlgefühls. Sex, Sprache, Musik, Bewegung und Terror waren demnach nichts anderes mehr als unterschiedliche Energieströme. Gepredigt wurde ein kruder Vitalismus, der in mancher Hinsicht an die Theorien des 1934 aus der „Psychoanalytischen Vereinigung“ ausgeschlossenen Wilhelm Reich erinnerte, dessen Schriften seit zwei Jahren in der antiautoritären Bewegung eine lebhafte Renaissance erfuhren und durch Raubdrucke eine erhebliche Verbreitung fanden.16 Bemerkenswert war, dass Terrorakte bedenkenlos in dieses triebenergetische Modell integriert wurden. Einen Anschlag zu verüben, wäre demnach nichts anderes als eine weitere Entladungsmöglichkeit gewesen, die der Körper dem Subjekt zur Verfügung stellte, um sich ein Hochgefühl wie beim Geschlechtsakt zu verschaffen. Alles diente unterschiedslos dem Spannungsabbau und dem Wohlgefühl. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die „Tupamaros West-Berlin“ bereits mit ihrem ersten Anschlag, der Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, derartig diskreditiert hatten, dass dies gleichbedeutend mit einer Art Exkommunikation aus der linksradikalen Szene gewesen sein könnte. Mit Günter Langer schrieb einer der Haschrebellen im Nachhinein, dass sich diese Aktion als fatal erwiesen hätte: Die Ablehnung dieser Tat war so total, dass die Gruppe dadurch auch innerhalb der Linken vollkommen isoliert blieb.17 Langer ging sogar so weit, daraus das Scheitern der gesamten Gruppierung herleiten zu können: Einige folgende, weniger spektakuläre Aktionen, die mit dem Kürzel TW in Verbindung gebracht wurden, konnten das Scheitern der Gruppe aber nicht mehr verhindern. Sie löste sich auf und ihre Spur verlor sich in der vorher so belächelten Subkultur.18

Doch das war nur ein Teil der Wahrheit.

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Der naive Anarchismus (Anm. 14), S. 7. Der Entdecker der „Orgasmustheorie“ war in seinem Spätwerk der Idee anheimgefallen, psychische Prozesse als Ausdrucksformen einer „Orgonenergie“ biologisch fundieren zu können. Dieses „Orgon“, davon war Reich überzeugt, sei eine allumfassende Energieform, eine sich auf alle Lebensbereiche auswirkende Bioenergie. Er glaubte damit die biophysikalische Grundlage für die Wirksamkeit der Psychotherapie entdeckt zu haben. Langer, Der Berliner „Blues“ (Anm. 3), S. 201. Ebd.

Die „Tupamaros West-Berlin“ im Kontext des Transformationszusammenhangs

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DIE „BEWEGUNG 2. JUNI“ Die andere Spur der „Tupamaros West-Berlin“ führte zu einer weiteren GuerillaGruppierung, einer Art anarchistischem Gegenentwurf zu der wegen ihres Zentralismus, ihres Waffenfetischismus und ihrer Rigidität als leninistisch geltenden RAF. Von denjenigen, die nach der Zerschlagung der „Tupamaros West-Berlin“ übriggeblieben waren, schlossen sich einige der RAF an, andere führten den bewaffneten Kampf auf eigene Faust fort. Nachdem im Dezember 1971 im Zuge einer Fahndung mit Georg von Rauch die Gallionsfigur durch einen Zivilpolizisten erschossen worden war, schlossen sich im Januar 1972 verschiedene Aktivisten zur „Bewegung 2. Juni“ zusammen.19 Mit der Namensgebung wollten sie sich jedoch nicht nur von der RAF abgrenzen, sondern vor allem auch darauf hinweisen, dass mit dem Polizisten, der nach der Anti-Schah-Demonstration die Waffe auf Benno Ohnesorg gerichtet hatte, der Staat zuerst geschossen habe.20 Es waren vor allem zwei Aktionen, mit denen sich die Gruppe ins Rampenlicht der Öffentlichkeit katapultierte – eine Mord- und eine Entführungsaktion. Einen Tag nach dem Tod des im Zuge eines Hungerstreiks verstorbenen RAF-Mitglieds Holger Meins erschossen ihre Mitglieder am 10. November 1974 zur Rache den Berliner Kammergerichtpräsidenten Günther von Drenkmann, und im Februar 1975 entführten sie den Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz. In einer spektakulären Austauschaktion wurden fünf Häftlinge freigepresst und in Begleitung von Pastor Heinrich Albertz, Berlins ehemaligem Regierendem Bürgermeister, in den Jemen ausgeflogen.21 Der in der Szene über die als gelungen angesehene Aktion ausbrechende Jubel kannte kaum Grenzen. Obwohl eine Folgeaktion der RAF in Stockholm zu einem Desaster mit mehreren Todesopfern führte, wurde in der Zeit danach der Mythos von der Spaßgerilja gepflegt.22 Anlass waren mehrere Banküberfälle, bei denen Kommandomitglieder der „Bewegung 2. Juni“ unter den verschreckten Kunden Schokoküsse verteilten. Im Unterschied zur RAF – so wurde immer wieder betont – gehöre es zum Stil der „Bewegung 2. Juni“, nicht alles bierernst zu nehmen. Einerseits bediente sie sich des gesamten Spektrums terroristischer Handlungsoptionen – bis hin zu Mord- und Entführungsaktionen –, andererseits aber wurde der Anschein erweckt, als könnten Vgl. Heinrich Böll u. a., Die Erschießung des Georg von Rauch. Eine Dokumentation anläßlich der Prozesse gegen Klaus Wagenbach, West-Berlin 1976. 20 „Mit diesem Datum im Namen wird immer darauf hingewiesen, dass sie zuerst geschossen haben!“ Siehe dazu Ronald Fritzsch und Ralf Reinders, Die Bewegung 2. Juni. Gespräche über Haschrebellen, Lorenzentführung, Knast, Berlin 1995, S. 39. Mit demselben Tenor: Michael Baumann, Wie alles anfing, München 1975, S. 99 f. 21 Es handelt sich dabei um Verena Becker, Rolf Heißler, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Rolf Pohle und Ina Siepmann. Mit dem zur KPD/APO übergewechselten RAF-Begründer Horst Mahler weigerte sich einer der Austauschkandidaten, sich freipressen zu lassen, und zog es vor, seine restliche Haftstrafe zu verbüßen. Vgl. Klaus Stern, Die „Bewegung 2. Juni“ und die Lorenz-Entführung – Die Entführung als Aspekt politisch motivierter Gewalt unter besonderer Berücksichtigung der Reaktion des Staates und der daraus resultierenden Folgen für den deutschen Herbst, Kassel 1998. 22 Robert Jarowoy und Fritz Teufel, Märchen aus der Spaßgerilja, Bremen/Hamburg 1980. 19

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ihre Kommandos dabei an subkulturellen Verhaltensweisen unvermindert festhalten. Dazu schien auch zu passen, dass der in seiner Kommunarden-Zeit als „Polit-Clown“ apostrophierte Fritz Teufel während des „Lorenz-Drenkmann-Prozesses“ plötzlich mit einem wasserdichten Alibi, dem sogenannten B-libi, aufwarten konnte und im Oktober 1980 auf freien Fuß gesetzt werden musste. Zu diesem Zeitpunkt war die „Bewegung 2. Juni“ jedoch bereits seit mehreren Monaten aufgelöst.

STILELEMENTE Es ist alles andere als Zufall, dass von den Haschrebellen und den aus ihr hervorgegangenen „Tupamaros West-Berlin“ kaum mehr als Spurenelemente übriggeblieben sind. Bis auf wenige, vergleichsweise unbedeutende Dokumente existieren keine schriftlichen Zeugnisse. So sind etwa von der „Bewegung 2. Juni“ im Gegensatz zur RAF kaum grundlegende Positionspapiere überliefert. Programmatische Texte haben Seltenheitswert. Dieser Mangel hängt vor allem mit der anti-intellektuellen Grundeinstellung ihrer Akteure zusammen. Alles Akademisch-Bildungsbürgerliche galt ihnen als suspekt und war dementsprechend verpönt. Gepflegt wurde dagegen das, was im klassischen Anarchismus als „Propaganda der Tat“ bezeichnet worden ist. Jede Aktion sollte ohne Vermittlungsschwierigkeiten von der Bevölkerung verstanden werden und nach Möglichkeit für sich selbst sprechen. Ohne Schwierigkeiten lässt sich aus den von den Kommunarden, den Haschrebellen und selbsternannten Guerilleros praktizierten Aktionsformen ein bestimmtes Set an Stilelementen herausdestillieren. Es sind dies neben dem an den Tag gelegten Aktionsfetischismus und der entsprechenden Theoriefeindlichkeit: – ein hohes Maß an Selbstironie und Situationswitz. So schilderte Baumann beispielsweise, wie es ihm einmal gelang, mit einem Auto unbehelligt durch eine Fahrzeugkontrolle zu gelangen, obwohl auf seinem Wagen in großen Lettern Vorsicht Dynamittransporter! zu lesen war. Die Polizisten hielten das für einen geschmacklosen Scherz. Ein anderes Mal stieß er beim Versuch, in einer Neubausiedlung ein Auto zu stehlen, in der Dunkelheit auf einen weichen Gegenstand, der sich als Lachsack entpuppte. Wegen des nicht enden wollenden Gelächters mussten sie ihre Aktion schließlich abbrechen und unverrichteter Dinge wieder davonziehen. – ein ganz bestimmtes Sprachverhalten innerhalb der Gruppen. Ein elaborierter Sprachcode galt als verdächtig. Ein restringierter Sprechakt war dagegen üblich. Es kristallisierte sich ein bestimmter Subkultur-Slang heraus, dessen Beherrschung als Ausweis der Kollektiv-Identität galt. In diesem Slang vermischten sich Verbalradikalismen mit Wortelementen aus dem Drogenmilieu. – eine in den unterschiedlichsten Situationen ständig unter Beweis zu stellende Coolness. Keine Gefühle zu zeigen, keine Nervosität an sich heran- und weder Emotionen der Trauer noch der Verzweiflung aufkommen zu lassen, galten als allgemein geteilte Grundeinstellung.

Die „Tupamaros West-Berlin“ im Kontext des Transformationszusammenhangs



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ein ostentativer Anti-Autoritarismus. Soziale Ausdifferenzierungen, distinkte Rollenmuster und hierarchische Gruppenstrukturen wurden weithin abgelehnt. Die Existenz informeller Machtstrukturen stand allerdings auf einem anderen Blatt. – eine Verherrlichung angeblich naturgegebener Instinkte. Dazu gehörte die Verklärung des unmittelbaren Trieblebens, insbesondere der Sexualität, ebenso wie die Ablehnung aller Ansätze zur Askese. – ein kaum zu überbietender Gewaltfetischismus. Zu den Grundüberzeugungen zählte, dass Gewalt in der sozialen Realität angeblich die einzige Sprache sei, die von allen verstanden werde. Der Ausbruch von Gewalt wurde – wie schmerzlich das auch sein mochte – als klärend wahrgenommen. Selbstkontrolle und Affektdomestizierung galten dagegen als scheinhaft. Resultat dieser unterschiedlichen Aspekte war eine romantische Grundhaltung, die die unterschiedlichsten Facetten des Alltagslebens in der Berliner Szene durchzog. Ohne diese sozialromantische Verklärung kann die Dynamik dieser Subkultur nicht verstanden werden. Mit der ständigen Suche nach neuen Aktionsfeldern wurde eine Umwandlung von Monotonie und Langeweile in Abenteuersituationen angestrebt. Aus dieser Perspektive erscheint auch die zunehmende Entgrenzung der Gewalt bis hin zur Einübung terroristischer Handlungsformen als durchaus zwingend. Es ging nicht um die sonst übliche Minimierung, sondern – eher im Gegenteil – gerade um die Maximierung von Risiken. Gesucht wurde eine Art Kick-Erlebnis: die Erzeugung von Adrenalinschüben in gefährlichen Gewaltsituationen. Dr. Wolfgang Kraushaar Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Feldbrunnenstraße 52, 20148 Hamburg, [email protected]

DIE BOLOGNA REFORM UND STUDENTISCHER PROTEST Im Fokus: die uni-brennt-Bewegung 2009/2010 Elisabeth Westphal

Abstract: This article concentrates on collegiate protests respectively forms of protest in the context of the Bologna reform. Although the main focus of this contribution is on Austria, the Austrian public universities, and students as well as the uni brennt movement of 2009/2010, international developments are also of concern. In view of the guiding theme – collegiate violence –, it seems that student protests in Austria in the first decade of the 21st century have been less affected by violence than by actionism. Some of these – partly new – forms of protest are considered. Not only the development of the protests is examined, but also students’ points of criticism and results of the protests. To be able to comprehend criticism against the “BolognaProcess” in the context of the uni brennt movement, the origin of the Bologna reforms, its national handling, and the initial political situation of universities are also considered.

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit studentischen Protesten und Protestformen im Kontext der Bologna-Reform. Der Fokus liegt hierbei auf Österreich, den österreichischen öffentlichen Universitäten, den Studierenden und der uni-brennt-Bewegung von 2009/2010, die von Wien ausgegangen ist. Im Hinblick auf das Leitthema dieses Jahrbuchs – studentische Gewalt- und Radikalisierungsprozesse – fällt jedoch auf, dass die in Österreich erfolgten Studierendenproteste im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht von Gewalt, sondern von Aktionismus geprägt waren. Um die Kritik im Kontext der uni-brennt-Bewegung gegenüber dem sogenannten Bologna-Prozess nachvollziehen zu können, wird die Entstehungsgeschichte der Bologna-Reform, der nationale Umgang mit der im Entstehen begriffenen Reform sowie die damals bestehende universitätspolitische Ausgangssituation genauer untersucht. Die leitenden Fragestellungen lauten daher wie folgt: 1) Wo liegen die Wurzeln des studentischen Protestes gegen die BolognaReform? 2) Welche Gründe führten gerade 2009/2010 zur uni-brennt-Bewegung? 3) Worum ging es konkret bei uni brennt? 4) Warum verbreitete sich diese Bewegung wie ein Lauffeuer? 5) Welche Formen des Protestes gab es? Für diese Abhandlung wurden hauptsächlich Quellen und Literatur herangezogen, die von österreichischen AkteurInnen und WissenschaftlerInnen produziert beziehungsweise publiziert wurden. Neben Diskussionspapieren, Protokollen, Aufsätzen und Büchern wurden auch Flyer, Manifeste oder Fotografien, die während der unibrennt-Bewegung gemacht und verteilt wurden, verwendet.

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1. VON DER „BOLOGNA-DEKLARATION“ (1999) ZUR UNI-BRENNT-BEWEGUNG (2009/2010) Um die Zeit der Entstehung der „Bologna-Deklaration“ (1998/1999)1 waren in Österreich bereits einige grundlegende Reformen im Studien- und Organisationsrecht angestoßen worden, die durch diese europäisch initiierte Erklärung beeinflusst werden sollten. Um die uni-brennt-Bewegung von 2009/2010 nachvollziehen zu können, wird sowohl auf bildungspolitische Veränderungen eingegangen als auch ein Stimmungsbild unter Studierenden zu den vor sich gehenden universitätspolitischen Änderungen vor 2009 gegeben.

1.1. Bildungspolitische Veränderungen zwischen 1998 und 2009 in Österreich In der Zeit zwischen 1998 und 2009 trugen sich in Österreich und in Europa insgesamt viele Veränderungen im universitätspolitischen Bereich zu, die verschiedener Provenienz waren und sich auf verschiedene Art in den Protesten um 2009/2010 äußerten. An dieser Stelle werden schlaglichtartig einige dieser Entwicklungen angeführt: Die umfangreiche Analyse einer neueren Studie zeigt, dass die BolognaReform in Österreich mit dem Universitätsgesetz 2002 (UG 02)2 unmittelbar in Verbindung gebracht wird.3 Zeitlich gesehen haben sich die Diskurse um die BolognaReform und um das im Werden begriffene UG 02 stark überschnitten. Diese Tatsache dürfte zu dieser Wahrnehmung geführt haben, die letztlich bis heute vorherrscht. Doch eigentlich waren entsprechende legistische Änderungen bereits mit der Novellierung des Universitätsstudiengesetzes von 1997 Mitte 1999 erfolgt, die zur fakultativen Einführung der dreigliedrigen Studienstruktur (Bakkalaureat, Magister, Doktorat) führten.4 Wie bei einer Analyse der Entstehung des Universitätsstudiengesetzes (UniStG 97) – beginnend im Jahr 1995 – zu sehen ist, waren die Hochschulen größtenteils gegen ein kurzes Erststudium eingestellt gewesen.5 Damals hätten insbesondere für kulturwissenschaftliche Fächer Kurzstudien von sechs Semestern eingeführt werden sollen, die die mindestens achtsemestrigen Diplomstudien hätten ablösen 1

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Summary of the First Meeting of the Sorbonne Working Group/Steering Committee on the Sorbonne Follow-Up Activities, Brüssel 1998; Summary of the Second Meeting of the Sorbonne Working Group/Steering Committee on the Sorbonne Declaration Follow-Up Activities, Rom 1999; Summary of the Third Meeting of the Sorbonne Working Group/Steering Committee, Brüssel 1999; Summary of the Fourth Meeting of the Sorbonne Working Group/Steering Committee of the Sorbonne Follow-Up, Wien 1999. Bundesgesetz über die Organisation der Universitäten und ihre Studien (Universitätsgesetz 2002), BGBl. I 120/2002. Elisabeth Westphal, Die Bologna-Reform: Policy Making in Europa und Österreich (unpubl. Diss. Wien 2017). Bundesgesetz über die Änderung des Universitäts-Studiengesetzes 1997, BGBl. I 48/1997 idF BGBl. I 167/1999. Bundesgesetz über die Studien an Universitäten (Universitäts-Studiengesetz – UniStG), BGBl. I 48/1997.

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sollen. Kritikpunkt war vor allem, dass die neue Studienstruktur nur aus Kurzund anschließenden Doktoratsstudien hätte bestehen sollen – bei gleichzeitiger Abschaffung der Kombinationspflicht.6 Prinzipiell ist jedoch internationaler Usus, dass an Kurz- beziehungsweise Bachelorstudien Masterstudien anschließen, bevor Doktoratsstudien aufgenommen werden können. Letztlich wurde die hier skizzierte Veränderung der Studienstruktur nicht im Gesetz festgeschrieben; allerdings fiel die Fächerkombinationspflicht.7 Bald nach der Unterzeichnung der „Sorbonne-Deklaration“ (Mai 1998) fiel von der österreichischen Politik die Entscheidung, sich dem internationalen Trend anzuschließen und im Gegensatz zur Idee von 1995 beziehungsweise 1997 nun wirklich eine dreigliedrige Studienstruktur einzuführen. Die damals gelagerten Diskussionen und negativen Implikationen hatten Einfluss auf die 1998/1999 geführten Debatten. So wurde vielerorts von Schmalspurstudien als Erststudien gesprochen, die mit einer Verkürzung der Lehrinhalte gleichgesetzt wurden.8 Weder die Vor- und Nachteile der gesamten Studienstruktur wurden in diesem Kontext thematisiert noch wurden die Möglichkeiten von Masterstudien ernsthaft abgewogen. Die Analyse von Zeitungsartikeln sowie von Protokollen der Österreichischen Rektorenkonferenz legt nahe, dass sich die öffentliche und politische Diskussion primär auf das neue Bakkalaureatsstudium konzentrierte.9 Eine Inaugenscheinnahme des Gesetzwerdungsprozesses des UG 02, beginnend im Frühjahr 1998, macht deutlich,10 dass hauptsächlich organisationsrechtliche Aspekte im Rahmen des UG 02 diskutiert wurden. Somit liegt der Schluss nahe, dass die neue Studienstruktur sowie studienrechtliche Bestimmungen aus dem UniStG 97 und der Novelle von 1999 als bereits akzeptiert galten und es keine weiteren Grundsatzdiskussionen geben sollte. Diese Tatsache wird mit der eigentlichen Bedeutung der UniStG-Novelle von 1999 in Verbindung gebracht.11 So wurden gesetzliche Bestimmungen, wie die neue dreigliedrige Studienstruktur – die ehemals fakultativ gewesen war –, und Empfehlungen aus der „BolognaDeklaration“ (Juni 1999) durch das UG 02 obligatorisch; jedoch ohne breitere Diskurse und Analysen der Vorteile, Nachteile und Möglichkeiten.12 Mit dieser Festschreibung im Gesetz und der gleichzeitigen Zusammenführung von Studienrecht 6 7 8

Westphal, Bologna-Reform (Anm. 3), S. 132–134. Universitäts-Studiengesetz – UniStG 1997 (Anm. 5). Vgl. dazu den Österreichischen Nationalrat, Stenographisches Protokoll. 180. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich. XX. Gesetzgebungsperiode, Wien 1999, S. 42 f.; Wolfgang Fasching, Hochschüler. Bakkalaureat darf kein Schmalspurstudium werden, in: Der Standard (05.09.1998), S. 8; Heike Hausensteiner, Österreichs Laissez-faire-Studium wird strukturiert. Institut für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung pro Bakkalaureat: Wir sind im Innovationsstrudel, in: Wiener Zeitung (02.07.1999), S. 3. 9 Elisabeth Westphal, Die Geburtsstunde der Bologna-Reform im Spiegel der österreichischen Printmedien 1998/1999, in: Österreichische Zeitschrift der Soziologie 40 (2015), Nr. 1, S. 93–108. 10 Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr, Vollrechtsfähigkeit von Universitäten. Diskussionspapier für ein Bundesgesetz über vollrechtsfähige Universitäten (Version 24. November 1998). 11 Westphal, Bologna-Reform (Anm. 3), S. 173–182. 12 § 54 Abs. 2–3 UG 02 (Anm. 2); § 11a Abs. 4 UniStG 97 (Anm. 4) idF der Novelle von 1999.

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und Organisationsrecht, das sich stark an New-Public-Management-Kriterien orientierte, wurde die Bologna-Reform automatisch, wenngleich auch fälschlicherweise, in denselben Kontext gestellt.13 Setzte sich die Bologna-Reform eine Konvergenz der Studienstruktur in anderen europäischen Ländern – außerhalb des EU-Rahmens – zum Ziel, so folgte die Organisationreform in wesentlichen Punkten Ansätzen des von der EU beworbenen New Public Managements.14 Ab 2000 gab es in Österreich einige Veranstaltungen und Papiere zur „BolognaDeklaration“, zu den folgenden Kommuniqués und Schwerpunkten, allerdings wurden des Öfteren die durch dieses freiwillige Abkommen empfohlenen Punkte mit Initiativen der Europäischen Kommission vermischt, die einerseits wesentlich mehr Verpflichtungscharakter besaßen und andererseits stark von der Wirtschaft getrieben waren. Begriffe wie Wettbewerbsfähigkeit oder Konkurrenzfähigkeit waren zentrale Schlüsselbegriffe, die durch die „Bologna-Deklaration“ legitimiert und durch die ihre Implementierung erreicht werden sollten.15 Diese zunehmende Vereinnahmung sowie entsprechende Erwartungen hinsichtlich des Beitrages europäischer Universitäten werden anhand des Papiers „Die Rolle der Universitäten im Europa des Wissens“ deutlich, das von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft herausgegeben wurde. So sollen sie Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt [. . .] machen.16 Eine teilweise von Slogans geprägte Sprache oder die Einführung einer neuen Abteilung für Politisches Controlling im Wissenschaftsministerium17 zeigen, dass entsprechende Bezeichnungen und Konzepte des New Public Managements auch im hochschulpolitischen Kontext gebraucht und implementiert wurden.18 Es wurde sogar ein „Controlling-Konzept“ für die Umsetzung der Bologna-Erklärung in Österreich entwickelt, das sich jedoch auf Grob- und Detailziele der „BolognaDeklaration“ beschränkte, die gleichsam auf Österreich heruntergebrochen wurden.19 Hinweise auf einen Finanzierungsplan zur Umsetzung der Konzepte konnten 13

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Westphal, Bologna-Reform (Anm. 3), S. 200; Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Mitteilung der Kommission. Die Rolle der Universitäten im Europa des Wissens (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 58), Luxemburg 2003; Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Workshop-Programm, Die Rolle der Universitäten im Europa des Wissens, Wien 2003. Jeroen Huisman und Maijk van der Wende, The EU and Bologna. Are Supra- and International Initiatives Threatening Domestic Agendas?, in: European Journal of Education 39 (2004), Nr. 3, S. 349–357, hier S. 350; Treaty on European Union. Signed at Maastricht on 7 February 1992 (92/C 191/01) (Official Journal of the European Communities 35). Bericht über den Ersten Österreichischen Bologna-Tag. Wien, 21. Juni 2000, in: Österreichische Rektorenkonferenz, 1. Plenarsitzung 2000/2001, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 9.–10. Oktober 2000; Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Hg.), Vom ersten Österreichischen Bologna-Tag nach Prag, Wien 2001. Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Die Rolle der Universitäten (Anm. 13), S. 2. Diese Abteilung hatte die Begleitung der Umsetzung der „Bologna-Deklaration“ in Österreich zum Ziel. Österreichische Rektorenkonferenz, Interne Unterlagen zur Vorbereitung und Dokumentation des Ersten Österreichischen Bologna-Tages, Wien 2000; Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Vom ersten Österreichischen Bologna-Tag (Anm. 15), S. 31. Rektorenkonferenz, Interne Unterlagen (Anm. 18).

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nicht ausfindig gemacht werden. Durch die Verwendung entsprechender marktwirtschaftlicher Bezeichnungen und Vorstellungen im Kontext der Umsetzung der Bologna-Reform musste unweigerlich der Eindruck entstehen, dass diese Richtung von den europäischen BildungsministerInnen intendiert gewesen war. Und gerade dieser Eindruck hätte, so der Hochschulforscher Hans Pechar, extrem negative Auswirkungen auf die Reformbereitschaft der europäischen Universitäten gehabt: „An den europäischen Universitäten, an denen man Kultur und Wirtschaft weitgehend als Gegensätze empfindet, lösen solche Überlegungen eher Widerstand als Reformbereitschaft aus.“20 Argumente von globalen Protestaktionen gegen Ungerechtigkeiten und die Ökonomisierung vieler unterschiedlicher Lebensbereiche wurden im österreichischen bildungspolitischen Diskurs kontextualisiert sowie im Zuge der Proteste gegen die Einführung der Studiengebühren im Wintersemester 2001 und gegen das UG 02 übernommen.21 Dieser Einfluss spiegelte sich beispielsweise in der Aktion der Österreichischen HochschülerInnenschaft (ÖH) – „Education not Profit! Öffentliche Bildung steht vor weltweitem Ausverkauf“ (13. März 2003) – wider, die sich gegen die sogenannte „Bildungsökonomisierung“ in Österreich wandte. Der Slogan „Education not Profit!“ wurde im Anschluss für weitere Aktivitäten verwendet. In den Folgejahren gab es beispielsweise an der Universität Wien in den Wintersemestern 2005 und 2007 eine Ringvorlesung des Paulo Freire Zentrums und der ÖH, die sich der „Ökonomisierung der Bildung“ widmete.22 Die entsprechenden Aktivitäten, Strategien, Tendenzen oder Forderungen wurden im gleichnamigen Buch festgehalten.23

1.2. Proteste von Studierenden im Vorfeld Da die Studierendenproteste von 2009/2010 mitunter mit der Bologna-Reform in Verbindung gebracht werden, soll blitzlichtartig auf das Stimmungsbild unter Studierenden bei der – damals noch fakultativ angelegten – Einführung von Bachelor/Master/Doktorat im Jahr 1998/1999 eingegangen werden, da es sehr heterogen war. Befragungen unter Studierenden spiegelten eine grundsätzlich positive Stimmung gegenüber der geplanten Studienstruktur wider, jedoch forderten sie eine

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Hans Pechar, Treffen von europäischen Universitätsvertretern beim ersten österreichischen Bologna-Tag. Die Bologna-Erklärung. Ein Programm zur Harmonisierung der Hochschulsysteme, in: Wiener Zeitung (27.06.2000), S. 14. 21 Gerald Faschingeder u. a., Bildung ermächtigt. Eine Einleitung, in: Ökonomisierung der Bildung. Tendenzen. Strategien. Alternativen, hg. vom Paulo Freire Zentrum und der Österreichischen HochschülerInnenschaft (Gesellschaft, Entwicklung, Politik 5), Wien 2005, S. 9; Martin Haselwanter, Gesellschaft. Bildung. Protest. Studentischer Aktionismus in Zeiten der Instrumentalisierung von Bildung. Unibrennt!, Bremen 2014, S. 119 f. 22 Haselwanter, Gesellschaft. Bildung. Protest (Anm. 21), S. 8–10. 23 Paulo Freire Zentrum und Österreichische HochschülerInnenschaft (Hg.), Ökonomisierung (Anm. 21).

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Reorganisation der Studienpläne und eine gewisse Praxisnähe.24 Die offizielle Studierendenvertretung ÖH stand der Einführung allerdings kritisch gegenüber und monierte das Fehlen von Konzepten zur Umgestaltung. So wurde vonseiten der ÖH der Ausspruch perpetuierend vorgebracht, dass das Kurzstudium [. . .] nicht zu einer Schmalspurausbildung verkommen dürfe.25 Warum die Einführung eines zusätzlichen Studienzyklus mit einer Schmalspurausbildung assoziiert wurde, ist allerdings nicht verständlich. Anzunehmen ist, dass sowohl die fehlende Diskussion zur gesamten dreigliedrigen Studienstruktur 1999 als auch die Übernahme von Argumenten aus den Diskussionen zum Erstentwurf des UniStG vom Jahr 1995 starke Motive für diese Sichtweise waren. Die größtenteils negative Einstellung der ÖH gegenüber dem Gesetzesentwurf führte zu zahlreichen Protestkundgebungen und Demonstrationen gegen die Einführung des Bakkalaureats und gegen die Inhalte und Form ihrer Durchführung zwischen Ende Mai und Juli 1999 in Wien, die von unterschiedlichen Studentenfraktionen durchgeführt wurden.26 Befürchtet wurde einerseits eine Zwei-Klassen-Universität27 und andererseits die Beschränkung des offenen Universitätszuganges auf Bachelorstudien. Stark kritisiert wurde zudem, dass die Studierendenvertretung in die einigenden politischen Gespräche nicht einbezogen worden war.28 Mit dem Entstehungsprozess und dem Inkrafttreten des UG 02 gab es eine Phase von wiederkehrenden und teilweise aktionistisch anmutenden Protesten, von denen zwei exemplarisch herausgegriffen werden: Insbesondere in der Begutachtungsphase des UG 02 wurden Großaktionen gegen das Gesetz organisiert, die nicht nur von der ÖH, sondern auch der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, VertreterInnen des Mittelbaus und des nicht-wissenschaftlichen Personals unterstützt wurden. So waren Ende April 2002 an vielen Universitätsgebäuden in großen Städten Banner mit der Aufschrift heute geschlossen angebracht. Den Trauermärschen, bei denen die Universität zu Grabe getragen wird, werden Leichenschmäuse folgen, informierte die Wiener Zeitung.29 Die Todesmetaphern sollten nicht nur das Ende der Universität und der inneruniversitären Mitbestimmung durch das neue Gesetz symbolisieren, sondern auch auf die neue und als negativ wahrgenommene Organisations- und Studienreform replizieren.

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O. V., Bachelor. Ein neuer Titel. Studenten wenig informiert, aber positiv, in: Die Presse (03.12.1998), S. 12. Fasching, Hochschüler (Anm. 8), S. 8. Erich Witzmann, Bakkalaureat. Wichtig sind Chancen am Arbeitsmarkt. Gesetzesnovelle. Im Mittelpunkt der Novelle zum Studiengesetz steht die Einführung des Bakkalaureats, in: Die Presse (18.05.1999), S. 10; Peter Mayr, Uni Wien lehnt Bachelor ab. Heftige Kritik am Gesetzesentwurf von Minister Einem, in: Der Standard (06.05.1999), S. 9; o. V., Front gegen Bakkalaureat. Die Studenten kritisieren das neue Studiengesetz, in: Die Presse (24.06.1999), S. 6. O. V., An den Unis herrscht weiter Widerstand gegen Bakkalaureat. UniStG-Novelle vor Sommerpause im Plenum, in: Wiener Zeitung (16.06.1999), S. 4. O. V., Proteste gegen Bakkalaureat, in: Die Presse (29.05.1999), S. 8. Barbara Ottawa, Suche nach annehmbarer Lösung. Fronten in Universitätsreform bewegen sich wieder. Kompromisse in Sicht trotz Streiktag der Gewerkschaft, in: Wiener Zeitung (24.04.2002), S. 3.

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Des Weiteren wurde am 17. Januar 2004 eine Senatssitzung der Universität Wien von Studierenden gewaltsam gestört, indem zwei Türen eingetreten wurden. Nachfolgend wurden das Vizerektorat und der Senatssaal besetzt – eine Aktion, die mit einer angeblich unzureichenden Gesprächsbereitschaft legitimiert wurde.30 Einige Tage später, am 20. Januar 2004, kam es zur sogenannten „Tortung“ des Wiener Universitätsrektors Georg Winckler, der im Rahmen einer öffentlichen Gesprächsrunde mit Studierenden eine Torte ins Gesicht geschmiert bekam.31 Dieser besondere [. . .] Aktionismus32 wurde nicht nur als ernst zu nehmende Gewaltrhetorik von Teilen der Studierendenschaft33 gesehen, sondern führte auch zu ÖH-internen Auseinandersetzungen, da es Fürsprecher, aber auch Gegner der Torten-Attacke – und somit der Anwendung von Gewalt – gab.34 Die damals durch das neue Gesetz aufgeheizte Stimmung sollte sich noch lange nicht legen.

1.3. Ursprünge und Struktur der uni-brennt-Bewegung Die uni-brennt-Bewegung entstand aus einer Vielzahl an – mitunter politischen – Beweggründen und aus einer im Laufe der Zeit aufgestauten Unzufriedenheit. Daher sind die Ursprünge nicht leicht festzumachen. Robert Foltin und Martin Haselwanter – beide haben Analysen zu den Studierendenprotesten von 2009/2010 erstellt – führen die Ursprünge auf 2005 zurück, da es ab diesem Zeitpunkt ein vermehrtes Protestaufkommen in Wien und anderen Universitätsstädten gegeben hat. Der Fokus lag bei diesem auf dem Globalisierungsaspekt.35 Unter Bezugnahme auf eine allgemeine Unzufriedenheit – in erster Linie mit den zunehmenden Globalisierungstendenzen – erscheint diese Analyse nachvollziehbar. Allerdings äußerten sich die Proteste unter anderem auch gegen die BolognaReform. Von der Autorin unternommene Forschungen legen dagegen die Annahme nahe, dass die Unzufriedenheit und die Gründe für ein sich steigerndes Protestpotenzial unter den Studierenden bereits in der Entstehung der Bologna-Reform zu finden sind. Wurde doch die UniStG-Novelle ohne breit angelegte Diskussionen und (Machbarkeits-)Studien, durch politischen Zeitdruck bedingt, verabschiedet. Zahlreiche Argumente gegen die Einführung sowie die Nicht-Einbeziehung der Studierenden in diesen Prozess sind nachvollziehbare Motive, die sich in der obligatorischen Festschreibung der Umstellung der Studienarchitektur im UG 02 verfestigten.36 Die uni-brennt-Bewegung lässt sich in Phasen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen einteilen. Inhaltliche Analysen zeigen allerdings, dass die Diskurse 30 31 32 33 34 35 36

Bernhard Keppler u. a., Uni Wien. Vandalen ante portas?, in: Der Standard (21.01.2004), S. 27. O. V., Studenten streiten über Tortung, in: Der Standard (23.01.2004), S. 7. Erich Witzmann, Man hat versucht, mich einzuschüchtern. Winckler bietet weiter Gespräche an. Presse Gespräch, in: Die Presse (22.01.2004), S. 8. Samo Kobenter und Peter Mayr, Rektor will nicht der Buhmann sein, in: Der Standard (22.01.2004), S. 6. O. V., Studenten streiten über Tortung (Anm. 31), S. 7. Robert Foltin, Und wir bewegen uns noch. Zur jüngeren Geschichte sozialer Bewegungen in Österreich (kritik & utopie), Wien 2011, S. 134; Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 120 f. Westphal, Bologna-Reform (Anm. 3), S. 136–152.

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um die Ökonomisierung der Bildung aus dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts und die mehr oder weniger offen geführten Bologna-Diskurse ineinander übergingen. So hatten viele der von den Studierenden vorgebrachten Forderungen wenig mit der Bologna-Reform, sondern eher mit den politischen Rahmenbedingungen zu tun. Insbesondere die neoliberal-kapitalistische Instrumentalisierung von Gesellschaft und Universitäten führte zunehmend zu nationalen und internationalen Widerständen, die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 noch an Fahrt gewannen.37 Schon bevor es im Oktober 2009 unter den Studierenden zur Initialzündung der uni-brennt-Bewegung kam, waren ab Jahresbeginn immer lauter werdende, kritische Stimmen gegenüber der Bologna-Reform und der Curricula-Umstellung an den einzelnen Universitäten zu hören und es hatte Proteste gegeben. Zudem plante Wissenschaftsminister Johannes Hahn eine UG-Novelle, durch die manche universitäre Studien beschränkt werden sollten, was eine Verschärfung der Zugangsbedingungen darstellte.38 So kann bereits „vor der Konstitution von uni brennt im Herbst 2009 [eine] Häufung von [nationalen und internationalen] Proteste[n] – als Ausdruck des Widerspruchs zwischen dem Versprechen einer umfassenden Bildung und einer andersartigen Realität –“ festgestellt werden.39 Der vorliegende Beitrag geht von insgesamt drei Phasen der Studierendenproteste von 2009/2010 aus, wobei die ersten beiden Protestwellen in der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommen wurden:40 Eine erste Phase dauerte von der Besetzung der Akademie der Bildenden Künste in Wien, dem Ausgangspunkt der Studierendenproteste unter dem Slogan uni brennt, am 20. Oktober 2009 bis zur Beendigung der Proteste am 31. Dezember 2009. Bereits Anfang Januar begann eine zweite Phase, in der es zu einer neuerlichen Mobilisierung gegen die im März geplante zehnjährige Bologna-Jubiläumskonferenz unter dem Motto bologna burns! kam, die mit Beginn der Sommerferien 2010 beziehungsweise dem politischen Ende des sogenannten „Dialogs Hochschulpartnerschaft“ endete. Im Herbst 2010 kam es in einer dritten Phase zu einem nochmaligen Aufflackern der Bewegung, dessen Ende spätestens im März 2011 gesehen werden kann.

In Österreich nahmen neoliberale Tendenzen mit der ÖVP-FPÖ-Regierung ab dem Jahr 2000 zu; jedoch hatte es sie auch schon in anderen Regierungskoalitionen davor – wenngleich weniger stark – gegeben. Vgl. Foltin, Geschichte (Anm. 35), S. 186–188; Westphal, Bologna-Reform (Anm. 3), S. 169. 38 Die Novelle wurde letztlich vor dem Sommer 2009 beschlossen. APA, Kritik am BolognaStudiensystem. Schimmelpilz überzieht Unis. Liessmann erwartet Zweiklassenuniversität (27.08.2009); Georg Ismar, Bologna statt Humboldt an Hochschulen, in: DPA/APA (03.06.2009); Lisa Nimmervoll, Unigesetzesnovelle. Der gezähmte Freigeist. Universität 2009. Von QuasiAufsichtsräten und akademischer Systemgastronomie, in: Der Standard (16.06.2009); dies., Alle anschnallen. Das Uni-Gesetz hebt ab, in: Der Standard (17.06.2009), S. 6; Christoph Schwarz, Bologna-Prozess. Die Vision vom europäischen Studium, in: Die Presse (19.04.2009). 39 Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 124. 40 Es gibt andere Sichtweisen auf diese und Teilungen der Proteste. Haselwanter geht beispielsweise von sechs Phasen aus. Vgl. ders., Gesellschaft (Anm. 21), S. 128–173. 37

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2. CHRONOLOGIE DER STUDIERENDENPROTESTE 2009 Da die ersten beiden Phasen der uni-brennt-Bewegung als die für die Bewegung prägendsten und aktivsten erscheinen, liegt der Fokus an dieser Stelle auf ihnen. Am 20. Oktober 2009 hatten Studierende und Lehrende der Wiener Akademie der Bildenden Künste in einer Pressekonferenz ihren Ärger hinsichtlich der vom Rektorat in Kürze zu unterzeichnenden Leistungsvereinbarung mit dem Wissenschaftsministerium kundgetan. Diese beinhaltete unter anderem die Umstellung des Studiengangs „Bildende Kunst“ auf das Bachelor-Master-System. Nachfolgend wurde die Säulenhalle der Akademie spontan von Studierenden besetzt und die erste Plenardiskussion begann. Bei dieser wurden auch Protestaktionen über die Akademie hinaus diskutiert.41 Die für den 22. Oktober 2009 geplante Demonstration ging allerdings bereits in der Planungsphase über die Kritik an der neuen Studienstruktur sowie die Bologna-Reform hinaus und hatte sich unter anderem der Kapitalismuskritik, der Ökonomisierung von Bildung – beispielsweise durch Zugangsbeschränkungen, Studiengebühren, verfehlt gehaltene Wissensvermittlung, die auf „Employability“ abzielt – oder prekären Arbeitsverhältnissen an Universitäten verschrieben.42 Bereits damals hatte sich das Motto uni brennt gegenüber Unsere Uni beziehungsweise Die Uni gehört uns durchgesetzt. War es doch ein wesentlich ausdrucksstärkerer Slogan, der mehr Aktivität signalisierte und darauf hinwies, dass sozusagen „Feuer am Dach“ der Universität wäre und daher Handlungsbedarf bestünde.43 Bei einer Protestkundgebung solidarisierten sich Studierende der Universität Wien mit ihren KommilitonInnen der Akademie der Bildenden Künste und besetzten den größten Hörsaal der Universität Wien, das Auditorium Maximum.44 Das Audimax wurde zum zentralen Ort der Bewegung. Einem privaten Sicherheitsdienst war es nicht gelungen, die Besetzung aufzuhalten, und auch die herbeigerufene Polizei zog sich am späten Nachmittag wieder zurück, um Eskalationen zu vermeiden.45 In den folgenden Tagen weiteten sich die Besetzungen auf Universitäten in den Bundesländern, wie beispielsweise in Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Linz und Salzburg, aus. Am 4. November 2009 wurden mit den Universitäten in Heidelberg und in Münster die ersten deutschen Hochschulen besetzt. Auch in anderen Ländern wie Frankreich, Griechenland, Großbritannien und Spanien gab es Proteste. Die

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Einige chronologische Übersichten wurden in Zeitungen und Monographien publiziert: O. V., Protest-Chronik. Am Anfang stand der Ärger über das System, in: Kleine Zeitung Uni (November 2009), S. 12; o. V., Thema: Studentenproteste. Chronologie. Die Funken von Unibrennt, S. 2; Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 129; Peter Sniesko, Ein kurzer chronologischer Abriss der Studierendenproteste, in: Uni brennt. Grundsätzliches. Kritisches. Atmosphärisches, hg. von Stefan Heissenberger u. a., Wien 2010, S. 307–312. Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 129; Stefan Heissenberger u. a., Einleitung, in: Uni brennt (Anm. 41), S. 11–24, hier: S. 12 f. Herta Nöbauer, Materielle Macht. Raum und Körper an der Universität, in: Uni brennt (Anm. 41), S. 134–141, hier S. 134. Das Audimax ist der größte universitäre Hörsaal Österreichs im Hauptgebäude der Universität Wien, dessen Fertigstellung 1935 erfolgte. Insgesamt umfasst er 800 Plätze für Studierende. Foltin, Geschichte (Anm. 35), S. 190 f.

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Besetzungen in Österreich hatten somit an Strahlkraft gewonnen, sodass bereits Mitte November mehr als 100 Universitäten weltweit besetzt waren.46 Nach den in Wien erfolgten ersten Besetzungen wurden ab dem 27. Oktober 2009 weitere Hörsäle besetzt, wie der Hörsaal 1 im Freihaus der Technischen Universität Wien (TUW) – unter Solidaritätsbekundungen mit der Audimax-Bewegung – und später auch Räume der Universität für Bodenkultur (BOKU). Am 28. Oktober 2009 kam es österreichweit zum bis dahin vorläufigen Höhepunkt, indem es mehrere Demonstrationen gab – die größte davon mit mehreren Zehntausend friedlichen DemonstrantInnen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in Wien. Ihr Slogan ist auf die 2008 ausgelöste Kreditkrise zurückzuführen und lautete Geld für Bildung statt für Banken und Konzerne.47 Nach einer Besprechung mit der offiziellen Studierendenvertretung ÖH, die allerdings kein Verhandlungsmandat besaß, wurden vom Wissenschaftsminister Johannes Hahn 34 Millionen Euro zur Verbesserung der Zustände an den Universitäten zur Verfügung gestellt. Die Universität Graz sagte am 30. Oktober 2009 aus eigener Initiative 1,5 Millionen Euro aus universitätsinternen Mitteln zur Verbesserung des Lehrangebots zu. Gespräche zwischen Universitätsleitungen und VertreterInnen der Protestbewegung an den Universitäten Graz, Innsbruck, Salzburg und Wien fanden im November statt.48 Am 14. November 2009 stürmten etwa 150 Studierende das größte Theater Österreichs, das Wiener Burgtheater, und besetzten die Theaterbühne für ungefähr eine halbe Stunde. Im Fokus der Aktion standen die Verkündung studentischer Forderungen wie Bildung statt Ausbildung und der freie Universitätszugang.49 Doch die häufig vorgebrachten Ansprüche Bildung für alle und Bildung statt Ausbildung wurden von den meisten befragten Studierenden angeblich nicht geteilt. Dieser Befund ging aus einer rezenten Studie des Instituts für Jugendkulturforschung hervor. Einig waren sich hingegen die meisten darin, dass die individuellen Studierendenbedingungen nicht zufriedenstellend wären, und Kritik gegenüber schlechten Betreuungsverhältnissen, überfüllten Hörsälen und Seminarräumen oder teuren Skripten wurde laut. Der häufig von Protestierenden eingenommenen Position gegen die Zugangsbeschränkungen konnten viele Studierende – so die Studie – nichts abgewinnen,50 da ein regulierter Zugang insgesamt für die zugelassenen StudienbewerberInnen bessere Studienbedingungen mit sich bringen würde. Ein Argument, das auch von vielen Studierenden in Zeitungsinterviews und Diskussionen an den einzelnen Universitäten angeführt wurde. Das Resümee von Beate Großegger, Leiterin des Instituts für Jugendkulturforschung, hinsichtlich der Proteste ist jedoch im Wissen um die Beteiligung an 46 47 48

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Ebd., S. 196 f.; Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 142 f.; Sniesko, Abriss (Anm. 41), S. 307– 309. Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 131 f.; Sniesko, Abriss (Anm. 41), S. 308 f. Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 134 f.; Sniesko, Abriss (Anm. 41), S. 309 f.; o. V., Studentenproteste. Rektor trifft Uni-Besetzer. Erste Annäherung in Wien und Innsbruck, in: Die Presse (19.11.2009), S. 3. Norbert Meyer und Martina Salomon, Burg-Chef zeigt große Sympathien. Studentenprotest auf offener Bühne. Aufführung im Burgtheater unterbrochen, in: Die Presse (16.11.2009), S. 2. Christoph Schwarz, Studenten sind für Proteste. Ideologie ist aber unwichtig, in: Die Presse (17.11.2009).

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den Demonstrationen fraglich: „Die großen Visionen sucht man heute vergebens. Die Studierenden weisen auf konkrete Probleme hin, über den eigenen Tellerrand schauen sie dabei aber nicht allzu weit.“51 Dies bedeutet im übertragenen Sinn, dass „solidarische Akte [. . .] nur gesetzt [werden], wenn sie im Zusammenhang mit eigenen Problemen stehen.“52 Dieser Feststellung widersprechen beispielsweise Aussagen von Studierenden, VizerektorInnen oder StudiendekanInnen, die in größerem Rahmen über die Institution Universität und sämtliche mit ihr verbundenen Aspekte diskutierten.53 Wissenschaftsminister Johannes Hahn, der die protestierenden Studierenden nicht im Hörsaal besucht hatte, lud am 25. November 2009 zu dem von ihm initiierten „Dialog Hochschulpartnerschaft“ ein. Diese groß angelegte Debatte sollte eine erste Annäherung in Richtung eines vermehrten Austausches unter den beteiligten VertreterInnen unter Ausschluss der Öffentlichkeit sein und bis Mitte 2010 andauern.54 Einmal mehr forderte Hahn die Studierenden auf, die Besetzungen während der nun angelaufenen Gespräche abzubrechen oder zu unterbrechen.55 Ein Wunsch, dem nicht nachgekommen wurde. Doch nach einem hochschulpolitisch noch recht bewegten Dezember – so traf unter anderem am 4. Dezember Rektor Winckler erstmals zum Austausch auf die Studierenden im Audimax der Universität Wien56 und am Tag darauf fand die erste bundesweite Großdemonstration der Bildungsbewegung unter dem Slogan education is not for sale!57 statt – kam es am 21. Dezember 2009 aufgrund einer vom Rektorat festgestellten, massiv verschärften und nicht mehr kontrollierbaren Sicherheitslage zur Räumung des Audimax durch die Polizei. Zu jenem Zeitpunkt befanden sich etwa 80 Obdachlose und nur mehr rund 15 Studierende im Audimax.58 Zu den Gründen der Räumung hatten neben der Verhaftung eines in Deutschland gesuchten Demonstranten [. . .] auch Raufereien und Randale, Drogenhandel und -konsum

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Ebd. Ebd. Vgl. u. a. die Interviews mit dem Vizerektor Martin Polaschek und dem Studiendekan Helmut Eberhart, in: Regina Rampetzreiter, Brennt die Uni noch?! (unpubl. Masterarbeit Graz 2012), S. 70–80; Stellungnahme des Rektorats der Universität Salzburg, in: Uni brennt (Anm. 41), S. 301. Erich Witzmann, Drei Stunden Uni-Gipfel. Lösungen sind nicht in Sicht, in: Die Presse (25.11.2009), S. 2. O. V., Lostag für Österreichs Universitäten. Dialog Hochschulpartnerschaft startet. Wissenschaftsminister Hahn hofft auf maximal breiten Konsens, in: Wiener Zeitung (25.11.2009), S. 2. Übertragung via Livestream. Aus dem Grundtenor – fehlende Mitbestimmung der Studierenden, Unterfinanzierung der Unis, sowie mangelnde Umsetzung von Reformen aufgrund des Zeitdrucks – entwickelte sich die Forderung zur Demokratisierung der Universitäten. Flyer: education is not for sale! Erste bundesweite Großdemo der Bildungsbewegung (05.12.2009). APA, Studentenproteste. Audimax. Von der Partymeile zum Obdachlosenasyl (21.12.2009); Lisa Nimmervoll und Tanja Traxler, Universität Wien sperrt ihre Pforten, in: Der Standard (22.12.2009), S. 8; o. V., Uni Wien schließt bis Jänner. 15 Studierende und 80 Obdachlose wurden am Montag aus dem Audimax gewiesen, in: Wiener Zeitung (22.12.2009), S. 4.

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und ein Beinahe-Fenstersturz gezählt.59 An einigen österreichischen Universitäten (Graz, Klagenfurt, Linz und Wien) gab es zu jenem Zeitpunkt noch kleinere besetzte Räumlichkeiten. Mitunter war es auch zu Einigungen zwischen den Studierenden und Rektoraten und gemeinsam eingeleiteten Änderungen, wie etwa an der Universität Salzburg, gekommen.60 Am 31. Dezember 2009 beendete das Rektorat der Akademie der Bildenden Künste als Letztes die Besetzung ihrer Hochschulräumlichkeiten.61

2.1. Allgemeine Forderungen der Studierenden Die Forderungskataloge an den einzelnen Universitäten waren sehr breit angelegt und variierten standortspezifisch. Anhand der Forderungen wird klar ersichtlich, dass die Punkte nicht in erster Linie mit der Bologna-Reform zusammenhingen, wenngleich die Bologna-Reform und die dreigliedrige Studienstruktur bereits 2009 stark im Zentrum der Diskussionen standen.62 Zur Verdeutlichung folgen einige Punkte aus dem studentischen Katalog der Universität Wien, der innerhalb des ersten Monats von der Protestbewegung erstellt wurde: – Demokratisierung der Universitäten: Gefordert wurde eine Demokratisierung der Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen, die alle vier Kurien, ProfessorInnen, Mittelbau, Studierende, allgemeines Universitätspersonal einbeziehen würde, sowie eine demokratische Selbstverwaltung der Universität. – Keine Ökonomisierung der Bildung: Stattdessen wurde der freie Hochschulzugang, die Abschaffung aller Formen von Studiengebühren, die Ausfinanzierung der Universitäten und die Beseitigung prekärer Arbeitsverhältnisse in Bildungseinrichtungen unter der Maxime Bildung statt Ausbildung gefordert. – Selbstbestimmtes Studieren: Verlangt wurden die Abschaffung der Studieneingangsphase, die aufgrund ihres selektierenden Charakters und ihrer Knock-out-Prüfungen abgelehnt wurde, sowie Erweiterungscurricula zugunsten freier Wahlfächer. Noch bestehende Diplomstudiengänge sollten beibehalten werden. – Antidiskriminierung: Die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes und einer 50-prozentigen Frauenquote in allen Bereichen wurde verlangt.63

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Nimmervoll/Traxler, Universität Wien (Anm. 58). APA, Studentenproteste. Noch viele Brandherde nach Audimax-Räumung (21.12.2009); Stellungnahme des Rektorats der Universität Salzburg (Anm. 53). 61 Sniesko, Abriss (Anm. 41), S. 312. 62 Rampetzreiter, Brennt die Uni noch (Anm. 53), S. 72–74. 63 Allgemeiner Forderungskatalog der protestierenden Studierenden der Universität Wien. Beschlossen im Audimax-Plenum am 30. Oktober 2009, in: Uni brennt (Anm. 41), S. 159–162. Vgl. auch die Stellungnahme des Rektorats der Universität Salzburg (Anm. 53).

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2.2. Politischer Hintergrund und Einstellungen gegenüber den Protesten von Studierenden Neben den Forderungskatalogen erscheint eine Studie im Kontext der Studierendenproteste bezüglich der Beweggründe, an diesen teilzunehmen, als besonders aufschlussreich und aussagekräftig. Die von Julia Breitkopf, Stefan Fercher, Sofia Kirilova, Cornelia Strasser, Tobias Troger und Markus Vonach durchgeführte Erhebung wurde zum Zeitpunkt der Studierendenproteste 2009 im Rahmen einer Vorlesung erstellt. Trotz der schwierigen Begleitumstände – teilweise verweigerten die StudienvertreterInnen und Fachschaftslisten, den Fragebogen weiterzuleiten – konnten insgesamt 767 Studierende der Universität Wien, die an den Protesten teilgenommen hatten, hinsichtlich ihrer Motivation sowie ihrer politischen Haltung befragt werden.64 Die AutorInnen hielten fest, dass die Einstellungen der Studierenden zur Bewegung und den Protestaktionen sehr heterogen waren, da die Palette von aktiven BesetzerInnen des Audimax, von Studierenden, die interessiert, aber nicht aktiv engagiert waren oder ihre Beteiligung in Gesprächen mit Interessierten zum Ausdruck brachten, bis hin zu absoluten GegnerInnen reichte. Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, „dass jene Personen, die die Protestaktionen durchführten, als unhinterfragte RepräsentantInnen einer homogenen Gruppe gelten können, oder dass ihre Wahl[,] studentische Anliegen zu vertreten[,] auf einem einhelligen Einverständnis aller Studierende[n] basierte.“65 Eine Feststellung, die allerdings auch auf offizielle Vertretungen und somit auf die Hochschülerschaft im Allgemeinen zutrifft. Vor allem studentische ÖVP- und FPÖ/BZÖ-WählerInnen lehnten die Protestbewegung ab und forderten am häufigsten eine Beendigung derselben. Eine Haltung, die auch Mitglieder von StudentInnenverbindungen mehrheitlich zum Ausdruck brachten. Dagegen unterstützten in erster Linie Grüne und KPÖ-WählerInnen die Protestbewegung und deren Forderungen, wenngleich nicht alle BefürworterInnen aktiv tätig waren.66

2.3. Interaktion zwischen Universitäten und Studierenden Die einzelnen Rektorate handhabten den Umgang mit den Studierendenprotesten und den räumlichen Besetzungen durch die Bewegung sehr unterschiedlich. Viele Hochschulleitungen führten mit den BesetzerInnen beziehungsweise den StudierendenvertreterInnen, die nicht mit der ÖH gleichzusetzen waren, einen intensiven Dialog, wie an den Universitäten in Innsbruck und Salzburg. Bei vielen dieser Kooperationen war die Bologna-Reform unweigerlich eines der Hauptthemen, da sich insbesondere durch diesen undefinierbaren Bologna-Prozess bei Studierenden und

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Julia Breitkopf u. a., Die Studierendenproteste 2009. Einstellungen und Beteiligung der Studierenden in Wien (unpubl. Arbeit aus der Vorlesung „Quantitative Methoden“, WS 2009/2010), S. 3–9. Ebd., S. 4. Ebd., S. 18–21, 46 f., 54 f.

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Lehrenden ein gewisser Frust angesammelt hatte.67 Neben der Bereitstellung von Räumlichkeiten konnten auch gemeinsame Projekte erarbeitet und umgesetzt werden, die durch die ministerielle Notfallreserve von 34 Millionen Euro finanziert wurden. Diese war durch Wissenschaftsminister Johannes Hahn im Rahmen des „Dialogs Hochschulpartnerschaft“ zur Verfügung gestellt worden.68 Zudem führte man die Implementierung der Studienreform (je nach Standort unterschiedlich weit gediehen) aktiv fort. Ein wesentliches Anliegen von Rektoraten und Studierenden war die Einforderung der politisch längst zugesagten Roadmap zum Zwei-Prozent-Ziel für eine qualifizierte, wettbewerbsfähige Universitätslandschaft und eine Aufstockung der finanziellen Mittel.69 Der in der Politik formulierte Wunsch, dass die Universitäten die Bologna-Reform ohne zusätzliche Budgets umsetzen sollten, und das gleichzeitige Fehlen von Zielen, die mit der Implementierung von Bachelorund Masterstudien verwirklicht werden sollten, wurden kritisiert und mitunter als Politikversagen bezeichnet.70

3. CHRONOLOGIE DER STUDIERENDENPROTESTE 2010 Mit der in Budapest und Wien stattfindenden Jubiläumsfeier Mitte März 2010, in deren Rahmen auch die „Budapest-Wien-Deklaration“71 unterzeichnet wurde, kam es erneut zu Studierendenprotesten. Die Vorbereitungen dazu hatten bereits im Januar begonnen. In dieser zweiten Protestphase lag der Schwerpunkt hauptsächlich auf den Bologna-Papieren und auf der durch die „Bologna-Deklaration“ empfohlenen Umstellung auf die dreigliedrige Studienstruktur. Der Slogan lautete nun: Bologna Burns!72 Der Fokus der Umsetzung der Bologna-Reform lag auf dem UG 02, das viele ForscherInnen und AkteurInnen als eigentlichen Bezugsrahmen heranziehen, obwohl die rechtlichen Voraussetzungen für die Umsetzung bereits im Jahr 1999 geschaffen worden waren.73 Im Gegensatz zu 2009 waren nun keine großen Hörsäle wie das Audimax besetzt worden, allerdings traf sich die Bewegung in kleineren Hörsälen wie dem Uni 67 68

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Diese Bezeichnung stammt aus einem Interview mit dem Vizerektor für Lehre der Universität Graz, Martin Polaschek. Vgl. Rampetzreiter, Brennt die Uni noch (Anm. 53), S. 72. Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Dialog Hochschulpartnerschaft. Empfehlungen zur Zukunft des tertiären Sektors. Ergebnisbericht des Dialogs Hochschulpartnerschaft, Wien 2010. Stellungnahme des Rektorats der Universität Salzburg (Anm. 53); ÖH, Pressekonferenz der ÖH-Bundesvertretung. Antworten auf die Hochschulkrise, Presseunterlage (11.11.2009); Österreichische Universitätenkonferenz, Nach UG-Beschluss. Rektoren verlangen Lösung offener Grundsatzfragen. Presseaussendung uniko (10.07.2009); Magdalena Rauscher im Interview mit Christoph Badelt, Das ist extrem ungerecht, in: Kurier (30.11.2009), S. 3; Nina Weißensteiner, Die Uni brennt! Das Geld reicht nicht!, in: Der Standard (11.11.2009), S. 2. Ebd., S. 72 f.; o. V., uniko-Mitglieder gegen Pauschalverurteilung von Bologna, in: Newsletter der Österreichischen Universitätenkonferenz 2/10 (17.03.2010). Budapest-Vienna Declaration on the European Higher Education Area (12.03.2010). Flyer: Bologna Burns. Streikversammlung. Bologna den Prozess machen! 10 Jahre Bologna. Kein Grund zu feiern. 19. Jänner 2010, 19 Uhr, Hörsaal C1. Altes AKH. Universität Wien. Westphal, Bologna-Reform (Anm. 3), S. 134–136.

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Campus Wien oder an der Akademie der Bildenden Künste. Der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit verlagerte sich von den Gesprächen zwischen BesetzerInnen und Rektoraten auf die nahende MinisterInnenkonferenz in Wien und den Hochschuldialog. Vereinzelte Besetzungen, die seit dem Jahreswechsel wieder stattgefunden hatten, wurden sowohl in Österreich als auch in Deutschland bis Mitte Februar beendet. Jedoch stellten die Rektorate den AktivistInnen in vielen Fällen bei Bedarf Hörsäle zur Verfügung. Einzig an der BOKU und der Akademie der Bildenden Künste hatten sie noch bestimmte Räumlichkeiten zur Verfügung.74 Aus diesen Gründen verlagerte sich die Kommunikation vorwiegend auf den digitalen Raum. Die Studierendenvertretung hatte als Gegenveranstaltung zum Hochschuldialog den ÖHKongress „Higher Education Reloaded“ vom 19. bis 21. Februar in Wien organisiert. Bis zur Konferenz der BildungsministerInnen fanden noch mehrere Vorbereitungstreffen für die Planung verschiedener Proteste, Aktionen und des studentischen Gegengipfels statt. Im Februar 2010 kam es mit der neuen Wissenschaftsministerin Beatrix Karl vonseiten des Ministeriums insofern zu einer rhetorischen Wende, als die existierenden Probleme bei der nationalen Umsetzung, Fehlentwicklungen und die nicht optimal gelaufene Implementierung der Bologna-Reform den Universitäten zugeschrieben wurde.75 Um die MinisterInnenkonferenz, die am 11. März in Budapest und am 12. März in Wien stattfinden sollte, gab es in mehreren Städten, so auch in Wien, Demonstrationen und Veranstaltungen. Es wurde von Gipfel Sprengen,76 Bologna den Prozess machen, Streiken, Blockieren, Alternativen diskutieren77 und vielem mehr gesprochen und diskutiert. Zahllose Zeitungsartikel berichteten über die Blockaden und Demonstrationen der Studierenden, die unter dem Motto uni brennt beziehungsweise bologna burns! liefen. Das Ziel der blockierten Verkehrswege sollten sogenannte Zugangsbeschränkungen für die MinisterInnen auf ihrem Weg zur Hofburg sein, wo am 12. März eine Abendgala stattfand – in Analogie zu Zugangsbeschränkungen an Universitäten.78 In etwa zur gleichen Zeit hielten Studierende den Gegengipfel „Reclaim your Future!“ an der Universität Wien ab, wo versucht wurde, inhaltliche 74 75

Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 151–155, 193–196. Amina Beganovic und Karin Jirku, Das Problem der Umsetzung. Im Gespräch mit der neuen Wissenschaftsministerin, in: Falter/Durst 1 (2010), S. 19 f.; Ingrid Brodnig, Bologna? Arrabiata! Mit Protesten und Schuldeingeständnissen begann die zweite Halbzeit des Bologna-Prozesses. Noch gibt es Hoffnung für das große europäische Hochschulprojekt, in: Falter 11 (2010), S. 16; Christoph Schwarz, Bologna-Kritik. Umsetzung ist fehlerhaft. Vor dem Bologna-Gipfel in Wien will niemand an den Fehlentwicklungen im neuen Studiensystem schuld sein, in: Die Presse (18.02.2010); Daniela Mathis im Interview mit Generalsekretär Friedrich Faulhammer, Wir sind nicht alleine, in: Die Presse (24.02.2010), S. F2; Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 151–156. 76 Flyer: Gipfel Sprengen. 10 Jahre Bologna-Prozess, 11.–14. März Wien. 77 Flyer: 10 Jahre Bologna Gipfel. Auf zur Gipfeltour nach Wien. Bologna den Prozess machen. Streiken. Blockieren. Alternativen diskutieren, 11. März 2010 (Budapest). 12. März 2010 (Wien). 78 Peter Grolig, Studenten-Protest. Demos legen heute Stadt lahm, in: Kurier (11.03.2010), S. 18; Katharina Schmidt, Bologna brennt. Und Wien gleich mit. Konferenz zum zehnjährigen Jubiläum des Bologna-Prozesses in Wien sorgt für massenhafte Studentenproteste, in: Wiener Zeitung (11.03.2010), S. 4; dies., Neustart für Bologna-Prozess. Wissenschaftsministerin gesteht Fehler bei Bologna-Umsetzung ein und gelobt Besserung, in: Wiener Zeitung (13./14.03.2010), S. 6.

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Kritik anzubringen. Bezeichnend ist, dass die studentischen Aktionen sich durch die Verwendung eines an Metaphern reichen Vokabulars (Wir tanzen nicht zu eurer Bolognese,79 Morbus Bologna,80 Burning university – make Bologna history81 u. a.) bedienten. Jedoch kam es weder zu Gewaltausschreitungen noch zur Umsetzung des Slogans burning university;82 vielmehr stand die Kommunikation und Visualisierung der kritischen Zustände im Mittelpunkt. Hinsichtlich der „Budapest-Wien-Deklaration“ waren die Studierendenproteste dahingehend erfolgreich, dass sie zumindest in die Erklärung einflossen beziehungsweise angeführt wurde, dass einige der Ziele und Reformen nicht richtig umgesetzt und vermittelt wurden.83 Nach dem Jubiläumsgipfel nahmen die Protestaktionen an den Hochschulen Österreichs rasch ab. Mit dem Ende des Hochschuldialogs und der nahenden vorlesungsfreien Zeit endete auch die zweite Phase.

4. HAUPTKRITIKPUNKTE DER STUDIERENDEN AM BOLOGNA-PROZESS Zentrale Motive für die aktive Beteiligung an den Studierendenprotesten, die gleichzeitig die Hauptkritikpunkte darstellten, wurden in der „Unzufriedenheit mit den eigenen Studienbedingungen“ sowie im Zustand der Universität per se gesehen.84 Dazu gehörten auch Aspekte, die nicht mit der Bologna-Reform zusammenhingen, wie beispielsweise sogenannte „Knock-Out-Prüfungen“, Selektionsmechanismen zu Studienbeginn, ein Mangel an Mitbestimmungsoptionen, undemokratische Entscheidungsfindungsprozesse und die häufig kritisierte Ökonomisierung der Bildung und der Hochschulen.85 Simone Kekeisen beschreibt diese Zustände zu Recht als „Begleitsymptome des Bologna-Prozesses und somit auch der Ökonomisierung der Bildung“, obwohl einige Aspekte vielmehr mit einer Massifizierung des Hochschulsystems, fehlenden Regelmechanismen der Universitäten oder einem ungeregelten Hochschulzugang in Verbindung zu bringen sind.86

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APA-Foto, Wir tanzen nicht zu eurer Bolognese, in: Der Standard (13./14.03.2010), S. 34. Bologna-Prozess. Minister feiern trotz Studentenprotests, in: Der Standard (12.03.2010), S. 1. Astrid-Madeleine Schlesier und Tanja Traxler, Techno und Transparente für „freie Universität“, in: Der Standard, Themenheft Bologna (12.03.2010), S. 3. Bernadette Bayerhammer und Regina Pöll, „Wie studiert der Depp? Step by Step“. Proteste. Studenten machen gegen neues Uni-System mobil. Harte Bandagen für Minister, in: Die Presse (12.03.2010), S. 5. Budapest-Vienna Declaration (Anm. 71). Simone Kekeisen, Die Studierendenproteste 2009. Eine Studie zur Einstellung Studierender zum Bildungsprotest am Beispiel Studierender der Bildungswissenschaft an der Universität Wien (unpubl. Diplomarbeit Wien 2012), S. 244. Viele dieser vorgebrachten Punkte wurden bereits 2009 in unterschiedlichen Settings angeführt – wie bspw. in einem Austausch zwischen Audimaxisten, Rektor Georg Winckler, Vizerektorin Christa Schnabl und Vizerektor Heinz Engl am 4. Dezember 2009 im Audimax der Universität Wien (Mitschrift von Elisabeth Westphal). Vgl. auch Breitkopf u. a., Studierendenproteste (Anm. 64); Kekeisen, Studierendenproteste (Anm. 84), S. 161 f.; Foltin, Geschichte (Anm. 35), S. 198 f. Kekeisen, Studierendenproteste (Anm. 84), S. 164.

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Sowohl in der Zeitungsberichterstattung als auch in Interviews und Studien wurde häufig Kritik an der Verschulung und den überfrachteten Curricula der Bachelorund Masterstudien angeführt. Diese würden den Studierenden wenig Möglichkeiten zum Hineinschnuppern in andere Fächer sowie wenig Zeit geben, um sich gemäß den eigenen Interessen mit einigen Themen vertiefend auseinanderzusetzen. Zudem wurde immer wieder eine zu stark auf Berufsqualifizierung abgestellte Ausrichtung moniert, die mit einer Ausbildung gleichgesetzt wurde.87 Die Verschulung ist auf die zu starke Strukturierung mancher Curricula und Inhalte zurückzuführen, die allerdings in keinem der Bologna-Papiere eingefordert wurde. Auch die Sichtweisen auf die „Employability“ waren vielfach durch falsche Informationen oder Übersetzungen geprägt.88 Ulrich Teichler hat die Termini „berufliche“ beziehungsweise „professionelle Relevanz“ als deutsches Pendant zur „Employability“ geprägt.89 So sollten StudienabsolventInnen in der Lage sein, to purposefully use all the different competences in order to fulfil given professional tasks and/or to reach own professional targets and to adapt these competences to new environments and requirements.90 Eine klassische Berufsausbildung in jedem Fach war und ist im universitären Kontext in den meisten Fächern damit nicht gemeint. Weitere Kritikpunkte der Studierenden waren, dass es bei einer allfälligen Umstellung von „alten“ Diplomstudien beziehungsweise einer folgenden Umstufung zum Teil nicht zu einer Anerkennung bereits absolvierter Prüfungen kommen würde.91 RektorInnen wie Studierende kritisierten zudem die vom Ministerium aufgetragene Kostenneutralität bei der Umstellung auf die dreigliedrige Studienstruktur sowie bei der Entwicklung von Studienplänen,92 durch die viele Ideen nicht verwirklicht werden konnten.93 Der von Ministerin Beatrix Karl geplante Maßnahmenkatalog „Bologna-Reloaded“, der Empfehlungen zur Studienplanerstellung für die Universitäten ohne vorherige Absprache vorsah, wurde von den Hochschulen abgelehnt. 94 87

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Vgl. exemplarisch o. V., Bologna. Uni-Demokratie vor dem Aus? Die Entwissenschaftlichung der Hochschule führe zur Entdemokratisierung, sagt Uni-Experte Torsten Bultmann, in: Die Presse (21.02.2010); Thomas Schmidinger, Willkommen. Frau Minister! Um die Unis aus der Krise zu holen, braucht man Geld. Aber nicht nur, in: Die Presse (02.02.2010); Rampetzreiter, Brennt die Uni noch (Anm. 53), S. 72–77; Ulrich Teichler, Bologna. Kontinuität und Wandel der Hochschulentwicklung, in: Universität nach Bologna? Hochschulkonzeptionen zwischen Kritik und Utopie, hg. von Helmut Guggenberger, Paul Kellermann und Karl Weber (kritik & utopie), Wien 2016, S. 74–95; Erich Witzmann, Die Schwachstellen von Bologna. Interview. Der deutsche Bildungswissenschaftler Rolf Schulmeister kritisiert die Bachelorstruktur, in: Die Presse (25.01.2010), S. 25. Elisabeth Westphal, Respondence to Lee Harvey’s Contribution Employability and Transformative Learning, in: Universität in Zeiten von Bologna, hg. von Brigitte Kossek und Charlotte Zwiauer, Göttingen 2012, S. 281–287. Ulrich Teichler, Hochschule und Arbeitswelt. Konzeptionen, Diskussionen, Trends (Campus Forschung Hochschule und Gesellschaft), Frankfurt a. M./New York 2003, S. 175–201. EHEA Definitionen zu „employability“ : (abgerufen am 31.01.2018). Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 126. O. V., uniko-Mitglieder gegen Pauschalverurteilung von Bologna (Anm. 70). Ebd. APA, Rektoren wollen Bologna nicht neu aufladen (28.03.2010); OTS, Bologna Reloaded. Beatrix Karl präsentiert zehn Maßnahmen zur verbesserten Bologna Umsetzung in Österreich.

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Elisabeth Westphal

5. ERGEBNISSE AUS DEN PROTESTEN Die Forderungen der AktivistInnen lassen sich in drei Bereiche teilen: 1.) Forderungen an die einzelnen Bildungseinrichtungen, 2.) bildungspolitische und 3.) gesamtgesellschaftliche Forderungen. Mehrere Ansinnen auf der Ebene der einzelnen Hochschulen (1) – erweiterte Bibliotheksöffnungszeiten, eine Verminderung der Fortsetzungsketten, Gestaltung der Curricula im Sinne einer Studierendenzentriertheit, Schaffung von mehr Räumlichkeiten für die Studierenden – konnten verwirklicht werden, was einen studentischen Erfolg darstellt.95 Die bildungspolitischen Themen (2) – Entdemokratisierung der Universitäten, insbesondere durch das UG 02, das als geistiges Kind des New Public Managements gesehen wurde, die Unterfinanzierung, die Überlastung der Hochschulen oder die als mangelhaft bezeichnete Umsetzung der Bologna-Reform – fanden in der Öffentlichkeit und in der medialen Berichterstattung die größte Aufmerksamkeit. Dagegen wurden die gesamtgesellschaftlichen Forderungen (3) – die vor allem im Rahmen der Proteste des Jahres 2009 auftauchten und die in erster Linie gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche gerichtet waren – nicht nur medial beinahe vollständig ignoriert.96 Hinsichtlich der Reaktionen auf die Studierendenproteste lässt sich festhalten, dass sich die Rektorate sowohl mit den Protestbewegungen als auch mit den beteiligten Studierenden – wenngleich in unterschiedlicher Weise und Intensität – auseinandersetzten. Anders verhielt sich der Umgang der Regierung mit den Protesten: Wissenschaftsminister Johannes Hahn hatte 2009 den Dialog mit den Studierenden durchgehend verweigert. Diese Vorgehensweise wurde der Regierung negativ ausgelegt und als „eine Politik des Aussitzens“ bezeichnet.97 Zwar rief der Wissenschaftsminister den Hochschuldialog aus und stellte eine zusätzliche Finanzierung ausschließlich für die Behebung von Problembereichen, die von Studierenden und Rektoraten gemeinsam ausgemacht worden waren, zur Verfügung, allerdings wurde das gewährte Budget als nicht ausreichend angesehen.98 Aufgrund fehlender Verbindlichkeit des Hochschuldialogs vonseiten der Politik, fehlender Budgetmittel und angekündigter Sparpläne für das Haushaltsjahr 2011 schied die Österreichische Universitätenkonferenz, und somit die RektorInnen der öffentlichen Universitäten, am 23. März 2010 aus dem Hochschuldialog aus.99 Die HochschülerInnenschaft folgte dann am 14. Mai 2010, da die Gespräche zunehmend den Charakter eines Scheindialogs angenommen hatten, zumal ohnehin Zugangsbeschränkungen geplant waren und der allgemeine Universitätshaushalt verringert werden sollte.100 Vonsei-

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Foltin, Geschichte (Anm. 35), S. 198; Stellungnahme des Rektorats der Universität Salzburg (Anm. 53). Foltin, Geschichte (Anm. 35), S. 198 f.; Kekeisen, Studierendenproteste (Anm. 84), S. 109. Kekeisen, Studierendenproteste (Anm. 84), S. 109. Michael Fleischhacker, Die Politik hat den Protest verdient, in: Die Presse (21.12.2009); Kekeisen, Studierendenproteste (Anm. 84), S. 119. Christoph Schwarz, Protest gegen Karl. Rektoren verlassen Uni-Dialog, in: Die Presse (23.03.2010). Ders., Karls Vorgehen erzürnt Studenten. Universität. ÖH verlässt den Hochschul-Dialog: Die Ministerin torpediert unsere Arbeit, in: Die Presse (15.05.2010), S. 4.

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ten des Wissenschaftsministerium war – zumindest offiziell – keine Reflexion der eigenen Rolle im Werdungsprozess der Bologna-Reform zu erkennen. Die Proteste zogen ein starkes Medienecho nach sich. Bei einem Vergleich der Berichterstattung von 1998/1999 zur Zeit der Entstehung der „Bologna-Deklaration“ mit jener von 2009/2010 war letztere wesentlich umfangreicher, fundierter, informierter und akkurater.101 Nicht nur national, sondern auch international wurde über die von Wien ausgehenden Besetzungen und Aktionen berichtet, wenngleich die österreichische Berichterstattung einen Hang zur negativen Darstellung hatte. Zu diesem Resümee kam auch Ingrid Brodnig: Sogar liberal gesinnte Journalisten diffamierten – anders als ihre Kollegen in Deutschland – den Protest von Anfang an. Während Wiener Leitartikler nur eine „Freak-Show“ oder „TupperwarePartys“ im Audimax erkennen konnten, rief die deutsche „Zeit“: „Nieder mit Bologna!“ Die konservative „FAZ“ verkündete: „Die Bologna-Blase ist geplatzt.“ Und sogar die „Bild“ forderte Studierende auf, ihren Frust online zu artikulieren.102

6. ORGANISATION UND FORMEN DES PROTESTES Die Proteste wurden nicht von der offiziell gewählten Studierendenvertretung organisiert, sondern von basisdemokratischen Strukturen. So gab es ein Plenum, das als Entscheidungsfindungsorgan aller präsenten AktivistInnen agierte. Zusätzlich gab es noch Arbeitsgruppen (Presse, Volksküchen, Versorgung, Programm, Abendgestaltung). Aufgrund der innerhalb weniger Tage angestiegenen Aktivitäten wurde ein Koordinationsteam eingesetzt, das den Überblick behalten sollte. Die Basisdemokratie wurde als ein Prozess verstanden, der eine Re-Demokratisierung der Universität anstrebte.103 Trotz der heterogenen Positionen unter den AktivistInnen existierte eine wechselseitige Akzeptanz, die sich in dem Motto „Die Bewegung ist kein Ganzes. Die Bewegung sind viele einzelne“ widerspiegelte.104 Die Besetzung des Audimax und der Aula der Akademie der Bildenden Künste führte zu einer Verlagerung eines Großteils des Tagesablaufs der Studierenden in die Universitäten und hatte somit auch Einfluss auf das gemeinschaftliche Zusammenleben. So wurden die Räume durch persönliche Gegenstände wie Möbel oder Pflanzen wohnlicher gestaltet und neben den gemeinsamen Protestaktionen kam dem gemeinsamen Putzen, Kochen oder Essen ein hoher Stellenwert zu.105 Diese Aneignung des öffentlichen Raums für alle Lebensbereiche und somit auch die Etablierung einer auf

101 Westphal, Geburtsstunde der Bologna-Reform (Anm. 9). 102 Ingrid Brodnig, Eine heiße Aktion endet am kalten Morgen. Das Audimax ist geräumt. Anders als in Deutschland wurden die Studierenden verhöhnt. Ein Schaden für alle, in: Falter 52 (2009), S. 21. 103 Jakob Arnim-Ellissen und Barbara Maier, Die Organisationsstruktur der Audimax-Besetzung. Angewandte Basisdemokratie. Zwischen Organisation und Selbstverantwortung, in: Uni brennt (Anm. 41), S. 194–199. 104 Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 185. 105 Ebd., S. 180 f.; Arnim-Ellissen/Maier, Organisationsstruktur (Anm. 103).

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Elisabeth Westphal

längere Zeit ausgerichteten Infrastruktur wurde als Aktionsform von Studierenden anderer Universitäten übernommen.106 Die Verwendung neuer Medien, mittels derer eine „Art der Vernetzung, Mobilisierung, Teilnahme und -habe sowohl im Inneren als auch außerhalb der Bewegung möglich“ wurde, war „in Österreich bis dahin einzigartig und weder von politischen Parteien noch von anderen Protestkollektiven in diesem Umfang praktiziert worden.“107 Die uni-brennt-Bewegung war folglich der „erste große OnlineProtest“108 mit eigener Website, Social-Media-Aktivitäten, einem Livestream und vielem mehr.109 Durch diese breite Dokumentation der Aktivitäten und Pläne konnten viele InteressentInnen und Studierende erreicht werden und es wurde auch eine digitale Teilnahme an der Protestbewegung möglich.110

7. ZUSAMMENFASSUNG Durch fehlende oder unzureichende inhaltliche Auseinandersetzung mit zwei wesentlichen universitären Belangen kam es gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zu Studierendenprotesten, die der aufgestauten Kritik und Unzufriedenheit Luft machen sollten: Erstens gab es bei der Einführung der dreigliedrigen Studienstruktur auf nationaler und institutioneller Ebene zu wenig Gesprächsangebote; zweitens blieb durch den Fokus auf die im Entstehen begriffene Organisationsreform zu wenig Diskussionsraum für die Studienreform per se und für die Inhalte und Auswirkungen der „Bologna-Deklaration“ übrig. Das Fehlen an kritisch reflektierten Auseinandersetzungen führte letztlich zu den studentischen Protesten, die gewaltfrei, jedoch aktionistischer Natur waren. Wie auf europäischer Ebene, wo häufig Europapolitik genutzt wird, um nationale Ziele durchzusetzen, wurden in Österreich mit der Bologna-Reform viele anders gelagerte Aspekte in Verbindung gebracht, um gewisse lang gehegte Wünsche zu realisieren. In puncto Kritik und Protest bezüglich nicht funktionierender Abläufe im Hochschulbereich setzte sich das Amalgam von Reformen auf den diversen Ebenen unterschiedlichster Provenienz fort. So wurden andere Reformen, die im Sinne einer Ökonomisierung oder des New Public Managements gesehen werden können, mit der „Bologna-Deklaration“ und Folgekommuniqués sowie deren Aktionspunkten in Verbindung gebracht, mit denen sie eigentlich nichts zu tun hatten. In Österreich verband man beispielsweise das UG 02 mit dem Bologna-Prozess und einer entsprechenden Ökonomisierung der Bildung.111 Das häufige Kolportieren, dass die

106 Foltin, Geschichte (Anm. 35), S. 192. 107 Haselwanter, Gesellschaft (Anm. 21), S. 186. 108 Oona Kroisleitner und Selina Thaler, Produktives Scheitern einer Studentenbewegung, in: Der Standard (22.10.2014), S. 2. 109 Zur Website siehe (31.01.2018). 110 Foltin, Geschichte (Anm. 35), S. 191; Sniesko, Abriss (Anm. 41), S. 308. 111 Paulo Freire Zentrum und Österreichische HochschülerInnenschaft (Hg.), Ökonomisierung (Anm. 21).

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Bologna-Reform von der Europäischen Union ausgehend eine verpflichtende Initiative ist, lässt sich in dieses Narrativ einreihen. Ebenso schließt die von Studierenden vorgebrachte Kritik der Ökonomisierung der Bildung hier an. Die Proteste von 2009/2010 haben somit nur zum Teil mit der Bologna-Reform zu tun; vielmehr kritisierten sie die Governance-Strukturen, den Umbau der Universitätsorganisation, die prekären Beschäftigungsverhältnisse im Hochschulwesen, die Gestaltung der Curricula, die Massenveranstaltungen, das fehlende Lehrpersonal oder die mangelnde Infrastruktur. Zudem lag der Fokus nicht nur auf universitätspolitischen Themen. Bologna wurde somit zum Sündenbock für viele nationale Reformen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stilisiert. Das nahende zehnte beziehungsweise elfte Jahresjubiläum wurde 2009 von den Studierenden als willkommenes Ereignis gesehen, um diesen Unmut zu äußern und auf – als notwendig empfundene – Reformen und Nachjustierungen zu drängen. Die Proteste an den einzelnen Universitäten waren zum Teil von den Zuständen an den einzelnen Universitäten geprägt, was unterschiedliche Reaktionen und Ausformulierungen von Protest zur Folge hatte. Prinzipiell brachten die meisten österreichischen Universitätsleitungen den Studierendenprotesten ein gewisses Maß an Verständnis entgegen, obwohl sie sich größtenteils eher zurückhaltend zeigten. Trotz alledem wurden die durch die Protestbewegung ausgelösten Diskussionen von zahlreichen AkteurInnen – wie etwa den RektorInnen und VizerektorInnen – begrüßt.112 Als der größten Hochschule Österreichs kam der Universität Wien besondere Beachtung zu – insbesondere durch die Besetzung des Audimax. Die Gründe für die rasche Verbreitung der Protestbewegung sind in dem aufgestauten Druck an den Hochschulen zu sehen. Fehlendes politisches Verständnis hinsichtlich der Komplexität der Umstellung, Zeitdruck, das Paradigma der Kostenneutralität sowie der fehlende Diskurs zur Reform und negative Effekte bei der Umstellung führten im Jahr 2009 zu den hier untersuchten Protesten, die sich in Österreich und ganz Europa rasch verbreiteten. Aus österreichischer Perspektive war es ein Novum, dass sich eine lokale Protestaktion weltweit ausbreitete und auf einen derart starken Widerhall stieß. Im Vergleich zu bewaffneten und von Gewalt geprägten Studentenprotesten aus dem 19. und 20. Jahrhundert stellt die uni-brennt-Bewegung eine neue, gleichsam gewaltlose Protestform dar, die durch ihre unkonventionelle Protestorganisation, die Nutzung neuer Kommunikationsmedien, wie Facebook, Twitter oder Livestream, sehr rasch einen großen Bekanntheitsgrad erlangte und so weitere Interessierte mobilisieren konnte. Diese modernen Kommunikationsströme ermöglichten es den Sympathisanten, an der Studierendenbewegung digital teilzunehmen und diese auch vom heimischen Computer oder mithilfe des Smartphones zu unterstützen – ebenfalls ein Novum in der österreichischen Protestkultur. Dr. Elisabeth Westphal Österreichische Universitätenkonferenz, Floragasse 7/7, A-1040 Wien, [email protected]

112 Rampetzreiter, Brennt die Uni noch (Anm. 53), S. 72–77.

ERGEBNISSE UND AUSBLICK Holger Zinn

Abstract: The processes of student radicalization that are visible at many times since 1800 have no common causes and no similar course. They must be considered individually in their historical context. However, few general rends of radicalization are noticeable. While around 1815 more than 50 percent of the student body took part in protests, participation fell to a low single-digit figure today. The same applies to the importance of traditional student organizations: Whereas around 1820 the majority of students was organized in fraternities, it is still only a few percent today. Attendance at protests can serve as a career springboard. This phenomenon can be observed constantly. The use of the media was – then as now – an important instrument for bringing the topics of the protest closer to a broad public. Of particular interest is the multiple and radical shift in the direction of political protest. Initially still patriotic, the students took an aggressive anti-semitic position from 1875 to act in a national-conservative to “völkisch”-nationalist way after 1918 which made them vulnerable to National Socialism even before 1933. After political indifference from 1945 to 1968, a short and radical turn to the left followed. Since then, the political interest of the mass of students has flattened more and more. Overall, it can be said that violence in various forms has a long tradition in the student milieu. Many student activities – especially voluntary military service until 1918, the mensur, and the protest of the 1968ers – are connected with elements of violence. However, this willingness to use force within the student body seems to be dwindling further and further, perhaps due to today’s conditions of study.

Bei der Analyse der Beiträge zur Tagung „Radikale Überzeugungstäter? Studentische Protest- und Gewaltformen zwischen den Befreiungskriegen und dem BolognaProzess“ tauchen über einen Untersuchungszeitraum von knapp 200 Jahren einzelne Aspekte und Themen der studentischen Radikalisierung und Gewaltausübung in unterschiedlicher Intensität auf. Betrachtet man diese Punkte über den gesamten Analysezeitraum hinweg, lassen sich Entwicklungslinien erkennen, die eine Basis für weiterführende Forschungshypothesen bilden können.

THESE 1: DIE QUANTITATIVE BETEILIGUNG DER STUDIERENDEN AN GEWALTAKTIONEN NIMMT AB Im ersten Vortrag der Tagung hat Harald Lönnecker den Fokus auf die Aktivitäten der deutschen Studenten während der Befreiungskriege in den Jahren von 1813 bis 1815 gelegt. Dabei kam bereits die Frage nach der quantitativen Bedeutung der Studenten im Rahmen militärischer Einheiten auf. Insgesamt stellten die Jungakademiker zwar nur einen kleinen Teil der Truppen, doch war der Anteil der an den Befreiungskriegen beteiligten Studenten im Vergleich zur gesamten deutschen Studentenschaft sehr

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groß: Von den 280 000 preußischen Soldaten waren etwa 30 000 Freiwillige, von denen wiederum etwa 1 000 bis 1 500 an einer Hochschule immatrikuliert waren. Somit lag der Anteil der Studenten, die sich an der Befreiungsbewegung beteiligten, etwa bei 20 Prozent der gesamten deutschen Studentenschaft. Ein ähnliches Bild bezüglich der quantitativen Dimension ergibt sich aus den Ausführungen von Jan Schlürmann, die deutlich zeigen, dass das Thema Mensur und Ehrenhändel als Teilaspekt der Gewalt innerhalb der studentischen Subkultur den überwiegenden Teil der jungakademischen Elite des 19. Jahrhunderts betraf. Schon in der Weimarer Republik sind jedoch Veränderungen zu erkennen, denn nur noch eine umso engagiertere Minderheit der Studierenden neigte aktiv zur Radikalisierung. Die große Mehrheit hingegen tolerierte dieses Verhalten schweigend. So zeigte Martin Göllnitz auf, dass die Kriegsjugendgeneration, die vor 1910 geboren war, aufgrund der militärischen Niederlage des Deutschen Reichs und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen eine massive Verbitterung, verbunden mit einem entsprechenden Radikalisierungspotenzial, verspürte. Ihr war die Vielzahl der gesellschaftlichen Veränderungen zu umfassend und der Wunsch nach Ruhe, Ordnung und geregelten Verhältnissen Antrieb, den gesellschaftlichen Wandel abzulehnen. Die studentische Radikalisierung am rechten Rand des politischen Spektrums wurde, so Martin Göllnitz, durch mehrere weitere Faktoren beeinflusst. Zum einen ist eine gezielte Einflussnahme der Reichswehr auf die Jungakademiker zu nennen. Zum anderen war die im Krieg entwickelte politische Positionierung der jungen akademischen Generation eine wesentliche Triebfeder der Radikalisierung. Teile der studentischen Jugend sahen im Bolschewismus den Hauptfeind der Gesellschaft der Weimarer Republik und wollten ihn bekämpfen, ohne jedoch aufseiten der neu entstandenen Republik stehen zu wollen. Ein dritter Grund für die Radikalisierung der sehr jungen akademischen Generation nach 1918 war der aus ihrer Sicht vorhandene Makel, dass sie nicht selbst an der Front hatten kämpfen dürfen. Schließlich ist die in der Kriegsgeneration verbreitete Rastlosigkeit, verbunden mit einer latenten Gewaltbereitschaft, einzubeziehen. Diese Entwicklungen führten zu einem radikalen Nationalismus, der eine militantere Grundhaltung entstehen ließ, als dies bei politisch linken Gruppierungen der Fall war. So kann es nicht erstaunen, dass sich die radikalen Teile der Studentenschaft der Freikorps-Bewegung anschlossen, während die Mehrheit sich umso mehr dem Studium widmete und politischen Umtrieben jeder Art fernblieb. In der Endphase der Weimarer Republik und in den ersten Jahren des Dritten Reichs setzte sich das Absinken der Zahl aktiv politisch engagierter und latent gewaltbereiter Studenten fort, wie Michael Grüttner in seinem Vortrag nachwies. Bereits 1929 konnte der „Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund“ (NSDStB), trotz einer sehr kleinen Gruppe von Aktivisten, in zahlreichen Studentenparlamenten an deutschen Hochschulen eine Mehrheit der Sitze erreichen: Zum einen griff der NSDStB die Angst der Studierenden vor der Überfüllung der akademischen Berufe auf, zum anderen bediente er die latent vorhandenen antisemitischen Tendenzen in der Studentenschaft systematisch. Besonders erstaunlich ist der Erfolg der nationalsozialistischen Studierenden, denn die wesentlichen Impulse für radikale Aktionen

Ergebnisse und Ausblick

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gingen von einer Gruppe von reichsweit weniger als 100 aktiven Mitgliedern des NSDStB und der Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen aus. Ein ähnliches Bild zeichnete Jan Mittenzwei bei seinem Blick auf die Verhältnisse in Greifswald, wo eine kleine Gruppe von NS-Studierenden, oft in Personalunion mit der örtlichen Sturmabteilung (SA), überraschend große Wirkung in der Öffentlichkeit erzielen konnte. Mit dem Vortrag von Wolfgang Kraushaar wird offensichtlich, dass sich die Beteiligung der Studierenden an den Protesten im Rahmen der 68er-Bewegung quantitativ in sehr engen Grenzen hielt. Das was an hervorstechenden Aktionen in Erinnerung blieb, wurde von Einzelpersonen und kleinen Gruppen initiiert – wie Teilen der „Tupamaros West-Berlin“, deren Aktivitäten wiederum auf wenige Orte begrenzt blieben. Können die „Tupamaros“ anfangs noch im studentischen Umfeld verortet werden, änderte sich dies mit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der den Auslöser für eine Radikalisierung der „Tupamaros“ bildete, sodass sich innerhalb der Gruppe zwei sehr unterschiedliche Wahrnehmungen der allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Lage entwickelten. Aus heutiger Sicht muss der 68er-Bewegung attestiert werden, dass sie ihre Ziele nicht erreicht hat. Es fehlte die Einbeziehung anderer gesellschaftlicher Gruppen, die ebenjene Ziele der protestierenden Studentenschaft hätten auf eine breitere Basis stellen können. Auch die Radikalisierung kleiner Teile der studentischen Protestbewegung, die im Terrorismus der 1970er-Jahre gipfelte, muss als Fehlentwicklung bezeichnet werden, so Kraushaar. Den weiteren Bedeutungsverlust studentischen Protests auf der quantitativen Ebene zeigten die Ausführungen von Frank Grobe über den aktuellen Stand studentischer Proteste am Beispiel der Angriffe auf Korporationsstudenten und auf korporationsstudentische Einrichtungen. Grobe geht davon aus, dass der Anteil der weiblichen und männlichen Mitglieder studentischer Verbindungen bei rund 1,5 Prozent der Studierendenschaft, der ihrer aktiven Gegner bei weniger als 1 Prozent der Studierenden liegt. Weitere Indikatoren, die für ein immer geringeres Potenzial für Radikalisierung und studentische Gewalt an deutschen Hochschulen sprechen, sind die weiter abnehmende Beteiligung der Studierenden an den Wahlen zu den Studierendenparlamenten und die im Rahmen des Bologna-Prozesses zunehmend stärkere Ausrichtung vieler Studiengänge an den Erfordernissen der Arbeitswelt, was den Studierenden weniger Zeit für Aktivitäten neben dem Studium lässt. Anhand der dargestellten Tendenzen kann als erste Hypothese formuliert werden, dass die rein quantitative Beteiligung der Studentenschaft an studentischen Protestaktionen, gemessen am prozentualen Anteil der Protestierenden an der Gesamtstudentenschaft, im Laufe der Jahre deutlich abgenommen hat. Insgesamt kann man also aus rein quantitativer Sicht eine Entwicklung des studentischen Protests von einer Massenbewegung am Anfang des Beobachtungszeitraums hin zu einer Protestbewegung kleiner Splittergruppen vermuten.

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THESE 2: DIE BETEILIGUNG AN STUDENTISCHEN AKTIONEN KANN ALS KARRIERESPRUNGBRETT DIENEN Schon in den ersten beiden Vorträgen von Harald Lönnecker und Jan Schlürmann wurde deutlich, dass einzelne Beteiligte an studentischen Protesten im Anschluss an ihr Studium leicht eine bürgerliche Karriere machen konnten. Dies war zu Beginn des Untersuchungszeitraums der Tatsache geschuldet, dass im 19. Jahrhundert die Akademiker mit hoher Wahrscheinlichkeit und auch ohne großes Zutun ihr berufliches Auskommen sicherstellen konnten. Besonders engagierte Studierende zeigten ihre Leistungsbereitschaft oft auch im weiteren Lebensweg, sodass ihnen eine berufliche Karriere, in welcher Form auch immer, möglich war. Zudem gab es schon im frühen 19. Jahrhundert offenbar Karrierenetzwerke, die es jedoch noch näher zu untersuchen gilt. In der Weimarer Republik, dies hat der Vortrag von Martin Göllnitz deutlich gemacht, rekrutierten sich zahlreiche Organisationen des politisch rechten Spektrums verstärkt aus der Studentenschaft, wodurch neue Karrieremöglichkeiten im völkisch-nationalen Milieu geschaffen wurden. Letztlich war eine Mitgliedschaft in den Freikorps der 1920er-Jahre eine willkommene Empfehlung für weitere Aufgaben im aufkommenden Nationalsozialismus. Besonders deutlich wird diese Entwicklung dann im NS-Regime, unter dessen Herrschaft nur eine kleine Gruppe von Aktivisten den studentischen Protest steuerte. Exemplarisch nannte Michael Grüttner die Proteste gegen den religiösen Sozialisten Günther Dehn in Halle und den jüdischen Gelehrten Ernst Cohn in Breslau. Weiterhin verwies Grüttner auf nationalsozialistische Aktionen gegen Studierende oder Gruppen von Studierenden an den einzelnen Hochschulen. In solchen Aktionen konnten sich junge, akademisch oft wenig erfolgreiche Kader für den weiteren Einsatz auf Reichsebene profilieren. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich zahlreiche Karrieren in der Partei und den ihr angeschlossenen Organisationen, wie diejenigen von Gerhard Todenhöfer und Gustav Adolf Scheel, auf nationalsozialistische Aktivitäten an den Hochschulen in der späten Weimarer Republik oder in den ersten Jahren des NS-Staates zurückführen lassen. Aufgrund der zeitlichen Nähe war das Thema Karriere aus dem studentischen Protest heraus im Vortrag von Wolfgang Kraushaar für alle Zuhörer ganz besonders interessant, denn im Zusammenhang mit der Geschichte der „Tupamaros“ sind durch Kraushaar immer wieder Namen genannt worden, die aufgrund ihrer Bedeutung für Staat, Politik und Gesellschaft auch heute noch bekannt sind und eine Bedeutung für die Gesellschaft der Bundesrepublik haben. Somit kann als zweite Hypothese formuliert werden, dass die Teilnahme an studentischen Protestaktionen für die weitere berufliche oder politische Karriere der beteiligten Studenten vorteilhaft sein konnte.

Ergebnisse und Ausblick

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THESE 3: DIE POLITISCHE RICHTUNG DER RADIKALITÄT UNTERLAG WIEDERHOLTEN WANDLUNGEN Am Anfang der Betrachtungsperiode stand für die Studenten, die sich als parteipolitisch nicht festgelegt und grundsätzlich patriotisch verstanden, der Wunsch nach einem geeinten Deutschland als politischem Ziel im Vordergrund. Der Blick der Studenten richtete sich nicht mehr auf die einzelnen deutschen Länder, sondern auf das ganze Deutschland. Alte Organisationen – wie die alten, auf die Regionen bezogenen Landsmannschaften – erschienen ihnen daher nicht mehr geeignet, die studentischen Vorstellungen auszudrücken. Eine neue, schlagkräftige und öffentlichkeitswirksame Organisationsform, eine allgemeine Burschenschaft, musste entstehen, so Harald Lönnecker. Auch Konrad H. Jarausch bestätigte diesen Eindruck: Stand zu Beginn die Urburschenschaft, die auf dem Wartburgfest 1817 ein deutsches Nationalgefühl entwickelte, das ein Vaterland für das deutsche Volk propagierte, und gleichzeitig vom Liberalismus geprägt war, im Mittelpunkt, änderte sich dies schon 1819 nach der Ermordung von Kotzebues, die einen ersten Radikalisierungsschub innerhalb der Studentenschaft mit sich brachte. In der 1848er-Revolution waren die Studenten ein kleiner Teil der revolutionären Bewegung. Ihr Handeln, das jedoch bislang noch nicht genau untersucht ist, war geprägt von der Idee einer liberalen und demokratischen Republik. Ihre Forderungen gipfelten letztlich auf dem zweiten Wartburgfest (1848) in dem liberalen und gleichzeitig patriotischen Wunsch nach einem freien und geeinten Deutschland sowie einer Reform der Universitätsstrukturen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückte die Studentenschaft im Zuge des Aufkommens eines aggressiven akademischen Antisemitismus immer weiter von ihrer bis dato liberalen Grundhaltung ab. Sie geriet mehr und mehr in ein nationalistisch-antisemitisches Fahrwasser, was sich zum Beispiel in der Gründung der „Vereine Deutscher Studenten“ zeigt. Mit dem Aufkommen des Antisemitismus innerhalb der Studentenschaft in den 1880er-Jahren wird der Weg der Studenten ins völkisch-nationale Spektrum begründet. Die von der Studentenschaft bis dahin gepflegte liberale Grundhaltung wich langsam, aber unaufhaltsam, einer nationalistischen Haltung mit antisemitischen Tendenzen, die dezidiert die Überlegenheit der eigenen Rasse gegenüber anderen in den Mittelpunkt stellte. Im Ersten Weltkrieg nahm das studentische Denken dann eine national-konservative bis völkisch-nationale Haltung an. Der Krieg wurde von vielen Studenten als Möglichkeit gesehen, sich aktiv für das Vaterland einzusetzen, da er aus ihrer Sicht einen Opfergang für den Patriotismus darstellte. Einen Kulminationspunkt dieses studentischen Patriotismus stellen die Kämpfe um Langemarck dar. Sie können als die Geburtsstunde des völkisch-nationalen Denkens in der Studentenschaft Deutschlands und damit als Wurzel des speziellen, die spätere Studentenschaft prägenden Nationalismus gesehen werden, so Jarausch. Deutlich wird dies in der Veränderung der politischen Haltung der Studentenschaft nach 1918: Ein kleiner Teil der Studentenschaft fand eine Heimat im radikal-militanten Milieu der Weimarer Republik, wohingegen die Mehrheit der Akademikerschaft dem national-konservativen Lager

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nahestand und sich damit zumindest in kritischer Distanz zur parlamentarischen Demokratie befand, so Martin Göllnitz resümierend. In der Schlussphase der Republik wandten sich dann große Teile der Studentenschaft und vereinzelt auch Angehörige der universitären Lehrkörper dem Nationalsozialismus zu. Dies zeigte der Vortrag von Michael Grüttner deutlich. Hilfreich war der in weiten Teilen der Studentenschaft verbreitete Nationalismus, verbunden mit einem latenten Antisemitismus, der die Basis der Akzeptanz für das nationalsozialistische Handeln an den Hochschulen durch die studentische Masse bildete. Aber auch das Verhalten der Hochschullehrer und der Hochschulleitungen begünstigte das Vorgehen der wenigen nationalsozialistischen Aktivisten innerhalb der Studentenschaft. Nicht selten waren die Dozenten und Professoren national gesinnt, teilweise sogar antisemitisch eingestellt, und in der Welt der Weimarer Demokratie nicht angekommen. Sie hatten deshalb oft viel Verständnis für den nationalsozialistischen studentischen Aktionismus und die jugendliche Dynamik im Hochschulsektor. Nach einigen Jahren der politischen Indifferenz der Studierenden gab der Vietnam-Kongress an der Freien Universität Berlin den Impuls für eine politische Neuorientierung im Zuge der 68er-Bewegung. Die damit einhergehende Linkswendung der jungakademischen Generation ist auf drei Ursachen zurückzuführen: Zum einen ist die aktive Auseinandersetzung mit der nationalsozialistisch geprägten Vätergeneration zu nennen, zum anderen die langsam wirkende Umerziehung durch die Alliierten und in ihrer Folge die grundsätzliche kritische Auseinandersetzung mit den Ereignissen des NS-Regimes. Letztlich hatte die Politisierung der Studentenschaft in der 68er-Bewegung ihre Ursache in dem Wunsch nach aktiver Unterstützung Vietnams und nach einem gesamtpolitischen Umsturz in der westlichen Welt. Beim letzten großen Umbruch in der deutschen Geschichte, der Wende in den Jahren 1989/90, spielte die Studierendenschaft keine Rolle. Der Wunsch nach Wiedervereinigung wurde von einer breiten Masse des Volkes getragen – aus der Studentenschaft kamen diesbezüglich nur sehr wenige eigenständige Impulse. Dies liegt unter anderem daran, dass aufgrund der politisch gewollten Selektion der Studentenschaft in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) davon ausgegangen werden kann, dass die Studierenden des sozialistischen Staates weitgehend mit den Zielen des politischen Systems konform gingen. Die wenigen Ansätze, die im Rahmen der politischen Wende aus studentischen Organisationen der ehemaligen DDR kamen, können eher als der Versuch einer Demokratisierung des Sozialismus bezeichnet werden. In den alten Bundesländern gab es so gut wie keine Forderung nach einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten aus der Studierendenschaft heraus. Gegenwärtig kann kaum noch von einer politisch-radikalen Studierendenschaft gesprochen werden, denn nur ein geringer Teil der Hochschülerinnen und Hochschüler ist überhaupt politisch aktiv. Welche geringe Bedeutung Politik im studentischen Milieu hat, zeigt sich in der geringen Beteiligung an den Wahlen der Allgemeinen Studenten-Ausschüsse (AStA) und in der überwiegend geräuschlosen Rezeption der Ergebnisse des Bologna-Prozesses in der Bundesrepublik Deutschland. Als Hypothese bezüglich der politischen Verortung der Studierendenschaft lässt sich formulieren, dass diese schneller und intensiver auf gesellschaftliche Verände-

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rungen reagierte, diese Tendenz im Laufe der Zeit aber dramatisch abnahm. Dabei vollführten die Hochschülerinnen und Hochschüler einen ideologischen ZickzackKurs. Dies scheint eine Besonderheit der akademischen Jugend darzustellen, da solche sprunghaften Entwicklungen sonst in keiner gesellschaftlichen Gruppe zu finden sind. Es ist folglich Thomas Nipperdey zuzustimmen, der in seiner „Deutschen Geschichte“ konstatierte, dass die Studierenden hinsichtlich gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen, wie zum Beispiel der Politisierung und der Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen Verhältnissen, eine „Seismographenfunktion“ einnehmen.

THESE 4: DIE KORPORATIONEN VERLIEREN AN BEDEUTUNG UND HINTERLASSEN EIN INSTITUTIONELLES VAKUUM Kann die burschenschaftliche Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch als Massenbewegung innerhalb der Studentenschaft bezeichnet werden, steigerte sich der Anteil der nicht in studentischen Verbindungen jeglicher Art erfassten Jungakademiker langsam, aber kontinuierlich zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Dies gilt besonders für die Großstadt-Hochschulen. Zwar wurde an der einen oder anderen Stelle in der älteren Korporationsliteratur die Anzahl der Verbindungsstudenten etwas geschönt, doch kann bis zum Ende der Weimarer Republik davon ausgegangen werden, dass gerade in den kleineren Hochschulstädten immer noch ein sehr großer Teil des immatrikulierten akademischen Nachwuchses auch einer Korporation angehörte. Dabei reicht die Spannweite der Schätzungen bezüglich des Anteils der Korporierten an der Studentenschaft von knapp über 50 Prozent bis zu weit über 90 Prozent. Mit dem Nationalsozialismus, seiner Politik gegenüber den Korporationen und der ambivalenten Haltung der Verbindungen gegenüber dem totalitären Regime wurde eine Entwicklung eingeleitet, die den Niedergang der Vorherrschaft der Korporationen im universitären Feld bedeutete. Vor allem während der NS-Herrschaft übernahmen überwiegend nicht-korporierte Studierende die Führung innerhalb der deutschen Studierendenschaft und auch die 68er-Bewegung kam weithin ohne Verbindungsstudenten aus. Heute sind die studentischen Verbindungen oft nur noch an kleineren Hochschulstandorten sichtbar. An den zahlreichen bundesrepublikanischen Hochschulneugründungen, speziellen Fachhochschulen oder an den Großstadt-Universitäten sind Korporationen kaum mehr öffentlich präsent. Die Mitgliederzahlen der Verbindungen können zwar als stabil bezeichnet werden, aber im Verhältnis zu der Gesamtzahl der Studierenden sinkt der Anteil derer, die einer Korporation angehören, kontinuierlich. Mit dem Niedergang des Korporationswesens haben sich weitere Aspekte studentischer Gewalt und Radikalität, die bis in das frühe 20. Jahrhundert noch von Bedeutung waren, verändert. So hat die interne Gewalt innerhalb der Studierendenschaft, die beispielsweise in der Mensur ihren Ausdruck fand, weitgehend an Bedeutung verloren. Als Hypothese kann formuliert werden, dass das studentische Korporationswesen über mehr als ein Jahrhundert die deutschen Universitäten prägte: Innerhalb der letzten 200 Jahre haben die Korporationen als traditionelle Organisationsform der

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Studierendenschaft an quantitativer und inhaltlicher Bedeutung bis in die 1920erJahre massiv zugenommen, um dann nach 1933 in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Nach dem Niedergang des studentischen Korporationswesens in der Folge des NS-Regimes entstand jedoch keine neue Organisationsform, die eine Mehrheit der Studierenden repräsentieren würde.

THESE 5: DIE MEDIEN SIND EIN WICHTIGES HILFSMITTEL ZUR SELBSTDARSTELLUNG DER RADIKALEN Von Anfang an gehörte zur studentischen Radikalisierung und zur studentischen Gewalt auch eine öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellung der Radikalen in den Medien der Zeit. Erst durch den oft massiven Einsatz von Medien wurde und wird dem studentischen Aktionismus eine besondere Bedeutung verliehen – ohne Medien fiel und fällt es den oft kleinen Gruppen sehr schwer, ihr Anliegen wirksam zu verbreiten. So berichtete Harald Lönnecker von der breiten Öffentlichkeitswirksamkeit des Wunsches der Studenten um 1800 nach einer neuen, schlagkräftigen und gleichzeitig in der Öffentlichkeit präsenten Organisationsform, hier der Burschenschaft. Zur Verbreitung der studentischen Forderungen haben Theodor Körner und Ernst Moritz Arndt mit ihren Werken maßgeblich beigetragen. Durch diese gruppeneigenen Multiplikatoren wurden die Anliegen der Studenten im Rahmen der Freiheitsbewegung als national-liberaler akademischer Massen-Bewegung trotz unprofessioneller Führung und relativ geringer Masse dennoch von einer breiten Öffentlichkeit leicht wahrgenommen. Im Vortrag von Dirk Alvermann wurde am Beispiel Greifswalds deutlich, dass die relativ starke Breitenwirkung der frühen burschenschaftlichen Bewegung in Greifswald nur durch ihre gezielte publizistische Arbeit möglich wurde. Durch zahlreiche Veröffentlichungen in unterschiedlichsten Medien erreichte die quantitativ kleine Gruppe eine für damalige Verhältnisse überraschend große Außenwirkung. Es zeigt sich also auch in diesem Fall, dass ein wichtiger Teilaspekt bei der Verbreitung radikaler studentischer Thesen und Meinungen die aktive und umfangreiche Nutzung der in der jeweiligen Zeit vorhandenen Medien war und ist. Wie Alvermann deutlich zeigte, wäre manche radikale, studentische Aktion vielleicht irgendwo in den Universitätsannalen oder im Schriftwechsel mit dem Universitätsrichter verloren gegangen, wenn es die Printmedien nicht gegeben hätte. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die öffentlichen Medien gezielt für studentische Propagandazwecke eingesetzt. Durch die systematische Inszenierung entsprechender Themen, den gezielten Einsatz der völkisch-nationalen beziehungsweise konservativen Presse und die systematische Verbreitung von Falschinformationen gelang es den radikalen NS-Aktivisten, ihr rassistisches Gedankengut bereits ab 1926 sukzessive an die Hochschulen des Deutschen Reiches zu tragen. Als Beispiele für typische Verläufe von über die Medien inszenierten nationalsozialistischen Aktionen nannte Michael Grüttner die Proteste gegen sozialistische, demokratische, liberale oder jüdische Hochschullehrer. Ein weiteres Beispiel für die reichsweit einheitlich geplante und zentral gesteuerte Propaganda der radikalen

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NS-Studierenden ist die Bücherverbrennung im Jahr 1933, mit der die NS-Ideologie endgültig an den deutschen Hochschulen etabliert werden sollte, so Konrad H. Jarausch. Aber auch die „Tupamaros West-Berlin“ als radikaler Teil der 68er-Bewegung suchten bereits sehr früh die Öffentlichkeit, was ihren schnellen Niedergang, der bereits Ende 1971 begann, jedoch nicht aufhalten konnte. Einen weiteren Radikalisierungsschub markierte 1972 die aus den „Tupamaros“ entstandene linksextremistische Terrororganisation „Bewegung 2. Juni“. Sie zeichneten verantwortlich für den Mord am Kammergerichtspräsidenten von Berlin Günter von Drenkmann sowie für die Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz. Gleichzeitig fiel sie durch kriminelle Aktionen auf, die gewisse humoristische Komponenten hatten. So wurden beispielsweise Banküberfälle mit Schokoküssen durchgeführt, was in der Presse ein breites Echo fand. Mit dem Einzug der elektronischen Medien ergibt sich auch in den Konflikten innerhalb der Studierendenschaft ein neues Potenzial für die Öffentlichkeitsarbeit. Durch den Einsatz des Internets können sowohl Korporationsgegner als auch Befürworter eine recht große mediale Reichweite erzielen, die in keinem Verhältnis zu ihrem geringen quantitativen Anteil an der Gesamtzahl der Studierenden steht. Eine weitere Hypothese, die sich aus der Tagung ergeben hat, ist also, dass Radikalität und Gewalt unter Studierenden nur dann von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, wenn sie durch zum studentischen Milieu gehörige Medien oder durch die Radikalen selbst aktiv vermarktet wurde. Dies war schon im frühen 19. Jahrhundert so und hat sich auch im 20. Jahrhundert nicht wesentlich verändert.

THESE 6: GEWALT IN IHREN VERSCHIEDENEN FORMEN HAT IM STUDENTISCHEN MILIEU TRADITION Beim Blick auf die Geschichte der ersten europäischen Universitäten und ihrer Studenten, die oft weite Wege zurücklegen mussten, um studieren zu können, wird deutlich, dass es zum eigenen Schutz notwendig war, Waffen zu tragen. Aber auch für die Studierenden des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es oftmals üblich, Waffen zu besitzen und diese im militärischen oder im rituellen Sinne zu nutzen. In seinem Vortrag unterschied Jan Schlürmann deshalb zwischen der individuellen, von Studenten ausgeübten Gewalt und einer kollektiven Form von studentischer Gewalt an den Hochschulen. Erstere wird auch heute noch im traditionellen studentischen Zweikampf praktiziert, der commentmäßig geregelten Mensur. Diese Tradition wandelte sich zwar im Laufe der letzten 200 Jahre dramatisch, da immer mehr Regeln eingeführt wurden, doch gibt es sie nach wie vor in den wenigen noch existierenden Studentenverbindungen. So war in vielen Beiträgen am Rande, aber dennoch klar zu erkennen, dass sich im 19. Jahrhundert das Fechten deutlich intensiviert hat und sich die Zahl der Mensuren über die Jahre des vorletzten Jahrhunderts erheblich gesteigert hat. Welche wichtige Bedeutung die Mensur innerhalb der Studentenschaft des Kaiserreichs hatte, zeigte der Vortrag von Miriam Rürup über jüdische Studenten. Diese waren

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als Außenseiter der akademischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts umso mehr darauf bedacht, sich über einen strengen Mensurstandpunkt zu definieren. Gerade jüdische Studenten versuchten häufig, mit der Waffe in der Hand für ihre Ehre, beziehungsweise deren Wiederherstellung, einzustehen. In der Folge entwickelte sich gerade bei den jüdischen Korporationen ein reger Fechtbetrieb, der bis in das frühe 20. Jahrhundert anhielt. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert kann sicherlich attestiert werden, dass die Gewaltbereitschaft in der Studentenschaft aufgrund ihrer unsicheren Position in der Gesellschaft höher als in anderen Gruppen war. Und wenn Studenten zudem die Möglichkeit hatten, Waffen legal zu tragen, beziehungsweise Waffen zu nutzen, entwickelte sich vielleicht auch ein anderes Selbstverständnis bezüglich des Waffeneinsatzes als in anderen gesellschaftlichen Gruppen. Hier orientierten sich Studenten am Verhalten von Adel und Militär. Gewalt in kollektiver Form aus dem studentischen Umfeld heraus gegenüber anderen Gruppen kann sich in zwei Bereiche unterteilen lassen. Zum einen sind es die militärischen Aktivitäten der Studierenden, zum anderen ist es die studentische Gewalt gegenüber verschiedenen Gruppen der restlichen Bevölkerung. Beim Blick auf das militärische Engagement der Studenten kann ebenfalls eine Entwicklung nachvollzogen werden: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts folgte die Teilnahme an den Befreiungskriegen für den Großteil der deutschen Studentenschaft einer politischen Überzeugung, so Harald Lönnecker. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das „Lützow’sche Freikorps“. Zum einen handelte es sich um eine gesamtdeutsche Formation, zum anderen bestand es zu rund einem Drittel aus Akademikern. Im „Fechten gegen die Welt“, das sich speziell im Hass gegen Frankreich ausdrückte, war sich die Studentenschaft nach Lönnecker weitgehend einig. Auch in den weiteren Kriegen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eilte die Studentenschaft mit Begeisterung zu den Waffen. Ein typisches Beispiel ist der Einsatz der Studenten im Ersten Weltkrieg, denn der Krieg wurde als Möglichkeit gesehen, sich aktiv für das Vaterland einzusetzen. Er stellte aus Sicht der Jungakademiker einen Opfergang für den Patriotismus dar, wie die Entstehung des Langemarck-Mythos deutlich zeigt. Auch in der Weimarer Republik und im Dritten Reich waren große Teile der Studierenden für das Militär zu begeistern. Erst im Laufe des Zweiten Weltkriegs kam es in weiten Teilen der Studierendenschaft zu einer Abkehr von der positiven Einschätzung militärischer Gewalt und zu einem Rückzug auf alte studentische Traditionen oder in das Privatleben. Spätestens seit den Anfängen der 68er-Bewegung kann eine offene und eindeutige Abkehr des größten Teils der Studierendenschaft von der Idealisierung militärischer Gewalt attestiert werden. Aber auch die Gewalt, die sich in der Durchführung von Mensuren ausdrückt, hat mit dem deutlichen Niedergang der Korporationen nach 1968 einen Rückgang erfahren. Heute hat die Nutzung von Waffen in jedweder Form keine Bedeutung mehr an den Hochschulen. Dies ist auch darin begründet, dass sich die Geschlechterstruktur der Studierendenschaft deutlich zugunsten der immatrikulierten Frauen verschoben hat. Neben der Nutzung von Waffen innerhalb der Studentenschaft gab es über den ganzen Betrachtungszeitraum hinweg immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Studierenden, ihren unterschiedlichen Gruppierungen

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und Organisationen und der örtlichen Bevölkerung. Diese Konflikte unterschieden sich sowohl in ihren Ursachen als auch in ihrem Ausmaß und besaßen in der Regel nur eine lokale Relevanz – doch waren an den Konflikten teilweise große Teile der örtlichen Studierendenschaft beteiligt, in Einzelfällen sogar die Gesamtheit einer Hochschule, wie Jan Schlürmann hervorhob. Eine weitere Hypothese lautet daher, dass die Gewalt innerhalb der Studierendenschaft und an den Hochschulen insgesamt schon eine lange Tradition hat, die jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung verlor und heute weiter verliert.

THESE 7: DAS STUDENTISCHE ENGAGEMENT IN MILITÄRISCHEN EINHEITEN WAR UNPROFESSIONELL So berichtete Harald Lönnecker von einem großen quantitativen Engagement der Studenten im Rahmen der Befreiungskriege, deren militärischer Erfolg allerdings äußerst gering ausfiel. Der Idealismus war oft größer als die militärischen Kenntnisse und die Führung der studentischen Einheiten agierte überwiegend unprofessionell. Als typisches Beispiel kann hier das „Lützow’sche Freikorps“ gelten. Eine ähnliche Einschätzung gab Jan Schlürmann, indem er feststellte, dass die meisten militärischen Aktivitäten von Studenten, die er anhand zahlreicher Beispiele aufzeigte, nicht von einem nachhaltigen Erfolg geprägt sind. Auch als die Studenten später besser in die bestehenden militärischen Strukturen eingebunden und ausgebildet wurden, hat dies ihre militärische Schlagkraft nicht positiv beeinflusst. In der Frühphase der Weimarer Republik, so Martin Göllnitz, muss dem studentischen Einsatz, sei es im Rahmen der Reichswehr, sei es innerhalb der Freikorps, eine mehr als zweifelhafte Ausdrucksform attestiert werden: Am rechten Rand des politischen Spektrums haben Studierende im Rahmen ihrer militärischen Aktivitäten zu Beginn der 1920er-Jahre das geltende Recht für ihre Zwecke interpretiert beziehungsweise bestehende Gesetze einfach ignoriert. Nach Göllnitz verliehen diese radikalen Überzeugungstäter ihren politischen Absichten mithilfe von aktiver Gewalt wiederholt Durchschlagskraft. Als weitere Hypothese kann also formuliert werden, dass der militärische Einsatz von Studenten in der Regel eher unprofessionell und zumeist von sehr geringen militärischen Erfolgen gekrönt war. Die mangelnde Erfahrung versuchten die Jungakademiker oftmals durch entschiedene Gewaltausübung und radikales Verhalten wettzumachen.

THESE 8: RADIKALITÄT IST AUFGRUND DER RAHMENBEDINGUNGEN DES STUDIUMS KAUM NOCH MÖGLICH Eine letzte Hypothese aus den Vorträgen der Tagung ergibt sich schwerpunktmäßig aus dem abschließenden Vortrag von Elisabeth Westphal über Proteste im Rahmen der „Die-Uni-brennt“-Bewegung in Österreich und der anschließenden Diskussion. Ausgehend von der geringen Resonanz auf die Proteste, die in Österreich durchaus

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von Bedeutung waren, jedoch in Deutschland kaum wahrgenommen wurden, stellte sich in der abschließenden Diskussion die Frage, ob moderne Studierende heute noch in der Lage sind, sich für ihre eigenen beziehungsweise für gesellschaftliche Belange so vehement zu engagieren wie ihre Vorgänger im 19. und 20. Jahrhundert. Durch die verstärkte Strukturierung und Systematisierung der Studiengänge im Rahmen des Bologna-Prozesses – einige Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang von einer Verschulung – bleibe den Studierenden kaum mehr Zeit, sich über ihr Studium hinaus für politische und gesellschaftliche Themen zu engagieren. Da bei vielen Studierenden der schnelle Studienfortschritt im Vordergrund steht, geht die Optimierung des Studienverlaufs vor studentischem und gesellschaftlichem Engagement. Lässt also ein Studium heute noch die Freiheit zu Aktivitäten außerhalb des eigenen Studiengangs zu? Oder gibt es zu viele Zwänge, die von den Studierenden Konformität fordern und es ihnen gar nicht mehr ermöglichen, sich in der politischen Meinungsbildung zu engagieren? Der Beitrag von Elisabeth Westphal bestätigt eindrucksvoll die voranschreitende Fokussierung der Studierenden auf das Fachstudium, denn an vielen Hochschulen in Deutschland haben die Studierenden und Lehrenden von den Protesten in Wien und an anderen Orten Österreichs nichts mitbekommen. Gerade an den Technischen Hochschulen in Deutschland fielen die Proteste nicht auf fruchtbaren Boden – eine signifikante Beteiligung der Studierenden in Deutschland war nicht erkennbar. Ein Teil der Studierenden stellte das Lernen und damit den Studienerfolg in den Vordergrund, die anderen hatten für die Teilnahme an den Protesten keine Zeit, da sie neben dem Studium arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Als Hypothese könnte deshalb formuliert werden, dass die Mehrheit der heutigen Studierendenschaft aufgrund der Rahmenbedingungen ihres Studiums nur wenig Freiraum dafür besitzt, sich politisch zu engagieren. Aus einzelnen Tagungsbeiträgen sind weitere Themenbereiche deutlich geworden, die noch genauer erforscht werden sollten.

DESIDERAT 1: EINE ANALYSE DER INDIVIDUELLEN STUDIERENDENBIOGRAPHIEN IST NOTWENDIG Da in den meisten Vorträgen über einzelne beteiligte Personen und ihren Werdegang vor und nach dem Studium gesprochen wurde, ist die Anregung zu vertiefter biographischer Forschung naheliegend. Wiederholt kamen im Rahmen der Vorträge Fragen bezüglich biographischer Einzelheiten oder hinsichtlich des gesellschaftlichen Hintergrunds und der familiären Rahmenbedingungen der betroffenen Studierenden auf. Woher kamen diese, welche Sozialisation hatten sie und was ist nach dem Studium aus ihnen geworden? Regelmäßig wurde auch deutlich, dass in den Antworten auf diese Fragen ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der studentischen Radikalisierung liegen kann. Besonders eindrucksvoll war in diesem Zusammenhang der Vortrag von Wolfgang Kraushaar, der zahlreiche bekannte Personen und deren Weg durch das politische und gesellschaftliche Spektrum erwähnte. Zu nennen sind hier

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exemplarisch seine umfassenden biographischen Anmerkungen zu Horst Mahler und die Informationen zu dessen familiärem Hintergrund. In fast allen Vorträgen konnte man feststellen, dass es sich bei den Studierenden um eine besondere Gruppierung von jungen Menschen handelt, deren Herkunft und Werdegang oft nicht ausreichend untersucht sind. Daneben ist zu wenig über die ökonomischen und sozialen Hintergründe des Lebens der Studierenden bekannt. Selbst in den Kreisen der oft wohlhabenden Corpsstudenten sind aus zahlreichen individuellen, biographischen Notizen andere Darstellungen zu entnehmen, als offiziell von den Studenten in zeitgenössischen Publikationen kommuniziert wurde. Auch hier weist die Forschung noch Lücken auf. Können die oft hinter den nach außen getragenen, angeblich guten wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen des studentischen Lebens echten Lebensumstände identifiziert werden und können darin im Einzelfall Auslöser für Radikalisierung liegen? Sind es gruppendynamische Effekte, die in den Lebensumständen ihren Auslöser finden, oder sind es die vorund nachgelagerten Lebensphasen, die das Radikalisierungspotenzial bestimmen?

DESIDERAT 2: REICHWEITE DER AKTIVITÄTEN STUDENTISCHER RADIKALISIERUNG Eine weitere, noch nicht hinreichend beantwortete Frage ist die nach der Reichweite der studentischen Protestaktionen, der studentischen Radikalisierung allgemein. Den Vorträgen und den darin genutzten Quellen konnte man vielfach entnehmen, dass im 19. Jahrhundert einzelne Gewaltaktionen oder radikaler Aktionismus oft lokale Phänomene waren, deren überregionale Reichweite meist im Dunkeln bleiben musste. Auf der anderen Seite sind gerade im Nationalsozialismus zahlreiche zentral gesteuerte, radikale Aktionen durchgeführt worden. Hier stellte sich die Frage, ob diese in ihrer Radikalität bei den einzelnen Studierenden einer Hochschule und in den verschiedenen Studierendenschaften an anderen Hochschulen angekommen sind. Inwieweit hat die Radikalisierung, ob von den Machthabern gesteuert oder nicht, tatsächlich eine überregionale Reichweite erreicht, wie viele Studierende waren beteiligt, wie waren die Zusammenhänge, die Muster, nach denen sich die Radikalisierung ausgebreitet hat, und welche Teile der Studierendenschaft wurden erreicht beziehungsweise durch die Radikalisierung überhaupt beeinflusst? Prof. Dr. Holger Zinn Adelheidstraße 16, 65185 Wiesbaden, [email protected]

BERICHTE UND REZENSIONEN

BRIEFWECHSEL VON LEONHARD EULER MIT JOHANN ANDREAS VON SEGNER UND ANDEREN GELEHRTEN AUS HALLE Leonhardi Euleri Opera Omnia, Ser. IVA: Commercium epistolicum 8 Gisela Boeck

Im Anschluss an die Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag von Leonhard Euler (1707–1783) hatte die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft beschlossen, sämtliche Euler’schen Werke herauszugeben. Wenn man bedenkt, dass von Euler allein 866 Publikationen bekannt sind, kann man sich vorstellen, dass es sich um ein Jahrhundert-Werk handeln muss. Die jahrzehntelange Edition als internationales und interdisziplinäres Forschungsprogramm verdient inzwischen selbst eine wissenschaftshistorische Erforschung und Darstellung. Heute liegt die Herausgabe der Werke und Briefe von Leonhard Euler in den Händen der Euler-Kommission der Schweizer Akademie der Naturwissenschaften. Von den 81 vorgesehenen Bänden in vier Reihen sind mittlerweile 76 erschienen und lieferbar. Die Reihe I zur Mathematik mit 29 Bänden (in 30 Büchern) und die Reihe III zur Physik und zu Varia mit 12 Bänden waren bis zum Jubiläum 2007 vollständig erschienen. Von den 32 Bänden zur Mechanik und Astronomie (Reihe II) fehlt nur noch einer. Die Reihe IVA enthält Eulers wissenschaftlichen Briefwechsel und umfasst acht Bände. Alle weiteren, noch unveröffentlichten Korrespondenzen Eulers sollen auf der Internet-Plattform BEOL (https://beol.dasch.swiss/) online publiziert werden. Die Vernissage des neuesten Bandes, der hier besprochen wird, fand am 23. November 2018 statt. Er umfasst Korrespondenzen mit Gelehrten aus Halle. Mit der Edition des Briefwechsels von Leonhard Euler mit Thomas Abbt (1738– 1766), Beniamin Brauser (um 1725–?), Johann Peter Eberhard (1727–1779), Franz Christoph Jetze (1721–1803), Wenzeslaus Johann Gustav Karsten (1732–1787), Christian Albrecht Körber (1699–nach 1747), Christian Gottlieb Kratzenstein (1723– 1795), Johann Gottlob Krüger (1715–1759), Johann Joachim Lange (1699-1765), Johann Adam Osiander (1718–1749), Johann Ernst Philippi (um 1700-1757), Johann Heinrich Schulze (1687–1744), Johann Andreas von Segner (1704–1777) und dessen Sohn Johann Wilhelm (1738–1795) ist es den Herausgebern Andreas Kleinert von der Martin-Luther-Universität Halle und Thomas Steiner vom Bernoulli-Euler-Zentrum der Universität Basel gelungen, ein herausragendes Zeugnis der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts zugänglich zu machen. Ihnen standen als Mitwirkende Gisela Kleinert und Martin Mattmüller zur Seite. Insgesamt sind 236 Briefe wiedergegeben, von denen 17 von Euler stammen. Bis auf einen Brief sind sie auf die Zeit 1741–1766 zu datieren.

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Gisela Boeck

Den Kern des Bandes bilden die 154 Briefe von Johann Andreas Segner, an deren Transkription und Kommentierung Judith Kh. Kopeleviˇc (1921–2009) von 1994 bis zur Jahrtausendwende gearbeitet hatte. Ihr wurde Thomas Steiner von der Euler-Kommission in Basel zugeordnet, der die Anregung von Andreas Kleinert aufnahm, weitere Korrespondenzen von Gelehrten aus Halle zu berücksichtigen. Thomas Steiner bearbeitete die Briefe von Johann Andreas und Johann Wilhelm von Segner sowie die von Christian Albrecht Körber. Die Bearbeitung der restlichen Briefe lag in der Hand von Andreas Kleinert, wobei die Korrespondenz mit Johann Adam Osiander erst 2011 auf Vorschlag von Martin Mattmüller aufgenommen wurde, der sie auch bearbeitete. Die Briefe sind in alphabetischer Reihenfolge der Gelehrten angeordnet, die Briefe eines Gelehrten sind in chronologischer Abfolge und nummeriert wiedergegeben. Eindeutige Hinweise zur Transkription, zur Wiedergabe von Formeln und Figuren, zur Übersetzung lateinischer Texte, zur Bibliographie, zum Personenregister und zu den Abkürzungen leiten den Band ein. Jeder Korrespondenz ist eine kurze und prägnante Einleitung vorangestellt, die die wichtigsten Informationen zu Leben und Werk des jeweiligen Gelehrten enthält und auf entsprechende weiterführende Literatur verweist. Korrespondenzen ermöglichen einen lebendigen, facettenreichen Blick in die Geschichte. Im Fall des Euler’schen Briefwechsels aus der Mitte des 18. Jahrhunderts bekommt man Zugang zum Wirken von Euler in der Zeit, als er Direktor der Mathematischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin war. In dieser, häufig als zweite Schaffensperiode bezeichneten Phase war Euler wissenschaftlich überaus erfolgreich, obwohl er in hohem Maße auch wissenschaftsorganisatorisch tätig war, z. B. in Verhandlungen mit Friedrich II. über die Besetzung von Professorenstellen. In seiner Berliner Zeit hat Euler den guten Kontakt zur Petersburger Akademie stets aufrechterhalten und gab ihr häufig personelle Empfehlungen. Die Korrespondenzen spiegeln diese Rolle Eulers als Wissenschaftsorganisator gut wider, geben aber auch Einblicke in das Privatleben dieses Universalgelehrten und natürlich in seine mathematischen Gedankengänge. Eulers Korrespondenzpartner in diesem Band waren alle mit der damals größten und bedeutendsten Universität Preußens, nämlich Halle, verbunden, so dass man zahlreiche Fakten über diese Universität erfahren kann. Aus den Briefen erschließen sich aber auch Informationen über andere Universitäten, an denen die Verfasser tätig waren. Sie hofften auf Protektion durch Euler, erwarteten eine Empfehlung für eine akademische Stellung. Eulers Antworten sind nur in wenigen Fällen erhalten geblieben, trotzdem kann aus anderen Quellen auf Eulers Unterstützung für ihm geeignet erscheinende Kandidaten geschlossen werden, von denen eine Reihe jedoch die ihnen angetragenen Stellen – z. B. in St. Petersburg – ausschlugen. Neben den Bitten um Protektion enthalten die Briefe teilweise umfangreiche Diskussionen mathematischer Probleme, z. B. in den Korrespondenzen mit Wenzeslaus Johann Gustav Karsten und Johann Andreas von Segner. Der Briefwechsel mit Karsten stellt eine gewisse Ausnahme dar, weil er fast vollständig vorliegt; auch der Großteil der Gegenbriefe von Euler ist vorhanden. Die Briefe stammen aus der Zeit, als Karsten noch nicht in Halle, sondern in Rostock und

Briefwechsel von Leonhard Euler mit Gelehrten aus Halle

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Bützow Professor war. Sie lassen Rückschlüsse auf die Situation der ältesten Universität im skandinavischen Raum zu, die sich nach einer anfänglichen Blüte im 18. Jahrhundert am Rande des Niedergangs befand. Im Brief vom 15. Juli 1758 beklagte sich Karsten z. B. über die Bedingungen in Rostock. Er habe keine mathematisch versierten Kollegen, und die Bibliothek verfüge über keinen Fonds zur Anschaffung mathematischer Bücher. So hoffte er auf Protektion durch Euler. Karstens Situation verschlechterte sich nochmals 1760 mit dem Wechsel auf die neu gegründete Universität in Bützow, er blieb aber trotz mehrfach an anderen Orten angebotener Stellen bis 1777 in dem ungeliebten Städtchen. Der Briefwechsel mit Euler bot Karsten die hervorragende Möglichkeit eines mathematischen Gedankenaustauschs. Er nutzte ihn aber auch für Bitten um die Beschaffung von Büchern und Instrumenten, im Gegenzug bemühte sich Karsten um den Druck von Eulers „Mechanik“ in Rostock. Mit den umfangreichen Einblicken in die Rostocker und Bützower Universitäten bleibt diese Korrespondenz ebenfalls eine Ausnahme, denn in erster Linie geben die Briefwechsel Eindrücke vom akademischen Leben in Halle wieder. Das gilt ganz besonders für die Briefe von Johann Joachim Lange und Johann Andreas von Segner. Klagen über die schlechte Vorbildung der Studierenden sind keineswegs erst Erscheinungen der heutigen Zeit. So liest man in Langes Brief vom 9. Juni 1754, dass schon vor über 250 Jahren die Universitätslehrer die schlechte mathematische Vorbildung ihrer Studenten bemängelten. Mit den zwei Briefen von Johann Ernst Philippi erfährt man etwas über das Leben eines Sonderlings, der kurze Zeit an der Universität Halle war und durch zahlreiche Spottschriften, darunter eine ausgesprochen rassistische, nicht zum Ruhm der Einrichtung beitrug. Auch die Auswirkungen des Siebenjährigen Krieges kommen in den Briefen vor, besonders ausführlich sind sie bei Johann Andreas von Segner dargestellt. Dieser zeigte sich sehr besorgt über Desinformationen im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen und dankte z. B. in dem Brief vom 3. Dezember 1757 für die verlässlichen Nachrichten. Der Brief vom 14. Februar 1761 lässt erkennen, dass Segner stark unter den Kriegswirren litt. Er schrieb: Läst uns Gott noch länger unter dem Krieg seufzen, so werde ich die ‚IntegralRechnung’ noch aussetzen müssen: denn ich traue mir es nicht zu, daß ich bey diesen Verwirrungen in einer so schweeren Materie zurecht kommen werde (S. 506, Brief Nr. 103). Der gesamte Band besticht durch die hervorragende Gestaltung, die sehr guten Einleitungen mit zahlreichen Querverweisen und die klare Anordnung der Briefe mit hilfreichen Anmerkungen. Die Vielfalt der in den Briefen angesprochenen Themen gibt einen beeindruckenden Einblick in das akademische Leben des 18. Jahrhunderts nicht nur der halleschen Universität. Dr. Gisela Boeck Institut für Chemie, Universität Rostock, Albert-Einstein-Straße 3a, 18059 Rostock, [email protected]

Christa Klein

Elite und Krise Expansion und „Selbstbehauptung“ der Philosophischen Fakultät Freiburg 1945–1967 WissensChaFtsKultuRen | Reihe iii – band 54 2020. 394 Seiten mit 22 s/w-Abbildungen und 10 Tabellen 978-3-515-12599-4 gebunden 978-3-515-12601-4 e-booK

Als in den 1950er Jahren die Studierendenzahlen zu steigen begannen, erklärte die Professorengeneration der Jahrgänge 1886–1910 die später sogenannte Bildungsexpansion zur „universitären Krise“: Universitäre Abschlüsse sollten einer Elite vorbehalten, die „Masse“ abgewehrt werden. Da sich die Studierendenanzahl in den Geisteswissenschaften dennoch vervierfachte, versuchten die Professoren, zumindest ihre eigene Gruppe möglichst klein zu halten. Neue Hierarchien wurden eingeführt, neue Abschlüsse eingezogen und große Teile der Forschung und Lehre auf den Mittelbau verschoben, der kurzfristig ausgebaut wurde. Erst als Studierende und verschiedene Hochschulreformer sich die Krisenrhetorik aneigneten und öffentlich gegen die unzureichenden universitären Ausbildungskapazitäten, Demokratisierungsdefizite und staatliche Finanzierungsengpässe protestierten, bahnte sich ein Wandel an.

Mit institutionsgeschichtlichen, kollektivbiographischen und diskursanalytischen Methoden untersucht Christa Klein exemplarisch die Spannungsverhältnisse zwischen institutionellen und repräsentativen Entwicklungen der Philosophischen Fakultät Freiburg 1945–67. Universitätsgeschichte jenseits der Jubiläumsrhetorik, so zeigt sich hier, ist ein „missing link“ zwischen Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte. aus dem inhalt Vorwort | Einleitung. Bildungsexpansion, Krisenrhetorik, Reformstau | Die Heterogenität der Philosophischen Fakultät | Die Expansion der Philosophischen Fakultät | Die Professoren der Philosophischen Fakultät | Krisenrhetorik, Wissenschaftsorganisation, Öffentlichkeit | Die Krise der Elite als Chance der Geisteswissenschaften | Quellen- und Literaturverzeichnis

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Der aktuelle Band des Jahrbuchs berichtet über die jüngsten Forschungen zu Formen des studentischen Protests und der Gewalt an Universitäten in Deutschland und Österreich in der Moderne, vom 19. Jahrhundert bis zur heutigen Gegenwart. Er nimmt damit ein Thema auf, das von besonderer Brisanz in der öffentlichen Diskussion ist und leistet einen wichtigen Beitrag zum gegenwärtigen internationalen Diskurs über die Rolle von Universitäten in der Gesell-

schaft. Die Einzelbeiträge informieren über neue Erkenntnisse zur Methodengeschichte der historischen Forschung über das Mittelalter, die literarische Produktion der mittelalterlichen Expertenkultur, die Forschungsgeschichte der Chemie unter schwierigen politischen Rahmenbedingungen in der Neuzeit und die wenig bekannte Entwicklung einer agrarwissenschaftlichen Lehreinrichtung im 20. Jahrhundert.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

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