Tektonik der Perestroika: Das Erdbeben und die Neuordnung Armeniens, 1985–1998 [1 ed.] 9783412513283, 9783412513269


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Tektonik der Perestroika: Das Erdbeben und die Neuordnung Armeniens, 1985–1998 [1 ed.]
 9783412513283, 9783412513269

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Katja Doose

Tektonik der Perestroika Das Erdbeben und die Neuordnung Armeniens, 1985–1998

OSTEUROPA IN GESCHICHTE UND GEGENWART BAND 3

Osteuropa in Geschichte und Gegenwart Band 3 Im Auftrag des Center for Eastern European Studies (CEES) herausgegeben von Tanja Penter, Jeronim Perović und Ulrich Schmid

Die neue Reihe Osteuropa in Geschichte und Gegenwart kommt einem ­ ach­senden Bedürfnis nach profunder Analyse zu zeitgeschichtlichen und w aktuellen Entwicklungen im östlichen Teil Europas nach. Osteuropa ist geographisch weit gefasst und umfasst einen Raum, der im Wesentlichen die sozialistischen Länder des ehemaligen »Ostblocks« einschließt, wobei Russland und die Staaten der ehemaligen Sowjetunion einen Schwerpunkt bilden sollen. Die Reihe ist interdiszi­plinär ausgerichtet. Historisch orientierte Arbeiten sollen ebenso einbezogen werden wie solche, die sich mit gegenwartsbezogenen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ­kulturellen Themen auseinandersetzen. Die Herausgeber

Katja Doose

Tektonik der Perestroika Das Erdbeben und die Neuordnung Armeniens, 1985–1998 Mit 7 Abbildungen

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Dissertation Eberhard Karls Universität Tübingen 2017 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius sowie der Calouste Gulbenkian Foundation Armenian Communities.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln  Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Leninakan. Leninplatz, 12. Dezember 1988 (©) Jurij Pavlov Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51328-3

Inhalt

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2 Katastrophen in der Sowjetunion, 1948–1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3 Karabach und der Bruch der alten armenischen Ordnung . . . . . . . . . 57 3.1 Machtwechsel und die Chance der Dissidenten: Perestrojka in Sowjetarmenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.2 Sumgait – die Explosion des Ethnischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.3 Von loyal zu radikal: Die Perestrojka der nationalen Bewegung ­Armeniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.4 Fazit: Politischer Ausnahmezustand – Auftakt zur Katastrophe . 96 4 Bebender Kaukasus und eine Sowjetmoderne auf tönernen Füßen . 99 4.1 Sicherung der Macht statt Schutz der Bevölkerung: Der Umgang mit der Katastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.2 Sensation der Unsicherheit: Die Katastrophe in der sowjetischen ­Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.3 Verschwörungen oder Gott: gefährliche Deutungen einer ­Katastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4.4 Die Ambivalenz transnationaler Solidarität – zwischen Kalkül und Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.5 Fazit: Enthüllte Todeszonen und verschleierte Zukunft: Das Ende sowjetischer Gewissheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 5 Missglückter Wiederaufbau und das Scheitern der Perestrojka . . . . 177 5.1 Die neuen Generalpläne als Bühne für Zukunftsvisionen . . . . . . . 181 5.2 Mikrokosmos Großbaustelle – Einblicke in den Zerfall der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5.3 Apathie und Migration – das Ende einer sowjetarmenischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 5.4 Fazit: Abbau des Vertrauens statt Wiederaufbau der Städte . . . . . 251

6

Inhalt

6 Unvermeidbare Unabhängigkeit und die Ambivalenz der neuen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.1 Die Diaspora – Von humanitärer Wohltäterin zu politischer ­Widersacherin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 6.2 Russland und Armenien – Trennung auf Zeit und Bindung für die Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 6.3 Fazit: Postsowjetische Neuordnungen – Euphorie und Enttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 7 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 8 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Unpublizierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Interviewpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Bild- und Filmquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Für Maria Arsentevna Dmitrieva

Danksagung

Das vorliegende Buch wäre ohne die Hilfsbereitschaft und die vielen guten Ratschläge anderer nicht entstanden. Ich möchte mich daher an dieser Stelle bei all jenen bedanken, die mir die Erstellung dieses Buches ermöglicht und mich auf dem Weg begleitet haben. Als erstes möchte ich meinem Doktorvater Klaus Gestwa dafür danken, dass er mich in jeder Phase dieser Arbeit mit seinen akademischen Hinweisen auf Quellen und Literatur unterstützte, für mich Zeit fand, obwohl er nie welche hat, mich mit den für die Arbeit relevanten Wissenschaftlern vernetzte, mir die akademische Freiheit gab, die ich brauchte, und mich zum Fertigwerden drängte, als der Moment kam. Er half mir auch bei meinem Start an der Universität in Tübingen, wo ich auf ein tolles Kollegium traf, das mir durch den wissenschaftlichen Austausch oder manchmal auch nur ein nettes Gespräch sehr weiterhalf. Mein Dank gilt hier insbesondere Alexa von Winning, Martin Deuerlein, Raphael Schulte-Kellinghaus und Boris Belge. Für seine wissenschaftliche Zweitbetreuung und seine Mühen, mich als Herausgeber bei dem Publikationsprozess begleitet zu haben, danke ich Jeronim Perović. Ganz besonders verbunden und dankbar bin ich Marc Elie, der viele Teile dieser Arbeit kommentiert hat und dessen Wissen über russische Archive und sowjetische Katastrophen, dessen Fragen, Zweifel und Kritik mir immer sehr weitergeholfen haben. Auch bei den anderen Projektmitgliedern von EcoGlobReg, insbesondere bei Melanie Arndt, möchte ich mich für ihre guten Hinweise und Gespräche sowie für die mir in Erinnerung gebliebenen tollen Workshops und Konferenzen bedanken, auf denen ich viel Neues gelernt habe. Botakoz Kasymbekovas ungewöhnliche Sicht auf die Dinge und ihre intellektuelle Kreativität waren für mich von Anfang bis Schluss eine Quelle der Inspiration, für die ich ihr sehr dankbar bin. Des Weiteren möchte ich mich bei Philipp Meuser für seine Hilfe bei Fragen zum Bauwesen und zur Architektur in der Sowjetunion bedanken sowie für so manche Quelle, die er mir zur Verfügung stellte. Von

8

Danksagung

meinen diversen Forschungsreisen nach Armenien, Moskau und Kalifornien wäre ich ohne die Unterstützung der Menschen vor Ort wohl oftmals mit leeren Händen nach Hause gekommen. Ich bedanke mich daher bei Amatuni Virabyan und Sonya Mirzoyan aus dem Nationalen Archiv Armeniens sowie ganz besonders bei Lia Hovannisyan, Shushan Gazaryan und Lusine Avetisyan, die mich in ihren Heimatstädten mit Interviewpartnern verknüpft haben und mich über die eine oder andere armenische Gewohnheit aufklärten. Außerdem standen mir die drei Ethnologen der Armenischen Akademie der Wissenschaften, Gayane Shagoyan, Levon Abrahamyan und ganz besonders Harutyun Marutyan, bis zum Schluss bei Fragen zur Seite und halfen mir, Ordnung ins Chaos zu bringen. Bedanken möchte ich mich außerdem bei allen, die sich bereit erklärt haben, mir ein Interview zu geben und mit mir ihre Erinnerungen oder ihre Expertise zu teilen, auch wenn dies für sie sicherlich nicht immer einfach war. Ohne die finanzielle Unterstützung der ZEIT-Stiftung, die mich mit einem Promotionsstipendium förderte sowie eine Häfte der Druckkosten beisteuerte, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, der meine zahlreichen Forschungs- und Konferenzreisen finanzierte, sowie der Calouste-­GulbenkianStiftung, die den anderen Teil der Druckkosten trug, wäre dieses Buch nicht entstanden. Nicht zuletzt möchte ich mich bei den Melodienen bedanken, bei meinen Freunden und ganz besonders bei meiner Familie, dafür, dass sie mich immer unterstützt und über Jahre meine zeitintensive Leidenschaft für Katastrophen ertragen haben. Mein größter Dank gilt Thomas Hallier, seinem Sinn für Humor, seiner Geduld und seiner Energie. Berlin, Dezember 2018

Suchumi

GEORGISCHE SSR

Schwarzes

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Meer

Tblissi

Akstafa

TÜRKEI Spitak

Erdbebenregion und Eisenbahnnetz im Südkaukasus 1988–1991 Legende Wichtige Städte, weitere Bahnstationen

Kirovakan Leninakan (Vanadzor) (Gyumri) Jerewan

Sewansee

ARMENISCHE SSR

Umstrittenes Gebiet Bahnlinie eingleisig, zweigleisig Transportblockaden 1989–1991 rat Mu Epizentrum des Erdbebens

Vom Erdbeben zerstörtes Gebiet

Autor: Katja Doose Kartografie: Beate Reußner

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RSFSR

Kaspisches Meer

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ASERBAIDSCHANISCHE SSR ra Ku

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BERGKARABACH Stepanakert

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IRAN

Sumgait Baku

Abb. 1: Fotografie von Jurij Pavlov, Leninakan 12. Dezember 1988, in: PAVLOV, JURIJ: Kovčeg, Kaliningrad 2017, S. 136–137.

1 Einleitung

Im Dezember 2013 hing auf einer Ausstellung in Jerewan zum 25. Jahrestag des verheerenden Erdbebens in Armenien eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die wenige Tage nach der Katastrophe in Leninakan aufgenommen worden war. Darauf steht vor dem Hintergrund einer Textilfabrik und neben einem vom Erdbeben zerstörten Gebäude eine Leninstatue. Der Großvater der Sowjetunion ist hier von Packpapiermüll und schwarzen Särgen umgeben – Särge, die so viel Raum einnehmen, dass sie Lenin klein und fast unscheinbar aussehen lassen. Darüber hängt der Himmel in den Farben Weiß bis hin zu einem bedrohlichen Schwarz. Lenin, der sonst auf Fotografien meist im Vordergrund und bei Sonnenschein festgehalten wurde, war hier nicht nur bei dunklem Himmel umgeben von Särgen fotografiert worden. Darüber hinaus steht die Statue im Hintergrund und das Bild scheint unscharf und schief, als ob der Inhalt zur Seite kippt. Lenin, durch dessen »unerschütterliches Abbild mehrere Generationen von Sowjetmenschen erzogen worden sind, stand nun umgeben von schwarzen Särgen, und im Vordergrund – eine leere Seele aus Packpapier«, erinnert sich der Autor des Bildes, Jurij Pavlov, damals Fotograf am Theater in Kaliningrad.1 Ihm zeigte dieses Stillleben »die Ruinen der Ideologie, das tragische Bild vom Ende der UdSSR«.2 Aus Angst davor, dass andere ihn dabei sehen würden, wie er fotografiert, aber auch aus Angst davor, dass sie die Konstellation von Lenin und dem Ende des Kommunismus ebenso begreifen würden wie er, habe er das Foto flüchtig geschossen, während ihm die Kamera noch am Hals hing, ohne dabei durch die Linse zu gucken, so dass die Aufnahme etwas unscharf und schief wurde.3 Dem Erdbeben vom 7. Dezember 1988, dessen Folgen Jurij Pavlov in seiner Erinnerung mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verknüpfte und das er meint als Wendepunkt erlebt zu haben, fielen mindestens 25.000 Menschen zum Opfer. Weitere 50.000 wurden verletzt. Die Zerstörung von über acht Millionen Quadratmetern Wohnfläche machte eine halbe Million Armenier obdachlos. 1 Pavlov, Jurij: Kovčeg, Kaliningrad 2017, S. 124. Für den Hinweis auf das Foto und den Fotografen danke ich Gayane Shagoyan. 2 Ebd. 3 Ebd.

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Einleitung

Neben rund 300 Siedlungen waren die Städte Leninakan (heute Gjumri) und Kirovakan (heute Vanadzor) stark zerstört; in Spitak, der Kleinstadt, die dem Epizentrum am nächsten gelegen hatte, stand fast kein einziges Haus mehr. Solche Verheerungen waren innerhalb des sowjetischen Erdbebengürtels keine Seltenheit. Das Erdbeben in Aschgabat 1948 beispielsweise forderte 75.000 Opfer und zerstörte weite Teile der turkmenischen Hauptstadt innerhalb weniger Sekunden. Taschkent lag nach dem Erdbeben 1966 ebenfalls zu großen Teilen in Ruinen. Dennoch wäre in beiden Fällen niemand auf die Idee gekommen, in den um eine Leninstatue drapierten Särgen Symbole für den Untergang des sowjetischen Imperiums zu sehen. Für Jurij aber waren der Anblick des Mülls und der Leichengeruch, der nun den sonst gepflegten Leninplatz umgab, der endgültige Beweis dafür, dass das sowjetische System ausgedient hatte.4 Während Gorbačev in den letzten Jahren der Perestrojka Lenins Ideen wieder zum Leben erwecken wollte, sah Jurij in der Anordnung von Statue und Müll den Tod ebendieser Ideen.5 Im Leninakaner Stillleben enthüllten sich für den Kaliningrader Fotografen die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche dieses Systems, auch weil er sie sehen wollte, schließlich freute er sich über das Ende der Sowjetunion, wie er mir selbst in einem Interview erzählte.6 Aber wie deuteten die vom Erdbeben betroffenen Armenier die Katastrophe? Schließlich stimmte in der Sowjetrepublik knapp drei Jahre später, im September 1991, eine große Mehrheit über die Unabhängigkeit von der Sowjetunion ab – ein Akt, den Lenin bei der Gründung der Sowjetunion gesetzlich möglich gemacht hatte. Angesichts der Zerstörung ist der freiwillige, gesetzesmäßige Austritt aus der Sowjetunion doch sehr überraschend, wäre der Anblick der Trümmer Grund genug für das Festhalten an der Sowjetunion gewesen – allein um den Wiederaufbau der zahlreichen armenischen Städte und Siedlungen zu garantieren. Wie bewältigten Staat und Gesellschaft dieses Ereignis? Welche Rolle spielten die Katastrophe und der Umgang mit ihr bei den gesellschaftlichen Veränderungen in Armenien und in der Sowjetunion? Und inwiefern können Katastrophen in der Sowjetunion zu einem besseren Verständnis von Staat und Gesellschaft beitragen? Das Buch hat das Ziel, den gesellschaftlichen Wandel Armeniens während der Perestrojka zu untersuchen, indem es das Erdbeben von 1988 als thematischen Fokus benutzt, durch den sich die soziopolitischen Entwicklungen Arme4 Interview mit Jurij Pavlov (*1958), per Telefon, 22.06.2018. 5 Yurchak, Alexei: The canon and the mushroom. Lenin, sacredness, and Soviet collapse, in: HAU: Journal of Ethnographic Theory 7 (2017) 2, S. 165–198. 6 Interview mit Jurij Pavlov (*1958), per Telefon, 22.06.2018.

Einleitung

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niens von einer loyalen Sowjetrepublik hin zu einem unabhängigen Nationalstaat genau beobachten lassen. Die Katastrophe in Armenien ereignete sich in einer turbulenten Zeit, in der sich die armenische Nationalbewegung mit über einer Million Anhängern gerade zur Parallelmacht entwickelt hatte, weshalb Moskau mit dem lokalen Regierungs- und Parteiapparat im Streit lag. Zudem warf der Konflikt um die Enklave Bergkarabach bereits seine ersten Schatten voraus – eine sich an der Peripherie abzeichnende Explosivität, die sich durch die Verselbstständigungsprozesse von Glasnost’ und Perestrojka sowie durch die damit einhergehende Entzauberung der sowjetischen Ideologie noch weiter verschärfte. Vor dem Hintergrund dieser Verflechtung aus Erdbeben, Karabachkonflikt und der auseinanderbrechenden Sowjetunion liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der turbulenten Umschlagsphase von 1986 bis 1991. Es war eine Zeit, in der zum einen wegen der neuen Offenheit der Massenmedien soziale und politische Katastrophen aus der Gegenwart und der Vergangenheit an die sowjetische Öffentlichkeit drangen und so zu erhöhter gesellschaftlicher Reflexivität führten. Zum anderen war es ebenjene Zeit, in der die politischen Zentrifugalkräfte, jene Nationalbewegungen in den Republiken außerhalb der Russischen Sozialistischen Föderative Sowjetrepublik (RSFSR), immer stärker wurden und so letztlich zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums beitrugen. Um die Bedeutung der Katastrophe für die soziale und politische Neuordnung Armeniens klarer zu fassen, geht die Studie über die Transformationszeit der 1990er Jahre hinaus und nimmt auch die Prozesse bis 1998 in den Blick, als der erste Präsident des unabhängigen Armenien sein Amt endgültig aufgab und Armenien wieder auf den Weg in eine vollständige Abhängigkeit von Russland geriet. Dieser Zugang zur Geschichte durch das Erdbeben ist möglich, weil Katastrophen nicht nur die Klüfte in der symbolischen Dimension des Politischen enthüllen können, wie dies bei Jurij Pavlov der Fall war, sondern auch, weil sie die Brüchigkeit von Gesellschaften offenbaren und somit ihre »Funktionsund Dysfunktionszusammenhänge« aufdecken, die sonst verborgen bleiben.7 Forscherinnen legt das Erdbeben in Armenien den Blick frei auf jene Strukturen und Mechanismen des sowjetischen Systems sowie auf die sozioökonomischen und politischen Bedingungen, die am Ende zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen haben. Gemeint ist also nicht nur die Mikroebene der Geschichte Sowjetarmeniens, sondern auch die Frage danach, was der staatli7 Welzer, Harald: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt am Main 2008, S. 34.

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Einleitung

che Umgang mit Katastrophen über die Funktionsweise des sowjetischen Systems aufzudecken vermag. Durch eine Analyse der verschiedenen Phasen vor, während und nach der Katastrophe können die Entwicklungen und Schwierigkeiten, mit denen der sowjetische Staat und seine Gesellschaft konfrontiert waren, genau dargestellt werden. Damit geschieht auch eine Einordung von Katastrophen in den größeren Kontext der sowjetischen Geschichte. Als letzte schwere Katastrophe kann das Erdbeben in Armenien Erklärungen dafür anbieten, warum sich die Vulnerabilität der sowjetischen Bevölkerung trotz großer Mobilisierungskraft und trotz Modernisierungsaufwand über die Jahrzehnte nicht verringerte, sondern erhöhte. Gescheiterte Perestrojka und Unabhängigkeit wider Willen Anstelle von Lenin schmückt nun die Statue der »Armenierin« jenen Platz, den Jurij Pavlov fotografierte und der heute nicht mehr Leninplatz heißt, sondern »Platz der Unabhängigkeit«. Diese im September 1991 durch ein Referendum erreichte Unabhängigkeit ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. So erzählte mir der Bauingenieur Grigor Azizyan in einem Interview, dass er ohne den Augustputsch 1991 niemals für die Unabhängigkeit gestimmt hätte. Obwohl Grigor Azizyan auf den großen Demonstrationen mitmarschiert war, Protestplakate gezeichnet und voller Tatendrang die nationale Bewegung unterstützt hatte, fürchtete er sich davor, in einem Armenien zu leben, das nicht mehr zur Sowjetunion gehörte.8 Es ist genau dieser Widerspruch, der Armenien zu einer geeigneten Fallstudie für die Geschichte der Perestrojka macht. Denn Armenien pflegte ein ganz besonderes Verhältnis zum Kreml. Zwar geschah die Eingliederung in den sowjetischen Staatenbund mit der anschließenden Sowjetisierung im Jahre 1920 ebenso unfreiwillig wie etwa der Anschluss der baltischen Republiken an die Sowjetunion, allerdings versprach Moskau Armenien nach dem Genozid von 1915, einer turbulenten Phase armenischer Unabhängigkeit zwischen 1918 und 1920 und einem Krieg mit der Türkei Schutz und Sicherheit.9 Ungeachtet der stalinistischen Repressionen, unter denen die Armenier wie andere Volksgruppen in der Sowjetunion litten – wenn auch weniger als die meisten anderen Nationalitäten – zählte Armenien kurz nach dem Zweiten Welt8 Interview mit Grigor Azizyan (*1955), Jerewan, 16.10.2013. 9 Lehmann, Maike: Eine sowjetische Nation. Nationale Sozialismusinterpretationen in Armenien seit 1945, Frankfurt am Main 2012; Suny, Ronald Grigor: Looking toward Ararat. Armenia in Modern History, Bloomington, Indiana 1993.

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krieg zu den loyalsten Sowjetrepubliken.10 Und selbst bis weit in das Jahr 1988 hinein galten die Demonstrationen in Armenien, in denen Armenier für eine Verbesserung der Umweltbedingungen sowie für die Integration Bergkarabachs in die Armenische Sozialistische Sowjetrepublik (SSR) eintraten, weder in den Augen Michail Gorbačevs noch in den Augen der Teilnehmer als antisowjetisch.11 Die Forderungen nach Unabhängigkeit bedürfen also einer Erklärung. Im Hinblick auf die sowjetische Nationalitätenpolitik haben sich bereits viele Untersuchungen mit der Frage beschäftigt, wie es zu dem vermeintlich plötzlichen Ausbruch nationaler Ressentiments in den Sowjetrepubliken Ende der 1980er Jahre gekommen war. Einige sehen einen der zentralen Faktoren, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt haben, im Nationalismus, neben ökonomischen und politischen Gründen.12 Sie verweisen in ihren Studien auf den destabilisierenden Effekt der zahlreichen Nationalbewegungen auf die politische und soziale Ordnung des Staatenbundes. Demgegenüber argumentieren andere, dass die Proteste kaum einen messbaren Einfluss auf den Zusammenbruch der Sowjetunion gehabt hätten, da sie lediglich eine Konsequenz des sich schon abzeichnenden Kollapses gewesen seien und somit selbst keine auseinandertreibende Kraft besessen hätten.13 Es seien einzig Gorbačevs Reformen gewesen, die die Sowjetunion in den politischen »Selbstmord« getrieben hätten.14 Die Krise des Systems habe demnach allein die Politelite wahrgenommen, während sich die Bevölkerung längst mit den Bedingungen des real existierenden Sozialismus arrangiert habe.15 Einig jedoch scheinen sich 10 Werth, Alexander: The Year of Stalingrad, London 1946, S. 153; Suny, Ronald: Soviet Armenia, 1921–1991, in: Edmund Herzig/Marina Kurkchiyan (Hg.): The Armenians. Past and present in the making of national identity, London 2005, S. 113–125. 11 RGANI, fond (f.) 89, opis‘ (op.) 42, delo (d.) 18, list (l.) 1, Politbüroprotokoll der Versammlung vom 29. Februar 1988; Lehmann: Eine sowjetische Nation, S. 362–371; Interview mit Lewon Abrahamyan (*1947), Jerewan, 26.09.2013. 12 Halbach, Uwe: Die Nationalitätenfrage: Kontinuität und Explosivität, in: Dietrich Geyer (Hg.): Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 14, Göttingen 1991, S. 210–237; Suny, Ronald Grigor: The Revenge of the Past. Nationalism, Revolution, and the Collapse of the Soviet Union, Stanford 1993; Beissinger, Mark R.: ­Nationalist Mobilization and the Collapse of the Soviet State, Cambridge 2002. 13 Kotkin, Stephen: Armageddon Averted: The Soviet Collapse, 1970–2000, Oxford 2001. 14 Brown, Archie: Seven Years that Changed the World. Perestroika in Perspective, Oxford 2007; Aron, Leon: Roads to the Temple. Truth, Memory, Ideas, and Ideals in the Making of the Russian Revolution, 1987–1991, New Haven 2012; Kotkin: Armageddon Averted. 15 Zur Debatte der »Krisenwahrnehmung« im Journal of Modern European History (JMEH): Baberowski, Jörg: Criticism as Crisis, or Why the Soviet Union Still Collapsed, in: JMEH 9 (2011) 2, S. 148–166; Hildermeier, Manfred: »Well said is half a lie«. Observations on Jörg Baberowski’s »Criticism as Crisis, or why the Soviet Union still Collapsed«, in: JMEH 9

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die meisten Historiker darin – und dem schließt sich diese Studie an –, dass der Zusammenbruch ein Resultat eines eskalierenden und kaum noch einzudämmenden Wechselspiels von Wirtschaftsmisere, gesellschaftlichem Desintegrationsprozess und ethnischen Konflikten war, deren Fundament schon zu Beginn der sowjetischen Herrschaft gelegt worden war.16 Um zu erklären, wie ethnische Konflikte und nationale Bewegungen entstehen konnten, wurde in der Nationalitätenforschung zur Sowjetunion das Augenmerk bisher vor allem auf die Unzufriedenheit und den Widerstand der verschiedenen Nationalitäten seit der Gründung der Sowjetunion gerichtet. In der sowjetischen Literatur und später dann auch in der westlichen Forschung war vielfach von einer »Explosion des Ethnischen« (vzryv etničnosti) zu lesen, die sich anscheinend aus einem seit Jahrzehnten unter der Oberfläche schwelenden, von Moskau unterdrückten Nationalismus speiste. Probleme wie die Unzufriedenheit einiger Titularnationen über die Sprachpolitik und über die Unterdrückung der kulturellen Eigenheiten fanden demnach erst mit den Reformen Gorbačevs ein Ventil.17 Andere Studien dagegen kommen zu dem Schluss, dass sich die Mitglieder des Vielvölkerreiches in der Sowjetunion eingerichtet, sich an Verhandlungen über ihre nationalen Bedürfnisse beteiligt und diese durchaus durchzusetzen gewusst hätten.18 Diesen Studien zufolge war das Sowjetische mit dem Nationalen eng verflochten und konnte fast problemlos neben diesem existieren, weil die Republiken den vom sowjetischen Staat zur Verfügung gestellten Raum genutzt hätten, um das sozialistische Projekt nach ihrem

(2011) 3, S. 289–297, und Gestwa, Klaus: Von der Stagnation zur Perestrojka. Der Wandel der Bedrohungskommunikation und das Ende der Sowjetunion, in: Boris Belge/Martin Deuerlein (Hg.): Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014, S. 253–311. 16 Zum komplexen Wechselspiel siehe Gestwa, Klaus: Von der Perestroika zur Katastroika. ­Michail Gorbatschow und der Zerfall des Sowjetimperiums. Teil 2: Die politische Selbstauf­ lösung, in: Einsichten und Perspektiven (2016) 2, S. 4–25; Hanson, Philip: From Stagnation to Catastroika. Commentaries on the Soviet Economy, 1983–1991, New York 1992; ­Plaggenborg, Stefan: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt am Main 2006; ­Schattenberg, Susanne: Von Cruščev zu Gorbačev – die Sowjetunion zwischen Reform und Zusammenbruch, in: Neue Politische Literatur 55 (2010), S. 255–284; Neutatz, Dietmar: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, München 2013; Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998. 17 Halbach: Die Nationalitätenfrage, S. 210. 18 Suny: The Revenge of the Past; Lehmann: Eine sowjetische Nation; Edgar, Adrienne L ­ ynne: Tribal Nation. The Making of Soviet Turkmenistan, Princeton 2004; Yurchak, Alexei: Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2005.

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nationalen Geschmack mitzugestalten.19 Es gab folglich keine »Explosion«, weil nichts unter der Oberfläche schwelte und nationale Bedürfnisse größtenteils befriedigt werden konnten. Die Separationsbestrebungen Armeniens Ende der 1980er Jahre erklären einige dieser Untersuchungen dann damit, dass sich mit Gorbačev eine Desillusionierung über seine Reformen breitgemacht habe und die armenische Entscheidungselite sowie große Teile der Bevölkerung ihren Gestaltungsspielraum in Gefahr gesehen, sie sich also mehr aus Enttäuschung von Moskau als aus Kritik gegen das sozialistische Projekt gewendet hätten.20 Aber was passierte zwischen den Protesten und dem Austritt aus der Sowjetunion? Weder verlief der Weg zur Unabhängigkeit ohne Umwege noch war er unvermeidlich oder unumstößlich. In Studien wurde die chronologische Abfolge von Gorbačevs Reformen und den nicht beabsichtigten Reformresultaten bereits zahlreich dokumentiert.21 Soziologische Umfragen aus der Zeit belegten zudem erstmals die Stimmungslage der sowjetischen Bevölkerung, die den Reformen und der Person Gorbačev kein gutes Zeugnis ausstellte.22 Auf der Suche nach dem »liberalen Subjekt« sind darüber hinaus auch die politischen Standpunkte und Handlungsweisen sowjetischer, jedoch fast ausschließlich russischer Dissidenten schon Gegenstand von Untersuchungen geworden.23 Einige dieser Dissidenten und andere lokale Eliten formten die nationalen Bewegungen, weil sie sich davon einen Machtgewinn durch den Rückgriff auf nationalistische For-

19 Zur Hybridität des Nationalen und Sowjetischen siehe insbesondere Lehmann: Eine sowjetische Nation; Zhuk, Sergei I.: Rock and Roll in the Rocket City. The West, Identity, and Ideology in Soviet Dniepropetrovsk, 1960–1985, Baltimore 2010; Risch, William Jay: The Ukrainian West. Culture and the Fate of Empire in Soviet Lviv, Cambridge/Massachusetts 2011; Florin, Moritz: Kirgistan und die sowjetische Moderne 1941–1991, Göttingen 2015. 20 Suny: The Revenge of the Past, S. 126, Lehmann: Eine sowjetische Nation, S. 372 f., 382 f. 21 Zuletzt auf das Jahr 1989 bezogen von Altrichter, Helmut: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009; Neutatz: Träume und Alpträume, 5. Kapitel; Gestwa: Von der Perestroika zur Katastroika. 22 Lewada, Juri: Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zerfalls, Berlin 1992; Gestwa, Klaus: Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sowjetimperiums. Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013) 2, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Gestwa-­ 2-2013 [13.05.2017]. 23 Krylova, Anna: The Tenacious Liberal Subject in Soviet Studies, in: Kritika 1 (2000) 1, S. 119– 146.; Oushakine, Serguei Alex.: The Terrifying Mimicry of Samizdat, in: Public Culture 13 (2001) 2, S. 191–214; Komaromi, Ann: The Unofficial Field of Late Soviet Culture, in: Slavic Review 66 (2007) 4, S. 605–629; Stephan, Anke: Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen, Zürich 2005.

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meln erhofften.24 Dabei waren diese Bewegungen nicht monolithisch, sondern bestanden aus vielen verschiedenen Gruppierungen, deren unterschiedliche Vorstellungen von mehr Eigenständigkeit bis hin zur Trennung von Moskau reichten.25 Aber nur wenige Studien haben sich bisher damit beschäftigt, wie in den letzten Jahren der Sowjetunion der Prozess der Entfremdung vom sowjetischen System stattfand und was die Bewohner der Sowjetrepubliken am Rande des Reiches so plötzlich dazu bewog, aus dem Verbund auszutreten.26 Denn im Fall von Armenien deuteten die Bewohner aufgrund ihrer geopolitischen Lage eine Unabhängigkeit lange Zeit als Gefahr und nicht als Gewinn – eine Tat­sache, die sich durch die weiträumigen Zerstörungen nach dem Erdbeben noch weiter verschärfte. Perspektiven aus der sowjetischen Peripherie können daher helfen, die bisher immer noch fragmentierte Antwort auf die Frage nach dem Warum des plötzlichen Zusammenbruchs zu vervollständigen. Der Karabachkonflikt allein reicht nicht aus als Grund für die Entfremdung vom sowjetischen Projekt. Mit Blick auf Armeniens Austrittsgesuche wurde bisher stets argumentiert, dass der Karabachkonflikt zu einem massiven Vertrauensverlust gegenüber Moskau geführt habe und dass die Anführer der nationalen Bewegung Armeniens eine Lösung ihrer nationalen Frage nur noch 24 Wälzholz, Gunnar: Nationalismus in der Sowjetunion. Entstehungsbedingungen und Bedeutung nationaler Eliten, in: Arbeitspapiere des Bereichs Politik und Gesellschaft 8 (1997). Auch die vorliegende Arbeit geht von der Prämisse aus, dass Nationen ein soziales Konstrukt sind. Siehe die Nationenkonzepte von Benedict Anderson (imagined communities) und Eric Hobsbawm (invention of tradition). 25 Einige Untersuchungen hierzu liefern Halbach: Die Nationalitätenfrage; Beissinger: Nationalist Mobilization. Speziell zur Heterogenität der armenischen Nationalbewegung siehe ­Abrahamian, Levon H.: The anthropologist as shaman: interpreting recent political events in Armenia, in: Gísli Pálsson (Hg.): Beyond Boundaries. Understanding, Translation and Anthropological Discourse, Oxford 1993, S. 100–116; Dudwick, Nora: The Karabagh Movement: An Old Scenario Gets Rewritten, in: Armenian Review 42 (1989) 3/167, S. 63–70; Florin: Kirgistan und die sowjetische Moderne, S. 228–234. 26 Erste Untersuchungen zur Perestrojka in den zentralasiatischen Republiken, siehe: Morozova, Irina: The Year 1989: Southern »Peripheries« of the Soviet Union at the Time of ­Perestroika, in: Ulf Engel/Frank Hadler/Matthias Middell (Hg.): 1989 in a Global Perspective, Leipzig 2015, S. 151–176; Scarborough, Isaac: (Over)determining social disorder: Tajikistan and the economic collapse of perestroika, in: Central Asian Survey 35 (2016) 3, S. 439–463. Zu den restlichen Republiken überblicksmäßig siehe: Malek, Martin/Schor-Tschud­nowskaja, Anna (Hg.): Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hintergründe, Baden-­ Baden 2013, Kap. 3 mit Einzelstudien zu den Republiken. Für Armenien siehe die Arbeiten der Ethnologen Dudwick, Nora C.: Memory, Identity and Politics in Armenia, Dissertation, University of Pennsylvania, 1994; Platz, Stephanie: Pasts and Futures: Space, History, and Armenian Identity, 1988–1994, Dissertation, University of Chicago 1996; A ­ brahamian: The anthropologist as shaman.

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außerhalb der Sowjetunion für möglich gehalten hätten, weil sie gemeint hätten, als eigenständiger Staat besser als im Unionsverband um Bergkarabach kämpfen zu können.27 Auch die Wiederannäherung an Moskau Anfang der 1990er Jahre wurde oft mit Blick auf den Karabachkonflikt begründet; so habe Armenien Russland schon allein für die Waffenlieferungen benötigt. Aber der damals noch ergebnisoffene Karabachkonflikt war auch nur ein Symptom der sowjetischen Herrschaftsorganisation, die nicht mehr in der Lage war, adäquate Lösungen für die selbst geschaffenen Probleme anzubieten. Mithilfe der Erdbebenstudie kann wie mit einem Vergrößerungsglas deutlich gemacht werden, warum sich der Konflikt derart zuspitzen konnte. In der geschichts- und politikwissenschaftlichen Forschung ist das Erdbeben bisher überwiegend in den Kontext des Karabachkonflikts gestellt worden, entweder als Ereignis, das in die Chronologie gehört, oder um zu zeigen, wie die sowjetische Regierung die Katastrophe als Vorwand nutzte, um die armenische Nationalbewegung einzudämmen, indem sie deren Anführer wenige Tage nach dem Erdbeben festnahm.28 Aber Untersuchungen über die Art und Weise, wie sich Katastrophe und Konflikt gegenseitig bedingten und antrieben, stehen noch aus. In beiden Fällen war die sowjetarmenische Gesellschaft auf die Fürsorge und den Schutz des Kremls angewiesen, der aber durch andere Katastrophen und Brandherde ethnischer Konflikte vielerorts in der Sowjetunion überfordert war. Jurij Pavlov sah in den Plastikflaschen vor Lenins Sockel eine Nachlässigkeit, die ihm das Ende des Kommunismus und somit das Ende der Sowjetunion prophezeite. Wie begriff die armenische Bevölkerung dann die Unfähigkeit des Staates, sie vor Naturgewalt und ethnischen Pogromen zu schützen? Es gilt also zu untersuchen, inwiefern es bei dem Wunsch nach Unabhängigkeit um das eher abstrakte Nationale oder um ganz konkrete Bedürfnisse nach Sicherheit und Fürsorge ging, welche die Armenier im Rahmen des Sozialver27 Suny, Ronald Grigor: Soviet Armenia, in: Richard G. Hovannisian (Hg.): The Armenian People from Ancient to Modern Times. Volume II. Foreign Dominion to Statehood: The Fifteenth Century to the Twentieth Century, New York 1997, S. 347–389; Jakoby, Volker: Geopolitische Zwangslage und nationale Identität: Die Konturen der innenpolitischen Konflikte in Armenien, Dissertation, Goethe-Universität, Frankfurt am Main 1998. 28 De Waal, Thomas: Black Garden. Armenia and Azerbaijan through Peace and War, New York 2003, S. 64–66; Malkasian, Mark: »Gha-ra-bagh!« The Emergence of the National Democratic Movement in Armenia, Detroit 1996, S. 181–188; Mouradian, Claire: The Mountainous Karabagh Question: Inter-Ethnic Conflict or Decolonization Crisis?, in: Armenian Review 43 (1990) 2–3, S. 1–34, hier S. 23 f.; Jakoby: Geopolitische Zwangslage, S. 212–216; Hofmann, Tessa: Annäherung an Armenien. Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., München 2006 [1997].

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trags als Gegenleistung für ihre Loyalität gegenüber dem sowjetischen Staat eingefordert hatten und deren Erfüllung nun aber ausblieb. Den Austritt aus der Sowjetunion, so ein Argument der Arbeit, wählte die Mehrheit der armenischen Bevölkerung als das kleinere Übel und weniger als freiwilligen Befreiungsschlag. Unter der gewaltigen Wirkkraft von Glasnost’ und Perestrojka war der sowjetischen Bevölkerung die »Katastrojka«29 vor Augen geführt worden, wodurch auch Armeniern klar geworden war, wie sehr sie alltäglichen Gefahren schutzlos ausgeliefert waren.30 Die Enttabuisierung von Problemen diente ursprünglich dazu, Unterstützung für die Reformen Gorbačevs zu erlangen. Doch stattdessen delegitimierte sich der Staat selbst, indem schnell öffentlich wurde, dass er keine Mittel mehr hatte, sich ökonomisch oder politisch den Gefahren zu stellen und den Menschen in Armenien und anderswo Sicherheit zu garantieren. Das Einsehen der eigenen Schutzlosigkeit bei gleichzeitigem Mangel an nationaler Selbstbestimmung und Demokratie spielte somit eine große Rolle beim Entfremdungsprozess. Moskau erschien den wenigsten in Armenien noch als Sicherheitsgarant – ein Umstand, der sich durch die Erdbebenkatastrophe und die Unfähigkeit des sowjetischen Staates, den Armeniern wieder zu einer lebenswerten Normalität zu verhelfen, in drastischer Weise offenbarte. Das Erdbeben als Symptom und Katalysator des gesellschaftlichen Wandels Um diese politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Armenien und in der gesamten Sowjetunion besser verstehen zu können, dient das Erdbeben in der Studie als thematischer Fokus. Als alles akkumulierende Ereignisse und Prozesse eignen sich Katastrophen zur Analyse von Gesellschaften, weil sie jene sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen offenlegen, unter denen das Naturereignis erst zur Katastrophe und die Menschen erst zu ihrem Opfern geworden sind. Sie sind ähnlich wie Kriege oder andere Krisen für den Historiker dazu geeignet, sein Analyseinstrument scharf zu stellen, weil Katastrophen 29 Der Begriff stammt von dem sowjetischen Dissidenten Alexandr Sinovev, siehe Gestwa, Klaus: Katastrojka und Super-GAU: Die Nuklearmoderne in Zeiten von Tschernobyl und Fukushima, in: Katharina Kucher/Gregor Thum/Sören Urbansky (Hg.): Stille Revolutionen. Die Neuformierung der Welt seit 1989, Frankfurt am Main 2013, S. 57–72, hier S. 58. 30 Zu Glasnost’ siehe Roisko, Pekka: Gralshüter eines untergehenden Systems. Zensur der Massenmedien in den UdSSR 1981–1991, Wien 2015; Steinsdorff, Silvia von: Rußland auf dem Weg zur Meinungsfreiheit. Die Pluralisierung der russischen Presse zwischen 1985 und 1993, Münster 1994; Wolfe, Thomas C.: Governing Soviet Journalism: The Press and the Socialist Person after Stalin, Bloomington/Indiana 2005.

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das Normale gesellschaftlicher Ordnungen offenlegen und dem Wissenschaftler so als »natürliche Laboratorien« der Gesellschaft dienen.31 Sie richten den Blick auf Bruchstellen und Ambivalenzen in sozialen Strukturen und Systemen, aber auch auf Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt.32 Marc Bloch drückte dies 1939 mit einem Vergleich treffend aus, indem er festhielt, dass genauso »wie in der Medizin das Fortschreiten einer Krankheit das geheime Leben eines Körpers offenbart, […] [hat] der Siegeszug eines großen Unheils im Hinblick auf die betroffene Gesellschaft in den Augen des Historikers die Qualität eines Symptoms.«33 In diesem Sinne kann das Erdbeben in Armenien dem heutigen Beobachter jene Probleme und Herausforderungen sichtbar machen, vor deren Lösung der Staat und seine Bevölkerung standen. Als Symptom für diese Herausforderungen können Katastrophen vor allem deshalb gelten, weil sie in der historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung nicht mehr als isolierte oder externe Ereignisse gesehen werden, die eine Gesellschaft plötzlich von außen treffen; vielmehr werden sie als in soziale, politische, ökonomische und historische Bedingungen eingebettete Momente verstanden.34 Als Produkte sozialer Ordnungen und längerfristig wirksamer historischer Entwicklungen geschehen Katastrophen demnach nicht zufällig oder unvorhergesehen, sondern sie werden von Gesellschaften und Herrschenden selbst produziert.35 Daher sind sich Wissenschaftler einig, dass der Begriff »Naturkatastrophe« nicht mehr angebracht ist, weil Katastrophen als »soziale Phänomene« vielmehr das Resultat politischer Strukturen, wirtschaftlicher Systeme und sozialer Ordnungen sind, 31 Oliver-Smith, Anthony: Anthropological Research on Hazards and Disasters, in: Annual Review of Anthropology 25 (1996), S. 303–328, hier S. 304; Elie, Marc/Gestwa, Klaus: Zwischen Risikogesellschaft und Katastrophenkulturen. Zur Einführung in die Katastrophengeschichte des östlichen Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62 (2014) 2, S. 161–179, hier S. 161. 32 Quarantelli, Enrico L.: A social science research agenda for the disasters of the 21st century, in: Ronald W. Perry/Enrico L. Quarantelli (Hg.): What is a Disaster? New Answers to Old Questions, Philadelphia 2005, S. 325–396, hier S. 345. 33 Bloch, Marc: Die Feudalgesellschaft, Stuttgart 1999, S. 87. 34 Für einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur historischen Katastrophenforschung siehe Hannig, Nicolai: Katastrophen im 19. und 20. Jahrhundert. Befunde, Kontexte und Perspektiven, in: Neue Politische Literatur 61 (2016) 3, S. 439–463; Oliver-Smith: Anthropological Research. 35 Bankoff, Greg: Vorzeichen für das neue Jahrhundert? Der Tsunami im Indischen Ozean 2004 und der Hurrikan Katrina im Golf von Mexiko 2005, in: Gerrit Jasper Schenk (Hg.): Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel, Ostfildern 2009, S. 191–204; Oliver-Smith, Anthony: Peru’s Five-Hundred-Year Earthquake: Vulnerability in Historical Context, in: Anthony Oliver-Smith/Susanna M. Hoffman (Hg.): The Angry Earth. Disaster in Anthropological Perspective, New York 1999, S. 74–88.

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die eine Bevölkerung Gefahren aussetzen.36 Etwas Menschliches haftet also jedem extremen Naturereignis an, das sich in einem besiedelten Gebiet ereignet. Katastrophen dienen nicht nur als Vergrößerungsglas für den Blick in eine gegenwärtige oder vergangene Gesellschaft, sondern sie haben auch das Potenzial, gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Dabei ist diese Katalysatorfunktion von Katastophen umstritten. Eine Reihe von Studien kommt zu dem Schluss, dass Katastrophen trotz ihrer Zerstörungskraft nicht genügend Macht besitzen, um langfristigen Wandel auszulösen oder zu beschleunigen.37 Vielmehr sehen einige Forscher Kontinuitäten in dem Verhalten und in der Konstitution von postkatastrophalen Gemeinden und Gesellschaften.38 Eine Katastrophe führe demnach nicht zum sozialen Abstieg einer betroffenen Gesellschaft, könne ihr aber auch nicht zum Aufstieg verhelfen. Andere Studien jedoch weisen nach, dass Katastrophen sehr wohl Einfluss ausüben und beispielsweise Gesetzgebungen und Reformen im Bevölkerungsschutz vorantreiben können, auch wenn diese neuen Gesetze noch nichts über generelle gesellschaftliche Veränderungen aussagen.39 Zudem erscheinen immer wieder Studien, insbesondere von Anthropologen und Historikern, die zeigen können, wie ausgewählte Katastrophen zwar keinen Wandel auslösen können, aber unter bestimmten Umständen bereits in Gang gekommene politische und soziale Prozesse verschärfen.40 Der Umwelthistoriker Greg Bankoff spricht daher von Katastrophen als »transformativen 36 Cannon, Terry: Vulnerability Analysis and the Explanation of ›Natural‹ Disasters, in: Ann Varley (Hg.): Disasters, Development and Environment, Hoboken 1994, S. 13–30; O’Keefe, Phil/Westgate, Ken/Wisner, Ben: Taking the naturalness out of natural disasters, in: Nature 260, 1976, S. 566–567; Perry, Ronald W.: Defining Disaster: An Evolving Concept, in: Havidán Rodríguez/William Donner/Joseph E. Trainor (Hg.): Handbook of Disaster Research. Second Edition, Cham 2018, S. 3–23, hier S. 10–12. 37 Passerini, Eve: Disasters as Agents of Social Change in Recovery and Reconstruction, in: Natural Hazards Review 1 (2000) 2, S. 67–72; Nigg, Joanne M./Tierney, Kathleen J.: Di­ sasters and Social Change: Consequences for Community Construct and Affect, in: University of Delaware Disaster Research Center, Preliminary Paper #195, Delaware 1993. 38 Smits, Gregory: When the Earth Roars. Lessons from the History of Earthquakes in Japan, Lanham 2014; Schencking, J. Charles: The Great Kantō Earthquake and the Chimera of National Reconstruction in Japan. New York 2013; Henry, Jacques: Continuity, Social Change and Katrina, in: Disasters 35 (2011) 1, S. 220–242. 39 Birkland, Thomas A.: After Disaster. Agenda Setting, Public Policy, and Focusing Events, Washington, D.C. 1997; Drabek, Thomas E.: Human System Responses to Disaster. An ­Inventory of Sociological Findings, New York 1986. 40 García-Acosta, Virginia: Historical Disaster Research, in Susanna M. Hoffman/­Anthony Oliver-Smith (Hg.): Catastrophe & Culture. The Anthropology of Disaster, Santa Fe, Oxford 2002, S. 49–66, hier S. 57; Passerini: Disasters as Agents of Social Change, S. 68; Oliver-­ Smith: Anthropological Research, S. 313;

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Agenten«, weil sie sich auf gesellschaftliche Prozesse auswirken.41 Sie werden oftmals als Bedrohung für politische Machthaber gesehen, da der Erfolg oder Misserfolg der Katastrophenbewältigung entscheidend für ihre Legitimität ist und zu Veränderungen in der Machtstruktur führen kann.42 Diese Bedrohung kann zusätzlich entstehen, weil Katastrophen Raum für politischen Protest und Konflikt schaffen, unter anderem indem sie soziale Ungleichheiten aufdecken und Oppositionelle die kurzfristige Überlastung der amtierenden Regierung ausnutzen, um ihre eigene Agenda voranzutreiben.43 In diesem Zusammenhang begreifen Wissenschaftler Katastrophen auch gern als Katalysatoren des Wandels – ein Begriff, der anfangs etwas in die Irre führt.44 Schließlich hat der Katalysator als »Figur des Dritten, die seltsam kostenlos Fortschritt schafft«, nur ein imaginäres Potenzial.45 So hat der Anblick von Lenin umgeben von Müll und Tod in Jurij Pavlov zwar Reflexionsprozesse ausgelöst, aber wie sich die soziopolitischen Prozesse in Armenien und in der gesamten Sowjetunion ohne Katastrophe entwickelt hätten, ist unmöglich mit Gewissheit zu sagen, ohne dabei in eine kontrafaktische Geschichtsschreibung zu geraten. Die Katastrophe ist daher nicht in eine Ursache-Folge-Verkettung eingebettet zu betrachten. Vielmehr gestaltete die Katastrophe gesellschaftliche Entwicklungen mit, weil sie als Katalysator zusätzliche Reaktions- und Handlungswege eröffnete. Ähnlich wie Jurij Pavlov die Plastikflaschen auf dem Fun41 Bankoff, Greg: Comparing Vulnerabilities: Toward Charting an Historical Trajectory of Di­ sasters, in: Historical Social Research 32 (2007) 3, S. 103–114, hier S. 103. 42 Kang, Yi: Disaster Management in China in a Changing Era, Heidelberg 2015, S. 14. 43 Omelicheva, Mariya Y.: Natural Disasters: Triggers of Political Instability?, in: International Interactions: Empirical and Theoretical Research in International Relations 37 (2011) 4, S. 441–465; Drury, A. Cooper/Olson, Richard Stuart: Disasters and Political Unrest: An Empirical Investigation, in: Journal of Contingencies and Crisis Management 6 (1998) 3, S. 153–161. 44 Zu Katastrophen als Katalysatoren des Wandels siehe Hoffman, Susanna M.: After Atlas Shrugs: Cultural Change or Persistence after a Disaster, in: Anthony Oliver-Smith/Susanna M. Hoffman (Hg.): The Angry Earth. Disaster in Anthropological Perspective, New York 1999, S. 302–326; Massard-Guilbaud, Geneviève: Introduction – The Urban catastrophe: Challenge to the social, economic, and cultural order of the city, in: Geneviève Massard-Guilbaud/ Harold L. Platt/Dieter Schott (Hg.): Cities and Catastrophes – Villes et catastrophes. Coping with Emergency in European History – Réactions face à l’urgence dans l’histoire européenne, Frankfurt am Main 2002, S. 9–42, hier S. 38. Schenk, Gerrit Jasper: Historical Disaster Research. State of Research, Concepts, Methods and Case Studies, in: Historical Social Research 32 (2007) 3, S. 9–31 und Bankoff: Comparing Vulnerabilities. 45 Zur Begriffsgeschichte von ›Katalysator‹ siehe Steininger, Benjamin: Katalysator – Annäherung an einen Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts, in: Ernst Müller/Falko Schmieder (Hg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin 2008, S. 53–71, hier S. 70.

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dament mit dem Ende des Kommunismus neu verknüpft hatte, verknüpfte die Katastrophe als Verdichtungspunkt verschiedene Diskurse und Probleme miteinander und machte so bestimmte Perspektiven erst sichtbar.46 Indem sie mit der üblichen Routine brach, zwang die Katastrophe gewissermaßen Staat und Gesellschaft automatisch dazu, mit besonderen Maßnahmen zu reagieren sowie sich zu bestimmten Themen zu positionieren, wie es im Normalfall nicht nötig gewesen wäre.47 Auf diese Weise kristallisieren sich Sichtweisen heraus, die Konflikte zwischen den verschiedenen Interessengruppen verschärften, weil jede auf ihre Weise versuchte, die Katastrophe sozial zu konstruieren und die Meinungshoheit über sie zu behalten.48 Eine Katastrophe verdichtet also Ereignisse und kann so auch den politischen Fokus der Akteure sowie die Diskurse beeinflussen. Es geht darum aufzuzeigen, auf welche Weise das Erdbeben soziopolitische Entwicklungen möglicherweise neu strukturierte und wie sich auf dem Boden der Katastrophe gesellschaftliche Veränderungen entfalteten. Das Beben ist also weniger aktiver Agent des Wandels als vielmehr Fokus des Wandels, der als strukturierendes, steuerndes Element Einblicke in die Mechanismen von Staat und Gesellschaft erlaubt. Obwohl die historische Katastrophenforschung schon in den 1980er Jahren als eigenständige Disziplin entstand, sind diese Aspekte von Katastrophen in Russland und der Sowjetunion trotz der Größe des Territoriums bis auf einige wenige Ausnahmen, darunter die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986, kaum untersucht worden.49 Diese bislang geringe wissenschaftliche Beachtung von Katastrophen in der Sowjetunion steht in einem engen Zusammenhang mit der Frage, welche Rolle Naturereignisse in einer Geschichte spielten, die von 46 Ebd., S. 71. 47 McEntire, David A.: Disaster Response and Recovery. Strategies and Tactics for Resilience. Second Edition, Hoboken 2015, S. 3 48 Boin, Arjen/‘t Hart, Paul/Kuipers, Sanneke: The Crisis Approach, in: Havidán R ­ odríguez/ William Donner/Joseph E. Trainor (Hg.): Handbook of Disaster Research. Second Edition, Cham 2018, S. 23–38, hier S. 33. 49 Erste Ansätze zu Katastrophen im östlichen Europa bietet: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62 (2014) 2. Siehe auch Elie, Marc: Istorija prirodnych katastrof v Rossii i v Sovetskom Sojuze v XX veke, in: Rossija – Zapad – Vostok. Političeskoe, ekonomičeskoe i kulturnoe vzaimodejstvie: istorija i sovremennost’. Meždunarodnaja naučno-praktičeskaja konferencija. Sbornik statej. 4–6 ijunja 2009 goda, Toljatti 2009, S. 356–362; Bertrand, Eva: Pouvoir, catastrophe et représentation: mise(s) en scène politique(s) des incendies de l’été 2010 en Russie occidentale, Dissertation, Paris, Institut d’études politiques 2016. Zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl siehe: Arndt, Melanie (Hg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven, Berlin 2016. Hier auch zahlreiche Angaben zu weiterführender Literatur über die Katastrophe.

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zielgerichteter Gewalt, sozialer Erosion, Repression, Hungersnöten und von durch Fahrlässigkeit und Kommandowirtschaft hervorgerufenen Technik- und Umweltkatastrophen durchzogen war. Zudem kommt hier auch das spezifische Verhältnis des sowjetischen Staatsozialismus zur Natur zum Ausdruck, wonach Natur einerseits als Ressource, andererseits als Ausdruck des politischen Machtwillens verstanden wurde. Indem sich das Regime die Natur zu eigen machte, sie gleichsam unterwarf, rückten paradoxerweise die Dimensionen anthropogener Einflüsse auf Naturereignisse und die Verflechtung von Mensch und Natur in den Hintergrund. Daraus ergab sich, dass es nach sowjetischer Lesart nur in kapitalistischen Ländern zu schwerwiegenden sozialen und politischen Konsequenzen durch Katastrophen kommen konnte, weil hier die Profitgier dominiert habe und dementsprechend keine Rücksicht auf die Verwundbarkeit der Bevölkerung genommen worden sei. Einen idealen Katastrophenschutz habe es daher nur in der sozialistischen Planwirtschaft gegeben, in der die Gesellschaft ohnehin unverwundbar sei.50 Jüngst sind wissenschaftliche Arbeiten von Osteuropahistorikern entstanden, die unterschiedliche Aspekte im Umgang mit Naturkatastrophen in der Sowjetunion beleuchten.51 Hier werden Katastrophen als Chance der lokalen Machthaber verstanden, ihre Ziele durchzusetzen, indem sie beispielsweise Kompensationszahlungen diskriminierend gegen ethnische Minderheiten einsetzten und den wissenschaftlich umstrittenen Bau von Katastrophenschutzmaßnahmen nutzten, um ihre Macht zu sichern.52 Andere Studien setzen diesem »Regieren durch Katastrophen« entgegen, dass die Unglückszonen wegen des zentralisierten Systems zu gesellschaftlichen Interaktionsstätten wurden. Demnach werden Katastrophen, wie etwa das verheerende Erdbeben in Taschkent 1966, als Gelegenheit für junge Sowjetbürger gedeutet, ihre sonst engen Handlungsspielräume im Fernen Osten auszuweiten und mit neuen Werten zu 50 Lavrov, Sergej B.: Preduslovie. In: Sergej B. Lavrov/Lev G. Nikiforov (Hg.): Stichijnye bedstvija: izučenie i metody bor’by, Moskau 1978, S. 7 (gekürzte übersetzte Fassung von White, Gilbert F. [Hg.]: Natural Hazards. Local, National, Global, New York 1974). 51 Für einen anthropologischen Ansatz siehe Šagojan, Gajane: Očerki antropologii goroda, pereživšego zemletrjasenie, in: Laboratorium 1 (2010), S. 160–181; Šagojan, Gajane: »Pervji« i »vtoroj« v obrazach Gjumri: opyt semiotičeskogo analiza gorodskogo teksta, in: Kritika i semiotika 16 (2012), S. 17–47. 52 Elie, Marc: »Au centre d’un double malheur«. Le séisme du 7 décembre 1988 en Arménie et l’expulsion des sinistrés azéris de Spitak, in: Revue d’études comparatives Est-Ouest 44 (2013) 1, S. 45–75; Elie, Marc: Governing by Hazard: Controlling Mudslides and Promoting Tourism in the Mountains above Alma-Ata (Kazakhstan), 1966–1977, in: Sandrine Revet/­Julien ­Langumier (Hg.): Governing Disasters. Beyond Risk Culture, New York 2015, S. 23–57.

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experimentieren.53 Ein dritter Ansatz wiederum verbindet diese beiden Pole. Darin wird dem kommunistischen Regime der 1930er Jahre zwar vorgeworfen, durch die rapide Industrialisierung die Verwundbarkeit der Bevölkerung im Falle von Katastrophen erhöht zu haben, ihm aber gleichzeitig angerechnet, durch die Kommandowirtschaft relativ effektive Katastrophenschutzmaßnahmen errichtet zu haben, durch welche die soziale Verwundbarkeit verringert worden sei.54 Darüber hinaus untersuchen jüngere Studien die Institutionengeschichte des sowjetischen Katastrophenschutzes. Sie geben Einblicke in die spezifisch sowjetische Risikokultur.55 So unterschiedlich diese Studien auch sein mögen, so zeigen sie doch alle auf, dass Katastrophen in der Sowjetunion eine größere Rolle für den gesellschaftlichen Neuordnungsprozess spielten, als gemeinhin von jenen angenommen wurde, die Katastrophen als einen dem »leninistisch-marxistischen System fremden Ereignistyp« gedeutet haben, weil sie von der Regierung verschwiegen oder bestenfalls schon als gelöst dargestellt worden waren.56 Im Gegenteil, sie waren durchaus Teil des politischen und gesellschaftlichen Alltags in der Sowjetunion. Die Tatsache, dass in der sowjetischen Öffentlichkeit über ihre Konsequenzen und Ursachen geschwiegen wurde, bestätigt nur ihre politische Bedeutung, die sie auch dadurch erlangten, dass sie wichtige Schlaglichter auf die Verfasstheit von Staat und Gesellschaft warfen. Gerade die neue sowjetische Öffentlichkeit zur Zeit des Erdbebens in Armenien wirft die Frage danach auf, welche Rolle die Geheimhaltung von Informationen bei der Bewältigung und Deutung von Katastrophen spielte. Angesichts dieses immer noch überschaubaren Forschungsstands zu sowjetischen Katastrophen mag es kaum überraschen, dass auch das Erdbeben in Armenien trotz seiner Brisanz bisher selten zum Gegenstand historischer Untersuchungen geworden ist.57 Gorbačev widmete diesem Ereignis in seinen Memoiren 53 Raab, Nigel: The Tashkent Earthquake of 1966: The Advantages and Disadvantages of a Natural Tragedy, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62 (2014) 2, S. 273–294. Siehe auch sein jüngst erschienenes Buch Raab, Nigel: All Shook Up. The Shifting Soviet Response to Catastrophes, 1917–1991, Montreal 2017. 54 Bruno, Andy: Tumbling Snow: Vulnerability to Avalanches in the Soviet North, in: Environmental History 18 (2013) 4, S. 683–709. 55 Geist, Edward: Political Fallout: The Failure of Emergency Management at Chernobyl’, in: Slavic Review 74 (2015) 1, S. 104–126; Elie, Marc: Late Soviet Responses to Disasters, 1989– 1991: A New Approach to Crisis Management or the Acme of Soviet Technocratic Thinking?, in: The Soviet and Post-Soviet Review 40 (2013), S. 214–238. 56 Guski, Andreas: Die Stimme der Opfer. Vom Umgang mit Katastrophen in Russland, in: Osteuropa 58 (2008) 4–5, S. 69–80. 57 Ausnahme: Elie: »Au centre d’un double malheur«.

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lediglich wenige Sätze. In der russisch- und armenischsprachigen Literatur wird das Erdbeben hauptsächlich als große Leidensgeschichte gedeutet, die Helden hervorgebracht habe.58 Insbesondere die Literatur armenischstämmiger Autoren richtet den Fokus auf den Umstand, dass Armenien humanitäre Hilfe aus dem westlichen Ausland bekam und so »zum Epizentrum des internationalen Mitleids und der uneigennützigen Hilfe« geworden sei. Armenier wurden demnach durch das Erdbeben – eine weitere Tragödie nach dem Genozid – international wieder wahrgenommen und ihnen sei endlich die Aufmerksamkeit zuteilgeworden, die ihnen gebühre.59 So argumentiert auch der Dokumentenband zum Erdbeben des armenischen Nationalarchivs in Jerewan von 2008, der Dokumente des Partei- und Staatsapparates zum Ablauf des Katastrophenmanagements und des Wiederaufbaus sowie eine große Sammlung von Beileids­bekundungen aus dem Ausland enthält, jedoch keine kritischen Dokumente oder Briefe von Betroffenen, die das Archiv aber führt.60 Im Vorwort setzt der Band Abläufe, Fakten und Zahlen in den Kontext der Trauer; eine Einordnung in die Geschichte Armeniens oder der Sowjetunion geschieht dagegen nicht. Innerhalb der westlichen Forschung fand das Erdbeben bisher in Studien über die P ­ erestrojka Erwähnung, um auf die Missstände im sowjetischen Katastrophenschutz, Gesundheitssystem und Häuserbau aufmerksam zu machen.61 Die vorliegende Arbeit wird Strukturen und Mechanismen des sowjetischen Staates, die vom Erdbeben an die Oberfläche gebracht und durch Glasnost’ verbreitet wurden, in den weiterführenden Kontext des Zusammenbruchs der Sowjetunion sowie der Neuordnungsprozesse in Armenien stellen, um deutlich zu machen, was die Katastrophe in der Konsequenz politisch und sozial für das Regime bedeutete.62 58 Gai, David I.: Unesu bol’ tvoju, Moskau 1989; Tarakanov, Nikolai D.: Razlom, Moskau 1991; Chačijan, Eduard A.: Tragedija Spitaka ne dolžna povtarit’sja, Jerewan 1998; Chačatrjan, Karen G.: Velikij drug armjanskogo naroda – N. I. Ryžkov, Jerewan 2004; Simonjan, Aram A.: Vspomnim kak eto bylo, Jerewan 2009; Avetisjan, Lusine: Erkrašarži zoheri xnkeli hišatakin [Ehrenvolle Erinnerung an die Opfer des Erdbebens], Jerewan 2013. 59 Lilojan, G. C.: Zemletrjasenie. Chronika, (1 tom), Jerewan 1989, S. 22. 60 Virabyan, Amatuni: Spitaki erkrašarž: Ałeti gotin erek ev ajsōr. Hayats’k’ 20 tari ans’: P’astat’łt’eri žołovacu/Spitakskoe zemletrjasenie. Zona bedstvija včera i segodnja. Vzgljad čerez 20 let: Sbornik dokumentov, Jerewan 2008. 61 Altrichter: Russland 1989, S. 56–59; Suny: The Revenge of the Past, S. 136; Smith, Jeremy: Red Nations. The Nationalities Experience in and after the USSR, Cambridge 2014, S. 266 f. Die bisher einzige Monografie zum Erdbeben erschien von Verluise, Pierre: Armenia in Crisis. The 1988 Earthquake, Detroit 1995. 62 Erste Arbeiten dazu Gestwa, Klaus: Sicherheit in der Sowjetunion 1988/89. Perestrojka als missglückter Tanz auf dem zivilisatorischen Vulkan, in: Matthias Stadelmann/Lilia Antipow (Hg.): Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte.

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Aufbau der Arbeit Die Arbeit besteht aus fünf Teilen, die chronologisch aufeinander aufbauen und die Zeit vor dem Erdbeben, während der Katastrophenhilfe und nach dem Erdbeben beleuchten. Das erste Kapitel zeichnet den sowjetischen Umgang mit Natur- und Technikkatastrophen von 1948, dem Moment des Erdbebens in Aschgabat, bis hin zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 nach. Im Zentrum dieses Kapitels steht die Frage, wie der sowjetische Staat und seine Gesellschaft in den unterschiedlichen Epochen mit den Katastrophen umgingen und auf sie reagierten. Das zweite Kapitel zeigt auf, wie es zur Entstehung der armenischen Nationalbewegung kommen konnte, wer ihre Akteure waren und welche Ziele diese verfolgten. Es zeichnet nach, inwiefern sich bereits während dieser Zeit die Dynamik unter den Akteuren in Armenien und zwischen Zentrum und Peripherie entfaltete, die nach dem Erdbeben die Entwicklungen bis hin zum Austritt aus der Sowjetunion prägten. Das sich daran anschließende dritte Kapitel stellt die Katastrophe selbst in den Mittelpunkt. Es behandelt unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ereignisse die Frage, wie die politischen Akteure in Armenien und Moskau im Moment der Katastrophe reagierten und welche Interessen sie dabei verfolgten. Das Kapitel zeichnet die staatliche Reaktion auf das Erdbeben nach und betont den Wandel im Vergleich zum Umgang mit vorangegangenen Katastrophen. Erstmals wurden das Erdbeben und seine Folgen in der sowjetischen Öffentlichkeit thematisiert, Missstände kritisiert und westliche Hilfeleistungen zugelassen. Es wird geklärt, warum das Ansehen Gorbačevs in Armenien dennoch sank und inwiefern es das Katastrophen­management und die nun offenbarten Schieflagen waren, die den Kreml weiter delegitimierten. Das vierte Kapitel zeigt auf, wie und unter welchen Bedingungen der Wiederaufbau durchgeführt wurde, warum er trotz massiver staatlicher Bemühungen wenig erfolgreich war und welche Mittel gefunden wurden, um den Schwierigkeiten zu begegnen. Insbesondere untersucht es die Frage, inwiefern der Wiederaufbau zum Zerwürfnis mit Moskau beigetragen hat. Um die weitere politische Entfremdung nachzuzeichnen, wird das Kapitel sowohl die Konflikte zwischen den Planern aus Moskau und Armenien beleuchten als auch der Frage nachgehen, wie die Menschen auf den Baustellen, den ehemaligen »Schmieden der Gesellschaft«, ihre Arbeit und ihr Leben Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburstag, Stuttgart 2011, S. 449–467, hier S. 456– 458; Libaridian, Gerard J.: Armenian Earthquakes and Soviet Tremors, in: Society 26 (1989) 3, S. 59–63.

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organisierten. Das Abschlusskapitel zeigt die politischen und gesellschaftlichen Neuordnungsprozesse auf, die sich aus der Erdbebenkatastrophe für Armenien ergaben. Im Mittelpunkt stehen dabei die Diaspora, die erst durch das Erdbeben Zugang zum politischen Geschehen in Armenien erlangte und den Weg zur Unabhängigkeit mitbestimmte, sowie der erneute Wandel der russisch-­ armenischen Beziehungen, die sich nach einer kurzen Zeit der Entfremdung seit 1991 wieder intensivierten. Die Ausführungen enden mit dem Ende der Amtszeit des ersten Präsidenten Lewon Ter-Petrosyan im Jahr 1998; die nachfolgende Regierung hatte kaum mehr Verbindungen zur Karabachbewegung. Mit Robert Kocharyan als neuem Präsidenten begann 1998 eine neue Ära, mit einer grundsätzlich anderen Politik gegenüber der Diaspora und Russland. * Die Schreibweise armenischer Namen in diesem Buch hängt von der Originalquelle ab, aus der ich transliteriert habe. Wenn die Personen außerhalb Armeniens unter diesem Namen bekannt sind und beispielsweise unter diesem Namen einheitlich veröffentlicht haben, habe ich diese Schreibweise so übernommen (z. B. Gerard Libaridian, Richard Hovannisian – US-amerikanischer Historiker –, aber Lewon Ter-Petrosyan, Suren Harut’yunyan – armenische Politiker). Die Namen armenischer Wissenschaftler werden im Text wissenschaftlich einheitlich transliteriert, auch wenn sie in englisch- und russischsprachigen Veröffentlichungen teilweise anders geschrieben werden (z. B. nach ISO 9985: Lewon Abrahamyan, aber oft: Levon Abrahamian). In den Literaturangaben folgt die Schreibweise der Namen armenischer Autoren russischsprachiger Publikationen dann aber den Regeln der wissenschaftlichen Transliteration vom Kyrillischen ins Lateinische (z. B. arm.: Gevorg Połosyan, aber russ.: Gevork Pogosjan).

2 Katastrophen in der Sowjetunion, 1948–1986

»Wenn du neben einem Tiger lebst, sei auch darauf vorbereitet, ihn anzutreffen.« Japanisches Sprichwort1

Dieses japanische Sprichwort zitierend, kritisierte ein armenischer Seismologe im Juli 1989 das sowjetische Katastrophenmanagement und meinte damit die Tatsache, dass die Sowjetunion, trotz der zahlreichen Vorkommen von Naturkatastrophen, auf keine von ihnen vorbereitet gewesen sei. Auch für andere Regionen der Welt wurde festgestellt, dass so dramatisch und zerstörerisch Katastrophen auch sein mögen, der Katastrophenschutz in der Regel erst zum öffentlichen Problem wird, nachdem sich die Katastrophen ereignet haben.2 Der sowjetische Fall ist dennoch ein besonderer. Denn für den Umgang mit Naturkatastrophen in der Sowjetunion wurde bisher konstatiert, dass es nur zwei Arten von Katastrophen gegeben habe: die verhinderte und die verschwiegene.3 Demnach wurden Katastrophen selbst dann nicht zum öffentlichen Problem, wenn sie sich ereigneten. »Naturkatastrophen, die der Staat grundsätzlich nicht verantworten muss, da sie auf höhere Gewalt zurückzuführen sind«, wurden, so konstatierte es der Slavist Andreas Guski, »ausgeblendet oder heruntergespielt«.4 Aber allein ein Blick auf die Häufigkeit und das Ausmaß von Natur­ katastrophen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion reicht aus, um zu der Annahme zu kommen, dass sie nicht ausgeblendet werden konnten und der Staat demnach einen Umgang mit ihnen finden musste. Inwiefern nutzte die sowjetische Regierung dann möglicherweise Katastrophen für ihre politische Selbstlegitimierung oder dafür, Vorstellungen über den Sozialismus zu bestätigen und zu vervollkommnen? 1 Putnyn’, Svetlana: Na razlome. Interv’ju v gorach Spitaka, in: Promyšlennost’, stroitel’stvo i architektura Armenii 7 (1989), S. 11–16, hier S. 15. 2 Birkland, Thomas A.: Natural Disasters as Focusing Events: Policy Communities and Political Response, in: International Journal of Mass Emergencies and Disasters 14 (1996) 2, S. 221–243, hier S. 221; Stallings, Robert A.: Promoting Risk. Constructing the Earthquake Threat, New York 1995, insbesondere S. 3–33. 3 Guski: Die Stimme der Opfer. 4 Ebd., S. 74.

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Greg Bankoff prägte 2003 den Begriff »Cultures of Disaster« im Hinblick darauf, wie Volksgruppen Naturkatastrophen in ihre Kultur einbetten und sie zum Teil ihrer kulturellen Identität machen.5 Demnach sind Kulturen auch ein Produkt der Anpassung an Naturgefahren. In Anbetracht der spezifischen sowjetischen Situation soll das vorliegende Kapitel daran anknüpfend der Frage nachgehen, wie mit Natur- und Technikkatastrophen in diesem Land umgegangen wurde, in dem die Menschen aufgrund zahlreicher anderer Katastrophen wie Kriege, Hungersnöte, Repressionen heftige soziale Umwälzungen erlebten und in dem der größte Feind nicht die Natur, sondern der Staat gewesen ist. Dafür wird der staatliche Umgang mit Katastrophen in der Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis 1986 in den Blick genommen, um einerseits zu zeigen, dass Naturgefahren sehr wohl ein fester Bestandteil des politischen und gesellschaftlichen Alltags in der Sowjetunion waren, und um andererseits die historisch gewachsene Verwundbarkeit der sowjetischen Bevölkerung deutlich zu kennzeichnen. Der Umgang mit Naturkatastrophen kann so als semantisches »Leitfossil« angesehen werden, anhand dessen sich gesellschaftlicher Wandel über einen längeren Zeitraum betrachten lässt.6 Dies ist auch deshalb der Fall, weil die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wurde, wie sie von Politikern und den Medien politisch eingebettet wurden, darüber bestimmte, welche Probleme Beachtung erfuhren und welche nicht. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die administrativen Maßnahmen der sowjetischen Regierung zum Schutz vor Katastrophen, der wissenschaftliche Umgang mit ihnen sowie die politische Kommunikation über Katastrophen für den Zeitraum von 1948 bis 1986. Ein Blick auf einzelne Katastrophen, über die Jahrzehnte der sowjetischen Ära verteilt, kann dabei aufzeigen, dass das sowjetische System nicht nur selbst Verwundbarkeiten schuf, indem es durch rapide Industrialisierung und Urbanisierung für den Menschen gefährliche Lebensräume produzierte, sondern dass es zudem durch den spezifischen Umgang mit Katastrophen große Risiken für die Bevölkerung hervorrief und sie so zusätzlich verwundbar machte. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr Naturkatastrophen, ähnlich wie der Umgang mit der Natur, in der sowjetischen Ordnung als Mittel der Machtdurchsetzung verstanden wurden. Dabei waren es sowohl die von der Regierung errichteten Schutzmaßnahmen, mit denen Katastrophen beherrscht werden sollten, als 5 Bankoff, Greg: Cultures of Disaster. Society and natural hazard in the Philippines, Abingdon 2003. 6 Begriff nach Imhof, Kurt: Katastrophenkommunikation in der Moderne, in: Christian Pfister/ Stephanie Summermatter (Hg.): Katastrophen und ihre Bewältigung. Perspektiven und Positionen, Bern 2004, S. 145–164.

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auch der Umgang mit der postkatastrophalen Situation, die den Machthabenden in der Sowjetunion die Gelegenheit gaben, ihre Herrschaft durchzusetzen.7 Auf dem großen Territorium Sowjetunion gab es alles an Naturkatastrophen, was der Erdball hervorbringen kann: Dürren, Überschwemmungen, Erdbeben, Schneelawinen, Muren, Vulkanausbrüche und Permafrost, um nur die wichtigsten zu nennen. Besonders betroffen waren dabei die Randgebiete der Sowjetunion. So wurde der dünn besiedelte Ferne Osten mit Kamtschatka und den Kurilen insbesondere von Erdbeben und Vulkanausbrüchen heimgesucht, aber auch von Schlammlawinen, Tsunamis und Überschwemmungen.8 Sibirien war je nach Himmelsrichtung vor allem von Permafrost, Erdbeben und Tornados betroffen. In dieser Region kamen erschwerend die großen Entfernungen zwischen den Ortschaften hinzu, so dass nur die Siedlungen entlang der Transsibirischen Eisenbahn im Katastrophenfall leicht zu erreichen waren, vorausgesetzt, die Bahngleise waren noch funktionstüchtig.9 Zentralasien und der Kaukasus, beide in der Peripherie der Sowjetunion, wurden vor allem von Erdbeben, Schlammlawinen, Erdrutschen, starkem Schneefall und Überschwemmungen heimgesucht. Die rapide Urbanisierung aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums in all diesen Regionen erhöhte die Verwundbarkeit der Menschen und damit auch das Risiko, Naturkatastrophen zum Opfer zu fallen.10 Um sich dieser langen Liste von Naturgefahren anzunehmen, existierte in der Sowjetunion eine Reihe von Institutionen, die damit beschäftigt waren, Naturkatastrophen zu untersuchen, zu verhindern, vorherzusagen oder zumindest ihre Folgen einzudämmen. Insbesondere das Staatskomitee für Hydrometeorologie und Kontrolle der Umwelt (Goskomgidromet) war involviert in die Vorhersage von Naturkatastrophen. Durch sein großes Netzwerk an Beobachtungsstationen, Forschungs- und Lehrinstituten sowie Fabriken zur Herstellung von Instrumenten, die Vorhersagen und Schutzmaßnahmen dienten, war es in der ganzen Sowjetunion zuständig und wirksam.11 In den Forschungsinstituten von Goskomgidromet forschten Wissenschaftler im Bereich der Klima­tologie, der Hydrologie und zum Einfluss des Menschen auf Wetterprozesse. Ihre Vorher  7 Zum historischen Zusammenhang von Herrschaft und Natur siehe u. a. Radkau, Joachim: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000.  8 Gerasimov, Innokentij P./Zvonkova, Tata’jana W.: Natural Hazards in the Territory of the USSR: Study, Control and Warning, in: Gilbert F. White (Hg.): Natural Hazards. Local, National, Global, New York 1974, S. 243–251, hier S. 245.  9 Strand, Holly: Perestroika’s Effects on Natural Disaster Response in the Soviet Union, 1985– 90, Natural Hazards Working Paper No. 72, Boulder 1991, S. 6. 10 Ebd., S. 8. 11 Ebd., S. 71.

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sagen dienten zum einen dem Schutz der Bevölkerung, zum anderen aber auch dem Schutz der Ernteeinnahmen, wichtiger Gebäude und Rohstoffquellen wie Minen oder Bergwerke. Für Letztere war außerdem das Ministerium für Geologie (Mingeo) zuständig, welches ein ähnlich großes Netzwerk vorzuweisen hatte und sich unter anderem mit Permafrost, Bodenerosion und Seismologie beschäftigte. Beide Institutionen waren vor allem dafür zuständig, Informationen über für Mensch und Wirtschaft gefährliche meteorologische und geologische Phänomene an die Regierung zu geben, nicht aber direkt an die betroffene Bevölkerung.12 Damit blieb die endgültige Entscheidung darüber, wie das Risiko zu behandeln war, stets bei der Regierung. Nicht zuletzt war das Staatliche Komitee für Bau und Architektur (Gosstroj) in die Vorsorge für Naturkatastrophen involviert, indem es die Baunormen zum Schutz vor Naturkatastrophen plante und durchgesetzt hat. Alle Schutzmaßnahmen mussten vor der Umsetzung von Gosstroj, welches in Moskau angesiedelt war, bewilligt werden, was oftmals zur Folge hatte, dass lokale Gegebenheiten wie mögliche Naturgefahren aus Kostengründen nicht ausreichend berücksichtigt wurden.13 Diese vereinfachende Darstellung soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch viele andere Institutionen, jeweils abhängig von der Region, an der Reaktion auf oder am Umgang mit Katastrophen beteiligt waren. Innerhalb der verschiedenen Ministerien überschnitten sich oftmals die Zuständigkeiten. Zudem gab es für bestimmte Katastrophenarten spezielle wissenschaftliche Kommissionen wie die 1947 ins Leben gerufene Murenkommission (selevaja komissija).14 Auf der Republikebene nutzten Parteisekretäre die Gelegenheit, sich mit eigenen Katastrophenschutzorganisationen zu legitimieren, wie z. B. in Kasachstan, wo der damalige Erste Parteisekretär der Republik, Dinmuchamed Kunaev, 1973 das kasachische Generaldirektorat für den Bau und die Instandhaltung von Lawinenschutzmaßnahmen (Kazglavselezaščita) gründete.15 Diese Organisation, bestehend aus unterschiedlichen Institutionen, war eher eine technisch-operationelle, die sich gegen die wissenschaftliche Expertise stellte und in der vor allem »Seleviks«, also Lawinentechniker arbeiteten, im Gegensatz zum »Seleved«, dem Lawinenwissenschaftler.16 Ein ähnlicher Zusammenschluss von Institutio12 Ebd., S. 71. Siehe die Ausführungen zur Schlammlawinengefahr in Kasachstan 1973 und zur ausbleibenden Evakuierung trotz Warnung der Meteorologen bei Elie: Governing by Hazard, S. 30. 13 Strand: Perestroika’s Effects, S. 72. 14 Elie: Governing by Hazard, S. 38. 15 Mehr dazu siehe Elie: Governing by Hazard. 16 Für diesen Hinweis danke ich Marc Elie.

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nen zum Schutz der Meeresufer vor Erosion wurde 1981 in der Georgischen SSR gegründet (Gruzmorberegozaščita).17 Diese Vielfalt an Institutionen und Zuständigkeiten auf den verschiedenen Ebenen zeigt in Ansätzen die Komplexität des sowjetischen Katastrophenschutzes und die unterschiedlichen, sich oftmals auch widersprechenden Interessen. Es herrschte wie in allen Bereichen des sowjetischen Verwaltungsapparates eine Unübersichtlichkeit bezüglich Einheiten, Hierarchien und Verantwortlichkeiten, die die Arbeit eher erschwerten und behinderten als organisierten.18 Zwar war dieser Ressortgeist schon typisch sowjetisch, jedoch war Katastrophenmanagement nirgends vereinheitlicht; selbst die USA gründeten ihre in sich geschlossene Katastrophenschutzorganisation, die Federal Emergency Management Agency (FEMA), erst 1979.19 Ein besonderes Problem für Bevölkerung, Wirtschaft und Staat stellten die zahlreichen Erdbeben dar, deren Risikobereich sich in Form eines seismischen Gürtels um die südliche Peripherie des sowjetischen Territoriums zog. Schon früh gab es Initiativen aus Zentralasien und dem Kaukasus, seismologisch sicher zu bauen, allerdings blieben sie ohne umfangreiche staatliche Unterstützung. Eine erste groß angelegte Initiative, sich des Problems ernsthaft anzunehmen, initiierte Stalin nach dem zerstörerischen Erdbeben in Aschgabat 1948, das mit einer Stärke von 10 auf der Richterskala über 75.000 Menschen das Leben gekostet hatte.20 Von der Stadt lagen 80 Prozent in Trümmern und mit ihr zahlreiche umliegende Dörfer, weil die schlecht gebauten Häuser dem Beben nicht standgehalten hatten und in prekären Lagen gebaut worden waren. Wesentliche Gründe dafür waren die rapide Industrialisierung in Turkmenistan seit 1920 durch die Chemiewerke am Kara-Bogas-Gol und die massive Immigration aus Russland und der Ukraine, die in Aschgabat zu einem enormen Bevölkerungs-

17 Mjagkov, Sergej M.: Problemy geografii razrušitelnych prirodnych javlenij v svete zadači uskorenija naučno-techničtskogo progressa, in: Vestnik Moskovskogo Universiteta, seria 5, Geografia 1 (1986), S. 9–15, hier S. 15. 18 Zum Diskurs über den sowjetischen Ressortgeist und Bürokratie siehe: Gill, Graeme: The Communist Party and the Weakness of Bureaucratic Norms, in: Don K. Rowney/Eugene Husky (Hg.): Russian Bureaucracy and the State. Officialdom from Alexander III to Vladimir Putin, Basingstoke 2009, S. 118–134. 19 Siehe hierzu Roberts, Patrick S.: Private Choices, Public Harms. The Evolution of National Disaster Organizations in the United States, in: Andrew Lakoff (Hg.): Disaster and the Politics of Intervention, New York 2010, S. 42–69. 20 Anzahl der Erdbebenopfer von Nikonov, Andrej A.: Ašchabadskoe zemletryasenie: polveka spustja, in: Vestnik rossijskoj akademii nauk 68 (1998) 9, S. 789–797, hier S. 791.

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zuwachs führte, mit dem der Wohnungsbau nicht mithalten konnte.21 Deshalb entstand schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein neuer Generalplan zur Modernisierung der Stadt, der vorsah, die Lehmhäuser abzutragen und durch Steinhäuser zu ersetzen.22 Aufgrund des Krieges wurde der Plan jedoch nie umgesetzt. Das gewaltige Ausmaß der Zerstörung durch das Erdbeben im Oktober 1948 setzte die Gefahren von Naturkatastrophen und deren augenscheinliche Unberechenbarkeit auf die politische und wissenschaftliche Agenda Stalins. Mit der durch das Erdbeben in Aschgabat gewonnenen Erkenntnis wies der Kreml Geoingenieure und Seismologen dazu an, stärker als bisher die Erforschung seismisch sicherer Baunormen voranzutreiben. Das neue Aschgabat wurde trotz des jahrelang dauernden Wiederaufbaus zu einem sowjetischen Experimentierfeld für neue urbane und architektonische Prinzipien, insbesondere für den seismologischen Bau.23 Seismologisch sicher zu bauen war eine Möglichkeit, mit der Erdbebengefahr umzugehen, aber das sowjetische Regime wollte die zerstörerische Macht der natürlichen Beben nicht nur dem Zufall überlassen. Für die Bolschewiki waren Naturrisiken feindliche Elemente, die der Industrialisierung im Weg standen.24 Der Erfolg des sozialistischen Projekts hing für sie nicht nur davon ab, die Gesellschaft zu kontrollieren, sondern auch die Natur.25 Sie bauten Dämme, um vor Überschwemmungen zu schützen, leiteten Flüsse um, damit Wasser in von Dürre geplagte Regionen gelangen konnte, und begradigten sie, um Einfluss auf die Fließgeschwindigkeit zu nehmen. Vom Sieg über den Faschismus erfüllt und motiviert, zu neuen Fronten aufzubrechen, ordnete Stalin per Erlass die Erforschung einer Formel an, mit der Erdbeben in Zukunft vorhergesagt werden sollten.26 Schon in den 1920er und 1930er Jahren hatten sich Seismologen in der Sowjetunion, in Japan und in den USA damit beschäftigt, jedoch bisher

21 Bevölkerungswachstum von 51.000 im Jahr 1926 auf 122.000 im Jahr 1947, Bevölkerungszahlen bei Kadyrov, Šöhrat: Ašchabadskaja katastrofa. Istoriko-demografičeskij očerk krupnejšego zemletrjasenija XX v., Aschgabat 1990, S. 31. 22 Zum Generalplan von Aschgabat siehe Fénot, Anne/Gintrac, Cécile: Achgabat, une ­capitale ostentatoire. Urbanisme et autocratie au Turkménistan, Paris 2005, S. 43; O. A. Chadžieva: Architektura Ašgabata, Aschgabat 1995; Kacnelson, Julij I./Azizov, Aliman K./Vysocki, Evgenij M. (Hg.): Architektura sovetskoj Turkmenii, Moskau 1987, S. 74; Passewjew, Ikar: Aschchabad. Reiseführer, Moskau 1982, S. 24. 23 Fénot/Gintrac: Achgabat, S. 48. 24 Elie: Istorija prirodnych katastrof, S. 360. 25 Ebd. 26 Nikonov: Ašchabadskoe zemletryasenie, S. 795.

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ohne große Erfolge.27 Nun sollten sich sowjetische Wissenschaftler erneut mit dem Problem befassen, was sich in jene Reihe sowjetischer Versuche einfügte, die Natur zu kontrollieren und zu dominieren. Denn etwa zur selben Zeit, als Stalin die Erdbebenformel in Auftrag gab, verkündete er am 20. Oktober 1948 im Kriegsjargon unter dem Motto »Auch die Dürre werden wir besiegen« (I zasuchu pobedim) seinen »Großen Plan zur Transformation der Natur«. Dieser sah vor, die Steppe im europäischen Teil der Sowjetunion künstlich mit 5,7 Millionen Hektar Wald zu bepflanzen, um den Ernteertrag durch das damit veränderte Klima zu erhöhen und die Dürre zu bekämpfen.28 Mit einer Formel zur Vorhersage von Erdbeben hatten zwei Wissenschaftler vom Moskauer Institut für Erdphysik, A. N. Semonov und I. L. Nersesov, erst Ende der 1960er Jahre einen Durchbruch, als die Forschung zur Erdbebenvorhersage auch in Japan, China und den USA auf Hochtouren lief.29 Im Jahre 1971 präsentierten sie schließlich ihre Ergebnisse auf dem Kongress der Internationalen Union für Geodäsie und Geophysik in Moskau, wodurch ihre Forschungsergebnisse auch international Anerkennung fanden. Nach ihren Berechnungen konnte man anhand der Geschwindigkeit der Erdkrustenbewegung ablesen, wann sich ein Erdbeben ereignen würde. Diese sogenannte Vp-Methode sorgte in den 1970er Jahren selbst in den USA für Aufregung und wurde viel rezipiert.30 Dort hatten Wissenschaftler erst kurz zuvor die Theorie der Plattentektonik erfolgreich bestätigt – die größte Revolution in der Geschichte der Seismologie überhaupt.31 US-amerikanische Geografen glaubten mit der neuen sowje27 Nikiforov, Pavel M.: Sejsmologija i gravitacija v Akademii Nauk, in: Priroda (1925) 7–9, S. 79–104, hier S. 93 f. 28 Zu den Gründen des Scheiterns siehe Brain, Stephen: The Great Stalin Plan for the Transformation of Nature, in: Environmental History 15 (2010) 4, S. 670–700. 29 Zur Forschung der Erdbebenvorhersage in den 1970er Jahren siehe Fan, Fa-ti: »Collective Monitoring, Collective Defense«: Science, Earthquakes, and Politics in Communist China, in: Science in Context 25 (2012) 1, S. 127–154, hier insb. S. 133–135. Dort auch weiterführende Literatur über die Erdbebenvorhersageforschung in Japan. 30 Siehe Aggarwal, Yash P./Sykes, Lynn R./Armbruster, John/Sbar, Marc L.: Premonitory Changes in Seismic Velocities and Prediction of Earthquakes, in: Nature 241 (1973), S. 101– 104; Aggarwal, Yash P./Sykes, Lynn R./Simpson, David W./Richards, Paul G.: Spatial and temporal variations in tS/tP and in P wave Residuals at Blue Mountain Lake, New York: Application to earthquake prediction, in: Journal of Geophysical Research 80 (1975) 5, S. 718–732; Scholz, Christopher H./Sykes, Lynn R./Aggarwal, Yash P.: Earthquake Prediction: A Physical Basis, in: Science 181 (1973) 4102, S. 803–810. Für die Literaturhinweise danke ich Peter Molnar. 31 Diese Theorie wurde u. a. von dem berühmten sowjetischen Geologen Vladimir Belussov bis in die 1980er Jahre offiziell abgelehnt, siehe Wood, Robert: Geology versus Dogma: The Russian Rift, in: New Scientist, 12. Juni 1980, S. 234–237, hier S. 235.

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tischen Formel nach der Vp-Methode nun auch Erdbeben vorhersagen zu können und sahen sich kurz vor einem weiteren revolutionären wissenschaftlichen Durchbruch. Seismologen, unter ihnen Peter Molnar, damals Wissenschaftler am Scripps-Institut für Ozeanografie, und Frank Press, ab 1976 wissenschaftlicher Berater des US-Präsidenten Jimmy Carter, unternahmen Expeditionen nach Garm in Tadschikistan, um sich von der Richtigkeit der Formel zu überzeugen und sich mit sowjetischen Seismologen auszutauschen. Die Semonov’sche Methode stellte sich jedoch schon sehr bald als nicht valide heraus, weil sie nur auf bestimmte Arten von Erdbeben anwendbar war. Während sich US-amerikanische Seismologen ab Mitte der 1970er Jahre vermehrt anderen Forschungsthemen zuwandten, hielten sowjetische Wissenschaftler offiziell an der Vorstellung fest, Erdbeben in naher Zukunft vorhersagen zu können, auch um sich im Wettbewerb des Kalten Krieges und im Kampf mit China hervorzutun, wo die Forschung zur Erdbebenvorhersage gigantische Dimensionen angenommen hatte.32 Jedoch galt das Interesse der sowjetischen Wissenschaftler, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum der Vorhersage von Erdbeben. Die sowjetische Seismologin Tatjana Rautjan, jahrzehntelang in Garm tätig, glaubte wohl nie an die Möglichkeit, Erdbeben vorherzusagen, und gab zu, dass die meisten Seismologen unter dem Deckmantel der Erdbebenprognose lediglich Forschungsgelder akquirierten.33 Lev Vinnik, Seismologe am Institut für Erdphysik in Moskau, erklärte in einem Interview, dass dieser Bereich der Seismologie nach der beobachtenden Seismologie, die vor allem für die unterirdischen Atomwaffenexplosionen während des Kalten Krieges von großer Wichtigkeit war, die meiste Förderung vom Staat erhielte.34 Es handelte sich also um ein Prestigeprojekt, das für den sowjetischen Fortschritt und die Beherrschung der Natur stand. Diese Prioritätensetzung sorgte in Bezug auf die Katastrophenvorsorge jedoch für eine politische Dynamik, nach der es entweder eine Investition in die Prognose von Erdbeben oder eine Investition in erdbebensicheres Bauen geben sollte.35 Die Entscheidung für eine Investition in die Prognose zeigte – von wirtschaftlichen Gründen abgesehen – den unerschütterlichen Glauben an die Fähigkeiten von Wissenschaft und Technik. Denn wer die Natur vorhersagen und kontrollieren kann, muss sich später nicht um die Konsequenzen sorgen. Es war ein Ausdruck des Machtwillens, schon allein deshalb, weil der Befehl für die Erarbeitung der Formel von Stalin persönlich kam, 32 33 34 35

Fan: »Collective Monitoring, Collective Defense«, S. 135–140. Interview mit Tatjana Rautjan (*1930), per E-Mail, 07.11.2016. Interview mit Lev Vinnik (*1935), Moskau, 29.09.2015. Interview mit Tatjana Rautjan (*1930), per E-Mail, 07.11.2016.

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aber auch weil die Regierung so unerschütterlich an dem Ziel festhielt, Erdbeben doch vorhersagen und somit Macht über die Natur ausüben zu können. Während in der sowjetischen Forschung der Fokus darauf lag, die Naturgefahren kontrollieren und vorhersagen zu können, vernachlässigten sowjetische Wissenschaftler und Politiker die Konsequenzen, die sich aus den Katastrophen für Mensch und Umwelt ergaben. So fehlte es in der Sowjetunion fast gänzlich an Forschungen zu den sozialen und politischen Auswirkungen von Naturkatastrophen, wohingegen Sozialwissenschaftler aus den USA bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatten, darüber zu forschen. Nachdem US-amerikanische Soziologen ursprünglich die Wirkung von biologischen und chemischen Waffen auf die Verfassung der Zivilbevölkerung und die soziale Ordnung hatten untersuchen sollen, beauftragte das US-amerikanische Verteidigungsministerium im Jahr 1949 Wissenschaftler damit, die Reaktionen der Bürger auf Technik- und Naturkatastrophen zu untersuchen, um Informationen darüber zu sammeln, wie Menschen in Krisenmomenten reagieren.36 Um diese Forschung voranzutreiben, unterstützte die Regierung sie auch finanziell und so wurde in den USA eine neue Disziplin, die Desasterforschung, geschaffen, die sich bald auch unabhängig von der militärischen Ausrichtung entwickelte. In der Sowjetunion fehlte die Desasterforschung lange Zeit, weil die Sozialwissenschaften bis in die Perestrojka hinein aus ideologischen Gründen einen schweren Stand hatten, aber auch weil es kein politisches Interesse an der Erforschung soziopolitischer Konsequenzen von Naturkatastrophen gab.37 Dennoch entstand 1978 eine erste sowjetische wissenschaftliche Veröffentlichung über den Umgang mit Katastrophen. Zwar handelte es sich dabei nur um eine Übersetzung der englischsprachigen Ausgabe von »Natural Hazards. Local, national, global« des US-amerikanischen Geografen Gilbert F. White, Begründer der geografischen Risikoforschung. Doch findet sich in der russischen Ausgabe immerhin ein längeres Vorwort von Sergej B. Lavrov, dem Leiter des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeografie an der Staatlichen Universität Leningrad, das den wissenschaftlichen Umgang mit Naturkatastrophen in der Sowjetunion verdeutlichte. In seinem Vorwort behauptete der Geograf nach marxistisch-leninistischer Weltsicht, dass sich die schwerwiegenden Konsequenzen nach Naturkatastrophen nur in kapitalistischen Ländern ereignen könnten, da diese nach 36 Quarantelli, Enrico L.: Disaster Studies: An Analysis of the Social Historical Factors ­Affecting the Development of Research in the Area, in: International Journal of Mass Emergencies and Disasters 5 (1987) 3, S. 285–310, hier S. 288 ff.; Stallings: Promoting Risk, S. 180. 37 Zum Umgang mit Soziologie in der Sowjetunion siehe Weinberg, Elizabeth A.: Sociology in the Soviet Union and Beyond. Social Inquiry and Social Change, Aldershot 2004.

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Profit gieren, Häuser deshalb an falsche Stellen bauen und falsche Prioritäten in Bezug auf den Bevölkerungsschutz setzen würden. Daraus schlussfolgerte er, dass ein ideales Konzept für den Schutz vor Katastrophen nur in einer sozialistischen Planwirtschaft entwickelt werden könne, weil nur dort ausreichend wissenschaftliche Messwerte sowie die Fähigkeit, produktive Arbeitskräfte zu organisieren, vorhanden seien.38 Die Möglichkeit, Folgen von Naturkatastrophen zu verhindern, hänge vor allem vom »Charakter des gesellschaftlichen Aufbaus ab«.39 Im Vordergrund des sowjetischen Umgangs mit Naturkata­strophen stand demnach nicht die Verwundbarkeit des einzelnen sowjetischen Individuums, sondern die der Gesellschaft.40 Wenn die Gesellschaft unverwundbar sei – und als das galt sie im Sozialismus –, dann könne sie im Kampf gegen Naturkatastrophen nur gewinnen. Mit dieser Ansicht bestimmte die sowjetische Propaganda die Höhe des Risikos von Naturgefahren und erstickte Debatten über mehr Sicherheit bereits im Keim. Im Rahmen der Perestrojka erschien 1986 ein Artikel von Sergej M. Mjagkov, einem sowjetischen Geografen von der Moskauer Universität, in dem er den lückenhaften wissenschaftlichen Stand zur sowjetischen Katastrophenforschung sowie die fehlende Zusammenarbeit zwischen Praxis und Theorie im Katastrophenschutz bemängelte.41 Erst seit 1988, nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und mit der Rehabilitierung der sowjetischen Soziologie im Mai 1988, änderte sich die sowjetische Deutung von Katastrophen. Kritische wissenschaftliche Studien von sowjetischen Soziologen über die sozialen Konsequenzen von Katastrophen durften nun erscheinen.42 Im Jahr 1988 veröffentlichten dann der Geophysiker und Klimatologe Evgenij P. Borisenkov und der Historiker Vasilij M. Paseckij ein Buch über die Geschichte von Naturkatastrophen im europäischen Teil Russlands. Die sozialen Folgen von Katastrophen für die betroffenen Gemeinden waren ebenfalls Teil ihrer Untersuchung. Jedoch schließt ihre Dokumentation, die 1000 Jahre

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Lavrov: Preduslovie, S. 7. Ebd., S. 11. Strand: Perestroika’s Effects, S. 15. Mjagkov: Problemy geografii razrušitelnych prirodnych javlenij. Porfir’ev, Boris N.: Črezvyčajnye situacii kak sledsnvie NTR: Metododičeskij aspekt, in: Sbornik trudov VNIISI 5 (1988), S. 48–52; Prigožin: Sociodinamika katastrof Prigožin, ­Arkadij I.: Sociodinamika katastrof, in: Sociologičeskie issledovanija 3 (1987), S. 35–45; Nesvetajlov, Gennadij A.: Černobyl’ s točki zrenija sociologii katastrof, in: Vestnik RAN, 7 (1992), S. 54–64; Pogosjan, Gevork: Social’nye posledstvija prirodnych katastrof, in: Sociologičeskij žurnal, 4 (1995), S. 31–35.

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umfasst, mit Beginn des 20. Jahrhunderts ab.43 Eine Katastrophenforschung im westlichen Sinne stellt in Russland bis heute ein Desiderat dar. Genauso wenig, wie die sowjetische Regierung es zuließ, die sozialpolitischen Auswirkungen von Naturkatastrophen wissenschaftlich zu untersuchen, vermochte sie es, einen funktionierenden, auf Natur- und Technikkatastrophen ausgerichteten Bevölkerungsschutz aufzubauen. Zwar gab es seit dem Erdbeben in Aschgabat 1948 bis in die 1980er Jahre hinein Versuche, einen Katastrophenschutz zu etablieren, jedoch verliefen sich diese meist entweder im Labyrinth der sowjetischen Bürokratie oder sie fielen – wie so vieles – der Priorität des Kalten Krieges zum Opfer. So erkannte die sowjetische Regierung 1948 an, dass der damals aktuelle Zivilschutz, die MPVO (mestnaja protivovozdušnaja oborona – örtliche Flugabwehr), auch einen Nutzen in Friedenszeiten haben müsste und sich nicht nur auf kriegerische Auseinandersetzungen vorbereiten sollte.44 Gesetzliche Regelungen oder eine tatsächliche Reform erfolgten jedoch nicht, da die sowjetische Regierung zu sehr mit Vorbereitungen auf nukleare Angriffe und mögliche militärische Bedrohungen beschäftigt war. Die Bewachung von strategisch wichtigen Gebäuden und Transportwegen sowie der Schutz vor chemischen und nuklearen Angriffen hatten eine höhere Priorität, weshalb ab 1956 nicht Handlungsanweisungen im Falle von Naturkatastrophen Gegenstand von Schulfächern wurden, sondern Methoden zum Schutz vor einem möglichen Atomkrieg.45 Die Erdbebenkatastrophe in Taschkent im April 1966, bei der neun Menschen ums Leben kamen, führte ähnlich wie jene in Aschgabat 1948 zwar zu der Schlussfolgerung, dass der sowjetische Zivilschutz, der sich nunmehr auch tatsächlich Zivilschutz (graždansksaja oborona) nannte, kaum auf die Folgen von Naturgefahren vorbereitet war, aber erneut folgten diesbezüglich keine gesetzlichen Veränderungen. Immerhin bekam diese Katastrophe eine enorme mediale und politische Aufmerksamkeit, weil Brežnev, wie auch schon Chruščev vor ihm, das Macht legitimierende Potenzial von Naturkata­strophen im Wettbewerb mit den USA erkannt hatte.46 Ab Mitte der 1970er Jahre begann dann auch der sowjetische Zivilschutz, sich mittels 43 Borisenkov, Evgenij P./Paseckij, Vasilij M.: Tysjačeletnaja letopic’ neobyčajnych javlenij prirody, Moskau 1988. 44 Šojgu, Sergej K.: Ot MPVO k graždanksoj zaščite. Istoričeskij očerk, Moskau 1989, S. 106. 45 Ebd., S. 109. 46 Elie, Marc/Huret, Romain: Soviet and American Ways of Dealing with Disasters in the Cold War Years (1940–1990s), Manuskript des gleichnamigen Vortrags, gehalten an der Universität Oxford auf dem Workshop »Dealing with Disasters. An International Approach«, 9.–11. September 2013.

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Beschlüssen über Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes vor Naturgefahren auf dem Papier Naturkatastrophen zu widmen.47 Interessant ist hier, dass diese Entwicklung mit der Öffnung in der sowjetischen Katastrophenforschung – gemeint ist die Übersetzung von Whites Buch im Jahr 1978 – sowie mit einer Veröffentlichung zum Erdbeben in Aschgabat im Jahr 1977 zusammenfiel. In Letzterer wurde erstmals nicht nur die niedrige Qualität der Bauten als Grund für die Totalzerstörung benannt, sondern es wurde auch erwähnt, dass »die Bevölkerung Aschgabats und in den Dörfern schwere psychische und moralische Traumata« durch das Erdbeben erlitten hätte.48 Darüber hinaus zeigte ein Bildband zu Aschgabat aus dem Jahr 1976 erstmals historische Luftbilder von der flächendeckenden Zerstörung sowie von der infolge des Erdbebens auf der Straße lebenden Bevölkerung.49 Der Bildband zum Erdbeben in Taschkent, der 1969 auf den sowjetischen Markt kam, beinhaltete zwar auch zwei Bilder, auf denen einzelne zerstörte Häuser zu sehen waren, aber keine, auf denen die gesamte Verwüstung erkennbar war.50 Die Entspannungspolitik in den 1970er Jahren ermöglichte also eine Öffnung des Zivilschutzes für Katastrophen in Friedenszeiten, die sich wiederum auf einen etwas offeneren Umgang mit vergangenen Katastrophen auswirkte. Anders jedoch als beispielsweise im ebenfalls kommunistischen China, wo in den 1970er Jahren offene Kampagnen durchgeführt wurden, in denen Menschen nicht nur auf die Gefahren hingewiesen, sondern auch zu Tausenden als Laien für die Erdbebenbeobachtung rekrutiert wurden, gab es in der Sowjetunion kaum Kampagnen zu Schutzmaßnahmen oder zur Information über Naturkatastrophen.51 Der Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 zeigte, dass von einer tatsächlichen Umstrukturierung und einem Wendepunkt im sowjetischen Zivilschutz kaum die Rede sein kann. Zur Überraschung westlicher Beobachter, die den sowjetischen Zivilschutz für eine riesige und gut ausgerüstete Organisation hielten, 47 Šojgu: Ot MPVO, S. 183. 48 Klyčmuradov, Karly K.: Ašchabadskoe zemletrjasenie i pomoš narodov SSSR, Ylym, Aschgabat 1977, S. 25. 49 Klyčev, Anna-Muchamed: Ašchabad, Aschgabat 1976, S. 52–54. 50 Archangel’skij, Valentin A.: Taškent – gorod bratstva. ZK KP Uzbekistan, Taschkent 1969. 51 Zu den chinesischen Erdbebenkampagnen in den 1970er Jahren siehe Fan: »Collective Monitoring, Collective Defense«, S. 135–140. Siehe auch die zahlreichen chinesischen Poster aus der Reihe »Erdbebenhilfe-Propagandaplakate« aus den 1970er Jahren, in: BG E13/423 (IISH/ Landsberger Collection). Allerdings gab es zwischen 1966 und 1976 auch zehn sehr starke Erdbeben in China, wovon allein das Tangshan-Erdbeben im Juli 1976 250 000 Menschenleben kostete. Die Kampagnen müssen also vor dem Hintergrund dieser Häufung von Katastrophen gesehen werden.

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versagte der Zivilschutz bei der Katastrophe auf ganzer Linie insofern, als die Bevölkerung viel zu spät evakuiert wurde.52 Sergej Šojgu, der damalige Leiter des sowjetischen Zivilschutzes und derzeitige Verteidigungsminister der Russischen Föderation, behauptete in seiner Chronik des sowjetischen und russischen Bevölkerungsschutzes zwar, dass Tschernobyl den entscheidenden Stoß zur Reform des Zivilschutzes gegeben habe, die konkreten Maßnahmen konnte er jedoch nicht benennen.53 Wie das Katastrophenmanagement in Armenien 1988 zeigte, wurden diese Pläne, falls es sie gegeben hat, auch nie in die Tat umgesetzt. Ein Pro­blem bestand darin, dass der sowjetische Zivilschutz stets dem Verteidigungsministerium untergeordnet blieb. Diese militärische Instanz hatte jedoch vor allen Dingen den Schutz von staatlichem Besitz sowie wirtschaftlich und strategisch wichtigen Objekten im Blick, weniger den Schutz der Bevölkerung. Das zeigte sich nicht zuletzt daran, dass der Zivilschutz für die Rettung von Menschen aus Trümmern kaum ausgebildet war, von dem Mangel an Ausrüstung ganz abgesehen. So war auch im Hinblick auf die Rettung von Personen nach nuklearen Angriffen kaum in die Ausbildung von professionellen Rettungskräften investiert worden, weil im Falle eines solchen Angriffes so viele Menschen wie möglich schnell hätten gerettet werden müssen; dass dabei Menschen durch inadäquate Rettungsmethoden ums Leben hätten kommen können, wurde offenbar in Kauf genommen.54 Die stark hierarchische, aber gleichzeitig undefinierte und chaotische Kommandostruktur kostete oftmals lebenswichtige Zeit, da vor jeder Handlung Erlaubnis von oben eingeholt werden musste.55 Aber auch die sowjetische Kultur der Fehlinformationen, der Geheimniskrämerei und des gegenseitigen Misstrauens zwischen den Abteilungen und Institutionen behinderte eine effektive Rettungsarbeit erheblich. Erschwert wurde dieses Durcheinander noch durch die unvereinbaren Risiko-Auffassungen der in das Katastrophenmanagement involvierten Institutionen.56 Während manche um den Schutz wichtiger Gebäude besorgt waren, kümmerten sich andere um die Geheimhaltung und die nächsten um den Schutz von Personen. Daraus resultierte, dass die Einheiten nicht darin geschult waren, wie mit den Opfern von Katastrophen umzugehen war – wie man sie rettete, bestattete oder richtig versorgte.57 Naturkatastrophen sollten offenbar keine 52 Zum Katastrophenmanagement von Tschernobyl siehe Geist: Political Fallout. 53 Šojgu: Ot MPVO, S. 189. 54 So beschrieb es Edward Geist in einer E-Mail-Korrespondenz mit der Verfasserin im Januar 2017. 55 Geist: Political Fallout, S. 123. 56 Ebd., S. 126. 57 Für Aschgabat ebd., S. 104 u. 106.

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Sonderrolle zugeschrieben bekommen; sie waren ein militärisches Problem, mit Angriff und Verteidigung, wie jedes andere. Der Tatsache, dass sich die Rettungspraxis nach einem Nuklearangriff von der nach einer Naturkatastrophe gewaltig unterschied, trug die sowjetische Regierung nicht Rechnung. Auch wenn es nur einen unzureichenden Bevölkerungsschutz gab, machten die Versuche zur Reform, die tatsächlichen Katastrophenerfahrungen und die Organisationen zur Kontrolle und Vorhersage von Naturkatastrophen deutlich, dass sich die sowjetische Regierung der natürlichen Gefahren im Land, der Schwerpunktgebiete und der möglichen Ausmaße bewusst war. Um sicherzugehen, dass Katastrophen medial nur so vermittelt wurden, wie es zur Sicherung der Legitimität der sowjetischen Regierung nötig war, blieben Informationen über die Folgen von Naturkatastrophen bis Mitte der 1980er Jahre verboten und standen auf der sowjetischen Zensurliste.58 Schließlich wären Berichte dieser Art einem Eingeständnis von Notständen und Problemen in der sowjetischen Gesellschaft gleichgekommen, die es laut offizieller Rhetorik nicht gab. Katastrophen offenbaren verwundbare Stellen im System sowie Ungleichheiten in der Verteilung von sozialen und materiellen Ressourcen, da selten alle Menschen gleichmäßig betroffen sind. Es passte nicht in die sowjetische Ideologie, von einer höheren, nicht zu berechnenden Macht überrascht und am Ende vielleicht gar von ihr überwältigt zu werden. Naturkatastrophen galten als negative Ausnahmefälle im Idealbild des Sozialismus, die ähnlich wie das Eingeständnis des Vorhandenseins krimineller Straftaten, Drogenabhängiger oder Analphabeten die Schwächen des Regimes aufzeigten. Dennoch gab es in der Sowjetunion trotz Zensur Zeitungsberichte und Veröffentlichungen über Naturkatastrophen. Wie Alex Inkeles 1956 über die sowjetische Presse feststellte, waren Ereignisse nämlich genau dann ähnlich berichtenswert wie soziale Entwicklungen, wenn »sie sinnvoll mit dem Prozess des sozialistischen Aufbaus in Bezug gesetzt werden konnten«.59 Wenn sich ein Ereignis mit Heldentum oder dem Überwinden von Gefahren verbinden ließ, erhöhte sich sein Nachrichtenwert und es ließ sich propagandistisch dafür ver58 Über die verschiedenen Erwähnungen von Naturkatastrophen als Tabuthemen auf der sowjetischen Zensurliste siehe: Klochko, Mikhail: Victims of Stalin’s A-Bomb, in: New Scientist, 23. Juni 1983, S. 845–849, hier S. 849. Zur Zensur von Naturkatastrophen in den 1970er Jahren siehe Kaiser, Robert G.: Russia: The People and the Power, New York 1976, S. 224 und für die 1980er Jahre siehe Branson, Louise: How Kremlin Keeps Editor in Line, in: London Sunday Times, 5. Januar 1986, S. 1. 59 Inkeles, Alex: Public Opinion in Soviet Russia. A Study in Mass Persuasion, Cambridge, Massachusetts 1956, S. 140.

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wenden, das Regime zu legitimieren. Aus diesem Grund berichteten Journalisten nur über ganz bestimmte Aspekte von Naturkatastrophen. Es lassen sich drei wiederkehrende Muster feststellen: Erstens wurde durch eine Naturkatastrophe die Stärke des sowjetischen Systems hervorgehoben. So ging es in der Berichterstattung über Katastrophen in der Sowjetunion kaum – wenn überhaupt – um die Folgen der Katastrophe für den Menschen oder für die Wirtschaft, sondern darum, die Fähigkeiten und Erfolge der sowjetischen Regierung und ihres Apparates sowie des kommunistischen Gesellschaftssystems hervorzuheben. Dementsprechend berichteten Journalisten beim Erdbeben in Aschgabat 1948 vor allem über die aus Moskau, Baku, Almaty und Taschkent angereisten 1000 Ärzte und über die Hilfslieferungen. Dadurch spürte in diesen Tagen »die Bevölkerung Aschgabats die lebenspendende und große Kraft des sowjetischen Systems«, so die offizielle Lesart.60 Um den Erfolg des Systems zu verdeutlichen, hoben Zeitungen die Fähigkeit des Regimes hervor, schnell vermeintliche Normalität wiederherzustellen. So war bereits am vierten Tag nach dem Erdbeben in Aschgabat die Rede davon, dass »sich die Arbeit der republikanischen und städtischen Organe normalisiert« habe und die Evakuierung bereits abgeschlossen sei.61 Am sechsten Tag nach der Katastrophe fand schon der Wiederaufbau eine erste Erwähnung.62 Einen Tag nach dem Erdbeben in Taschkent 1966, bei dem zwar nur neun Menschen ums Leben gekommen, dafür aber große Teile der Stadt zerstört worden waren, wurde bereits erklärt, dass »das Leben in Taschkent bereits zur Normalität zurückgekehrt« sei, und schon einen Tag später beschrieben Journalisten die Straßendekorationen für die Feierlichkeiten zum 1. Mai.63 Auf die Leistungen und die Fähigkeit der sowjetischen Ordnung war die Regierung nicht zuletzt deshalb stolz, weil die Katastrophenfolgen »mit eigenen Kräften ohne die Hilfe von ausländischen Staaten und internationalen Organisationen beseitigt worden sind«.64 Ebenfalls in der sowjetischen Tradition der Propaganda stellten Journalisten eigene sowjetische Erfolge der Unfähigkeit des Westens gegenüber. So hieß es zum Wiederaufbau Aschgabats, »in jedem nicht sozialistischen Land hätte das alles Jahrzehnte gedauert«.65 Sowohl Aschgabat als auch Taschkent wurden zudem nicht einfach wiederaufgebaut, sondern komplett erneuert, moderni60 61 62 63 64 65

Pravda 285, 11.10.1948, S. 2. Pravda 284, 10.10.1948, S. 2. Pravda 286, 12.10.1948, S. 4. Pravda 118, 28.04.1966, S. 2 und 119, 29.04.1966, S. 2. Klyčmuradov: Ašchabadskoe zemletrjasenie, S. 4. Ebd., S. 132.

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siert und vergrößert. Die Katastrophen wurden so als Gelegenheiten wahrgenommen, schon in der Schublade liegende Generalpläne zur Modernisierung umzusetzen.66 Gleichzeitig symbolisierte die Totalerneuerung der Städte die Fähigkeit des Regimes, der Natur und ihren Kräften zu trotzen und sich ungeachtet der Widerstände zu behaupten. Dass der schnelle Wiederaufbau ebenjenem autoritären Regime zu verdanken war, welches die Bevölkerung erst in die verwundbare Situation gebracht hatte, wurde jedoch nirgendwo erwähnt. Zweitens nutzte der sowjetische Propagandaapparat Katastrophen dazu, die sowjetische Bevölkerung von der Völkerfreundschaft unter den Republiken zu überzeugen. Katastrophen als Einheitsstifter politisch zu instrumentalisieren ist keine sowjetische Erfindung und keine des 20. Jahrhunderts. So dienten in der Schweiz Katastrophen schon im 19. Jahrhundert identitätsstiftend insofern, als miteinander im Streit liegende Landesteile mittels Spendenkampagnen sehr erfolgreich wiedervereint wurden.67 In Deutschland sollte die mediale Inszenierung der Oderflut 1997 dabei helfen, die deutsche Wiedervereinigung voranzutreiben.68 Aber in der Sowjetunion wurde die Instrumentalisierung mit staatlichen Mitteln durchgesetzt, war zudem im Krisen- und Katastrophenfall systematisch und diente der Legitimierung des Regimes. Die Legende der Einheitsutopie war kein Nebenprodukt des Rettungseinsatzes wie bei der Oderflut, sondern bildete einen Schwerpunkt in der Kommunikation über die Katastrophe. Beim Erdbeben in Aschgabat 1948 ging es noch nicht so sehr um die große Völkerfreundschaft, sondern vielmehr um die Freundschaft zwischen den Sowjetrepubliken mit einer muslimischen Bevölkerung, die der turk­menischen Republik zur Hilfe eilten. Auch waren die Formulierungen noch etwas vorsichtiger und weniger absolut, als das später, ab den 1960er Jahren der Fall war. Hier stärkte die Hilfe lediglich »noch mehr die Freundschaft Turkmenistans mit anderen Völkern der Sowjetunion«.69 Erst ab dem Erdbeben in Taschkent 66 Siehe hierzu ausführlicher in Kapitel 5. 67 Pfister, Christian: Von Goldau nach Gondo. Naturkatastrophen als identitätsstiftende Ereignisse in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, in: Christian Pfister/Stephanie Summermatter (Hg.): Katastrophen und ihre Bewältigung. Perspektiven und Positionen, Bern 2004, S. 53–78; Utz, Peter: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz, Paderborn 2013. 68 Döring, Martin: »Das Hochwasser wirkt als prima Bindemittel«. Die metaphorisch mediale Konstruktion eines wiedervereinigten Deutschlands in Zeiten der Oderflut 1997, in: Dieter Groh/Michael Kempe/Franz Mauelshagen (Hg.): Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Tübingen 2003, S. 299–326. 69 Pravda 285, 11.10.1948, S. 2.

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1966 wurde die sowjetische Völkerfreundschaft das tragende Thema und der Hauptrahmen, in den Medien eine Katastrophe betteten.70 Die Völkerfreundschaft fand sich nicht nur in Überschriften wie »Brüderliche Hilfe« und »Das ganze Land kommt zu Hilfe« wieder, sondern auch in der Architektur des neuen Taschkent.71 Verschiedene Sowjetrepubliken übernahmen jeweils den Bau eines Wohnviertels, wobei sich in der gesamten Architektur die nationalen Spezifika niederschlugen; so leuchteten die Hausfassaden beispielsweise durch Mosaikbilder im Lokalkolorit der jeweiligen Republiken. Dementsprechend gab es und gibt es bis heute in Taschkent Viertel mit den Namen Moskau, Kiew und Minsk sowie ein armenisches und ein moldawisches Stadtviertel.72 Die sowjetische Regierung meißelte die Völkerfreundschaft unwiderruflich in Stein und fand in der Katastrophe so eine ideale Gelegenheit, sich als fürsorgender Staat zu inszenieren, obwohl diese großzügigen Bauvorhaben in der Peripherie vor allem dem Ankurbeln der sowjetischen Wirtschaft dienten.73 Für nachfolgende Katastrophen wie die Dammkatastrophe bei Almaty 1973 war die Betonung der Völkerfreundschaft dann schon zum Standard geworden.74 Dieser Sowjetpatriotismus ist bereits für andere sowjetische Großprojekte aus der Zeit wie den 1974 beginnenden Bau der Baikal-Amur-Magistrale oder für die sowjetischen Großbaustellen aus den 1950er und 1960er Jahren konstatiert worden.75 Während die Erfolge des Kommunismus offensichtlich selbst im Zusammenhang mit Naturkatastrophen herausgestellt werden konnten, fanden das Leid der Opfer sowie die oftmals schwerwiegende Zerstörung des alten Lebens70 Raab: All Shook Up; Douglas Northrop kommt in seinem Buchprojekt »Five Days that Shook the World« (Veröffentlichung steht noch aus) ebenfalls zu dem Schluss, dass die Völkerfreundschaft erst ab dem Taschkenter Erdbeben eine wichtige Rolle spielte. Aus einem E-Mail-Wechsel mit der Verfasserin im November 2016. Siehe auch das Bulletin von TASS, »Material zum Gespräch« vom Mai 1966, das an Journalisten und Repräsentanten der Öffentlichkeit verteilt wurde und Leitlinien für das offizielle Narrativ enthielt, siehe: Press zentra gor. ­Taškenta: Postroim novyj Taškent (material dlja besed), Bjulleten’ No 3, Taschkent, 18. Mai 1966. 71 Pravda 119, 29.04.1966, S. 2; Pravda 118, 28.04.1966, S. 4. 72 Siehe hierzu Meuser, Philipp: Die Ästhetik der Platte. Wohnungsbau in der Sowjetunion zwischen Stalin und Glasnost, Berlin 2015, S. 548–605. 73 Siehe hierzu auch Gestwa, Klaus: Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967, München 2010, S. 323. 74 Zur Propaganda über die Völkerfreundschaft nach dem Erdbeben in Taschkent siehe die Publikation Archangel’skij: Taškent – gorod bratstva und insbesondere die darin enthaltene Rede von Leonid I. Brežnev, S. 11–17; über Schlammlawinen in Kasachstan und Völkerfreundschaft siehe Elie: Governing by Hazard, S. 33. 75 Siehe beispielsweise Grützmacher, Johannes: Vielerlei Öffentlichkeiten: Die Bajkal-­AmurMagistrale als Mobilisierungsprojekt der Brežnev-Ära, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 50 (2002) 2, S. 205–223. Gestwa: Die Stalinschen Großbauten, S. 332 f.

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raumes und der sozialen Ordnung in der Presseberichterstattung kaum Beachtung. Stattdessen wirkte vor allem das Heldentum der Betroffenen als »›sanfte‹ Quelle der Mobilisierung« innerhalb des sowjetischen Systems – das dritte wiederkehrende Muster in der sowjetischen Katastrophenberichterstattung neben der Herstellung von Normalität und der Betonung der Völkerfreundschaft.76 Alle großen Bauvorhaben in der Sowjetunion konnten nur dann funktionieren, wenn der Druck groß genug, das Material zu knapp, die Zeit zu kurz und der Feind nah war.77 Nur dann konnten die Massen in hoher Geschwindigkeit mobilisiert werden. Laut den offiziellen Berichten arbeiteten Bauarbeiter tagelang ohne Pause, Eisenbahnangestellte beluden und entluden die Güterwaggons, bis ihnen die Augen zufielen, und in Almaty riskierten Bergsteiger ihr Leben, um Spaziergänger aus den Schlammlawinen zu retten.78 Am Ende gab es meist goldene Heldenmedaillen für den Beitrag zum Sozialismus. Darüber hinaus mussten in den Berichten notfalls die überlebenden Opfer in Helden umgewandelt und die verstorbenen verschwiegen werden.79 Wenn von den Betroffenen der Katastrophen die Rede war, wurden sie schnell zu furchtlosen Helden umgedeutet, die mit ihren nackten Händen die Trümmer beseitigten und dem Elend standhielten. Weil mit der Beschreibung von Leid keine Massen mobilisiert werden konnten, standen im Vordergrund das »Heldentum und der Mut der Bewohner Aschgabats«.80 Auch bei dem Erdbeben in Taschkent begegneten »die Bewohner der Katastrophe heldenhaft.«81 Wie Andreas Guski schon bemerkte, waren die Betroffenen in der Berichterstattung oftmals jedoch nur passive Helden.82 Sie blieben scheinbar stumm und tatenlos, ohne selbst aktiv zu werden. Während Zeitungen die Opfer des Erdbebens in Aschgabat im Jahre 1948 noch als aktive Helden darstellten, die selbst beim Wiederaufbau halfen, waren die Bewohner Taschkents 1966 nur Empfänger der Hilfe. Wie passive Figuren wurden sie umgesiedelt, während Bauarbeiter aus den anderen Republiken ihre Stadt wiederaufbauten. Dankbar und ehrfürchtig schauten sie dabei

76 Elie: Governing by Hazard, S. 35. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 34. 79 Die tatsächlichen Opferzahlen des Erdbebens in Aschgabat 1948 sind erst mit der Berichterstattung zum Erdbeben in Armenien 1988 an die sowjetische Öffentlichkeit gelangt. Siehe Argumenty i fakty 428, 1988, S. 4 f. und 430 (1989), S. 7. 80 Pravda 286, 12.10.1948, S. 4. 81 Pravda 117, 27.04.1966, S. 4. 82 Guski: Die Stimme der Opfer, S. 69.

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zu, wie der russische »Kolonialherr« ihnen Taschkent »zu einer der schönsten [Städte] im ganzen Lande« machte.83 Während bis zum Ende der Sowjetunion im Katastrophenfall die Stärke des Systems hervorgehoben wurde und Katastrophen als Einheitsstifter dienten, änderte sich die Darstellung der Opfer mit dem Amtsantritt Gorbačevs 1985 und dessen Glasnost’-Reformen, die für eine größere Offenheit in den Medien warben. Prekäre Zustände in der Gesellschaft sollten nun offen gezeigt werden, um so die Reformen zur Wirtschaftsliberalisierung und zum Kampf gegen die Korruption anzukurbeln.84 Auf die Katastrophenberichterstattung bezogen bedeutete dies, dass Opfer sowohl eine Stimme als auch ein Gesicht erhielten. Katastrophen wurden fortan im sowjetischen Fernsehen gezeigt. Auch der Stil der Berichterstattung veränderte sich deutlich. In ihrer im Jahre 1988 verfassten Studie über das sowjetische Fernsehen zur Zeit des Machtübergangs von Jurij Andropov zu Michail Gorbačev 1984/85 stellte die Politikwissenschaftlerin Ellen Mickiewicz einen Rückgang von Nachrichten über wirtschaftliche Themen fest, zugunsten von Berichten über internationale Politik, Abrüstung, das Militär, Weltraumwissenschaften sowie Natur- und Technikkatastrophen, über die vorher nicht im Fernsehen berichtet worden war.85 Zwar zeigte das Fernsehen zunächst nur Katastrophen, die sich im Ausland zutrugen, aber am 14. Oktober 1985 sendete das sowjetische Nachrichtenprogramm »Vremja« erstmals Filmaufnahmen von einem Erdbeben, welches sich tags zuvor innerhalb der Sowjetunion, genauer in der Tadschikischen SSR, ereignet hatte. Die sowjetischen Fernsehzuschauer sahen Katastrophenaufnahmen von in Trümmern liegenden Wohnhäusern, Regierungsgebäuden und Unternehmen und konnten Arbeitern und Beamten dabei zusehen, wie sie sich durch das Geröll gruben und die Gegend inspizierten. Zwei Tage später zeigte »Vremja« neben Obdachlosen sogar, 83 Zitat aus Mavljanov, Gani A. (Hg.): Taškentskoe zemletrjasenie 26 aprelja, Taschkent 1971, S. 6. Zum Zivilisationsgefälle zwischen Russen und Nichtrussen auf sowjetischen Großbaustellen siehe Gestwa: Die Stalinschen Großbauten, S. 323. Zu den negativen Auswirkungen der internationalen (oder externen) Katastrophenhilfe auf lokale Machtstrukturen und In­ stitutionen, die teilweise völlig ausgehöhlt und ersetzt werden, siehe exemplarisch Zanotti, Laura: Cacophonies of Aid, Failed State Building and NGOs in Haiti: setting the stage for disaster, envisioning the future, in: Third World Quarterly 31 (2010) 5, S. 755–771. 84 Zu Glasnost’ siehe: McNair, Brian: Glasnost, Perestroika and the Soviet Media, London 1991; Wolfe: Governing Soviet Journalism; Roisko: Gralshüter; Müller, Monika: Zwischen Zäsur und Zensur. Das sowjetische Fernsehen unter Gorbatschow, Wiesbaden 2001; Roth, Paul: Glasnost und Medienpolitik unter Gorbatschow, Bonn 1990; Steinsdorff: Rußland auf dem Weg zur Meinungsfreiheit. 85 Mickiewicz, Ellen: Split Signals. Television and Politics in the Soviet Union, New York 1988, S. 136.

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wie Tote aus den Trümmern geborgen wurden.86 Nur wenige Wochen danach wurden die sowjetischen Fernsehzuschauer in ihren Wohnzimmern dann Zeugen einer Flutkatastrophe in Weißrussland, von der insbesondere Bauern betroffen waren, die dabei gezeigt wurden, wie sie ihre Ernte vor den Fluten retteten.87 Doch nicht nur in der Fernsehberichterstattung über Katastrophen gab es bemerkenswerte Veränderungen, sondern auch in der gedruckten Presse. Obgleich vieles in der Pravda-Berichterstattung über das Erdbeben in Tadschikistan 1985 im Vergleich zu früheren Katastrophen gleich blieb, wie etwa der krampfhafte Versuch, so schnell wie möglich eine Normalität abzubilden, die Heldenhaftigkeit der Partei und der Arbeiter darzustellen oder die Hilfe der brüderlichen Republiken zu betonen, gab es auch signifikante Neuerungen: Die Berichte suggerierten Empathie und ließen Rückschlüsse auf die emotionalen Befindlichkeiten der Betroffenen zu. Die sowjetische Propaganda gestand somit einer Naturkatastrophe Folgen für die soziale Ordnung zu. So fanden sich in den Zeitungsartikeln Meinungen von Betroffenen wieder, Menschen drückten ihre Ängste in direkter Rede aus. Darüber hinaus beschrieben Journalisten bildhaft, wie Mütter nach ihren Kindern suchten, wie manche sie fanden und wie für andere, die ihre Kinder nicht fanden, »ihre Verluste unersetzlich« waren.88 Plötzlich wurde das Leid das verbindende Element und nicht so sehr das Heldenhafte, wenn es in der Pravda hieß: »Den »Schmerz […] teil[t]en viele Sowjet­ bürger.«89 Aus den starren Erfolgsgeschichten wurden Berichte, die den Leser das Leid der Opfer spüren ließen. Naturereignisse, die bis zu diesem Zeitpunkt politische Gelegenheiten waren, die es beim Schopfe zu packen galt, waren nun Phänomene, die sich auch nach offizieller Lesart negativ auf den sowjetischen Menschen auswirkten und nicht nur Kraft und Wachstum hervorbrachten. Zum ersten Mal wurde das Katastrophenszenario nicht in vollem Umfang in eine reine Heldenerzählung umgedeutet; die Katastrophe als Teil des Systems blieb so sichtbar. Aber auch das kam lange keiner Pressefreiheit im westlichen Sinn gleich. Vielmehr war es eines der vielen Instrumente, die Gorbačev nutzte, um für seine Reformen zu werben. Denn indem er das menschliche Leid der sowjetischen Bevölkerung darstellte – sei es durch Kriminalität, Korruption oder Katastrophen –, glaubte er Reformen ankurbeln zu können. Die Thematisierung der Probleme in der sowjetischen Öffentlichkeit sollte seinen Reformen eine Berechtigung zu ihrer Durchsetzung geben. Aber davon, nach den Ursachen 86 Ebd., S. 137. 87 Ebd., S. 137. 88 Pravda 289, 16.10.1985, S. 6. 89 Ebd.

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und nach der Verantwortung für die Folgen zu fragen und Katastrophen nicht nur als »blinde Macht«90 der Natur anzusehen, war die sowjetische Berichterstattung weit entfernt.91 Die neue Offenheit gegenüber Katastrophen hatte in den sowjetischen Medien auch zu Zeiten von Glasnost’ Grenzen, was spätestens mit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl am 26. April 1986 deutlich wurde. Selbst wenn es sich hier nicht um eine Naturkatastrophe handelte und Vergleiche daher schwierig sind, darf der Reaktorunfall in der Analyse nicht fehlen, weil er, bedingt durch die gleichzeitig stattfindenen Reformen, den Wendepunkt im sowjetischen Umgang mit Natur- und Technikkatastrophen bildete. Die anfängliche offizielle Reaktion auf die Reaktorkatastrophe glich in Sachen Verschwiegenheit und Verharmlosung dem Umgang mit vielen früheren Natur- und Technikkatastrophen, die sich auf dem Territorium der Sowjetunion bis dahin ereignet hatten. Bis auf eine kurze Meldung in der Neun-Uhr-Abendnachrichtensendung »Vremja« zwei Tage nach der Katastrophe gab es keinerlei Informationen für die Öffentlichkeit über den Unfallhergang oder über mögliche Risiken. Ganz im Gegenteil wurde der betroffenen Bevölkerung suggeriert, dass die Radio­aktivität unschädlich sei.92 In der sowjetischen Berichterstattung über die Katastrophe arbeiteten Journalisten nach den Regeln der Zensur mit den gewohnten sowjetischen Methoden: Das Löschen des Reaktors wurde als Sieg gefeiert und die Errichtung des Sarkophags als Aufbauleistung und somit als Erfolg des sowjetischen Systems inszeniert.93 Schon wenige Tage nach der Katastrophe zeigten Fernsehbilder friedlich grasende Kühe und Feierlichkeiten 90 Ebd. 91 In populärwissenschaftlicher Literatur werden im Gegensatz dazu Katastrophen durchaus als Produkte menschlichen Einflusses betrachtet. Siehe Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Geographisches Institut (Hg.): Mensch, Gesellschaft und Umwelt. Geographische Aspekte der Nutzung der Naturressourcen und des Umweltschutzes, Berlin 1976, S. 137 (Übersetzung der sowjetischen Ausgabe von 1973). 92 Zur medialen Inszenierung der Reaktorkatastrophe in der sowjetischen Presse siehe: Commeau-­ Rufin, Irène: La catastrophe de Tchernobyl, miroir de la presse soviétique, in: Politique ­étrangère 51 (1986) 3, S. 711–726; Oberg, James E.: Uncovering Soviet Disasters. Exploring the Limits of Glasnost, New York 1988; Patterson, Philip: Reporting Chernobyl: Cutting the Government Fog to Cover the Nuclear Cloud, in: Lynne Masel Walters/Lee Wilkins/Tim ­Walters (Hg.): Bad Tidings: Communication and Catastrophe, Hillsdale 1989, S. 131–147; Young, Marilyn J./Launer, Michael K.: Redefining Glasnost in the Soviet Media: The Recontextualization of Chernobyl, in: Journal of Communication 41 (1991) 2, S. 102–124. 93 Wendland, Anna Veronika: Tschernobyl vor Gericht. Ordnung, Katastrophe und Kommunikation einer technologischen Leitkultur in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, 1970–2011, Vortragspapier für den Workshop »Katastrophen im östlichen Europa« an der Universität Tübingen, 21.–22. Februar 2013; Müller: Zwischen Zäsur und Zensur, S. 69–74.

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zum 1. Mai als Abbild der vermeintlich schnell wiederhergestellten Normalität. Wie üblich machte die Regierung einzelne Individuen, wie den Direktor des Kraftwerks Viktor Brjuchanov, für das Desaster verantwortlich, nur um nicht zugeben zu müssen, dass alle Typen desselben Reaktorblocks im ganzen Land Konstruktionsfehler aufwiesen – eine Wahrheit, die nicht nur den Ausbau der sowjetischen Atomenergie in Gefahr gebracht hätte.94 Zusätzlich herrschte im Politbüro die berechtigte Angst davor, dass diese Wahrheit dem Westen – die westliche Atomindustrie freilich ausgenommen – in die Hände gespielt hätte. Denn die Berichterstattung in den USA beispielsweise nutzte die Katastrophe als eine Art »propaganda power plant«, wie der Kommunikationswissenschaftler Philip Patterson darlegte, um die amerikanische technologische und politische Überlegenheit anzupreisen und die Sowjetunion einmal mehr als ein »evil empire« darzustellen, das menschliches Leben nicht wertschätzte.95 Doch mit dieser Tradition wurde alsbald gebrochen, da die Geheimhaltungs- und Verharmlosungspolitik, wie sie für die vorangegangenen Katastrophen gegolten hatte, im Jahr 1986 aufgrund des Ausmaßes der Tragödie nicht mehr aufrechterhalten werden konnte und teilweise außer Kontrolle geriet. Die Massenbewegungen der Evakuierten und der sogenannten Liquidatoren, die vor Ort Aufräumarbeiten leisten mussten, konnten nicht verheimlicht werden.96 Zudem ließ der »Informationsimperialismus«, wie Gorbačev Berichte aus dem Westen in der sowjetischen Propaganda genannt hatte, aber auch das Bedürfnis der Betroffenen, ihre Gesundheit zu schützen, die Regierung schon bald in Zugzwang geraten.97 Dies hatte zur Folge, dass man die Katastrophe nicht völlig verschweigen konnte.98 Ab dem 4. Mai 1986 kamen zunehmend Fakten und Bilder zur Reaktorkatastrophe ans Licht, die das bisher suggerierte Bild einer sicheren sowjetischen Welt erschütterten. Das sowjetische Fernsehen zeigte den zerstörten Reaktor, Interviews mit Passanten in Kiew und Pressekonferenzen mit in- und ausländischen Journalisten.99 Die Pravda druckte eine Reportage, 94 Sahm, Astrid: Dimensionen einer Katastrophe, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 13 (2006) 3, S. 12–18, hier S. 13. 95 Patterson: Reporting Chernobyl, S. 132 f. 96 Arndt, Melanie: Tschernobyl – die bekannte, unbekannte Katastrophe, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 12–13 (2016) 3, S. 3–10, hier S. 6. 97 Der Begriff stammt von Michail Gorbačev. Demnach war »Informationsimperialismus« die neueste Form der aggressiven Feindschaft aus dem Westen, siehe Mickiewicz: Split Signals, S. 210. 98 Müller: Zwischen Zäsur und Zensur, S. 72. 99 Mickiewicz: Split Signals, S. 62. Auf der ersten Pressekonferenz am 6. Mai 1986 durften jedoch nur sowjetische Journalisten Fragen stellen.

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in der die Ereignisse der Nacht aus der Sicht der mit den radioaktiven Flammen kämpfenden Feuerwehrleute geschildert wurden. Andere Medien veröffentlichten Angaben zu absoluten Werten der radioaktiven Strahlung an einigen Orten der Sowjetunion.100 Am 14. Mai 1986, zwei Wochen nach dem nuklearen Fallout, trat Michail Gorbačev erstmals mit einer emotionalen Fernsehansprache vor die sowjetische Öffentlichkeit, in der er überraschende Details über die Katastrophe preisgab, die das Regime nicht mehr im besten Licht zeigten. Die wirkliche Informationsrevolution kam aber mit der Aufhebung der Nachrichtensperre durch Gorbačev im Jahr 1989, die viele Einzelheiten über den SuperGAU an die sowjetische Öffentlichkeit brachte. Auch wenn Tschernobyl einen Wendepunkt in der sowjetischen Informationspolitik darstellte, riefen die ersten Tage des Schweigens eine große Enttäuschung über die grobe Fahrlässigkeit der sowjetischen Regierung hervor und untergruben das Vertrauen in sie. Tschernobyl stellte einen Totalausfall für Glasnost’ dar, weil die Katastrophe zu einem »Offenbarungseid einer maroden Ordnung« wurde, der neben vielen anderen Faktoren wie ein Katalysator des Zerfallsprozesses der Sowjetunion wirkte.101 Dabei hätte Gorbačev die Berichterstattung zur Reaktorkatastrophe auch als Chance sehen können, die Glaubwürdigkeit seiner Politik zu unterstreichen. Stattdessen machte die Katastrophenberichterstattung lediglich die Grenzen von Gorbačevs Reformen deutlich. Tschernobyl beschleunigte dennoch oder gerade deshalb die Umsetzung von Glasnost’, weit über das ursprüngliche Ziel hinaus. Denn der Legitimitätsverlust durch den desaströsen Umgang mit der Reaktorkatastrophe hat die staatliche Reaktion auf das danach folgende Erdbeben in Armenien im Dezember 1988 zweifelsohne stark mitbestimmt. Die Entwicklungen in der sowjetischen Öffentlichkeit haben gezeigt, dass die komplette Geheimhaltung von großen Katastrophen nicht mehr möglich war, ohne an Autorität einzubüßen. Katastrophen mit etwas geringerem Wirkradius wurden jedoch weiterhin verheimlicht.102 Der kurze Abriss über den Umgang mit Katastrophen in der Sowjetunion machte deutlich, dass es nicht, wie Andreas Guski suggerierte, nur zwei Arten von Katastrophen gab und dass sie mitnichten ein dem »Sozialismus system100 Roisko: Gralshüter, S. 252 f. 101 Gestwa: Katastrojka und Super-GAU, S. 65. 102 So das Austreten von Giftgasen auf Novoe Zemlja im Frühjahr 1987, der Verbindungsabbruch zum mit Giftstoffen beladenen Sputnik »Kosmos-1900« im April 1988, die Explosion in einer Fabrik bei Pavlograd im Frühjahr 1988 und andere, in: RGANI fond (f.) 89, opis‘ (op.) 9, delo (d.) 24, list (l.) 1–4, hier l. 2, über die Bereitstellung von Informationen über Unfälle in der UdSSR, aus dem Protokoll der Politbürositzung vom 25. August 1989.

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fremder Ereignistyp« gewesen sind. Für die Stärkung der staatssozialistischen Legitimität wurden sie vorrangig als Herrschaftsinstrumente eingesetzt, vor, während und nach der Katastrophe. Dabei erwies sich das System zur Verhinderung und Reduzierung von Katastrophen als eindrucksvoll, effektiv und irrwitzig zugleich. Maßnahmen wie Stalins Erlass zur Erforschung einer möglichen Erdbebenvorhersage oder der Bau des Medeo-Damms in Kasachstan waren neben dem Bedürfnis, sich die Natur durch Technik und Wissenschaft verfügbar zu machen, immer auch Ausdruck des Machtwillens. Denn wie wenig die Regierung dazu in der Lage war, ihrer Bevölkerung Schutz vor Katastrophen zu bieten, und für wie akzeptabel sie Opfer von Katastrophen hielt, bewies nicht zuletzt die Reformunwilligkeit im Katastrophenschutz. Während der Staat rasant Menschen mobilisieren konnte, wie es für Kriegsfälle nötig und für die Mitte des 20. Jahrhunderts typisch war, mangelte es ihm zunehmend an Technologien, Ressourcen und Gespür, um Menschen vor Katastrophen zu schützen und zu retten. Die Sowjetunion blieb in den Methoden des Zweiten Weltkriegs gefangen, weil sie davon ausging, nach einer Katastrophe immer wieder einen Neuanfang wagen zu können, immer wieder neu bauen zu können; Menschenleben schienen dabei ersetzbar. Ereigneten sich dann Katastrophen, nutzten sowjetische Herrscher diese dazu, Mythen über Völkerfreundschaft und Heldentum zu streuen, die der Legitimierung ihrer Herrschaft dienten. Über den Wiederaufbau konnten die Kremlherrscher ihre technischen und organisatorischen Allmachtsfantasien ausleben und ihre Omnipotenz zur Schau stellen. Dabei unterlag diese Instrumentalisierung innerhalb der sowjetischen Geschichte einem Wandel. Während Stalin noch versuchte, Katastrophen, so gut es ging, geheim zu halten, um keine Schwäche nach innen oder außen zu signalisieren, wurden unter der Führung Chruščevs und Brežnevs erstmals ausgewählte (erfolgversprechende) Katastrophen der Öffentlichkeit präsentiert, weil insbesondere große Katastrophen im expandierenden Kommunikationszeitalter kaum mehr verschwiegen werden konnten, aber auch weil sie sich für den Wettbewerb im Kalten Krieg eigneten, um Überlegenheit und Macht nach außen zu vermitteln.103 Gorbačev führte daraufhin eine dritte Variante ein: Er gab Katastrophen in der Öffentlichkeit mehr Raum als seine Vorgänger, aber nicht nur, um Stärke zu signalisieren, sondern auch, um Schwächen des Systems aufzuzeigen und um so für die Notwendigkeit seiner Reformen zu werben. Nicht zuletzt kamen mit der politischen Öffnung durch Gorbačev auch Ansprüche der sowjetischen Bevölkerung im Katastrophenfall an die Oberfläche, die sich als folgenreich für sein Regime erwiesen. 103 Elie/Huret: Soviet and American Ways.

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»Sorgen Sie sich nicht, liebe Bürger Novosibirsks, wir werden die Sowjetunion nicht verlassen, umso mehr, als wir nirgendwo anders hingehen können. Hinter unserem Rücken ist die Türkei, die ihr ­Zähne­knirschen nicht verbirgt. Wir haben drei Jahrhunderte lang unseren Blick nach Norden gerichtet, nach Russland, mit Hoffnung auf Rettung, mit Liebe und Ergebenheit.« Sil’va Kaputikyan, Mai 19881 »Keine Macht hält ewig. Auch diese wird zu Ende gehen. In einem Jahr schon wird Gorbačev zu einer politischen Leiche.« Vano Siradegyan, November 19882

Naturkatastrophen können für bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht nur deshalb gefährlich werden, weil der Staat keinen ausreichenden Katastrophenschutz aufgebaut oder Informationen vertuscht hat, sondern auch dann, wenn der Staat aufgrund politischer Konflikte nicht ausreichend Kapazitäten zur Verfügung hat, um die Katastrophe zu bewältigen. Denn wie eine Reihe vergangener Katastrophen, darunter der Hurrikan Katrina im Süden der USA im August 2005, zeigte, sind technologisches Wissen und wissenschaftliche Expertise keine Garantie für ein erfolgreiches Katastrophenmanagement.3 Die von Naturkata­ strophen ausgehende Bedrohung für den Menschen hat ihren Ursprung meistens in der Vergangenheit; sie entsteht nicht plötzlich, sondern wird gemacht.4 Vulnerabilität hat ihren Ursprung somit auch in politischer Instabilität, die staatliche Strukturen lähmen und Konflikte zu einer Zeit verschärfen kann, in der 1 Aus einem Brief Sil’va Kaputikyans an das armenische Volk vom 5. Mai 1988 vgl. H ­ ayastani azgayin arkhiv (im Folgenden HAA) f. 1159, op. 1, d. 23, l. 13. Sil’va Kaputikyan war Mitglied des ersten Karabachkomitees von Februar bis Mai 1988. Sie entfernte sich vom Komitee, nachdem im Mai 1988 klar wurde, dass ihre politischen Überzeugungen nicht mit jenen der neuen Komiteemitglieder übereinstimmten. Näheres hierzu siehe Kapitel 3.3. 2 Vano Siragedyan, Mitglied des Karabachkomitees und später Innenminister Armeniens (1992– 1996) wurde 2000 von Interpol zur Fahndung für die Beauftragung von mehreren Morden an Staatsbeamten ausgerufen. Zitat in: HAA f. 1159, op. 3, d. 24, l. 29, Transkript seiner Rede vom 24. November 1988 (vor 120.000 Armeniern in Jerewan). 3 Bankoff: Comparing Vulnerabilities. 4 Ebd., siehe auch Tierney, Kathleen: The Social Roots of Risk. Producing Disasters, Promoting Resilience, Stanford 2014.

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staatlicher und gesellschaftlicher Zusammenhalt für die erfolgreiche Bewältigung der Krise unabdingbar wäre. Katastrophen sind demnach nicht nur physikalische Ereignisse, sondern geschehen auch in einem politischen Raum und müssen bei der Analyse dementsprechend kontextualisiert werden. Ähnlich wie das Erdbeben in Taschkent oder die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl ereignete sich das Erdbeben in Armenien 1988 vor einem politischen, sozialen und gesellschaftlichen Hintergrund, der die Wirkungskraft und -richtung der Katastrophe beeinflusste. Dabei formten der Beginn der Reformversuche in der Sowjetunion 1985 und der Anfang des sich entfaltenden Karabachkrieges sowohl die zeitlichen als auch die räumlichen Parameter der Katastrophe, ohne die Ausmaß und Wirkung des Erdbebens nur unzureichend zu erklären sind. Das vorliegende Kapitel nimmt daher die soziale und politische Ordnung in Sowjetarmenien vor dem Erdbeben in den Blick, um nachzuvollziehen, welche Bündnisse und Konflikte aus dieser Zeit den dann folgenden Umgang mit der Naturkatastrophe prägten. In der Kaukasusrepublik veränderte sich innerhalb eines Jahres die politische Dynamik in einem solch rasanten Tempo, dass die Zeitgenossen kaum mehr hinterherkamen. Die beiden eingangs erwähnten Aussagen von den alten und neuen Anführern der armenischen Nationalbewegung liegen nur wenige Monate auseinander und zeichnen dennoch ganz unterschiedliche Deutungen der Gegenwart und der armenischen Zukunft. Diese Dynamik, hervorgerufen durch Kaderwechsel, soziale und politische Unzufriedenheit unter der armenischen Bevölkerung und eine dadurch entstandene mächtige armenische Nationalbewegung, verschlechterte nicht nur die innerarmenischen Verhältnisse zwischen der Bevölkerung und der eigenen Regierung, sondern auch die Beziehungen zwischen Moskau und Armenien, die über Jahrzehnte hinweg als unerschütterlich galten. Um die sich verändernden Akteurskonstellationen in Sowjetarmenien während der Perestrojka besser zu verstehen, werden in diesem Kapitel die gängigen Narrative über Entstehung und Genese der armenischen Nationalbewegung aufgebrochen.

3.1 Machtwechsel und die Chance der Dissidenten: Perestrojka in Sowjetarmenien Als Michail Gorbačev 1985 an die Macht kam, schlug die zunächst verhaltene Stimmung in der Sowjetunion bald in Begeisterung und Vorfreude auf ein neues Leben um. Das Politbüro entschied sich bei der Neubesetzung des Amtes des Generalsekretärs für den damals relativ jungen Michail Gorbačev, weil es hoffte,

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er würde das Land aus Krise, Stagnation und Misswirtschaft herausholen, die schon Jahrzehnte zuvor begonnen hatten. Seine Perestrojka-Reformen hatten dementsprechend zum Ziel, den Fortschritt zu beschleunigen, mehr Transparenz im Umgang mit Problemen der Gegenwart und Vergangenheit zu ermöglichen, die Wirtschaft in begrenztem Umfang zu liberalisieren und eine Demokratisierung der politischen Strukturen zu erreichen, wofür ein Austausch der Parteieliten in der gesamten Sowjetunion nötig war. Gorbačev wollte das System reformieren, ohne es zu zerstören, und die Menschen wünschten sich Reformen, die ausgewählte Elemente des Marktes in die sozialistische Ordnung integrierten, ohne dabei aber ihre sozialistischen Grundprinzipien aufgeben zu müssen.5 Das zweite Element der Reformen, welches unter dem markigen und oftmals in die Irre führenden Namen Glasnost’ (russ. für Öffentlichkeit) bekannt wurde, sollte die Reformen des politischen und wirtschaftlichen Umbaus durch wirksame Öffentlichkeitsarbeit unterstützen. Gorbačev verstand darunter ein ganzes Konglomerat an Veränderungsvorschlägen, die darauf abzielten, die Informationen, die für die Perestrojka notwendig waren, in kleinen Dosen an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Berichterstattung über die Krankheiten des Systems sollte dabei nicht nur ein realistisches Bild der sowjetischen Gesellschaft zeichnen, sondern vor allem um Unterstützung für die Reformen werben. Denn, so glaubte Gorbačev, nur eine über die Missstände informierte Bevölkerung kann und will politische Veränderungen unterstützen. Auch wenn diese Veränderung nicht gleichbedeutend mit Meinungs- und Pressefreiheit im westlichen Sinn war, sorgte sie bei vielen für große Begeisterung und verhalf der Politik der Glasnost’ anfänglich zu Ansehen.6 Diese neue Möglichkeit der Meinungsäußerung entfachte jedoch gleichzeitig eine von Gorbačev so nicht vorher­gesehene Lawine an öffentlichen Protesten. Die Menschen glaubten, ihre Meinungen und Bedürfnisse nun kundtun zu können. Dinge, die sie schon lange bewegten, waren nun durch die Reformen sagbar geworden. Wie überall in der Sowjetunion begrüßten viele Menschen auch in Armenien zunächst die Reformen Gorbačevs. Endlich hatte die sowjetarmenische Bevölkerung die Gelegenheit, ihre Probleme zur Sprache zu bringen, in der Hoffnung, endlich Lösungen dafür zu finden. Drei Themen bewegten armenische Intellektuelle dabei besonders, auch weil sie dabei halfen, die Massen zu mobilisieren: der Schutz der Umwelt und die damit einhergehende Forderung, 5 Neutatz: Träume und Alpträume, S. 524. 6 Simon, Gerhard/Simon, Nadja: Verfall und Untergang einer des sowjetischen Imperiums. Mit zahlreichen Dokumenten, München 1993, S. 44–45.

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das Atomkraftwerk Metsamor zu schließen, die Korruption der lokalen Machteliten sowie die Angliederung Bergkarabachs an die Armenische SSR.7 Die Menschen in Armenien ergriffen die Gelegenheit, die ihnen die Gorbačev’sche Agenda des »neuen Denkens« bot, und trugen in der Hoffnung auf Besserung ihre Wünsche, Fragen und Forderungen laut und für alle sichtbar im Rahmen des neuerdings in der Sowjetunion Sagbaren vor, ohne sich dabei jedoch gegen das Zentrum zu stellen. Armenien wurde stets eine besondere Loyalität gegenüber Moskau nachgesagt – ein Bild, das von der sowjetischen Propaganda getragen und gefördert wurde.8 Während sich unter den Regimegegnern im Baltikum und in Georgien stark russophobe Tendenzen ausmachen ließen, betrachtete Sowjetarmenien nicht Russland, sondern die Türkei als Feind und Aggressor gegen ihre nationalen Interessen. Das von der sowjetischen Propaganda gezeichnete Bild zeigte eine Republik, die ihrem neuen Herrscher Moskau für den Schutz, der ihr vor der Türkei seit dem Genozid 1915 und dem danach folgenden Krieg zwischen Armenien und der Türkei gewährt wurde, zutiefst dankbar war. Die sich anschließende Eingliederung in den sowjetischen Staatenbund betrachteten Armenier nach diesem Narrativ als gute Alternative für ihre eigene Sicherheit. Die Studie von Maike Lehmann kommt jedoch zu dem Schluss, dass dieses konstruierte und auf Erfahrung fußende Schutzbedürfnis durchaus nicht das einzige Bindemittel war, das Armenien an Moskau band. Vielmehr akzeptierten Armenier auch die neue Herrschaftskonstellation, indem sie selbst nationale Sozialismusinterpretationen und Ideen darüber entwarfen, wie das sowjetische Projekt verwirklicht werden sollte.9 Seit den 1960er Jahren, als auch in der gesamten Sowjetunion die Betonung des Nationalen einen Aufschwung erfuhr, versuchten vor allem armenische Intellektuelle, konkret und aktiv an den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Land unter den sozialistischen Rahmenbedingungen mitzuwirken. Sowohl in kulturellen als auch in politischen Angelegenheiten trugen sie mit Nachdruck und oftmals erfolgreich ihre Wünsche und Bedürfnisse vor und gestalteten auf diese Weise ihre eigene Republik innerhalb der Union.10 Eindrucksvoll zeigt Lehmann auf, wie Armenier zusammen mit Georgiern vehement für den Erhalt ihrer Muttersprache als offizielle Sprache eintraten und mit der Errichtung von Denkmälern armenischer Nationalhelden sowie den Demonstrationen im April 1965 für die Anerkennung des Genozids und die Errichtung eines Genoziddenkmals ihre  7  8   9 10

Suny: Looking toward Ararat, S. 196. Lehmann: Eine sowjetische Nation, S. 40. Ebd., S. 43. Ebd., S. 56.

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nationalen Ansprüche über die Jahrzehnte hinweg markierten. Lehmann deutet dies als Beweis dafür, dass die Armenier es sehr wohl verstanden hatten, in dem durch den Parteistaat vorgegebenen engen Rahmen ihre Interessen erfolgreich durchzusetzen. Das bedeutete zwar nicht, dass sie ihre politische und ökonomische Abhängigkeit vom Unionszentrum als ideal und als erstrebenswert empfanden, aber sie konnten sich damit arrangieren und diesem Machtverhältnis etwas für sich abgewinnen. Schließlich erlaubte ihnen das Regime, sich für den Schutz ihrer Kultur und Sprache einzusetzen – eine Möglichkeit, die ihnen beispielsweise unter der Herrschaft der Türkei verwehrt wurde. Gleichzeitig war weder die Hybridität von Nationalem und Sozialistischem noch die Zugehörigkeit zur Sowjetunion für Armenier eine in Stein gemeißelte Tatsache, die nie wieder aufgelöst werden konnte. Aber solange sie ihre nationalen Interessen durchsetzen konnten, stellte die Sowjetunion für die überwiegende Mehrheit in Armenien in der Tat die beste Alternative dar. Mit den Ereignissen im Jahr 1988 änderte sich dies allerdings, zum einen weil nun auch die selbstbewussten Erwartungen jener, die versuchten sich anzupassen und die an eine bessere Zukunft innerhalb des sozialistischen Modells glaubten, mehr und mehr mit der sowjetischen Wirklichkeit kollidierten. Zum anderen förderten jene Jahre ab 1988, die Lehmanns Studie nicht mehr im Detail beleuchtet, sozio-ökonomische Unzufriedenheit und Missstände zutage, die das Bild einer Sowjetrepublik, die sich mit dem sowjetischen Projekt arrangiert hatte, brüchig werden ließen. Ein Grund für die Enttäuschung über die Reformen war die verfehlte Nationalitätenpolitik. Als Gorbačev seine Reformen entwarf, klammerte er die Nationalitätenpolitik weitestgehend aus. Wie auch seine Vorgänger gab er sich bis Anfang 1988 der Illusion hin, dass das Nationalitätenproblem in der Sowjetunion längst gelöst sei.11 Erst im Juli 1988 gestand er sich und der Regierung das »Fehlen einer realistischen Nationalitätenpolitik der Partei im Verlauf der Jahrzehnte« ein, wofür er umgehend »korrupte Elemente in der Führung einiger Republiken« verantwortlich machte.12 Seine Pläne, überall in der Sowjetunion die politischen Kader auszuwechseln, waren für die Peripherie mit schwerwiegenden Folgen verbunden, die große politische Instabilität hervorriefen. Die unter Brežnev auf Stabilität und Machterhalt ausgerichtete Strategie »Vertrauen in die Kader« hatte den Partei- und Staatsführern in der nichtrussi­schen Periphe11 Das verkündete Gorbačev im Februar 1986, siehe Gorbatschow, Michail: Perestrojka. Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1989, S. 148–153. 12 Zitiert nach Karner, Stefan/Kramer, Mark/Ruggenthaler, Peter/Wilke, Manfred (Hg.): Der Kreml und die Wende 1989, Wien 2014, S. 189 f.

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rie lange Amtszeiten eingebracht. Nach dieser Strategie waren lokale Parteiführer dazu angehalten, besonderen Wert auf Vertrauensbeziehungen untereinander zu legen, was im Grunde aber eine Codephrase für persönliche Arrangements und Schattenwirtschaft war.13 Dies wiederum hatte über die Jahre dazu geführt, dass das Zentrum zunehmend die Kontrolle an die Peripherie abgab. Gerhard Simon prägte hierfür den Begriff der »schleichenden Dekolonialisierung« – der langsamen politischen und ideologischen Separation der Republiken vom Zentrum in Moskau.14 Diese wollte Gorbačev rückgängig machen und die Republiken durch mehr Föderalismus wieder an das Zentrum binden. Dafür musste er zunächst alte Kader gegen neue austauschen, die ganz im Sinne der Perestrojka agieren würden. Der Machtwechsel der Kader führte in Armenien zu einem für den politischen Zusammenhalt gefährlichen Machtvakuum, das wiederum die Vulnerabilität der kleinen Sowjetrepublik erhöhte, da die dadurch entstandenen politischen Konflikte den Staatsapparat belasteten. In Armenien wurde die Kritik an der Kommunistischen Partei und Gorbačevs Wunsch nach einem Kaderwechsel einerseits von den Partei- und Regierungs­ angehörigen in der Republik selbst vorangetrieben, andererseits aber auch durch in Moskau orchestrierte negative Presseberichte über die armenische Politik unterstützt. Auf dem Plenum der Kommunistischen Partei Armeniens im Juli 1987 sprach der Erste Parteisekretär des Distrikts Hrazdan, Hayk K’ot’anȷˇyan, über das Wachsen der »Schattenwirtschaft« in Armenien, an dem ihm zufolge kein anderer als der Erste Parteisekretär der Kommunistischen Partei Armeniens, Karen Demirčyan, Schuld trug, so dass K’ot’anȷˇyan dessen Ablösung forderte.15 Im Laufe der zweiten Hälfte des Jahres griff diese Kritik auch in den höchsten Reihen der Parteiführung um sich, so dass im Dezember 1987 schon der Vorsitzende der gesamten Parteikommission Schattenwirtschaft und Bestechung unter Demirčyan anprangerte.16 Das weist auf die große Verunsicherung und Instabilität im sowjetarmenischen Partei- und Regierungsapparat hin. Dieser zerfiel nunmehr, wie auch in den anderen Sowjetrepubliken, in Befürworter und Kritiker der Gorbačev’schen Reformen. Dabei hing die jeweilige Tendenz 13 Zu »Doverie k kadram« siehe jüngst: Gorlizki, Yoram: Too Much Trust: Regional Party Leaders and Local Political Networks under Brezhnev, in: Slavic Review 69 (2010) 3, S. 676–700; Halbach, Uwe: Nationalitätenfrage und Nationalitätenpolitik, in: Stefan Plaggenborg (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands. Band 5: 1945–1991. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetumion, II. Halbband, Stuttgart 2003, S. 659–786, hier S. 666. 14 Halbach: Nationalitätenfrage und Nationalitätenpolitik, S. 666. 15 Suny: Looking toward Ararat, S. 196; Jakoby: Geopolitische Zwangslage, S. 166. 16 Kommunist (ArSSR) 297, 27.12.1987, S. 1.

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nicht nur davon ab, ob und wie viel sie von der Korruption profitiert hatten. Vermutlich befürchteten einige, nicht zur richtigen Zeit auf der richtigen Seite zu stehen, und erhofften sich durch Kritik an der Politik Demirčyans unter einer neuen reformorientierten Regierung Vorteile. Andere aber hatten vielleicht tatsächlich genug von der Vorteilswirtschaft, die nur Stagnation für Armenien zur Folge hatte. Durch die neue Kaderpolitik entstand in vielen Republiken, insbesondere in Armenien, ein Machtvakuum, das den Gegnern des »alten Denkens« in die Hände spielte, als sie ihre eigenen nationalen Interessen durchsetzen wollten.17 Die dadurch erodierende politische Ordnung schuf schon im Vorfeld der Massenbewegungen einen idealen Nährboden für bis dahin versteckt gehaltene dissidentische und nationalistische Anliegen. Die Öffnung innerhalb des Partei- und Regierungsapparates ging mit der Öffnung in der armenischen Gesellschaft einher. Kritik am Umgang mit der armenischen Sprache brachten Intellektuelle auch schon weit vor 1987 zum Ausdruck, aber erst mit den Reformen und dem Sichtbarwerden der Brüche innerhalb des Partei- und Regierungsapparates trugen Intellektuelle ihre Unzufriedenheit darüber auch in der Öffentlichkeit vor. Insbesondere wehrten sie sich gegen die Dominanz des Russischen und forderten mehr Unterstützung für das Armenische an den Schulen.18 Auch die Aufarbeitung und Repräsentation armenischer Geschichte hielten Intellektuelle für mangelhaft. So beschwerte sich der Leiter der Abteilung für Kaukasusforschung an der Akademie der Wissenschaften in einem Zeitungsartikel über fehlende Fachkräfte und mangelhaftes Wissen in Bezug auf die armenische Geschichte.19 In den nationalen Interessen vieler armenischer Intellektueller verbanden sich verschiedene Faktoren, die zusammen ein sehr hohes Mobilisierungspotenzial hatten. Das höchste Mobilisierungspotenzial konnte dabei die Problematik des Umweltschutzes entwickeln, da sie, im Gegensatz zu den nationalen Fragen betreffend Sprache, Kultur und Geschichte, nicht nur an den Schreibtischen armenischer Intellektueller besprochen wurde. Umweltverschmutzung war überall sichtbar und betraf jeden, unabhängig von gesellschaftlicher Stellung, Beruf oder Geschlecht. Für den Kampf um mehr Selbstbestimmung eignete sich dieses Thema gut, da die Republik so die wirtschaftliche Ausbeutung Moskaus auf Kosten der ökologischen Gesundheit ihres nationalen Territoriums illustrieren konnte. Die Diskussionen um einen besseren Umweltschutz wurden daher bereits als Surrogat für eigentli17 Suny: Looking toward Ararat, S. 196 f. 18 Pravda 127, 07.05.1987, S. 3. 19 Kommunist 7, 09.01.1988, S. 3.

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che nationale Anliegen, als »Öko-Nationalismus« bezeichnet.20 Danach haben Sowjetarmenier sich nicht zwingend für Umweltfragen interessiert, sondern diese nur genutzt, um die Karabachfrage zu thematisieren.21 Dem war jedoch nicht ausschließlich so. Während der Schutz der Umwelt – oder vielmehr der Gesundheit der Bevölkerung – Intellektuellen als eines von vielen Symptomen des überholten sowjetischen Systems galt, ist die Luftverschmutzung seit den 1970er Jahren ein ernsthaftes Anliegen einer Gruppe armenischer Naturwissenschaftler gewesen. Dass die Karabachfrage ab März 1988 eine größere Mobilisierungskraft besaß als die Luftverschmutzung, lag vor allem an dem politischen Geschick der Akteure sowie an der Verdichtung der Ereignisse, die in den folgenden Abschnitten genauer untersucht werden. Schon in den 1950er Jahren wurde deutlich, dass für die rapide Industrialisierung in Armenien die Gesundheit der Bevölkerung einen hohen Preis zu zahlen hatte.22 Dennoch nahm die Umweltverschmutzung rasant zu und als 1968 der Bau eines Atomkraftwerks beschlossen wurde, setzten sich armenische Wissenschaftler mit einer ersten offiziellen Protestnote für den Schutz der Umwelt und der Gesundheit der armenischen Bevölkerung ein.23 Im Laufe der 1970er Jahre, insbesondere nach der UN-Weltumweltkonferenz 1972 in Stockholm, entwickelte sich unter Naturwissenschaftlern in der ganzen Sowjetunion ein aktives Engagement für den Schutz der Umwelt. Sie unterrichteten an Universitäten und betrieben Kampagnen zur Steigerung des Umweltbewusstseins – so auch in Armenien. Die Expertise der armenischen Umweltschützer wurde mit der Zeit von der armenischen Regierung ernst genommen und bei Entscheidungsfindungen im Kampf mit dem Unionszentrum berücksichtigt. So entbrannte nach der Fertigstellung des ersten Reaktorblocks im Atomkraftwerk Metsamor 20 Jane Dawson prägte hierfür den umstrittenen Begriff »Eco-nationalism«, in: Dawson, Jane I.: Anti-nuclear activism in the USSR and its successor states: A surrogate for nationalism?, in: Environmental Politics 4 (1995) 3, S. 441–466. 21 Siehe hierfür insbesondere Dawson: Anti-nuclear activism. 22 Siehe den Erlass des Sowjetischen Ministerrates von 1956, der sich aufgrund der Umweltverschmutzung gegen die Erweiterung der chemischen Produktion in Jerewan aussprach. Zitiert in: HAA f. 1339, op. 1, d. 5, l. 30–36, Schreiben Hakop Sanasaryans vom 7. November 1988 an unbekannte Person. 23 Der Protestbrief, unterschrieben von 24 armenischen Wissenschaftlern, wird zitiert in der Rede von Chatč’ik Stambolc’yan auf einer Demonstration am 5. August 1988 in Jerewan, HAA f. 1678, op. 1, d. 1, l. 7, Transkript der Rede, und in einem Interview mit Hakop Sanasaryan, einem damaligen Umweltaktivisten und heutigem Leiter der Union der Grünen in Armenien, siehe Mkrtchyan, Gayane: In the Shadow of Chernobyl: Armenia, EU locked in debate over aging nuclear power plant, in: http://armenianow.com/special_issues/ecology/6357/ in_the_shadow_of_chernobyl_armenia vom 28. April 2006 [18.06.2015].

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Anfang der 1980er ein Streit zwischen Moskau und Jerewan um das Anlegen einer Deponie für radioaktiven Abfall. Moskau wollte in Armenien eine regionale Endlagerungsstätte für radioaktiven Müll aus Georgien, Aserbaidschan und Armenien einrichten, in der auch medizinischer und toxikologischer Müll aus der Landwirtschaft abgelagert werden sollte. Als besonders problematisch sahen Wissenschaftler damals an, dass der Müll in 30 Metern Tiefe unkontrolliert unter Gesteinsschichten gelagert werden sollte. Zusammen mit Experten und Regierungsvertretern konnte sich Armenien gegen Moskau durchsetzen und die Errichtung einer permanenten Endlagerungsstätte für den Kaukasus verhindern.24 Dieser Sieg stellte für die armenische Politelite gleichzeitig eine Gelegenheit dar, ihre kritische Einstellung gegenüber Moskaus Machtmonopol sowie ihren Willen zu einer Mitgestaltung ihrer Republik aufzuzeigen. Im Zuge der Perestrojka-Reformen weiteten sich die Umweltproteste aus und fanden auch in der armenischen Politelite Gehör. Ende März 1986 unterzeichneten 350 Intellektuelle, darunter Kulturschaffende, Wissenschaftler, Studenten und Ingenieure, eine Petition mit der Forderung, das Atomkraftwerk Metsamor, welches sich nur wenige Kilometer außerhalb Jerewans befand, zu schließen sowie vier chemische Fabriken umzulagern. Sie machten in ihrem Schreiben das Atomkraftwerk und die Fabriken für den Anstieg von Krebserkrankungen und Fehlgeburten verantwortlich.25 Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl wurden die Sorgen der armenischen Umweltaktivisten nun auch von einer breiten Gesellschaftsschicht in Armenien sowie von der obersten Parteielite geteilt, weshalb im März 1987 Demirčyan den Stopp des Baus des zweiten Reaktorblocks verkündete.26 Zudem gab er dem Druck der Umwelt­bewegung nach und versprach gleichzeitig, dafür zu sorgen, die Herstellung des für die Umwelt und den Menschen gefährlichen Kalziumkarbids in der Kautschuk­fabrik »Nairit« anzuhalten, was eine enorme Reduzierung des Schadstoffausstoßes bedeutete.27 Diese Rede Demirčyans auf dem Märzplenum 1987 war zwar eine Reaktion auf das Samizdatschreiben der 350 Intellektuellen. Doch das Zugeständnis an die armenische Umweltbewegung war auch ein Instrument, um gegen Moskaus 24 Interview mit Karine Danielyan (*1947), Jerewan, 10.06.2015. 25 Brief vom 31. März 1986 in RFE/RL Archiv AS 5822. Siehe auch Fuller, Elizabeth: Mass Demonstration in Armenia Against Environmental Pollution, in: Radio Liberty Research, RL 421/87, 18.10.1987; Fuller, Elizabeth: Is Armenia on the Brink of an Ecological Disaster?, in: Radio Liberty Reserach, RL 307/86, 05.08.1986. 26 Siehe Fuller, Elizabeth: Armenian Authorities Appear to Yield to Ecological Lobby, in: Radio Liberty Reserach, RL 130/87, 30.03.1987; HAA 1/ 81/ 24, l. 130–138, Erlass des Ministerrates der UdSSR zum Baustopp des Reaktorblocks vom 1. Juli 1987. 27 Siehe Fuller: Mass Demonstration, S. 2.

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Reformen und seine rabiate Kaderpolitik vorzugehen, aus der Demirčyan als Verlierer hervorging. Ein Großteil der Produktionsstätten, darunter Metsamor und die Kautschukfabrik »Nairit«, die grundlegende Komponenten militärischer Ausrüstung herstellte, unterlagen den zentralen Ministerien in Moskau, so dass die Entscheidungen über ihre Schließung nicht auf lokaler Ebene getroffen wurden.28 Die armenische Regierung hatte daher kaum Weisungsbefugnisse oder Mitspracherechte. Mit Entscheidungen und Forderungen, die Fabrik zu verkleinern und Teile von ihr stillzulegen, konnte sie aber ein Zeichen gegen Moskau setzen, in der Hoffnung, Gorbačev möge unter diesem Druck nicht alle Perestrojka-Feinde, wie Demirčyan es einer war, beseitigen. Den sich abzeichnenden Konflikt zwischen Demirčyan und Gorbačev nahmen auch die armenischen Intellektuellen wahr, die einen Moment der politischen Instabilität suchten, um ihre Interessen durchzusetzen. Am 16. Oktober 1987, nur zwei Monate nach dem Juliplenum, auf dem K’ot’anȷˇyan die Ablösung Demirčyans gefordert hatte, organisierte eine Gruppe von Historikern die erste Umweltschutzdemonstration in der Armenischen SSR. Aus den ­Umweltthemen wurden blitzartig politische Forderungen, welche die politische Stabilität in Armenien weiter ins Wanken brachten. Die Organisatoren jener ersten Umweltproteste waren Oppositionelle, deren Anführer teilweise schon Anfang der 1980er wegen staatsfeindlicher Äußerungen im Gefängnis gesessen hatten. Ihre Agenda umfasste neben der Forderung nach einem besseren Umweltschutz auch die Forderung nach mehr Schutz der armenischen Sprache und der inneren armenischen Diaspora, die Forderung nach der »historische[n] Wahrheit über Armeniens Geschichte« und nach der Stärkung der Apostolischen Kirche; Fragen und Themen also, die sich wie Teile der Gorbačev’schen Reformen selbst lesen ließen.29 Ihr großes, übergeordnetes Ziel war jedoch die Unabhängigkeit Armeniens, für die einige der Mitglieder bereits seit Anfang der 1980er Jahre vergeblich eintraten.30 Unter den Protestierenden befand sich eine ganze Reihe unterschiedlich motivierter Teilnehmer, wie beispielsweise eine Gruppe, die sich für die Eingliederung Bergkarabachs in die Armenische SSR einsetzte. Heimlich verteilte diese Gruppe auf der Umweltdemonstration Flugblätter mit Informationen über Bergkarabach und ergänzte so die natio-

28 Geukjian, Ohannes: Ethnicity, Nationalism and Conflict in the South Caucasus. Nagorno-­ Karabakh and the Legacy of Soviet Nationalities Policy, Farnham 2012, S. 135. 29 Aus der Broschüre Maštoc‘, Juli 1988, S. 3. 30 Aus dem Interview mit den beiden Organisatoren Aršak Banowč’yan (*1963) und Tigran Paskevičyan (*1959), Jerewan, 04.06.2015.

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nalen Ansprüche um die Territorialfrage.31 Ihr Versuch, eine eigene Protestaktion am Tag nach den erfolgreichen Umweltprotesten ins Leben zu rufen, nachdem bekannt geworden war, wie Aserbaidschaner Armenier im Dorf Čardachlu angegriffen hatten, scheiterte jedoch.32 Die Polizei trieb diese ersten Karabachprotestanten brutal auseinander, um ein Zeichen zu setzen: Umwelthemen waren politisch akzeptabel, Territorialfragen keineswegs. Die Umweltproteste waren im Sinne beider Parteisekretäre gewesen: Demirčyan hoffte, auf diesem Wege Moskau seine Macht beweisen zu können, und Gorbačev hoffte, auf diese Weise erfolgreich gegen Perestrojka-Feinde, wie Demirčyan einer war, vorgehen zu können. Aber keiner von beiden hatte Interesse an einem Aufkommen der Karabachfrage. Zu sehr hätte eine Thematisierung der Territorialfragen das sowjetische System und somit sie selbst infrage gestellt und zu groß war die Gefahr für Gorbačev, dass Bergkarabach zum Präzedenzfall für andere Sowjetrepubliken würde. In seinen Memoiren erinnert sich Suren Harut’yunyan, der im Mai 1988 die Nachfolge von Karen Demirčyan antrat, dass im armenischen Politbüro große Ratlosigkeit über die Karabachfrage herrschte: »Es gab keine Position, es gab keine Plattform, jeder [aus der Republikführung] hat die Situation dem Volk von seinem eigenen Standpunkt aus erklärt, abhängig von seinem Wissen über das Problem. […] Es blieb offenbar nur, schweigend dem Volk zuzustimmen.«33 Diese Uneinigkeit und Positionslosigkeit innerhalb der armenischen Regierung trug unweigerlich zur Eskalation der Ereignisse bei. Von dem Ausbleiben einer Strafe nach der ersten Umweltdemonstration, insbesondere aber vom zunehmenden Chaos im sowjetarmenischen Partei- und Regierungsapparat motiviert, organisierte dieselbe Gruppe, die auch schon die erste Umweltdemonstration im Oktober 1987 durchgeführt hatte, vier Monate später am 18. Februar 1988 die erste Massendemonstration in der Sowjetunion mit über 20.000 Teilnehmern. Diese Demonstration stand zwar ebenfalls unter dem Motto des Umweltschutzes, was durch Plakataufschriften wie »Eine chemische Fabrik ist eine chemische Waffe«34 deutlich wurde. Viele gingen aber auch mit, um ihrer Unzufriedenheit über niedrige Gehälter und schlechte Wohnbedingungen Ausdruck zu verleihen.35 Für die Organisatoren war das endgültige Ziel anscheinend schon damals die Unabhängigkeit von der Sowjetunion, 31 Ebd. 32 Dudwick, Nora: Armenia: The Nation Awakens, in: Ian Bremmer/Ray Taras (Hg.): Nation and Politics in the Soviet Successor States, Cambridge 1993, S. 261–287, hier S. 275. 33 Arutunjan, Suren G.: O prošlom i nastojaščem, Moskau 2009, S. 116. 34 Foto der Demonstration aus dem Privatbesitz von Tigran Pasekvičyan. 35 Interview mit Aršak Banowč’yan (*1963), Jerewan, 04.06.2015.

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wie sie in einem Interview erinnern.36 Die Forderung nach besserem Schutz der armenischen Umwelt eignete sich, ähnlich wie die Forderung nach dem Erhalt der armenischen Sprache, dafür, die Bevölkerung für das Ziel der Organisatoren zu mobilisieren. Auf vielen folgenden Demonstrationen, bei denen die Umwelt bereits in den Hintergrund gerückt war, nutzten Plakatmaler und Redner die Verknüpfung von Nationalismus und Umwelt, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Der Vorwurf an den Kreml, die Ansiedlung der Chemieindustrie und die Erbauung des Atomkraftwerks in der Nähe Jerewans seien ein von Moskau initiierter »biologischer Genozid« gewesen, war eines der prägnantesten Beispiele.37 Wie bei der Angst um die Verdrängung der eigenen nationalen Sprache ging es hier um die durch die Genoziderfahrung fortwährende Angst vor der Auslöschung der armenischen Nation.38 Das Bild des Kernkraftwerks als Mörder der armenischen Nation war eindringlicher als eines der Russifizierung, da es die kontinuierliche, seit Jahrzehnten konstruierte Bedrohung ihrer Existenz illustrierte.39 Jene Demonstration im Februar 1988 wurde nicht nur dafür genutzt, Meinungen über den Umweltschutz und die sozialen Lebensbedingungen zum Ausdruck zu bringen, sondern auch dafür, Informationen über die parallel dazu stattfindenden Ereignisse in Bergkarabach zu verbreiten. Dort streikten schon seit Anfang Februar 1988 armenische Arbeiter und Abgeordnete stimmten am 20. Februar 1988 für die Angliederung Bergkarabachs an Sowjetarmenien.40 Noch nie zuvor hatte ein regionaler Rat auf so direktem Wege die offizielle Parteipolitik infrage gestellt. Diese Abstimmung war letztendlich der Auslöser für die nachfolgende Welle von Protesten und der Grundstein für die Entstehung der Karabachbewegung. Denn vor den Massenstreiks in Bergkarabach und der Abstimmung wussten nur die wenigsten Armenier etwas über die Problematik in der Enklave. Der zeitliche Zusammenfall der Umweltdemonstration mit der 36 Ebd. 37 Im Brief der 350 Intellektuellen vom März 1986 über die Schließung Metsamors wird der armenische Begriff »ełer˙n« verwendet, der übersetzt so viel bedeutet wie Massaker, Straftat, Verbrechen. Mit diesem Begriff bezeichneten Armenier Anfang des 20. Jahrhunderts den Genozid. Siehe auch Poster vom 24.04.1988 »Das Atomkraftwerk ist die Verlängerung von 1915«, in: Marutyan, Harutyun: Iconography of Armenian Identity. Volume 1. The Memory of Genocide and the Karabagh Movement, Jerewan 2009, S. 253. 38 Dudwick: Memory, S. 98. 39 Ebd., S. 91. 40 Für eine detaillierte Übersicht der Ereignisse in Bergkarabach 1988 siehe de Waal: Black Garden; Suny: Looking toward Ararat; Dudwick: Armenia: The Nation Awakens; Mouradian, Claire: De Staline à Gorbatchev, histoire d’une république soviétique, l’Arménie, Paris 1990.

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Streikwoche in Bergkarabach beschleunigte die Mobilisierung für die Karabachfrage, welche nun eine wesentlich stärkere Mobilisierungskraft hatte als der Umweltschutz. Schließlich ging es nun um Repressionen und Benachteiligungen für Armenier durch die aserbaidschanische Politelite in Bergkarabach. Die Assoziation mit dem Genozid 1915 war schnell hergestellt, wie Plakate auf den folgenden Demonstrationen zeigten. In der nachfolgenden Woche gingen abermals Zehntausende Demonstranten in Jerewan auf die Straße – nun zur Unterstützung in der Karabachfrage – und lösten damit eine Protestlawine aus, gegen deren Ausmaß sich die sowjetarmenische Regierung als schlichtweg machtlos erwies. Gorbačev, noch überzeugt von seiner Linie der Gewaltlosigkeit, verbot zunächst ein gewalttätiges Eingreifen. Das lag jedoch auch daran, dass er hinter den Demonstrationen nichts »Antisowjetisches« vermutete.41 Er verwies darauf, dass »die Massen unter unserem Zeichen, mit den Porträts der Mitglieder des Politbüros«, marschierten.42 Armenier nahmen Perestrojka wörtlich und wussten diese gekonnt für ihre Zwecke einzusetzen. Von den kleinen radikalen Gruppen abgesehen, glaubten schließlich auch die meisten Armenier, ihre nationalen Ziele mit den sowjetischen Plänen Moskaus in Einklang bringen zu können.43 Für viele Armenier bildeten Perestrojka und eine neue Territorialordnung keinen Widerspruch, wie in Interviews mit Zeitgenossen immer wieder hervorgehoben wurde.44 Das verstand auch Gorbačev. Ein gewaltsames Eingreifen hätte die Akzeptanz der Perestrojka-Reformen gefährdet. Dennoch ordnete Gorbačev an, in den sowjetischen Medien gegen die Demonstranten Stellung zu beziehen, um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen und sie öffentlich zu diffamieren. Dies stellte jedoch den Beginn des in der Öffentlichkeit ausgetragenen Machtkampfes zwischen dem Unionszentrum und Armenien dar. Denn die Demonstranten als eine »Gruppe von Menschen« mit »extremistischer Gesinnung«45 zu beschreiben konnte bei den meisten Armeniern nur auf Unverständnis stoßen. Sie fühlten sich in ihrem Anliegen, die Ziele der Perestrojka auf den Weg zu bringen, falsch verstanden. Schnell reagierten sie mit Plakaten wie »Wir sind keine Gruppe. Wir sind eine Nation« und »Eine ganze Nation kann nicht aus Extremisten bestehen«.46 41 RGANI f. 89, op. 42, d. 18, l. 2, Protokoll der Politbürositzung vom 29. Februar 1988. 42 Ebd. 43 Lehmann: Eine sowjetische Nation, S. 365. 44 Interview mit Lewon Abrahamyan (*1947), Jerewan, 26.09.2013. 45 Izvestija 56, 24.02.1988, S. 2. 46 Marutyan: Iconography of Armenian Identity, S. 152.

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Schließlich behaupteten sie von sich, Perestrojka und Glasnost’ ernst genommen zu haben, und wollten ihre Anliegen dementsprechend vortragen. Aber durch die Zuschreibung zu einer »Gruppe« fühlten sie sich als Volk, als der oberste Souverän, nicht ernst genommen, sondern zu Unmündigen erklärt.47 Jene Medienkampagne, die offiziell zwar an Einzelne gerichtet war, am Ende aber von den Armeniern wie eine Bestrafung für die gesamte Bewegung gedeutet wurde, enttäuschte viele von deren Anhängern. Die Beziehung zwischen Moskau und Armenien bekam hier einen ihrer ersten tiefen Risse. Sowjetarmenien, nun nicht mehr nur einer stabilen Regierung auf Republikebene beraubt, sondern auch Zielscheibe einer Hetzkampagne, stand plötzlich im Konflikt mit seinem übergeordneten Zentrum und Schutzpatron und befand sich am Vorabend der Naturkatastrophe auf dem Weg in ein politisches Chaos. Moskau jedoch, überrascht von der schnellen Entwicklung der Ereignisse, blickte wie paralysiert auf die gesellschaftliche Entwicklung in der Peripherie seines Imperiums und sorgte so langfristig dafür, dass sich die armenische Bevölkerung schrittweise von Moskau entfernte.

3.2 Sumgait – die Explosion des Ethnischen Die Unfähigkeit Moskaus, auf die Ereignisse adäquat zu reagieren, zeigte sich auf besonders brutale Weise bei den Ereignissen in Sumgait. Die damals zweitwichtigste Stadt Aserbaidschans, nördlich von Baku gelegen, sollte einst zum Modell einer modernen internationalistischen Arbeiter- und Industriestadt werden, in der junge Sowjetbürger durch ihre Mitarbeit in den Fabriken einen Beitrag zum sozialistischen Projekt leisteten. »Die Stadt der Ehre des Komsomol«, wie sie aufgrund des niedrigen Durchschnittsalters und der ethnischen Heterogenität ihrer Bevölkerung genannt wurde, beherbergte bezeichnenderweise das größte Museum Aserbaidschans, das dem Thema »Internationale Freundschaft« gewidmet war.48 Aus jenem Traum des Internationalismus war jedoch ein sowjetischer Albtraum geworden. Die kleine Siedlung füllte sich nach 1945 vor allem mit politischen Gefangenen aus den Gefängnissen Stalins, mit Aserbaidschanern, die in Armenien Platz für die armenischen Repatrianten machen sollten, und mit mittellosen armenischen Arbeitsmigranten aus Bergkarabach,

47 Siehe auch Lehmann: Eine sowjetische Nation, S. 373. 48 Marutyan: Iconography of Armenian Identity, S. 93.

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die bis 1988 knapp 20.000 der Einwohner Sumgaits ausmachten.49 Bis zu den 1980er Jahren stieg die Stadtbevölkerung auf eine viertel Million Einwohner an, von denen die meisten zusammengepfercht in kleinen Wohnungen hausten. Die chemische Industrie in und um Sumgait bescherte der Stadt das Zertifikat für die Stadt mit der schlimmsten Umweltverschmutzung in der gesamten Sowjetunion. Die Stadt war so vergiftet, dass es einen speziell angelegten Kinderfriedhof gab, um angesichts der hohen Kindersterblichkeit Platz für die Leichen zu schaffen.50 Jeder fünfte Einwohner hatte eine Vorstrafe, insgesamt wohnten mehr als 2000 ehemalige Gefangene in der Stadt.51 Als Reaktion auf die Proteste in Bergkarabach und in Jerewan im Februar 1988 demonstrierten auch in Aserbaidschan Tausende zunächst friedlich gegen Armeniens Annexionspläne. Nach ihrem Verständnis gab es keinen Zweifel an der Zugehörigkeit Karabachs zu Aserbaidschan. In Sumgait eskalierten die Ereignisse jedoch. Unter bisher ungeklärten Umständen schaukelte sich die Stimmung in der Stadt am 27. Februar hoch und mündete schließlich in einem Pogrom. Eine wütende Meute junger Aserbaidschaner stürmte die von Armeniern bewohnten Wohnungen in Sumgait, schlug brutal auf sie ein, erstach sie oder warf sie lebend aus den Fenstern. Manche Armenier wurden durch Axthiebe so verstümmelt, dass sie später nicht mehr identifiziert werden konnten. Frauen wurden vergewaltigt und bei lebendigem Leibe angezündet.52 Dieses Ausmaß an Gewalt zwischen zwei Ethnien innerhalb der Sowjetunion war bis dahin präzedenzlos. Die aserbaidschanische Polizei aus Sumgait griff nicht ein, sondern schaute zunächst tatenlos zu, was die Gewalttäter vermutlich zusätzlich zum Weitermachen ermunterte.53 Anstelle der Behörden und der Polizei halfen einige aserbaidschanische Stadtbewohner, indem sie die flüchtenden Armenier bei sich unterbrachten. Teilweise half auch der Komsomol, der Armenier im Sumgaiter Palast der Kultur in Sicherheit brachte.54 Aus Baku kam die erste offizielle Unterstützung erst am Abend des 28. Februar, zu einer Zeit also, als das ­Pogrom bereits einen Tag seinen Lauf genommen hatte. Die sowjetischen Soldaten trafen auf aserbaidschanische Männer, die mit selbst gefertigten Waffen ausgestattet waren. Infolge der brutalen Auseinandersetzung mit diesen trugen etwa 100 Soldaten 49 De Waal: Black Garden, S. 31; Marutyan: Iconography of Armenian Identity, S. 93. 50 De Waal: Black Garden, S. 32. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 34. 53 Ebd.; Moskovskie novosti 21, 22.05.1988, S. 4. 54 De Waal: Black Garden, S. 36.

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Verletzungen davon. Aus Moskau hatten die Soldaten die Anweisung erhalten, nicht mit scharfer Munition zu schießen, wodurch ein Blutbad vermieden wurde.55 Dennoch fielen in den zwei Tagen 32 Armenier und sechs Aserbaidschaner den Pogromen zum Opfer; 400 Personen wurden festgenommen.56 Als Konsequenz der Gewalt flüchteten in den nächsten Tagen rund 14.000 Armenier aus Sumgait und Baku nach Armenien oder nach Russland. Zur gleichen Zeit dachte die sowjetische Führung im Politbüro darüber nach, ob sie nun die Armee dorthin entsenden sollte, damit die Ausschreitungen nicht auf andere Städte übergriffen. Das Verteidigungsministerium entsandte schließlich eine geringe Anzahl von Soldaten und verhängte zusätzlich eine Ausgangssperre in Sumgait. Das Sitzungsprotokoll des Politbüros aus diesen Tagen machte deutlich, wie weit sich der Generalsekretär von den realen Umständen an der Peripherie entfernt hatte. Denn in der Diskussion mit seinen Kollegen im Politbüro vertrat er zwar weiterhin den Weg der Gewaltfreiheit und schlug vor, die »Arbeiterklasse, das Volk, die Freiwilligen in den Kampf mit den Kriminellen« nach Sumgait zu senden, da »Soldaten Feindseligkeiten provozieren«.57 Er übersah dabei jedoch, dass es genau jene frustrierten Arbeiter aus der vergifteten Industriestadt Sumgait gewesen waren, die das Pogrom angezettelt hatten.58 Und so entsandte er zwar unwillig Soldaten nach Sumgait, glaubte gleichzeitig aber immer noch daran, durch die Einberufung eines »Plenums zur Nationalitätenfrage«, für welches er schon auf der Parteisitzung Mitte Februar 1988 geworben hatte, das Problem der ethnischen Konflikte aus dem Weg räumen zu können.59 Zur Konfliktbewältigung schlug er zudem vor, die kulturellen Kontakte zwischen den beiden Republiken zu vertiefen. Denn auf der Politbürositzung stellte Gorbačev überrascht fest, dass Verbindungen zwischen den Republiken im Grunde nur über Moskau liefen, aber kaum direkt. Diese in der Sowjetunion seit ihrer Gründung geübte Praxis wollte er nun durchbrechen und so schlug er vor, Vertreter aus beiden Republiken im Zentral­komitee der Kommunistischen Partei zusammenzubringen, auch wenn sie sich dann »gegenseitig aufessen« würden.60 Aber, so Gorbačev weiter, irgendwie müssten 55 Ebd., S. 37. 56 Zu den Opferzahlen gibt es verschiedene Angaben. De Waal und Suny gehen von 32 bzw. 31 Mordopfern aus. 57 RGANI f. 89, op. 42, d. 18, l. 8, 9, Protokoll der Politbürositzung vom 29. Februar 1988. 58 De Waal: Black Garden, S. 39. 59 Libaridian, Gerard J. (Hg.): The Karabagh File. Documents and Facts on the Region of Mountainous Karabagh 1918–1988, Cambridge, Toronto 1988, S. 65. 60 RGANI f. 89, op. 42, d. 18, l. 6, Protokoll der Politbürositzung vom 29. Februar 1988.

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sie nun auch die »menschlichen Verbindungen zwischen den Völkern entwickeln«.61 Eine Strategie für das Nationalitätenproblem fehlte weiterhin. Sumgait war für das Politbüro auch ein Anlass, erneut ernsthaft über die Führung in beiden Republiken nachzudenken. Verunsichert stellte Gorbačev fest, dass sich die Kommunistische Partei Sowjetarmeniens weit von Moskaus Zielen entfernt habe und nun nach den Ereignissen in Sumgait noch stärker hinter dem demonstrierenden Volk stehe.62 Schon während der ersten Massendemonstrationen im Oktober 1987 und dann im Februar 1988 war bekannt geworden, dass der Erste Parteisekretär Sowjetarmeniens, Karen Demirčyan, seine Aufgabe, die Massen zu kontrollieren, nicht zur vollsten Zufriedenheit Gorbačevs erfüllt hatte. Die beiden armenischen Intellektuellen Silv’a Kapitikian und Zori Balayan hatten Gorbačev in einem Gespräch kurz nach den Ereignissen in Sumgait jedoch davor gewarnt, Karen Demirčyan direkt im Anschluss an diese zu entlassen, damit er nicht zu einem Märtyrer werde.63 In der Konsequenz wurde er erst im Mai 1988 gegen Suren Harut’yunyan ausgetauscht, den Gorbačev für standfester und loyaler hielt, weil er schon seit einigen Jahren für die Parteizentrale in Moskau tätig gewesen war. Aus Angst vor weiterer Instabilität verschwiegen die sowjetischen Medien das Pogrom zunächst weitestgehend. Die Mitglieder des Politbüros waren sich darin einig, dass es unklug sei, über die Ereignisse im Detail zu berichten.64 Stattdessen sollte, wie sonst in kleinen und mittelschweren Krisenmomenten, nur über die bereits ausgehandelten Erfolge berichtet werden, nicht jedoch über mögliche Schwierigkeiten im Prozess. Drei Tage nach den Ereignissen in Sumgait erfuhr auch die sowjetische Öffentlichkeit durch eine kurze Mitteilung in der Pravda davon. Demnach hatte in Sumgait »eine Gruppe von Hooligans Unordnung provoziert.«65 Im anschließenden Satz fanden die sofort getroffenen Maßnahmen zur Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung und die strafrechtlichen Ermittlungen Erwähnung. Damit ordneten die sowjetischen Medien die ethnisch motivierte Gewalt einiger weniger »labiler und unreifer Menschen«66 in die Reihe alltäglicher Pöbeleien ein, die sich so überall in der Sowjetunion hätten zutragen können, und verharmlosten auf diese Art in der sowjetischen Öffentlichkeit das brutale Massaker mit nationalistischem Hinter61 Ebd. 62 Ebd., l. 5. 63 Ebd. 64 Ebd., l. 10. 65 Pravda 61, 01.03.1988, S. 2. 66 Pravda 65, 05.03.1988, S. 2.

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grund. Einige Monate später, ab Mai 1988, erschienen mehr und mehr Artikel, in denen zumindest im Ansatz die Brutalität des Pogroms zum Vorschein kam. Das lag zum einen daran, dass das Thema in Armenien weiterhin auf der Agenda der nationalen Bewegung stand, zum anderen daran, dass die durch das P ­ ogrom zutiefst verunsicherte Bevölkerung Informationen verlangte. Artikel veröffentlichten nun auch die Anzahl der Todesopfer und der Verletzten. Manche Journalisten beschrieben zudem in wenigen Zeilen, wie Armenier sich angstvoll hinter ihren Türen versteckten, die Angreifer dann am Ende aber doch besiegen konnten.67 Vor allem kritisierten Journalisten die Langsamkeit der Sumgaiter Polizei und später dann die der sowjetischen Gerichte.68 Damit schrieben sie über das ­Pogrom ganz im Sinne von Glasnost’, indem sie vor allen Dingen den staatlichen Verwaltungsapparat ins Visier nahmen, ohne dabei jedoch auf die tatsächliche Schärfe der Problematik einzugehen. Denn die massiven Flüchtlingsströme sowie das Ausmaß der Gewalt wurden nicht erwähnt. Das führte zu Gerüchten über die tatsächliche Anzahl der Todesopfer und stimmte Armenier gegenüber der sowjetischen Regierung misstrauisch. Nach manchen Vermutungen gab es bis zu 450 Todesopfer.69 Insbesondere die durch die fehlenden Informationen ausgelösten Verschwörungstheorien über die Drahtzieher des Pogroms vertieften die Gräben zwischen Armenien und Moskau und sorgten so für weitere Instabilität und Zwietracht in der Region.70 Glasnost’ wurde hier, wie auch bei späteren Ereignissen im Zusammenhang mit der Karabachfrage, ausschließlich dafür verwendet, für die Reformen zu werben und weiterhin politische Kommunikation im Sinne der Kommunistischen Partei zu betreiben, nicht aber, um zu informieren. Für den Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR, Nikolai Ryžkov, schienen Glasnost’ und Propaganda fast identisch zu sein, wenn er auf der Politbürositzung im März 1988 ausrief, dass man sich nach dem Pogrom der »Glasnost’, [also] der Propaganda bedienen« müsse, um das Problem in Bergkarabach in den Griff zu bekommen.71 Das bedeutete nichts anderes, als Medien gezielt zur Beeinflussung der Bevölkerung einzusetzen – Glasnost’ war nicht mit Pressefreiheit im westlichen Sinne gleichzusetzen. Auch wenn diese Art der Berichterstattung letztlich die friedliche Absicht hatte, beide Völker miteinander zu versöhnen, hatte sie den gegenteiligen Effekt.

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Moskovskie novosti 21, 22.05.1988, S. 4 Ebd.; Izvestija 234, 20.08.1988, S. 2. De Waal: Black Garden, S. 41. Ebd., S. 44. RGANI f. 89, op. 42, d. 19, l. 5, Protokoll der Politbüroversammlung vom 24. März 1988.

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Denn die Menschen in Armenien gingen jetzt erst recht in Jerewan auf die Straßen. Sie stellten das Pogrom in einen größeren Zusammenhang, indem sie erneut auf den Genozidvergleich zurückgriffen. So sahen einige Sumgait als den Beginn eines neuen Genozids, was sie mit Bannern und Plakaten beim Trauermarsch für die Opfer von Sumgait am 8. März deutlich zum Ausdruck brachten.72 Auf Plakaten stellten sie Parallelen zum 1915 an den Armeniern begangenen Völkermord her, indem sie die beiden Jahreszahlen »1915« und »1988« in Verbindung brachten und Fotografien armenischer Intellektueller hochhielten, die 1915 ermordet worden waren.73 Am Jahrestag des Genozids, dem 26. April 1988, stellten Armenier im Gedenken an Sumgait einen armenischen Kreuzstein (Xačk’ar) neben das Mahnmal für 1915 und rückten beide Ereignisse so in einen unmittelbaren Zusammenhang, ähnlich wie sie es mit dem Plakatspruch »Sumgait ist die Fortsetzung des Genozids von 1915« taten.74 Indem Armenier die Pogrome in die Kategorie Genozid einordneten, verliehen sie den Ereignissen in Sumgait den Status der existenziellen Bedrohung, womit sie gleichzeitig ihre Fürsorgeerwartungen an das sowjetische Zentrum zum Ausdruck brachten. Tat die sowjetische Regierung nichts, um diese Bedrohung ihrer nationalen Existenz zu beseitigen, mussten sie längerfristig nach neuen Alternativen suchen. Um den Genozidvergleich stärker zu untermauern, stellten Demonstranten ab dem Sommer 1988 Moskau mit dem größten äußeren Feind gleich, den die Sowjetunion kannte: dem nationalsozialistischen Deutschland. Ein Poster von November 1988 stellte dar, wie die sowjetische Armee von der SS anhand ihrer Erfahrungen in Buchenwald, Auschwitz und Chatyn hatte lernen können und wie sie dieses Wissen über das Töten dann später auf sowjetischem Territorium gegen Armenier in Masis, Zvart’noc’, Shuša und Stepanakert eingesetzt hatte. Dabei stand Sumgait unter den Orten der von Moskau aus delegierten Gewalt ganz oben auf der Liste. Zum ersten Jahrestag 1989 wurde Sumgait schließlich auf Postern mit den Verbrechen des Stalinregimes, wie dem Großen Terror und den Massendeportationen nach Zentralasien, in Verbindung gesetzt.75 Mit diesen Einordnungen, die das Pogrom von Sumgait in eine Reihe von Völkermorden und Massenverfolgungen stellten, wollten Armenier ihren Opferstatus als kleine hilfsbedürftige Nation erneut bekräftigen. 72 Marutyan: Iconography of Armenian Identity, S. 96. 73 Ebd., S. 96. 74 Cheauré, Elisabeth: Armenien im Oktober 1988. Eine Momentaufnahme, in: Osteuropa 39 (1989) 2–3, S. 199–217, hier S. 201; Marutyan: Iconography of Armenian Identity, S. 96, 100. 75 Ebd., S. 25, 113.

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Andere Plakate rückten die Schuld und Mittäterschaft Moskaus in den Mittelpunkt. So symbolisierte ein Plakat mit zwei Säbeln, die ein Hakenkreuz formten, an dem die sowjetische und die aserbaidschanische Flagge hingen, die vermeintliche (faschistische) Kollaboration zwischen Moskau und Baku. Dieser Behauptung der Komplizenschaft folgend, stellte ein anderes Plakat von Oktober 1988 einen in der Mitte seines Körpers von einem Säbel aufgespießten Armenier dar, der jeweils von der Seite von einem sowjetischen Soldaten und einem Aserbaidschaner festgehalten wird.76 Die dazugehörige Überschrift »Brüderfreundschaft der Völker der UdSSR« deutete dabei mit Sarkasmus auf die Legende von der sowjetischen Völkerfreundschaft hin, die sich nach Meinung der Plakatzeichner mit Sumgait erst recht als Chimäre erwiesen hatte. Plakate vom Frühjahr 1989 thematisierten explizit die von vielen Armeniern so gedeutete Tatenlosigkeit Gorbačevs im Umgang mit Sumgait, indem sie ihn symbolisch als die »drei Affen« darstellten, die nichts hören, sehen oder sagen wollen.77 Besonders schwerwiegend war für viele Armenier Moskaus Versäumnis, die offiziellen Ermittlungen nach den Verantwortlichen voranzutreiben. Da die Gewaltakte in ihren Augen denen der Nationalsozialisten ähnelten, sollten sie auch mit einem Äquivalent zu den Nürnberger Prozessen gesühnt werden.78 Die später tatsächlich durchgeführten Strafprozesse empfanden viele Armenier als Farce, woran ihrer Meinung nach auch die armenische Regierung eine Mitschuld trug. In einem Telegramm an Gorbačev forderte eine Gruppe von Armeniern »für die Gerichtstäuschungen in den Prozessen der Sumgaitmörder […] den Abgang der Regierung der Armenischen SSR«.79 Denn ähnlich wie bei der Karabachfrage im Allgemeinen zeigte sich die armenische Regierung reserviert und nahm keine eindeutige Haltung zu dem Pogrom ein.80 Doch die Demonstrationen und ein Großteil der Plakate waren zu diesem frühen Zeitpunkt im März 1988 weiterhin dem sowjetischen Diskurs und den Ideen der Perestrojka verhaftet.81 So wurde Sumgait im Frühjahr 1988 nicht ausschließlich mit dem Genozid, sondern auch mit dem Blutsonntag in St. Petersburg von 1905 oder dem Leiden während der Leningrader Blockade in

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Ebd., S. 175. Ebd., S. 219. Ebd., S. 229. GARF f. 9654, op. 10, d. 412, l. 186, Telegramm vom Arbeitskollektiv ErfZNII »Agat« (Jerewan) an M. S. Gorbačev vom 21. April 1989. 80 Arutunjan: O prošlom, S. 126. 81 Lehmann: Eine sowjetische Nation, S. 379.

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Verbindung gebracht.82 Beide Ereignisse waren von großer Bedeutung für die sowjetische Ideologie und das Narrativ des sowjetischen Leidenswegs. Indem die Demonstranten auf Bannern kundtaten, dass »die Organisatoren von Sumgait die Feinde der Perestrojka«83 waren, signalisierten sie schließlich, dass sich ihre Proteste nicht gegen den sowjetischen Staat oder die sowjetische Idee richteten, sondern gegen die Gewalttäter. Jedoch appellierten sie sowohl damit als auch mit der historischen Referenz zu 1905 an die sowjetische Regierung und baten um Hilfe. Im Jahr 1905 wurden protestierende Arbeiter von der zaristischen Armee niedergeschossen, anstatt erhört zu werden. Während im Januar 1905 der Staat aktiv das Blutvergießen initiiert hatte, schaute er im Februar 1988 tatenlos dabei zu und tat sich schwer, die Schuldigen zu fassen. Indem sie die Organisatoren von Sumgait als Feinde darstellten, forderten die Plakatzeichner die Regierung gewissermaßen dazu auf, die Perestrojka-Formel der gesellschaftlichen Öffnung endlich umzusetzen und die Straftäter zur Verantwortung zu ziehen. Darin steckte gleichzeitig Kritik und Appell. Auf diese Art wurde Sumgait zum Motor, der den Kampf um Bergkarabach für die breite Öffentlichkeit in Armenien erst möglich machte. Ohne Sumgait hätten sich die Demonstrationen Ende Februar 1988 möglicherweise mit der Zeit wieder abgeschwächt oder wären noch eine Zeit lang stärker der Umweltthematik verhaftet geblieben. Aber das Ausmaß der Gewalt in der Industriestadt und die Tatenlosigkeit des Kremls heizten die Stimmung in Armenien gegen Aserbaidschan derart auf, dass die Anzahl der Demonstranten in Jerewan an manchen Tagen des Frühjahres 1988 bis zu einer Million betrug.84 Parallel dazu sympathisierten nach Sumgait die Glaubensbrüder in den anderen muslimischen Republiken der Sowjetunion mit Aserbaidschan und sorgten auf diesem Wege für eine zunehmende Zuspitzung zu einem religiösen Konflikt.85 Insbesondere als die Straftäter ungesühnt davonkommen konnten, waren offene Straßengewalt und radikale nationalistische Rhetorik in Aserbaidschan kein Tabu mehr. Als die Gerichtsprozesse zu dem Pogrom in Sumgait Ende 1988 stattfanden, war die Stimmung bereits derart angeheizt, dass Demonstranten in Baku 82 Ebd., S. 379. 83 Marutyan, Harutyun: Iconography of Historical Memory and Armenian National Identity at the End of the 1980s, in: Tsypylma Darieva/Wolfgang Kaschuba (Hg.): Representations on the Margins of Europe. Politics and Identities in the Baltic and South Caucasian States, Frankfurt am Main 2007, S. 89–110, hier S. 105. 84 Libaridian, Gerard J.: The Challenge of Statehood. Armenian Political Thinking since Independence, Watertown 1999, S. 6. 85 Gorbatschow, Michail: Erinnerungen, Berlin 1996, S. 487.

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Plakate mit der Aufschrift »Die Helden von Sumgait« vor sich hertrugen.86 Auch wenn das Pogrom in Sumgait vielleicht nicht geplant war, wurden die darauf folgenden Gewaltakte gegen Aserbaidschaner oder Armenier angesichts der zu erwartenden Straflosigkeit durchaus absichtsvoll organisiert.87 Sumgait war aber nicht nur der Impuls für die zunehmende Gewalt. Die Ereignisse trieben einen Keil zwischen Moskau und Armenien. Die Taten­losig­ keit des sowjetischen Militärs war dabei nur der Anfang. Dass das ­Pogrom in der sowjetischen Presse als Gewaltakte labiler und unreifer Hooligans abgetan wurde, ließ viele Armenier erstmals an den Reformen Gorbačevs zweifeln. Nicht nur hatten sie im Rahmen von Glasnost’ anscheinend eine offene und ehrliche Berichterstattung erwartet, sie forderten auch die Wahrheit darüber ein, warum das Militär erst so spät eingegriffen hatte, und darüber, ob das Pogrom nun geplant gewesen war oder nicht und, wenn ja, von wem. Die, wie manche Plakate es nannten, »Vogel-Strauß-Taktik« von Gorbačev, nach der er aus Ratlosigkeit lieber den Kopf in den Sand steckte, als zu handeln, enttäuschte die ehemals Perestrojka-Begeisterten im Kaukasus zwar noch nicht endgültig, aber das Vertrauen war nachhaltig gestört.88 Die kläglichen und intransparenten Strafprozesse zu Sumgait überzeugten Armenier über einen längeren Zeitraum hinweg davon, dass Moskau nicht immer in ihrem Sinne handelte und sie auch in Zukunft auf weniger Unterstützung des Kremls zählen mussten. Der Beigeschmack des an den Armeniern verübten »Völkermords«, bei dem das Politbüro zugeschaut hatte, hinterließ Risse in den Beziehungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie.

3.3 Von loyal zu radikal: Die Perestrojka der nationalen Bewegung Armeniens Für die Karabachbewegung war das Pogrom in Sumgait ein Argument dafür, dass ihr Kampf um die Eingliederung Bergkarabachs durch Armenien berechtigt war. Sumgait leitete die zweite Etappe der Karabachbewegung ein, deren Führung sich nun festigte, die sich mit einem politischen Programm positionierte und die mit ihrer zunehmenden Popularität aus der sowjetarmenischen Gesell86 De Waal: Black Garden, S. 41. 87 Derluguian, Georgi M.: Bourdieu’s Secret Admirer in the Caucasus. A World-System Biography, Chicago, London 2005, S. 197. 88 Gemeint ist ein Plakat, auf dem ein Strauß seinen Kopf in den Sand steckt, siehe Marutyan: Iconography of Armenian Identity, S. 163.

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schaft nicht mehr wegzudenken war. Schritt für Schritt eroberten die Anführer der Bewegung, das sogenannte Karabachkomitee, die Macht. Es wurde innerhalb weniger Monate des Jahres 1988 zum neuen politischen Referenzpunkt und zu einer Parallelmacht, von der sich das Politbüro zunehmend bedroht fühlte. Dabei war die Karabachbewegung mitnichten der erste Versuch einer armenischen Gruppe, sich Macht zu sichern, indem nationale Anliegen zum zen­ tralen Gegenstand der politischen Agenda gemacht wurden. Die erste radikale Gruppe mit einer nationalistischen Agenda, die Union der Patrioten, war bereits 1956 an der Staatlichen Universität Jerewan hervorgetreten.89 In den 1960er Jahren formierten sich immer wieder neue Gruppierungen wie die Nationale Vereinigungspartei, eine der extremsten und gewalttätigsten Dissidentengruppen Sowjetarmeniens, die für ein unabhängiges Armenien und eine Vereinigung von Westarmenien, Nachičevan und Bergkarabach eintrat. Insbesondere nachdem im April 1965 offiziell am 50. Jahrestag des an den Armeniern begangenen Genozids gedacht worden war, begann bei einigen wenigen Studenten und Intellektuellen die Idee eines unabhängigen Armenien zu reifen.90 Bis 1974 wurden ca. 80 Armenier wegen nationalistischen und antisowjetischen Verhaltens verhaftet.91 Ähnlich wie die Umweltthemen diente Karabach einigen Intellektuellen als politisches Vehikel, um auf die politische Schieflage im Land aufmerksam zu machen. Als in dem durch Gorbačevs Kaderpolitik hervorgerufenen Machtvakuum Politiker in Bergkarabach ihre Forderung nach einem Referendum über die Zukunft Karabachs zum Ausdruck brachten, sahen auch die vielen politischen Gruppierungen in Armenien die Gelegenheit gekommen, sich zu behaupten.92 Denn während die Karabachbewegung in Bergkarabach Glasnost’ und Perestrojka nutzte, um einen besseren Status Bergkarabachs zu erkämpfen, benutzte die Karabachbewegung in Sowjetarmenien das Karabachthema, um die Grenzen der Perestrojka und ihre Machtmöglichkeiten zu testen.93 Die Mehrheit der Armenier wollte zwar ihre nationalen Ideen im Rahmen der 89 90 91 92

Mouradian: De Staline à Gorbatchev, S. 274. Dudwick: Armenia: The Nation Awakens, S. 272. Suny: Soviet Armenia, S. 377. Claire Mouradian machte in ihrem Aufsatz über die Entwicklung der Karabachbewegung darauf aufmerksam, dass die Karabachfrage immer dann aufkam, wenn das Zentrum geschwächt schien. Siehe Mouradian: The Mountainous Karabagh Question, S. 12. 93 Über die unterschiedlichen Ausrichtungen der Karabachbewegung in Armenien und Berg­ karabach siehe Abramian, L. A.: Chaos and Cosmos in the Structure of Mass Popular Demonstrations (The Karabakh Movement in the Eyes of an Ethnographer), in: Soviet Anthropology & Archeology 29 (1990) 2, S. 70–86.

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Perestrojka durchsetzen sowie weiterhin sowjetische Werte hochhalten, aber es gab darüber hinaus einige radikale Intellektuelle, die weitergingen und sich selbst an die Macht bringen wollten.94 Sie warteten geschickt auf den richtigen Moment, um das Thema Bergkarabach, von dem sie sich eine große Mobilisierungskraft erhofften, öffentlich zu platzieren. Das bedeutet aber nicht, dass das Problem der Armenier in Bergkarabach nicht existierte oder nicht dringend war. Davon zeugte schließlich die Tatsache, dass schon in den Jahren zuvor Hunderte Briefe und Petitionen aus Bergkarabach bei der sowjetischen Regierung eingegangen waren, in denen armenische Karabachis darum gebeten hatten, gegen ihre Diskriminierung vorzugehen.95 Und schließlich kam die Forderung nach einem Referendum im Februar 1988 aus Stepanakert selbst, auch wenn man sich dort im Übrigen mit einer Angliederung an die RSFSR zufriedengegeben hätte, es den Armeniern in Bergkarabach also weniger um eine Vereinigung mit ihren armenischen Brüdern ging als vielmehr um einen Ausweg aus der Diskriminierung und Benachteiligung, die sie in Bergkarabach erfuhren.96 Zudem fand der Streit um die Zugehörigkeit Karabachs bereits seit 20 Jahren auf den Schreibtischen aserbaidschanischer und armenischer Historiker statt.97 Aber in Armenien wussten vor dem 13. Februar 1988, als die Demonstrationen in Bergkarabach begannen, nur die wenigsten Nichthistoriker etwas über die dortige Situation.98 Die restliche Bevölkerung erfuhr von dem Streit um die Zugehörigkeit des Territoriums erst durch Flugblätter und Informationsveranstaltungen im Frühjahr 1988, für die man die Historiker der Akademie der Wissenschaften der Armenischen SSR darum bat, Informationen über den Streit bereitzustellen.99 Das Thema Bergkarabach war also wie die Umweltfrage ein Thema, das im Grunde vor allem armenische Nationalisten und Spezialisten tief bewegte, mit dem richtigen Timing aber gewaltige Fliehkräfte freisetzen konnte, weil es repräsentativ für die nationale Identität der Armenier stand. Die Karabach94 Abramian: Chaos and Cosmos, S. 71 und Lehmann: Eine sowjetische Nation, S. 368. 95 1963 wandten sich 2500 Karabach-Armenier mit einer Petition an Chruščev und forderten, dass die Regierung etwas gegen die schlechte Behandlung der Armenier seitens der Aserbaidschaner tun sollte. Vgl. Halbach: Nationalitätenfrage und Nationalitätenpolitik, S. 760 und Komsomol’skaja Pravda 71, 26.03.1988, S. 4. 96 HAA f. 1678, op. 1, d. 15, l. 7–8, Forderungen des Karabachkomitees aus Bergkarabach, o. Datum. 97 De Waal: Black Garden, S. 142. 98 Auch Gerard J. Libaridian, US-Historiker aus der armenischen Diaspora, veröffentlichte seine für die Diaspora zur Information gedachte Dokumentensammlung zum Karabachproblem erst im März 1988, Libaridian: The Karabagh File. 99 HAA f. 1678, op. 1, d. 15, l. 4–6, hier l. 5, Programm, Vorschläge des Organisationskomitees für die lokalen Komitees der Karabachbewegung, März 1988.

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frage war daher auch Mittel zum Zweck, wie ein Mitglied des zweiten Karabachkomitees, Hambarjum Galstyan, im März 1988 eingestand. So räumte er ein, dass die territorialen Forderungen für ihn lediglich ein Deckmantel waren. Sie waren »ein Vorwand, um jene Unzufriedenheit auszudrücken, die sich über die Jahrzehnte hinweg angesichts der sozialen Ungerechtigkeit, der korrupten Führung, der Degradierung der Umwelt, des Niedergangs der kulturellen und moralischen Werte angesammelt hatte.«100 Das Thema Bergkarabach sollte die Menschen aus ihrem sowjetischen Schlummer holen, sagte er weiter.101 »Der Knopf hieß Karabach«102 und er war eines der vielen Symptome für die nicht zufriedengestellten nationalen Bedürfnisse der Armenier. Für die Anführer der Bewegung war Karabach noch mehr als nur Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem sowjetischen Leben. Es war für sie eine Gelegenheit, das Gleichgewicht der Macht zu ihren Gunsten zu verändern. Sowohl unter den Mitgliedern des ersten als auch unter denen des zweiten Karabachkomitees gab es sehr unterschiedliche Ansichten darüber, auf welchem Wege die Missstände innerhalb der armenischen und der sowjetischen Gesellschaft zu beseitigen waren. Zu denen, die drei Tage vor dem Pogrom in Sumgait das erste Karabachkomitee gegründet hatten, gehörte der Ökonom und Gosplanangestellte Igor Muradyan, der bereits die erste Karabachdemonstration im Oktober 1987 organisiert hatte. Mit ihm zusammen bildeten das erste Karabachkomitee die armenische Schriftstellerin Sil’va Kaputikyan, von der der eingangs zitierte Satz stammt, der Präsident der Armenischen Akademie der Wissenschaften, Viktor Hambarjumyan, und Zori Balayan, ein armenischer Journalist. Diese etablierten Intellektuellen befürworteten einen Wandel innerhalb und mithilfe des sowjetischen Systems. Nachdem sich die Bewegung von März bis Mai 1988 unter der Mitwirkung vieler anderer Anhänger, darunter Parowyr Hayrikyan, Dissident seit den 1960er Jahren, deutlich radikalisiert hatte, brachen Hambarjumyan, Muradyan, Kaputikyan und Balayan mit dem Karabachkomitee. Für sie waren die aserbaidschanischen Herrscher in Bergkarabach die Feinde – und nicht das sowjetische System.103 Moskau stellten sie als neutralen Schiedsrichter dar, weshalb sie auch Reformen, Demokratisierung

100 Mouradian: The Mountainous Karabagh Question, S. 22. 101 Aus einem Interview Thomas de Waals mit Vazgen Manukyan, in de Waal: Black Garden, S. 57. 102 Interview mit Ašot Manowčarjan (*1956), Jerewan, 25.11.2013. 103 Dudwick, Nora: Armenian-Azerbaijani Relations and Karabagh: History, Memory, and Politics, in: Armenian Review 46 (1993) 1–4, S. 79–92, hier S. 83.

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und mehr Autonomie gegenüber Moskau grundsätzlich ablehnten.104 Moskau oder das System war ihrer Meinung nach nicht das Problem der Karabachfrage. Stattdessen sahen sie die Regierung in Baku in der Schuld. Fragen wie Demokratie oder Unabhängigkeit interessierten sie [die Mitglieder des ersten Karabachkomitees] einfach nicht. Als sie das Gefühl bekamen, dass wir dem Sowjetsystem gefährlich wurden, verließen sie [das Komitee]. Sie dachten, dass die Karabachfrage mittels des Sowjetsystems gelöst werden müsste, urteilte später Lewon Ter-Petrosyan, der Anführer des zweiten Karabachkomi­ tees.105 Ähnliche Zerwürfnisse darüber, ob die Probleme nun inner- oder außerhalb des Systems gelöst werden sollten, hatte es schon bei den Umweltbewegungen im Herbst 1987 gegeben. Hier waren der Gruppe um Aršak Banowč’yan, den Organisatoren der ersten Umweltdemonstration, die offiziellen staatlichen Umweltschutzklubs nicht radikal genug gewesen. Daher gründete Banowč’yan zusammen mit anderen eine eigene nicht staatlich sanktionierte Organisation, über die er nun auch Straßenproteste organisieren konnte. Beide Beispiele verdeutlichen, wie heterogen die politischen Bewegungen in Sowjetarmenien waren. Nicht alle, die sich für eine Annexion Bergkarabachs einsetzten, wie Kaputikyan und Balayan, stellten gleichzeitig das sowjetische System infrage. Sie versuchten »weiterhin, in einen Dialog mit der Parteiführung darüber zu treten, wie das Leben in der sowjetischen kommunalka an sozialistischen Idealen ausgerichtet werden sollte.«106 Und wie das Beispiel Banowč’yans zeigt, gab es durchaus Dissidenten, die zwar für die Unabhängigkeit Armeniens waren, sich aber keineswegs für Bergkarabach interessierten. Wie viele andere Themen war Bergkarabach für die meisten Armenier ein Weg, sich auf formeller Ebene mit dem Staat und den sich daraus für sie ergebenden Nachteilen auseinanderzusetzen, ohne dabei die sowjetische Ideologie verhandeln zu müssen.107 104 Ebd. 105 Aus einem Interview von Thomas de Waal mit Lewon Ter-Petrosyan, in de Waal: Black Garden, S. 57. 106 Lehmann: Eine sowjetische Nation, S. 299. 107 Anhand von Aleksandr Esenin-Vol’pin beschreibt Benjamin Nathans in seinem Aufsatz, wie sich Dissens vor allem durch die Konzentration auf formale Kriterien des Staats- und Rechtsapparates gestaltete. Vgl. Nathans, Benjamin: The Dictatorship of Reason: Aleksandr Vol’pin and the Idea of Rights under »Developed Socialism«, in: Slavic Review 66 (2007) 4, S. 630–663 und Schattenberg: Von Chruščev zu Gorbačev.

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Im Mai 1988 übernahmen andere Mitglieder die Führung der Karabach­ bewegung und gründeten so das zweite Karabachkomitee. Statt etablierter sowjetischer Intellektueller führten die Bewegung nun unbekannte Wissenschaftler und andere Intellektuelle, die zuvor keinen Zugang zu den Machtstrukturen gehabt hatten.108 Durch diesen Wechsel verlor die Partei jedoch die Kontrolle über die Diskurse innerhalb der Bewegung, weil sie keinen Zugang zu diesen Intellektuellen hatte.109 Den neuen Anführern gelang es besser, die Massen für ihre Interessen zu nutzen, was sie unter anderem ihrem Timing, ihrer Kompromisslosigkeit sowie ihrer politischen Einheit zu verdanken hatten. So bestand in der neuen Führung, zu welcher der bis dahin politisch völlig unbekannte Philologe Lewon Ter-Petrosyan und der Mathematiker Vazgen Manowkyan gehörten, grundsätzliche Übereinkunft darin, dass sich das Karabachproblem nicht innerhalb des existierenden sowjetischen Systems lösen lasse, sondern dass das System dafür selbst verändert werden müsse.110 In der Umsetzung teilten sich jedoch die Meinungen. Einige wenige Mitglieder, darunter Manowkyan, präferierten die schnellstmögliche Unabhängigkeit Armeniens von der Sowjetunion. Andere wie Ter-Petrosyan und Ašot Manowčaryan, der zu dem Zeitpunkt aktives Parteimitglied war, wollten nur eine Reform des politischen Systems innerhalb des sowjetischen und hielten sich in Bezug auf eine mögliche Unabhängigkeit bedeckt oder nahmen gar nicht erst Bezug auf diese Variante. Manowčaryan erklärte in einem Interview, dass die Mitglieder »so etwas wie Souveränität [suchten]. [Sie] […] wollten die Beziehungen [zu Moskau] nicht verlieren. Das große System musste beibehalten werden. Praktisch zwar eine Unabhängigkeit, aber so, dass wir uns gemeinsam entscheiden können.«111 Diese dehnbare, in alle Richtungen schmiedbare Vorstellung der Zukunft machte deutlich, wie unbestimmt das Ergebnis jener historischen Entwicklung 1988 noch war. Mitnichten existierte eine bereits vorhandene strukturelle Logik des Zusammenbruchs des sowjetischen Systems, vielmehr war es ein Zusammenspiel aus Zufall, Aktion und Reaktion, dessen Ausgang zu jener Zeit äußerst ungewiss war.112

108 Diesen Wechsel von etablierten Intellektuellen als Wortführer zu bisher unbekannten stellt auch Moritz Florin für Kirgistan für die Jahre 1988/1989 fest, siehe Florin: Kirgistan und die sowjetische Moderne, S. 231 f. 109 Ebd. 110 Aus einem Interview Thomas de Waals mit Lewon Ter-Petrosyan, in de Waal: Black Garden, S. 57. 111 Interview mit Ašot Manowčaryan (*1956), Jerewan, 25.10.2013. 112 Zu diesem Argument siehe Beissinger, Mark R.: Nationalism and the Collapse of Soviet Communism, in: Contemporary European History 18 (2009) 3, S. 331–347.

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Ein weiterer Faktor, der die Entwicklung vorantrieb, war die Einmischung nichtarmenischer Akteure. Unterstützung erfuhr die Karabachbewegung durch die nationalen Bewegungen im Baltikum, mit denen sie eng verflochten war. Spätestens ab Mai 1988 reisten Mitglieder des Karabachkomitees regelmäßig nach Moskau, um sich dort mit ihren Kollegen aus Estland, Lettland und Litauen zu treffen. Vertreter der baltischen Nationalbewegungen erschienen fortan auf Demonstrationen in Jerewan, wo sie oftmals mit großer Begeisterung empfangen wurden.113 Umgekehrt fuhren armenische Intellektuelle ins Baltikum und nahmen unter dem Banner »Armenien ist mit Euch« an einem Hungerstreik in Vilnius teil.114 Bis Juni 1988 hatten Vertreter der nationalen Bewegungen aus der Ukrainischen, der Armenischen, der Georgischen und der Lettischen SSR ein Koordinierungskomitee geschaffen. Sie tauschten Flugblätter, Texte und Ideen miteinander aus und unterstützten sich in organisatorischen Fragen.115 Es waren diese transnationalen Verbindungen, die den Aufschwung der nationalen Bewegungen in den Sowjetrepubliken bedeutend beschleunigten und intensivierten.116 Außerhalb der Sowjetunion, zur armenischen Diaspora, suchte das Karabachkomitee am Anfang seiner Aktivität keine Verbindungen. Das lag daran, dass die politischen Kontakte zwischen der Diaspora und Sowjetarmenien fast ausschließlich über die sowjetarmenische Regierung verliefen und eher symbolischen Charakter hatten. Unterstützung konnte die Karabachbewegung von den drei Diaspora-Parteien – der Armenischen Revolutionären Föderation (ARF), der Liberalen Partei der Ramkavar (Ramkavar) und der Sozialdemokratischen Hnč’akyan-Partei (Hunchakian) – wegen deren politischer Verbindung zur Regierung in Moskau nicht erwarten. Ein Großteil der armenischen Diaspora war gegen die Demonstrationen der armenischen Nationalbewegung. Bei den Menschen in der Diaspora war die Angst vor einer Wiederholung des Genozids aufgrund ihrer persönlichen Flucht- und Vertreibungsgeschichten weitaus größer als bei den Sowjetarmeniern. Die Diaspora befürchtete, die sowjetische Regierung würde infolge der Proteste den Armeniern den Schutz verweigern.117 Noch im Oktober 1988 zog die armenische Diaspora daher Wut aus Sowjet­ armenien auf sich, weil die drei Parteien in einem gemeinschaftlichen Tele-

113 Malkasian: »Gha-ra-bagh!«, S. 131. 114 Ebd., S. 131; Cheauré: Armenien im Oktober 1988, S. 212 f. 115 Beissinger: Nationalism and the Collapse of Soviet Communism, S. 340. 116 Ebd., S. 339 f. 117 Interview mit Ašot Manowčaryan (*1956), Jerewan, 25.11.2013.

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gramm die Karabachbewegung zum Aufhören überreden wollten.118 Besonders verstörend daran wirkte für die intellektuelle Elite, dass sich der Botschaft auch die Daschnaken-Partei angeschlossen hatte, die traditionsgemäß für ein unabhängiges Armenien eintrat und eigentlich jene Proteste hätte unterstützen müssen.119 Der Historiker Gerard Libaridian behauptet in seinem Kommentar zur Reaktion, dass dieses Kommuniqué der Diaspora einen Wendepunkt in den Beziehungen dargestellt habe.120 Aber auch wenn viele Sowjetarmenier sich dadurch von der armenischen Diaspora verraten fühlten, hielt die Karabachbewegung eine Verbindung zu ihr aufrecht und vertiefte diese sogar, als das Erdbeben geschah. Das gemeinsame Kommuniqué der Diaspora-Parteien verdeutlichte die Zwangslage der armenischen Führung. Denn diese schien das Telegramm überhaupt erst in Auftrag gegeben zu haben.121 Die Kommunistische Partei Sowjetarmeniens befand sich bei der Lösung der Karabachfrage in einer schwierigen Lage, da sie einerseits Moskau wohlgesinnt bleiben musste, um ihre eigene Macht nicht zu gefährden. Andererseits konnte sie aber die Ziele der Karabachbewegung nicht gänzlich ignorieren, da deren Anhängerschaft mittlerweile fast die gesamte Republik ausmachte. Außerdem waren unter den Demonstranten und Sympathisanten auch große Teile der Kommunistischen Partei Sowjetarmeniens. Bis zum Sommer 1988 hatten sowohl das Karabachkomitee als auch die Kommunistische Partei daher ein Interesse an einer Zusammenarbeit. Immer mehr Mitglieder der mittleren Parteikader liefen zur Karabachbewegung über.122 Zwar versuchte die Partei, ihre Mitglieder durch Erlasse auf offiziellem Wege dazu zu bewegen, die »hetzerischen und antikonstitutionellen« Aktivitäten des Karabachkomitees zu verurteilen, um sie einzudämmen. Doch die gewünschte Wirkung dieser politischen Maßnahmen blieb aus. Bis Anfang 1989 blieb der Kommunistischen Partei Sowjetarmeniens nur noch ihre oberste Führungsebene treu.123 Für die Karabachbewegung selbst war infolgedessen immer weniger die Kommunistische Partei der Hauptkritikpunkt, zumal diese mit der sinkenden Mitgliederzahl an Macht verlor. Zudem führte sie die Ereignisse in Sumgait und die Gewalt gegen Armenier einzig auf die Regierung in Moskau zurück. Dementsprechend rief schon Ende September 1988 ein Mitglied des 118 Malkasian: »Gha-ra-bagh!«, S. 139. 119 Ebd. 120 Ebd., S. 129. 121 Malkasian: »Gha-ra-bagh!«, S. 138. 122 Jakoby: Geopolitische Zwangslage, S. 193. 123 Ebd., S. 187.

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Karabachkomitees, Xačik Stambolc’yan, in einer Rede auf dem Opernplatz aus, dass Armenien keine Regierung mehr habe, da diese keine Antworten auf die Fragen des Komitees habe.124 Lewon Ter-Petrosyan machte zwei Monate später das Volk zum einzigen Souverän, indem er auf dem Jerewaner Theaterplatz verkündete: »Armenien hat keine Regierung, hat keine Macht und die Regierung, das seid ihr.«125 Damit stellte er die Bewegung über die lokale Kommunistische Partei und suggerierte den Anhängern der Karabachbewegung Regierungsmacht. Dass das Karabachkomitee für die lokale Kommunistische Partei zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz wurde, zeigen darüber hinaus die Ergebnisse der Wahl zum Obersten Sowjet der Armenischen SSR am 10. Oktober 1988, bei der in drei Wahlkreisen zwei Kandidaten gewählt wurden, die nicht (bzw. nicht mehr) Mitglieder der Kommunistischen Partei waren: Hambarjum Galstyan und Ašot Manowčaryan, zwei der elf Mitglieder des Karabachkomitees.126 Damit wurde der Oberste Sowjet der Armenischen SSR, von dem ohnehin schon die Mehrheit näher an der Karabachbewegung als an der Kommunistischen Partei Sowjetarmeniens stand, nun auch offiziell mit Mitgliedern der armenischen Nationalbewegung besetzt. Die nachlassende Macht der armenischen Kommunistischen Partei verunsicherte das Politbüro. Hier herrschte zunehmende Uneinigkeit über den weiteren Fortgang in der nationalen Frage. Auf der Politbüroversammlung im März 1988 oszillierte Gorbačev zwischen seinem Festhalten an einer gewaltfreien Politik und der Ergreifung härterer Maßnahmen, zu denen eine strenge Kontrolle der armenischen Presse, das Sperren der Telefonverbindungen ins Ausland und das generelle Einreiseverbot für ausländische Korrespondenten zählten. Einerseits wollte er, dass die Bevölkerung sich in Debatten engagierte, andererseits sah er eine Lösung jedoch nur in der Isolation des Karabachkomitees.127 Ryžkov gab angesichts des Chaos und des Kontrollverlustes schon im März 1988 auf einer Politbüroversammlung resignierend zu, wie schwer es für ihn sei, »sich das weitere Leben dieses Staates vorzustellen.«128 Die Beschäftigung mit den Nationalbewegungen im Baltikum und im Kaukasus stiftete Verwirrung und Streit in der sowjetischen Führung. Fortan wurde das Thema Bergkarabach bei 124 Aus dem Transkript der Rede vom 29. September 1988 zitiert nach Jakoby: Geopolitische Zwangslage, S. 187. 125 HAA f. 1159, op. 3, d. 24, l. 21, Transkript seiner Rede auf dem Theaterplatz vom 24. November 1988. 126 Jakoby: Geopolitische Zwangslage, S. 189. 127 RGANI f. 89, op. 42, d. 19, l. 2–4, Protokoll der Politbüroversammlung vom 24. März 1988. 128 Ebd., l. 4.

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jeder Politbüroversammlung angesprochen und spaltete die sowjetische Führung in jene, welche die Kontrolle durch Gewalt erlangen wollten, und jene, die es weiterhin auf friedlichem Wege versuchen wollten.129 Wie verschieden die Ansichten im Politbüro waren, zeigen die Besuche zweier Politbüromitglieder im Mai 1988 im Kaukasus, nachdem in beiden Republiken die Parteiführung ausgetauscht worden war. Während der Politbüro-Hardliner Jegor Ligačev in Baku für die territoriale Integrität als höchstes Prinzip warb, lobte Gorbačevs engster Berater Alexandr Jakovlev zur selben Zeit in Jerewan die Armenier für ihren korrekten Standpunkt in der Karabachangelegenheit. Diese Uneinigkeit des Politbüros, das hilflos vor der neuen Situation in der nationalen Frage stand, machte es nicht nur in Bezug auf Armenien schwierig, Lösungen auf institutionellem Wege zu finden, sondern behinderte die Arbeit des Politbüros auch in vielen anderen für den Zusammenhalt des Imperiums wichtigen Bereichen.130 Nachdem es der Oberste Sowjet am 18. Juli 1988 abgelehnt hatte, Bergkarabach in Sowjetarmenien einzugliedern, spitzte sich die Lage in Armenien entscheidend zu. Da viele Armenier tatsächlich davon ausgegangen waren, dass die territoriale Lösung nur eine Frage der Zeit sei, durchfuhr die armenische Nation eine große Welle der Enttäuschung über die Ablehnung. Die Stimmung auf den Demonstrationen bekam einen zunehmend antisowjetischen Charakter und die Karabachbewegung änderte ihren Kurs drastisch.131 Angelehnt an ähnliche, bereits existierende Programme aus den Republiken im Baltikum, verteilte das Karabachkomitee im August 1988 sein Manifest der »Armenischen Nationalen Bewegung«. Hier präsentierte es sich als breit aufgestellte halboffizielle Organisation, die ihre Ziele über Bergkarabach hinaus ausgeweitet hatte.132 In seinem Manifest verkündete das Komitee, das sich von nun an »Panarmenische Nationale Bewegung« (arm.: Hayoc’ Hamazgayin Šaržowm, abgekürzt HHŠ) nannte, die Karabachfrage habe dazu gedient, »das Volk aufzuwecken«, und nun müsse sich die Bewegung zusätzlich um andere Fragen kümmern.133 Damit schufen die Anführer des Karabachkomitees für ihre Organisation eine breitere Machtgrundlage und traten in offizielle Konkurrenz zur existierenden Kommunistischen Partei Sowjetarmeniens. Zu ihren im Manifest formulierten Zielen zählten der Schutz der armenischen Sprache, der Schutz der Umwelt, die 129 De Waal: Black Garden, S. 60; Šaсhnazarov, Georgij: Cena svobodj: reformacia ­Gorbaceva glazami ego pomoščnika, Moskau 1994, S. 212. 130 Siehe auch Beissinger: Nationalism and the Collapse of Soviet Communism, S. 345. 131 De Waal: Black Garden, S. 61. 132 HAA f. 1678, op. 1, d. 15 l. 19, Manifest der Panarmenischen Nationalen Bewegung. 133 Ebd.

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Anerkennung des Genozids von 1915, die Reevaluierung der vorrevolutionären armenischen Geschichte und die freie Religionsausübung. Sich auf die sowjetische Verfassung und die Ziele der Perestrojka stützend, forderten sie eine eigene armenische Armee, mehr Souveränität, eigene Massenmedien und vor allem eine durch nationale Selbstbestimmung gekennzeichnete dezentralisierte Politik. Zwar gingen sie dabei nicht so weit, offiziell von Unabhängigkeit zu sprechen, aber eine eigene Armee zu fordern kam der Idee eines unabhängigen Staates schon recht nah. Sie machten zudem auf überraschende Weise unzweifelhaft deutlich, dass sie in der Zukunft nicht mehr »auf irgendjemandes Protektorat«, also auch nicht auf Moskaus Protektorat, hoffen würden.134 Die Anführer des Karabachkomitees wollten nicht mehr, dass ihre Erfolge und Misserfolge nur auf eine externe Macht wie Moskau zurückzuführen waren, denn das würde ihr Volk demoralisieren und es am Ende »zur nationalen Selbstauflösung« führen.135 Ihr oberstes Ziel im Manifest bildete daher die Souveränität, womit sie an den sich seit dem Sommer 1988 insbesondere im Baltikum verbreitenden antiimperialistischen Diskurs über Souveränität anknüpften.136 Diesen Zielen der Intellektuellen folgten nicht alle. Die Entscheidung des Obersten Sowjets vom 18. Juli 1988, Bergkarabach Armenien nicht einzugliedern, sahen viele Armenier als Anlass, ihre Zweifel an den Absichten der Perestrojka kundzutun, ohne jedoch die Notwendigkeit oder den Sinn der Reformen, geschweige denn das gesamte System infrage zu stellen. Davon zeugten Plakate auf Demonstrationen im Herbst 1988, die Glasnost’ als hilfebedürftig aufzeigten. Fast liebevoll personifizierten die Plakatzeichner Glasnost’, in die sie zu Beginn der Reformen so viel Hoffnung gesteckt hatten. So zeigte ein Plakat Glasnost’ in Wasser untergehend, versehen mit dem Schriftzug »SOS«.137 Ein anderes Poster, ebenfalls von Oktober 1988, stellte ein in Stacheldraht gehülltes Mikrofon dar und verwies damit einerseits auf das nicht eingehaltene Versprechen der Pressefreiheit, andererseits zeigte es aber auch die Ansicht auf, dass Glasnost’ nur »befreit« werden müsse, um zu funktionieren.138 Überdies steckten hinter diesen Postern Versuche, das Regime an seinen eigenen Maßstäben und Reformversuchen zu messen und somit Kritik an der Regierung zu üben. Für die Plakatzeichner war der Prozess von Glasnost’ zum Scheitern verurteilt, sollte er so einseitig bleiben wie bisher. Das drückte ein Poster aus, 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Beissinger: Nationalism and the Collapse of Soviet Communism, S. 341. 137 Marutyan: Iconography of Armenian Identity, S. 155. 138 Ebd., S. 156.

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auf dem ein gigantisches Ohr, also das Gehör für die Belange der Bevölkerung, im Gehörgang zugemauert war. »Sie [unsere Forderung] fiel auf taube Ohren« stand auf Armenisch unmissverständlich daneben.139 Die armenische Bevölkerung sah den Erfolg der Reformen, die sie nur wenige Monate zuvor auf die Straße gebracht hatten, zunehmend in Gefahr. Während die Spitze ihrer Bewegung bereits konkrete Vorstellungen von einer eigenen Armee und mehr Selbstbestimmung ausgearbeitet hatte, formulierten die Massen mit ihren Plakaten noch als Hilferufe verpackte Kritik an der sowjetischen Führung, etwas gegen ein Scheitern der Reformen zu unternehmen, bevor es zu spät war. Die Entscheidung über Bergkarabach war schon längst zu einer Entscheidung über den Erfolg oder Misserfolg der Gorbačev’schen Reformen geworden. Mehr noch: Bergkarabach wurde zum Symbol für die Gleichgültigkeit des Staates gegenüber seinen eigenen Bürgern.140 Innerhalb der Karabachbewegung gab es auch deutlich radikalere Wege, Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Durch die politische Kursänderung der Bewegung spitzte sich auch der ethnische Konflikt weiter zu, der sich nun verstärkt in offener Gewalt und Vertreibung zeigte. Schon im März 1988 war es zu Überfällen auf die aserbaidschanische Minderheit in Sowjetarmenien gekommen, aber erst ab dem Herbst 1988 nahm die Gewalt sowohl gegen Aserbaidschaner in Sowjetarmenien als auch gegen Armenier in Bergkarabach dramatisch zu.141 In Armenien griffen bewaffnete Banden aserbaidschanische Dörfer an, wo sie die Bewohner verprügelten, tödliche Schüsse auf sie abfeuerten, ihre Häuser anzündeten und sie mit vorgehaltenem Gewehr zwangen, ihre Siedlungen zu verlassen. Bis Ende 1988 sollen bei diesen Angriffen 186 Aserbaidschaner aus Sowjetarmenien durch Erschießen, Folter, Verbrennen oder Erhängen ums Leben gekommen sein.142 In Aserbaidschan, insbesondere in Bergkarabach, kam es ebenso zu Gewaltverbrechen an Armeniern mit ähnlich hohen Opferzahlen.143 In der Konsequenz verließen Tausende von Armeniern und Aserbaidschanern ihre Heimat, so dass zum Zeitpunkt des Erdbebens im Dezember 1988 über 300.000 Armenier und Aserbaidschaner zu Binnen139 Ebd. 140 Dudwick: Memory, S. 283. 141 Am 25. März 1988 überfielen Banden eine Siedlung im Ararat-Bezirk. Ein Aserbaidschaner kam dabei ums Leben, mehrere wurden verletzt und ihre Häuser wurden angezündet, siehe Junusov, Arif: Pogromy v Armenii v 1988–1989 godach, in: Ekspress-Chronika 9 (1991), S. 5. Weitere Überfälle im Juni und Juli 1988 siehe Kommunist 145, 19.06.1988, S. 2 und Kommunist 146, 21.06.1988, S. 1 und Junusov: Pogromy, S. 5. 142 Junusov: Pogromy, S. 5. 143 Ebd.

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flüchtlingen geworden waren. Nicht nur war Armenien durch die hohe Zahl Geflüchteter überfordert, die Flüchtlingsproblematik trug darüber hinaus auch zur weiteren Spaltung zwischen der Karabachbewegung und der sowjetarmenischen Regierung bei. Gewalt, Flucht und das dadurch entstandene Chaos erhöhten die soziale Verwundbarkeit der Republik am Vorabend des Erdbebens und paralysierten die sowjetarmenische Regierung zusätzlich. In die Vertreibung der in Armenien lebenden Aserbaidschaner war das Karabachkomitee tief verwickelt – eine Tatsache, die bisher in der Forschung wenig beachtet wurde, für das Verständnis der armenischen Geschichte aber unabdingbar ist.144 Die Gewalt macht deutlich, dass Armenier nicht nur Opfer ihrer Geschichte waren, sondern auch Täter, die so die historischen Entwicklungen nicht nur mit demokratischen Mitteln, wie armenische Intellektuelle heute oft betonen, mitgestalteten, sondern auch auf Mittel der ethnischen Diskriminierung und der Gewalt zurückgriffen. Bis heute wird dieser Teil des Jahres 1988 von vielen Armeniern verschwiegen, verschleiert und ignoriert.145 Schon im Oktober 1988 machten Banner und Sprechchöre deutlich, wie sehr sich die Karabachbewegung radikalisiert hatte. So konnte man auf Demon­ strationen in Jerewan Banner mit der Aufschrift lesen: »Wir wollen nicht töten, außer es muss sein …«146 Sprechchöre wie »Tod den Türken!« und »Nur ein toter Türke ist ein guter Türke!« wiesen auf die Kompromisslosigkeit hin und boten einen Vorgeschmack auf das, was später folgen sollte.147 Ab November 1988 wirkten die Anführer des Karabachkomitees aktiv bei der Vertreibung aserbaidschanischer Familien aus Armenien mit. Spezielle von ihnen gegründete Komitees trieben aserbaidschanische Dorfbewohner oftmals mit Gewalt aus ihren Häusern, »damit die Emigration [der aserbaidschanischen Bevölkerung] aus Armenien organisiert ablief«.148 Insbesondere ermunterten die Mitglieder des Komitees ihre Anhänger dazu, an den Vertreibungen mitzuwirken – eine 144 Die Gewalt gegen Aserbaidschaner in Sowjetarmenien wird von einer Reihe renommierter Wissenschaftler, die zu Armenien forschen, in ihren Ausführungen vernachlässigt oder ganz ignoriert. So beispielsweise bei Suny: Looking toward Ararat oder auch Malkasian: »Ghara-­bagh!«. Claire Mouradian streitet in ihrem Buch Gewalt gegen die aserbaidschanische Minderheit in Armenien ab, vgl. Mouradian: De Staline à Gorbatchev, S. 436. Eine Ausnahme bildet de Waal: Black Garden, S. 63, der auch auf die Studie von Arif Junusov zur Gewalt gegen Aserbaidschaner in Sowjetarmenien verwies. 145 Diese Erkenntnis geht aus den zahlreichen Interviews hervor, die die Verfasserin 2013–2015 in Armenien geführt hat. 146 Cheauré: Armenien im Oktober 1988, S. 207. 147 Ebd. 148 HAA f. 1678, op. 1, d. 12, l. 10, Rede von Rafayel Łazaryan am 4. Dezember 1988 in Ēȷˇmiacin.

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Aufforderung, die die Gewaltbereitschaft unter der armenischen Bevölkerung steigerte. So forderte Lewon Ter-Petrosyan auf dem Höhepunkt der Gewalt Anfang Dezember 1988 auf einer Massendemonstration in Ēȷˇmiacin, dem Sitz des geistlichen Oberhauptes der Armenischen Apostolischen Kirche, dass niemand die »massenhaften Deportationen der Aserbaidschaner« behindern solle, da sie sonst einen »historisch bedeutsamen Prozess aufhalten« würden.149 Viele Armenier behaupten heute, dass die Vertreibungen der aserbaidschanischen Dorfbewohner staatlich von Moskau angeordnet worden seien.150 Diese Vermutung lässt sich jedoch bisher nicht mit Quellen belegen. Im Gegenteil finden sich Hinweise darauf, dass die Ausreise von Armeniern und Aserbaidschanern verhindert werden sollte, indem den Flüchtenden keine Bus- und Bahntickets verkauft werden durften.151 Vielmehr war die Fluchtbewegung vermutlich eine Folge der sich zuspitzenden aggressiven Stimmung in der Republik, die sich durch Drohungen, Diskriminierungen und physische Gewalt ausdrückte. Für die Anführer des Karabachkomitees waren die Vertreibungen gleichzeitig dazu geeignet, die Siedlungen in Armenien für die nun aus Aserbaidschan ankommenden geflüchteten Armenier freizugeben. Schließlich war die Flüchtlingshilfe für Armenier seit dem Pogrom in Sumgait ein Arbeitsschwerpunkt des Komitees. »Sollen sie [die Aserbaidschaner] ruhig gehen, ihr ganzes Besitztum mitnehmen, nur damit sie die Häuser freimachen und stattdessen dort unsere Armenier wohnen können«, verkündete Lewon Ter-Petrosyan am 4. Dezember 1988 auf dem Theaterplatz in Jerewan.152 Rafayel Łazaryan, ein anderes Mitglied des Karabachkomitees, drückte die als Umzugshilfe getarnte Vertreibung noch schärfer aus, indem er sagte, dass Armenier nun zum ersten Mal »seit Jahrzehnten die einzigartige Möglichkeit haben, Armenien zu säubern«.153 Das sei, so Łazaryan weiter, »die größte Errungenschaft […] [ihres] Kampfes der letzten zehn Monate«.154 Er rief damit vor Tausenden Anhängern

149 HAA f. 1678, op. 1, d. 12, l. 3, Rede von Lewon Ter-Petrosyan am 4. Dezember 1988 in Jerewan. 150 Die Theorie von Moskau als dem Initiator der Umsiedlungen ist bis heute nicht nur in Armenien weitverbreitet, sondern wird auch von westlichen Historikern vertreten, siehe bspw. Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 6. 151 Pressebericht der dpa vom 19.12.1988, ›Evakuierung soll Mitte der Woche beendet sein‹. 152 HAA f. 1678, op. 1, d. 12, l. 3, Rede von Lewon Ter-Petrosyan am 4. Dezember 1988 in Jerewan. 153 HAA f. 1678, op. 1, d. 12, l.10, Rede Rafael Gazarajans am 4. Dezember 1988 in Ēȷˇmiacin. 154 Ebd. und Junusov: Pogromy, S. 5.

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der Karabachbewegung offiziell zu einer ethnischen Säuberung auf.155 Bis zum Erdbeben einige Tage später lebten in Armenien nur noch wenige Aserbaidschaner.156 Die Mitglieder des Karabachkomitees stießen zudem eine Siedlungspolitik an, mit deren Hilfe sie gleichzeitig Macht über das sowjetarmenische Territorium für sich beanspruchten. Sie wirkten durch die Geflüchteten aktiv an der territorialen und demografischen Gestaltung der Republik mit und bauten somit ihre Machtgrundlage weiter aus. Unter dem Vorwand, dass die Siedlungspolitik und Säuberung dem nationalen Interesse der armenischen Bevölkerung diene, für welches die sowjetarmenische Bevölkerung schon seit Monaten eintrat, konnten sich die Aufrührer der Unterstützung aus dem armenischen Volk sicher sein, selbst wenn diese sich nur in passiver Tatenlosigkeit und nicht in aktiver Gewaltanwendung manifestierte. Wie sehr diese neue Form des Nationalismus auch unter den Parteikadern Sowjetarmeniens vertreten war, zeigt die hohe Anzahl an Funktionären aus der Provinz, die an der gewalttätigen Vertreibung in Armenien mitwirkten.157 Noch bevor die Vertreibungen im November 1988 begannen, hatten Aserbaid­schaner aus der sowjetarmenischen Provinz in Briefen an die sowjetische Regierung beschrieben, wie die lokalen Behörden sie schikanierten, Gewalt anwandten oder Hilfe unterließen.158 Staatliche Organisationen schlossen aserbaidschanische Schulen, schalteten in aserbaidschanischen Haushalten Strom, Wasser und das Telefon ab und begannen, Aserbaidschanern die Arbeit zu kündigen.159 Daher forderten einige Aserbaidschaner in Armenien im Juni 1988 den Ministerrat der UdSSR sogar auf, eine Kommission zu gründen, die ihre Umsiedlung in »eine beliebige andere Region der Sowjetunion« organisierte – jedoch ohne Erfolg.160 Oft arbeiteten die lokalen Behörden eng mit den Schlägerbanden zusammen, indem sie mit ihnen die Deportationen gemeinsam organisierten. So gingen oftmals zunächst lokale Regierungsvertreter in die 155 Von »ethnischer Säuberung« sprechen auch Abrahamian, Levon: Armenian Identity in a Changing World, Costa Mesa 2006, S. 159 und Panossian, Razmik: Post-Soviet Armenia: Nationalism & Its (Dis)contents, in: Lowell W. Barrington (Hg.): After Independence. Making and Protecting the Nation in Postcolonial & Postcommunist States, Ann Arbor 2006, S. 225–247, hier S. 231. 156 Junusov: Pogromy, S. 5; Abrahamian: Armenian Identity, S. 159. 157 Siehe auch de Waal: Black Garden, S. 63. 158 GARF f. 5446, op. 149, d. 291, l. 48–49, 51–53; f. 5446, op. 150, d. 2093 l. 3–23, insbesondere l. 8–9, Briefe von Juni 1988 aus unterschiedlichen Regionen Armeniens. 159 Junusov: Pogromy, S. 5. 160 GARF f. 5446, op. 149, d. 291, l. 51–53, Brief aus dem Rayon Amasiiskij an den Ministerrat der UdSSR vom 15. Juni 1988.

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aserbaidschanischen Siedlungen, um die dort lebenden Aserbaidschaner dazu aufzufordern, so schnell wie möglich abzureisen, da sie nicht mehr für deren Sicherheit garantieren könnten. Hörten diese nicht, erschienen kurz darauf armenische Schlägerbanden, ausgerüstet mit Waffen und Knüppeln, um ihre Abreise zu beschleunigen.161 Offiziell kritisierte die sowjetische Regierung die pogromartigen Vertreibungen und ihre Duldung durch armenische Regierungsvertreter. Zahlreiche Sitzungen im Dezember 1988 im sowjetarmenischen Parteikomitee waren dieser Problematik gewidmet.162 Die Partei enthob dabei insgesamt 49 Parteimitglieder und Mitarbeiter der Polizei ihrer Posten, weil sie an der »Aufheizung des ethnischen Konflikts« beteiligt gewesen oder bei Straftaten nicht eingeschritten seien. Dabei zählten die Erlasse und Protokolle zahlreiche Regionen der Armenischen SSR auf, in denen es zu Demütigungen, Diebstählen, physischer Gewalt bis hin zu Totschlag durch Staatsbeamte gekommen sei.163 Wie gespalten die Republikregierung bereits war, zeigt der Umgang mit den Besitztümern der Vertriebenen. Am 28. November 1988 gründete der Ministerrat der Armenischen SSR eine Kommission, die darüber bestimmen sollte, ob und wie die aus Aserbaidschan vertriebenen Armenier die leerstehenden aserbaidschanischen Häuser bewohnen konnten.164 Während also Parteivertreter wegen der aktiven Vertreibung der aserbaidschanischen Minderheit ihrer Posten enthoben wurden, betrieb der Ministerrat der Armenischen SSR staatlich sanktionierte Enteignungspolitik. Denn entgegen den Aussagen einiger armenischer Regierungs- und Parteivertreter fand in vielen Fällen kein Wohnungstausch statt oder dieser wurde unter Druck und Gefahr erzwungen, so dass die Häuser de jure noch den aserbaidschanischen Dorfbewohnern gehörten.165 An den Vertreibungen wirkten nicht nur Parteiorgane mit, die ohnehin mit dem Karabachkomitee sympathisierten, sondern auch solche, die sich bisher

161 GARF f. 5446, op. 150, d. 2093, l. 8–9, Brief aus dem Rayon Spitakskij mit 210 Unterschriften an den Ministerrat der UdSSR vom 17. August 1989. 162 HAA f. 1, op. 82, d. 30, l. 17–19, 63–68 Protokolle des ZK KP ArSSR vom 4. Dezember 1988 und 22. Dezember 1988. 163 HAA f. 1159, op. 3, d. 1, l. 73–75, Beschluss des ZK KP ArSSR vom 16. Januar 1989. 164 HAA f. 1159, op. 3, d. 1, l. 59, Beschluss des ZK KP ArSSR vom 22. Dezember 1988. 165 Über den erzwungenen Wohnungstausch zwischen Armeniern und Aserbaidschanern siehe Elie: »Au centre d’un double malheur«.

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von der Karabachbewegung distanziert hatten.166 Wenn es um die Vertreibung von Aserbaidschanern ging, arbeiteten sie Hand in Hand; die Grenzen zwischen Dissens, Konformität und staatlicher Loyalität hoben sich hier auf. Das politische Machtvakuum, die Frustration über die scheinbare Unlösbarkeit des Konflikts mit politischen Mitteln und das Wissen um die Straflosigkeit machten den Gewaltausbruch in vielen Schichten der armenischen Gesellschaft möglich. Einerseits munterte das Karabachkomitee sowjetarmenische Regierungsbeamte dazu auf, bei den Vertreibungen mitzuwirken, um den »historischen Prozess« nicht aufzuhalten. Andererseits fühlten sich viele aus der Bevölkerung vermutlich durch die aktive Teilnahme vieler armenischer Regierungsmitglieder angestachelt und in ihrer Gewaltausübung gerechtfertigt. Bis auf die weit entfernten Organe in Jerewan existierten vor Ort in der Provinz also keine Instanzen mehr, die gegen die Gewalt eintraten, und Teile der armenischen Bevölkerung wurden somit von beiden Seiten zu Gewalt oder zum Unterlassen von Hilfeleistung aufgefordert. Die hohe Anzahl an Flüchtlingen – eine Konsequenz der Gewalt – stellte eine Herausforderung für die sowjetische Regierung, insbesondere aber für die republikanischen Regierungen im Kaukasus dar, der diese kaum gewachsen waren. Besonders erdrückend war die Frage danach, wo die Emigranten unterkommen sollten. Die Armenier aus Baku wollten beispielsweise aufgrund ihrer urbanen Lebensweise nicht in kleine armenische Provinzstädte oder aufs Land umsiedeln, aus Angst, ihren bisherigen Lebensstandard aufgeben zu müssen. Sie waren gut ausgebildet und stark russifiziert, da es in Aserbaidschan nur die Wahl zwischen russischen und aserbaidschanischen Schulen gegeben hatte. Ihre Massenausreise bewirkte einen Fachkräftemangel in Baku, insbesondere in den technischen Berufen. Angesichts der Wohnungsnot und zahlreicher anderer sozialer Probleme in Moskau und anderen Großstädten weigerte sich die sowjetische Regierung, die Flüchtlinge in Moskau unterzubringen.167 Zwischen November 1988 und Februar 1989 hielten sich rund 3500 Armenier aus 166 So wirkte beispielsweise Norayr Muradyan, der Erste Parteisekretär für die Region Spitak, mitverantwortlich für die aserbaidschanischen Dörfer Saral und Kursaly an der Vertreibung mit, in: Interview mit Norayr Muradyan (*1941), Spitak, 07.12.2013. Gleichzeitig distanzierte er sich aber in einem anderen Interview und in seinen Memoiren deutlich vom Karabachkomitee, vgl. Interview mit Norayr Muradyan (*1941), Moskau, 13.06.2013 und Muradyan, Norayr: Poka ja pomnju, ja živu, in: L. V. Afanas’eva (Hg.): Spitakskij Memorial. 1988–2008, Moskau 2008, S. 65–90, hier S. 80, 82. 167 GARF f. 9654, op. 10, d. 369, l. 11–19, Protokoll einer Besprechung in Moskau zwischen Mitarbeitern der sowjetischen Arbeitsagentur Goskomtrud und geflüchteten Aserbaidschanern aus Baku vom 2. März 1989.

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Baku in Moskau auf, wo sie auf Wohnungen oder eine Umsiedlung in andere Regionen der Sowjetunion warteten. Die aserbaidschanischen Geflüchteten waren hingegen meist Bauern, weshalb ihre Abwesenheit sich insbesondere in der Landwirtschaft bemerkbar machte. In vielen Teilen Sowjetarmeniens gab es nur noch wenige Bauern, die sich um das Vieh und die Herstellung von Fleisch- und Milchprodukten kümmerten, so dass es bald zu einem spürbaren Versorgungsproblem für Armenien kam.168 Um der Lage Herr zu werden, gründete der sowjetarmenische Ministerrat im November 1988 eine Kommission, die sich der Flüchtlingsproblematik annahm, indem sie sich um die materielle Versorgung der Geflüchteten kümmerte und Unterkünfte organisierte. Eine ähnliche Kommission gab es bereits ab Mai 1988 für die Geflüchteten aus Sumgait, weil die Zahl der einreisenden Armenier nicht abriss.169 Unter den 16 Mitgliedern der neuen Kommission waren auch zwei Mitglieder des Karabachkomitees, Vazgen Manowkyan und Xačik Stambolc’yan, wodurch die politische Machtbasis des Karabachkomitees innerhalb der armenischen Regierung sich bereits deutlich abzeichnete und was auch auf die parallele Machtausübung der sowjetischen Behörden und des Komitees verwies.170 Das Komitee engagierte sich zudem außerhalb der offiziellen Kanäle für die aus Aserbaidschan ankommenden armenischen Geflüchteten. Es sammelte auf Demonstrationen Spendengelder, rief auf seinen Freitagstreffen zu Solidarität mit den Geflüchteten auf und errichtete für diese ein Spendenkonto.171 Studentenbrigaden bauten ihnen Wohnungen.172 Die bereits bestehende Vernetzung zwischen den einzelnen Unterkomitees erleichterte vermutlich die Arbeit und ermöglichte so eine schnelle Kommunikation über mehrere Regionen, aber auch über offizielle Kanäle hinweg. Diesem funktionierenden und weitreichenden Netzwerk hatten die sowjetischen Behörden nichts entgegenzusetzen, womit es dem Karabachkomitee einmal mehr gelang, seine Macht innerhalb der Republik auszubauen und sich vor der Bevölkerung als Quasi-­ Regierung zu präsentieren. Zwei Wochen später, am 2. Dezember 1988 gründete auch der Ministerrat der UdSSR in Moskau eine »Kommission für Bürger, die zum Verlassen ihrer permanenten Wohnorte gezwungen waren«, und drohte 168 GARF f. 5446, op. 162, d. 263, l. 14–15, Brief des Ministerrates der Armenischen SSR an den Ministerrat der UdSSR vom 17. Oktober 1990; Malkasian: »Gha-ra-bagh!«, S. 176. 169 Kommunist 129, 01.06.1988, S. 1. Bis Anfang Juni 1988 waren 3189 Armenier aus Sumgait und Bergkarabach in die Armenische SSR geflohen. 170 Malkasian: »Gha-ra-bagh!«, S. 172. 171 Cheauré: Armenien im Oktober 1988, S. 209. 172 Ebd.

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mit Strafen gegen sowjetische Beamte, die Mitarbeiter aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit entließen.173 Die Gewalt und die präzedenzlosen Fluchtbewegungen zwischen den beiden kaukasischen Republiken verdeutlichen nicht nur den Kontrollverlust in der Peripherie, sondern zeigen auch auf, dass Teile der Bevölkerung ihre Wut und Unzufriedenheit gegenüber dem Kreml durch Gewalt zum Ausdruck brachten. Da Gewalt gegen das Zentrum fast unmöglich war, nutzten Armenier ihre Position aus, indem sie in Armenien wohnende Aserbaidschaner vertrieben und Moskau auf diese Weise ihre Macht bewiesen. Möglich wurden die Verfolgungen jedoch nur, weil in Armenien ein politisches Chaos herrschte, in dem die Hierarchien nicht mehr ganz eindeutig auszumachen waren. Aber dennoch interpretierten die meisten Armenier auf den Straßen Jerewans jene »fehlgeleiteten« Prozesse nicht als Problem des gesamten sowjetischen Systems. Mit ihren Postern brachten sie zum Ausdruck, dass sie an eine mögliche Besserung in der Umsetzung der Reformen glaubten. Noch blieb die Perestrojka als Projekt und damit auch die Sowjetunion ein Referenzpunkt, auf den sich die Armenier Ende 1988 beriefen, auch wenn sie ihn mit zunehmender Schärfe kritisierten und anzweifelten. In diesem Sinne entsprachen die Tendenzen auf den Straßen Jerewans jenen politischen Entwicklungen innerhalb der Führung der Karabachbewegung: Zwar wussten schon Ende November 1988 manche Mitglieder des Karabachkomitees, dass »auch diese Macht [Gorbačevs] zu Ende gehen wird« und Gorbačev in einem Jahr zu einer »politischen Leiche« würde.174 Gleichzeitig sahen sie aber ein, dass das bisher »nur theoretische Überlegungen« waren.175 Armenien befand sich im Transitbereich: von der Perestrojka nicht mehr uneingeschränkt überzeugt und auf der Suche nach etwas Neuem, aber ohne zu wissen, wo der Weg hinführen könnte.

3.4 Fazit: Politischer Ausnahmezustand – Auftakt zur Katastrophe Dieses Kapitel zeigte die politische Situation vor dem Erdbeben auf, um so die späteren Auswirkungen der Naturkatastrophe auf die soziale Ordnung in Armenien verständlicher zu machen. In diesem Zeitraum von Ende 1987 bis zum 173 Izvestija 339, 03.12.1988, S. 3; Malkasian: »Gha-ra-bagh!«, S. 176. 174 HAA f. 1159, op. 3, d. 24, l. 29, aus einer Rede von Vano Siradegyan am 24. November 1988 auf dem Theaterplatz. 175 HAA f. 1678, op. 1, d. 12, l. 3, aus einer Rede von Lewon Ter-Petrosyan am 4. Dezember 1988 in Ēȷˇmiacin.

Fazit

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Dezember 1988 entwickelten sich Akteurskonstellationen, welche die Dynamik während des späteren Katastrophenmanagements und des Wiederaufbaus entscheidend mitprägten. Der von Gorbačev anvisierte Kaderwechsel in der sowjetischen Peripherie hinterließ als Nebenprodukt ab Mitte 1987 ein Machtvakuum, das von Dissidentengruppen als Gelegenheit wahrgenommen wurde, ihre Ziele, wie die Angliederung Karabachs, eine sauberere Umwelt und den Schutz ihrer Sprache, an die armenische Öffentlichkeit zu tragen, um sich so Zuspruch bei der Bevölkerung zu holen. Dabei konnte das Kapitel deutlich machen, dass die Karabachbewegung das Projekt einiger weniger armenischer Intellektueller war, die die politische Sprengkraft des Themas für eine Massenmobilisierung erkannt hatten, um so durch ihre Vorschläge für eine politische Neugestaltung Armeniens Macht zu gewinnen. Innerhalb kurzer Zeit stieg das Karabach­komitee zur Parallelmacht auf, zog Parteimitglieder an und schaffte es sogar in den Obersten Sowjet Armeniens. Infolgedessen bröckelte die Machtbasis der armenischen Regierung, weil sie sich zunehmend entzweite und es der im Mai 1988 von Gorbačev eingesetzte armenische Parteiführer Suren ­Harut’yunyan nicht vermochte, die Massen zurückzugewinnen. Für einen Großteil der demon­strierenden armenischen Bevölkerung jedoch war der Protest mehr auf die eigenen Lebensumstände und die Ungerechtigkeiten gerichtet als auf den Umsturz des politischen Systems. Ihre Ansichten wurden zwar radikaler, verwiesen aber noch nicht auf einen Bruch mit dem sowjetischen System. Noch offenbarte sich ihnen keine wirkliche Alternative dazu, auch wenn die Anführer der Bewegung bereits sehr erfolgreich darin waren, vermeintliche politische Alternativen zu suggerieren und so den Zuspruch der Bevölkerung zu gewinnen. So waren es die Reden des Komitees auf dem Opernplatz und nicht jene der armenischen Regierung, denen Armenier nun zuhörten, wie sich am 7. November 1988 zeigte. An diesem Jahrestag der Oktoberrevolution übertönten laute Kassettenaufnahmen mit martialischer Musik sowie scharfzüngige »Bravo«-Rufe aus dem Publikum die offiziellen Parteireden. Als jedoch als Lewon Ter-Petrosyan die Nebenbühne betrat, herrschte plötzlich Grabesstille. Den Rednern aus der Partei wendete die Masse als Zeichen des Protests ihre Rücken zu.176 Und schließlich waren es Flugblätter der Bewegung, die die Menschen in Armenien nun lasen, und nicht die sowjetischen Zeitungen, die sie stattdessen in einem Lagerfeuer in Leninakan im Sommer 1988 verbrann176 Fischer, Michael M. J./Grigorian, Stella: Six to Eight Characters in Search of Armenian Civil Society amidst the Carnivalization of History, in: George E. Marcus (Hg.): Perilous States. Conversations on Culture, Politics, and Nation, Chicago, London 1993, S. 81–130, hier S. 107.

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ten.177 Ereignisse wie das Pogrom in Sumgait im Februar 1988, die Entscheidung des Obersten Sowjets gegen die Eingliederung Bergkarabachs im Sommer 1988 und die Stationierung sowjetischer Panzer in Armenien führten zu großer Enttäuschung über die Reformen und über das nicht eingelöste Versprechen, sich mehr den Belangen der Bevölkerung zu widmen. Glasnost’ beschleunigte diese Entwicklungen, weil Kritik nun sagbar wurde. Gleichzeitig aber wurde Glasnost’ selbst zum Gegenstand der Kritik, weil die Reform vielen Armeniern nicht weit genug ging und weil sie ein Mittel war, um das Regime an dessen eigenen Normen zu messen. Die Unzufriedenheit mit dem sowjetischen Partei- und Staatsapparat, der orientierungslos nach Lösungen suchte und dabei tatenlos blieb, schlug bei einigen Anhängern der Bewegung alsbald in heftige Gewalt gegen die aserbaidschanische Minderheit um und führte zu deren fast vollständiger Vertreibung aus Armenien im November 1988. Die ethnischen Spannungen zeigen auf, wie sehr die Parteizentrale in Moskau die Kontrolle über die Peripherie verloren hatte. Gleichzeitig wirft die Gewalt ein neues Licht auf die Verbindungen zwischen dem Karabachkomitee und der lokalen Parteielite. Um dem Ziel einer ethnischen Säuberung Armeniens näherzukommen, bildeten beide eine gewalttätige Notgemeinschaft und handelten trotz ihrer politischen Differenzen koordiniert gewaltsam. Die lokale Parteielite war demnach sichtbar gespalten zwischen der Zugehörigkeit zur nationalen Bewegung und der zum Zentrum. Es waren die Bündnisse und Konflikte sowohl zwischen der armenischen Regierung und der nationalen Bewegung als auch zwischen den Partei- und Regierungsapparaten in Armenien und in Moskau, welche die anschließende Erdbebentragödie grundlegend prägten.

177 Marutyan: Iconography of Armenian Identity, S. 160.

4 Bebender Kaukasus und eine Sowjetmoderne auf tönernen Füßen

»Die Katastrophe in Armenien hat die ganze Welt schockiert, aber sie zeigt auch unsere Geschwüre auf, sie zwingt uns, über viele Fragen nachzudenken.«1 Petr Suida, Novocherkassk

In der historischen Katastrophenforschung ist bereits mehrfach konstatiert worden, dass die Art, wie eine Regierung eine Katastrophe bewältigt, über Behauptung oder Verlust ihrer Legitimität entscheide.2 Bewältigungsversuche werden zu Prüfkriterien für die technische und politische Fähigkeit der Regierung. So stärkte die Katastrophenbewältigung nach dem Beben in Taschkent 1966 die sowjetische Regierung unter Brežnev. Das Erdbeben in Nicaragua 1972 wird von Wissenschaftlern als politisches Erdbeben bezeichnet, weil es zum Sturz der Somoza-Dynastie beitrug.3 Auch im Fall von Armenien stellt sich die Frage, inwiefern das Erdbeben vor dem Hintergrund des ethno-territorialen Konflikts um Bergkarabach und den Massendemonstrationen dazu beitrug, die Herrschaft des lokalen und nationalen Partei- und Staatsapparates zu unterminieren. Zum einen verdichtete und beschleunigte das »Extreme« der Katastrophe die ohnehin schon stattfindenden politischen Prozesse und beschränkte durch seinen hohen Bedarf an staatlichen Ressourcen die Möglichkeiten, die Konflikte einzudämmen. Zum anderen legte die Katastrophe politische und sozioökonomische Strukturen des »Normalen« offen, die Auskunft darüber geben, was die sowjetische Gesellschaft so verwundbar und anfällig für Katastrophen machte.4 Diese Strukturen, zu denen hier das Katastrophenmanagement, das sowjetische Gesundheitswesen sowie der politische Umgang mit dem Nationalitätenkonflikt gehören, geben somit auch Aufschluss über die Verfasstheit des sowjetischen Regimes kurz vor 1 RFL/RL AS 6333, Petr Suida, »Tragedija Armenii«, vom 11.12.1988 (Samizdat), S. 1. 2 Omelicheva: Natural Disasters, S. 444; Vale, Lawrence J./Campanella, Thomas J.: Conclusion: Axioms of Resilience, in: Lawrence J. Vale/Thomas J. Campanella (Hg.): The Resilient City. How Modern Cities Recover from Disaster, Oxford 2005, S. 335–355, hier S. 336. 3 Dosal, Paul J.: Natural Disaster, Political Earthquake. The 1972 Destruction of Managua and the Somoza Dynasty, in: Jürgen Buchenau/Lyman L. Johnson (Hg.): Aftershocks. Earthquakes and Popular Politics in Latin America, Albuquerque 2009, S. 129–159.. 4 Zu Katastrophen als Offenbarern von Strukturen des »Normalen« siehe Hewitt, Kenneth (Hg.): Interpretations of Calamity. From the Viewpoint of Human Ecology, London 1983.

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dessen Zusammenbruch. Indem das Kapitel die Bewältigungsversuche der einzelnen Akteure und Akteursgruppen – der armenischen Bevölkerung, der sowjetischen und armenischen Regierung und der Anhänger der nationalen Bewegung Armeniens – untersucht, werden Stärken und Schwächen des Regimes sowie Möglichkeiten, Grenzen und Dynamiken der Perestrojka-Reformen aufgezeigt. In einem zweiten Schritt geht das Kapitel der Frage nach, inwiefern die von der Regierung unternommenen Bewältigungsversuche die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie sowie zwischen Armenien und Aserbaidschan mitgestalteten und so an dem Entfremdungsprozess mitwirkten. Die Bewältigungsversuche erschöpften sich dabei nicht nur in technischen Strategien, sondern fanden auch Ausdruck im kommunikativen Handeln, weshalb die öffentlichen Diskurse und unterschiedlichen Deutungen der Katastrophe ein entscheidendes Element der Analyse bilden.5 Um die Multidimensionalität des Ereignisses widerzuspiegeln, zeigt das Kapitel die enge Verflechtung der Katastrophe mit den lokalen, die nationalen und die transnationalen Entwicklungen auf, wobei die Analyse die Deutungen aus der armenischen Bevölkerung berücksichtigt.

4.1 Sicherung der Macht statt Schutz der Bevölkerung: Der Umgang mit der Katastrophe Als das Erdbeben mit einer Stärke von 6,9 auf der Richterskala kurz vor Mittag am 7. Dezember 1988 die Kaukasusrepublik erschütterte, waren die meisten Bewohner der Städte Leninakan, Spitak und Kirovakan sowie der umliegenden Dörfer an ihrem Arbeitsplatz, in den Schulen oder in den Kindergärten. Nach offiziellen Angaben kamen bei dem Erdbeben 25.000 bis 100.000 Menschen ums Leben.6 Ungefähr ein Drittel des gesamten sowjetarmenischen Territoriums, auf 5 Voss, Martin: The vulnerable can’t speak. An integrative vulnerability approach to disaster and climate change research, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 3 (2008), S. 39–56. 6 Die offizielle Opferzahl des sowjetischen Gesundheitsministeriums betrug 24 985. Vgl. ­Virabyan: Spitaki erkrašarž, S. 6. Nach den Aufschlüsselungen des Politbüros entspricht die Zahl 24.985 jedoch nur den Opfern, die tot geborgen worden sind, und berücksichtigt nicht jene, die im Krankenhaus oder auf dem Weg dorthin verstorben oder unter den Trümmern geblieben sind. Schätzungen über die tatsächliche Anzahl der Opfer gehen daher weit auseinander. Die UNDRO ging anfänglich beispielsweise von ca. 30.000–35.000 Toten aus. Vgl. UNDRO: Report on International Relief Assistance For the Earthquake of 7 December 1988 in the Soviet Socialist Republic of Armenia, Genf 1989, S. 3. Pierre Verluise geht von über 100.000 Toten aus, siehe Verluise: Armenia in Crisis, S. 31–33. Der Einsatzleiter des Technischen Hilfswerks (THW) aus Deutschland, Hermann Klein-Hitpaß, schätzt die Zahl in einem Interview auf 120.000 Toten, in: Interview mit Hermann Klein-Hitpaß (1934–2014),

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dem vor dem Erdbeben etwa 700.000 Menschen gelebt hatten, lag in Trümmern. Insgesamt waren 21 Städte und Dörfer sowie 324 Siedlungen von dem Erdbeben betroffen. Dabei wurde die Stadt Spitak mit 18.000 Einwohnern so stark zerstört, dass sie im sowjetischen Atlas von 1989 auf der Landkarte als Ruine und nicht mehr als Stadt eingezeichnet war.7 Von der Bevölkerung Spitaks kamen 20 Prozent bei dem Erdbeben ums Leben. In Armeniens zweitgrößter Stadt Leninakan starben von den 230.000 Einwohnern knapp 11.000 Menschen und es wurden 80 Prozent der Gebäude zerstört. Als Folge des Erdbebens waren über acht Millionen Quadratmeter Wohnfläche nicht mehr nutzbar. Zu der großen Anzahl von Geflüchteten aus Aserbaidschan kamen nun über 500.000 Obdachlose dazu. Zudem richtete das Erdbeben einen verheerenden wirtschaftlichen Schaden an: 40 Prozent der Produktion Armeniens stand plötzlich still. Der Gesamtschaden der Zerstörung wurde zunächst auf drei, dann auf acht Milliarden Rubel geschätzt und später auf 13 Milliarden Rubel hochkorrigiert. Besonders auffällig ist das Verhältnis von Verletzten zu Toten bei diesem Erdbeben.8 Während es in der Regel bei Erdbeben dreimal so viele Verletzte wie Tote gibt, waren es in Armenien fast genauso viele Verletzte wie Tote.9 Der ehemalige Leiter des Technischen Hilfswerks, Hermann Klein-Hitpaß, hatte wohl »noch nie so etwas Perfektes an Katastrophe erlebt wie in Armenien. Nämlich dieses Totale. Alles kaputt. Alles im Argen.«10 Selbst US-amerikanische Katastrophenspezialisten gaben im Nachhinein zu, dass die USA zu jenem Zeitpunkt keineswegs in der Lage gewesen wären, auf ein Erdbeben mit der gleichen Größenordnung an Zerstörung und Todesopfern in dicht besiedelten Gebieten wie beispielsweise San Francisco adäquat zu reagieren.11

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per ­Telefon, 31.07.2013. Eine vom Computerzentrum des armenischen Gesundheitsministeriums 1990 in Auftrag gegebene Studie bestätigte jedoch wiederum die Zahl von um die 25.000, vgl. Halpin, Tony: Disaster and Recovery. Two Years Later, a Shattered Nation Picks up the Pieces at a Crawling Pace, in: Armenian International Magazine 1 (1991), S. 8–15, hier S. 10. Generalstabskarte von 1990, 1:1.000.000, Blatt K 38. Hovannisian, Vartiter: The Armenian Earthquake, 14.08.1989, Maschinenschrift. Siehe auch: Strand: Perestroika’s Effects, S. 45. Das Gesundheitsministerium verzeichnete 19.000 Verletzte, vgl. GARF f. 5446, op. 150, d. 103, l. 6–8, hier l. 6, Bericht über die Bauqualität in Armenien und die Gründe für die Zerstörung während des Erdbebens, April 1989. Interview mit Hermann Klein-Hitpaß (1934–2014), per Telefon, 31.07.2013. U. S. House of Representatives: Soviet Armenian Earthquake Disaster: Could a Similiar Disaster Happen in the U.S.? Hearings held by the Subcommittee on Science, Research, and Technology, Committee on Science, Space and Technology, 101st Congress, 1st session, 15. März 1989, S. 12. Die Aussage stammte von Frederick Krimgold, Spezialist für Katastrophenschutz, damals Stellvertretender Dekan am Virginia Polytechnic Institute.

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Da Gorbačev sich zum Zeitpunkt des Erdbebens in New York auf der UN-Vollversammlung aufhielt, wo er seine berühmte Rede über die Reduzierung des sowjetischen Truppenkontingents hielt, war während seiner Abwesenheit Nikolaj Ryžkov als Premierminister für das Katastrophenmanagement zuständig. Wie bei vorangegangenen Katastrophen in der Sowjetunion gründete das Politbüro zunächst eine »Kommission zur Beseitigung der Erdbebenfolgen«, die von Ryžkov selbst geleitet wurde und zudem aus dem Verteidigungsminister Dimitrij Jazov, den beiden Stellvertretern des sowjetischen Ministerrates Jurij Batalin und Lev Voronin sowie dem Sekretär des Politbüros Nikolaj Sljun’kov bestand.12 Sie sollte die militärischen Einheiten des Zivilschutzes sowie Ärzte, Bergsteiger und Freiwillige aus dem ganzen Land mobilisieren. Zudem war sie für das Bereitstellen von Hilfsgütern, Kränen, Bulldozern, Baggern und anderen schweren Geräten aus allen Republiken zuständig. Aufgrund der umfassenden Zerstörung ganzer Städte und Landstriche überstiegen die Rettungsmaßnahmen jede bisher da gewesene Katastrophenhilfe in der Sowjetunion. Allein am Umfang der Rettungsmaßnahmen wurde deutlich, dass dem Erdbeben in der Sowjetunion für die ersten Tage und Wochen eine hohe Priorität eingeräumt wurde. Nicht nur brach Gorbačev seine Auslandsreise ab, er verzichtete auch auf die Fernsehübertragung seiner Ankunft in Moskau am 9. Dezember 1988 nach seinem Staatsbesuch in New York, was sonst nach sowjetischer Tradition durchaus üblich war, zumal der Besuch in den USA äußerst erfolgreich gewesen war. Die Priorität, die der Katastrophe eingeräumt wurde, drückte sich zudem in Zahlen aus. Bis zum Januar 1989 wurden über 1000 innersowjetische Flüge nach Armenien gezählt, die Hilfsgüter und Personal transportierten. Innerhalb der ersten zwölf Tage nach dem Erdbeben brachten 27.000 Eisenbahnwaggons weitere Hilfsgüter, Nahrungsmittel und Kleidung in die Erdbebenregion. Insgesamt 19.500 Menschen aus 500 verschiedenen sowjetischen Institutionen waren an den Rettungsarbeiten beteiligt.13 Abgesehen von den bestehenden bürokratischen Hürden entstand zweifelsohne das Bild einer sich sorgenden sowjetischen Regierung, die alles in ihrer Macht Stehende tat, um zu helfen. Trotz des hohen Aufwandes war das Resultat für den sowjetischen Katastrophenschutz aber eher ein Armutszeugnis, was keinesfalls nur dem extremen Ausmaß der Katastrophe zuzuschreiben war. Vielmehr kamen durch die Katastrophenbewältigung lange vorher angelegte 12 Pravda 343, 08.12.1988, S. 3. 13 UNDRO: Report on International Relief Assistance, S. 2; Krimgold, Frederick: Economic and Social Impacts of Armenia Earthquake, in: Earthquake Engineering, Tenth World Conference, Leiden 1994, S. 7011–7015, hier S. 7012.

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Vulnerabilitäten und Schwächen des sowjetischen Systems zum Vorschein, die sich nun auf engstem Raum gefährlich zuspitzten. Die Zahlen der Flüge oder Eisenbahnwaggons verschleiern den Blick auf andere, wesentlichere Aspekte eines professionellen Katastrophenmanagements. So mangelte es ironischerweise trotz der Politbüro-Kommission an einer wirksamen zentralen Koordinierung. Die Kommission leitete die beteiligten Ministerien und Behörden nicht an, sondern erteilte einmalig den Befehl zu helfen, indem sie allgemein gehaltene Telegramme an die jeweiligen Ministerien und Organisationen verschickte, ohne dabei auf konkrete Bedürfnisse der Katastrophenzone einzugehen. Danach verliefen die Maßnahmen ohne weitere Kontrolle vom Zentrum aus, so dass die Koordinierungslast auf die armenische Regierung vor Ort fiel. Diese war damit jedoch überfordert, weil sie traditionsgemäß keine auf Katastrophen ausgerichtete politische und administrative Infra­ struktur hatte. Trotz der Lage Armeniens in einer seismisch aktiven Region waren die politischen Strukturen, genau wie in anderen sowjetischen Republiken in der südlichen Peripherie der Sowjetunion, auf Erdbeben nicht vorbereitet. Erst das Erdbeben leistete einen für die Geschichte und die Entwicklung des sowjetischen Katastrophenschutzes bedeutenden Beitrag, indem es mit seinem Ausmaß zum Handeln und zur Reform des Katastrophenschutzsystems zwang.14 Doch bis dahin herrschte Chaos. Die aufgrund des Ausnahmezustands schon Wochen vor dem Erdbeben in Armenien anwesenden Soldaten halfen zwar teilweise beim Abladen von Hilfsgütern, an den Rettungsarbeiten selbst waren sie jedoch nicht beteiligt, weil ihnen dafür kein Befehl erteilt worden war. Der Ausnahmezustand wurde nach dem Erdbeben nicht aufgehoben, so dass in der ganzen Region und in Jerewan weiterhin großflächige militärische Präsenz vorhanden war, welche die Infrastruktur lähmte und die Rettungsarbeiten behinderte. Ein Zeitzeuge beschrieb Jerewan daher als »eine Stadt im Belagerungszustand«.15 Zwar ist es bei Katastrophen unabdingbar, die Lage zu kontrollieren und nötigenfalls militärisch zu beobachten; dadurch, dass die Sorgen um den politischen Zusammenhalt in der Republik jedoch Priorität vor dem Retten von Menschenleben einnahmen, verwandelte sich die Erdbebenregion in einen »Kriegsschauplatz« nach den Kriegshandlungen. Ohne die Erteilung des Befehls, sich an den Rettungsarbeiten zu beteiligen, blieben die Soldaten mit geschultertem Maschinengewehr auf ihren Beobachterpositionen. Trotz ihrer 14 Zur Entwicklung und Reform des sowjetischen Katastrophenschutzes 1989–1991 siehe Elie: Late Soviet Responses sowie Kapitel 6.2 der vorliegenden Arbeit. 15 Verluise: Armenia in Crisis, S. 101.

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Omnipräsenz waren sie nicht gewillt, den von ihnen beaufsichtigten Verkehr so zu regeln, dass lebenswichtige Hilfsgüter und Krankenwagen freie Fahrt zu und von der Erdbebenregion hatten; nur der Besuch der Politbüromitglieder konnte den Stau in Sekundenschnelle in Luft auflösen. Die staatliche Ordnung stand über allem – daran änderte offenbar auch Glasnost’ nichts. Der sowjetische Zivilschutz war nur unzureichend ausgerüstet, ausgebildet und besetzt. Grundsätzlich mangelte es ihm an großen Geräten und Fahrzeugen wie etwa Betonschneidern, Kränen, Bulldozern oder Stromgeneratoren, die das Arbeiten bei Nacht möglich gemacht hätten.16 Zudem waren die Soldaten nicht in der Bergung von Ruinenopfern geschult. Ein sowjetischer Hobbybergsteiger erinnerte sich, dass einige der Einheiten zwar mit ihnen hätten arbeiten wollen, dass er sie aber schließlich gebeten habe zu verschwinden, aus Angst, »sie könnten entweder […] [die Bergsteiger] oder sich selbst umbringen. […] [Die Soldaten] wussten nicht einmal, von welcher Seite sie sich dem zerstörten Haus nähern sollten.«17 Selbst als am zehnten Tag nach der Katastrophe Geräte und Fahrzeuge in größerer Anzahl aus anderen Regionen der Sowjetunion mobilisiert worden waren, gelangten diese oftmals aufgrund überfüllter Straßen nicht an ihren jeweiligen Zielort.18 Am folgenschwersten war jedoch, dass ein Großteil der Einheiten Armenien viel zu spät, erst am neunten Tag nach der Erdbebenkatastrophe, erreichte, als die meisten Opfer schon geborgen worden waren.19 Neben strukturellen Problemen spielte hier auch der politische Ausnahmezustand im Kaukasus eine wichtige Rolle. Denn während die Einheiten aus der ganzen Sowjetunion lange Anfahrtszeiten hatten, waren in der Nachbarrepublik Aserbaidschan zur Kontrolle des aktuellen Konflikts über 17.000 Soldaten stationär gebunden.20 Auch wenn diese nicht vom sowjetischen Zivilschutz waren, hätte ihre Hilfe bei den Rettungsarbeiten sicherlich Menschenleben retten können. Insgesamt waren in den ersten zwei Wochen in Leninakan zwar 1000 trainierte Retter des sowjetischen Zivilschutzes anwesend, von diesen waren allerdings nur sehr wenige innerhalb der ersten 48 Stunden vor Ort.21 Ihre verspätete Ankunft lag darin begründet, dass die Zivilschutzeinheiten nicht 16 Izvestija 346, 10.12.1988, S. 1. 17 Rost, Yuri: Armenian Tragedy. An eye-witness account of Human Conflict and Natural Disaster in Armenia and Azerbaijan, London 1990, S. 180. 18 Verluise: Armenia in Crisis, S. 50. 19 Rost: Armenian Tragedy, S. 180 nennt den 20. Dezember 1988 als Ankunftsdatum einiger Truppen. 20 RGANI f. 5, op. 102, d. 51, l. 7, Dokument über den Stand der Lage in Armenien und Aserbaidschan von der Generalstabsleitung vom 4. Januar 1989. 21 U. S. House of Representatives: Soviet Armenian Earthquake Disaster, S. 12.

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für eine Katastrophe dieser Größenordnung vorbereitet waren und bürokratische Hürden ihre Reise nach Armenien behinderten. So erstellte die Zentrale des Zivilschutzes zunächst umständlich Listen über Regimenter und Ärzte. Und ganz im Dienst der Ordnung vergeudeten sie kostbare Zeit damit, Dienstreisen zu genehmigen.22 Bis zur Ankunft der Einheiten wurden die meisten Erdbebenopfer von Zivilisten mit bloßen Händen aus den Trümmern geborgen, während Soldaten mit Maschinengewehren für die staatliche Ordnung sorgten. Neben den sowjetischen Zivilschutzeinheiten und freiwilligen Helfern aus Armenien waren viele Ärzte, professionelle Bergsteiger und Schachtarbeiter aus allen Teilen der Sowjetunion an den Rettungsarbeiten beteiligt. Aufgrund mangelnder Koordination der Rettungsarbeiten waren jedoch je nach Region wesentlich mehr freiwillige aber unausgebildeter Helfer da als nötig, was die professionellen Arbeiten behinderte. So erinnert sich ein Mitarbeiter des sowjetischen Zivilschutzes, dass »[a]uf einen Menschen [unter den Trümmern] […] 200 Retter [kamen], die dann oft nur herumstanden.«23 Zwar konstatierte die Literaturnaja Gazeta stolz, jeder sei ein Retter, bedachte dabei jedoch nicht, dass dies auch weitreichende Konsequenzen für die Rettenden hatte. Moskau rekrutierte als Freiwillige oftmals junge Studenten, insbesondere aus der Medizin, die noch in den ersten Semestern studierten und somit weder Praxiserfahrung noch Vorbereitung vorweisen konnten. Was den meisten zunächst als ein Abenteuer erschien, wurde für viele junge Studenten zu einer traumatischen Erfahrung. Jung und unerfahren, wurden sie ohne Betreuung in ein Katastrophengebiet entsendet; dabei entstand bei einigen, wie dem jungen Medizinstudenten Andrej, der Eindruck, dass »jeder machen konnte, was er wollte. Man hatte keinen ›Anführer‹. Man konnte faulenzen oder Menschen retten. […] Niemand hat auf uns aufgepasst«.24 Er und auch andere befanden sich nach ihrer Rückkehr nach Moskau für mehrere Wochen und gar Monate im Schockzustand mit traumatisch bedingtem Sprachverlust.25 Die Dunkelziffer der bei den Rettungsarbeiten zu Tode gekommenen jungen Menschen war hoch. Allein in Leninakan wusste man von mindestens 16 erfahrenen Rettungskräften, die bei den Bergungsarbeiten in den Ruinen ums Leben kamen. Die Zahl der unerfah-

22 Interview mit Aleksej Lobanov (*1936), Moskau, 13.06.2013. 23 Ebd. 24 Interview mit Andrej Lobanov (*1956), Moskau, 05.06.2013. 25 Ebd.

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renen minderjährigen Einsatzkräfte lag sicherlich um einiges höher.26 Trotz allem war die Bereitschaft zu helfen in den ersten Tagen und Wochen ungebrochen. Freiwilligengruppen reisten aus dem ganzen Land ein.27 Schockiert über den nun sichtbarer gewordenen Mangel an Katastrophenschutz und Fachwissen, gründeten einige von ihnen nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatrepubliken ehrenamtliche Rettungsvereine, weil sie die vom Staat zur Verfügung gestellten Strukturen für unzureichend befanden.28 Ebenso notdürftig war die medizinische Versorgung vor Ort, deren Zustand sich als besonders folgenschwer für Opfer mit dem sogenannten Crush-Syndrom erwies. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, das meist im Zusammenhang mit Erdbeben auftritt: Das Blut im Körper kann aufgrund von Quetschungen nicht mehr im normalen Kreislauf gereinigt werden; nach einer Befreiung aus den Trümmern schießt das stark verunreinigte Blut dann in den Rest des Körpers und vergiftet somit den Betroffenen. Das Niveau der medizinischen Ausrüstung in der Sowjetunion war desolat. Am Tag des Erdbebens wurden in Armenien elf Dialysegeräte gezählt, die auf dem Stand von 1960 waren, von denen auch nur sieben funktionierten und von denen wiederum zwei kurz nach dem Erdbeben ausfielen.29 Zwar hatte das örtliche Regiment des Zivilschutzes ein Medikamentenlager, aber niemand traute sich, das Lager ohne Erlaubnis zu öffnen, weshalb es erst nach Gorbačevs Besuch am dritten Tag nach dem Erdbeben geöffnet wurde.30 Über 10.000 Menschen verstarben auf dem Weg ins Krankenhaus unter anderem aufgrund mangelhafter medizinischer Versorgung und ungeeigneter Transportmittel, die stundenlang in Staus zubrachten.31 Erschwerend hinzu kam die Ausgangssperre, die schon in den Wochen vor dem Erdbeben aufgrund der politischen Situation verhängt wurde. Trotz des medizinischen Ausnahmezustands galt sie auch für Ärzte, die infolgedessen ihre Wohnungen abends und nachts nicht verlassen durften, um zu hel-

26 Rossiskij gosudarstvennij archiv kino i fotodokumentov (im Nachfolgenden RGAKFD) r. 30796 S. Chejfec, Poka grom ne grjanet, CSDF/Čelovek i vremja, Moskau 1989, Interview mit einem Feuerwehrmann. 27 Siehe Leserbrief einer Gruppe aus Charkov an Ogonek 1, 1989, S. 2. 28 Novoe Vremja 34, 1989, S. 3 und RGAKFD r. 30796 S. Chejfec, Poka grom ne grjanet, CSDF/ Čelovek i vremja, Moskau 1989. 29 Verluise: Armenia in Crisis, S. 30. 30 Interview mit Aleksej Lobanov (*1936), Moskau, 13.06.2015. 31 Verluise: Armenia in Crisis, S. 30; Noji, Eric K./Armenian, Haroutune K./Oganessian, Ashot: Issues of Resuce and Medical Care Following the 1988 Armenian Earthquake, in: International Journal of Epidemiology 22 (1993) 6, S. 1070–1076.

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fen.32 Die staatliche Ordnung hatte oberste Priorität; so groß war die Angst vor möglichen Demonstrationen und vor zusätzlicher politischer Instabilität. Die Versorgung der Erdbebenopfer offenbarte darüber hinaus nicht nur das Versagen des medizinischen Versorgungssystems nach einer Katastrophe, sondern auch die generelle Unzulänglichkeit des medizinischen Versorgungssystems in Armenien im Normalzustand. So wiesen viele Patienten, die sich vom französischen Personal der Organisation Ärzte ohne Grenzen untersuchen ließen, Krankheitssymptome auf, die aus der Zeit von vor dem Erdbeben stammten. Dazu gehörten Nierenkrankheiten, Probleme im Verdauungstrakt und am Herzen, die, so schlussfolgerten die Ärzte, von einer unausgeglichenen Ernährung und einer mangelnden Gesundheitsvorsorge, gepaart mit exzessivem Alkoholund Tabakkonsum, stammten.33 Diese Beobachtung ließ einen französischen Arzt daran zweifeln, ob der wirkliche Notstand tatsächlich durch das Erdbeben hervorgerufen wurde oder nicht vielleicht doch durch den allgemein schlechten Gesundheitszustand der armenischen Bevölkerung.34 Ein starkes Immunsystem und eine gute Gesundheit können die gesundheitlichen Auswirkungen einer Katastrophe entscheidend positiv beeinflussen. Durch die chronische Unterfinanzierung des sowjetischen Gesundheitssystems aber hatte die Verwundbarkeit der Bevölkerung mit jedem Jahrzehnt zugenommen.35 Die Tatsache, dass die durchschnittliche Lebenserwartung seit 1960 abgenommen hatte, während sie in den Industrieländern im gleichen Zeitraum angestiegen war, verdeutlicht einmal mehr die zunehmende Verschlechterung des sowjetischen Gesundheitssystems.36 Glaubt man den Statistiken, war in der Sowjetunion auch ohne Erdbeben die Wahrscheinlichkeit, an einer Infektionskrankheit oder einer Verletzung zu sterben, doppelt so hoch wie beispielsweise in den USA.37 Die Katastrophe geschah somit nicht erst am 7. Dezember 1988, sondern hatte schon seit Jahrzehnten vor sich hin geschwelt. Armenier kritisierten diese vergangene und gegenwärtige fehlende Fürsorge vonseiten des Staates durchaus. Zunächst beklagten sie sich über die schlechte Bausubstanz und die dafür verantwortliche Korruption, die, wie viele Studien 32 Hofmann, Tessa: Armenien und der Zerfall der UdSSR, in: Martin Malek/Anna Schor-Tschudnowskaja (Hg.): Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hintergründe, Baden-Baden 2013, S. 381–402, hier S. 401. 33 Verluise: Armenia in Crisis, S. 73. 34 Ebd. 35 Zum sowjetischen Gesundheitsystem nach 1953 siehe Rowland, Diane/Telyukov, Alex­ andre V.: Soviet Health Care from Two Perspectives, in: Health Affairs 10 (1991) 3, S. 71–86. 36 Ebd., S. 81. 37 Ebd., S. 74.

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später belegten, schlussendlich zu der hohen Opferzahl geführt haben.38 Dies taten sie mit einem in Anbetracht der Situation ziemlich makabren Humor, wie der folgende Witz illustriert: »›Mir ist kalt‹, sagt ein Mann zu seiner Frau, während sie unter einem kollabierten Gebäude in Leninakan liegen. Sie erwidert darauf: ›Dann zieh dir eine weitere Betonplatte über.‹«39 Damit verarbeiteten die Betroffenen ihre Hilflosigkeit und Trauer über den sinnlosen Tod ihrer vielen Angehörigen. Der Witz bezog sich auf die falsch eingebauten und verarbeiteten Betonplatten, mit denen nach 1970 die Wohnhäuser in Armenien gebaut worden waren und die aufgrund der oftmals fehlenden Stahlkonstruktionen schon der kleinsten Erdbewegung nicht standhalten konnten. Einerseits war das auf den blühenden Schwarzmarkt im Bausektor zurückzuführen, bei dem immer ein Teil der Materialien verbaut und ein anderer, der eigentlich auch für den Bau des Gebäudes benötigt wurde, verkauft wurde. Andererseits war daran auch die sowjetische Kommandowirtschaft Schuld, in der Bauherren unter extremen Druck gestellt wurden, Häuser fertigzustellen, ungeachtet des Materialmangels.40 Ein anderer Witz versuchte die irrwitzige Jagd nach den Verantwortlichen für das Baudesaster zu verpacken, ohne dabei die Schuldigen beim Namen zu nennen: Ein Richter ruft alle schuldigen Baumaterialien zu Gericht und führt eine Untersuchung durch. Er entscheidet sich, alle Baumaterialien zu bestrafen und ihnen Gefängnisstrafen zu geben: 3 Jahre Haft für Wasser, 4 Jahre Haft für Sand und 5 Jahre Haft für Kies. Als es um den Zement geht, verteidigt sich dieser: »Euer Ehren, das ist nicht fair, dass ich bestraft werde. Ich war doch nicht einmal vor Ort.«41 Auch wenn der Ethnologe Alexei Yurchak der Perestrojka bescheinigte, in zunehmendem Maße anekdotenfrei geworden zu sein, weil der nun möglich gewor38 GARF f. 5446, op. 150, d. 103, ll. 1–9, Vortrag von der staatlichen Kommission für die Überprüfung der Qualität der Projektierung und des Baus von Wohnhäusern, 31. März 1989; Siehe auch Krimgold, Frederick: Search and Rescue Following the Spitak-88 Earthquake, in: Proceedings of the International Seminar on the Spitak-88 Earthquake, 23–26 May, 1989, ­Yerevan, S.S.R. of Armenia, Paris 1992, S. 249–258, hier S. 255–257; Armenian, Haroutune K./Melkonian, Arthur/Noji, Eric K./Hovanesian, Ashot P.: Deaths and Injuries due to the Earthquake in Armenia: A Cohort Approach, in: International Journal of Epidemiology 26 (1997) 4, S. 806–813. 39 Fischer/Grigorian: Six to Eight Characters, S. 122. 40 Agbabian, Mihran: American University of Armenia. A New Beginning for a New Generation. Recollections, Oakland 2002, S. 214. 41 Ebd.

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dene offene analytische Diskurs die Undurchdringbarkeit der offiziellen Wirklichkeit brüchig gemacht habe und Witze somit an Sinn verloren hätten, scheint dies nicht überall in der Sowjetunion zur gleichen Zeit der Fall gewesen zu sein.42 Da es keine öffentlichen Proteste mit der Forderung, die Verantwortlichen zu suchen, geben durfte, lassen diese Anekdoten darauf schließen, dass Armenier es immer noch als nötig empfanden, ihre Kritik auszudrücken, indem sie das Objekt der Kritik nicht wirklich benannten. Neben dem Pfusch am Bau kritisierten die Erdbebenopfer die staatliche Versorgung nach der Katastrophe. Wie tief die Enttäuschung über die Regierung war, zeigten unveröffentlichte Filmausschnitte und Samizdattexte, in denen das Gefühl des Verlassenseins bei vielen Überlebenden in der Erdbebenzone zum Ausdruck kam. In den Filmaufnahmen des zentralen sowjetischen Dokumentarfilmstudios ZSDF (russ.: central’naja studija dokumental’nych fil’mov), die zwar nicht den Weg in den offiziellen Dokumentarfilm über das Erdbeben fanden, aber im Filmarchiv in Moskau aufbewahrt worden sind, beschwerten sich Opfer am zehnten Tag nach der Katastrophe vor laufenden Kameras darüber, dass sich für sie niemand interessiere und keiner nach ihnen frage. In den Filmausschnitten klagen Betroffene über die große Diskrepanz zwischen den Versprechungen in den Medien und der Wirklichkeit: »Die Zeitungen schreiben, dass man uns viel hilft, dass man uns viel Aufmerksamkeit gibt, aber wir spüren davon nichts«, kritisierte eine Frau.43 Erdbebenopfer gaben der armenischen Regierung, insbesondere einzelnen Beamten, die Schuld an der Misere, in der sie sich befanden. Auf Moskau nahm zu diesem frühen Zeitpunkt, zumindest in den vorhandenen Quellen, noch niemand Bezug. Als Zeichen des Protests entzog eine Gruppe von Armeniern der armenischen Regierung in einem wütenden Brief ihr Vertrauen aufgrund »[deren] Unfähigkeit, Rettungs- und Wiederaufbauarbeiten zu organisieren.«44 Dabei trauten sich nur wenige Bürger, auch direkte Kritik am System zu üben und strukturelle Gründe für die Katastrophe anzuprangern; beispielsweise sah der Dissident Petr Suida aus Novocherkassk in einem Samizdattext die Schuld in der »schrecklichen, unmenschlichen tödlichen Gleichgültigkeit des parteistaatlichen beamtenbürokratischen Apparates

42 Yurchak, Alexei: The Cynical Reason of Late Socialism: Power, Pretense, and the Anekdot, in: Public Culture 9 (1997), S. 161–188, hier S. 182 f. 43 RGAKFD film 23997, Zemletrjasenie v Armenii. Otstatki ot fil’ma »Zemletrjasenie«, CSDF, Moskau 1988. 44 GARF f. 9654, op. 10, d. 412, l. 186, Telegramm vom Arbeitskollektiv ErfZNII »Agat« (Jerewan) an M. S. Gorbačev vom 21. April 1989.

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der Natur, der Ökologie, der Umwelt, uns allen gegenüber«.45 In seinem sechsseitigen Brief an Radio Liberty ruft er dazu auf, die Katastrophe als Anlass zu sehen, den seiner Ansicht nach brutalen und unmenschlichen sowjetischen Staatsapparat zu hinterfragen, der nicht dazu in der Lage sei, mobile und gut ausgerüstete Rettungseinheiten wie der »feindliche« Westen zur Verfügung zu stellen, weshalb er den Staats- und Parteiapparat als den tatsächlichen Feind identifiziert.46 Briefe wie dieser, in dem die Vorwürfe an den Staat so deutlich zum Ausdruck kamen, waren jedoch ein Einzelfall. Die Überforderung der staatlichen Strukturen führte dazu, dass die Erdbebenopfer und ihre Angehörigen sich selbst organisierten – ein Phänomen, das bei Naturkatastrophen allerdings oft vorkommt.47 So mobilisierte das Karabachkomitee in einem für es möglichen Rahmen Katastrophenhilfe, womit es in Konkurrenz zur sowjetischen Regierung trat. Denn Katastrophen entscheiden nicht nur bei Herrschenden über deren politischen Auf- oder Abstieg, sondern können ebenso nichtstaatlichen Akteuren zu Macht verhelfen. Die in den Monaten zuvor aufgebauten Netzwerke der verschiedenen Subkomitees der Karabachbewegung in allen Städten und Regionen Armeniens halfen dabei, dass sich die Freiwilligen untereinander schnell und effektiv koordinieren konnten. Diese Netzwerke ermöglichten es, unkompliziert Spenden in Form von Kleidung, Decken und Nahrungsmitteln zu organisieren und die ersten Freiwilligen in die Erdbebenregionen zu schicken.48 So entsendeten die Subkomitees in den ersten Tagen 70 Busse mit Freiwilligen auch in die entlegenen Dörfer, die von den staatlichen Stellen lange Zeit ignoriert worden waren.49 Um die Arbeit besser zu koordinieren, erklärte das Karabachkomitee seinen Hauptsitz, das Haus der Schriftsteller im Zentrum Jerewans, zur Stabsstelle. Von dort aus trafen die Mitglieder anfänglich mit der armenischen Regierung Absprachen; aber während die Notgemeinschaft beim Vertreiben der aserbaidschanischen Dorf­ bewohner im Herbst 1988 noch funktioniert hatte, war dies nach dem Erdbeben nur bedingt der Fall – die lokale Regierung arbeitete kaum mit dem Karabach-

45 RFL/RL AS 6333, Petr Suida, »Tragedija Armenii«, vom 11.12.1988 (Samizdat), S. 2. 46 Ebd., S. 6. 47 Fernandez, Lauren S./Barbera, Joseph A./van Dorp, Johan R.: Spontaneous volunteer response to disasters: The benefits and consequences of good intentions, in: Journal of Emergency Management 4 (2006) 5, S. 57–68. Verluise: Armenia in Crisis, S. 19 f. 48 Ebd. 49 HAA f. 1159, op. 2, d. 18, l. 1–3, Bericht von Ašot Manowčaryan, »Kak eto bylo«, vom 18. Dezember 1988; Verluise: Armenia in Crisis, S. 20.

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komitee zusammen.50 Dennoch konnten die Freiwilligen in Armenien einiges bewirken. Durch die Netzwerke des Karabachkomitees und ihre innerhalb der vergangenen Monate akkumulierte Autorität galten die Anführer oftmals als weisungsbefugt. So erzählte der armenische Ethnologe Lewon Abrahamyan in einem Interview, wie ein Busfahrer mit einer vom Karabachkomitee abgestempelten Bescheinigung einen Bus aus dem Depot abholen durfte: »Das Komitee hatte so viel Autorität, dass der Bus auf offiziellem Wege nach Leninakan fahren konnte. […] Die Unterschriften der Komiteeanführer zählten als legal. Sie galten als zweite Macht.«51 Ähnlich erinnerte sich ein Mitglied der Karabachbewegung, Rafayel Łazaryan, dass »die Hebel der Macht von der Regierung« an sie gingen.52 Dennoch war die Möglichkeit zu helfen eingeschränkt, weil das Karabachkomitee nicht im Besitz der nötigen schweren Technik war. So relativierte Lewon Abrahamyan die einseitigen Heldendarstellungen des Karabachkomitees, indem er sagte, dass die zivile Katastrophenhilfe eine »Selbstorganisation an allen Orten« gewesen sei und »nicht nur die Karabachbewegung [geholfen habe]. […] Wer konnte, ist gefahren. Auch ohne Karabachkomitee.«53 Aber die Karabachbewegung bot die nötige Struktur: »Wer helfen wollte, der konnte sich an das Komitee wenden. Es war wie ein Sammelpunkt für Hilfe«, erklärte er weiter.54 Die bereits vor dem Erdbeben für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Aserbaidschan bestehenden Netzwerke halfen vor allem in den ersten Stunden, die Hilfe zu kanalisieren und Bedürfnisse der Opfer besser und vor allem schneller zu identifizieren, als dies für den zunächst völlig überforderten zen­ tralisierten Staatsapparat möglich war. Die sowjetische Regierung war über dieses zivile, durchaus agile und dynamische Katastrophenmanagement jedoch keineswegs erfreut. Schließlich rückte es ihre eigene paralysierte Unfähigkeit in den Mittelpunkt. Während seines Staatsbesuches in Armenien am 10. Dezember 1988 musste der Generalsekretär Michail Gorbačev einsehen, dass das Erdbeben nicht, wie gehofft, den Karabachprotest zum Schweigen gebracht hatte. Auf seiner Reise von Leninakan nach Jerewan wurde er von wütenden Armeniern dazu aufgefordert, Stellung zu Karabach zu beziehen. Er reagierte darauf empört und regte sich in einem Interview in der Pravda über die »politischen Demagogen« und »Abenteurer«

50 Malkasian: »Gha-ra-bagh!«, S. 185. 51 Interview mit Lewon Abrahamyan (*1947), Jerewan, 26.09.2013. 52 De Waal: Black Garden, S. 64. 53 Interview mit Lewon Abrahamyan (*1947), Jerewan, 26.09.2013. 54 Ebd.

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auf, die »die Öffentlichkeit korrumpieren«.55 Die armenische Bevölkerung war von seinen wenig einfühlsamen und »infantil-verletzenden« Reaktionen, wie Andrej Sacharov es in seinen Memoiren einordnete, schwer enttäuscht.56 Im Gegenzug, aber auch als Antwort auf seine – von vielen Armeniern so empfundene – Tatenlosigkeit während der vorangegangenen Monate wurde er während des Rests seiner Reise in der Republik bei jedem Zwischenstopp von Armeniern feindselig mit der hochgehobenen Faust, dem Symbol der Karabach­bewegung, begrüßt.57 Die Nachrichtensendung »Vremja« zeigte von Gorbačevs Besuch diesmal nur Schwarz-Weiß-Fotografien anstelle von bewegten Bildern, vermutlich, um den unfreundlichen Empfang in Armenien zu kaschieren. Das war angesichts der Glasnost’-Reformen besonders auffällig, da gerade dem Fernsehen und den bewegten Bildern eine Sonderrolle für die Vermittlung der politischen Absichten zukam. Und schließlich verhaftete das sowjetische Militär am 10. Dezember 1988, noch während des Besuches von Gorbačev, zunächst sechs und im Laufe der nächsten Tage die restlichen Mitglieder des Karabachkomitees mit der offiziellen Begründung, sie hätten die Rettungsarbeiten massiv gestört. Neben den Anführern des Komitees wurden 100 weitere Aktivisten vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen. Unter dem Kommando des für Jerewan zuständigen Generals Al’bert Makašov, der später für seinen extremen russischen Nationalismus bekannt wurde, wurden die Ausgangssperren verschärft und ein komplettes Demonstrationsverbot verhängt.58 Die Intensität der staatlichen Maßnahmen gegen unautorisierte Proteste nahm in diesem Zeitraum nicht nur in Armenien und Aserbaidschan zu, sondern auch in Moldawien, der Ukraine, Weißrussland und Georgien.59 Ob die Entscheidung, das Komitee zu verhaften, gefallen war, nachdem Gorbačev die Fragen nach Karabach so erzürnt hatten, oder schon gleich zu Beginn der Rettungsarbeiten, kann bei der derzeitigen Archivlage nicht abschließend geklärt werden. Einen vagen Beschluss zu den Verhaftungen hatte es jedoch bereits auf einer Politbürositzung im März 1988 gegeben, also neun Monate vor dem Erdbeben und kurz nachdem die Demonstrationen in Jerewan auf eine 55 Pravda 347, 12.12.1988, S. 1–2. 56 Sacharov, Andrej: Vospominanija, tom 2, Moskau 1996, S. 357. 57 Aus einer privaten Filmaufnahme, gesehen auf der Ausstellung von Vahram Matirosyan, »Das Erdbeben, das die Medienwelt erschütterte«, Jerewan, Dezember 2013. 58 Beissinger: Nationalist Mobilization, S. 346. 59 Zwischen Dezember 1988 und März 1989 erfuhren 47 Prozent aller Demonstrationen in diesen Republiken eine Form von staatlicher Repression im Vergleich zu nur 15 Prozent zwischen Mai und November 1988, siehe Beissinger: Nationalist Mobilization, S. 347.

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Million Menschen angewachsen waren. Auf der Sitzung hatte Gorbačev vorgeschlagen, das Karabachkomitee zu einem günstigen Zeitpunkt zu »isolieren«, jedoch »ohne aus ihnen Helden zu machen«.60 Die Folgen des Erdbebens boten anscheinend eine solche Gelegenheit, da das Chaos der Katastrophe Protestaktionen gegen die Verhaftungen unmöglich gemacht hatte. So konnte die sowjetische Regierung die Orientierungslosigkeit und Hilfsbedürftigkeit der Armenier ausnutzen, um die politische Opposition aus dem Weg zu räumen. Von den Repressionen und der Polizeigewalt erhoffte sie sich vermutlich, dass sie eine weitere Stärkung der Bewegung würden verhindern können. Damit offenbarte das Politbüro, wie sehr es die Bewegung und deren Anführer als Bedrohung wahrnahm, gegen die es vorzugehen galt, um wieder Kontrolle über die Peripherie zu erlangen. Das Erdbeben ermöglichte es, die radikale Abwendung von Gorbačevs gewaltfreiem Kurs auf Kosten der armenischen Bevölkerung zu vertuschen und staatliche Gewalt gegen politische Opponenten zu legitimieren. Um sowohl in Armenien als auch im Rest der Sowjetunion Unterstützung und Zustimmung für die Verhaftung der Anführer zu gewinnen, um eine Warnung an die anderen dissidenten Republiken zu senden und um das weitere militärische Vorgehen in der Republik zu rechtfertigen, starteten die sowjetischen Massenmedien eine regelrechte Hetzkampagne gegen das Komitee.61 Der sowjetarmenische Kommunist, der sich bis dahin in seinen Formulierungen gegenüber dem Karabachkomitee zurückhaltend gezeigt hatte, überraschte mit seinem Artikel »Die Stunde des Unglücks – die Stunde der Verantwortung« vom 13. Dezember selbst die überregionale Zeitung Izvestija.62 In diesem Artikel beschrieb der Autor, wie das Komitee die Rettungsarbeiten und damit die Macht mithilfe seiner Unterkomitees an sich gerissen, Befehle gegeben und Gerüchte verbreitet habe. Das Komitee habe, so der Autor weiter, die Erdbebenopfer daran gehindert, in die Sanatorien zu fahren, mit dem Argument, ihre massenhafte Ausreise behindere die Wiedervereinigung mit Karabach. Mit der Zeit verschärfte sich die Wortwahl der Zeitung. So bezeichneten Journalisten die Demonstrationen, die sich trotz der Ausgangssperre zu einem Protest gegen die 60 RGANI f. 89, op. 42, d. 19, l. 3, Protokoll der Politbürositzung vom 24. März 1988. 61 Ähnliches wurde für die Berichterstattung über den Hurrikan Katrina festgestellt. Hier beschrieben Journalisten die Katastrophenregion als Kriegszone, in der gewalttätige Kriminelle und opportunistische Plünderer ihr Unwesen trieben. Diese Nachrichtengestaltung half dabei, das Eingreifen des Militärs in New Orleans zu rechtfertigen. Siehe Tierney, Kathleen/ Bevec, Christine/Kuligowski, Erica: Metaphors Matter: Disaster Myths, Media Frames, and Their Consequences in Hurricane Katrina, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 604 (2006), S. 57–81, hier S. 60 f. 62 Kommunist 290, 13.12.1988, S. 2. Kommentar dazu in der Izvestija 353, 17.12.1988, S. 4.

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Verhaftung formiert hatten, in einem Artikel vom 31. Dezember als »Fest während der Pest« (piru vo vremja čumy), weil sie während der Bergung von Erdbebenopfern stattgefunden hatten.63 Die Liste der Anklagen gegen die Anführer der Karabachbewegung war lang. Vor allen Dingen wurden sie beschuldigt, die Rettungsarbeiten zu behindern und ungeachtet der schwierigen Situation im Land die politische Lage zu verschärfen. So sagte die Komsomol’skaja Pravda den »Hochstaplern« und »Abenteurern« nach, sie hätten, um Unruhe zu stiften, Gerüchte über weitere Erdbeben und über von Russland entführte armenische Kinder verbreitet.64 Die Militärzeitung Krasnaja Zvezda berichtete in einem Artikel mit der Überschrift »Die Hetzer« von brutalen Attacken der Komiteemitglieder auf Soldaten, bei denen einige schwer verletzt worden seien, weshalb das Militär nun Maßnahmen ergriffen habe.65 Oftmals wurden diese Anschuldigungen in Verbindung mit den angeblich sonst gut funktionierenden, solidarischen Rettungsarbeiten der sowjetischen Regierung gebracht, wodurch die Gegensätze zwischen den solidarisch Helfenden und den brutalen, eigennützigen Zerstörern zum Ausdruck gebracht werden sollten. Diese Dichotomie von Gut und Böse sollte den neuen Feind für alle sichtbar machen. Stil und Ton der Sprache unterschieden sich dabei kaum von den sowjetischen Feindbeschreibungen der vorangegangenen 50 Jahre, was verdeutlichte, wie sehr die Medien weiterhin von den machtpolitischen Interessen der Parteiführung bestimmt wurden. Die Darstellungen über die angeblich böswilligen Absichten des Komitees erreichten ihr Ziel, dem populären Ruf der Anführer zu schaden, jedoch nicht. Zu stark war bereits die Anziehungskraft der nationalen Bewegung. Hinzu kam, dass im Laufe des Jahres 1988 die sowjetische Presse in Armenien, aber auch im Rest der Sowjetunion stark an Glaubwürdigkeit verloren hatte. Davon zeugte ein Plakat vom Sommer 1988, auf dem in einer Collage mit dem mehrfach aus der Titelseite der Zeitung Pravda ausgeschnittenen Wort »Pravda« das Wort »Lüge« (lož’) gebildet wurde.66 Viele Armenier setzten ungeachtet der Pressekampagnen ihre Demonstrationen in Armenien für die Freilassung des Komitees und die Eingliederung Karabachs fort.67 Selbst jene Armenier, die vorher 63 Kommunist 307, 31.12.1988, S. 2. 64 So Gorbačev über das Karabachkomitee in einem Interview mit der Izvestija 348, 12.12.1988, S. 1. 65 Krasnaja Zvezda 287, 14.12.1988, S. 2. 66 Vardanyan, Mayis: The Beginning. Yerevan 1988. 125 photos, Jerewan 1988, ohne Seitenangabe. 67 GARF f. 9654, op. 6, d. 95, l. 34, Bericht über die Lage im Transkaukasus vom 22. Dezember 1988.

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nicht mit den Zielen und Programmen der Bewegung einverstanden gewesen waren, waren nun enttäuscht und wütend über die in ihren Augen sinnlosen und unnötigen Verhaftungen.68 In Briefen wendeten sich Angehörige der Verhafteten gegen die sowjetische und die armenische Regierung, warfen diesen die Fortführung des Stalinismus vor und andere erpressten die Regierung offiziell mit einem Ultimatum, nach dem Unbekannte mit Terrorakten drohten, sollte das Komitee nicht umgehend freigelassen werden.69 Indem die Demonstranten auf ihren Protestmärschen Fotografien der Anführer der Bewegung vor sich hertrugen und deren Namen skandierten, machten sie diese zu historischen Märtyrern und Heiligen.70 Das Karabachkomitee konnte zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr getrennt von der armenischen Bevölkerung gesehen werden. Es hatte eine Anhängerschaft von über 100.000 Menschen bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 2,7 Millionen. Und so fühlten sich die Anhänger nach den Verhaftungen nicht nur ihrer Führung beraubt, sondern auch des Sprachrohres für ihre nationalen und sozioökonomischen Angelegenheiten. Es konnte ihnen kaum deutlicher vermittelt werden, dass ihr Anliegen in Bezug auf Bergkarabach nun endgültig nicht mehr Diskussionsgegenstand in Moskau sein sollte. Um an ihre Ziele zu erinnern, demonstrierten am 28. Februar 1989, dem ersten Jahrestag der Ereignisse in Sumgait, 800.000 Menschen in Jerewan.71 Als ein weiteres Zeichen ihres Protests enthielten sich bei den ersten sowjetischen Parlamentswahlen im März 1989 zwischen 50 und 70 Prozent der Jerewaner der Stimme. Insgesamt verzeichnete Armenien die höchste Anzahl von Stimmenthaltungen bei diesen Wahlen (durchschnittlich 30 Prozent in der Sowjetunion).72 Der Verlust des Vertrauens in die sowjetische Regierung, den die Verhaftungen mit sich brachten und von dem Briefe und Telegramme zeugen, war heftiger, als das Politbüro erwartet hatte.73 Zu sehr hatte es offenbar auf die Wirkung der Presse gehofft. Das politische Kalkül, die Orientierungslosigkeit nach der Katastrophe auszunutzen, erwies sich für das Politbüro als falsch, was einige 68 Sacharov: Vospominanija, S. 357 69 Stalinismusvorwurf in: HAA f. 1159, op. 1, d. 135, l. 120–121, Brief einer Ehefrau der Verhafteten an das ZK KP ArSSR; Ultimatum in: Kommunist 290, 13.12.1988, S. 2. 70 Dudwick: Memory, S. 305. 71 Mouradian: The Mountainous Karabagh Question, S. 25. 72 Ebd. 73 GARF f. 9654, op. 10, d. 417, l. 78–83, »Besuch der Milde und der Repression«, Brief von D. ­Bagdasyan an das Politbüro und andere Institutionen vom 22. Februar 1989; GARF f. 9654, op. 10, d. 412, l. 186, Telegramm vom Arbeitskollektiv ErfZNII »Agat« (Jerewan) an M. S. Gorbačev vom 21. April 1989.

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Mitglieder schnell selbst einsahen. In einem Brief an Gorbačev vom 22. Dezember 1988 gab sein engster Berater, Georgij Šachnazarov, zu bedenken, dass »das Komitee nach der Verhaftung zwar geschwächt, aber keineswegs besiegt« sei und dass die sowjetische Regierung bei der Fortführung eines solch brutalen Kurses in den Augen der westlichen Öffentlichkeit »angesichts des nationalen Widerstandes vom demokratischen Kurs« abkomme.74 Daher müsse man, so Šachnazarov weiter, das Komitee schon bald wieder freilassen und zudem eine staatlich sanktionierte Volksfront gründen, in der die Kommunisten zwar eine Rolle spielen, aber keine dominierende, um so ein liberales Gegengewicht zu den nicht sanktionierten Volksbewegungen zu schaffen, ähnlich wie die sowjetische Regierung das auch im Baltikum umgesetzt habe.75 Der politische Kurs im Umgang mit den Aufständischen war keineswegs einheitlich. Er machte deutlich, wie wenig Strategie hinter dem Umgang mit dem nationalen Widerstand steckte und wie sehr das Politbüro bereits die Kontrolle über die kaukasische Peripherie verloren hatte. Mit der Verhaftung des Karabachkomitees hatte die sowjetische Regierung ihre Chance vertan, ihr Katastrophenmanagement als wahrhaft solidarisch und nach der Perestrojka-Formel mit »menschlichem Antlitz« zu meistern. Gorbačevs Besuch in Armenien bekam daher in dem Brief eines Armeniers an das Politbüro nicht umsonst den Titel »Besuch der Milde und der Repression«.76 Zwar wäre die Zusammenarbeit mit dem Komiteenetzwerk einem Zugeständnis der eigenen staatlichen Unzulänglichkeit im Katastrophenmanagement gleichgekommen, aber vermutlich hätte sie die von Gorbačev so gewünschte Völkerfreundschaft stärker symbolisiert als die auf Gewalt und Unterdrückung basierenden staatlichen Maßnahmen. Ohne großes Zutun hätte die sowjetische Regierung der armenischen Bevölkerung ihre Kooperationsbereitschaft beweisen können, an der seit den Pogromen in Sumgait mittlerweile viele Armenier zweifelten. Stattdessen aber war die politische Instrumentalisierung der Katastrophe, vor der das Karabachkomitee selbst gewarnt hatte, eingetreten, und zwar nach traditionellen kommunistischen Verfahrensweisen und unter dem Deckmantel der Solidarität mit den Erdbebenopfern. Georgij Šachnazarovs Vorschlag, das Komitee freizulassen, wurde erst nach monatelangen Protesten umgesetzt, die unter der Leitung des sogenannten

74 Gorbačev Fond f. 5, op. 1, d. 18205, Brief von G. Ch. Šachnazarov an M. S. Gorbačev vom 22. Dezember 1988. 75 Ebd. 76 GARF f. 9654, op. 10, d. 417, l. 78, »Besuch der Milde und der Repression«, Brief von D. Bagdasyan an das Politbüro und andere Institutionen vom 22. Februar 1989.

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zweiten Karabachkomitees fortgeführt wurden.77 Ende Mai 1989, nachdem Moskau den Fall der armenischen Staatsanwaltschaft übergeben hatte, ließ die armenische Regierung das Komitee wieder frei.78 Sie hatte also dem Druck aus der Bevölkerung nachgegeben. Zudem war sie zu sehr um ihr demokratisches Image im Westen besorgt; immerhin hatten elf Städte Frankreichs den Mitgliedern des Komitees Ehrenbürgertitel verliehen, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen.79 Aber auch der sich durch den Parlamentarismus weiter öffnenden Gesellschaft sowie dem Engagement der Menschenrechtsorganisation »Memorial« war ihre Freilassung zu verdanken.80 Die Geister, die Gorbačev selbst gerufen hatte, stellten sich ihm nun in den Weg. In der Zwischenzeit hatte die kommunistische Regierung Armeniens von Dezember 1988 bis Mai 1989 versucht, ihre Autorität zurückzuerlangen, indem sie auf die Forderungen nach Umweltschutz eingegangen war und einige verschmutzende Fabriken geschlossen hatte – jedoch ohne Erfolg.81 Über die Schließung der Fabriken im Rahmen der Selbstverwaltungsreformen versuchte sie zwar, ihre regionale Autonomie dem Zentrum gegenüber zu stärken, aber da sie sich nicht im gleichen Maße wie die Anführer der Karabachbewegung nationalistischer Formeln bediente, verfehlte sie ihr Ziel. Vermutlich unterschätzten die Parteieliten die nationalistischen Identifikationsprozesse. Die Bevölkerung wartete also nur auf die Rückkehr des Karabachkomitees, auch wenn die alte kommunistische Regierung noch sehr darum bemüht war, die Demokratisierung voranzutreiben.82 Und so kehrten die Mitglieder des Karabachkomitees im Sommer 1989 als Märtyrer für die armenische Sache nach Jerewan zurück. In den Augen der armenischen Bevölkerung verkörperten sie das Leid der ganzen Nation, indem ihre Hafterfahrung das klassische armenische Narrativ des Märtyrertums zur Verteidigung der Nation bestätigte.83 Sie setzten ihre Arbeit mit um ein Vielfaches gesteiger77 Die neuen Anführer waren schon Monate vor den Verhaftungen inoffizielle Mitglieder des Komitees: Yerdyanik Abgaryan, Albert Bałdasaryan, Avetik’ Ič‘xanyan, vgl. Verluise: ­Armenia in Crisis, S. 102. 78 Suny: Looking toward Ararat, S. 235. 79 Zur Angst vor Imageverlust siehe: Brief von G. Ch. Šachnazarov an M. S. Gorbačev vom 22. Dezember 1988; zu den Ehrenbürgertiteln siehe: Sargsyan, Ashot: Hayastani norgaguyun patmut’yan … mas 3. 1988–1990 t’t’ patmut’yan urats’um yev yeghtsum [Moderne Geschichte Armeniens, Teil 3. 1988–1990. Die Leugnung der Geschichte], in: http://www.ilur.am/news/ view/49035.html [23.09.2015]. 80 Altrichter: Russland 1989, S. 96. 81 Mouradian: The Mountainous Karabagh Question, S. 24. 82 HAA f. 1, op. 127, d. 698, l. 77–88, Zur Frage über die Einberufung des Obersten Sowjets Armeniens, Bericht vom 22. Mai 1989, hier l. 83–86. 83 Dudwick: Memory, S. 306.

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ter Autorität fort und ab Juli 1989 wurde die Nationale Bewegung Armeniens (russ. Armjanskoe obščenacional’noe dviženie, AOD, und arm. Hayots Hamazgain Šaržum, HHŠ), ehemals Karabachbewegung, offiziell als gesellschaftliche Organisation anerkannt.84 Der Erfolg der Bewegung, der auch durch die Isolierung ihrer Anführer nicht beeinträchtigt wurde, hing jedoch keineswegs damit zusammen, dass sie vorsätzlich den verfehlten staatlichen Katastrophenschutz für ihre Zwecke instrumentalisiert hatte, was auf den ersten Blick überraschen mag. Aber in den Reden, die im Anschluss an das Erdbeben während der Karabachdemonstrationen gehalten wurden, finden sich nur vereinzelt Referenzen auf das staatliche Katastrophenmanagement oder Schuldzuweisungen.85 Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen: Zum Ersten hatte das Karabachkomitee eine solche Instrumentalisierung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nötig, da es bereits auf dem Zenit seiner Popularität angekommen war. Die Massen waren spätestens mit der Verhaftung ihrer Anführer überzeugt davon, dass der gesamten Bewegung Unrecht widerfuhr und ihr Ziel, Bergkarabach einzugliedern, recht­mäßig war. Während der Zeit der Inhaftierung hatten die Anhänger des Komitees nur das Ziel, ihre Anführer aus dem Gefängnis zu holen. Zum Zweiten war es den Rednern auf der Bühne wahrscheinlich durchaus bewusst, dass sie die Kata­ strophe selbst nicht besser bewältigt hätten mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Sämtliche Versprechungen des Komitees wären ebenso ins Leere gelaufen wie die der offiziellen Regierung. In der Konsequenz wären sie vielleicht ebenso unpopulär wie die Regierung geworden. Der Kampf um Bergkarabach war im Gegensatz dazu ein sichereres Terrain und versprach zudem Zuspruch aus anderen dissidenten Republiken. Schließlich war das Erdbeben trotz seines nationalen Ausmaßes nur eine lokales Ereignis. Zum Dritten waren auch die Komiteemitglieder Kinder der sowjetischen Katastrophenkultur. Für den Katastrophenschutz und den Wiederaufbau war ihrer Meinung nach der Staat verantwortlich, während sie selbst für die Freilassung des durch den Staat inhaftierten Komitees eintraten. Hier zeigte sich die Jahrzehnte währende Zentralisierung des sowjetischen Katastrophenschutzes. Aufgrund des in der Sowjetunion fehlenden Katastrophenbewusstseins und 84 Kommunist 156, 01.07.1989, S. 3. 85 Siehe Transkripte der Reden in HAA f. 1159, op. 3, d. 25, 27, 29. Diese Transkripte sind vermutlich vom sowjetischen Geheimdienst aufgezeichnet worden. Die Akten umfassen transkribierte Reden, die während der Jahre 1988 und 1989 auf größeren Demonstrationen gehalten wurden, sowie Aufzeichnungen von Zwischenrufen aus dem Publikum und die Anzahl der Demonstranten.

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des bis dahin vorherrschenden Automatismus bei der Bewältigung von Katastrophen fehlte die Fähigkeit, das Ausmaß der tatsächlichen Gefahr in jedem individuellen Fall zu erkennen. Für die Anhänger und Anführer der Bewegung waren die Bewältigung der Katastrophe und der Wiederaufbau einfach nur eine »Standard-Situation«, wie Ašot Manowčaryan, eines der Komiteemitglieder, in einem Interview erklärte.86 Damit meinte er den Ablauf und die Reaktionen, die zum staatlichen Repertoire gehörten, aber genauso die Verantwortung des Staates, Fürsorge zu tragen. Auch wenn der Staat dieser Verantwortung mehr schlecht als recht nachkam, verließ sich die Bevölkerung – zum Teil aus Alternativlosigkeit – auf die staatlichen Strukturen und wandte sich ihren eigenen politischen nationalen Anliegen zu. Für einen Protest gegen das unzureichende Katastrophenmanagement hätte es Interessenvertreter geben müssen, die fähig und bereit waren, dafür zu werben, die Erdbebenzone als soziales Problem anzusehen, das es zu beseitigen galt.87 Die gab es jedoch nicht in Jerewan, wo sich die Menschen um Karabach sorgten. Und die Opfer des Erdbebens hatten in den betroffenen Städten nicht die Kapazitäten für Proteste. Dieses Unterkapitel machte einerseits deutlich, in welchem Zustand sich das sowjetische Bauwesen, das Katastrophenmanagement und das Gesundheits­ wesen befanden. Gemeinsam hatten sie über Jahrzehnte hinweg die armenische Bevölkerung extrem anfällig für Katastrophen gemacht, was den Staat als Verursacher der Katastrophe in den Fokus rückt. Trotz seiner durchaus bemerkenswerten Mobilisierungskraft war das Regime nicht mehr in der Lage, adäquat auf die speziellen Bedürfnisse im Katastrophenfall zu reagieren. Während er zwar in rasanter Geschwindigkeit über 1000 Ärzte für die Erdbebenzone rekrutieren konnte, waren diese dann aufgrund der fehlenden Technik und des mangelhaften Transportwesens oftmals doch nicht in der Lage, Opfer entsprechend zu versorgen. Das Gleiche gilt für die vorhandenen Rettungskräfte, deren Unkenntnis über die Bergung von Erdbebenopfern noch mehr Tote forderte. Andererseits zeigte das Kapitel, wie sehr trotz dieser gefährlichen Risiken die Karabachproblematik sowohl bei der nationalen Bewegung als auch bei den Staatsorganen Priorität behielt und das Katastrophenmanagement behinderte. Zwar übte ein Teil der armenischen Bevölkerung Kritik am Katastrophen­management, aber die Entwicklungen rund um das Karabachproblem nahmen trotz der schwerwiegenden Mängel im Umgang mit dem Erdbeben einen weitaus größeren Raum 86 Wörtlich »standartnaja situacia« in: Interview mit Ašot Manowčaryan (*1956), Jerewan, 25.11.2013. 87 Stallings: Promoting Risk, S. 13 f.

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in den politischen Debatten und Auftritten der nationalen Bewegung ein. Dennoch war die Katastrophe zu einem Teil der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Republik und in der ganzen Sowjetunion geworden. So erschwerte das umfassende Katastrophenmanagement das Vorhaben der lokalen Kommunistischen Partei, sich gegen das populäre Karabachkomitee durchzusetzen. Anstatt ihre politischen Kräfte dafür einzusetzen, Zustimmung bei der Bevölkerung zu erzielen, musste sie sich mit den Konsequenzen des Erdbebens auseinandersetzen. Die Gleichzeitigkeit, mit der die natürliche und die politische Katastrophe bewältigt werden mussten, zehrte an den politischen Ressourcen der sowjetarmenischen Regierung vor Ort sowie an denen des Kremls.

4.2 Sensation der Unsicherheit: Die Katastrophe in der sowjetischen Öffentlichkeit Im Gegensatz zu früheren Katastrophen wie den Erdbeben in Aschgabat und Taschkent oder auch der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl nur zwei Jahre zuvor wurde über das Erdbeben in Armenien sehr ausführlich und offen berichtet. Aus einer lokalen Katastrophe wurde innerhalb weniger Stunden eine Tragödie nationalen Ausmaßes, die über Zeitungen und Fernsehen die gesamte sowjetische Bevölkerung erreichte. Medien spielen bei der Bewältigung von Katastrophen eine besondere Rolle. Sie prägen deren öffentliche Wahrnehmung, indem sie festlegen, wie man Katastrophen der Öffentlichkeit zugänglich macht, sie definiert und politisch einordnet, und schließlich auch, wie man sie deutet.88 Einerseits brauchen Katastrophen Medien, um die Betroffenen nicht auszugrenzen und Hilfe von außen überhaupt erst möglich zu machen, andererseits benötigen Medien Katastrophen, da diese ausgezeichnete Medienereignisse ergeben, die den finanziellen Interessen der Medienbetreiber entsprechen.89 Seit dem 16. Jahrhundert faszinieren sie die Leser und finden Niederschlag in Zeitungen, weil sie einen außerordentlich hohen Nachrichtenwert besitzen und hochwer88 Pantti, Mervi/Wahl-Jorgensen, Karin/Cottle, Simon: Introduction: Disasters and the Media: Why Now?, in: Mervi Pantti/Karin Wahl-Jorgensen/Simon Cottle: Disasters and the Media, New York 2012, S. 1–12, hier S. 5. 89 Bergmann, Jörg: Katastrophenkommunikation und die Rolle der Medien, Vortrag gehalten auf der Konferenz »Katastrophen – Catastrophes«, Freiburg im Breisgau 4.–6. Mai 2011, Vortragsskript, S. 4. Einige Studien belegen auch, dass Katastrophenberichterstattung durchaus zu schwerwiegenden Konsequenzen führen kann, siehe Vasterman, Peter/Yzermans, C. Joris/Dirkzwager, Anja J. E.: The Role of the Media and Media Hypes in the Aftermath of Disasters, in: Epidemiologic Reviews 27 (2005), S. 107–114.

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tige Nachrichtenfaktoren wie Eindeutigkeit, Bedeutsamkeit, Überraschung und Negativität gleichzeitig miteinander verknüpfen.90 Katastrophenberichterstattungen erfüllen sehr oft eine wichtige politische Funktion. Durch die besondere Platzierung von Katastrophen in den Massenmedien, beispielsweise durch die Unterbrechung des Fernsehprogramms, erhält die Katastrophe oftmals erst ihre Bedeutung.91 Diese kommunikative Konstruktion der Katastrophe schafft so eine Risikosituation, die bei der betroffenen Bevölkerung große Unsicherheiten hervorrufen kann. Das wiederum führt zu einer erhöhten Beachtung der Medieninformationen,92 weshalb bestimmte Inhalte, die nichts mit der Kata­ strophe zu tun haben, für die politische Kommunikation und Agenda aber wichtig sind, gerne mit der Katastrophenberichterstattung verquickt werden. Durch die Säkularisierung von Katastrophen haben diese ihre außerweltlichen Sinnhorizonte verloren und werden politisch aufgeladen, wodurch sie Bestandteil der politischen Auseinandersetzung werden.93 In diesem Sinne eignet sich die Katastrophenberichterstattung als »Leitfossil«, an dem man Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Wandel zeitgenössischer Interpretation ablesen kann.94 Auch wenn die »Bewirtschaftung« von sensationellen Nachrichten in den Medien des Staatssozialismus nach anderen Paradigmen verlief als in marktwirtschaftlich orientierten Staaten, gibt es doch genügend Überschneidungen in der Art und Weise, wie über eine Katastrophe berichtet wurde. Das vorliegende Unterkapitel knüpft an die bereits bestehende Forschung zur sowjetischen Presse während Glasnost’ und an die dort vorherrschende Meinung an, nach der die Reformen des Pressewesens ein Instrument der Gorbačev’schen Herrschaftslegitimation waren und weniger ein Versuch, kollektive Pressefreiheit zu erreichen.95 Es fragt danach, wie das armenische Erdbeben unter den Bedingungen von Glasnost’ an die sowjetische Öffentlichkeit kommuniziert wurde, welche politischen Absichten dahinterstanden und welche Konsequenzen sich 90 Wilke, Jürgen: Das Erdbeben von Lissabon als Medienereignis, in: Gerhard Lauer/Thorsten Unger (Hg.): Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, Göttingen 2008, S. 75–95, hier S. 75. Nachrichtenfaktoren nach Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge in Rhomberg, Markus: Politische Kommunikation. Eine Einführung für Politikwissenschaftler, Paderborn 2009, S. 119 91 Ebd., S. 7. 92 Vgl. Bonfadelli, Heinz: Medienwirkungsforschung II. Anwendungen in Politik, Wirtschaft und Kultur, Konstanz 2004, S. 303. 93 Imhof: Katastrophenkommunikation, S. 158. 94 Ebd., S. 146. 95 Siehe dazu Steinsdorff: Rußland auf dem Weg zur Meinungsfreiheit; Müller: Zwischen Zäsur und Zensur; Roisko: Gralshüter.

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für die soziale Ordnung ergaben. Diese Fragen sind nicht nur deshalb wichtig, weil sie Hinweise auf eine sich im Wandel befindende sowjetische Katastrophenkommunikation geben, sondern auch, weil sie deutlich machen, wie Katastrophen ein Bestandteil der politischen Kommunikation in der Sowjetunion waren. Eine Analyse der Berichterstattung aus den Jahren 1988 und 1989 zeigt zudem die enorme Dynamik der Glasnost’-Reformen. Lange Zeit wurde Glasnost’ von den Zeitgenossen als »neue ideologische Variante des alten Systems« betrachtet. Spätestens jedoch ab Mitte 1988 entwickelten die Reformen eine Eigendynamik, die ihre Initiatoren nicht mehr kontrollieren konnten. So traten Themen an die Oberfläche, die wichtige Stützpfeiler des Systems infrage stellten, wie die vermeintliche Einheit der Nationalitäten. Schon 1987 war ein sowjetischer investigativer Journalismus entstanden, der die drängenden sozialen und politischen Probleme mit der Sozialpolitik, dem Gesundheits- und Erziehungswesen sowie der Kriminalität erst vorsichtig, dann im Laufe der Jahre 1988 und 1989 immer selbstsicherer an die Öffentlichkeit trug, wo die Gesellschaftskritik auf offene Ohren stieß. Einerseits hoffte Gorbačev durch diese »Wahrheitspolitik« die eigene Regierung, in der auf allen Ebenen eigene Fehler durch die Produktion falscher Daten verschleiert wurden, mit zuverlässigen Angaben zu versorgen.96 Andererseits hoffte er, auf diese Weise die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen überwinden zu können, indem die Bürger das nötige Verantwortungsgefühl für den Staat entwickeln und sich so aktiv am politischen Geschehen beteiligen.97 Wie die Beispiele für Katastrophenberichterstattung aus dem ersten Kapitel hinsichtlich des Erdbebens in Tadschikistan und der Flut in Weißrussland 1985 zeigten, legte Gorbačev schon zu Beginn seiner Reformen Wert darauf, Naturkatastrophen einen neuen Stellenwert innerhalb der sowjetischen Berichterstattung zu geben.98 Die verheerenden Ausmaße des Erdbebens in Armenien, gepaart mit den lokalen Konflikten und der vorangeschrittenen Öffnung der Gesellschaft im Jahr 1988, machten aus dieser Naturkatastrophe jedoch ein Kommunikationsereignis besonderer Tragweite, weil die offene Berichterstattung die Bevölkerung verunsicherte und die Bilder der Trümmer, wie bei Jurij Pavlov, verstärkt Assoziationen von Verfall und Apokalypse hervorriefen. Um der Katastrophe gleich zu Beginn einen hohen Stellenwert zu geben, berichtete das sowjetische Fernsehen fast umgehend, noch in der Abendnach96 Roisko: Gralshüter, S. 233. 97 Steinsdorff: Rußland auf dem Weg zur Meinungsfreiheit, S. 17; Roisko: Gralshüter, S. 233. 98 Siehe Kapitel 2 dieser Arbeit und Mickiewicz: Split Signals, S. 136.

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richtensendung »Vremja«, über das Erdbeben. Die eineinhalbminütige Meldung über die Katastrophe erfolgte an dritter Stelle, nach Berichten über Gorbačevs Besuch in New York und den Wirtschaftsnachrichten. Gezeigt wurden zerstörte Häuser in Spitak sowie eilig herumlaufende Menschen und Soldaten, die für die Kamera Betonplatten aus den Trümmern anhoben. Als günstig erwies sich, dass ein Fernsehteam von »Vremja« am Tag vor dem Erdbeben mit einer der wenigen im Land existierenden speziellen Reportagekameras einen Film über die aus Baku geflüchteten Armenier gedreht hatte. Es war mit seiner Ausrüstung daher schnell in der Erdbebenzone und die Sendung konnte so noch am selben Abend ausgestrahlt werden.99 Noch griff die Selbstzensur. »[U]nsere Schreckensaufnahmen der ersten Minuten des Erdbebens endeten nicht in der Sendung. Dort ›oben‹ hatten sie noch keine Entscheidung über die Berichterstattung der Tragödie getroffen«, erinnerte sich der Kameramann.100 Doch das Erdbeben war nach Tschernobyl der zweite Test für die Glaubwürdigkeit der durch Glasnost’ propagierten Öffnung der Medien. Diesmal wollte das Politbüro der Katastrophe mehr Aufmerksamkeit schenken und vermutlich beweisen, dass es aus seinen Fehlern gelernt hatte. Daher öffnete es schon recht bald die Tore für einen sowjetischen Katastrophenjournalismus. Bereits zwei Tage nach der ersten Abendsendung wurde im sowjetischen Fernsehen eine spezielle 20-minütige Reportage über die Erdbebenzone ausgestrahlt.101 Auch die gedruckten Medien nahmen umgehend an der revolutionären Illustrierung einer sowjetischen Erdbeben­ katastrophe teil. Am zweiten Tag nach dem Beben erschien auf der Titelseite der Pravda das Foto eines vom Erdbeben zerstörten Gebäudes, was es so zuvor noch nicht gegeben hatte.102 Neu war auch, dass eine Katastrophe im Leitartikel auf der ersten Seite platziert wurde, und das schon am Tag danach.103 Allein in den ersten sieben Tagen wurden in der Tageszeitung Pravda 70 Artikel zum Erdbeben veröffentlicht. Im Vergleich dazu wurden über das Erdbeben in Taschkent im April 1966 während des gleichen Zeitraumes nur 13 Artikel abgedruckt.104 Es gab keine sowjetische Tages- oder Wochenzeitung, die in den ersten Tagen und Wochen nicht über die armenische Erdbebenkatastrophe berichtete. Mit

 99 Prokof’ev, Jurij M.: V pervye 7 dnej posle zemletrjasenija, in: L. V. Afanas’eva (Hg.): Spitakskij Memorial. 1988–2008, Moskau 2008, S. 158–167, hier S. 160. 100 Ebd., S. 162 f. 101 Ebd., S. 165. 102 Pravda 344, 09.12.1988, S. 1. 103 Izvestija 344, 08.12.1988 S. 1. 104 Strand: Perestroika’s Effects, S. 41.

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der exklusiven Platzierung der Katastrophe gab die sowjetische Propaganda der Katastrophe erst ihre Bedeutung für die sowjetische Öffentlichkeit. Abgesehen von der neuen Quantität und Explosivität der Berichterstattung war auch die bildliche Darstellung der Katastrophe eine Revolution. So zeigte eine Reihe von Fotos nicht nur die totale Zerstörung ganzer Städte und Dörfer, sondern auch die nun obdachlos gewordenen Überlebenden, die um ihre Angehörigen trauerten oder in den Trümmern nach ihrem Hab und Gut suchten. Abgelichtet wurden ebenso Verstorbene, Väter, die ihre toten Kinder auf dem Arm über Trümmerfelder trugen, sowie aufgereihte Leichen, deren Arme und Beine aus den sie bedeckenden Laken herauslugten. Zwar hatten sowjetische Zeitungen schon während des Zweiten Weltkrieges die durch die nationalsozialistische Armee getöteten Soldaten, Frauen und Kinder gezeigt, um die sowjetische Bevölkerung gegen die Nationalsozialisten aufzubringen, aber auf den Bildern zum Erdbeben in Armenien waren nun erstmals Leichen aus der Sowjetunion zu sehen, deren Tod nicht auf die üblichen Feinde zurückzuführen war.105 Wie in der westlichen Presse sollten die Bilder vermutlich Mitleid erregen und so die Menschen zum Spenden von Geld und Sachmitteln anregen.106 Entsprechend druckten sowjetische Zeitungen Bilder von toten und teilweise verstümmelten Kindern sowie von kaputtem Kinderspielzeug auf einem Schutthaufen.107 Ebenfalls neu im Vergleich zur Berichterstattung über die Erdbeben in Taschkent 1966 und Aschgabat 1948 waren das narrative Format und die Sprache, die sich von dem vormals sehr sachlichen, neutralen Ton wegbewegte, hin zu einem emotionalen, gefühlsbetonten Stil. Begriffe wie »Schmerz«, »Unglück«, »Tragödie« und »Qual« tauchten in vielen Zeitungsartikeln sowohl der konservativen Presseorgane als auch der Perestrojka-Blätter auf. Die Pravda berichtete vom Schockzustand der Überlebenden, vom psychischen Schaden, den die 105 Über das Abbilden von Leichen in der sowjetischen Presse während des Zweiten Weltkrieges zur Mobilisierung von Truppen und zur Rechtfertigung von militärischen Aktionen siehe Berkhoff, Karel C.: Motherland in Danger. Soviet Propaganda during World War II, Cambridge, Massachusetts 2012, S. 125 ff. 106 Moeller, Susan D.: Compassion Fatigue. How the Media Sell Disease, Famine, War and D ­ eath, New York 1999. Zum Zusammenhang von Bildern betroffener Menschen und Spendenaufkommen siehe Bennett, Roger/Kottasz, Rita: Emergency fund-raising for disaster relief, in: Disaster Prevention and Management 9 (2000) 5, S. 352–360. Dafür spricht auch, dass die Bilder und die Kontonummern in der Zeitung Moskovskie Novosti, die auch im Ausland verkauft wurde, besonders groß waren. 107 Hier insbesondere Bilder in Kommunist 287, 288, 289, 10.–12.12.1988; Literaturnaja Gazeta 50, 14.12.1988, S. 1, 2.

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Katastrophe angerichtet hatte. An vielen Stellen zeigte sich so die persönliche Betroffenheit und die emotionale Überforderung der Journalisten. Ein ehemaliger Journalist der Izvestija erinnerte sich in einem Interview daran, wie viele seiner Kollegen »so nicht arbeiten [konnten] wegen ihrer psychologischen Fähigkeiten. Es gab einen Journalisten in Leninakan. Er stand und fing an zu weinen. Er konnte nicht [arbeiten].«108 Abgesehen von der emotionalen Schwierigkeit, die das Schreiben über dieses Ereignis bedeutete, waren sich Journalisten nicht immer sicher, wie sie Texte darüber verfassen sollten. Es fehlte an Schablonen und Codes, an denen sich die Autoren hätten orientieren können. Mit Glasnost’ veränderten sich auch die politischen und gesellschaftlichen Erwartungen an die Journalisten, die sich seit 1986 auf der Suche nach einem neuen journalistischen Selbstverständnis und neuen ethischen Grundlagen befanden.109 Glasnost’ bedeutete für sie nicht nur größere Handlungsmöglichkeiten und mehr Freiheit, sondern sorgte unter ihnen auch für große Verunsicherung, da die Spielregeln nicht mehr berechenbar waren und die Verantwortung nun oftmals beim Journalisten selbst lag.110 So befanden sie sich bis zum Inkrafttreten des Pressegesetzes im August 1990 in einem ständigen rechtlichen Schwebezustand und es war für sie schwierig, sich in dem Chaos verschiedener Vorstellungen über die journalistischen Kompetenzen und die moralischen Verpflichtungen der Presse zu behaupten.111 Dieser Schwebezustand machte sich insbesondere beim dritten Novum der Berichterstattung über das Erdbeben bemerkbar: der Kritik an dem Umgang mit der Katastrophe, an den Rettungsmaßnahmen und an der Suche nach Schuldigen. Die meisten Zeitungen offenbarten im Vergleich zu vorherigen Katastrophen ein höheres Maß an gesellschaftlicher Selbstreflexion und repräsentierten damit die neue sowjetische Öffentlichkeit. Die kritischen Stellungnahmen wiesen in den verschiedenen Zeitungen jedoch erhebliche Unterschiede auf, was ihre konkrete Ausprägung anbetrifft. Ganz im Sinne von Glasnost’ nutzten Journalisten die Katastrophe, um Bürokratie, fehlende Disziplin, Verantwortungslosigkeit und parallele Strukturen in der Republik und im ganzen Land anzuprangern. Zeitungen schrieben über den schlechten Häuserbau, den fehlenden Beton und das wissentliche Ignorieren von seismologischen Bauvorschriften. Wie es allerdings dazu gekommen war und welche Verwaltungseinheiten dafür die Verantwortung trugen, blieb im Dunkeln. Ebenso thematisierten sow108 Interview mit Vladmir Svarcevič (*1955), Moskau, 20.06.2013. 109 Steinsdorff: Rußland auf dem Weg zur Meinungsfreiheit, S. 110 ff. 110 Ebd., S. 112. 111 Ebd., S. 114.

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jetische Tages- und Wochenblätter zwar den defizitären Katastrophenschutz, griffen diese Thematik jedoch auf, ohne konkrete Missstände zu nennen, die auf strukturelle Gründe innerhalb des Systems zurückzuführen waren. Damit scheuten sie sich, den Ursprung des Problems und die Verantwortlichkeit des Staates zu benennen. Nach dieser Lesart trug auch allein das extreme Ausmaß der Katastrophe Schuld an der schlechten Koordination und der mangelhaften Verteilung der Hilfsgüter.112 Mit Beginn des Jahres 1989 verschärfte sich der kritische Ton, was unter anderem im Zusammenhang mit den offiziellen gesetzlichen Veränderungen bei der sowjetischen Zensurbehörde Glavlit steht. Diese legte in einem Befehl vom 30. Januar 1989 fest, dass von nun an Informationen »über die Schutzmaßnahmen der Bevölkerung vor den Folgen von Unfällen« und »Katastrophen« erlaubt seien.113 Dieser Befehl, aber auch die Zuspitzung der politischen Lage in der Sowjetunion im Frühjahr 1989 regten Journalisten zu mehr Kritikfähigkeit an. In einem doppelseitigen Artikel vom Februar 1989 in dem Wochenjournal Ogonek, dem Flaggschiff der Perestrojka, kritisierte ein Arzt aus Moskau die medizinische Notversorgung und den Katastrophenschutz in Armenien. Seine Diagnose lautete: zu langsam, zu ineffizient und das einzelne Menschenleben zu wenig achtend.114 Nach seiner Rückkehr nach Russland schlug er vor, ein unionsweites Rettungsnetzwerk von Ärzten zu gründen, die regelmäßig in der Notfallrettung geschult werden sollten, und sprach damit ein strukturelles Pro­blem der Gesundheitsversorgung in der Sowjetunion an. Journalisten der Zeitung Argumenty i fakty schlossen sich dieser Kritik an. In einem Artikel vom Januar 1989 schrieb dort ein Journalist, dass er nur hoffen könne, »dass die Särge nur für Menschen [waren] […], die durch das Erdbeben umgekommen sind, und nicht für Menschen, die an Hypothermie oder Lungenentzündung« erkrankt waren.115 Damit verwies er auf die schlechte Versorgung von Überlebenden, die bei den Minusgraden oftmals sich selbst überlassen waren. Diese brutale Kritik am Katastrophenmanagement war epochemachend, weil sie auf sehr direktem Wege den sowjetischen Institutionen die Schuld am Tod von Menschen gab. In der Artikelserie »Schwarzer Dezember«, die ebenfalls im Januar 1989 erschien, ging ein Journalist der Komsomol’skaja Pravda mit dem sozialen und gesundheitlichen Versorgungssystem der Sowjetunion hart ins Gericht. So beschrieb er, wie es den apathischen Überlebenden an Nahrung 112 Pravda 357, 22.12.1988, S. 6. 113 GARF f. 9425, op. 2, d. 1065, l. 2–3, Befehl (prikaz) von Glavlit vom 30. Januar 1989. 114 Ogonek 6, 1989, S. 4–5. 115 Argumenty i fakty 1, 1989, S. 7.

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mangelte und wie sie oftmals keine Informationen über weitere Maßnahmen besaßen. Darüber hinaus schilderte er, wie es in den Städten nach Leichen und Abwasser stank und wie bei der Versorgung die Dörfer und mit ihnen »die Skelette aserbaidschanischer Dorfbewohner« einfach vergessen wurden. Selbst das Militär wurde nicht verschont.116 Es schien fast so, als ob manche Journalisten mit jedem Wegräumen der Trümmer mehr Mut fassten, ihre Rolle als öffentliche Meinungsbildende umzusetzen und die Grenzen des Sagbaren zunehmend selbst festzulegen. Im August 1989 zeigte ein in der ganzen Sowjetunion ausgestrahlter Dokumentarfilm die Bergung von Toten aus den Ruinen, das Chaos bei der medizinischen Versorgung sowie trauernde Menschen und Luftaufnahmen der totalen Zerstörung.117 Nichts blieb mehr von dem Eindruck einer vermeintlichen Rückkehr zur Normalität, welche die Zeitungen Ende 1988 noch abzubilden versucht hatten. Wie schon die Katastrophen in Aschgabat und Taschkent diente auch diese Katastrophe in den ersten Wochen dazu, die Völkerfreundschaft zu betonen, die sowjetischen Republiken wieder näher ans Zentrum zu binden und zu befrieden. In ihrem Buch »Die Schockstrategie« legt die Journalistin Naomi Klein anschaulich dar, wie der nach Katastrophen eintretende Schock die betroffenen Menschen dazu bringt, ihre eigenen Ziele den Interessen der Regierung unterzuordnen, weil der Schockzustand ganze Gesellschaften »weich mach[e], wie die dröhnende Musik und Schläge in den Folterzellen die Gefangenen erweicht«.118 Unter weichen Gesellschaften versteht Klein solche, die sich den Ideen der Regierungen fügen und keinen Widerstand leisten. Zwar bezieht sie sich auf wirtschaftliche Interessen der Regierung, aber ihr Ansatz kann durchaus auch auf politische Interessen angewendet werden. So war Gorbačev in der Folge des Erdbebens auf solche Armenier angewiesen, die ihre nationalen Ansprüche zugunsten des unionsweiten Zusammenhalts in Krisenzeiten aufgaben und sich den Zielen der Regierung fügten. Zeitungsartikel zeigen, dass das Extremereignis als Kitt zwischen den sowjetischen Republiken wirken, aber auch das Bewusstsein für die Abhängigkeit voneinander und insbesondere vom Kreml stärken sollte. Denn, so hoffte vermutlich das Politbüro, wenn den Republiken ihre politische, strukturelle und finanzielle Abhängigkeit auf so existenzielle Art und Weise vor Augen geführt wurde, könnten sie von ihrer Idee, ohne die Sowjetunion auszukommen, abgebracht werden. Mit Überschriften wie »Kraft der 116 Komsomol’skaja Pravda 5, 06.01.1989, S. 2; 6, 07.01.1989, S. 2 und 8, 10.01.1989, S. 4. 117 Dokumentarfilm von Aleksandr Tichomirov, »Armenija: sem’ dnej ada«, Ekran, Moskau 1989. Dieser Film wurde im Herbst 1989 in der ganzen Sowjetunion ausgestrahlt. 118 Klein, Naomi: The Shock Doctrine. The Rise of Disaster Capitalism, New York 2007, S. 17.

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Einheit«, »Das Leid Armeniens ist unser gemeinsames Leid«, »Vereint gegen die Katastrophe« oder »Unser gemeinsamer Schmerz«119 bemühten sich Journalisten, im Namen der Regierung ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu vermitteln. Sie verwandelten die lokale Katastrophe in der Peripherie des Landes in eine nationale Tragödie und betonten immer wieder, dass diese nur unter der Beteiligung aller sowjetischen Menschen und Republiken bewältigt werden könne.120 Referenzen auf die gemeinsame Bewältigung der Katastrophen in den Bruderrepubliken Weißrussland und Ukraine sowie in Zentralasien dienten ebenfalls der Schaffung von Zugehörigkeit und Gemeinschaft.121 Den Lesern wurde suggeriert, sie hätten diese und ähnliche Katastrophen auch nur durch brüderliches Zusammenhalten gemeistert. Ähnlich wie bei der Berichterstattung zu Tschernobyl und dem Erdbeben in Zentralasien fielen Journalisten auf Kriegsanalogien zurück, um auf den Zusammenhalt hinzuweisen, der dazu benötigt werde, die Zerstörung und die Schwierigkeiten zu meistern. Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl wurde in der Berichterstattung 1986 von Anfang an in den Erzählrahmen des Krieges eingebettet. In den Bild- und Textquellen tauchte die Vorstellung einer »Front« genauso auf wie Beschreibungen über das »Hinterland« und Narrative von »Kampf« und »Flucht« sowie Soldaten und Soldatenmütter.122 Die Berichterstattung zum Erdbeben in Armenien verwendete ähnliche Bezüge. So war auch hier die Rede von der »Front« und von zerstörten Städten, die aussahen wie nach einer Bombardierung. Der Gesundheitsminister Evgenij Čazov selbst rief aus: »Wir sind an der Front. Los, handeln wir wie an der Front.«123 Bei beiden Katastrophen versuchten Journalisten trotz der Unmöglichkeit, den Feind darzustellen, diesen dennoch auszumachen. Während für Tschernobyl die Radio­ aktivität und der Reaktor als Feind galten, der besiegt werden musste, waren es in der Berichterstattung über das Erdbeben die »grausame, unerbittliche« und »leidenschaftslose Natur« sowie die »sündige Erde« mit ihren »schrecklichen Angriffen gegen den Menschen«.124 Schon weit vor dem Zweiten Weltkrieg, 119 Kommunist 287, 10.12.1988, S. 1; Komsomol’skaja Pravda 284, 11.12.1988, S. 1; Sovetakan Hayastan 281, 11.12.1988, S. 3; Socialističeskaja industrija 282, 09.12.1988, S. 3. 120 Kommunist 286, 09.12.1988, S. 1. 121 Argumenty i fakty 51, 1988, S. 1; Kommunist 288, 11.12.1988, S. 1. 122 Wendland, Anna Veronika: Tschernobyl: (k)eine visuelle Geschichte. Nukleare Bilderwelten in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, in: Melanie Arndt (Hg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven, Berlin 2016, S. 182–210, hier S. 203. 123 Izvestija 344, 08.12.1988, S. 6. 124 Komsomol’skaja Pravda 282, 09.12.1988, S. 1.

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Ende der 1920er Jahre, bemerkte der Sprachwissenschaftler Jaroslav Seliščev die wachsende Bedeutung des militärischen Vokabulars in der sowjetischen Gegenwartssprache.125 Nach dem Erlebnis des Zweiten Weltkrieges konnte sich dann auch jeder Sowjetbürger mit dem Topos des Krieges identifizieren. Der Krieg war eine Herausforderung für die Nation, die, so wurde es zumindest suggeriert, nur gemeistert werden konnte, wenn alle miteinander vereint gegen den Feind kämpften. Krieg bedeutete gleichzeitig aber auch, dass die Beteiligten selbstlos, aufopfernd und stets loyal auf der Seite der Regierung kämpften. Die militärischen Signalwörter führten somit automatisch – wenn auch nur kurzfristig – zur schnellen Mobilisierung und zum hilfsbereiten Einsatz. Zudem gab es wegen der Stationierung von Panzern in Jerewan zu diesem Zeitpunkt in Armenien die tatsächliche Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung, die die sowjetische Öffentlichkeit auch als solche wahrnahm.126 Mit dem Kampf gegen die Naturkatastrophe hoffte man so, stellvertretend im politischen Kampf gegen den ethnischen Konflikt siegen zu können. Denn auf die Schlichtung des Karabachkonflikts war die »Desaster-Einheitsutopie«127 – der Versuch, zerstrittene Parteien mithilfe des Desasters wieder zusammenzubringen – in erster Linie ausgerichtet. So berichtete der erste Fernsehbeitrag zum Erdbeben am 7. Dezember länger über die Beileidsbekundungen aus Aserbaidschan als über das Erdbeben selbst.128 Beileidsbekundungen aus anderen Republiken wurden an jenem Abend nicht erwähnt, obwohl es sie in großen Mengen gab.129 Viele Zeitungen gaben in ihren Berichten über die Lage vor Ort deutlich der Hoffnung Ausdruck, dass der Konflikt zwischen den Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan »unter den Trümmern bleibt«.130 Diesen reinigenden Effekt der Katastrophe beschrieb auch ein Journalist, der 125 Gestwa: Die Stalinschen Großbauten, S. 325. 126 Interview mit Vergine K. (*1958), Gjumri, 27.10.2013. Im Sommer 1988 wurden Armenier in Bergkarabach bereits aus der Universität abgezogen, um sich auf einen möglichen Krieg vorzubereiten. Vgl. Interview mit Mihran Agbabian (*1923), Los Angeles, 29.07.2014. Er selbst besuchte die Universität sechs Monate vor dem Erdbeben und fand dort zu seinem Erstaunen nur Mädchen vor. 127 Begriff von Schencking, J. Charles: Catastrophe, Opportunism, Contestation: The Fractured Politics of Reconstructing Tokyo following the Great Kantô Earthquake of 1923, in: Modern Asian Studies 40 (2006) 4, S. 833–873, hier S. 837. 128 Über das Erdbeben wurde 1 Minute 30 Sekunden lang berichtet und über Aserbaidschans Beileid 2 Minuten 15 Sekunden. 129 Siehe Beileidsbekundungen in Virabyan: Spitaki erkrašarž, S. 59–90. Vermutlich aus politischen Gründen sind in diesem Dokumentenband des armenischen Nationalarchivs keine Beileidstelegramme aus Aserbaidschan aufgeführt, obwohl es sie gegeben hat. 130 Izvestija 348, 12.12.1988, S. 1.

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feststellte, dass das Erdbeben »zur Katharsis« geworden sei, »um die Menschen endlich so werden zu lassen, wie sie schon immer sein wollten: hilfsbereit, barmherzig, menschlich.«131 Um diese neue Einheit und die Inklusion aller Sowjetbürger über ethnische und religiöse Grenzen hinweg zur Schau zu stellen, griffen die Journalisten zudem auf das archaische Symbol des Blutes zurück. Neben Geld und Sachmitteln spendeten Menschen Blut im Überfluss. Staatliche Spendenaufrufe machten es nun möglich, dass jeder – egal ob arm oder reich – einen Beitrag zur Bewältigung des Erdbebens leisten konnte. 30.000 Sowjetbürger spendeten nach Angaben der Presseagentur Novosti Blut für die Erdbebenopfer.132 Einen solchen Andrang, Blut zu spenden, hatte es in der Sowjetunion bis dahin nur während des Zweiten Weltkrieges gegeben, als große Blutspendekampagnen durchgeführt worden waren, um Soldaten an der Front mit Blutreserven versorgen zu können. Im ganzen Land waren damals Zentren eröffnet, Broschüren verteilt und Filme gezeigt worden.133 Während noch vor dem Erdbeben Journalisten über Blut im Sinne eines möglichen Blutvergießens zwischen der Armenischen und der Aserbaidschanischen SSR geschrieben hatten, wurde nun Blut als Metapher in Artikeln dafür verwendet, die Blutopfer zu beschreiben, die für die Herstellung der Einheit der Sowjetunion nach einer solchen nationalen Tragödie gebraucht und gebracht wurden. Überschriften wie »Unser gemeinsames Blut« hoben die Trennung zwischen den einzelnen Nationalitäten auf. 134 Denn »ob es sich dabei um das Blut eines Tartaren oder eines Russen, eines Ukrainers oder eines Weißrussen handelt, spielt keine Rolle, weil wir auf dem Planeten das gleiche Blut haben. Der Unterschied besteht nur in den Blutgruppen.«135 Die Komsomol’skaja Pravda verzichtete sogar auf diesen Unterschied. Für sie vereinte die Trauer um die Erdbebenopfer alle »zu Menschen einer Blutgruppe«, da ganz Armenien nach ihrer Darstellung nun in eine Richtung lief.136 Schenkte man den entsprechenden Zeitungsartikeln Glauben, teilte sich die Armenische SSR nach dem Erdbeben nicht mehr in die oppositionelle Karabachbewegung und die Kommunistische Partei, sondern sie bildeten eine Einheit. Die Zeilen suggerierten, dass die alte Ordnung der Völkerfreundschaft durch das Erdbeben wiederhergestellt worden sei. 131 Komsmol‘skaja Pravda 282, 09.12.1988, S. 1. 132 Novosti Press Agency: The Armenian Earthquake Disaster, Madison 1989, S. 6. 133 Bagdasarov, A.: Blood Transfusion in the U.S.S.R., in: British Medical Journal 2 (1942) 4267, S. 445–446; Nikolaeva, L. K./Rafalson, D. I./Shabashova, R. N.: Blood Donor Recruitment in the Soviet Union, in: Transfusion 20 (1980) 3, S. 248–255, 4, S. 369–376. 134 Izvestija 345, 09.12.1988, S. 1. 135 Pravda (deutsche Ausgabe) 344, 10.12.1988, S. 7. 136 Komsomol’skaja Pravda 282, 09.12.1988, S. 4.

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Doch die erhoffte besänftigende und beruhigende Wirkung der Berichterstattung auf die Bevölkerung blieb aus, stattdessen stieg in der sowjetischen Bevölkerung die Sensationslust. Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl waren die Menschen vielerorts in der Sowjetunion entsetzt darüber gewesen, dass sie nicht rechtzeitig informiert worden waren und dass, selbst nachdem der Unfall bekannt geworden war, ihnen nicht ausreichend Informationen zur Verfügung gestanden hatten, um sich Gewissheit zu verschaffen. Die sowjetischen Zeitungsleser bekamen nun, zwei Jahre später genau das, wonach sie sich gesehnt hatten: mehr Informationen über Katastrophen im eigenen Land. Über kein sowjetisches Ereignis Ende der 1980er Jahre waren die Sowjetbürger so gut informiert worden wie über das Erdbeben in Armenien und keines hatte sie so tief berührt, wie eine Umfrage des Levada-Instituts ermittelte.137 Der Ansturm auf die sowjetischen Zeitungen nach dem Erbeben und einige Leserbriefe an die Redaktionen geben Aufschluss darüber, dass die neue Berichterstattung durchaus auf Wohlwollen stieß. So schrieb ein Leser an die Komsomol’skaja Pravda, man solle »weiter so schreiben, wie es wirklich gewesen ist«.138 Auch der ehemalige Journalist der Izvestija Vladimir Svarcevič erinnerte sich, wie die Menschen sich vor dem Redaktionsgebäude der Zeitung an den Glasvitrinen mit der aktuellen Ausgabe drängelten, um alles über das Erdbeben zu erfahren.139 Dieser Trend war allgemein für alle Zeitungen auch unabhängig vom Erdbeben zu verzeichnen und kann an den hohen Verkaufszahlen der Perestrojka-Zeitungen abgelesen werden. Das Konzept eines hohen Marktwertes von Katastrophenberichterstattungen war nunmehr auch in der Sowjetunion angekommen. Aufgrund der sich verändernden Bedingungen im sowjetischen Pressewesen, wo nunmehr auch die Nachfrage der Konsumenten das Angebot der Journalisten bestimmte, kann das Überangebot an Informationen über die armenische Erdbebenkatastrophe neben den politischen Zielen auch Aufschlüsse darüber geben, wie groß das Interesse der Bevölkerung an solchen Nachrichten war. Und mit dem Interesse der Bevölkerung an Sensationellem stieg der Anteil »an Unzüchtigem, Skandalösem und Bizarrem scheinbar exponentiell an«.140 So forderten die Sowjetbürger in Leserbriefen an die Zeitungen noch mehr Informationen über diese oder andere Katastrophen und trieben die Journalisten in ihrer Berichterstattung über Armenien dazu an, noch mehr Artikel zu veröf137 Lewada: Die Sowjetmenschen, S. 326. 138 Vgl. Komsomol’skaja Pravda 86, 14.04.1989, S. 2. 139 Interview mit Vladimir Svarcevič (*1955), Moskau, 20.06.2013. 140 Becker, Jonathan A.: Soviet and Russian Press Coverage of the United States. Press, Politics and Identity in Transition, Basingstoke 1999, S. 46.

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fentlichen.141 Doch auch andere Katastrophen und Unfälle – sowohl vergangene als auch aktuelle – im Aus- und Inland hatten plötzlich Hochkonjunktur, was dazu führte, dass die Leser in Briefen ihre Erfahrungen mit selbst erlebten Naturkatastrophen mitteilten.142 Die Folgen der neuen Informationsflut und -gier waren gravierend. In Zeiten der Krise und des gesellschaftlichen Umbruchs geben Informationen den Betroffenen ein Gefühl der Sicherheit. Sie sind Handlungsanleitungen in unsicheren Situationen und helfen den zu Informierenden beim Abwägen von Handlungsalternativen. Die große Nachfrage nach Zeitungen während der Peres­ trojka ist durchaus auch auf dieses allgemeine Bedürfnis nach Sicherheit und Gewissheit zurückzuführen, an denen es nicht nur der sowjetischen, sondern auch der westlichen Moderne in zunehmendem Maße mangelte.143 Gerade Erlebnisse wie eine Naturkatastrophe, auf die der Parteistaat nicht zureichend vorbereitet war, wiesen auf die Brüchigkeit der ideologischen Versprechungen von Fürsorge und Sicherheit hin.144 Diese plötzlich auftauchende Sensibilität für Katastrophen, die auch in Westeuropa, insbesondere in den 1980er Jahren, zu beobachten war, führte dazu, dass die Menschen in der Sowjetunion zunehmend Ängste vor Naturkatastrophen aufbauten.145 Das Erdbeben und die Berichterstattung darüber hatten die Gewissheit der Menschen erschüttert, was die eigene Sicherheit anging. Dies war auch dann der Fall, wenn sie in einer völlig ungefährlichen Gegend wie beispielsweise Moskau lebten. Hier fürchteten sich einige Bewohner vor dem Einstürzen der Gebäude und konnten sich nach dem Erdbeben in Armenien nicht mehr abgewöhnen, »die Stabilität des vor ihnen befindlichen Gebäudes zu überprüfen«.146 Laut der großen Meinungsumfrage, die zwischen 1989 und 1991 vom neu gegründeten »Allunions-Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung« (VCIOM) in der Sowjetunion durchgeführt wurde, stand die Angst vor Naturkatastrophen unionsweit auf dem dritten 141 Komsomol’skaja Pravda 86, 14.04.1989, S. 2. Und für weitere Forderungen siehe Briefe in: ­Albee, Marina/Cerf, Christopher (Hg.): Die neue Freiheit. Gorbatschows Politik auf dem Prüfstand. Leserbriefe an die Zeitschrift »Ogonjok« 1987–90, München 1990, S. 65–66, 77. 142 Nachfragen nach Unfällen in Fußballstadien wie in Sheffield siehe in: Argumenty i fakty 17, 1989, S. 8; Berichte über vergangene Zugkatastrophen aus den Jahren 1986/1987 in: Argumenty i fakty 23, 1989, S. 8. Für die Erfahrungsberichte siehe Argumenty i fakty 52, 1988, S. 7. 143 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986. 144 Gestwa: Sicherheit in der Sowjetunion, S. 456. 145 Imhof: Katastrophenkommunikation, S. 151. 146 Krušinskij, Michail S./Procenko, Aleksandr D.: Dni skorbi i mužestva: Armenija, dekabr’ 1988 g, Moskau 1989, S. 69.

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Platz, nach der Angst vor dem Krankwerden enger Familienangehöriger und der Angst vor Krieg.147 Zwar gibt es keine vergleichbaren Umfragen aus den Jahren vor dem Erdbeben, aber allein die Tatsache, dass die Angst vor Naturkatastrophen noch vor der Angst vor einer möglichen Krankheit enger Angehöriger platziert wurde, deutet auf die starke (zumindest temporäre) Präsenz von Naturkatastrophen im Bewusstsein der sowjetischen Bevölkerung hin. Die Bilder der zerstörten Häuser in Armenien hatten sich tief in das Gedächtnis der Leser eingebrannt, so dass sie sich oftmals zu fragen schienen, wie denn wohl dieses oder jenes Gebäude »in der Leninakaner Variante«, also nach der Zerstörung, aussehen würde.148 Jedes Wohnhaus in der Sowjetunion wurde plötzlich zur potenziellen Todeszone deklariert. In einem Artikel in Ogonek vom September 1989 fragte der Autor Vadim Lejbovskij, wie es angesichts des Pfuschs eigentlich weitergehen solle, denn wieder werde man bis zum nächsten Erdbeben in 20 Jahren warten, um sich dann zu wundern, dass alles in sich zusammenfalle.149 Lejbovskij war überzeugt davon, dass mit der Zeit alle Gebäude in der Sowjetunion wie Kartenhäuser zusammenfallen würden, weil man sich um die nachfolgenden Generationen ohnehin noch nie geschert habe.150 Doch die Berichterstattung hatte den Menschen nicht nur die Illusion über guten Häuserbau in der Sowjetunion geraubt; manche meinten nun, den »Glauben an die Ordnung« und den Glauben an ihre Fähigkeit, »sie im richtigen Moment wiederherzustellen«, verloren zu haben.151 Diese apokalyptische Stimmung fügte sich ein in das Narrativ der »polnaja razrucha«, des totalen Zerfalls, von welchem in den Gesprächen an Moskauer Küchentischen Ende der 1980er Jahre überall zu hören war; die Berichterstattung über die Katastrophe erhöhte nun dieses Unsicherheitsgefühl in der sowjetischen Bevölkerung.152 Der Parteistaat erwies sich mehr »als organisierte Unverantwortlichkeit mit hohem Katastrophenpotenzial« denn als Sicherheitsgarant im Katastrophenfall.153 Garantien, die ein Staat nach Ansicht der Bevölkerung mindestens zu gewähren hat, lösten sich mit der Erdbebenkatastrophe für viele auf. 147 Lewada: Die Sowjetmenschen, S. 334. Die genaue Aufschlüsselung der Umfrage sah dabei wie folgt aus: Angst vor dem Krankwerden enger Familienangehöriger 60,3 Prozent, Angst vor Krieg 48,3 Prozent und Angst vor Naturkatastrophen 42,4 Prozent. 148 Krušinskij/Procenko: Dni skorbi, S. 69. 149 Ogonek 36, August 1989, S. 27–29. 150 Ebd. 151 Krušinskij/Procenko: Dni skorbi, S. 69 f. 152 Ries, Nancy: Russian Talk. Culture and Conversation during Perestroika, Ithaca, London 1997, S. 46 f. 153 Gestwa: Sicherheit in der Sowjetunion, S. 456.

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In Armenien war das Interesse an der Berichterstattung noch stärker an ein Bedürfnis nach Gewissheit und Informationen gebunden als in Moskau oder etwa Irkutsk, schließlich hatten die Menschen in Armenien das Erdbeben selbst miterlebt und fürchteten weitere Erschütterungen. Gleichzeitig verängstigten sie die Berichte über die katastrophale Lage und die aussichtslose Zukunft ihrer Heimat. Während sich in Moskau an den Fenstern der Zeitungsredaktionen aus Sensationslust lange Schlangen bildeten, empfanden die Armenier vor Ort tiefe Trauer und Zukunftsängste. Manche waren beschämt darüber, wie man die Schäden in ihrer Heimat in der sowjetischen Presse und im sowjetischen Fernsehen zur Schau stellte. So forderte eine Frau nach der Ausstrahlung eines sowjetischen Dokumentarfilms über das Erdbeben, damit aufzuhören, »die Zerstörung ihrer Nation« zu zeigen.154 Sie hoffte offenbar, der Tradition sowjetischer Katastrophenberichterstattung entsprechend, dass das Nichtzeigen des Schadens diesen irgendwie begrenzen würde. Sie hatte vermutlich genug von den Untergangsbildern. Die Frau forderte nicht nur sorglose, Mut machende Bilder, sondern gleichzeitig einen Grund, optimistisch in die Zukunft Armeniens blicken zu können. Ähnlich empfand es auch ein Ogonek-Leser, der ebenfalls genug von den Katastrophenbildern im Sinne von Glasnost’ hatte und sich in einem Leserbrief fragte, »wie die Menschen […] da noch guter Stimmung sein« sollten.155 Die offenere Berichterstattung in den Medien war ihnen einerseits zu viel, andererseits aber auch nicht mehr genug. So wollten sie, dass sich an diesen Schreckensszenarien nun auch etwas änderte. Sie forderten Lösungen und positive Ergebnisse ein. Die optimistischen Aussagen am Anfang der Berichterstattung, dass in zwei Jahren alles wiederaufgebaut sein würde, dass schon nach zwei Wochen für alle Normalität eingekehrt sei und dass die Musik des Lebens in Leninakan wieder zu spielen begonnen habe, entpuppten sich für die Leser als leere ideologische Versprechungen. Die Berichterstattung über die Erdbebenkatastrophe zeigte mit ihren Kontinuitäten alter Muster und den Brüchen mit diesen, welchen Wandel Glasnost’ in jenem Zeitraum erfuhr. Dabei war die Nachrichtengestaltung keineswegs einheitlich, wie das Unterkapitel verdeutlichte. Während manche Journalisten noch dem Kreml gehorchten, insofern, als sie versuchten, binnen kürzester Zeit Normalität zu suggerieren, preschten andere voraus und stellten das sowjetische Gesundheits- und Versorgungssystem infrage, anstatt die Heldenhaftigkeit 154 HAA f. 1, op. 127, d. 757, l. 142, Telegramm von A. Simonjan an das ZK KP ArSSR vom 21. August 1989. 155 Albee/Cerf: Die neue Freiheit, S. 259–261.

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der Retter zu preisen. Im Ergebnis schürte diese neue Art der Berichterstattung nicht nur die Sensationslust bei manchen, sondern auch Angst und Unsicherheit. Viele Armenier fühlten sich von ihrem eigenen Staat nicht mehr ausreichend geschützt, auch weil die Regierung den Bildern von Verwüstung und Tod nichts Konstruktives entgegenzusetzen hatte. Dabei beschränkte sich die Wirkung des Erdbebens nicht mehr nur auf Armenien; sein negativer Wirkradius reichte bis in andere Teile der Sowjetunion und erschütterte dort lieb gewordene Sicherheiten. Die mit Glasnost’ möglich gewordene Katastrophenberichterstattung fütterte mit ihren Bildern und Texten zusätzlich die Debatten um das bestehende politische Chaos. Sie trug so dazu bei, dass sich die Bürger vom Staat entfernten, weil er nicht mehr ausreichend für Sicherheit sorgen konnte. Dem Politbüro sollte die Gestaltung der Nachrichten über das Erdbeben wiederum dazu dienen, Einheit unter den sowjetischen Völkern zu suggerieren, insbesondere zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die Hoffnung darauf, dass der Streit um Bergkarabach unter den Trümmern abflaute, war groß – allerdings vergeblich: Das Erdbeben legte den Konflikt nicht bei, sondern bildete die Plattform, auf dem er weiter ausgetragen wurde.

4.3 Verschwörungen oder Gott: gefährliche Deutungen einer Katastrophe Schon eine Woche nach dem Erdbeben musste ein armenischer Journalist feststellen, dass »die Massenmedien […] ununterbrochen von der Völkerfreundschaft im Kaukasus [schreiben]«, »diese gegenstandslosen Behauptungen« allerdings »nur den gegenteiligen Effekt« hätten.156 Der Einheitsutopie aus dem Politbüro widersetzten sich viele Menschen sowohl in Armenien als auch in Aserbaidschan, unabhängig davon, ob sie zur Nationalbewegung gehörten oder nicht. Gerade für die Menschen in Armenien war es wichtig, eine Ursache für das Erdbeben auszumachen, da Betroffene von Naturkatastrophen das sinnlose Sterben einordnen wollen, um es so besser zu verarbeiten.157 In dem Massensterben eine Katharsis oder eine Möglichkeit für eine Annäherung zwischen den verfeindeten Republiken zu sehen lehnten viele in Armenien ab. Der Versuch, 156 Sovetakan Hayastan 294, 14.12.1988, S. 3. 157 Jakubowski-Tiessen, Manfred: Mythos und Erinnerung. Einige kommentierende Anmerkungen über Städte aus Trümmern, in: Andreas Ranft/Stephan Selzer (Hg.): Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne, Göttingen 2004, S. 274–286, hier S. 279.

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der Katastrophe einen Sinn zu geben, ist jedoch nicht unproblematisch. Denn oftmals entstehen dabei konstruierte Deutungen über die Ursachen der Naturkatastrophe, die nicht immer nur zu einer psychologischen Entlastung und Auflösung des Traumas beitragen, sondern auch zu Konflikten führen können.158 Das liegt daran, dass gerade bei solchen Extremereignissen, die sich zusätzlich in einem konfliktgeladenen Kontext ereignen, Deutungskonkurrenzen entstehen können. Neuere politik- und sozialwissenschaftliche Studien über die positive Beziehung zwischen Katastrophen und Konflikten kommen zu dem Schluss, dass der Mangel an Ressourcen, Angst und das Gefühl von Unsicherheit nach einer Katastrophe zu einer Erhöhung des Konfliktpotenzials führen können.159 Mittlerweile gehen Konfliktforscher zudem davon aus, dass auch die Art und Weise, wie Akteure ihre Probleme sprachlich und strukturell in einem Rahmen festlegen, ihre Deutungen über die Katastrophe formulieren und Symbole schaffen, darüber entscheidet, ob es zu Unruhen kommt oder nicht.160 Konflikte entstehen meistens nicht durch einmalige Provokationen. Vielmehr werden sie beeinflusst durch die sich abwechselnden Aktionen und Reaktionen der beteiligten Gruppen.161 Dazu gehören auch die Reaktionen auf die Deutungen der Katastrophe, welche in den verschiedenen Akteursgruppen unterschiedlich ausfallen und teilweise auch mit Absicht manipulativ aufbereitet werden, um ein politisches Ziel zu erreichen. In diesem Sinne geben die Deutungsangebote der Akteure direkte Aufschlüsse über die Bewältigungsmechanismen nach Katastrophen, neben jenen Versuchen, die mittels Technik, Geld und Wissen die Bewältigung vorantreiben. Sie sind somit mindestens genauso wichtig in der Analyse, da sie über Erfolg oder Misserfolg des Katastrophen­ managements und des Wiederaufbaus bestimmen. So verhindern beispielsweise religiös motivierte oder auf Verschwörungstheorien fußende Deutungen von Erdbeben, dass Menschen sich für die Zukunft besser vor Naturkatastrophen 158 Ebd. 159 Siehe Drury/Olson: Disasters and Political Unrest; Bhavnani, Rakhi: Natural Disaster Conflicts, in: http://www.disasterdiplomacy.org/bhavnanisummary.pdf [15.09.2016]; Brancati, Dawn: Political Aftershocks: The Impact of Earthquakes on Intrastate Conflict, in: Journal of Conflict Resolution 51 (2007) 5, S. 715–743; Nel, Philip/Righarts, Marjolein: Natural Disasters and the Risk of Violent Civil Conflict, in: International Studies Quarterly 52 (2008) 1, S. 159–185; Omelicheva: Natural Disasters; Misanya, Doreen/Øyhus, Arne Olav: How communities’ perceptions of disasters influence disaster response: managing landslides on Mount Elgon, Uganda, in: Disasters 39 (2015) 2, S. 389–405. 160 Nardulli, Peter F./Peyton, Buddy/Bajjalieh, Joseph: Climate Change and Civil Unrest: The Impact of Rapid-onset Disasters, in: Journal of Conflict Resolution 59 (2015) 2, S. 310– 335, hier S. 314. 161 Ebd.

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schützen, da sie davon ausgehen, sich dem anscheinenden Willen Gottes oder dem der vermeintlichen Verschwörer ohnehin nicht entziehen zu können.162 Die Deutungsangebote erklären somit den kulturspezifischen Umgang mit Katastrophen und die Reaktionen darauf. Und schließlich geben sie darüber Aufschluss, wie sich die Konfliktparteien zueinander verhalten und positionieren. Durch die zunehmende unbeabsichtigte Verselbstständigung der kritischen Öffentlichkeit traten neben einem Mehr an Informationen auch unterschiedliche Angebote für die Deutung der Katastrophe an die Oberfläche. In Armenien glaubten einige bereits innerhalb kürzester Zeit den Versuch des Politbüros entlarvt zu haben, das Erdbeben für seine Einheitspropaganda zu nutzen. Noch bevor die erste Hilfe im Land eingetroffen war, verteilte das Karabachkomitee bereits am 8. Dezember 1988 Flugblätter, auf denen es die sowjetische Regierung genau vor dieser Instrumentalisierung warnte. Außerdem erklärte das Komitee, dass das Erdbeben auf keinen Fall seine eigentlichen Forderungen nach Karabach durch eine »Allunions-Baustelle« verdrängen dürfe. Sie forderten von der Regierung, die angeblich falschen Nachrichten über die Hilfe aus Aserbaidschan aus den Medien zu verbannen.163 Damit beriefen sie sich auf den am Vorabend in den Nachrichten ausgestrahlten Beitrag über die Hilfe aus Aserbaidschan. Auch wenn das Karabachkomitee den Misserfolg des Katastrophenmanagements nicht für seinen Machtgewinn instrumentalisierte, so nutzten seine Anführer doch die Gelegenheit, eine eigene Lesart des Erdbebens zu entwickeln, um sich gegenüber Moskau weiter zu behaupten. Entgegen der offiziellen Deutung aus Moskau vermuteten viele Armenier hinter dem Erdbeben einen Racheakt der sowjetischen Regierung. Eine Mehrheit der Armenier, laut einer soziologischen Umfrage in Armenien im Jahre 1989 waren es sogar 90 Prozent, war – und ist bis heute – fest davon überzeugt, dass sich die Regierung als letztes Mittel eines Erdbebens bediente, um Sowjetarmenien vom Kampf für Karabach abzuhalten.164 Manche argwöhnten, dass 162 Akasoy, Anna: Das Erdbeben, Vater Staat und der liebe Gott. Das Marmara-Erdbeben 1999, in: Gerrit Jasper Schenk (Hg.): Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel, Ostfildern 2009, S. 182–190, hier S. 188. Das bestätigte auch die ehemalige sowjetische Seismologin Tatjana Rautjan in einem Interview mit der Verfasserin, als sie erklärte, dass Menschen in Zentralasien aufgrund ihrer Schicksalsgläubigkeit nicht von den Orten weg­ zogen, die nachweislich des Öfteren von Überflutungen heimgesucht werden, vgl. Interview mit Tatjana Rautjan (*1930), per E-Mail, 07.11.2016. 163 Flugblatt »Sootečestveniki!« vom 8. Dezember 1988, Privatarchiv Aram Manukyan. 164 Für das Umfrageergebnis von 1989 siehe Pogosjan, Gevork: Čelovek v zone bedstvija (Teil 1), in: Promyšlennost’ stroitelst’vo i arkhitektura Armenii 1 (1990), S. 8–10, hier S. 9. In der Umfrage, bei der es um die sozialen Konsequenzen der Katastrophe für die Bewohner ging, wur-

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die sowjetische Regierung unter der Mitarbeit aserbaidschanischer Politiker mit Absicht eine in Afghanistan entwickelte tektonische Waffe eingesetzt habe, um so ein künstliches Erdbeben in Armenien auszulösen, mit dem Ziel, den Nationalitätenkonflikt zu beruhigen.165 Andere wiederum glaubten, dass die Türkei in Zusammenarbeit mit der Aserbaidschanischen SSR eine Explosion in einem unterirdischen Tunnel ausgelöst habe, die wiederum das Erdbeben verursacht habe.166 Als Beweise für diese Theorie wurde angeführt, dass der sowjetische Verteidigungsminister Dmitrij Jazov noch drei Tage zuvor ausgerechnet in der Nähe des Epizentrums unterwegs gewesen war und dann einen Tag vor dem Beben das Land verlassen hatte und dass etliche Frauen und Kinder der Militärs auf der sowjetischen Militärbasis in Leninakan schon Tage zuvor unbegründet nach Russland evakuiert worden waren, angeblich, um sie vor dem geplanten Erdbeben zu schützen.167 Den wohl absurdesten Beweis für ein Mitwirken Aserbaidschans an dem Erdbeben lieferte für manche Armenier die Tatsache, dass kurz vor dem Erdbeben alle in der Region lebenden Aserbaidschaner ausgereist waren. Die meisten Armenier glaubten in dem Erdbeben eine Strafe für ihre politische Sünde zu sehen, für ihren Protest gegen das Zentrum und ihre Forderungen nach Bergkarabach.168 Wie sehr die Armenier von der vermeintlichen Rachsucht Moskaus überzeugt waren, bewies nicht zuletzt auch die folgende in Armenien kursierende Anekdote, nach der ein Journalist einen sowjetischen Regierungssprecher Folgendes fragte: »Wie will die Regierung eigentlich mit nationalen Bewegungen umgehen, die außerhalb der seismisch aktiven Zone der Sowjetunion operieren?«169 Insbesondere die Verschwörungstheorie über die tektonische Waffe manifestierte sich innerhalb des Folgejahres mit großem Erfolg. Im Herbst 1989 zeigte das armenische Filmstudio Armenfilm den Trickfilm »Knopka/Sedmakočak« (dt. Der Knopf) in armenischen Kinos.170 In diesem acht Minuten dauernden Film geht es um einen nicht weiter verifizierbaren Mitarbeiter des Politbüros, der mit jedem Knopfdruck, den er seit dem Aufstehen am Morgen auf seinem Wecker, am Telefon und an Klingelknöpfen tätigt, eine Explosion an verschieden insgesamt 2000 Personen aus Leninakan, Spitak und Kirovakan befragt. Ausführlicher zur Umfrage siehe Kapitel 5.3 in dieser Arbeit. 165 Dudwick: Memory, S. 249–250; Abrahamian: Armenian Identity, S. 159. 166 Rost: Armenian Tragedy, S. 105. 167 Weitere vermeintliche Indizien für die tektonische Waffe als Auslöser des Erdbebens bei ­Muradyan, Norayr: Spitak Epicentr zemletrjasenie fakty, Jerewan 1998, S. 151–153. 168 Abrahamian: Armenian Identity, S. 159. 169 Dudwick: Memory, S. 254. 170 Sahakayanc’, Robert: Knopka/Sedmakočak, Armenfilm, Jerewan 1989.

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denen Orten in der Sowjetunion auslöst. Anfangs scheint er noch überrascht von seinen magischen Fingerfertigkeiten. Doch in zunehmendem Maße findet er Gefallen an seiner Macht und nutzt sie schließlich aus. So lässt er vielerorts absichtlich Kirchen, Wohnhäuser und Fabriken explodieren. Ungeachtet des Chaos, in welchem die Menschen aufgrund der Explosionen panisch um ihr Leben rennen, geht er gelangweilt seiner Arbeit nach, redet mit Kollegen und besucht seine Geliebte. Am Schluss des Films trifft er auf Verteidigungsminister Dmitrij Jazov, mit dem er zusammen den Auslöser für das Erdbeben in Armenien betätigt. Aus den Erdbebentrümmern heraus schießt unter der musikalischen Begleitung eines Trompetenlieds eine Faust, die genauso wie das Lied ein Symbol der Karabachbewegung war.171 Was sich zunächst wie ein witziger Film und eine absurde Verschwörungstheorie anhört, legt für die Historikerin jedoch vielerlei offen. Zum einen zeigt der Film, dass Armenien sich immer noch als einen Teil der Sowjetunion sah, da die Republik als ein Teil der gesamten sowjetischen »Katastrojka« dargestellt wird. Denn der Film zeigt nicht nur das Erdbeben in Armenien – das zweifelsohne den Höhepunkt darstellt –, sondern verweist auch auf mutwillige Zerstörungen andernorts in der Sowjetunion. Zum anderen war diese Deutung des Erdbebens eine klare Kampfansage des Filmemachers und jener Menschen, welche die Verschwörungstheorie verbreiteten, sowohl an Aserbaidschan als auch an Moskau. Sie zeigte diesen, dass egal welche Anstrengungen von ihnen unternommen würden – hierzu zählte unter anderem die Einheitskampagne in der Presse –, die Bewegung sich nicht unterwerfen, sondern ihre Ziele weiterhin verfolgen würde. Und schließlich machte die Verschwörungstheorie deutlich, wie wenig man Moskau noch glaubte, dass es tatsächlich als Schutzpatron und im Sinne der sowjetarmenischen Bevölkerung handelte. Das Vertrauen in das Zentrum und in sein Handeln im Sinne der armenischen Interessen war offenbar zutiefst erschüttert. Kaum jemand glaubte an eine natürliche Ursache des Erdbebens, was angesichts der Tatsache, dass Armenien sich in einer seismisch hochaktiven Zone befindet, überraschen mag. Man könnte argumentieren, dass sich aufgrund 171 Das Lied auf der Trompete stammte ursprünglich aus dem sowjetarmenischen Spielfilm »O čem šumit reka« (dt. Worüber der Fluss lärmt) aus dem Jahre 1959. Im Februar des Jahres 1988 spielte der Musiker Ašot Mirzoyan das Lied zum ersten Mal während einer der ersten Demonstrationen und schon bald wurde es von der Karabachbewegung als »Hymne« aufgegriffen, die die Demonstrationen und Versammlungen auf dem Theaterplatz begleitete, Mirzoyan, Ašot: Oružie massovogo vdochnovenija, in: Erevan. Žurnal c akcentom, Sonderheft 2016, S. 124–129.

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der lange währenden Geheimhaltungspolitik bei Naturkatastrophen, die sich auf sowjetischem Territorium ereigneten, in keiner Region der Sowjetunion ein wirkliches Katastrophengedächtnis ausbilden konnte. Das letzte folgenschwere starke Erdbeben in Armenien lag bereits 60 Jahre zurück, woran sich nur die wenigsten aktiv erinnerten. Zwar hatte es im Vorfeld wissenschaftliche Untersuchungen und sogar internationale Seminare der Vereinten Nationen über Seismologie in Duschanbe gegeben, in keiner der Sowjetrepubliken, die im seismischen Gürtel um die südlichen Grenzen des sowjetischen Imperiums lagen, gab es aber Übungen oder Trainings, welche die Bevölkerung auf eventuelle Erdbeben hätten vorbereiten können.172 Erst nach dem Erdbeben in Armenien im Dezember 1988 veränderte sich das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Informationen; so erschienen in Armenien beispielsweise handlungsanleitende Broschüren für das Verhalten während eines Erdbebens. Überzeugender scheint jedoch, dass der zeitliche Zusammenfall von politischem Aufruhr und Katastrophe die Entstehung der Verschwörungstheorie begünstigte. Verschwörungstheorien, sprich der Glaube daran, dass wichtige Ereignisse hinter den Kulissen durch mächtige Akteure gesteuert werden, existieren insbesondere in Situationen des Chaos und der Unübersichtlichkeit. Genauso wie Gerüchte helfen sie, »bestimmte Ereignisse und Prozesse, die sich ansonsten schwer einordnen ließen, sinnhaft zu deuten« und dadurch Kontrolle über die Situation zu erlangen.173 Es war für jene, die an das Gerücht glaubten und es weitergaben, offenbar einfacher, das Erdbeben einer Gruppe von Politikern zuzuordnen, als zu akzeptieren, dass komplexe geologische Prozesse mehr als 25.000 Menschen das Leben gekostet hatten. Wieder und wieder fragten die Menschen in Armenien in- und ausländische Seismologen, ob es nicht doch ein künstlich herbeigeführtes Erdbeben gewesen sei.174 Verschwörungstheorien sind, abgesehen von der Absicht, Menschen vorsätzlich zu manipulieren 172 UN-Archiv ORG 231/3 RUS Part 1, Brief vom 5. Dezember 1988 von Hans Einhaus, Direktor UNDRO, an Ju. Schevčenko, Abteilung für technische Assistenz durch die UN in Moskau. 173 Anton, Andreas/Schetsche, Michael/Walter, Michael K.: Einleitung: Wirklichkeitskonstruktion zwischen Orthodoxie und Heterodoxie – zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien, in: Andreas Anton/Michael Schetsche/Michael Walter (Hg.): Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, Wiesbaden 2014, S. 9–26, hier S. 15. Siehe auch ­Baberowski, Jörg: Die Diktatur der Gerüchte. Einleitung. In: Journal of Modern European History 10 (2012) 3, S. 315–319, hier S. 317; Kossowska, Malgorzata/Bukowski, M ­ arcin: Motivated roots of conspiracies: The role of certainty and control motives in conspiracy thinking, in: Michal Bilewicz/Aleksandra Cichocka/Wiktor Soral (Hg.): The Psychology of Conspiracy. A Festschrift for Mirosław Kofta, Hove, New York 2015, S. 145–161. 174 Interview mit Mihran Agbabian (*1923), Los Angeles, 29.07.2014.

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oder Regierungen zu verunsichern, fast immer auch Antworten auf tatsächlich bestehende erdrückende Probleme, Bedürfnisse und Ängste einer bestimmten Gesellschaftsgruppe.175 Psychologische Studien haben ergeben, dass sie oft in solchen Gruppen vorkommen, in denen Gefühle wie Entfremdung, Macht­ losigkeit, Feindseligkeit und Benachteiligung vorherrschend sind.176 Sie tauchen verstärkt in Regionen auf, in denen politische Instabilität dominiert, und in Zeiten, in denen die Betroffenen das Gefühl haben, den Mächten hilflos ausgeliefert zu sein.177 Verschwörungstheorien geben dann vermeintliche Orientierung und spenden Trost, da sie suggerieren, dass die Herrschaft des Bösen schließlich irgendwann ein Ende finden muss, und weil sie in gewisser Weise handlungsanleitend wirken.178 Sie liefern einfache Antworten auf komplexe Fragen. Gerüchte und in diesem Sinne auch Verschwörungstheorien waren ein integraler Bestandteil der sowjetischen Kommunikationskultur, in der sie tief verwurzelt waren.179 Gerade während der Perestrojka, einer Zeit des Umschwungs und des Chaos, erlebten sie eine Hochkonjunktur. Über den Reaktorunfall in Tschernobyl etwa entwickelte sich zum einen die Idee, dass Tschernobyl im Rahmen der »Ökozid-These« eine von Moskau beabsichtigte Katastrophe mit dem Zweck der Auslöschung der ukrainischen Nation gewesen sei, weshalb die Katastrophe von ukrainischen und weißrussischen Dissidenten als Völkermord eingestuft wurde.180 Ähnlich wie im Fall der Vorwürfe, es existiere eine tektonische Waffe, verbreitete sich zum anderen in Bezug auf Tschernobyl die Verschwörungstheorie, nach der die Reaktorkatastrophe durch das umstrittene US-amerikanische Forschungsprogramm HAARP (engl. für High Frequency Active Auroral Research Program) initiiert worden sei, welches durch hochfrequente elektromagnetische Wellen angeblich ein Erdbeben in der Nähe von Tscherno175 Butter, Michael/Reinkowksi, Maurus: Introduction: Mapping Conspiracy Theories in the United States and the Middle East, in: Michael Butter/Maurus Reinkowksi (Hg.): Conspiracy Theories in the United States and the Middle East. A Comparative Approach. Berlin, Boston 2014, S. 1–32, hier S. 2. 176 Abalakina-Paap, Marina/Stephan, Walter G./Craig, Traci/Gregory, W. Larry: Beliefs in Conspiracies, in: Political Psychology 20 (1999) 3, S. 637–647. 177 Fenster, Mark: Conspiracy Theories. Secrecy and Power in American Culture, Minneapolis 2008, S. 18. 178 Hagemeister, Michael: Antisemitismus und Verschwörungsdenken in Rußland, in: Christina Tuor-Kurth (Hg.): Neuer Antisemitismus – alte Vorurteile?, Stuttgart 2001, S. 33–52, hier S. 40. 179 Baberowski: Die Diktatur der Gerüchte, S. 315–319. 180 Jobst, Kerstin S.: Die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, in: Martin Malek/Anna Schor-Tschudnowskaja (Hg.): Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hintergründe, Baden-Baden 2013, S. 251–267, hier S. 263.

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byl ausgelöst habe, um den Reaktorunfall zu verursachen.181 Auch wenn beiden Verschwörungstheorien verschiedene Katastrophenverursacher zugrunde liegen – hier das Politbüro, dort die amerikanische Regierung –, machen sie doch deutlich, wie zutiefst irritiert die sowjetische Bevölkerung war. Ein weiteres Beispiel für diese Verunsicherung während der Perestrojka ist die Wiederbelebung der Verschwörungstheorie nach den »Protokollen der Weisen von Zion«. Diese erfundene Idee über eine vermeintliche jüdische Weltbeherrschung wurde von »Pamjat’« (russ. für Gedenken), einer der in der Perestrojka zahlreichen neu gegründeten informellen Gruppen, in Umlauf gebracht und durch eine Antialkoholkampagne gegen den angeblichen »zionistischen Alkogenozid des russischen Volkes« erweitert.182 Ähnlich wie während des Zusammenbruchs des Zarenreiches erlebten die Mythen der jüdisch-freimaurerischen Verschwörungen während der Perestrojka einen ungeheuren Aufschwung. Zwar nahm die »antizionistische« staatliche Propaganda unter der Führung Gorbačevs ab, die Öffnung durch Glasnost’ ermöglichte jedoch rechtsextremen Gruppen wie »Pamjat’«, aber auch zahlreichen russischen Intellektuellen und Schriftstellern, für die Idee des »zionistisch-freimaurerischen Komplotts« zu werben – eine der Kehrseiten der Perestrojka.183 In den 1990er Jahren dann schoss die Anzahl der kursierenden Verschwörungstheorien in den postsowjetischen Ländern weiter explosionsartig nach oben. So glaubten 1992 über 40 Prozent der für eine soziologische Studie befragten Moskauer an eine gegen Russland gerichtete weltweite Verschwörung der Zionisten oder hielten eine solche zumindest für möglich.184 Gemeinsam ist diesen doch sehr verschiedenen Beispielen der Glaube an eine mit einem »großen Plan« von »verborgenen Mächten« gesteuerte Geschichte.185 Dies verweist auf den zunehmenden kollektiven und individuellen Kontrollverlust in der krisengeschüttelten spätsowjetischen und insbesondere in der postsowjetischen Gesellschaft und auf das Bedürfnis nach Orientierung in Zeiten

181 Tkachuk, Anatoly N.: Ich war im Sarkophag von Tschernobyl. Der Bericht des Überlebenden, Wien 2011, S. 151 f. 182 Saal, Yuliya von: KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985–1991, München 2014, S. 97 f. 183 Pfahl-Traughber, Armin: Die neue/alte Legende vom Komplott der Juden und Freimaurer. Zur Renaissance des antisemitisch-antifreimaurerischen Verschwörungsmythos in der Sowjetunion, in: Osteuropa 41 (1991) 2, S. 122–133, hier S. 125 f. und 128 f. 184 Hagemeister: Antisemitismus und Verschwörungsdenken, S. 35 f. 185 Ebd., S. 47.

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des Chaos.186 Es ist kein Zufall, dass Verschwörungstheorien in bestimmten historischen Situationen, vor oder nach dem Zusammenbruch von Systemen (z. B. Französische Revolution 1789, Russische Revolution 1917) oder in Phasen gesellschaftlicher Umbrüche (z. B. Deutschland 1918–1922), auf großes Interesse gestoßen sind.187 Es waren oder sind Versuche, die sich stetig verdichtenden und hochkomplexen, die gesellschaftlichen Fundamente erschütternden Entwicklungen in dualistische Gut-böse- bzw. Opfer-Täter-Strukturen zu bringen, um ihrer Herr zu werden. Die Theorie über das künstliche Erdbeben in Armenien im Dezember 1988 reiht sich ein in das Bedürfnis, die Komplexität der Perestrojka-Jahre zu vereinfachen. Für die betroffenen Regierungen bedeuten Verschwörungstheorien große Gefahren für die politische Ordnung, da sie politische Passivität produzieren – das Gegenteil von dem, was Gorbačev mit seinen Reformen erreichen wollte.188 Ihr Aufkommen kann somit als ein Ausdruck der zunehmenden Politikverdrossenheit in der sowjetischen Gesellschaft und des Verlustes des Vertrauens in das offizielle sowjetische Narrativ gedeutet werden.189 Im Fall der armenischen Verschwörungstheorie verschärfte die symbolische Verdichtung von fataler Zerstörung und gezielter politischer Handlung die Ressentiments gegenüber der Moskauer Führung erheblich. Damit war das Ziel der Verschwörungstheoretiker, die sicherlich aus den Reihen der Karabachbewegung stammten, erreicht. Denn mit ihrer »populistischen Machttheorie« vermochten sie es, eine Vielzahl von Sowjetarmeniern gegen das Zentrum zu mobilisieren.190 Der Erfolg der Theorie, welcher sich durch deren rasche Verbreitung und Anerkennung in allen Gesellschaftsschichten zeigte, legitimierte somit eine politische Anti-Haltung, wie sie im Sinne der Massenbewegung in Armenien war. Armenier konnten so direkt demonstrieren, dass sie die sowjetische Regierung für das Ausmaß der Katastrophe verantwortlich machten, da diese die Korruption im Häuserbau erst möglich gemacht habe. Ob die Regierung nun einen Knopf gedrückt hatte, um das Erdbeben zu starten, oder über Jahrzehnte hinweg nachlässig im Schutz ihrer Bevölkerung gewesen war, spielte im Ergebnis für die Verbreiter der Ver186 Fenster: Conspiracy Theories, S. 18, 79; Ortmann, Stefanie/Heathershaw, John: Conspiracy Theories in the Post-Soviet Space, in: The Russian Review 71 (2012) 4, S. 551–564, hier S. 554; Jablokov, Il’ja: Feinde, Verräter, Fünfte Kolonnen. Verschwörungstheorien in Russland, in: Osteuropa, 2015, 4, S. 99–114. 187 Pfahl-Traughber: Die neue/alte Legende, S. 131. 188 Fenster: Conspiracy Theories, S. 79. 189 Ortmann/Heathershaw: Conspiracy Theories, S. 557. 190 Begriff nach Fenster: Conspiracy Theories, S. 84–90.

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schwörungstheorie und für jene, die sie an sie glaubten, keine Rolle. Mit dieser Verschwörungstheorie konnten sie ihre »unzensierten Ängste, Vorurteile und Feindseligkeiten (erst) zum Ausdruck bringen, […] dadurch die Grenzen des akzeptierten Diskurses erweitern« und so das unberührbare Deutungsmonopol des sowjetischen Regimes herausfordern.191 Das Politbüro vermied es, diese wie auch die antizionistischen Verschwörungstheorien zu thematisieren oder gegen die Initiatoren, deren Identität nicht klar festzustellen ist, vorzugehen, vielleicht in der Hoffnung, sie würden so nicht noch mehr Aufwind erfahren, oder aber in Ermangelung an sinnvollen Instrumenten.192 Stattdessen erschienen Artikel von Moskauer Seismologen, in denen diese die geologischen Prozesse von Erdbeben erklärten und von den Problemen berichteten, tektonische Bewegungen vorherzusagen.193 Das analytische Expertenwissen sollte die Verschwörungstheoretiker entkräften – die Maßnahme war jedoch vergeblich. Der Trickfilm über die Verschwörungstheorie richtete sich nicht nur gegen Moskau, sondern war auch eine Kampfansage an Aserbaidschan. Denn die Legende des Knopfdrucks und des sich anschließenden Auferstehens aus den Ruinen machte deutlich, dass Armenier ihren Wunsch nach einer Eingliederung Bergkarabachs immer noch als rechtmäßig betrachteten und den Kampf um das Territorium nicht aufgeben würden. In Aserbaidschan selbst stellten sich einige mit ihrer Deutung derjenigen Moskaus entgegen und signalisierten so, dass das Erdbeben keineswegs eine Chance für einen Neuanfang und eine Tabula rasa war. Vielmehr betrachteten sie das Erdbeben als eine legitime Strafe für Armeniens unrechtmäßige Forderungen nach Bergkarabach und für die gewalttätige Vertreibung der Aserbaidschaner aus Armenien. Ihre Deutung des Erdbebens half ihnen dabei, die an ihnen begangenen Gewalttaten zu verarbeiten, aber auch vergangene und zukünftige Gewaltakte gegenüber Armeniern zu legitimieren. Die Nachricht über das Erdbeben löste in Aserbaidschan Reaktionen aus, die in der sowjetischen Geschichte vermutlich ihresgleichen suchen: Dort freuten sich die Menschen auf offener Straße über die Katastrophe in Armenien. Verschiedene Augenzeugen berichteten über Jubelschreie und Feuerwerke in

191 Dudwick: Memory, S. 238. 192 Armin Pfahl-Traughber verwies diesbezüglich auf den mangelnden Schutz des russischen Staates für die Opfer rechtsextremer Propaganda und Stimmungsmache, vgl. Pfahl-­Traughber: Die neue/alte Legende, S. 132. 193 Komsomol’skaja Pravda 293, 23.12.1988, S. 4; Stroitel’naja Gazeta 288, 17.12.1988, S. 4. Argumenty i fakty 50, 1988, S. 8.

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Baku.194 Ein russischer General, der zu jener Zeit in Baku stationiert gewesen war, beschrieb in seinen Memoiren, wie er und seine Kollegen nach den »­Vremja«-Abendnachrichten auf der Straße »eine ganze Skala von Tönen hörten, die zu einem gemeinsamen festlichen Geheul verschmolzen, das immer lauter wurde«.195 Weiter schildert er, wie viele der Bewohner im Haus gegenüber seinem Militärposten auf ihren Balkonen standen, schrien und lachten. Aus Angst vor einer Eskalation forderte er für seinen Posten Verstärkung an und riet jedem, auf das Schlimmste gefasst zu sein.196 Während die Menschen in Armenien vom Politbüro als dem Initiator des Erdbebens ausgingen, entwickelte sich in Aserbaidschan die religiöse Argumentationslinie, nach der Allah das Erdbeben ausgelöst habe. Von den Balkonen dankten Menschen in Baku Allah für seine Tat, der endlich diejenigen bestraft habe, die ihre »aserbaidschanischen Brüder [ge]tötet oder aus Armenien vertrieben [hatten]«.197 In Baku hingen Banner mit Aufschriften wie etwa »Lobet Allah, Er hat die Ungläubigen bestraft« und »Gott ist gerecht, Er weiß, wer bestraft werden muss«.198 Die Pravda druckte im Februar 1989 ein vermeintliches Fax aus Aserbaidschan ab, in dem die Autoren ihre Dankbarkeit Gott gegenüber und ihre Verwunderung über jene, welche die Aserbaidschaner Tage vor dem Erdbeben aus Armenien vertrieben hatten, mit folgenden Worten zum Ausdruck brachten: »Wir wundern uns über Ihre Vorsorge, die unsere aserbaidschanische Bevölkerung in Armenien vor der göttlichen Heimsuchung gerettet hat, die über Eure Köpfe gekommen ist. Ich küsse Euch. Aserbaidschan.«199 Zusätzlich verschickten manche Aserbaidschaner wohl Glückwunschkarten direkt nach Armenien oder warfen sie in die Briefkästen der in Baku verbliebenen Armenier.200 194 GARF f. 9654, op. 6, d. 95, l. 2., Bericht über die Lage im Transkaukasus vom 8. Dezember 1989. Siehe ebenso de Waal: Black Garden, S. 64; Fuller, Elizabeth: Nagorny-Karabakh: An Ulster in the Caucasus?, in: Radio Liberty Research, RL 534/88, 12.12.1988, S. 7; Altrichter: Russland 1989, S. 59; Kuksa, Aleksandr: Bol’ ljudskaja. Iz istorij Armjanskoj SSR, Moskau 2004, S. 180; Sacharov: Vospominanija, S. 360; AFP-Pressemitteilung vom 08./09.12.1988 zitiert aus einem Interview mit einem ukrainischen Studenten in Baku. 195 Lebed’, Aleksandr: Za deržavu obidno …, Moskau 1995, S. 254 f., GARF f. 9654, op. 6, d. 95, l. 2, Bericht über die Lage im Transkaukasus vom 8. Dezember 1988. 196 Lebed’: Za deržavu obidno, S. 255. 197 Ebd., S. 254 f. 198 Rost: Armenian Tragedy, S. 115; Fuller: Nagorny-Karabakh, S. 7; Der Spiegel 51, 1988, S. 113. 199 Telegramm abgedruckt in Pravda 50, 19.02.1989, S. 2. Ob dieses Telegramm tatsächlich aus Azerbaidschan stammte, ist nicht bekannt. 200 Novoe vremya 52, 1988, S. 2; Astvatsaturian Turcotte, Anna: Nowhere, a Story of Exile. Lexington 2012, S. 41–45.

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Aus Angst vor möglichen Übergriffen flüchteten die in Aserbaidschan lebenden Armenier endgültig aus der Republik. Viele von ihnen hatten noch vor dem Erdbeben geglaubt, der Konflikt würde sich legen.201 Aber gerade in den Tagen nach dem Erdbeben gab es Konflikte, so dass armenische Geflüchtete aus Baku sich vermehrt mit der Bitte um Hilfe an die armenische Vertretung in Moskau wandten.202 Den Höhepunkt dieser religiösen Argumentationslinie und den Beginn des Karabachkrieges bildete die kurz darauf von Mitgliedern der aserbaidschanischen Volksfront verhängte Transportblockade, die den Transportweg von Nahrung und wichtigen Hilfsgütern nach Armenien versperrte.203 Da sie das Erdbeben offenbar als Zeichen Gottes ansahen, stellten sie sich vermutlich mit den nachfolgenden Racheakten ihrer Ansicht nach nur in dessen Dienst, womit sie jede Tat rechtfertigten. Die bis zum 18. Jahrhundert weltweit geübte Bewältigungspraxis von Kata­ strophenopfern, für das Ereignis eine sinnstiftende, religiöse Erklärung zu finden, war so für die Menschen in Aserbaidschan nicht nötig. Schließlich waren sie nicht direkt vom Erdbeben betroffen und mussten das Ereignis nicht bewältigen. Vielmehr diente die Erklärung von Gott als dem Strafenden vermutlich dazu, die unrechtmäßigen, gewalttätigen Vertreibungen der aserbaidschanischen Familien aus Armenien in den Monaten kurz vor dem Erdbeben emotional zu bewältigen. Durch das Erdbeben hatten sie einen Kanal gefunden, über den sie die empfundene Ungerechtigkeit zusätzlich in verschärfter Weise zum Ausdruck bringen konnten. Dass sie dies durch eine religiöse Sinnstiftung versuchten, liegt nahe. Schließlich erfuhr Religiosität während der Perestrojka durch die Liberalisierung einen enormen Aufschwung, so auch der Islam in Aserbaidschan und anderen muslimischen Sowjetrepubliken. Zwar hatten sich die Sowjetbürger in den muslimischen Republiken immer schon sowohl als Aserbaidschaner, Kirgisen oder Usbeken als auch als Muslime gesehen, aber erst die Reformen der Perestrojka erlaubten eine wirklich umfassende und offiziell sanktionierte Beschäftigung mit dem Islam.204 Gorbačev hoffte, mit der religiösen Öffnung den Demokratisierungsprozess voranzutreiben und gleichzeitig sein Image im Westen zu verbessern.205 So gestattete die Kommunistische Par201 Lebed’: Za deržavu obidno, S. 255. 202 Pressebericht der dpa vom 19. Dezember 1988, ›Immer mehr kaukasische Flüchtlinge‹. 203 Siehe Weiteres dazu in Kapitel 5. 204 Ro’i, Yaacov: Islam in the Soviet Union. From the Second World War to Gorbachev, New York 2000, S. 684 f. 205 Hunter, Shireen T.: Islam in Russia. The Politics of Identity and Security, Armonk 2004, S. 39.

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tei nun die Neugründung des Instituts für Orientstudien mit einem Fokus auf Islamstudien an der Aserbaidschanischen Akademie der Wissenschaften, die Errichtung von Zentren für muslimische Studien und den Bau von Moscheen.206 Gläubige erhielten nun religiöse Unterweisung und gingen auf die Pilgerreise nach Mekka.207 Die auch schon lange vor der Perestrojka bestehende Symbiose zwischen Islam und Nationalismus begann mit dieser Öffnung für Moskau jedoch gefährlich zu werden, was sich auch in der aserbaidschanischen Reaktion auf das Erdbeben in Armenien zeigte.208 Hier fiel religiöse Sinnstiftung mit der religiösen Wiederbelebung in Aserbaidschan und einem zunehmenden Nationalismus zusammen, was die Banner, Grußkarten und Balkonfeiern erst möglich gemacht hatte. Die Deutung der Naturkatastrophe half den Betroffenen in Armenien, dem Extremereignis einen Sinn zu geben, um es bewältigen zu können. Aber wie das Unterkapitel zeigte, verschärfte der Kampf um die Deutungshoheit auch gleichzeitig den tatsächlich stattfindenden Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Dabei heizten die religiöse Sinnstiftung und die damit einhergehenden Stigmatisierungen den Konflikt weiter an. Die Reaktionen aus Aserbaidschan auf das Erdbeben boten den armenischen Machthabern und den regionalen »Katastrophenlords« eine ideale Rechtfertigung für ihr weiteres Handeln. So weigerten sich armenische Behörden, Aserbaidschanern, die vor dem Erdbeben aus der Region ausgesiedelt worden waren, Kompensationen auszuzahlen.209 Sie behaupteten, dass die aserbaidschanischen Familien vor dem Erdbeben freiwillig abgereist seien und es offizielle Wohnungstausche mit Armeniern aus Aserbaidschan gegeben habe. Archivakten können jedoch belegen, dass kein offizieller Tausch stattgefunden hat. Vielmehr war die Weigerung, Kompensationen an Aserbaidschaner auszuzahlen, ein Weg, diese zu diskriminieren.210 Durch das nach der Katastrophe entstandene Chaos konnten einzelne armenische Behörden nach ihren Wünschen schalten und walten. Der sich auch durch die gegensätzlichen Narrative zuspitzende Konflikt um Berg­ karabach verstärkte die Zentrifugalkräfte und trug so indirekt zum Auseinander206 Sattarov, Rufat: Islam, State, and Society in Independent Azerbaijan. Between Historical Legacy and Post-Soviet Reality with Special Reference to Baku and its Environs, Wiesbaden 2009, S. 76, 78. 207 Khalid, Adeeb: Islam after Communism. Religion and Politics in Central Asia, Berkeley 2007, S. 118. 208 Ro’i: Islam in the Soviet Union, siehe Kapitel 12, »Islam and Nationalism«, S. 682–712. 209 Ausführlich zur Problematik der Kompensationszahlungen an aserbaidschanische Familien in Armenien nach dem Erdbeben siehe: Elie: »Au centre d’un double malheur«. 210 Ebd.

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brechen des Sowjetimperiums bei. Möglich geworden waren diese Entwicklungen durch die Aufhebung der Diskurskontrolle, mit der weder die armenischen noch die aserbaidschanischen Positionen derart in die sowjetische Öffentlichkeit gelangt wären. Somit war die Erdbebenkatastrophe auch kein dominanter Faktor und ebenso nicht der Auslöser des Konflikts. Vielmehr beschleunigte sie diesen, indem sie bereits vorhandene Standpunkte in ihrer ganzen Schärfe deutlich zum Vorschein brachte.

4.4 Die Ambivalenz transnationaler Solidarität – zwischen Kalkül und Mitgefühl Ein bedeutendes Instrument zur Bewältigung der armenischen Erdbebenkatastrophe stellte die Entscheidung des Kremls dar, internationale humanitäre Hilfe, auch aus dem Westen, zuzulassen. Nur zwei Tage nach dem verheerenden Erdbeben in Armenien 1988 machten sich die ersten Flugzeuge, beladen mit Ärzten und Hilfsgütern aus Frankreich, Westdeutschland und den USA, auf den Weg nach Armenien. Schon einmal, in den ersten Jahren der Sowjetunion, hatte diese den Westen um Hilfe gebeten, und zwar bei der großen Hungersnot 1921. Die USA hofften damals, durch ihre Hilfe das neue sowjetische Regime zu schwächen, indem die Notwendigkeit der amerikanischen Hilfe die sowjetische Ideologie als unglaubwürdig darstellte. Die Regierung erreichte so jedoch vorerst das Gegenteil: die unfreiwillige Stärkung der Bolschewiki, da diese die amerikanische Hilfe in der Propaganda als Beleg für ihre eigene Legitimität einsetzten.211 Mit dem Beginn des Kalten Krieges nach 1945 entwickelte sich mit der Dekolonialisierung der damals sogenannten Dritte-Welt-Länder die Entwicklungshilfe zu einem politischen Instrument in der Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten. Das bedeutete, dass das Geben von Hilfe auch immer die Eigenschaft von Belohnung für ein gewisses politisches Verhalten hatte. Demgegenüber wurde das Entziehen von Hilfe oftmals mit politischer

211 Zur humanitären Hilfe für die Hungerkatastrophe 1921 siehe Weissman, Benjamin M.: ­Herbert Hoover and Famine Relief to Soviet Russia, 1921–1923. Stanford 1974; Patenaude, Ber­trand M.: The Big Show in Bololand. The American Relief Expedition to Soviet Russia in the Famine of 1921, Stanford 2002; Engerman, David C.: Modernization from the Other Shore. American Intellectuals and the Romance of Russian Development, Cambridge, ­Massachusetts 2003.

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Bestrafung gleichgesetzt.212 Beide Parteien des Kalten Krieges investierten in Regionen, in denen die politische Situation noch offen schien oder die fest einer ideologischen Seite zuzurechnen waren, um so ihren Einfluss zu behaupten.213 Aber die Katastrophennothilfe wurde bis in die 1960er Jahre hinein ignoriert. Erst mit dem Aufstieg der medialen Vermittlung von Katastrophen durch das Fernsehen begannen sich internationale Organisationen und die Wissenschaft mit der Katastrophenhilfe zu beschäftigen.214 So wurde 1971 die Organisation der Vereinten Nationen für Katastrophenhilfe (UNDRO – United Nations Disaster Relief Organization) gegründet. Beide Supermächte versuchten jedoch, politische Verwicklungen in den Katastrophengebieten zu vermeiden, um nicht der politischen Einmischung bezichtigt zu werden. Eine Ausnahme bildete hier die Katastrophenhilfe nach dem verheerenden Erdbeben in Skopje 1963, bei dem beide Supermächte versuchten, sich mit der humanitären Hilfe gegenseitig zu überbieten, um ihre Fähigkeiten zur Schau zu stellen.215 Mit der Abschwächung des Ost-West-Konflikts seit Mitte der 1980er Jahre und mit der Forderung von Nichtregierungsorganisationen, grenz- und blockübergreifende humanitäre Hilfe anbieten zu können, wurde die Pflicht zum humanitären Eingreifen auch völkerrechtlich verankert.216 Eine UN-Resolution, die das Unterlassen von Hilfeleistungen für Opfer von Naturkatastrophen zu einem Verstoß gegen die Menschenwürde machte, wurde am selben Tag verabschiedet, an dem Moskau beschloss, internationale Hilfe nach Armenien zuzulassen: am 8. Dezember 1988.217 Es sind diese zeitlichen und transnationalen Verflechtungen, welche die Katastrophenbewältigung in Armenien maßgeblich prägten und bestimmten. Vor diesem Hintergrund der Geschichte der humanitären Hilfe sowie der Perestrojka und der Glasnost’ untersucht das vorliegende Unterkapitel, wie Staat und Gesellschaft die Herausforderungen, die sich durch die humanitäre Hilfe ergaben, bewältigten und inwiefern der neu geschaffene Interaktionsraum 212 Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg: 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, S. 315. 213 Ebd., S. 315–327. Die Sowjetunion teilte die Entwicklungsländer in drei Kategorien ein, nach denen die Höhe der »Bruderhilfe« festgelegt wurde, vgl. ebd., S. 320. 214 Die Folge des Bürgerkrieges in Biafra (1967–1970) war die erste durch Medien vermittelte humanitäre Notlage, der sich politische Debatten um mehr Katastrophenhilfe anschlossen, vgl. Brauman, Rony: La pitié dangereuse, in: Rony Brauman/René Backmann: Les Médias et l’Humanitaire. Éthique de l’information ou charité-spectacle, Paris 1995, S. 9–60, hier S. 33. 215 Macalister-Smith, Peter: International Humanitarian Assistance. Disaster Relief Actions in International Law and Organization, Dordrecht 1985, S. 94; Elie/Huret: Soviet and Ameri­ can Ways, S. 13. 216 Macalister-Smith: International Humanitarian Asisstance, S. 56 f. 217 UN-Dokument A/RES/43/131 vom 8. Dezember 1988.

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»Erdbebenzone« zum Entfremdungsprozess zwischen Armenien und Moskau beitrug. Von besonderer Bedeutung sind dabei die neuen Vernetzungsmöglichkeiten zwischen Sowjetarmeniern und Diaspora-Armeniern, die nun erstmals im großen Maßstab die Gelegenheit hatten, sich in ihrer alten Heimat zu engagieren. Der transnationale Interaktionsraum, den das Erdbeben schuf, offenbarte die schon für andere transnationale Kooperationen während des Kalten Krieges festgestellten Spannungsverhältnisse von Konkurrenz und Kooperation, von Abgrenzung und Entgrenzung sowie von nationalem Prestige- und universalem Fortschrittsdenken.218 Es war letztlich ein Aushandeln von politischem Einfluss, bei dem Ost und West sowohl gemeinsam Menschenleben retteten als auch weiterhin ihre Macht zu inszenieren wussten. Gleichzeitig zeigt auch ein Blick auf die internationale humanitäre Hilfe in der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre Möglichkeiten und Grenzen von Glasnost’ und Perestrojka auf. Gorbačev hielt sich zum Zeitpunkt der Katastrophe in New York auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen auf, wo er seine berühmte Abrüstungsrede hielt, in der er die Reduzierung von Soldaten und Panzern sowie die Beendigung des Kalten Krieges verkündete. Seine neue Politik wurde mit tosendem Applaus nicht nur von den Mitgliedern der Vereinten Nationen begrüßt, sondern auch von den Menschen auf den Straßen New Yorks. Der US-amerikanische Senator Daniel Moynihan nannte Gorbačevs Rede »die erstaunlichste Kapitulation in der Geschichte des Ideologie-Kampfes«.219 Vom deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel wurde er prompt zum Mann des Jahres gekürt.220 Die britische Tageszeitung The Guardian verglich die Bedeutung von Gorbačevs Auftritt mit dem Rückzug Napoleons aus Russland 1812 und schrieb, dass »man fast fühlen konnte, wie die Erde sich im UN-Gebäude bewegte«.221 Der scheidende US-Präsident Ronald Reagan und der zukünftige Anwärter auf das US-Präsidentenamt George H. Bush jedoch hegten immer noch Zweifel an Gorbačevs neuem Kurs, so dass Reagan, der bei der Rede selbst nicht anwesend war, im Nachhinein bei dem Treffen auf Governors Island lediglich bemerkte, dass »alles gut

218 Rohdewald, Stefan/Gestwa, Klaus: Verflechtungsstudien. Naturwissenschaft und Technik im Kalten Krieg, in: Osteuropa, 2009, 10, S. 5–14, hier S. 12. 219 Moynihan, Daniel Patrick/Rowen, Henry/Wolf, Charles/Lee, William T: The CIA’s Credibility (letters in response), in: The National Interest 42 (1995), S. 109–114, hier S. 111. Für andere internationale Reaktionen auf seine Rede siehe Blanton, Thomas: When did the Cold War End?, in: Cold War International History Project Bulletin 10 (1998), S. 184–188, hier S. 184. 220 Siehe Titelblatt Der Spiegel 50, 1988. 221 The Guardian, 08.12.1988, S. 1.

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klang«.222 Der Berater des zukünftigen US-Präsidenten Bush war noch skeptischer und befand, dass »ohne substanzielle Ausführungen, wie beispielsweise eine Rüstungsbeschränkung, die Sowjets nur aus einem Kapital schlagen [können] – dem Wohlgefühl nach der [UN-]Versammlung«. Seiner Meinung nach verbreitete Gorbačevs Rede »mit ihrem größtenteils phrasenhaften Trompetenstoß eine berauschende Atmosphäre des Optimismus«, mehr aber nicht.223 Ungeachtet der kritischen Vorbehalte konzentrierte sich Gorbačev vor allem auf den Applaus und die Lobreden. Endlich war er als »internationaler Politiker neuen Typs« anerkannt worden, was ihn nachhaltig prägte.224 Noch Wochen nach der UN-Rede schwärmte er auf der ersten Politbüroversammlung nach seiner Rückkehr aus den USA von diesem Großereignis und von seiner Beliebtheit innerhalb der internationalen Gemeinschaft.225 Vom Erdbeben erfuhr Gorbačev am selben Morgen, noch vor seiner Rede auf der Vollversammlung, durch ein kurzes Telegramm.226 Nach einigen Überlegungen entschloss er sich schließlich am Abend des 7. Dezember dann doch, seine Reise unverzüglich abzubrechen, die noch ausstehenden Staatsbesuche in Havanna und London abzusagen und nach Moskau zurückzufliegen.227 Die darauf folgende mediale Aufmerksamkeit verstärkte die weltweite Aufmerksamkeit für Armenien und die Sowjetunion.228 Noch am Abend vor seiner Abreise aus New York traf Gorbačev auf dem Empfang der UN auf 600 ausländische Diplomaten, US-amerikanische Politiker und führende Wirtschaftsvertreter wie etwa Richard Nixon, David Rockefeller, Henry Kissinger und 222 Vgl. Memorandum of Conversation, The President’s Private Meeting with Gorbachev, 07.12.1988, 1:05–1.30 p.m., New York, National Security Archive. Siehe auch die Rede, die Reagan am selben Tag vor dem American Enterprise Institute for Public Policy Research hielt, in der er sich bezüglich Gorbačevs Versprechen, Truppen zu reduzieren, zurückhaltend zeigte, in: https://www.reaganlibrary.gov/research/speeches/120788f [03.11.2018]. 223 Bush, George H. W./Scowcroft, Brent: A World Transformed, New York 1998, S. 46. 224 Tschernajew, Anatoli: Die letzten Jahre einer Weltmacht. Der Kreml von innen, Stuttgart 1993, S. 232. 225 Zasedanie Politbjuro CK KPSS, 27–28 dekabrja 1988 goda (Auszug), in: Istočnik. Dokumenty russkoj istorii. Priloženie k žurnalu »Rodina«, 5/6, 1993, S. 130–147, hier S. 135. 226 Černaev, Anatolij: Šest let’ s Gorbačevym, Moskau 1993, S. 266; Ryžkov, Nikolaj I.: ­Desjat’ let velikich potrjasenij. Moskau 1995, S. 205. Ryžkov schrieb in seinen Memoiren, dass er selbst erst gegen 17 Uhr (Moskauer Zeit, d. h. 9 Uhr New Yorker Zeit) telefonisch ausführliche Informationen aus Armenien bekam. Siehe auch Palazchenko, Pavel: My Years with ­Gorbachev and Shevardnadze. The Memoir of a Soviet Interpreter, University Park 1997, S. 105. 227 Anders als Leonid Brežnev, der sich nach dem Erdbeben 1966 in Taschkent unverzüglich auf den Weg nach Usbekistan gemacht hatte, war Gorbačev lange unentschlossen, ob er nach Armenien reisen sollte oder nicht, siehe Černaev: Šect let’ s Gorbačevym, S. 267. 228 Siehe beispielsweise Chicago Tribune, 08.12.1988, S. 1 und 25.

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­ rmand Hammer, mit denen er sicherlich über die Auswirkungen des ErdbeA bens sprach und die ihm vermutlich ihre Hilfe anboten.229 Tausende amerikanische Fernsehzuschauer warteten gespannt darauf, wie ihr seltener Staatsgast weiter vorgehen würde. Seine letzte Rede auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen in New York kurz vor seiner verfrühten Abreise nach Moskau nutzte er nochmals, um die schwierige Lage in Armenien zu betonen und sich vor laufenden amerikanischen Fernsehkameras als der sorgende Staatsmann zu inszenieren, ohne jedoch auf die Hilfsangebote westlicher Regierungen einzugehen.230 Die Entscheidung, diese Angebote anzunehmen, teilte das Politbüro am 8. Dezember gegen sieben Uhr abends den westlichen Botschaften und internationalen Organisationen mit, als Gorbačev noch über den Atlantik flog.231 Selbst in Zeiten von Perestrojka und Glasnost’ war dieser Schritt keine Selbstverständlichkeit. In der Ukraine und in Weißrussland hatte Gorbačev 1986 nach der Reaktorkatastrophe keine internationale Hilfe zugelassen, obwohl es, ähnlich wie für Armenien, wenn auch in geringerem Ausmaß, Hilfsangebote aus dem Westen gegeben hatte. Die Regierung hatte damals nur einzelnen Ärzten wie dem kalifornischen Knochenmarkspezialisten Robert Gale die Einreise in die Ukraine gestattet; doch selbst das nur, damit dieser und sein Team den sowjetischen Erklärungen über die Harmlosigkeit der Radioaktivität Nachdruck und Glaubwürdigkeit verliehen.232 Erst ab 1988, mit einer weiteren Öffnung durch die Perestrojka war zunehmend auch internationale Hilfe nach Tschernobyl und Pripjat gelangt, zunächst von privaten oder religiösen Spendern, später ab 1989 dann durch die Vereinten Nationen und verschiedene Nichtregierungsorganisationen.233 Das Einverständnis Gorbačevs nach dem Erdbeben, ausländische Hilfe zuzulassen, stand im starken Kontrast dazu und verwies einerseits, ähnlich wie die neuartige Berichterstattung über die Katastrophe, auf die Einsichtigkeit des Generalsekretärs sowie auf dessen Bereitschaft, aus Fehlern in der Vergan229 Vgl. Los Angeles Times, 08.12.1988, S. 1. 230 Gorbačev, Michail S.: Sobranie sočinenij. Tom 13. Dekabr’ 1988–Mart 1989, Moskau 2009, S. 51 f. 231 Pierre Verluise gibt in seinem Buch an, dass die Nachricht am 8. Dezember 1988 um 19 Uhr (13 Uhr New Yorker Zeit) im Katastrophenschutz des französischen Innenministeriums eintraf und das erste Flugzeug um 05.40 Uhr am 9. Dezember Paris verlassen hatte, vgl. V ­ erluise: Armenia in Crisis, S. 41. UNDRO erhielt die Nachricht dagegen erst am 9. Dezember 1988 morgens, vgl. UNDRO: Report on International Relief Assistance, S. 2. 232 Arndt: Tschernobyl – die bekannte, unbekannte Katastrophe, S. 7. 233 Arndt, Melanie: From Nuclear to Human Security? Prerequisites and Motives for the German Chernobyl Commitment in Belarus, in: Historical Social Research 35 (2010) 4, S. 289– 308, hier S. 300; Sahm, Astrid: Auf dem Weg in die transnationale Gesellschaft? Belarus und die internationale Tschernobyl-Hilfe, in: Osteuropa 56 (2006) 4, S. 105–116.

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genheit zu lernen. Andererseits herrschte 1988 bereits eine ganz andere politische Dynamik als noch 1986, die diese Öffnung entscheidend mitbestimmte. Gorbačevs Fokus auf eine enge Zusammenarbeit mit dem Westen, um seine Reformen voranzubringen, war 1988 schon wesentlich ausgeprägter als noch zwei Jahre vorher. In diesem Sinne ist die Erlaubnis der internationalen Hilfe zudem auch als ein Ausdruck der sich damals in starker Bewegung befindenden Ost-West-Beziehungen zu verstehen.234 In den folgenden Wochen landeten 282 ausländische Flugzeuge in Leninakan und Jerewan, beladen mit knapp 3000 Experten sowie Tonnen von Waren und Medikamenten. Rettungsteams aus 18 Ländern mit rund 3000 Mitarbeitern arbeiteten vor Ort in Armenien. Bei der großen Erdbebenkatastrophe in Mexiko 1985 waren im Vergleich dazu Teams aus nur neun Ländern gekommen, was die rapide Internationalisierung der globalisierten Katastrophenhilfe verdeutlicht.235 Knapp 70 Jahre nach der großen Hungerkatastrophe 1921 führte die Sowjetunion erneut eine humanitäre Hilfsaktion der Superlative durch. Auch der humanitäre Einsatz von 1921 galt als der bis dahin weltweit größte, an dem sich auch ausländische Hilfsorganisationen beteiligt hatten.236 Für die Entscheidung Gorbačevs lassen sich versuchsweise zwei Erklärungen finden. Erstens hatte das zufällige Zusammentreffen der Katastrophe mit Gorbačevs Auftritt auf der UN-Vollversammlung den Druck im Kreml erhöht, westliche Hilfe zu akzeptieren und den bisherigen Reden über politische Kooperationen mit dem Westen Taten folgen zu lassen. Während seines Treffens in New York konnte Gorbačev allgemein zwar große Erfolge verbuchen, aber die Katastrophe gab ihm nun die Gelegenheit, sein Image nochmals zu verbessern und die US-amerikanische Politelite von seiner politischen Aufrichtigkeit zu überzeugen. Es schien ihm wichtig zu zeigen, dass er aus der Erfahrung mit Tschernobyl gelernt hatte, dass er bereit war, ideologische Grenzen zu durchbrechen und mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Auf der Politbürositzung Ende Dezember 1988 stellten die Mitglieder das Erdbeben in ebenjenen Zusammenhang mit dem Imageaufbau der Sowjetunion. So behauptete Nikolaj Ryžkov dort, die Sowjetunion habe sich als Resultat der Katastrophe den weltweiten humanitären Beziehungen angeschlossen.237 Weiter 234 Altrichter: Russland 1989, S. 56. 235 Krimgold: Search and Rescue, S. 254. 236 Sasson, Tehila/Vernon, James: Practising the British way of famine: technologies of relief, 1770–1985, in: European Review of History/Revue européenne d’histoire 22 (2015) 6, S. 860– 872, hier S. 864. 237 Zasedanie Politbjuro CK KPSS, 27–28 dekabrja 1988 goda, S. 135.

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sagte er, die Grenzöffnung für die Hilfe habe »die neue Vorgehensweise, Offenheit, das aufrichtige Streben nach internationaler Zusammenarbeit« demonstriert.238 Die laute Resonanz aus vielen Ländern und die unzähligen Zuschriften, in denen Menschen ihr Beileid bekundeten, nahmen die Politbüromitglieder als Zeichen für den Beginn eines neuen Zeitalters, in dem die Sowjetunion »in den Augen der Weltgemeinschaft ein völlig neues Land wird«.239 Diesen Weg, humanitäre Politik als Mittel zum Zweck zu benutzen, um politisches Vertrauen im Westen zu gewinnen, hatte Gorbačev bereits im Mai 1986 in Bezug auf die internationale Menschenrechtspolitik eingeschlagen. Kurz nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl hatte er in einer Rede dazu aufgerufen, die Sichtweise, nach der »der Schutz der Menschenrechte […] keine Funktion der sozialistischen Gesellschaft« sei, abzulegen und sich gegenüber den westlichen Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte empfänglich zu zeigen.240 Es folgten eine Reihe von Familienzusammenführungen politisch Verfolgter sowie die Aufhebung der Verbannung des Physikers und Dissidenten Andrej Sacharov, auch um dem Westen die Demokratisierungsbereitschaft der Sowjetunion zu demonstrieren.241 Neben den ideologischen Überlegungen zur Grenzöffnung spielte zweitens der finanzielle Zugewinn, den die Erdbebenhilfe bot, eine Rolle, auch wenn der Anteil ausländischer Hilfe am Ende nur etwa zehn Prozent betragen hatte. Bereits am 7. Dezember eröffnete Moskau Spendenkonten sowohl für Valuta als auch für Rubel und verbreitete die Kontonummern auf allen denkbaren Kanälen im Ausland.242 Die Sowjetunion hatte bereits lange vor dem Beben Kredite in Millionenhöhe aus dem Ausland eingeholt, um den Staatshaushalt aufzustocken. Nach den finanziellen Belastungen des Staatsbudgets durch die Reaktorkata­ strophe in Tschernobyl und durch die schon ohnehin desolate Haushaltslage in der Sowjetunion sprengten die Naturkatastrophe und der Wiederaufbau nun einen weiteren Krater in das sowjetische Budget und schwächten somit nicht nur 238 Ebd., S. 140. 239 Ebd., S. 134. 240 Eckel, Jan: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen 2014, S. 758. 241 Zur Doppelbödigkeit dieser vermeintlichen Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Sowjetunion siehe Eckel: Die Ambivalenz des Guten, S. 760; Saal, Yuliya von: Die Folgen des KSZE-Prozesses in der Sowjetunion der Perestroika. Der KSZE-Faktor in der Eigendynamik des Wertewandels, in: Matthias Peter/Hermann Wentker (Hg.): Die KSZE im Ost-WestKonflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975–1990, München 2012, S. 285–304. 242 Siehe bspw. die Zeitungsmeldungen dazu in: Pravda 343, 08.12.1988, S. 2.

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die Reformkraft des Landes, sondern auch die Legitimität Gorbačevs. Um die Spenden aus dem Ausland effektiv einzutreiben, produzierte die Presseagentur Novosti innerhalb nur einer Woche nach der Katastrophe eine Broschüre mit dem Titel »Es gibt kein fremdes Leid«.243 Auf dem Titelbild ist der Erste Parteisekretär von Spitak, Norik Muradyan, abgebildet, der sich vor einem Trümmerhaufen hockend anscheinend verzweifelt in die Haare greift. In der bebilderten Broschüre beschreiben die Autoren die Folgen der Erdbebenkatastrophe und zählen die bereits geleistete ausländische Hilfe auf. Auf der Rückseite befindet sich in großen Buchstaben und Zahlen eine Bitte um Spende unter Angabe des sowjetischen Spendenkontos. Diese hochprofessionelle, in vier westeuropäischen Sprachen angefertigte, teure Hochglanzbroschüre verschickte die sowjetische Regierung an westliche Regierungen, in der Hoffnung, so mehr Geld einzutreiben. Ähnlich wirkungsvoll gestaltete die Moskauer Zeitung Moskovskie Novosti, welche auch im westlichen Ausland vertrieben wurde, ihre Seiten zum Erdbeben. So platzierte sie die Nummer des Spendenkontos neben Bildern zerstörter Häuser oder aufgereihter Leichen, um so vermutlich die Motivation zum Spenden zu erhöhen.244 Später sollten im Ausland diverse Fotoausstellungen über den Wiederaufbauprozess, organisiert durch die Kulturorganisation »Znanie«, die dortige Spendenlaune aufrechterhalten.245 Das Resultat der Kooperation auf humanitärer Ebene war eine präzedenzlose Spendenfreudigkeit. Bis Januar 1991 wurden Geldspenden aus 113 Ländern, im Wert von über 500 Millionen US-Dollar gezählt – die bis zu diesem Zeitpunkt höchste Summe an Spendengeldern für eine Katastrophe weltweit.246 Ein großer Anteil der Spenden kam, wie auch sonst bei Katastrophen üblich, von lokalen Gemeinden – insbesondere von den verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen der armenischen Diaspora –, Privatbürgern und großen religiösen Gruppen.247 Dabei wurden die Gelder entweder über die Liga der Rote-Kreuz-Gesellschaften, über die UNDRO oder durch Direktüberweisungen auf die sowjetischen Zentralkonten eingezahlt. Neben vielen kleinen Benefizpro243 »Es gibt kein fremdes Leid«; »No hay desgracia ajena«; »Suffering shared by all« und »Notre malheur à tous«, Dezember 1988, Presseagentur Novosti. Redaktionsschluss war der 14. Dezember 1988 mit einer Auflage von 25.000 Exemplaren. 244 Moskovskie novosti 51, 18.12.1988, S. 1, 8. 245 HAA f. 113, op. 162, d. 570, ll. 9–10, Brief der Organisation »Znanie« an den Ministerrat der ArSSR vom 1. Juli 1989 und HAA f. 113, op. 162, d. 570, ll. 1–3, Anordnung des Ministerrates der ArSSR vom 28. August 1989. 246 Halpin, Tony: Where did our Money Go?, in: Armenian International Magazine 1 (1991), S. 20–23; UNDRO-Archiv DPR 310 USR 88 (3) Abschlussbericht UNDRO. 247 UNDRO: Report on International Relief Assistance, S. 6.

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jekten in Europa und den USA stellten im Juli 1989 berühmte westliche Musiker und Bands wie Deep Purple, Black Sabbath und Iron Maiden The Earthquake Album zusammen und brachten so 100.000 US-Dollar an Spendengeldern für die Erdbebenopfer auf. In Deutschland wurde im Dezember 1988 das »Radio für Armenien« eingerichtet. Gegen Geld konnten Hörer sich Lieder wünschen, wobei oft Lieder mit politischen Botschaften wie etwa Udo Lindenbergs »Wozu sind Kriege da?« oder John Lennons »Imagine« gewünscht wurden.248 Offenbar galt das Erdbeben einigen als Anlass, ihrem Unmut über das Fortbestehen des Kalten Krieges Ausdruck zu verleihen und durch Benefizprojekte Annäherung an die Sowjetunion zu signalisieren. Humanitäre Hilfe ist, seitdem es sie gibt, eine hochpolitische Angelegenheit und wird meist beeinflusst durch die politischen Abwägungen der Geberländer, während sie sich gleichzeitig auf Wirtschaft und Politik der Empfängerländer auswirkt.249 So wie Gorbačev Hilfe aus dem Ausland zuließ, um sein Image zu verbessern, spendeten westliche Regierungen ebenfalls aus politischen Interessen. Die Politisierung der humanitären Hilfe war, wie eingangs erwähnt, ein Teil der vielen Instrumente während des Kalten Krieges, Länder und Regierungen für den eigenen Block zu gewinnen. Neu war nun die Einmischung des Westens in humanitäre Fragen des Ostens. Für Edgar Hoover, damals Vizedirektor des Bureau of Investigation, des Vorläufers des heutigen US-amerikanischen Inlandsgeheimdienstes, war der Hilfseinsatz bei der großen Hungersnot 1921 eine humanitäre Aktion, weil er im Bolschewismus ein Symptom von Menschen in Not sah. Hungerhilfe zu leisten, um den Bolschewismus zu bekämpfen, war in seinen Augen also humanitäre Hilfe.250 Es ging darum, das sowjetische System zu liberalisieren oder es zu unterminieren.251 Während der Westen offiziell aus humanitären Gründen für den Schutz der Menschenrechte in der Region eintrat, verknüpfte er damit insgeheim die Idee, der sowjetischen Regierung 248 Pressebericht der dpa, 14.12.1988, ›Radio für Armenien sendet Wunschmusik gegen Spenden‹. 249 Curtis, Devon: Politics and Humanitarian Aid: Debates, Dilemmas and Dissension, Humanitarian Policy Group Report 10, London 2001, S. 3. 250 Patenaude: The Big Show in Bololand, S. 34. 251 Siehe hierzu ausführlich Eckel: Die Ambivalenz des Guten, S. 736. Die westlichen Staaten setzten in ihrer Menschenrechtspolitik für die Sowjetunion sehr unterschiedliche Prioritäten und Ziele. Während die niederländische Regierung in den 1970ern darauf ausgerichtet war, das sowjetische System mittels der Menschenrechtspolitik zu unterminieren, war Deutschland mehr an einer Annährung und an einem Dialog interessiert. Frankreich wiederum wollte die Sowjetunion nicht zur Rechenschaft ziehen. Es setzte auf Kulturaustausch, der den freien Austausch von Ideen voraussetzte. Ebd., S. 736–738.

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zu schaden. So unterstützten die westlichen Regierungen Oppositionelle und finanzierten Publikationen mit Informationen über Menschenrechtsverstöße in der Sowjetunion, mit dem Ziel, so viele diskreditierende Informationen wie möglich über das sowjetische Regime zur Verfügung zu stellen. Auch bei der Erdbebenkatastrophe stand das Politische im Vordergrund. So heißt es im Abschlussbericht der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung, dass viele Katastrophenschutzorganisationen und westliche nationale Rote-Kreuz-Einheiten unter enormem Druck vonseiten ihrer nationalen Regierungen standen, eine »symbolische Demonstration nationaler Sorge und guten Willens« zur Schau zu stellen.252 Für viele Helfer bedeutete der Einsatz in Armenien, Symbolik mit Effektivität zu vereinen, was sie oftmals vor schwierige Entscheidungen stellte und massiv die Arbeit behinderte.253 So überboten sich die westlichen Regierungen und ihre Organisationen gegenseitig im Volumen der Hilfsgüter, ohne den tatsächlichen Nutzen abzuwägen. Trotz der Aufforderung durch die UNDRO, keine weiteren Medikamente mehr in die Sowjetunion zu schicken, trafen noch Wochen später Container mit Arzneimitteln ein.254 Dennoch hieß es im Abschlussbericht, dass die »sowjetischen Hilfsmaßnahmen in materiellen Belangen die internationale Reaktion erheblich überschattet« hätten und dass die »internationale Reaktion […] gegenüber den sowjetischen Bemühungen klein erscheint«, da die sowjetischen Hilfsmaßnahmen quantitativ enorm waren.255 Hinter dieser Wortwahl verbarg sich einerseits durchaus Selbstkritik, andererseits schimmerte hier vielleicht die ursprüngliche Absicht durch, den sowjetischen Katastrophenschutz übertrumpfen zu wollen und größer als dieser zu erscheinen. Der eigene Misserfolg bei dem chaotischen Katastropheneinsatz, bei dem alles zu spät, zu viel oder zu wenig ankam, hinderte die westliche Presseberichterstattung über die humanitäre Hilfe für die Sowjetunion nach dem Erdbeben nicht daran, die Katastrophe dafür zu nutzen, eine rückständige und primitive Sowjetunion darzustellen und sich selbst

252 Archiv des IFRK (Genf) A016221: Ricci, Edmund M., u. a.: An Evaluation of Red Cross and Red Crescent Federation Response to the Armenian Earthquake of 7 December 1988, prepared by the Armenia Earthquake Evaluation Team for the International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies, Genf, Mai 1992, S. 60. 253 Ebd. 254 Es wurden allein 2500 Tonnen Medikamente nach Armenien geschickt, wovon 20 Prozent über dem Verfallsdatum waren, vgl. Ricci: An Evaluation of Red Cross and Red Crescent Federation Response, S. 58. 255 Ebd., S. 47.

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als großzügige, hilfsbereite und humanitäre Retter aus dem Westen in Szene zu setzen.256 Für die privaten Spender spielte Armenien als Ort der Katastrophe eine wichtige Rolle. Zweifelsohne wären die Spenden um ein Vielfaches geringer ausgefallen, hätte sich das Erdbeben in einer anderen sowjetischen Republik wie beispielsweise der Georgischen SSR zugetragen. Denn schon seit einigen Monaten verfolgten westliche Leser die Zeitungsmeldungen über die Proteste und die Gewalt in Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. Vielen Ausländern, die zu Armenien Kulturkontakte pflegten, darunter auch Journalisten und Dokumentarfilmern, waren in den Monaten vor dem Erdbeben keine Visa für eine Reise nach Armenien gewährt worden. Die humanitäre Brücke revidierte dieses Verbot nun. Zu der allgemeinen Neugierde, mehr über die Sowjetunion zu erfahren, kam nun das Interesse, mit eigenen Augen zu sehen, was sich in der Peripherie des sowjetischen Imperiums abspielte; ähnlich wie es 1921 der Fall war, als die Reise nach Russland für viele der Helfer als eine Art »Abenteuer der Bewohner der ›zivilisierten‹ Welt« gesehen wurde.257 Sich an dem internationalen humanitären Einsatz für die Sowjetunion zu beteiligen war für die Spender und Helfer aber auch gleichsam eine Prestigefrage, da sie guten Willen und Kooperationsbereitschaft signalisieren konnten, um so »paternalistisch motivierte Überlegenheitsgefühle« auszuleben.258 Eine Spende ermöglicht es dem Gebenden, eine Grenze zwischen sich selbst und denjenigen zu ziehen, die der Hilfe bedürfen. Der Spender hat sich somit selbst nochmals versichert, dass er nicht zu denen gehört, die notleidend sind.259 Nach dem Erdbeben in Armenien ließ sich diese Form der Abgrenzung daran beobachten, dass oftmals abgelaufene Medikamente, überalterte Nahrungsmittel oder sehr kulturspezifische Lebensmittel wie Cornflakes nach Armenien geschickt wurden. Ausländische Firmen nutzten die Gelegenheit, Produkte in Armenien zu verwerten, die sie anderswo aus Marketing- oder Rechtsgründen nicht mehr verkaufen durften, sich aber gleichzeitig als Helfer zu zeigen.260 Der skandalöseste dokumentierte Fall ist sicherlich das Versenden von Hühnereiern aus Großbritannien. Auf256 Dies wird in der Forschung von Joanne Laycock zur westlichen Berichterstattung über das Erdbeben bestätigt. Veröffentlichungen stehen noch aus. 257 Patenaude: The Big Show in Bololand, S. 9. 258 Lingelbach, Gabriele: Spenden und Sammeln. Der westdeutsche Spendenmarkt bis in die 1980er Jahre. Göttingen 2009, S. 400. 259 Lingelbach: Spenden und Sammeln, S. 400. 260 Interview mit Vartkes Najarian (*1932), Los Angeles, 05.08.2014. Er berichtete von Turnschuhen, die in den USA nicht mehr verkauft werden durften und nun in Armenien verteilt wurden.

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grund der damals dort herrschenden Angst vor Salmonellen konnten etwa eine Million Eier nicht in Großbritannien verkauft werden und wurden stattdessen als Spende nach Armenien geschafft.261 Durch das Spenden von unbrauch­ baren, abgelaufenen und teilweise schädlichen Lebensmitteln und Medikamenten brachten die westlichen Spender indirekt zum Ausdruck, wie sehr sie die Sowjetunion als rückständig bewerteten. Neben dem Wunsch zu kooperieren und zu einer Einheit zu verschmelzen, drangen vielerorts – ob nun neben den Trümmern oder zu Hause – seit Langem gepflegte und propagierte Stereotype über eine rückständige Sowjetunion an die Oberfläche. Bei ihren Spendenaufrufen war die sowjetische Regierung auf eine ganz spezielle Zielgruppe aus dem Westen aus: die armenische Diaspora. Schon weit vor dem Erdbeben waren sich sowohl Moskau als auch Jerewan der finanziellen Möglichkeiten der armenischen Diaspora, insbesondere in den USA und Frankreich, bewusst gewesen. Aus dem Informationsaustausch zwischen dem sowjetarmenischen und dem zentralen Außenministerium aus den Jahren 1985–1988 geht hervor, dass die sowjetische Regierung die finanziellen Potenziale der armenischen Diaspora verstärkt ausnutzen wollte. So bestand unter der Regierung Gorbačevs eine der Aufgaben des sowjetarmenischen Außenministeriums darin, »die Prozesse in den ausländischen armenischen Gemeinden zu beobachten, mit dem Ziel der möglichen Nutzung von politischen wirtschaftlichen und ausländischen Interessen und der Einbringung ausländischen Kapitals sowie ausländischer Technik und Technologie«.262 Insbesondere ab dem Jahr 1987 beschäftigte sich das sowjetarmenische Außenministerium mit den Möglichkeiten, Geld von der armenischen Diaspora im Westen einzuwerben, so dass zunehmend Angebote von ausländischen Firmen, die unter der Führung von Diaspora-Armeniern standen, in der Republik eintrafen und dort Interesse weckten.263 Darauf deutete auch die Tatsache hin, dass die sowjetische Botschaft in den USA nach dem Erdbeben Informationen über die Katastrophe gezielt an Fernsehkanäle streute, welche sich vornehmlich an die armenische Diaspora richteten.264

261 Bericht der dpa, 14.12.1988, ›Briten schicken überschüssige Eier nach Armenien‹. 262 HAA f. 326, op. 8, d. 60, l. 3, Bericht des sowjetarmenischen Außenministeriums für das Jahr 1988. 263 HAA f. 326, op. 8, d. 48, l. 5, Bericht des sowjetarmenischen Außenministeriums für das Jahr 1987. 264 HAA f. 326, op. 7, d. 246, l. 21, Bericht über die amerikanische Hilfe, erstellt von den sowjetischen Botschaften in den USA vom 22. August 1989.

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Ursprünglich vom Karabachkomitee bereits am 8. Dezember um Hilfe gebeten, engagierte sich die armenische Diaspora durchaus ebenfalls aus paternalistischen Motiven, aber auch – und das gibt ihnen eine einflussreiche Sonderstellung unter den Spendern – aufgrund ihrer besonderen Beziehung zu den nach dem Genozid in Ostarmenien verbliebenen Sowjetarmeniern.265 Zunächst spendeten und halfen viele Diaspora-Armenier, weil sie sich übermäßig mit den Opfern identifizierten, auch wenn sie nie wirklich Kontakt zu Sowjetarmenien gehabt hatten und oftmals auch kein Armenisch mehr sprachen. Aufgrund ihrer eigenen Erinnerungen und ihrer transgenerationellen Traumaerfahrungen spendeten sie aus eigener, früherer Betroffenheit heraus.266 Zum anderen riefen die Bilder aus Armenien bei einigen Diaspora-Armeniern massive Schuldgefühle hervor. Eine US-Amerikanerin armenischer Abstammung aus Los Angeles begründete unter Tränen ihren Einsatz 1988 folgendermaßen: Ich assoziierte [das Erdbeben] mit dem, was meine Eltern als Kinder durchmachen mussten. Den Genozid. Jeder Armenier hat einen Komplex. Sie haben in gewisser Weise ein Schuldgefühl. […] Und jetzt lebe ich in diesem wundervollen Land und kann all diese schönen Dinge genießen. Warum ich?267 Mit diesem Schuldgefühl, jetzt im Reichtum zu leben, weil ihre Eltern damals verfolgt worden waren, sahen sich viele Armenier bei dem Anblick der zerstörten Städte in Sowjetarmenien unfreiwillig konfrontiert. Unter der armenischen Diaspora in den USA brach ein regelrechter Wettbewerb um die Beteiligung an Hilfsaktionen aus, der auch als bestimmte Form des Umgangs mit dem Schuldgefühl für das eigene Überleben interpretiert werden kann, als das sogenannte Überlebensschuldsyndrom. Menschen wollen sich oftmals dann durch Spenden dagegen wehren, bei einer einzigartigen Gemeinschaftserfahrung – auch wenn sie noch so schmerzhaft war – nicht dabei gewesen zu sein.268 Armeniern in der Sowjetunion zu helfen sahen vermutlich viele in der armenischen Diaspora als Gelegenheit an, gegen dieses Schuldgefühl anzukämpfen.

265 Flugblatt »Sootečestveniki!« vom 8. Dezember 1988, Privatarchiv Aram Manukyan. 266 Lingelbach: Spenden und Sammeln, S. 402. 267 Interview mit Mary Najarian (*1934), Los Angeles, 05.08.2014. 268 Yacoubian, Viken V./Hacker, Frederick J.: Reactions to Disaster at a Distance: The First Week After the Earthquake in Soviet Armenia, in: Bulletin of the Menninger Clinic 53 (1989) 4, S. 331–339.

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Die Hilfe der armenischen Diaspora und der westlichen Regierungen bestand neben Geld- und Sachspenden zudem darin, vor Ort Menschen zu retten und medizinisch zu versorgen, wodurch ausländische Rettungskräfte in einen direkten Kontakt mit Sowjetbürger traten. Einige Rettungsteams, darunter auch das Technische Hilfswerk aus Deutschland, arbeiteten in Zwei-­WochenSchichten und blieben bis zu einem Monat. Viele Organisationen kamen auch im Laufe des Jahres 1989 wieder, um bei dem Bau von Holzhäusern oder dem Aufbau von Prothesenwerkstätten zu helfen, Leute auszubilden oder längerfristige medizinische Rehabilitationsprogramme durchzuführen.269 Der Großteil der ausländischen Rettungsteams arbeitete in Armenien jedoch nicht länger als eine Woche, weil die sowjetische Regierung es so wollte. So forderten schon am 14. Dezember 1988 Mitarbeiter der sowjetarmenischen Regierung mit Lautsprechern alle Bewohner Leninakans und Spitaks dazu auf, ihre Städte zu verlassen, und erklärten die Erdbebenzone zu einem Niemandsland, zu dem nur autorisierte Personen Zugang hatten.270 In der Regel werden Sucheinsätze nach Naturkatastrophen erst nach zehn bis zwölf Tagen abgebrochen, weil bis dahin noch die Hoffnung besteht, Überlebende zu finden. Die sowjetische Regierung wollte aber schnell mit dem Wiederaufbau beginnen, wofür die Städte zunächst komplett evakuiert wurden, auch mit dem Risiko, Überlebende nicht mehr zu retten. Und noch am 15. Dezember berichtete die Izvestija darüber, wie in den vergangenen 24 Stunden erneut 20 Menschen lebend aus den Ruinen gerettet worden waren.271 Als viele Einheimische aus diesem Grund in der Hoffnung auf Überlebende weiterhin in den Städten verharrten, schnitten die Behörden die Zugänge zu Gas und Nahrung ab, um sie zum Verlassen der Erdbebenzone zu zwingen.272 Auch den ausländischen Rettungsteams wurde mit brutalen, teilweise lebensbedrohlichen Konsequenzen gedroht, sollten sie die Rettungseinsätze nicht umgehend einstellen.273 Dieses vorschnelle Beenden der Rettungsund Sucheinsätze führte bei vielen Armeniern erst recht zu traumatischen 269 Interview mit Hermann Klein-Hitpaß (1934–2014), per Telefon, 31.07.2013. Zu den Hilfsprogrammen von Ärzte ohne Grenzen siehe Verluise: Armenia in Crisis, S. 76 ff. 270 Pressebericht der dpa, 14.12.1988, ›Suche nach Überlebenden in Spitak eingesellt – Stadt wird eingeebnet‹. 271 Izvestija 351, 15.12.1988, S. 2. 272 Verluise: Armenia in Crisis, S. 54. 273 Interview mit Hermann Klein-Hitpaß (1934–2014), per Telefon, 31.07.2013. Über den Druck auf die Rettungsorganisationen vonseiten des sowjetischen Militärs erinnerte er im Interview: »Es gab einen vom Militär, er war Russe, der gesagt hat, [dass,] wenn die Rettungsarbeiten nicht aufhören, er ein Flugzeug mit Benzin gefüllt über Spitak fliegen lässt und dann alles anzünden wird.«

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Erlebnissen, nicht nur weil sie mit der Abreise der ausländischen Rettungseinheiten ihre letzte Hoffnung auf Überlebende aufgeben mussten, sondern auch weil sie nun mit eigenen Augen ansehen mussten, wie ihre vermutlich verstorbenen Angehörigen unter den Ruinen mit Dynamit in die Luft gesprengt wurden, wodurch eine würdevolle Bestattung und Identifizierung der Toten nicht mehr gewährleistet war.274 Die Zusammenarbeit zwischen sowjetischen und ausländischen Institutionen verlief schwierig. Es fehlte an Erfahrung, denn seit dem Ende des zweiten Weltkriegs hatte es keine humanitären Kanäle und Netzwerke zwischen Ost und West gegeben. Aus den Berichten und Telegrammen der westlichen Organisationen an das UNDRO-Hauptquartier in Europa geht hervor, dass es bezüglich des Bedarfs an Hilfsgütern und Maßnahmen kaum zu Absprachen zwischen den sowjetischen Behörden vor Ort und den ausländischen Organisationen und Regierungen kam. Jeder agierte auf seine Weise, auch innerhalb der Erdbebenzone. Wie viel beide Seiten miteinander zu tun hatten, hing jeweils davon ab, wo die ausländischen Rettungsteams hingeschickt wurden oder sich selbst hinschickten, und davon, ob sie einen Übersetzer zur Verfügung gestellt bekamen oder nicht. In der Regel waren sie ähnlich wie die sowjetischen Experten komplett auf sich allein gestellt. Manche klagten über dieses Zuviel an Freiheit und Zuwenig an Orientierung, andere wiederum sahen es als Gelegenheit an, sich frei zu bewegen und zu arbeiten.275 Wie der Einsatzleiter des Technischen Hilfswerks berichtete, gab es trotz Dolmetschern kaum Kontakte zu der lokalen Bevölkerung: »Wir waren schon allein. Es war nicht so, dass sich die Bevölkerung auf uns gestürzt hat. […] [Sie wussten auch nicht], wie man damit umgehen soll. […] Man hatte nicht so viele Kontakte.«276 Viele Armenier empfanden Berührungsängste gegenüber den Gästen aus dem Westen, da die Befürchtung, mit dem Falschen zu reden, sich nicht automatisch durch die kurzzeitige Öffnung der Grenzen aufgelöst hatte.277 Die meisten Erdbebenopfer waren zu diesem Zeitpunkt zudem mit anderen, lebenswichtigen Problemen beschäftigt, wie

274 Verluise: Armenia in Crisis, S. 74. 275 UNDRO-Archiv DPR 310 USR 88 (2) Arbeitsbericht von Hannelore Hensle, Diakonisches Werk, über die Reise nach Armenien vom 13.–18. Dezember 1988. 276 Interview mit Hermann Klein-Hitpaß (1934–2014), per Telefon, 31.07.2013. 277 UNDRO-Archiv DPR 310 USR 88 (2) Bericht von Hannelore Hensle, Diakonisches Werk, über die Reise nach Armenien vom 13.–18. Dezember 1988.

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dem Kampf um Kompensationszahlungen und temporäre Behausung – ein interkultureller Austausch stand nicht im Fokus.278 Kam es doch zu Kontakten mit den sowjetischen Behörden, wurden diese von den ausländischen Experten oft als schwierig und störend beschrieben. So berichtete der damalige Einsatzleiter des Technischen Hilfswerks, dass er mehrmals von Soldaten mit Maschinenpistolen bedroht worden sei und zwischenzeitlich anscheinend grundlos eine Nacht im Gefängnis zugebracht habe.279 Gelegentlich seien er und sein Team von Soldaten aufgefordert worden, umgehend ihre Arbeit einzustellen; andernorts sei ihnen Benzin für die Stromgeneratoren und Autos verweigert worden.280 Und obwohl die Rettungsteams offiziell von der Ausgangssperre ausgenommen waren, hinderten die sowjetischen Behörden die ausländischen Einsatzkräfte nach der Ausgangssperre an der Arbeit oder führten lästige Befragungen durch.281 Viele Retter kehrten schockiert über die Bilder und verbittert über den sowjetischen Umgang mit der Situation in ihre Heimatländer zurück. Bei vielen überwog das Gefühl, dass die sowjetischen Behörden nicht alle Möglichkeiten genutzt hatten, die Potenziale der ausländischen Experten auszuschöpfen. Sie fühlten sich von den sowjetischen Behörden nicht nur situationsbedingt alleingelassen, sondern auch absichtlich schikaniert und in ihrer humanitären Arbeit behindert.282 Bei einigen entstand der Eindruck, dass es der sowjetischen Regierung weniger um das Retten der Menschen als um das Herstellen der politischen Ordnung in der Republik ging. Für sie war es unerklärlich, wieso zwar Tausende Soldaten nach Armenien geschickt, dann aber kaum in die Rettungseinsätze involviert wurden, sondern stattdessen »mit den Händen in den Taschen, das Gewehr geschultert«, über die Ruinen liefen.283 Die Vorstellung enger und vertrauensvoller internationaler Beziehungen und die von Berührungsangst und Kontrollzwang durchsetzte Realität klafften nicht nur bei den westlichen Rettern auseinander; auch bei den sowjetischen Gastgebern wollte sich Gorbačevs Euphorie über eine neue Weltgemeinschaft nicht ganz einstellen. Einige reagierten mit Kritik und Spott auf die Ausrüstung und die Professionalität der Rettungsteams. In ihren Augen konnte diese gute 278 Eine detaillierte Beschreibung der Lage 40 Tage nach dem Erdbeben liefert der in Sovetakan Hayastan veröffentlichte Beschwerdebrief aus Kirovakan, in: Sovetakan Hayastan 27, 29.01.1989, S. 4. 279 Interview mit Hermann Klein-Hitpaß (1934–2014), per Telefon, 31.07.2013. 280 Ebd. 281 Verluise: Armenia in Crisis, S. 103. 282 Ebd., S. 55. 283 Le Soir, 22.12.1988, S. 7.

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Ausstattung eigentlich nur bedeuten, dass es für sie lediglich ein Job war, den sie taten, ohne sich aber um die einzelnen Schicksale zu kümmern284 – ein Urteil, das sich übrigens weitestgehend mit dem von russischen Zeitgenossen der Hungersnot 1921 deckte.285 Manche Zeitzeugen waren sich sicher, dass die Ausländer nicht zum Retten gekommen waren, sondern nur aus Neugierde.286 Besonders empört waren die Überlebenden, als sie sahen, wie einige Ausländer die Leichen abfotografierten und unaufhörlich alles filmten, was sie vor sich sahen. Marina, eine Armenierin aus Leninakan, entschied wohl aus diesem Grund, das Angebot auszuschlagen, sich wegen ihrer Verletzungen in den USA behandeln zu lassen. Stattdessen flog sie nach Moskau.287 In den Augen des jungen Medizinstudenten Andrej aus Moskau, der als Freiwilliger nach Armenien gegangen war, »kamen sie [die ausländischen Retter], um zu arbeiten«, er selbst kam im Gegensatz dazu, »um zu helfen. Uns hat niemand gezwungen. Wir hatten keine Aufseher, keine Absicherung.«288 Ein anderer Freiwilliger befand: »Für [die ausländischen Rettungskräfte] war es ein ganz normaler Arbeitstag.«289 Damit werteten sie die ausländische Hilfe gegenüber der »echten« Hilfe ihrer sowjetischen Brüder moralisch ab. Auch für Marina aus Leninakan blieben die Retter aus dem Ausland materialistisch orientiert. »Die Ausbildung eines dieser Rettungshunde«, glaubte sie, »kostete 160 Dollar. Und natürlich wurden sie nicht in gefährliche Löcher geschickt. Das wäre zu schade ums Geld gewesen.«290 Ähnlich erinnerte sich Andrej Lobanov, der Medizinstudent, daran, wie sie über die in der Zeitung und im Film gepriesene ausländische Technik und Ausrüstung Witze machten. Er versuchte damit anscheinend, aus der nach offizieller Lesart existierenden technischen Unterlegenheit eine Tugend zu machen, indem er die sowjetischen Rettungsarbeiten ohne Ausrüstung und Absicherung als hochwertiger darstellte. »Wir machten vieles, was sie nicht machten. Wir kletterten zum Beispiel in Löcher, in die sie nicht gehen würden.«291 Doch hinter dieser Abgrenzung verbarg sich vielleicht auch die Wut darüber, dass sie zusammen mit der richtigen Ausrüstung und der sowjetischen Risikobereitschaft noch mehr Leben hätten retten können. Weder derartiger Spott noch die Zusage 284 Interview mit Andrej Lobanov (*1956), Moskau, 05.06.2013. 285 Patenaude: The Big Show in Bololand, S. 604 f. 286 Interview mit Marina K. (*1967), Moskau, 08.06.2013. 287 Ebd. 288 Interview mit Andrej Lobanov (*1956), Moskau, 05.06.2013. 289 Kuksa: Bol’ ljudskaja, S. 55. 290 Interview mit Marina K. (*1967), Moskau, 08.06.2013. 291 Interview mit Andrej Lobanov (*1956), Moskau, 05.06.2013.

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der sowjetischen Regierung, einen besseren Katastrophenschutz aufzubauen, konnte eine kritische Sicht auf die Fähigkeiten der Sowjetunion vermeiden. So fragten sich einige »beim Anblick der Technik […], warum die Sowjetunion eigentlich nicht solche Technik und Ausrüstung hat[te] wie der Westen. Und du fängst an, schlecht über dein Land zu denken.«292 Der Erste Parteisekretär von Spitak bewunderte die Rettungsteams aus Deutschland in ihren »sterilen, sauberen und warmen Zelten und fühlte Scham in sich aufkommen für [sein] eigenes Aussehen und bewunderte ihre Ordnung und Geschäftigkeit.«293 Der Vergleich verdeutlichte vielen Armeniern, was technisch und politisch möglich war, und den Beteiligten das in der Sowjetunion vorhandene Defizit im Katastrophenschutz. Wie auch schon in historischen Studien über den kulturellen Konsum westlicher Angebote in der Sowjetunion festgestellt wurde, war es nicht so sehr das Defizit an sich, das der Unzufriedenheit einen solch radikalen Charakter gab, sondern das Wissen, dass es woanders so etwas gab.294 Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten in der Kommunikation weitete sich der Kontakt mit der Zeit aus. Dies hing insbesondere mit den intensiven Aktivitäten und dem Engagement der armenischen Diaspora zusammen, die ein großes Interesse daran hatte, Verletzte und Kinder zu sich in die USA oder nach Frankreich zu holen, um sie dort gesund zu pflegen. So gingen ganze Flugzeuge mit verletzten und traumatisierten Überlebenden nach Italien, Frankreich und in die USA. Manche blieben dort nur einige Wochen, manche Monate und einige blieben für immer.295 Viele versuchten, die Chance zu ergreifen und über die Kontakte zur armenischen Diaspora aus der Sowjetunion zu emigrieren, wobei es gleichgültig war, ob sie nun tatsächlich Erdbebenopfer waren oder nicht.296 In manchen Fällen entwickelten sich im Laufe der Zeit enge Bekanntschaften zwischen den Erdbebenopfern und jenen westlichen Experten, die über eine längere Zeit in Armenien arbeiteten und regelmäßig wiederkehrten. Eine Einwohnerin Leninakans berichtete, wie viele ihrer Bekannten bei dem Bau des österreichischen Viertels in Leninakan Kontakte mit den Arbeitern knüpften,

292 Interview mit Vačik K. (*1955), Gjumri, 27.10.2013. 293 Muradyan: Spitak Epicentr, S. 170. 294 Zhuk: Rock and Roll in the Rocket City, S. 258; Brown, Archie: Transnational Influences in the Transition from Communism. Working Paper No. 273, Kellogg Institute for International Studies, Indiana 2000, S. 20. 295 Interview mit Mary Najarian (*1934), Los Angeles, 05.08.2014. 296 Ebd.

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auch mit dem Ziel, durch diese Armenien verlassen zu können – bei vielen führte das zum Erfolg.297 Jenseits von Technik und Wissen wirkte die internationale Hilfe sich darauf aus, wie Armenier sich selbst und ihre Zukunft sahen. In einem Interview erinnerte sich der Feuerwehrmann Edgar N. wie ihn der Anblick professioneller Retter und die neue Kooperation mit dem Westen »optimistisch für die Zukunft stimmte«.298 Schließlich kam Armeniern nun, im Gegensatz zur ersten die armenische Existenz bedrohenden Katastrophe, dem Genozid zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die internationale Gemeinschaft zu Hilfe und interessierte sich für ihr Wohlergehen. Viele Menschen in Armenien fühlten sich nun als Opfergemeinschaft ernst genommen, verstanden und respektiert. Die internationale Hilfe rief zudem das Gefühl hervor, die Welt stehe im Kampf um Karabach auf der Seite der Armenier. Ein Bauingenieur aus Jerewan, Grigor Azisyan, erklärte das folgendermaßen: »Erstens, weil sie [der Westen] gegen die Sowjetunion waren, zweitens weil wir gegen das System der Sowjetunion auftraten und die Welt uns dabei unterstützen wollte. […] [Die Unterstützung] hat sehr stark auf uns gewirkt.«299 Denn die große Spenden- und Hilfsbereitschaft aus den westlichen Ländern, gepaart mit den neuen Zugehörigkeitsgefühlen der armenischen Diaspora, veränderte für viele Sowjetarmenier die Verortung ihrer Heimat und Identität auf der Weltkarte. Während sie sich vor dem Erdbeben und seit dem Genozid als kleine und von allen vergessene Nation wahrgenommen hatten, die stets versuchte, sich über das Symbol des Ararats als Mittelpunkt der Erde, als Vorort von Eden zu definieren, katapultierte die neue Aufmerksamkeit ihr nationales Selbstbewusstsein in ungeahnte Höhen.300 Seit Jahrzehnten hatten die Armenier versucht, Anerkennung für den an ihnen begangenen Genozid zu erlangen, und oft Bitterkeit darüber verspürt, dass nicht »ihr« Genozid als der »erste« der Welt gesehen wurde, sondern der Holocaust.301 Erstmals fühlten sie sich in ihrem Leiden von der Welt gesehen, auch wenn es sich hier um das Leiden durch eine Naturkatastrophe handelte. Das Erdbeben wurde von vielen Armeniern in den Kontext des Genozids gestellt, als eine Art Kontinuität, die in das Leidensnarrativ des armenischen Volkes passte. Denn »der Genozid war [für Armenier] kein Ereignis, an das man erinnerte, sondern eine immer fort-

297 Interview mit Anahit G. (*1974), Gjumri, 29.10.2013. 298 Interview mit Edgar N. (*1963), Jerewan, 26.10.2013. 299 Interview mit Grigor Azizyan (*1955), Jerewan, 16.10.2013. 300 Dudwick: Memory, S. 88. 301 Ebd., S. 82.

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währende Bedrohung«.302 Es war für viele Betroffene des Erdbebens besonders wichtig hervorzuheben, dass die Armenier erneut einem möglichen Aussterben entkommen waren, dass sie erneut überlebt hatten und dass sie durch das Erdbeben, wie so oft, »am Rande des Verschwindens«303 und an der »Grenze zum Abgrund«304 gestanden hätten. Im Gegensatz zu 1915 und den Jahrzehnten danach, in denen wenige ihr Leid rechtmäßig anerkannt hatten, wurde ihre Tragödie in Zeitungsartikeln nun als »Schmerz der ganzen Weltgemeinschaft«, nachempfunden und als ein »Sturmgeläute des nationalen Leids«, das »die ganze zivilisierte Welt umgeworfen« hatte.305 Nun war Armenien das »Epizentrum der Sorge und Verantwortung«.306 Das bedeutete auch, dass die Erwartungen an die internationale Gemeinschaft, insbesondere an die armenische Diaspora, besonders hoch waren. Eine Katastrophenhelferin armenischer Abstammung aus den USA beschrieb in ihren Memoiren den Druck, der auf ihnen lastete: Die Menschen legten bei uns einen viel höheren Maßstab an als bei nicht­ armenischen Katastrophenhelfern. Sie gingen davon aus, dass wir alles konnten; wichtig war, dass wir es wollten. […] Wenn wir aber sagten, wir konnten bei etwas nicht helfen, wurde es oftmals als Sorglosigkeit gedeutet.307 Über die ausländische Hilfe wurde in der sowjetischen Presse berichtet, jedoch offenbar nur unter Schwierigkeiten. So bot die temporäre Öffnung der Grenzen für Rettungsmannschaften, Ärzte und Journalisten zwar eine ideale Gelegenheit, die neuen Ziele der sowjetischen Außenpolitik besser an die Öffentlichkeit zu transportieren, um die Massen für die Perestrojka-Politik zu mobilisieren, jedoch mussten die Presseorgane eine Gratwanderung unternehmen, bei der sie die ausländische Hilfe nicht als Niederlage der eigenen sowjetischen Regierung im Katastrophenschutz darstellen durften. Gleichzeitig mussten sie sich der internationalen Hilfe wohlgesinnt zeigen, um Politiker und Finanziers weltweit von den neuen Zielen der sowjetischen Regierung zu überzeugen. Diese Gratwanderung war für die sowjetischen Journalisten insbesondere deshalb schwierig, weil sie sich in den Jahrzehnten bis 1988 an die bereits viel302 Ebd., S. 91. 303 Arutunjan: O prošlom, S. 190. 304 Afanas’eva: Spitakskij Memorial, S. 215. 305 Arutunjan: O prošlom, S. 177, 334. 306 Sovetakan Hayastan 290, 10.12.1988, S. 1; Komsomol’skaja Pravda 283, 10.12.1988, S. 1. 307 Najarian, Carolann S.: A Call From Home. Armenia and Karabagh. My Journal, Cambridge, Massachusetts 1999, S. 175.

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fach konstatierte Rhetorik des Kalten Krieges gewöhnt hatten, die den Westen als den Feind und gleichzeitig als das Gegenteil der Sowjetunion markiert hatte. Dieses Feindschema des Westens hatte der sowjetischen Ideologie geholfen, somit zu einer Identität zu finden, indem sie sich über das Gegenteil definiert hatte. Bis zum Ende des Jahres 1987 waren die sowjetischen Zeitungen gefüllt mit Negativbeschreibungen der westlichen Welt, allen voran der amerikanischen. Artikel beschrieben die westliche Gesellschaft als eine durchweg wohlhabende, rassistische, gewaltbereite und gänzlich unsoziale, in der Verstöße gegen die Menschenrechte an der Tagesordnung waren.308 Bis zur Gorbačev-Ära galt für Journalisten folgende Regel: Die Sowjetunion war genau das nicht, was die USA waren.309 Mit Glasnost’ erfuhr zunächst insbesondere die Auslandsberichterstattung eine Veränderung und begann, weniger negativ über Vorgänge im Ausland zu berichten.310 Schon im Oktober 1985 konnten sowjetische Fernsehzuschauer zum ersten Mal dabei zusehen, wie westliche Journalisten ihrer Staatsführung bei einem Besuch in Paris kritische Fragen stellten.311 Doch stellte die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl auch Gorbačevs Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die internationale Berichterstattung auf die Probe. Denn schon bald nach den ersten Meldungen über den Unfall folgten Artikel über in der Vergangenheit liegende amerikanische Unfälle an militärischen und zivilen Atomreaktoren.312 Hinzu kamen Artikel, welche die amerikanische Negativberichterstattung über die Tschernobyl-Katastrophe ins Visier nahmen.313 Die sowjetischen Zeitungen verwendeten mehr Augenmerk auf eine Weiterführung des ideologischen Kampfes als darauf, ihre eigene Bevölkerung so zu informieren, dass deren Leben nicht in Gefahr war. Mit dem Befehl, in der Berichterstattung auf die Gefahr eines Kernwaffenkrieges hinzuweisen und für eine friedliche Atomenergienutzung zu werben, sollte allerdings gleichzeitig für den neuen Abrüstungskurs Unterstützung gewonnen werden.314 Der Wandel in der Berichterstattung über den Westen kam erst mit den Diskussionen über die Abrüstungsabkommen zustande. Seit April 1987 erschienen in den Zeitungen Pravda, Izvestija und Argumenty i fakty Artikel, in denen die 308 Becker: Soviet and Russian Press Coverage, S. 67–71. Siehe insbesondere die Artikel von ­Merlor Sturua, Journalist und zeitweise Redakteur für Izvestija. 309 Ebd., S. 71. 310 Müller: Zwischen Zäsur und Zensur, S. 59. 311 Becker: Soviet and Russian Press Coverage, S. 71. 312 Becker: Soviet and Russian Press Coverage, S. 57. 313 Ebd., S. 190. 314 Müller: Zwischen Zäsur und Zensur, S. 72.

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Journalisten für eine neue Art der Berichterstattung über die internationalen Beziehungen eintraten, um die »internationale psychologische Atmosphäre zu verbessern« und die »internationalen Spannungen und die Abrüstung zu vereinfachen«.315 Fortan sollten neben den negativen Aspekten des Kapitalismus auch die positiven stehen. Während einer Rede im Februar 1988 brachte Gorbačev erstmals öffentlich Glasnost’ mit der neuen Berichterstattung über die internationalen Beziehungen in Zusammenhang. Demnach hätten der Wissensdurst der sowjetischen Bevölkerung und deren Bedürfnis, an der internationalen Politik teilzuhaben, alle »nötigen Bedingungen geschaffen […], um das Niveau der Informationen über internationale Fragen zu erhöhen«.316 Fernsehen und Presse sollten nun nicht mehr als Gegenpropaganda eingesetzt werden, sondern um »über die Grenzen hinweg für die Verbesserung der internationalen Beziehungen zu sorgen.«317 Dazu trugen die »Telemosty« (Telebrücken) mit ihren live ausgestrahlten Diskussionen zwischen sowjetischen und US-amerikanischen Politikern über Themen wie das Wettrüsten oder die Gesetzgebung genauso bei wie Zeitungsartikel, in denen die USA nicht mehr als militant, gewalttätig und als sozial ungerecht dargestellt wurden, sondern als ein Land, von dem man lernen konnte.318 Artikel über den nun attraktiven »American Way of Life« oder über Vergleiche zwischen den Lebensstandards in Ost und West sollten das Bild vom politischen Opponenten grundlegend verändern. Die USA galten fortan als Positivbeispiel, das als offizieller Katalysator des Wandels in der Sowjetunion funktionieren sollte. Mit dem Erdbeben in Armenien und dem tatsächlichen Zusammentreffen von Amerikanern, Westeuropäern und Sowjetbürgern ergab sich also für die Propagandisten der Perestrojka eine ideale Gelegenheit, ihrer Aufgabe nachzukommen, die internationalen Beziehungen zu verbessern. Doch wie kommunizierten Journalisten der sowjetischen Leserschaft, dass der zwar seit 1988 als in der Technik, der Verwaltung und im Lebensstandard fortgeschritten geltende Westen nun auch solidarisch und uneigennützig der Sowjetunion zu Hilfe kam? Wie gingen die sowjetischen Medien mit dem tatsächlichen Aufeinandertreffen von Ost und West um und wie vermochten sie dieses mit Glasnost’ in Verbin315 Izvestija 74, 14.03.1987, S. 7. 316 Gorbačev, SWB (Summary of World Broadcasts) SU/0081/C/13, 22.02.1988, zitiert in: ­Becker: Soviet and Russian Press Coverage, S. 60. 317 Egorov, Vil’onar V.: Sovetskoe televidenie i formirovanie novogo polotičeskogo myšlenija, in: N. S. Birjukov: Televidenie na rubeže dvuch vekov, Moskau 1989, S. 6–20, hier S. 20, zitiert in: Müller: Zwischen Zäsur und Zensur, S. 84. 318 Zu den Telebrücken siehe Müller: Zwischen Zäsur und Zensur, S. 85 f.

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dung zu setzen? Für die hilfsbereite, offene und großzügige Reaktion des Westens auf die armenische Erdbebenkatastrophe mussten sowjetische Journalisten nun einen neuen narrativen Umgang in den Medien finden. Das war insbesondere deshalb schwer, weil die sowjetische Regierung die Katastrophe einerseits nutzen wollte, um die internationalen Beziehungen weiter zu verbessern, andererseits aber bei den eigenen Bürgern nicht als schwach oder als inkompetenter Katastrophenmanager gelten wollte. Daher legte die sowjetische Regierung äußersten Wert darauf, ihre Entscheidung, ausländische Hilfe anzunehmen, nicht als einen offiziellen Hilferuf darzustellen.319 Stattdessen sprach sie in der offiziellen Kommunikation davon, »dass sie die Katastrophenhilfe [nur] akzeptier[t]e«.320 Die sowjetischen Journalisten übernahmen dieses Narrativ, trieben es aber noch ein bisschen weiter. Ihren Darstellungen zufolge hatte die Sowjetunion dem Ausland einen Gefallen getan, indem sie die Hilfe zuließ. Überschriften aus der Izvestija wie »Wir trauern, wir fühlen mit. Wir bitten darum, unsere Hilfe anzunehmen – so reagierten die Völker der Erde«321, aber auch angebliche Aussagen amerikanischer Katastrophenhelfer, in denen diese der sowjetischen Regierung für die »zur Verfügung gestellte Möglichkeit« dankten, »zusammen mit anderen Ländern das Leiden Tausender Menschen zu reduzieren«322, stellten gewissermaßen das Ausland als den Bittsteller und die Sowjetunion als den großzügigen Gönner dar. Armenischen Journalisten zufolge zwang »die elementare Schuld des Menschen vor den Menschen« dazu, in die Sowjetunion zu reisen, um zu helfen.323 Nach sowjetischer Lesart hatte die Sowjetunion die »Hilfe der ausländischen Staaten, darunter die der kapitalistischen […], aus einem Akt der Barmherzigkeit« heraus angenommen.324 So konnten die sowjetischen Medien demonstrieren, dass die Sowjetunion eigentlich auf die Hilfe nicht angewesen war, diese aber aus Großzügigkeit und politischer Offenheit dennoch annahm. Diese Haltung brachte mit sich, dass die internationale Reaktion in den Medien gemessen an ihrer Neuheit zahlenmäßig in den Artikeln völlig unterrepräsentiert war. Die sowjetische Regierung bemühte sich, dieser externen Einmischung keine zu 319 UNDRO Archiv DPR 310 USR 88 (1). Im UNDRO-Situationsbericht vom 10. Dezember 1988 machte der Verfasser auf diese Unterscheidung explizit aufmerksam. 320 Aus dem offiziellen Schreiben der sowjetischen UN-Mission vom 9. Dezember 1988 an die UNDRO, in: UNDRO-Archiv DPR 310 USR 88 (3) UNDRO-Abschlussbericht von Februar 1988. 321 Izvestija 345, 09.12.1988, S. 4. 322 Izvestija 352, 16.12.1988, S. 5. 323 Kommunist 288, 11.12.1988, S. 1. 324 Prokopčik, Stanislav: Razdelennaja bol’, Kiew 1989, S. 123.

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große Aufmerksamkeit zu schenken, sondern genau so viel, dass sie registriert wurde, um das »neue Denken« der Perestrojka zu demonstrieren, und genau so wenig, dass die großzügige Hilfe nicht im zu starken Kontrast zur sowjetischen Katastrophenkompetenz stand. Entgegen den Empfindungen der westlichen Rettungsmannschaften vor Ort wurden die Unterschiede zwischen Ost und West in der offiziellen Berichterstattung aufgelöst: »Das menschliche Leid und Mitgefühl haben alle Grenzen übertreten: die geografischen, die staatlichen, die politischen und die ideologischen.«325 Kategorien wie »der Westen« und »Kapitalismus« verschwanden nun gänzlich aus den Berichten und wurden stattdessen durch Begriffe wie »die Welt« oder »der Planet« ersetzt. Es war plötzlich die Rede von einer »verflochtenen Welt«, in der es nur noch »allgemein menschliche Interessen« gab.326 Um die Verschmelzung des Fremden mit dem Eigenen im sogenannten »Epizentrum der Menschlichkeit« zu illustrieren, griffen die Journalisten wie auch schon bei der Erzeugung der sowjetischen Einheit auf die Blutmetapher zurück. So war französisches und schweizerisches Blut nicht fremd, sondern genauso wertvoll wie sowjetisches. An anderer Stelle hieß es dazu: »Es ist unser allgemeines, lebendiges menschliches Blut. Und ein in Spitak gerettetes Kind soll ruhig mit aserbaidschanischem, amerikanischem oder polnischem Blut gerettet werden. Es wird immer eins sein – menschliches Blut ist kein Wässerchen.«327 Diese so suggerierte Blutsbrüderschaft zwischen Ost und West sowie die Betonung der westlichen Großzügigkeit und Solidarität dienten dem Ziel, die außenpolitischen Absichten mit Positivbeispielen zu untermauern, und waren so einige der vielen Vehikel für die Agenda der Perestrojka. Über die Zusammenarbeit, das Zusammentreffen und die Interaktion zwischen Ost und West auf sowjetischem Boden schwiegen die sowjetischen Journalisten jedoch weitestgehend. Zum einen war das auf die Tatsache zurückzuführen, dass jene sowjetischen Journalisten, die über das Ausland informierten, speziell dafür ausgewählt worden waren; nicht jeder durfte über den Westen schreiben. Oftmals saßen diese Journalisten auch selbst im Ausland, was jene Artikel über die großen Spendenaufkommen in den sowjetischen Botschaften in England und Frankreich erklärt. Zum anderen fehlte den daheimgebliebenen Journalisten für die Reportagen über die neuartige Zusammenarbeit im Erdbebengebiet vermutlich das nötige Vokabular und die Bereitschaft, das Risiko eines 325 Pravda 347, 12.12.1988, S. 6. 326 Komsomol’skaja Pravda 291, 21.12.1988, S. 2. 327 Pravda 349, 14.12.1988, S. 6.

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Berichts darüber einzugehen. Sie wussten oftmals nicht, wie sie die Zusammenarbeit auf den Trümmern beschreiben sollten und ob sie es überhaupt durften. Daher arbeiteten viele nach altbewährten Methoden und setzten vermutlich die internationale Hilfe als dekoratives Beiwerk ein oder schwiegen ganz darüber. Nur vereinzelt tauchten unkommentierte Fotos von britischen und französischen Rettungsteams mit ihren Hunden auf. Armenische Zeitungen wie Sovetakan Hayastan oder Kommunist nahmen, abgesehen von Beschreibungen von gezahlten Spendensummen und Beileidsbriefen aus dem westlichen Ausland, noch weniger Bezug auf die Zusammenarbeit mit den internationalen Rettungsteams als die unionsweiten Zeitungen. Die Unsicherheit in der Peripherie war generell größer als bei den Moskauer Journalisten, deren kritische Artikel oft Tage später in den Zeitungen der Peripherie abgedruckt wurden. Und selbst Moskauer Journalisten schrieben über die internationale Hilfe nur, um für die Reformen Gorbačevs zu werben.328 Eine Ausnahme gab es jedoch, bei der die offiziellen Medien sowjetische und ausländische Akteure in der Erdbebenzone miteinander in Bezug setzten: bei Berichten über den ausländischen Katastrophenschutz. In einem Artikel, in dem auch französische Retter zu Wort kamen, dachte ein Journalist beispielsweise laut darüber nach, wie viele Menschen hätten gerettet werden können, »wenn die Franzosen doch nur früher gekommen wären«, und wie es überhaupt gewesen wäre, »wenn es doch nur bei uns selbst solche speziellen Rettungstruppen gäbe, die so ausgebildet und so ausgestattet sind. Erst hier in Armenien haben wir verstanden, wie wichtig Professionalität für das menschliche Leben ist.«329 Es ging der sowjetischen Regierung darum, das von ihr seit einiger Zeit angedachte, aber nie zu Ende gebrachte Projekt eines Katastrophenschutzes nun mit der Gegenüberstellung im Sinne von Glasnost’ kritisch anzusprechen und umzusetzen. Das Modell des westlichen Auslandes stand als Vorzeigebeispiel auf sowjetischem Boden und sollte zeigen, wie es funktionieren kann. In dem 1989 ausgestrahlten Dokumentarfilm »Solange der Donner nicht schlägt« des Zentralen Sowjetischen Dokumentarfilmstudios (CSDF) verglichen Mitarbeiter des sowjetischen Zivilschutzes vor laufender Kamera auf den Trümmern Leninakans die sowjetischen Kapazitäten mit denen der ausländischen Einheiten: »Wir sind nicht operativ. Nicht professionell. […] Die Ausländer hatten alle Geräte. Wir waren dort wie Dilettanten. Wir hatten nichts. Wir hatten Hände und Enthu328 Siehe beispielsweise Rost: Armenian Tragedy; Armenija Dekabr’ 88, Jerewan »Ajastan«, 1990; Prokopčik: Razdelennaja bol’. 329 Izvestija 346, 10.12.1988, S. 1. Ähnliches siehe auch in Krušinskij/Procenko: Dni skorbi, S. 48.

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siasmus. So arbeiten wir.«330 Der Film warb für die Gründung eines einheitlichen sowjetischen Katastrophenschutzes. Mit diesem Zugeständnis zeigte die sowjetische Regierung, dass sie das Problem sehr wohl erkannt hatte und bereit war, die nötigen Schritte einzuleiten. Schon im Dezember 1988 hatte Nikolaj Ryžkov während einer Rede in Armenien eine enge internationale Zusammenarbeit bei der Erarbeitung eines sowjetischen Katastrophenschutzes angekündigt.331 Die Professionalität der ausländischen Rettungsteams und der starke Kontrast zum sowjetischen Zivilschutz unterstützten die Reformvorschläge und sollten alle Zweifel über den Sinn einer solchen Reform aus dem Weg räumen. Dieses letzte Unterkapitel verdeutlichte das Missverhältnis zwischen Gorbačevs Anspruch, die Sowjetunion durch internationales Ansehen zu stärken, und der Realität, in der die Professionalität westlicher Rettungskräfte den Staat unterminierte, weil sie die Aufmerksamkeit gezwungenermaßen auf die eklatanten Defizite im sowjetischen Bevölkerungsschutz lenkte. In der Konsequenz hinterfragten Sowjetbürger nicht nur die Versprechungen ihres Staates im Hinblick auf technologischen Fortschritt, sondern auch die Fähigkeit und die angebliche Absicht dieses Staates, für ihre Sicherheit zu sorgen. Auch wenn diese Kritik am sowjetischen Zivilschutz von der Regierung bis zu einem gewissen Maß gewollt und, wie der Dokumentarfilm und der Zeitungsartikel zeigten, auch gefördert wurde, um die Reformen für einen neuen einheitlichen Katastrophenschutz voranzutreiben, versursachte sie Selbstreflexionen unter der sowjetischen Bevölkerung, die dem Verhältnis zwischen Bürger und Staat schadeten. In der Bemühung, den Westen als neuen Verbündeten zu präsentieren, um sein eigenes Image zu verbessern, bewirkte der Staat, dass sich die Menschen in Armenien ihm entfremdeten. In diesem Sinne wurde Edgar Hoovers Ziel von 1921, die Sowjetmacht durch humanitäre Hilfe während der Hungershilfe zu schwächen, nun umgesetzt, unabhängig davon, ob dies wissentlich und absichtlich geschehen ist. Angesichts der speziellen Rettungseinheiten aus dem Westen wurde klar, dass ein nur auf Massenmobilisierung gestützter Zivilschutz längst nicht mehr zeitgemäß war, sondern dass es stattdessen ein fein spezialisierter, auf die Bedürfnisse der Opfer abgestimmter Mechanismus erforderlich war. Auf Massen, Rekorde und Quantität kam es im Katastrophenschutz und auch sonst schon spätestens seit den 1970er Jahren nicht mehr an, aber diesen Absprung hatte die Sowjetmacht verpasst und sie stand nun vor einer Bevölkerung, deren Ansprüche auf Sicherheit für Leben und Besitz nicht mehr befriedigt werden konnten. 330 RGAKFD r. 30796 S. Chejfec, Poka grom ne grjanet, CSDF/Čelovek i vremja, Moskau 1989. 331 Komsomol’skaja Pravda 291, 21.12.1988, S. 1.

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4.5 Fazit: Enthüllte Todeszonen und verschleierte Zukunft: Das Ende sowjetischer Gewissheiten Über eine Analyse der Bewältigungsversuche von Gesellschaft und Staat im Umgang mit der Katastrophe ging das Kapitel der Frage nach, auf welche Weise diese den ohnehin stattfindenden gesellschaftlichen Wandel in Armenien und in der Sowjetunion prägten und mitgestalteten. Dabei ergab sich zunächst, dass, wie schon andere Katastrophen in der Sowjetunion davor, auch dieses Erdbeben als Vehikel fungierte, um die sozialistische Idee zu transportieren und um Probleme in der spätsozialistischen Gesellschaft zu lösen. So sollte die neue Katastrophenberichterstattung dabei helfen, die Glaubwürdigkeit von Gorbačevs Politik der Öffnung zu untermauern. Als Nebeneffekt wurden die Defizite des sowjetischen Katastrophenschutzes und der medizinischen Versorgung schonungslos an die sowjetische und die ausländische Öffentlichkeit gebracht. Mit dem Grad der Veröffentlichung von Schreckensnachrichten stieg jedoch die Verunsicherung unter den sowjetischen Bürgern über ihren eigenen Schutz vor Gefahren stark an. Unter dem Eindruck von Chaos, Schutzlosigkeit und katastrophaler Unterversorgung lösten sich zementierte Gewissheiten über den sowjetischen Staat als Sicherheitsgarant und Versorger. Denn auch wenn die anfänglichen Katastrophenschutzmaßnahmen im Vergleich zu jenen nach dem Super-GAU in Tschernobyl 1986 um einiges besser, schneller und umfassender waren, fühlten sich viele Betroffene vor allem nach Abreißen des Medienrummels bald ihrem Schicksal überlassen. Die Folge war eine tiefgreifende Enttäuschung über die lokale und die sowjetische Regierung. Wie tief das Misstrauen gegenüber der sowjetischen Regierung war, offenbarte die in Armenien aufkommende Verschwörungstheorie, nach der das Erdbeben als Waffe des Kremls gegen die dissidente Kaukasusrepublik gedient habe. Einerseits stellt diese Deutung den Versuch breiter Teile der armenischen Bevölkerung dar, einen Umgang mit der Katastrophe zu finden. Andererseits zeigt sich an ihm auch deutlich, auf welchen Wegen die spätsowjetische Gesellschaft versuchte, dem komplexen gesellschaftlichen Wandel zu begegnen und ihn einzuordnen. Die Katastrophe sollte dazu dienen, den Zusammenhalt unter den Sowjetrepubliken herzustellen. Die vielerorts an der Peripherie des sowjetischen Imperiums aufflammenden ethnischen Konflikte, insbesondere der Konflikt um Bergkarabach, galt es durch eine Berichterstattung über die heldenhafte und ­patriotische Hilfe sowie durch die Betonung der Einheit zu besänftigen. Doch auch hier zeigten sich erodierende Folgewirkungen für das System, insofern diese nach sowjetischer Tradition verbreiteten Mantras über die angebliche sowjetische Völkerfreundschaft den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaid-

Fazit

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schan, aber auch zwischen Zentrum und Peripherie nur noch mehr anheizten. Zu sehr klafften hier bereits sozialistischer Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Ein weiterer Weg, sich der Katastrophe und den einheimischen Problemen zu stellen, bot sich dem Parteiapparat durch die ausländische Katastrophenhilfe. Während diese einerseits zwar hohe Spendensummen einbrachte, erfüllte sie andererseits doch vor allem die Funktion, Gorbačevs Kurs der Annäherung und dessen Ziel eines Fortschritts der Wirtschaftsreformen zu legitimieren. Hier dienten ihm die Medien als Transportmittel für die Botschaften seiner Reform- und Außenpolitik. Doch die Öffnung der Grenzen hatte für den Staat negative Folgen, da der Kontakt der armenischen Bevölkerung mit dem Ausland, namentlich mit der armenischen Diaspora, im Hinblick auf die moderne Rettungs- und Medizintechnik nur noch mehr Defizite ihrer eigenen Regierung offenbarte, die sie am Gehalt des Sicherheitsversprechens ihrer Staatsoberhäupter zweifeln ließen. Insbesondere stärkte der Austausch das nationale Selbstbewusstsein der Armenier, die sich nun erstmals von der Weltgemeinschaft ernst genommen fühlten und sich auf der politischen Weltkarte nicht mehr nur am Rand der Sowjetunion positionierten, sondern ihre Zugehörigkeit in der internationalen Gemeinschaft verorteten. Dies wiederum schuf eine Grundlage, auf der sich im weiteren Verlauf die Idee einer möglichen Unabhängigkeit von Moskau entwickeln konnte. Die Katastrophe wirkte aber nicht nur als Katalysator des gesellschaftlichen Wandels. Gerade durch die Verknüpfung der Katastrophe als Herrschaftsin­ strument mit den eingetretenen Folgewirkungen dieser Bewältigungsversuche können wichtige Erkenntnisse über die Verfasstheit von Staat und Gesellschaft gewonnen werden. Wie kein anderes Ereignis enthüllte das Erdbeben durch seine außergewöhnlich hohen Opferzahlen die Folgen der jahrzehntelangen riskanten Urbanisierungspolitik der Sowjetunion. Dem Diktat der Wirtschaft folgend waren in Armenien Gebäude gebaut worden, die nicht einmal annähernd den lokalen seismologischen Bestimmungen entsprachen und so nicht einmal kleinsten Erschütterungen, geschweige denn einem Erdbeben mit einer Magnitude von 6,9 auf der Richterskala standhielten. So überlebten vor allem jene Menschen, die sich zum Zeitpunkt des Bebens außerhalb eines Gebäudes befanden.332 Die hohe Anzahl der Opfer und das extreme Ausmaß der Zerstörung riefen Ängste nicht nur bei Sowjetbürgern in seismologisch aktiven Gegenden hervor, sondern ließen unionsweit Menschen an der Stabilität und Sicherheit ihrer Behausungen zweifeln. Auch das sowjetische Katastrophenmanagement konnte diese Mängel nicht durch eine adäquate Reaktion kompensieren. So 332 Armenian/Melkonian/Noji/Hovanesian: Deaths and Injuries.

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zeigten sich hier zwar Lernprozesse in Bezug auf die Informationspolitik nach dem Desaster, jedoch machte das Erdbeben unverblümt deutlich, dass der Staat die Wende zur Moderne verpasst hatte. Eine solche Wende hätte bedeutet, im Katastrophenfall statt auf eine kriegsartige Massenmobilisierung auf einen auf die Opfer ausgerichteten Katastrophenschutz zu setzen. Der Anstieg des Konsums in der sowjetischen Bevölkerung ging einher mit höheren Ansprüchen der Bevölkerung an den Schutz des sozialen Status quo, aber dem konnte der Staat immer weniger Rechnung tragen. Zu sehr hatten Kommandowirtschaft, eine fehlgeleitete Wirtschaftspolitik und der Rüstungswettkampf den Staat in Anspruch genommen. Daher investierte der Staat, trotz seines im zweiten Kapitel hervorgehobenen Wissens um die Mängel im Bevölkerungsschutz, nicht in dessen Modernisierung. Stattdessen setzte er weiter auf Massenmobilisierung und Heldengeschichten und Einheitspropaganda. Die Bevölkerung aber verstand spätestens mit der Einreise von mit Stirnlampen und Rettungshunden ausgestatteten Rettungsteams aus dem Westen, dass ihr etwas fehlte, auf das sie Anspruch erhob. Gorbačevs Versuch im Jahre 1989, den Katastrophenschutz einer Grundsanierung zu unterziehen und diesbezüglich eine neue Behörde zu schaffen, war eine Antwort auf diese Einsicht, die jedoch spät kam.333 Des Weiteren zeigte der politische Umgang mit dem Erdbeben die Grenzen der Reformen Gorbačevs auf, die unter der Bevölkerung ohnehin an Zuspruch verloren, so dass er in der Öffentlichkeit eher wie ein Staatsmann wirkte, der den Problemen folgt, statt sie mit Voraussicht zu verhindern oder zu lösen. Denn während Gorbačev zwar die Grenzen zum Westen hin öffnete, ließ er gleichzeitig die eigenen Perestrojka-Zöglinge und Verfechter des Demokratisierungsprozesses, das Karabachkomitee, verhaften. Vor den Augen der Armenier untergrub er damit seine eigene Machtbasis in der Republik, die aus den politischen Häftlingen Märtyrer machte und keine Ruhe gab, bis man sie im Sommer 1989 unter dem Druck der neuen parlamentarischen Strukturen freiließ. In diesem Sinne veranschaulichten die Bewältigungsversuche zudem die während des zunehmenden Kontrollverlusts zustande gekommenen Verselbstständigungsprozesse der Peres­ trojka-Reformen, in denen die Armenier und die von ihnen gewählte Führung das politische Zepter selbst in die Hand nahmen. Die Kata­strophe diente demnach in ihrem Ursprung zwar als Herrschaftsinstrument und als Vehikel für die Propagierung eines sozialistischen Staates, der Umgang mit ihr trug aber gleichzeitig zur Diskreditierung der sowjetischen Macht bei, weil sie die Schwächen des Systems bloßlegte und somit die Legitimität des sowjetischen Projekts infrage stellte. 333 Elie: Late Soviet Responses.

5 Missglückter Wiederaufbau und das Scheitern der Perestrojka

Abb. 2: »Es gibt keine Platten, den Beton ­haben sie nicht geliefert – und dennoch steht die Technik bei uns nicht sinnlos herum …«, V. Chosin. Quelle: Žiliščnoe i kommunal’noe chozjajstvo 12 (1989), S. 13.

»Die zweite Gruppe negativer sozialer Folgen […] – die soziale Entfremdung […].« Gevork Połosyan1

Vor dem Hintergrund des chaotischen Katastrophenmanagements, einer mittlerweile gut informierten sowjetischen Öffentlichkeit und des Karabachkonflikts begann die sowjetische Regierung wenige Wochen nach dem Erdbeben mit dem Wiederaufbau der zerstörten Städte und Dörfer. Ähnlich wie die Kata­ strophe selbst ist auch der Wiederaufbau eine komplexe Verflechtung von sozialen, politischen, technischen und umweltbedingten Komponenten. Er ist ein 1

Armenischer Soziologe (*1950) über die sozialen Folgen der armenischen Erdbebenkatastrophe im Interview im Kommunist 156, 01.07.1989, S. 4.

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Prozess, der wichtige Einblicke in die soziale Ordnung der betroffenen Gesellschaft gibt.2 Die oft herbeigesehnte und auch teilweise in der Forschung konstatierte Tabula rasa nach einer Erdbebenkatastrophe gibt es selten. Vielmehr kommen durch den Wiederaufbauprozess schon vorher bestehende Konflikte zwischen Politikern, Architekten, Finanzexperten und den Bürgern zum Vorschein – darüber, wie die neue Stadt und die Gesellschaft auszusehen haben.3 Im Gegensatz zu dem auch nicht unproblematischen Neubau einer Stadt setzt der Wiederaufbau die Herrscher und Planer oftmals unter Druck, die auferstandene Stadt zu verbessern. Der zeitliche Druck und die Parallelität von Wiederaufbau und Katastrophenversorgung führen aber oftmals dazu, dass innovative Verbesserungspläne scheitern und es höchstens zu einer Wiederherstellung des Status quo kommt.4 Zudem sind die Akteure beim Wiederaufbau nicht nur die angereisten Bauarbeiter und Ingenieure, sondern auch die Betroffenen selbst, die ihren neuen alten Lebensraum gestalten möchten, und zwar meist so, wie er vor der Katastrophe war – ein Umstand, der oft zu Konflikten zwischen den lokalen Machthabern, Experten und Ingenieuren sowie zwischen Externen und Einheimischen führt.5 Bis 1700 bestand das primäre Ziel des Wiederaufbaus nach einer Natur­ katastrophe darin, die durch diese verursachte Abwanderung aufzuhalten und die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.6 Seitdem kommt mit der Nationalstaatlichkeit und der fortschrittsbegeisterten Aufklärung der Wunsch vieler Herrscher hinzu, den Wiederaufbau nach Naturkatastrophen dazu zu nutzen, die politischen Gesellschaftsentwürfe und -utopien in Stein zu meißeln sowie sich selbst als Herrscher zu profilieren.7 Lissabon 1755, Tokio 1923 und Warschau 1945 sind nur drei Beispiele für viele Wiederaufbauprojekte, in denen die Machthaber nicht nur nach primär ökonomischen Aspekten verfuhren, son2 Hoffman: After Atlas Shrugs, S. 310 f. 3 Schencking: The Great Kantō Earthquake, S. 9. 4 Haas, J. Eugene/Kates, Robert W./Bowden, Martyn J. (Hg.): Reconstruction Following Disaster, Cambridge, Massachusetts 1977, S. 267 f. 5 Samuels, Annemarie: Remaking Neighbourhoods in Banda Aceh: Post-tsunami Reconstruction of Everyday Life, in: Matthew Clarke/Ismet Fanany/Sue Kenny (Hg.): Post-disaster Reconstruction. Lessons from Aceh, Abingdon 2010, S. 210–223, hier S. 210; Revet, Sandrine: Sinistrés et survivors. Catastrophes »naturelles«, figures de vulnérables et moments de politique, in: Michel Agier (Hg.): Réfugiés, sinistrés, sans-papiers. Politiques de l’exception, Paris 2012, S. 162–174; Schencking: The Great Kantō Earthquake, S. 9; Oliver-Smith, ­Anthony: Post-Disaster Housing Reconstruction and Social Inequality: A challenge to Policy and Practice, in: Disasters 14 (1990) 1, S. 7–19, hier S. 17 6 Jakubowski-Tiessen: Mythos und Erinnerung, S. 281 f. 7 Ebd.

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dern durch absichtsvoll gestalterische Mittel im Bau ihre Macht inszenierten. Der Wiederaufbau ist schon deshalb ein Herrschaftsinstrument, weil sein Erfolg oder Misserfolg über die Legitimität der Staatsführung entscheidet, schließlich stellt diese dabei stets ihre Fürsorgekompetenzen sowie ihre Fähigkeit, nach einer Krise wieder Normalität herzustellen, unter Beweis. Nicht selten erwies sich die Zerstörung einer Stadt durch eine Katastrophe oder einen Krieg darüber hinaus als wichtiger Impuls für die Stadtentwicklung; beispielsweise kam es nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen im Luftkrieg zerstörten Städten zu einer Planungseuphorie.8 So rief Michael Kalinin, der Vorsitzende des Obersten Sowjets, 1943 sowjetische Architekten dazu auf, die Zerstörung der Städte durch den Krieg als Chance zu begreifen, »wahrhaft sozialistische Städte« zu schaffen. »Sowjetische Architekten«, so schrieb er weiter, fanden »sich nun in einer für die Geschichte seltenen Situation: Sie […] [hatten] die Chance, architektonische Ideen in echte Bauprojekte umzusetzen, in einem enormen und beispiellosen Ausmaß.«9 In dieser Aufbruchstimmung wurde auch der Wiederaufbau von Aschgabat 1948 und Taschkent 1966 von der sowjetischen Staatsführung als Gelegenheit genutzt, um die Stadtentwicklung nach sozialistischem Konzept voranzutreiben oder um die sowjetische Allmacht und die technisch-organisatorische Kompetenz des sowjetischen Regimes zur Schau zu stellen. Insbesondere während des Kalten Krieges wurde der Wiederaufbau zerstörter Städte zu einem Vorzeigeprojekt, mit dem der jeweils anderen Seite die institutionellen Fähigkeiten und Kapazitäten demonstriert wurden.10 Sowohl beim Wiederaufbau von Aschgabat als auch bei dem von Taschkent sollten sich die Städte deutlich von dem Vorgängermodell abheben, damit die kommunistische Ideologie und die Visionen einer kommunistischen Zukunft einen ganz konkreten Anschauungswert erhielten. Dazu gehörte insbesondere, die als rückständig empfundene Architektur der Städte zu modernisieren und den angestrebten sowjetischen Lebensstandard zu repräsentieren. Durch die zentralisierte Planung waren beide Großprojekte zudem eine günstige Gelegenheit, die zentralasiatischen Republiken enger an Moskau zu binden, was sich deutlich nicht nur in der Architektur zeigte, sondern auch in der Einwanderung europäischer Russen und Ukrainer nach Zentralasien.  8 Meuser: Die Ästhetik der Platte, S. 524.  9 Kalinin, Michail: Vosstanovitel’noe stroitel’stvo i zadači architektorov, in: Architektura SSSR 6, 1944, S. 1, zitiert in: Chmelnizki, Dmitrij: Soviet Town Planning during the War, 1941– 1945, in: Jörn Düwel/Niels Gutschow (Hg.): A Blessing in Disguise. War and Town Planning in Europe 1940–1945, Berlin 2013, S. 320–345, hier S. 322. 10 Elie/Huret: Soviet and American Ways, S. 4.

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Eingebettet in diese weltanschaulichen Zusammenhänge wurden diese und viele andere sowjetische Großbaustellen zur »Schmiede der Gesellschaft« und lassen so immer Aussagen über die Zukunftsvisionen und -realitäten der jeweiligen Herrscher zu.11 Auch im armenischen Fall bot der Wiederaufbau in den Augen der Regierung eine Möglichkeit, die sich von Moskau immer weiter entfernende und mittlerweile dissidente Kaukasusrepublik wieder an das Zentrum zu binden, die politischen Visionen zu inszenieren und sich als Staatsmacht zu legitimieren. Doch der Kontext hatte sich inzwischen stark verändert. In Armenien ging es nun nicht mehr darum, die Städte zu modernisieren, durch sie den Sozialismus zu präsentieren, indem vorrevolutionäre Stadtzentren zerstört werden wie dies in Taschkent der Fall gewesen ist. Nach dem Erdbeben 1988 stand die möglichst schnelle Behausung der Betroffenen im Vordergrund. Dieses Ziel, obwohl weitaus niedriger gesteckt als jene von 1948 und 1966, wurde jedoch nicht erreicht. Daher wirkte sich der Wiederaufbau in Armenien Ende der 1980er Jahre, wie der armenische Soziologe Gevork Połosyan in der eingangs zitierten Formulierung feststellte, massiv auf das soziale Gefüge der Republik aus: Sie zerfiel auch innerlich – mit weitreichenden Folgen für das ganze Land. Anhand der Wiederaufbauprozesse der drei vom Erdbeben am stärksten betroffenen Städte Leninakan, Spitak und Kirovakan fragt das vorliegende Kapitel daher, wie sich die politischen Beziehungen zwischen dem Zentrum und Armenien vor dem Hintergrund der Perestrojka, des neuen Parlamentarismus und des anschwellenden Karabachkonflikts auf den Baustellen manifestierten und inwiefern der Wiederaufbau zur Destabilisierung des Systems beitrug. Darüber hinaus geht das Kapitel der Frage nach, ob und auf welche Weise die Wiederaufbaupläne der neuen Städte die »Miniaturisierung der Utopie«12, der sozialistischen Idee, im Vergleich zu 1966 in reduzierter Form, umsetzten. Diese Frage ist deshalb wichtig, weil dieses architektonische Großprojekt es vermochte, die Zukunftsvisionen von Gorbačevs Staat zu vergegenständlichen.

11 Neutatz, Dietmar: Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Großbaustelle des Stalinismus (1897–1935), Köln 2001; Gestwa: Die Stalinschen Großbauten; Guth, Stefan: Stadt der Wissenschaftlich-Technischen Revolution: Ševčenko, Kasachstan, in: Boris Belge/ Martin Deuerlein (Hg.): Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014, S. 97–130. 12 Scott, James C.: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998, S. 5. Scott sieht in der Realisierung der Utopien in Form von Modellstädten eine typische Strategie technokratischer Visionäre, die ansonsten an der Umsetzung ihrer Utopie gescheitert sind.

Die neuen Generalpläne

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5.1 Die neuen Generalpläne als Bühne für Zukunftsvisionen Mit der kommunistischen Losung »Wir bauen unser Leninakan in zwei Jahren wieder auf« kündigte Gorbačev schon wenige Tage nach dem Erdbeben das überambitionierte und somit riskante Ziel für den Wiederaufbau Nordarmeniens an.13 Auch wenn die Umsetzung dieses Plans im Interesse der auf der Straße und in Zelten hausenden Bevölkerung stand, machte er ihr, den Bauarbeitern und Planern nicht nur ein Versprechen, das niemand einhalten konnte, sondern gab gleichzeitig ein für die Nachfolgegeneration gefährliches Diktat der Zeit vor. In dieser, gemessen am Ausmaß der Zerstörung, sehr kurzen Frist sollten ca. acht Millionen Quadratmeter Wohnfläche wiederaufgebaut werden, was einem Anteil von 17 Prozent der Wohnflächen in der gesamten Republik entsprach.14 Dazu kamen noch Schulen, Krankenhäuser, Fabriken und die Infrastruktur für das Transportwesen. Zum Vergleich: In Taschkent wollte man vier Millionen Quadratmeter in vier Jahren aufbauen.15 Die Projektpläne für die drei am stärksten von Erdbeben betroffenen Städte Leninakan, Spitak und Kirovakan können sehr gut die neuen Visionen der Perestrojka-Reformen mit ihrer Politik der Annäherung an den Westen und ihrem menschlichen Sozialismus veranschaulichen. Zudem zeigen sich schon im Planungsprozess althergebrachte Probleme sowjetischer Großprojekte, die zur Erfüllung des Zeit- und Gelddiktats nicht nur die lokale Expertise der Peripherie ignorierten, sondern auch die wissenschaftliche Expertise trotz Beteuerungen einer Besserung ungehört an den Rand drängten. Die sich darauf beziehenden Debatten in der sowjetischen Öffentlichkeit, um die es in diesem Unterkapitel ebenso geht, verdeutlichen wiederum die gewaltige Dynamik von Glasnost’, die sich in diesem Sinne als wahre Zeitbombe mit verzögerter Explosion offenbarte.16 Denn diese Debatten zwischen Zentrum und Peripherie, die schon vor Glasnost’ im Zusammenhang mit Bauprojekten existierten, aber selten an die Öffentlichkeit drangen, verstärkten nun die Fliehkräfte im Land.

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Izvestija 346, 10.12.1988, S. 1–2. Kommunist 151, 26.06.1989, S. 1. Meuser: Die Ästhetik der Platte, S. 526. Elie/Huret: Soviet and American Ways.

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Bewahrung des Alten – Wiederaufbau in Leninakan In der zweitgrößten Stadt Armeniens, Leninakan (heute Gjumri), waren durch das Erdbeben bis zu 80 Prozent der Gebäude zerstört worden. Hier sollten 2,01 Millionen Quadratmeter Wohnfläche wiederaufgebaut werden.17 Im Stadtzentrum waren vorrangig neungeschossige Wohnhäuser zerstört worden, weshalb sich den Planern in Armenien die Frage stellte, ob und, wenn ja, wo sie wiederaufgebaut werden sollten. Eine Variante wäre gewesen, die Ruinen zu entfernen und die Wohnhäuser an alter Stelle wiederaufzubauen. Das hätte jedoch viel Zeit in Anspruch genommen, die nicht zur Verfügung stand, wollte man den Bewohnern doch schnell wieder eine Behausung herrichten. Zudem sollten aufgrund des nun erkannten oder vielmehr des nun veröffentlichten seismischen Risikos keine Gebäude mehr mit mehr als vier Stockwerken gebaut werden. So lautete jedenfalls die offizielle Version, denn in Taschkent wurden Ende der 1980er Jahre bereits hochwertige seismologisch sichere Gebäude von bis zu 16 Etagen gebaut, die jedoch aufgrund ihrer Konstruktionsweise kostenintensiver waren als die vier- bis fünfgeschossigen »Chruščevkas«.18 Das waren jedoch offenbar Ausnahmen. Denn in Taschkent wurden von dem vor dem Erdbeben geplanten 50-prozentigen Anteil neungeschossiger Wohnneubauten aus Kosten- und Zeitgründen nur zehn Prozent gebaut, wohingegen sich die Zahl der viergeschossigen Bauten verdoppelte.19 Da viele der zusammengestürzten Wohnhäuser im Zentrum Leninakans jedoch neungeschossig waren, hätte die Fläche nicht ausgereicht, um alle Bewohner in nun halb so großen Wohnhäusern im Stadtzentrum unterzubringen. Der Planungskommission unter der Leitung von Nikolaj Ryžkov lagen zwei Projektvorschläge vor. Die Architekturagentur »Erevanproekt« schlug vor, Leninakan zu erhalten und nur um einen kleinen vom Stadtzentrum etwa sieben Kilometer entfernten Vorort nördlich der Stadt zu vergrößern, wo jene Leute, die vorher im Zentrum gewohnt hatten, nun untergebracht werden sollten. Der andere Vorschlag, der von der anderen sowjetarmenischen Architekturagentur »Armgosproekt« unterbreitet wurde, sah die Errichtung fünf kleiner Sputnikstädte südöstlich von Leninakan vor – eine Idee, die bereits vor dem Erdbeben als Entwurf vorgelegen hatte, da die Stadt aufgrund der demografischen Entwicklung vergrößert werden sollte. Es gab hierfür auch bereits eine Machbarkeitsstudie von Mai 1988, welche in Zusam17 HAA f. 113, op. 161, d. 167, l. 7, Generalplan von Leninakan vom 11. April 1989. 18 Meuser, Philipp: Seismic Modernism. Architecture and Housing in Soviet Tashkent, Berlin 2016, S. 262. 19 Meuser: Die Ästhetik der Platte, S. 527.

Die neuen Generalpläne

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menarbeit mit Geologen, Hydrologen und Seismologen ausgearbeitet worden war, um die Risiken für die Südostbebauung richtig einzuschätzen. Im Ergebnis hatten die Wissenschaftler festgestellt, dass die Bebauung im Nordwesten eine größere Gefahr bei neuen Erdbeben bedeutete, da diese zu bebauende Stelle näher an zwei aneinanderliegenden tektonischen Platten lag und die Erdbebenstärke hier dadurch 1–2 Punkte mehr betragen könne als im Südwesten.20 Heute ist es so, dass die Bewohner der neuen Stadtviertel Ani und Marmaschen im Norden Gjumris ein Erdbeben der Stärke 4 wesentlich stärker spüren als anderswo in Gjumri.21 Zudem waren armenische Geologen zu dem Schluss gekommen, dass die Gefahr von Erdrutschen in dieser Region sehr hoch ist, da Ani und Marmaschen direkt auf einem Erdrutschsockel gebaut wurden.22 Ryžkov entschied sich dennoch aus Kosten- und Zeitgründen für den Entwurf von »Erevanproekt« – für die Bebauung im Norden, auch wenn noch keine wissenschaftlich fundierte Risikoanalyse vorlag.23 Zudem sollten die neuen Stadtviertel, die sogenannten Mikrorajons, zwei Kilometer näher am Stadtzentrum Leninakans sein, als es bei einer Südbebauung mit den Sputnikstädten der Fall gewesen wäre. Um Kosten zu sparen, entschied sich die Kommission für den Norden, und um Zeit zu sparen, entschied sie sich offenbar gegen die Durchführung einer wissenschaftlichen Risikoanalyse des Gebietes im Norden. Das Diktat der Zeit und das der Kosten bestimmt wie gewohnt über die Sicherheit der sowjetischen Bevölkerung.

20 GARF f. 5446, op. 162, d. 262, l. 165–175, Bericht der Wissenschaftler A.G. Aganbegjan und G.V. Starovojtova für N.I. Ryžkov vom 14. September 1990. 21 Interview mit Genrix Gasparayan (*1950), Gjumri, 02.06.2015. 22 Interview mit Denis Mileti (*1945), per E-Mail, 24.11.2016. 23 Interview mit Grigor Azizyan (*1955), Jerewan, 16.10.2013.

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Missglückter Wiederaufbau Abb. 3: Generalplan von Gjumri, ca. 1991, 1:10 000. Quelle: Bürgermeisteramt Gjumri

Parallel zum Bau eines neuen Mikrorajons im Nordwesten sollten sich die Bauagenturen um die Restauration des Stadtzentrums kümmern. An vielen Stellen wurde die Wichtigkeit betont, in Leninakan das nationale Kolorit beizubehalten und eine »armenische Stadt« wiederaufzubauen.24 Hier zeigte sich der neue Führungsstil der sowjetischen Regierung, aber auch der gesellschaftliche Wandel. So sagte Nikolaj Ryžkov über den Wiederaufbau von Leninakan: »Es wird nicht so kommen, dass wir nach dem Ende der Bauarbeiten feststellen werden, dass wir weit entfernt sind von der armenischen Architektur, weil wir nämlich eine armenische Stadt bauen werden.«25 Leninakan galt aufgrund seiner weit zurückreichenden Geschichte und historischen Bedeutung als einzige armenische Stadt, die über die Zeit der sowjetischen Urbanisierung ihre Eigenstän24 Sovetakan Hayastan 27, 29.01.1989, S. 1. 25 Ebd.

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185 Abb. 4: Generalplan des neuen Stadtviertels Ani, nördlich von Gjumri, o. Jahresangabe und Maßstab. Quelle: Bürgermeisteramt Gjumri

digkeit und ihre nationalen architektonischen Besonderheiten behalten hatte.26 Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Politbüro in Anbetracht der politischen Lage und der Zugeständnisse an die Nationalitäten auf die Bewahrung dieser architektonischen Besonderheiten Wert legte. Das Politbüro bestimmte daher schon Ende Dezember 1988, dass beim Bauen auf nationale Bautraditionen geachtet werden und dem Wiederaufbau historischer und architektonischer Denkmäler besondere Aufmerksamkeit gelten sollte, was einen großen Gegensatz zum Wiederaufbau in Taschkent bildete.27 Indem die Regierung auf die Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadt einging, kommunizierte sie, dass sie die nationalen Bedürfnisse wahrnahm und den historischen Sta26 Banvor, 02.03.1989, S. 3. 27 GARF f. 5446, op. 149, d. 293, ll. 10–27, hier l. 15, Beschluss des Politbüros über die Maßnahmen zur Beseitigung der Erdbebenfolgen vom 27. Dezember 1988.

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tus sowie die nationale Bedeutung der Stadt nicht gefährden wollte. Ende der 1980er Jahre war es in der Sowjetunion nicht mehr so einfach möglich, sich gegen die Bedürfnisse der Akteure in den Sowjetrepubliken zu stellen, zu groß war nun ihr Selbstbewusstsein und ihre Möglichkeit, sich gegen den Kreml zu positionieren. Der Städtebau sollte zudem unter Gorbačev ohnehin einer Reform unterzogen werden. Schon im Herbst 1987 hatte das Politbüro in Moskau in Bezug auf den Städtebau in der Sowjetunion kritisiert, dass man bisher »der Bedeutung von Architektur zu wenig Beachtung geschenkt« habe, wodurch die sowjetischen »Städte ihren Charakter verloren« hätten.28 Weiter hieß es in dem Beschluss, die Architekten und Bauleiter sollten in Zukunft »keine einheitlichen Massenbauten« mehr zulassen und mehr auf die Erhaltung des »historische[n] Stadtbild[es]« sowie auf nationale Bautraditionen achten.29 Damit kritisierte das Politbüro das aus Chruščevs Massenwohnungsbauprogramm der 1960er Jahre resultierende Erstarren der städtebaulichen Ästhetik, wodurch sich Städte immer mehr ähnelten, architektonische Vielfalt zunehmend verschwand und die Architektur oftmals jeden Bezug zum Ort verloren hatte.30 Gorbačev wollte auch das Bauwesen in seine Reformen einbinden und Städte bauen, die sich an den Bedürfnissen ihrer Bewohner orientierten – Ziele, denen auch schon beim Bau von Slavutič, der Ersatzstadt für das durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl unbewohnbar gemachte Prypjat’, Rechnung getragen wurde.31 Die ersten Bewohner aus Leninakan sollten bereits im Juni 1989 die neuen Mikrorajons besiedeln, die im Generalplan nach sowjetischem Standard mit zahlreichen Grünflächen sowie ausreichend Schulen und Gebäuden für kulturelle oder soziale Zwecke ausgestattet waren.32 Westlich des neuen Stadtviertels Ani sollten Sportstätten, Parkanlagen und Promenaden angelegt werden. Der Abstand zwischen den neuen Mikrorajons und dem Leninakaner Stadtzentrum betrug jedoch stattliche sieben Kilometer, was ungelöste Fragen nach Transportmöglichkeiten zum Zentrum und den in diesem Zusammenhang 28 HAA f. 1, op. 82, d. 20 ll. 21–47, hier l. 28, Beschluss des Politbüros und des Ministerrates der UdSSR über die weitere Entwicklung der sowjetischen Architektur und des Städtebaus vom 19. September 1987. 29 Ebd. 30 Meuser: Die Ästhetik der Platte, S. 401. Ähnliches wird auch über die DDR-Architektur konstatiert in: Zervosen, Tobias: Architekten in der DDR. Realität und Selbstverständnis einer Profession, Bielefeld 2016, S. 314 f. 31 Gubkina, Ievgeniia: Slawutytsch – Die letzte Planstadt der Sowjetunion, in: Peter Knoch/ Heike Maria Johenning (Hg.): Architekturführer Kiew, Berlin 2015, S. 192–251, hier S. 201 f. 32 Banvor, 14.03.1989, S. 5; HAA f. 113, op. 161, d. 167 l. 7, Generalplan von Leninakan vom 11. April 1989.

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entstehenden Kosten aufwarf. Und schon seit Beginn der 1980er Jahre hatten sowjetische Architekten und Soziologen kritisiert, dass solche Mikrorajons die Agrar- und Grünflächen von Städten zerstören würden.33 Aber so kamen die Planer der Erfüllung von Gorbačevs Versprechen, die Stadt in zwei Jahren wiederaufzubauen, am nächsten. Bis zum Jahr 1995 sollte laut Generalplan Leninakan wieder eine Stadt von industrieller und kultureller Bedeutung mit 230.000 Einwohnern werden. Entsprechend den soziokulturellen Entwicklungen sahen die Stadtplaner für Leninakan keine grundlegenden Neuerungen vor, wie es nach anderen Naturkatastrophen wie beispielsweise in Taschkent der Fall gewesen war. Im Wettbewerb des Kalten Krieges hatte Taschkent die Leistungsfähigkeit und Modernität des sowjetischen Regimes zur Schau stellen sollen, koste es, was es wolle. Für Leninakan aber war die sowjetische Regierung mehr an einer Rückkehr zum Status quo ante der Stadt interessiert; innovative Baupläne, die Leninakan moderner hätten machen können, wurden nicht entworfen. Aber Leninakan war eben auch nicht Taschkent – das Fenster zum Orient –, sondern nur die zweitgrößte Stadt einer für die Sowjetunion relativ unbedeutenden Republik ohne Repräsentationscharakter. Leninakan nicht mit Fokus auf Innovation und Repräsentativität wiederaufzubauen kam der Idee einer Architektur mit »menschlichem Antlitz« zudem näher: Es symbolisierte ein Interesse am Wohlbefinden der betroffenen Bevölkerung. Abgesehen davon, dass die finanziellen Mittel für einen prestigeträchtigen Wiederaufbau Leninakans ohnehin nicht gereicht hätten, hätte eine aufwendige Modernisierung der Stadt darüber hinaus vermutlich die Glaubwürdigkeit von Gorbačevs Sparpolitik untergraben. Damit waren die Bewohner Leninakans auch einverstanden. Armenische Architekten, Seismologen sowie die Stadtbevölkerung kritisierten aber den Standort des neuen Mikrorajons und die Rolle Moskaus im Entscheidungsprozess. Sie waren gegen den Vorschlag, im Nordwesten zu bauen, da sie dadurch eine große Fläche an fruchtbarem Schwarzerdeboden für ihre Landwirtschaft verlieren würden, und traten daher geschlossen für eine Bebauung im Süden ein. Während im Norden ein Hektar 120.000 Rubel wert war, kostete er im Süden nur 80.000 Rubel.34 Für die Bewohner Leninakans war es darüber hinaus völlig inakzeptabel, dass ihre neuen Wohnorte so weit entfernt vom Stadtzentrum liegen sollten.35 Denn so konnten sie kaum ihre sozialen und kulturellen Interaktionen aus der Zeit von vor dem Erdbeben wieder aufnehmen, was für die 33 Pallot, Judith/Shaw, Denis J. B.: Planning in the Soviet Union, London 1981, S. 253–256. 34 Ogonek 36, 1989, S. 28. 35 Interview mit Denis Mileti (*1945), per E-Mail, 24.11.2016.

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Rehabilitation von Katastrophenopfern wichtig ist. Denis Mileti, der US-amerikanische Pionier der Katastrophensoziologie, war sechs Monate nach dem Erdbeben vor Ort und erinnerte sich, wie sehr sich die Bevölkerung Leninakans von der eigenen Regierung in den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen fühlte.36 Ihm gegenüber kritisierten die Bewohner zudem die Größe der neuen Wohnungen, die nicht für eine typische armenische Großfamilie gebaut waren, sondern Plänen russischer Wohnhäuser entsprachen.37 Ein großes Thema für viele Kritiker der Baupläne war daher die Dominanz der Moskauer Behörden, welche die lokale Expertise sowie die Bedürfnisse der Bewohner an den Rand drängten.38 Jedoch muss hier berücksichtigt werden, dass »Erevanproekt« eine armenische Behörde war und dass die Idee der Nordwestbebauung von ihr stammte. Unklar ist allerdings, ob zum Zeitpunkt der ursprünglichen Konzeption den Architekten von »Erevanproekt« die Gefahren und Nachteile schon bekannt waren und ob sie sich möglicherweise aus Karrieregründen nicht gegen ihren eigenen Plan wendeten, obwohl er neue Verwundbarkeiten für die Bewohner schuf. Ryžkov hatte auf der Pressekonferenz zum Wiederaufbau am 20. Dezember 1988 versprochen, dass »alle Projekte für die gesellschaftliche Diskussion offenstehen« würden und dass »[d]ie endgültige Entscheidung […] nur nach Meinung derjenigen getroffen [werde], die auch in den Orten leben«39, was im Vergleich mit dem Ablauf bei vergangenen sowjetischen Wiederaufbauprojekten einer großen Neuerung entsprach. Jedoch war nach Ansicht einiger Bewohner und Journalisten die Realität weit davon entfernt und die Diskussionen um die Pläne wurden zur Plattform für Debatten um die Beziehungen zum Zentrum. So kritisierte ein Journalist in der armenischsprachigen Presse im Februar 1989, dass Entscheidungen ausschließlich von Moskauer Spezialisten getroffen wurden, welche die geografischen Gegebenheiten Armeniens nicht kennen würden.40 Am 29. März 1989, erst zwei Monate nachdem die ersten Bauarbeiten im Nordwesten begonnen hatten, fand im Leninakaner Stadttheater eine öffentliche Versammlung unter der Leitung von E. M. Kirakosyan, dem Bürgermeister Leninakans, statt, auf 36 Ebd. Siehe auch Mileti, Denis: Destruction in Armenia: A Sociologist’s Notes Upon Returning from the Soviet Union – an Univited Comment, in: Natural Hazards Observer 13 (1989) 4, S. 1–2. 37 Interview mit Denis Mileti (*1945), per E-Mail, 24.11.2016. 38 Ebd. Das stellte auch schon Klaus Gestwa für die Bauarbeiten an den Wasserkraftwerken in den 1950er und 1960er Jahren fest, vgl. Gestwa: Die Stalinschen Großbauten, S. 181. 39 Komsomol’skaja Pravda 291, 21.12.1988, S. 1, 3. 40 Sovetakan Hayastan 28, 01.02.1989, S. 3.

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der die verschiedenen Bebauungspläne zur Diskussion gebracht werden sollten. Die Bürger reagierten empört, weil es sich ihrer Meinung nach bei dieser Diskussion nicht um eine Wahl, sondern um einen Befehl gehandelt hatte und weil sie schon seit zwei Monaten mit eigenen Augen die Umsetzung des Generalplans hatten beobachten können, über den sie auf dieser Versammlung nun nur noch informiert wurden. Auch wenn diese öffentliche Diskussion des Generalplans im historischen Vergleich für die Sowjetunion einer Revolution gleichkam, schien dies den Anwesenden immer noch nicht genug. Sie fühlten sich von dieser für sie so lebenswichtigen Entscheidung über die Lage ihres zukünftigen Wohnortes ausgeschlossen und eines jeden Mitspracherechts beraubt, auch weil die endgültige Entscheidung aus Moskau kam und viele Expertenmeinungen von einheimischen Hydrologen und Seismologen nicht in die Entscheidungsfindung eingeflossen waren. Das brachten sie auch auf der Versammlung lautstark zum Ausdruck, die in einem Ogonek-Artikel beschrieben wird: »Man hat uns vor vollendete Tatsachen gestellt! Das, was hier passiert, ist eine neue Kata­ strophe! Sie begehen ein Verbrechen!«, riefen die Teilnehmer dort anscheinend aus.41 Weiter beschwerten sie sich wohl, dass die Regierung in Moskau mit der Nordwestbebauung sämtliche Gefahren – von Erdrutschen bis zu Erdbeben – ignoriere, nur um schnell und billig den Wiederaufbau voranzutreiben.42 Dieser Prozess der Entscheidungsfindung war nach der Meinung eines Wissenschaftlers aus Moskau »eine helle Illustration der sich fortsetzenden Herrschaft der Kommando-­Verwaltungsmethode« und sei »durch mit Macht verkleidete« Menschen getroffen worden, aber »nicht von Spezialisten«.43 Abgesehen von der in diesen Aussagen zum Vorschein kommenden Wut verweist dieser öffentliche Diskurs im Vergleich zur Berichterstattung über das Katastrophenmanagement auf die zunehmende Öffnung unter Glasnost’ während des Jahres 1989. In dem Ogonek-Artikel wurden nicht mehr nur einzelne lokale Bauherren kritisiert, sondern auch tiefliegende strukturelle Probleme des sowjetischen Systems an den Pranger und die Weisungsbefugnis und -kompetenz Moskaus öffentlich infrage gestellt. Der Streit um den Standort der Stadtviertel wurde so zur Bühne des sowjetischen Nationalitätenproblems, denn die Zentralmacht wurde hier als eine dargestellt, die um ihrer eigenen Interessen willen das Risiko der Menschen in der Peripherie in Kauf nahm.

41 Ogonek 36, 1989, S. 27–29, hier S. 28. 42 Ebd. 43 Ebd.

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Spitak – städtebauliches Denkmal der Perestrojka Der Wiederaufbau von Spitak illustrierte das Bedürfnis des Politbüros, den Wiederaufbau zur Machtlegitimierung zu nutzen. Denn während die Pläne für Leninakan auf eine Wiederherstellung des Status quo ante abzielten, waren die Pläne für die kleine Kreisstadt Spitak mit ihren ehemals 18.500 Einwohnern, von denen mehr als die Hälfte (9733) während des Erdbebens umgekommen waren, überambitioniert.44 Die Stadt war am nächsten am Epizentrum gelegen und wurde daher bei dem Beben fast vollständig zerstört, so dass sie auf einer Generalstabskarte von 1990 als Ruine markiert wurde und damit regelrecht von der Karte verschwand.45 »Die Stadt als eine Anlage, bestehend aus Infrastruktur, existierte nicht mehr«, hieß es dazu auch in einem Bericht des sowjetischen Verteidigungsministeriums.46 Zunächst gab es Überlegungen, die Stadt in Form eines Mikrorajons neben Aparan umzusiedeln, einer südlich von Spitak in 40 Kilometer Entfernung gelegenen Kleinstadt.47 Sehr schnell traf man im Politbüro jedoch die Entscheidung, dass Spitak weder verschwinden noch als Appendix einer anderen Stadt enden oder einfach nur wieder am gleichen Ort aufgebaut werden sollte. Stattdessen sollte eine vollkommen neue Stadt sieben Kilometer weiter westlich vom Ursprungsort aufgebaut werden, weil es dort angeblich sicherer war und man auch nicht erst darauf warten müsste, dass die Trümmer beseitigt würden. Der Generalplan sah vor, das alte Spitak in einen gigantischen Gedenkpark zu verwandeln, in dem es nur einige wenige Einfamilienhäuser geben sollte.48 Die Stadt war nicht nur seismologisch gesehen das Epizentrum des Erdbebens, sondern wurde zum »Epizentrum der Solidarität und Zusammenarbeit« erklärt.49 Die Regierung plante daher, aus ihr eine Symbolstadt besonderer Art zu machen, in deren Architektur sich die internationale Hilfe für Armenien wiederfinden sollte. Die Stadt sollte als Ikone dienen, welche die reformierte und offene, international vernetzte Sowjetunion und die politischen Absichten Gorbačevs widerspiegelte. Damit die stadtarchitektonische Symbolhaftigkeit der neuen Öffnung zum Westen nicht nur im Ergebnis sichtbar war, sondern auch im Planungspro44 45 46 47

Zahlen aus: Krimgold: Economic and Social Impacts, S. 7015. Siehe Generalstabskarte IWK 1:1.000.000, 1990. Krimgold: Economic and Social Impacts, S. 7011. Stepanjan, R. S.: Ispytanie na pročnost’, in: L. V. Afanas’eva (Hg.): Spitakskij Memorial. 1988– 2008, Moskau 2008, S. 299–305, hier S. 303. 48 HAA f. 113, op. 161, d. 27, l.11, Generalplan von Spitak, Dezember 1988. 49 So der Vorstand von Goskomarchitektura Armeniens, Ašot Aleksanyan, in: Kommunist 145, 20.06.1989, S. 3.

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zess, riefen der stellvertretende Ministerpräsident, Ivan Silaev, und der Erste Partei­sekretär Armeniens, Suren Harut’unyan, Anfang März 1989 international renommierte Architekten wie Pierre Vago und Pedro Ramíres Vázquez in einem Seminar in Jerewan zusammen.50 Die politische Neuausrichtung der Sowjetunion nach 1985 hatte zur Folge, dass westliche Architekturdiskurse noch stärker rezipiert und westliche Experten zurate gezogen wurden.51 Auf dieser Versammlung in Jerewan entstand die Idee der Durchführung eines internationalen Wettbewerbs. Schon für den Wiederaufbau von Skopje nach dem Erdbeben im Jahre 1963 hatte es einen internationalen Wettbewerb mit Unterstützung der Vereinten Nationen gegeben, aus dem der japanische Architekt Kenzo Tange als Gewinner hervorgegangen war, der dann den Generalplan für die jugoslawische Stadt entworfen hatte.52 Die Leitung des Wettbewerbs für den Generalplan von Spitak übernahmen diesmal nicht die Vereinten Nationen, sondern die in Sofia ansässige Internationale Akademie der Architekten (Meždunarodnaja akademija architektury – MAA).53 Georgi Stoilov, der Leiter der erst im September 1987 gegründeten Akademie, hatte an diesem Wettbewerb ein ganz besonderes Interesse. Seit Ende der 1960er Jahre hatte er verschiedene Regierungsposten innegehabt – vom Bürgermeisteramt in Sofia bis zum Minister für Architektur in Bulgarien – und er hatte sich dabei zum großen Ziel gesetzt, aus Sofia eines der anerkanntesten Zentren für Weltarchitektur zu machen.54 Zu diesem Zweck hatte er vermutlich auch die Internationale Akademie der Architekten gegründet, die nun mit den Wiederaufbauplänen endlich die große Chance bekam, wahrgenommen zu werden. Für Georgi Stoilov war dies eine einzigartige Gelegenheit, zu Ruhm zu gelangen, wegen derer er sich dem Politbüro in Moskau mit der Idee auch förmlich aufdrängte. Der Wettbewerb fand mit der Unterstützung des Staatlichen Komitees für Architektur und Städtebau der UdSSR (Goskom­ architektura SSSR) und des Bundes der Architekten der UdSSR im Mai 1989 drei Wochen lang in Bulgarien unter der Teilnahme von 46 Architekten aus insgesamt 16 Ländern statt.55 Zudem nahmen an diesem für eine kleine Kreisstadt überdimensionierten Ereignis 17 Architekten aus Armenien teil. Der Wettbe50 Sovetakan Hayastan 56, 05.03.1989, S. 1. 51 Gubkina: Slawutytsch, S. 194. 52 Lozanovska, Mirjana: Kenzo Tange’s Forgotten Master Plan for the Reconstruction of ­Skopje, in: Fabrications 22 (2012) 2, S. 140–163. 53 Sovetakan Hayastan 62, 14.03.1989, S. 4. 54 Chajt, Vladimir L.: Georgi Stoilov, in: Architektura SSSR 3, 1989, S. 52–53. Der Artikel über ihn erschien in der Mai/Juni-Ausgabe, also genau zum Zeitpunkt des Wettbewerbs, jedoch ohne dass der Wettbewerb erwähnt wurde. 55 International Academy of Architecture: Journal Spitak Workshop 1, 1990, S. 4.

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werb erhielt große nationale und internationale Aufmerksamkeit. So reiste ein US-amerikanischer Senator eigens zum Wettbewerb an und die Nachrichtensendung »Vremja« dokumentierte die Entwicklungen.56 Gewinner des Wettbewerbs wurde, wie auch schon für das Bauprojekt von Leninakan, die nur aus Armeniern bestehende Gruppe der Architekten von »Erevanproekt«, einer sowjetarmenischen staatlichen Bauagentur, die noch nie vorher in der armenischen Provinz gebaut hatte.57 Ihr Konzept stach durch seine Symbolhaftigkeit und Extravaganz hervor. Es sah vor, die Stadt in Form eines Kreises zu bauen, in dessen Mitte sich die Innenstadt mit Einkaufsmöglichkeiten und Verwaltungsgebäuden befand. Vom Zentrum aus sollten drei Straßen nach außen in die Wohnsiedlungen führen. Der Kreis, der ursprünglich eine Hand sein sollte, welche die Hilfe der Welt aufnimmt, stand als Symbol für die internationale Hilfe, für Brüderlichkeit, Sonne und Feuer; daher auch der Projektname »Heliopolis« – die Sonnenstadt.58 Die Stadt sollte einem Teppich ähneln, in dem die Sonne, also der Kreis, für einen ökologischen und seismisch sicheren Städtebau stand. Die Innenstadt sollte als große Fußgängerzone verkehrsund industriefrei sein. Einerseits erinnert die kreisförmige Konzeption an die Stadtarchitektur Jerewans, welche in den 1920er Jahren konzipiert wurde und in der das Zentrum ebenfalls von einem Kreis umgeben wird. Andererseits ist die Idee der Sonnenstadt aber auch aus anderen Kontexten bekannt. So war Heliopolis eine altägyptische Stadt, in der der Gott Hu verehrt wurde, der als Hilfsgott der Willensbildung die Weltschöpfung vollzog. Nicht weniger mächtig ist die Analogie zu Tommaso Campanellas »La città del Sole« (Die Sonnenstadt) von 1602. Das Werk handelt vom Aufbau eines idealen Staates, der auf einer kollektivistischen Gesellschaftsordnung basiert und von einer päpstlichen Universalmonarchie gelenkt wird. Zudem widmete sich der berühmte sowjetische Architekt Ivan Leonidov (1902–1959) nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Konzipierung einer »Stadt der Sonne« (Gorod Solnca). Von ihm ist bekannt, dass er sich von Campanellas Utopie der Sonnenstadt inspirieren ließ.59 Ob die Architekten an diese Sozialutopie oder an die ersten Entwürfe für Novokuznec 56 Kommunist 167, 15.07.1989, S. 4. 57 Warum in beiden Fällen »Armgosproekt« nicht ausgewählt wurde, jene Agentur, die eigentlich für den Städtebau in der Provinz zuständig war, konnte bis zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Arbeit nicht nachvollzogen werden. 58 So beschreibt es der Gewinner des Wettbewerbs, Gevork Aramyan, in einem Interview mit der Zeitung Kommunist 167, 15.07.1989, S. 4. 59 Bucharova, Ekaterina: Obraz Colnca v proektach architektora Ivana Leonidova 1940–1950ch godov, in: Akademičeskij vestnik uralniiproekt RAASN 3 (2014), S. 96–100, hier S. 97.

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Abb. 5: Entwurf des Stadtplans für Spitak aus dem Jahre 1989 von Erevanproekt. Quelle: Bürgermeisteramt in Spitak.

von 1948 oder für Stalingrad von 1945 dachten, die ebenfalls ein kreisförmiges Zentrum und von diesem ähnlich wie Sonnenstrahlen abgehende Straßen haben, ist nicht bekannt. Das Konzept der kreisförmigen Stadt und die Assoziation mit der Sonne waren also keineswegs neu. Gemeinsam ist allen Beispielen jedoch, dass sie einer Art Utopie folgten. Die Tatsache, dass sich das neue städtebauliche Konzept Spitaks an die utopischen Ideen von Campanella oder Leonidov anlehnte, kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Spitak eine »Miniaturisierung« der sozialistischen Utopie darstellen sollte.

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Trotz aller Utopie waren die Architekten auch an einer Anpassung an reale Bedingungen interessiert. Wie schon beim Bau von Slavutič griffen die Planer des neuen Spitak auf Desurbanisierungs- und Gartenstadtkonzepte zurück, um den Forderungen nach einer »ökologischen« und »menschlichen« Stadt nachzukommen.60 Von dem erhöhten Umweltbewusstsein und den Folgen der Kata­ strophe in Tschernobyl inspiriert, machten sich die Architekten in architekturund städtebaulichen Debatten darüber Gedanken, wie eine architektonische Anpassung des Menschen an die natürliche Umwelt möglich war.61 Neben der Bemühung um ein verkehrsfreies Stadtzentrum weisen die engen Straßen im Generalplan von Spitak darauf hin, dass man um Fußläufigkeit und somit um die Verringerung von Abgasen bemüht war. Wie auch schon bei den Plänen von Leninakan bedachten die Planer die Natur und deren Seismologie, indem sie nur dreigeschossige Häuser projektierten, die einem Erdbeben von bis zu 9 Punkten auf der sowjetischen Skala (etwa 7,1 bis 7,4 auf der Richterskala) standhalten sollten.62 Doch die weniger umweltfreundliche Realität zeigte sich umgehend, schließlich ging der komplette Neubau einer Stadt nur mit tiefen Einschnitten in die Ökologie der Region einher. Nach Ansicht des damaligen Stadtarchitekten Ararat Haydeyan bestand ein weiteres Problem, bei dem die Natur nicht bedacht wurde, darin, dass die Häuser viel zu nah aneinanderstanden, was im Falle eines weiteren Erdbebens nicht ausreichend Fläche ließ.63 Hinzu kam, dass Spitak zwar »Sonnenstadt« heißen sollte, die Sonne aber nicht bedacht wurde. Nur wenige Häuser sollten nach diesem Plan in einem für die geringste Sonneneinstrahlung sinnvollen Winkel gebaut werden. Problematisch erwies sich hier – so wie in der Stadtplanung weltweit –, dass die Architekten immer mehr über architektonische Kompositionen nachdachten als über ein effektives Funktionieren für den Bewohner der Stadt.64 Wenigstens konnte hier niemand sagen, dass es ein von Moskau aufgezwungenes Projekt war; es wurde stattdessen von einem armenischen Team geplant, das mit den lokalen Gegebenheiten vertraut war. Um der vermeintlichen sowjetischen Einheit Gestalt zu geben, sollten einzelne Viertel des neuen Spitak im Nationalkolorit der jeweiligen Baubrigaden 60 Gubkina: Slawutytsch, S. 199. 61 Šovkopljas, T./Bondar’, Ju.: Pered ekologičeskim porogom. Cifry i fakty urbanizacii, in: Architektura SSSR 1 (1989), S. 18–23 und Apciauri, Važa N.: Narodnaja architektura i ekologija, in: Architektura SSSR (1990) 1, S. 32–35. 62 HAA f. 113, op. 161, d. 27, l. 8, Generalplan von Spitak, Dezember 1988. 63 Interview mit Ararat Haydeyan (*1953), Elsterwerda, 31.03.2015. 64 French, R. Antony: Plans, Pragmatism and People. The Legacy of Soviet Planning for T ­ oday’s Cities, Pittsburgh 1995, S. 95.

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aus der Usbekischen und der Estnischen SSR gebaut werden. Ähnliches hatte es bereits in Taschkent und in Slavutič gegeben, wenn dort auch in viel größerem Ausmaß. Im Unterschied zu Taschkent jedoch wiesen die Wohnviertel in Spitak weitaus mehr usbekische bzw. estnische architektonische Eigenheiten auf. Während die Siedlungen in Taschkent nur die Namen der Baubrigaden und eine dementsprechend gestaltete Fassade mit zu den Republiken passenden folkloristischen Mosaiken bekommen hatten, hatten die Häuser in Spitak eine sehr unterschiedliche Architektur, die in Ansätzen derjenigen typischer Wohnhäuser in der usbekischen bzw. der estnischen Sowjetrepublik ähnelte. Das lag vor allem daran, dass in Armenien nicht nur die Arbeiter aus den Sowjetrepubliken kamen, sondern auch 80 Prozent des gesamten Baumaterials von dort eingeführt werden mussten. In Taschkent waren weitestgehend lokale Baumaterialien verwendet worden und nur in Ausnahmefällen hatten die Brigaden Betonplatten aus Kasachstan oder Turkmenistan geliefert bekommen.65 Die sowjetische Einheit sollte sich auch in der Zusammensetzung der neuen Hausbewohner widerspiegeln. Ähnlich wie in Taschkent sahen die Generalpläne vor, zehn Prozent der Bauarbeiter aus den verschiedenen sowjetischen Republiken nach der Vollendung des Wiederaufbaus in Armenien anzusiedeln. Bei einer geplanten Anzahl von ca. 100.000 Arbeitern machte das ca. 10.000 Nicht­armenier aus.66 Diese Idee entstand vermutlich, um Arbeitern, ähnlich wie beim Wiederaufbau in Taschkent 1966, einen Anreiz zu bieten, dort zu arbeiten. Vielleicht hing sie auch mit der Hoffnung im Politbüro zusammen, durch eine neue ethnische Zusammensetzung Armeniens die Spannungen aus dem Konflikt um Karabach, aber auch die nationalistischen Rufe nach verstärkter Armenisierung einzudämmen. In den Medien wurde diese Information nicht verbreitet, wahrscheinlich weil das Politbüro Proteste aus der Karabachbewegung befürchtete, vielleicht aber auch, weil die Idee zu einem frühen Zeitpunkt, direkt nach dem Erdbeben entstanden war, aber nie tatsächlich weiterverfolgt wurde. Dennoch kursierten unter der Bevölkerung Gerüchte darüber, wie sich der US-amerikanische Soziologe Denis Milet erinnert.67 Die Betonung des sowjetischen Völkerfreundschaftsgedankens fiel aber bedeutend geringer aus als noch in Taschkent.68 Vielmehr ging es in Arme65 Für diesen Hinweis danke ich Philipp Meuser. 66 HAA f. 113, op. 161, d. 372, l. 8, Generalplan von Leninakan vom 4. August 1989. 67 Mileti, Denis: Social Investigations Following the Spitak-88 Earthquake, in: Proceedings of the International Seminar on the Spitak-88 Earthquake, 23–26 May, 1989, Yerevan, S.S.R. of Armenia, Paris 1992, S. 265–272, hier S. 270. 68 Siehe Rede Brežnevs zum Wiederaufbau Taschkents in: Taškent-gorod bratstva, S. 11–16.

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nien darum, die internationale Einheit zwischen Ost und West zu signalisieren, sowohl in der Konzipierung als auch in der Umsetzung. So wurde hier im Gegensatz zu den anderen sowjetischen Großprojekten erstmals auch eine Siedlung mit westeuropäischem Anstrich gebaut – ein Schweizer Dorf mit Spitzdächern und Vorgärten.69 Zum ersten Mal erarbeiteten sowjetische Architekten einen Stadtplan ohne die für die sowjetische Planung typische Schablone, um so flexibler auf die konkreten Bedürfnisse der Stadtbevölkerung eingehen zu können. Gevork Aramyan, ein Architekt von »Erevanproekt« wollte es so, wie es auch die Amerikaner machen, wenn sie eine Schule nicht im Wohnquartal planen, sondern irgendwo im Wald, an einem ruhigen Ort. Dann bringen sie die Kinder mit Bussen dorthin. Sie beschränken sich nicht wegen Bedingungen und schaffen absolut frei von jeglichen Dogmen.70 Auch wenn diese Aussage sicherlich idealisierend auf die amerikanische Architektur blickte und in ihrer Umsetzung Probleme, wie in diesem Fall die Logistik und den Umweltschutz betreffende, mit sich brachte, manifestierte sich in ihr doch das Ziel, näher an den Bedürfnissen des Individuums zu planen. Darüber hinaus spiegelten die städtebaulichen Debatten mit westlichen Architekten Gorbačevs Politik des neuen Denkens und seine Außenpolitik wider. Nicht nur die außergewöhnliche Stadtarchitektur, die von der traditionellen, standardmäßigen und »gesichtslosen«71 Bauweise stark abwich, war ein Ausdruck dessen. Es war auch das erste Mal in der Geschichte der Sowjetunion, dass sowjetische Stadtplaner zusammen mit Architekten aus den USA und Westeuropa die Konzeption eines von armenischen Architekten angefertigten Stadtbebauungsplans besprachen.72 Zwar waren auch schon für den Wiederaufbau von Taschkent Konzepte von Le Corbusier und Moshe Safdies »Habitat 67« diskutiert worden. Damals hatte die sowjetische Regierung auch Lizenzen aus Frankreich erworben, um das von Raymond Camus entwickelte Plattenbausystem in Taschkent herstellen zu dürfen, doch hatten die Bauplaner und Architekten bislang noch nicht 69 Auch in Leninakan wurde ein »österreichisches Dorf« im Mikrorajon »Ani« mit Mitteln aus Österreich errichtet, in dem einige Straßen nach österreichischen Künstlern und Komponisten benannt worden sind. 70 Kommunist 167, 15.07.1989, S. 4. 71 So bezeichnete Pierre Vago das alte Spitak in einem Interview mit einem Journalisten der Zeitung Kommunist 71, 25.03.1989, S. 3. 72 Die Internationale Akademie der Architekten (IAA) hat jedoch bereits früher schon an bestimmten Projekten in der Sowjetunion teilweise mitgewirkt. So beispielsweise an der Konzeption eines Vorortes von Tbilissi im Jahr 1981, siehe Kommunist 71, 25.03.989, S. 3.

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direkt mit westlichen Architekten zusammengearbeitet.73 Ideologische Grenzen waren nun aufgehoben, die Öffnung zum Westen in Plänen festgeschrieben und später für immer im Fundament der Stadt einbetoniert. So konnte sich die Sowjetunion mit dem Bau von Spitak als leistungsfähiger, nach außen offener und vernetzter Staat präsentieren, der um das Wohl einzelner Individuen auch in der Peripherie des Landes besorgt war. Spitak symbolisierte die Perestrojka. Wie jedes architektonische Großprojekt brachte auch dieser eigentlich unbegründete Neubau der Stadt – im Gegensatz zu einem Wiederaufbau der alten – das sowjetische Staatsverständnis der Zeit zum Ausdruck.74 Welche Bedeutung kam Spitak, einer Stadt von der Größe eines Moskauer Mikrorajons, plötzlich zu, dass man ihr so viel Aufmerksamkeit schenkte? Denn es ist sehr selten, dass man Städte nach Katastrophen an einem anderen Ort wiederaufbaut; schon allein deshalb, weil das nur dann möglich ist, wenn der Staat problemlosen Zugriff auf Boden hat. Nicht nur war der Bau einer kreisförmigen Stadt überambitioniert und teuer, weil technisch damals noch sehr kompliziert; ebenso teuer und unnötig aufwendig war es, eine Stadt an anderer Stelle neu zu bauen, wenn doch die Untergrundstrukturen wie Stromleitungen und Wasserrohre trotz des Erdbebens erhalten geblieben waren. Taschkent aufwendig zu modernisieren hatte Sinn gemacht, da die neue Stadt kommunistische Zukunftsvisionen für Asien darstellen sollte. Zudem hatte dort eine Flugzeugfabrik Geld in den Aufbau investiert, weil sich ein modernes Taschkent für sie, wirtschaftlich gesehen, lohnte.75 Auch der Neubau von Slavutič in der Ukrainischen SSR war ökonomisch sinnvoll gewesen, da die Mitarbeiter von Tschernobyl schnell unterkommen mussten, damit so der Fortgang des Betriebs gewährleistet werden konnte. Beide Städte waren von Bedeutung für die gesamte Sowjetunion; Spitak mit seinen kleinen Fabriken war im Gegensatz dazu höchstens von lokaler Bedeutung, die Arbeitseinsätze in den dortigen Fabriken kamen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Bewohner aus der Region gleich. Warum also wollte man Spitak so aufwendig und teuer mit einem von Stararchitekten betreuten Team neu bauen? Der Schlüssel zu 73 Raab: The Tashkent Earthquake, S. 280–282. 74 Zum unbegründeten Neubau siehe Interview mit Ararat Haydeyan (*1952), Elsterwerda, 31.03.2015, und Interview mit Zorik Šahinyan (*1953), Jerewan, 25.02.2015. Nach Meinung dieser beiden Architekten und Seismologen ergab es keinen Sinn, die Stadt zu verlegen. Zum neuen Staatsverständnis siehe die Ausführungen zu Lissabon nach dem Erdbeben 1755: Mullin, John R.: The reconstruction of Lisbon following the earthquake of 1755: A study in despotic planning, in: Planning Perspectives 7 (1992) 2, S. 157–179. 75 Für diesen Hinweis danke ich Philipp Meuser.

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den Antworten liegt bei Gorbačev und dessen Reformen. Zum einen wollte sich Gorbačev mit Spitak nach außen und innen als international, gut vernetzt und offen präsentieren. Zum anderen zwang ihn die große internationale Anteilnahme jedoch auch dazu, Leistungsfähighkeit beim Wiederaufbau zu zeigen. Ein simpler Wiederaufbau des Alten wäre dem nicht gerecht geworden. Nach den Gewaltausbrüchen im Kaukasus und dem sinkenden Erfolg der Perestrojka-­ Reformen wollte das Politbüro durch den Wiederaufbau seine Leistungsschau nach außen tragen. Nach Katastrophen sind Gemeinden und Nationen in der Regel nur mit der Wiederherstellung des Alten beschäftigt und mit der Versorgung der Bevölkerung. Die Zeit danach wird normalerweise nicht als der beste Moment gesehen, um radikale Veränderungen der urbanen Form vorzunehmen, weil Kapazitäten fehlen.76 Ungeachtet dessen wollte die sowjetische Regierung, wie auch schon beim Wiederaufbau in Taschkent und Aschgabat, die Gelegenheit nutzen, ihre Macht und Kompetenz selbst in Krisensituationen zu demonstrieren. Spitak war klein und die Kosten, so glaubte man offenbar, zumindest überschaubar. Der Neubau der Stadt hätte, wenn alles nach Plan gelaufen wäre, eine maximale Repräsentation der staatlichen Politik bei minimalem Aufwand werden können. Spitak war als Symbolstadt auch wegen seines Kleinstadtcharakters interessant. Leninakan war zu groß und somit zu teuer, um dort einen extravaganten Wiederaufbau zu beginnen. Neben den Kostengründen galt Leninakan zudem als typisch armenische Stadt, woran sich nichts ändern sollte. Jedwede architektonische Veränderung und Modernisierung hätte zum Wandel des typischen Stadtbildes geführt – eine Entwicklung, welche die Architekten der Perestrojka vermeiden sollten.77 Die Stadt Spitak hatte nicht nur kein traditionell historisches Stadtbild, das wiederhergestellt werden musste, sie war darüber hinaus eine kleine unbedeutende Kreisstadt, von denen es in der ganzen Sowjetunion viele Hunderte gab. Fast jeder im Land konnte sich vermutlich mit der Stadt und ihrem Schicksal identifizieren. Es war gleichsam eine Botschaft an die sowjetische Bevölkerung, nach der sich die Politik nun an den menschlichen Bedürfnissen des einzelnen sowjetischen Arbeiters aus den unzähligen Kleinstädten orientierte. Auch architektonisch waren die Projektentwickler daran interessiert,

76 Vale/Campanella: Conclusion: Axioms of Resilience, S. 345. 77 HAA f. 1, op. 82, d. 20, ll. 27–47, hier l. 28, Erlass vom ZK KPSS und dem Ministerrat der UdSSR über die weitere Entwicklung der sowjetischen Architektur und des Städtebaus vom 19. September 1987.

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nicht einfach eine weitere »gesichtslose«78 Großstadt in Miniaturform zu entwerfen, sondern eine neue Form, nämlich die der »kleinen Stadt« (malyj gorod), einer »Stadt des 21. Jahrhunderts«, zu entwickeln, in der das Individuum stärker in den Mittelpunkt gerückt wurde.79 Mit der »kleinen Stadt« entwickelten die Architekten eine neue Kategorie des sowjetischen Städtebaus weiter, die schon beim Bau von Slavutič zum Einsatz gekommen war und die nicht mehr nur auf die Produktivität und die Nähe zum Arbeitsplatz ausgerichtet war, sondern auch darauf, durch einen Stadtkern das soziale Miteinander zu fördern und mittels verschiedener architektonischer Besonderheiten der Stadt ein Gesicht zu geben. Nicht umsonst enthielt einer der sechs finalen Projektvorschläge des Wettbewerbs den Straßennamen »Perestrojka Prospekt« für die durch das Zentrum führende Hauptstraße. Der Stadtentwurf »Heliopolis« spiegelte in diesem Sinne die Reformversuche Gorbačevs wider, weil er den Fokus auf eine kleine unbedeutende Stadt legte und somit dem Versuch, Architektur mit »menschlichem Antlitz« zu schaffen, nahekam. Es sollte deutlich werden, dass nicht nur Hauptstädte eine Bedeutung für das sowjetische Imperium haben, sondern auch kleinere Städte und dass das urbane Wohlbefinden ihrer Bewohner wichtig für die Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft war. Während beim Wiederaufbau von Leninakan zumindest der Streit um die Nord- oder Südbebauung in der Presse diskutiert wurde, gab es solche Debatten zu Spitak nicht. Verwertbare Publikationen darüber, wie die Bewohner Spitaks damals über den Neubau ihrer Stadt dachten, liegen jedenfalls nicht vor. Jedoch lässt sich viel aus den Handlungen ablesen. Menschen nach Katastrophen umzusiedeln – auch wenn es in diesem Fall nur sieben Kilometer waren – stellt meistens ein großes Problem für die Betroffenen dar und führt in den meisten Fällen zu Konflikten und Widerstand. Nicht nur die Regierungen wollen schnell zur Normalität zurück, auch die Opfer einer Katastrophe wünschen sich in der Regel den Zustand ihrer Gemeinde zurück, der vor der Katastrophe herrschte.80 Menschen nach einer Katastrophe umzusiedeln bedeutet für diese einen zusätzlichen Verlust von Stabilität und wirkt sich negativ auf das gesellschaftliche Gefüge aus, weil die für Katastrophenopfer gerade nach Katastrophen wichtige Komponente der Kontinuität verloren geht. »Die Menschen wollten das Gebiet nicht verlas-

78 Komsomol’skaja Pravda 291, 21.12.1988, S. 3, aus der Rede von N. I. Ryžkov: »Wir haben kein Recht, unseren Nachfahren gesichtslose Zwillingsstädte zu hinterlassen.« 79 Kommunist 71, 25.03.1989, S. 3. 80 Samuels: Remaking Neighbourhoods, S. 211; Oliver-Smith: Post-Disaster Housing Reconstruction, S. 17.

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sen«, erinnert sich der Stadtarchitekt von Spitak.81 Daher war er gleichzeitig damit beschäftigt, das neue und das alte Spitak wiederaufzubauen, obwohl es für Letzteres keinen Plan gab, denn es sollte schließlich ein neues gebaut werden. »Ob wir einen Masterplan hatten oder nicht, war egal. Wir sollten Wasserleitungen legen, Elektrizitätsleitungen und Kanalisation. Auch in der alten Stadt, das war auch meine Arbeit.«82 Die Überlebenden des Erdbebens hatten fast unmittelbar nach dem Erdbeben damit begonnen, ihre alten Grundstücke zu besiedeln. Bevor der erste Spatenstich auf dem neuen Territorium erfolgte, hatten manche Bewohner schon mit eigenen Händen und dem Baumaterial, das ihnen die Regierung zur Verfügung gestellt hatte, neue Häuser im alten Spitak gebaut.83 Kaum jemand war bereit, darauf zu warten, bis in entfernter Zukunft eventuell die neue Stadt oder dann das neue Stadtviertel fertig gebaut waren. Selbst wenn die alte Stadt in Ruinen lag, wies der Ort immer noch die bekannte Straßenstruktur auf, die Behörden hausten in Zelten und das in Trümmern liegende Spitak blieb als Dreh- und Angelpunkt der Stadtbevölkerung erhalten. Zwar besaß niemand Boden, sondern nur das Haus, aber sie betrachteten das Stück Land als ihres, weil es ihnen zugeteilt wurde, und wollten nicht weg. Einige, die vor dem Erdbeben eine Wohnung bewohnt hatten, nutzten nun die Gelegenheit, sich Boden beim Stadtrat (Gorsovet) zu beschaffen – der diesen meist von den Sowchosen genommen hatte –, um dort ein Einfamilienhaus zu bauen. Jene, die vor dem Beben schon ein Haus besessen hatten, stellten sich ein temporäres Haus in den Garten neben die Trümmer des alten Hauses. In den meisten Fällen wandelten sie temporäre Häuser mithilfe von Beton, Holz und Sperrmüll in permanente Häuser um.84 Nachdem deutlich wurde, dass sich das alte Spitak durch diese Neubauten wieder rehabilitierte, wurde das kreisrunde neue Spitak Mitte der 1990er Jahre zum Stadtviertel des alten Spitaks erklärt.85 In dem Sinne hatte die Bevölkerung die staatlichen Bebauungspläne erfolgreich durchkreuzt. Doch nicht nur das, sie hatte auch ihre eigene Sicht auf den Wiederaufbau gezeigt: nämlich, dass dieser sich nicht nur an den ökonomischen Kosten orientieren durfte, sondern auch den sozialen und psychologischen Verlusten Rechnung tragen musste. Sie hatten sich diesen Ort mit eigenen Kräften auch gegen Staatsvorgaben wieder

81 Interview mit Ararat Haydeyan (*1952), Elsterwerda, 31.03.2015. 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Interview mit Edik B. (*1957), Spitak, Februar 2015. 85 Ebd.

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Abb. 6: Generalplan von Spitak, alte und neue Stadt integriert, 1995, 1:5000. Quelle: Bürgermeisteramt Spitak

urbar gemacht.86 Eine Umsiedlung wäre nur unter staatlichem Druck möglich gewesen, den die Regierung Ende der 1980er Jahre und vor dem Hintergrund der Katastrophe und der politischen Liberalisierung nicht mehr umsetzen konnte. Zwar zogen wesentlich später einige wenige Bewohner in die neu gebauten Häuser, aber daraus entwickelte sich nie eine Stadtgemeinschaft. Mehr Glück haben heute all diejenigen, die damals nicht an das neue Spitak glaubten und im alten verharrten, da sich dieses ab Ende der 1990er Jahre als neue alte Stadt etablierte und mithilfe der armenischen Diaspora, insbesondere des Lincy-Fonds, wiederaufgebaut wurde. Die kreisrunde »Heliopolis«-Siedlung 86 Vale/Campanella: Conclusion: Axioms of Resilience, S. 347.

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hat ihren Übergangscharakter beibehalten. In den 2000er Jahren wurde eine weitere Häusergruppe hinzugefügt, die sich Glendale nennt, nach einer Stadt im Großraum Los Angeles, in die seit den 1920er Jahren viele Mitglieder der armenischen Diaspora gezogen waren. Die Häuser sind im Stil kalifornischer Einfamilienhäuser gebaut. Kirovakan – von der Industriestadt zum Kurort Während anhand der Baupläne für Leninakan die Problematik zwischen Zentrum und Peripherie offengelegt werden kann, versinnbildlichte Spitak nicht nur die Visionen der Perestrojka-Reformen, sondern durch die Weigerung der Bewohner umzuziehen auch den Verlust der Kontrolle über die Peripherie. Die Zerstörungen in der vom Erdbeben verwüsteten Stadt Kirovakan (heute Vanadzor) wiederum machten auf die bereits seit den 1960er Jahren bestehende Umweltproblematik in Sowjetarmenien aufmerksam. Die Wiederaufbaupläne für diese Kleinstadt illustrieren das sich während der Perestrojka verändernde Umweltbewusstsein innerhalb der sowjetischen Gesellschaft und geben Aufschluss über die Dimension und den Wirkkreis der Umweltproteste Ende der 1980er Jahre, die mittlerweile auch die lokale Regierung erreicht hatten. Der Wiederaufbau in Kirovakan zeigt zudem, wie die lokalen armenischen Behörden versuchten, sich gegen Moskau durchzusetzen und die Bevölkerung wieder näher an sich heranzuziehen. Hier wurde die Zerstörung als Chance gesehen, gegen die schlechten Luftbedingungen in der Stadt vorzugehen. Kirovakan, 20 Kilometer westlich von Spitak gelegen, bildete sich in den 1930er Jahren als Stadt um eine Chemiefabrik herum, die chemische Düngemittel produzierte. Stolz nannte sie sich damals noch die »Stadt der großen Chemie«87. Doch bereits in den 1970er Jahren gab es die ersten Proteste wegen der schlechten Luftbedingungen in der Stadt. Im November 1978 wandte sich der der sogenannte leitende Arzt für Sowjetarmenien an die Staatsanwaltschaft mit der Forderung, die Manager der Chemiefabrik Myasnikyan in Kirovakan wegen der starken Luftverschmutzung vor Gericht zu stellen.88 Maßnahmen zur Verbesserung der Luft blieben jedoch aus, da die Fabrik dem sowjetischen Ministerium für Düngemittel unterstand, das nicht bereit war, in Filteranlagen zu investieren. Als es im Jahr 1988 auch in anderen Städten Armeniens zu Umweltschutzprotesten kam, demonstrierten hier Hunderte Stadtbewohner, verkleidet mit Gasmasken 87 Kommunist 133, 06.06.1989, S. 2. 88 Pravda 333, 29.11.1978, S. 3.

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und ausgestattet mit Protestschildern, gegen die Fabrik, auch um ihren Ärger über die Zentralmacht zum Ausdruck zu bringen, schließlich handelte es sich um eine von Moskau aus installierte Fabrik.89 Nach Meinung einiger Bewohner wurde das Ausmaß der Luftverschmutzung besonders deutlich, nachdem sämtliche Fabriken nach dem Erdbeben aus Sicherheitsgründen eine Zeit lang stillgestanden hatten und sich die Luftqualität in dieser Zeit angeblich maßgeblich verbessert hatte. Die Bewohner Kirovakans spürten anscheinend umgehend den Unterschied in der Luftqualität und gaben sich gar erstaunt über die neue ökologische Lebensqualität in der Stadt. Nachdem sich der Smog-Schleier gelichtet hatte, erschien es einigen Bewohnern anscheinend so, als ob sie ihre eigene Stadt zum ersten Mal sähen. N. Mesropyan, ein Journalist der Zeitung Kommunist, beschrieb diese Erkenntnis mit den folgenden Worten: Noch nie haben sich die grünen Hügel im Hintergrund abgezeichnet und die durch Untätigkeit verwaisten Gebäude [der Fabrik] begannen irgendwelchen merkwürdigen Elementen einer Mondlandschaft zu ähneln, die der Fantasie eines Künstlers entsprungen sind.90 Mit dieser vermeintlich neuen Sicht auf die Dinge waren nun auch viele lokale Politiker gegen die Inbetriebnahme der Fabrik, aber auch, weil sie so vermutlich Solidarität mit der Bevölkerung zeigen und Widerstand gegen Moskau demonstrieren konnten. Der von der armenischen Regierung in Jerewan bestätigte Generalplan von April 1989 sah deshalb bereits vor, die Schließung der Chemiefabrik Myasnikyan mit dem zuständigen Ministerium für anorganische Düngemittel zu besprechen und im Rahmen des Wiederaufbaus die restlichen Fabriken mit ressourcenschonender Technologie auszustatten, mit dem Ziel, die ökologischen Bedingungen der Stadt zu verbessern.91 Schließlich waren die Kindersterblichkeitsrate sowie die Erkrankungsrate eineinhalbmal so hoch wie in Leninakan oder in anderen vergleichbaren Städten.92 Da Kirovakan durch den Wegfall der chemischen Industrie seinen Wert als Industriestandort verlieren würde, sollte die Stadt aufgrund ihrer für die Wasserheilung bedeutenden Quellen in ein Zentrum für Pflege, Erholung und Tourismus verwandelt werden 89 Private Videoaufnahme des Protestes vom 1. November 1988, aus dem Besitz von Aršak Banowč’yan. 90 Kommunist 133, 06.06.1989, S. 2. 91 HAA f. 113, op. 161, d. 195, l. 26, 32, 33, Generalplan für Kirovakan vom 24. April 1989. 92 Ebd., l. 117.

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und einen neuen Status als Kurort erhalten.93 Die übrig gebliebenen Fabriken sollten auf das Territorium nordwestlich der Stadt verlegt werden. Der ökologische Teil des Generalplans, der von der sowjetarmenischen Regierung so unterzeichnet und befürwortet wurde, scheiterte jedoch kaum überraschend schon bald aufgrund der sowjetischen Zentralplanung. Das Ministerium für anorganische Düngemittel in Moskau stimmte den Vorschlägen zur Schließung nicht zu und finanzierte stattdessen die Reparaturen der Fabrik, in die bis zum Juni 1989 bereits zwei Millionen Rubel geflossen waren.94 Auf Proteste reagierten die Behörden mit Drohungen. Nachdem sie hatten feststellen müssen, dass nicht nur die Bewohner Kirovakans gegen die Fabrik waren, sondern auch der Stadtrat und Teile der Regierung in Jerewan, drohten sie den Erdbebenopfern damit, keine temporären Häuser mehr zur Verfügung zu stellen, sollten sie mit den Protesten gegen die Fabrik fortfahren.95 Aus Angst vor dem Einbrechen der Produktionszahlen in der chemischen Produktion kündigte der Minister der Ölraffinierung und Petrochemischen Industrie Nikolaj Lemaev an, jene Regionen, die eine Einstellung ihrer chemischen Industrie forderten, von der Lieferung sämtlicher chemischer Produkte, darunter Medikamente, auszuschließen.96 Moskaus Methode, sich durch diese Drohung die Rhetorik der nationalen Bewegungen zu Eigen zu machen war wirkungsvoll: Die Proteste verstummten und der Wiederaufbau der Fabrik wurde unbeirrt fortgesetzt. Die lokale Parteielite hatte ihren Kampf gegen Moskau verloren und dementsprechend auch keinen Zuspruch aus der Bevölkerung bekommen. So spiegelten die Wiederaufbaupläne von Kirovakan einerseits zwar die Visionen einer mittlerweile umweltbewussten armenischen Bevölkerung wider, die ihre Gesundheit nicht mehr der Wirtschaft opfern wollte, ganz im Einklang mit dem Staatsapparat, der, wie auch Spitak schon verdeutlichte, durchaus an einem umweltbewussten Bauen und Leben Interesse zeigte. Andererseits aber offenbarte gerade das Beispiel Kirovakan, wie sehr diese Vorhaben von dem Widerspruch zwischen unterschiedlichen Interessen und Interessengruppen geprägt wurden. Die Macht der zentralen Ministerien machte so unmissverständlich die Grenzen der Perestrojka deutlich, die auch darunter litt, dass die ideologischen Versprechungen aufgrund des Wirtschaftsdiktats kaum einzuhalten waren. In 93 Ebd., l. 119. 94 Kommunist 133, 06.06.1989, S. 2. 95 Ebd. 96 HAA f. 1339, op. 1, d. 14 ll. 81–83, hier l. 82, Brief an den Ministerrat der UdSSR von der Initiativgruppe der »Grünen« (mit acht Unterschriften von armenischen Wissenschaftlern) vom 11. Februar 1990.

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der Konsequenz verlor das Regime an Glaubwürdigkeit, was die lokale sowjetarmenische Regierung wiederum ausnutzte, um sich in Umweltbelangen der Republik fortan verstärkt auf die Seite der Bürger zu stellen. Indem sie sich für die Schließung der Fabrik in Kirovakan, des Kernkraftwerks Metsamor und der Kupferfabrik in Alaverdi einsetzte, versuchte die kommunistische Regierung die Unterstützung der armenischen Bevölkerung zurückzuerlangen, während das Karabachkomitee, ihr politischer Rivale, noch im Gefängnis saß.97 Der Versuch, den Umweltschutz als Vehikel für den Machterhalt zu nutzen, blieb jedoch trotz aller Bemühungen erfolglos. So unterschiedlich diese in diesem Unterkapitel vorgestellten Pläne für den Wiederaufbau der drei Städte waren, ihre Analyse hilft zu verstehen, auf welch vielfältige Weise die Katastrophe mit den politischen und gesellschaftlichen Prozessen verflochten war. Die Bebauungspläne sowie ihre Umsetzung für die Städte Leninakan, Spitak und Kirovakan verdeutlichen die politische Auseinandersetzung zwischen dem Zentrum und der Peripherie. In Leninakan nutzten die Menschen den Streit um den Standort des neuen Wohnviertels dazu, sich über die Dominanz Moskaus in für Armenier wichtigen Entscheidungen zu empören. Wie auch schon bei den Umweltprotesten, protestierten sie nun dagegen, dass ihre nationalen Bedürfnisse nicht berücksichtigt wurden und dass die Wohnungen für armenische Familien viel zu klein seien. Gleichzeitig zeigen die Diskurse um die Bebauung, wie sehr sich die Art des Regierens seit dem letzten großen Erdbeben in Taschkent 1966 verändert hatte und wie sehr sich die politische Öffnung in diesen Debatten und Plänen widerspiegelte. Denn auch wenn es in der Umsetzung scheiterte, standen zumindest auf dem Papier die Bedürfnisse der Stadtbewohner im Mittelpunkt, indem die Regierung Wert legte auf die Beibehaltung der historischen Architektur und indem sie im neuen Stadtteil Ani nur noch 3- bis 4-geschossige Gebäude aus Stahlbeton errichtete. Zudem wurden Entscheidungen nun zunehmend von Repräsentanten der Republik getroffen oder zumindest waren diese mehr in den Prozess eingebunden, als das früher der Fall gewesen war. Am Beispiel Kirovakans zeigte sich, dass es nicht nur die Bevölkerung war, die sich gegen Moskau stellte, sondern dass auch die lokale Stadtregierung versuchte, über die Schließung der Fabriken die politische Autonomie der Republik einzufordern. Trotz dieser Veränderungen und obwohl der Staat den Bedürfnissen der Bevölkerung nähergekommen war und die Entscheidungen zunehmend an die republikanischen Regierungen abgegeben hatte, wuchsen die Erwartungen des Einzelnen 97 Mouradian: The Mountainous Karabagh Question, S. 24.

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an den Staat mit. Der Unzufriedenheit konnte schwer begegnet werden und sie entwickelte sich immer mehr zu einem Sprengsatz für die Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung.

5.2 Mikrokosmos Großbaustelle – Einblicke in den Zerfall der Sowjetunion Weniger als ein Jahr nach der Katastrophe schrieb die Zeitung Izvestija, dass sich »heute kaum noch jemand an die grandiosen Pläne zum Wiederaufbau der Städte und Dörfer in Armenien erinnert«.98 Die städtebaulichen Ideen, die einer Architektur »mit menschlichem Antlitz« entsprangen, versinnbildlichten nicht nur die Ziele der Perestrojka-Ära und stellten eine »Miniaturisierung« des Gorbačev’schen Sozialismus dar, sondern die mangelnde Umsetzung der Pläne offenbarte auch die strukturellen Unzulänglichkeiten im sowjetischen Städte- und Wohnungsbauwesen und kann erklären, warum sich die Bevölkerung in Armenien immer weiter von Moskau entfernten, obwohl sie jetzt mehr denn je auf die Unterstützung des Kremls angewiesen waren. 8,2 Millionen Quadratmeter Wohnfläche innerhalb von zwei Jahren aufzubauen war in jedem Fall ein überambitioniertes Ziel. Weniger als die Hälfte des Plans wurde im vorgegebenen Zeitraum erfüllt. Die Bauagenturen erreichten nicht ansatzweise die Leistung von 350.000 Quadratmetern Wohnfläche pro Jahr wie noch 1966–1970 in Taschkent.99 In den ersten sieben Monaten wurden lediglich 53.000 Quadratmeter Wohnfläche oder 2,5 Prozent des Plans gebaut, wovon ein Großteil Individualbauten waren, die sich die Bewohner mit eigenen Händen zusammengebaut hatten.100 Bis zum September 1990 wurden nur zehn Prozent der geplanten Bauten fertiggestellt.101 Das lag jedoch nicht an einzelnen Vorsitzenden des Düngemittelministeriums in Moskau, wie das Kirovakaner Beispiel vielleicht suggerieren mag. Auch der allgemeine Zustand der sowjetischen Wirtschaft reicht als einzige Erklärung nicht aus. An dem gescheiterten Wiederaufbauprogramm der letzten sowjetischen Regierung wird die Zuspitzung der politischen und wirtschaftlichen Situation in den letzten Jahren der Sow 98 Izvestija 298, 24.10.1989, S. 4.  99 Siehe Meuser: Die Ästhetik der Platte, S. 526, 548. 100 RGANI f. 5, op. 102, d. 51, ll. 37–75, Über die Umsetzung des Erlasses des Politbüros und des Ministerrates der UdSSR zur Beseitigung der Erdbebenfolgen in Armenien, von August 1989. 101 GARF f. 5446, op. 162, d. 263, ll. 34–35, Brief vom Ministerrat der ArSSR an den Ministerrat der UdSSR vom 18. September 1990.

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jetunion besonders deutlich: Der Staat konnte einfach nicht mehr leisten, weil er mit der Akkumulation von politischen und sozialen Problemen überfordert war und keine Mechanismen bereithielt, um auf Veränderungen zu reagieren. Der Wiederaufbauprozess selbst illustriert, ähnlich wie die Debatten um seine Pläne, wie es um die Beziehungen zwischen Moskau und Armenien stand. Es wird deutlich, wie die Schwierigkeiten auf dem Bau, die es schon in den Jahrzehnten davor gegeben hatte, nun in der Kombination mit den ethnischen Problemen, die durch Perestrojka und Glasnost’ erst recht an die Oberfläche getreten waren, zur Implosion führten. Das folgende Unterkapitel untersucht, wie die sowjetische Regierung und die Menschen vor Ort in Armenien mit dem Mangel an finanziellen und materiellen Ressourcen sowie mit dem Mangel an Arbeitskräften, mit dem »Ressortegoismus« und mit den ethnischen Konflikten umgegangen sind und wie diese Faktoren möglicherweise zu den politischen Entfremdungsprozessen beigetragen haben. Finanzielle und materielle Ressourcen Über die wirtschaftliche Lage der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre ist bereits einiges geschrieben worden.102 Nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl hatte das Katastrophenmanagement und vor allem der dazugehörige Wiederaufbau das Staatsbudget schwer belastet. Anfängliche Schätzungen des sowjetischen Premierministers Ryžkov für den Wiederaufbau in Sowjetarmenien beliefen sich nach den Berechnungen im Dezember 1988 auf Gesamtkosten in Höhe von 6 bis 6,5 Milliarden Rubel und verdoppelten sich bis Juli 1990 auf 13 Milliarden Rubel.103 Bezahlt werden sollte der Wiederaufbau dabei aus Kapital­ anlagen, aus den Fonds von Unternehmen und Organisationen, mit Geldern der Banken, mit Spendengeldern und aus dem Reservefonds des Ministerrates der UdSSR.104 Aus einem Schreiben des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei in Armenien an Gorbačev vom Oktober 1989 ging jedoch hervor, dass für viele der Posten keine Klarheit darüber herrschte, wer die Finanzierung über-

102 Exemplarisch Hanson, Philip: The Rise and Fall of the Soviet Economy. An Economic History of the USSR from 1945, Edinburgh 2003. 103 GARF f. 5446, op. 149, d. 293 ll. 1–4, Über die Hilfsmaßnahmen für die Armenische SSR (Gos­ plan) vom 21. Dezember 1988; GARF 5446/162/262 l. 165–175, Bericht der Wissenschaftler A. G. Aganbegjan und G. V. Starovojtova für N. I. Ryžkov vom 14. September 1990. 104 GARF f. 5446, op. 149, d. 293 l. 10–27, Beschluss des Politbüros über die Maßnahmen zur Beseitigung der Erdbebenfolgen vom 27. Dezember 1988.

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nehmen sollte.105 Die Armenische SSR erhielt für den Wiederaufbau für das Jahr 1989 eine unbedeutende Summe von 150 Millionen Rubel. Allein für Spitak forderte der Erste Parteisekretär Norayr Muradyan jedoch für das gleiche Jahr 820 Millionen Rubel.106 Armenien war also vollständig auf die Hilfe von außen angewiesen. Die anfangs aufgestellten Finanzpläne zur Bewältigung des Wiederaufbaus lösten sich schnell wieder auf. An ihre Stelle trat jedoch kein Alternativplan; stattdessen wurde zunehmend deutlich, dass Armenien sich selbst überlassen wurde. Ein Großteil der Kosten, die in Armenien entstanden, musste vorerst von den Institutionen selbst getragen werden, in der Hoffnung, die Kosten alsbald von den jeweiligen zentralen Behörden in Moskau erstattet zu bekommen. Die Rückzahlungen blieben jedoch trotz zahlreicher an Moskau gerichteter Bittschreiben aus.107 Um aus der schlechten Wirtschaftslage herauszukommen, bat die sowjetarmenische Regierung Moskau um die Erlaubnis, mit westlichen Regierungen und Firmen Geschäftsbeziehungen einzugehen – ein Schritt, zu dem es bei den bisherigen Katastrophen in der sowjetischen Geschichte noch nicht gekommen war und der die massiven politischen Veränderungen während der 1980er Jahre verdeutlicht.108 Neben Geld mangelte es zudem an Baumaterialien. Aus Armenien wurden Schotter, Sand und später dann Ausstattungsgegenstände für die Häuser, wie Fenster und Armaturen, an die Baustellen geliefert. Alle anderen Materialien, ca. 60–70 Prozent, wurden aus den Unionsrepubliken mit dem Zug in die Kaukasusrepublik geschafft.109 Beim Wiederaufbau in Taschkent war ein Großteil der Baumaterialien aus Usbekistan zur Verfügung gestellt worden, weshalb sich die Abhängigkeit von anderen Republiken stark in Grenzen gehalten hatte. In Armenien begann es bereits im Sommer 1989 vielerorts an Material zu fehlen, insbesondere an Zement, dem wichtigsten Baumaterial, das unter anderem aus Usbekistan geliefert werden sollte. Ein wichtiger Grund für die langsame Anlieferung von Materialien war hierbei die von Aserbaidschan auferlegte Transport105 HAA f. 1, op. 127, d. 691, ll. 81–82, Brief von S. Arutunyan an M. S. Gorbačev vom 25. Oktober 1989. 106 HAA f. 1, op. 150, d. 278, ll. 86–87, Brief vom Regionskomitee der KP in Spitak an N. I. Ryžkov vom 15. September 1989. 107 HAA f. 113, op. 164, d. 349, ll. 8–9, Brief des Finanzministeriums der ArSSR an den Ministerrat der ArSSR vom 20. April 1990; ebd., l. 24, Brief von Stankostroitelnoj an den Ministerrat der ArSSR vom 4. April 1990 und ebd., l. 59, Brief von Fabrikdirektor an den Ministerrat der ArSSR vom 1. Februar 1990. 108 HAA f. 1, op. 127, d. 778, ll. 47–48, Brief des ZK KP ArSSR an N. I. Ryžkov vom 25. April 1990. Ausführlicher dazu siehe Kapitel 6.2. 109 Interview mit Grigor Azizyan (*1955), Jerewan, 16.10.2013.

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blockade, durch die Züge mit wichtigen Baumaterialien nicht bis nach Armenien durchgelassen wurden.110 Doch Beschwerden über fehlende Zulieferungen hatten die Ministerien schon weit vor der Blockade erreicht.111 Auch die Bereitstellung der aus Armenien zu beschaffenden Baumaterialien stockte, was bei vielen Baufirmen zu großer Unzufriedenheit führte.112 Die wirtschaftlich auf die Chemieindustrie ausgerichtete Sowjetrepublik war nicht in der Lage, in so kurzer Zeit die benötigte Menge an Schotter und Sand heranzuschaffen, woran deutlich wird, unter welchen infrastrukturellen Engpässen und natürlichen Hürden das Sowjetimperium Ende der 1980er Jahre litt. Diese Probleme erhöhten so wesentlich die Verwundbarkeit der Sowjetunion. Hinzu kam der Energiemangel aufgrund der Stilllegung des Kernkraftwerkes Metsamor, der die Produktion deutlich einschränkte. Nach dem Erdbeben war Metsamor im Januar 1989 Schritt für Schritt stillgelegt worden, um der Bevölkerung zu signalisieren, dass man ihre Sorgen um die Sicherheit in der Republik ernst nahm. Das Kernkraftwerk sollte in ein Wärmekraftwerk umgewandelt werden, was jedoch mehrere Monate, wenn nicht Jahre in Anspruch nehmen würde. Bis zur Fertigstellung der Umwandlung fehlte es daher an ausreichendem Strom, um die Baustellen zu versorgen.113 Erschwerend kam noch hinzu, dass das Erdbeben in Armenien bei Weitem nicht die einzige Naturkatastrophe war, mit welcher der Kreml finanziell, politisch und unter Ressourcenknappheit zu kämpfen hatte. Schon im Juni 1989 musste das Staatliche Komitee für materiell-technische Versorgung (Gossnab SSSR) dem Ministerrat der Armenischen SSR eingestehen, dass es aufgrund von Naturkatastrophen in Tadschikistan, Georgien, Tschetschenien und Weißrussland, wo sich die Lage nach Tschernobyl verschlechtert hatte, nicht mehr in der Lage war, Geräte und Maschinen nach Armenien zu schicken. Der Minis110 So begründet es der Ministerrat der Usbekischen SSR in: GARF f. 5446, op. 150, d. 279 l. 61– 62, Brief des Ministerrats der UsSSR an den Ministerrat der UdSSR, 27. Oktober 1989. Mehr zur Transportblockade im nächsten Unterkapitel. 111 HAA f. 326, op. 7, d. 190, ll. 12–13, Brief des österreichischen Botschafters an das Außen­ ministerium der ArSSR vom 27. Juli 1989. 112 So fehlten im August 1989 500.000 m3 Schotter und 215.000 m3 Sand aus Armenien, vgl. RGANI f. 5, op. 102, d. 51, ll. 37–75, Zwischenbericht des Politbüros acht Monate nach dem Erdbeben. Ähnliche Beschwerden gab es auch beim Wiederaufbau in Taschkent, siehe Raab: The Tashkent Earthquake, S. 283. 113 Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 sollte das Kraftwerk sicherer gemacht werden, vgl. HAA f. 1339, op. 1, d. 9, ll. 35–36, Brief vom Ministerium für Atomenergie der UdSSR an S. S. Mardanyan (Biochemiker an der Akademie der Wissenschaften der ArSSR) vom 23. April 1988. Die Schließung des Kernkraftwerks wurde dann im September 1988 beschlossen. Später argumentierte die sowjetische Regierung aber damit, dass das Erdbeben der Grund für die Stilllegung war. Siehe Kommunist 220, 15.09.1988, S. 2.

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terrat der Armenischen SSR solle sich doch, so hieß es in einem Schreiben, mit seiner Bitte an andere Organisationen wenden.114 Die Sowjetunion schien von Katastrophen überhäuft und daher schlichtweg mit dem hohen Bedarf an materieller und finanzieller Hilfe überfordert. Einerseits waren aufgrund der medienwirksamen Berichterstattung über das Erdbeben in Armenien bei den anderen Naturkatastrophen der Handlungsdruck und die Erwartungen an die sowjetische Regierung gestiegen, umfassende Hilfe zu leisten. So gründeten nach dem Zugunglück bei Tscheljabinsk im Juni 1989 die Angehörigen der Opfer Vereine, die ihre Kompensationsforderungen nun auf dem Volksabgeordnetenkongress vortrugen.115 Andererseits wurde die Perestrojka nicht umsonst spätestens 1989 in »Katastrojka« umbenannt – ein Begriff, den der sowjetische Dissident Alexander Sinovjev 1988 für die Reformpolitik Gorbačevs eingeführt hatte.116 Glasnost’ trieb vergangene und zukünftige Katastrophen an die Oberfläche – hausgemachte und fremde, echte und symbolische. Die Reformen benötigten diese Katastrophen zwar für einen Erfolg, um auf Missstände hinzuweisen, das sowjetische System jedoch konnte diese Akkumulation von Notständen, für die es selbst verantwortlich war, nicht mehr dauerhaft kompensieren und ging in dieser Anhäufung von Katastrophen unter. In diesem Sinne stand das Unvermögen der Ministerien, die Betroffenen mit Schotter und Sand zu versorgen, auch für die Umbruchphase in der Sowjetunion, in der Katastrophen wie eine Epidemie an jeder Ecke lauerten, ohne dass jemand etwas dagegen hätte unternehmen können. In der Konsequenz verloren die Republiken für Moskau an Bedeutung, weil ihr Beitrag zum sowjetischen Projekt in den Minusbereich ging. Mit ihren endlosen Forderungen nach Geld und Material stellten sie eine zunehmende Last für Moskau dar. Sowjetischer Ressortgeist – Kompetenzstreitigkeiten als Nebenschauplatz für Kritik Am Wiederaufbau waren insgesamt 28 Ministerien und staatliche Komitees beteiligt. Dazu zählten auch die Ministerräte aller 15 am Bau mitwirkenden Unionsrepubliken.117 Diese Ministerien handelten aus unterschiedlichen, sich 114 HAA f. 1, op. 127, d. 736, ll. 115–116, Brief von Gossnab SSR an den Ministerrat der UdSSR vom 27. Juni 1989. 115 Elie: Late Soviet Responses, S. 230. 116 Gestwa: Katastrojka und Super-GAU, S. 58. 117 Für die jeweiligen Verantwortungsbereiche der Republiken siehe HAA f. 113, op. 161, d. 93, ll. 33–34, Beilage zum Erlass des ZK KP ArSSR vom 24. Februar 1989.

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teilweise widersprechenden Interessen, weil sie ihre jeweils eigenen Ziele durchgesetzt sehen wollten. Oder wie es ein Artikel über den Wiederaufbau in Armenien im Journal Krokodil passend formulierte: »Je mehr Behörden, desto mehr Ambitionen.«118 Ein solcher Ressortegoismus war auf sowjetischen Großbaustellen, an denen in der Regel mehrere Dutzend Ministerien beteiligt waren, keineswegs neu und auch kein ausschließlich sowjetisches Phänomen.119 Interessant ist hier jedoch, dass der Umgang mit diesem Problem mit zunehmender Schwäche der sowjetischen Regierung an Triebkraft gewann, was die Bauprozesse vor kaum mehr lösbare Probleme stellte. In Armenien wurden die Rufe nach einer konkreten Führung mit voranschreitender Zeit dringender und lauter. Zwar war das Politbüro bei den Versammlungen der Kommissionen in Jerewan allgegenwärtig, aber eine konkrete Führung, welche die Fäden in der Hand hielt, fehlte, wovon zahlreiche Parteiprotokolle und Regierungstelegramme zeugen. Die kurz nach dem Erdbeben vom Politbüro gegründete »Kommission zur Beseitigung der Erdbebenfolgen« war für den Wiederaufbau nicht mehr federführend. Ab August 1989 wurde sie auch nicht mehr von Premierminister Ryžkov, sondern von Oleg Bortnev, dem stellvertretenden Leiter der 1989 neu gegründeten Katastrophenschutzorganisation, geleitet, wodurch die Erdbebenkommission erst einmal an Autorität einbüßte.120 Es gab auch auf Republikebene eine »Kommission zur Beseitigung der Erdbebenfolgen«, welche sich aus Mitgliedern des Ministerrates der Armenischen SSR und dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Armenischen SSR zusammensetzte. Aber diese Republikkommission unterstand der Kommission des Politbüros.121 Das Politbüro nahm jedoch nur die Rolle eines Organisators ein, der die Prozesse weitestgehend kontrollierte, bei Problemen einschritt und nötigenfalls Ressourcen mobilisierte.122 Es traf aber keine Entscheidungen im Planungs- oder Durchführungsprozess, sondern delegierte diese an die jeweiligen Ministerien und Behörden. In Armenien selbst waren die Partei sowie der Ministerrat für die Koordinierung des Wiederaufbaus verantwortlich, die der Politbürokommission einen wöchentlichen Bericht über den Fortgang der Arbeiten weiter118 Krokodil 21, 1989, S. 4. 119 Grützmacher, Johannes: Die Baikal-Amur-Magistrale. Vom BAMlag zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev, Berlin 2012, S. 351 f. 120 GARF f. 5446, op. 150, d. 278, ll. 22, Brief von O. Bortnev an V. K. Dogužiev vom 1. August 1989. Siehe auch Elie: Late Soviet Responses, S. 228. 121 Siehe hierzu RGANI f. 5, op. 102, d. 1, ll. 12–32, Über die Arbeit der republikanischen Parteiorganisationen, Bericht des ZK KP ArSSR vom 21. August 1989. 122 Das Gleiche konstatierte für den Bau der Wasserkraftwerke in den 1950er und 1960er Jahren auch Gestwa: Die Stalinschen Großbauten, S. 180 f.

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leiteten. Die armenischen Behörden hatten jedoch keinen direkten Zugang zu Materialen und Finanzen, sollten also vor Ort zwar Entscheidungen treffen, diese aber vorher immer umständlich mit dem sowjetischen Ministerrat abklären, der die Aufgaben dann wiederum weiter an die Ministerien und die staatlichen Komitees delegierte. Hinzu kamen noch die unterschiedlichen Regierungen und Bauleiter der Republiken, die gegenüber Moskau Berichtspflicht hatten, nicht aber gegenüber der armenischen Regierung. Sie erhielten ihre Anweisungen, wo und was sie zu bauen hatten, in Moskau und traten mit der lokalen Regierung höchstens in Kontakt, um eine Beschwerde über mangelndes Material einzureichen. An vielen Stellen führte dieser auch schon für andere sowjetische Großbaustellen konstatierte undurchsichtige Apparat von Entscheidungsträgern zu großen Meinungsverschiedenheiten und Schuldzuweisungen. Der Erste Stellvertretende Ministerpräsident und Vorsitzende der Kommission für Notfallsituationen, Vitalij Dogužiev, kritisierte die Führung Armeniens dafür, dass diese nicht in der Lage gewesen sei, die Bevölkerung für den Wiederaufbau zu mobilisieren. Stattdessen habe sich der Ministerrat der Armenischen SSR praktisch von den Wiederaufbauarbeiten entfernt und kritisiere nun die Regierung der UdSSR.123 Die armenische Parteiführung wiederum kritisierte vor allen Dingen die Ministerien und Organisationen aus den anderen Republiken für deren angebliche Faulheit und Tatenlosigkeit.124 Die Konflikte zwischen dem armenischen Ministerrat und dem Politbüro in Moskau verschärften sich mit der zunehmenden Popularität der Karabachbewegung. Die armenische Politelite versuchte sich, auch unter dem Druck der freien Parlamentswahlen, in ihren Entscheidungen gegen Moskau durchzusetzen. Neben den Problemen zwischen Moskau und Jerewan wurde deutlich, wie wenig Kontrolle die Regierung der Republik über ihre eigene Region Armenien hatte. In den zerstörten Städten hatte nicht mehr die Kommission der Republik für die Beseitigung der Erdbebenfolgen die oberste Entscheidungsgewalt, sondern die lokalen Parteikomitees der jeweiligen Stadt- und Landkreise, die oftmals auch, ohne über Jerewan zu gehen, direkt mit Moskau und den jeweiligen Behörden in Kontakt traten, um Material und Geld anzufordern. In der obersten Parteiführung Armeniens selbst kam daher der Wunsch auf, die Ent123 Vgl. GARF f. 5446, op. 162, d. 262, ll. 191–192, Zusammenfassung der Antwortbriefe auf den Bericht der wissenschaftlichen Kommission unter A. G. Aganbegjan und G. V. Starovojtova vom 14. September 1989. 124 GARF f. 5446, op. 162, d. 1948, ll. 80–83, »Über den Gang der Wiederaufbauarbeiten in Armenien«, Brief von V. Ch. Dogužiev an N. I. Ryžkov vom 16. April 1990.

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scheidungsgewalt der lokalen Parteiführungen zu drosseln.125 Gerade bei der Verteilung der temporären Behausungen konnten die lokalen Machthaber, wie Norayr Muradyan in Spitak, ihre Positionen ausnutzen und schnell zu Geld kommen.126 Was man nun vielleicht als einen neuen Ausdruck von Freiheit für lokale Akteure beschreiben könnte, stellte sich in diesem Fall eher als außer Kontrolle geratene regionale Bandenchefs dar, welche die Nachkatastrophen-­ Situation als Gelegenheit ansahen, ihre Macht auszuweiten und individuelle Pläne durchzusetzen. Das Chaos, für das sie mitunter selbst sorgten, gab ihnen hierfür genügend Freiräume. Bereits vor dem Erdbeben hatten die Mitarbeiter der lokalen Verwaltungsapparate nach eigenen Richtlinien gehandelt, etwa wenn sie die Aserbaidschaner aus den anliegenden Dörfern mit Maschinen­ gewehren verjagt hatten.127 Nach dem Erdbeben nutzten sie nun ihre Macht, um die Aserbaidschaner, die während des Erdbebens ebenfalls ihre Häuser verloren hatten, durch Verweigerung der diesen zustehenden Kompensationszahlungen zu diskriminieren. Als Grund für diese Verweigerung gab der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei in Spitak, Norayr Muradyan, an, dass die Aserbaidschaner ihre Wohnungen am Tag vor dem Beben angeblich mit den Wohnungen der Armenier in Baku ausgetauscht hatten.128 Der Ruf nach einer Zentralisierung der Kräfte für den Wiederaufbau hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die Kommunistische Partei Armeniens nur noch wenige Befugnisse hatte. Sie hatte in Armenien an Macht und Autorität verloren, was der Zweite Sekretär der Kommunistischen Partei in Armenien, Oleg Lobov, auch offiziell in einem Schreiben an Nikolaj Ryžkov zugab. Hierin bat er darum, eine kompetente Kommission unter der Leitung von Vitalij Dogužiev und Spezialisten von Gosstroj zu schicken, da, wie er selbst eingestand, seine eigenen Worte diesbezüglich »oftmals in der Luft hängen blieben«.129 Der bereits vor dem Erdbeben eingetretene Machtverlust hatte sich durch das schlechte Katastrophenmanagement noch mehr manifestiert und führte schließ125 Ebd. sowie GARF f. 5446, op. 162, d. 262, l. 165–175, Bericht der Wissenschaftler A. G. ­Aganbegjan und G. V. Starovojtova für N. I. Ryžkov vom 14. September 1990. 126 Der Vorstand des Spitaker Ratss des Stadtbezirks erstattete gegen Norayr Muradyan, den Ersten Parteisekretär von Spitak (1988–1991), im April 1992 Strafanzeige. Ihm wurde vorgeworfen, Hilfsgelder unterschlagen zu haben. Siehe Privatarchiv Muradyan, Ordner 54, Telegramm von P. A. Asatrjan, Vorstand des Stadtbezirks, an Norayr Muradyan vom 30. April 1992. 127 HAA f. 1159, op. 3, d. 1, ll. 58–62, Erlass des ZK KP ArSSR über ausreisende Aserbaidschaner vom 22. Dezember 1988. Siehe auch Ausführungen dazu in Kapitel 3. 128 Elie: »Au centre d’un double malheur«. 129 Vgl. HAA f. 1, op. 127, d. 778, ll. 15–16, Bericht von O. I. Lobov an N. I. Ryžkov über die Wiederaufbauarbeiten vom 31. Januar 1990.

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lich fast zur Handlungsunfähigkeit der armenischen Parteielite. Auch armenische Intellektuelle wie Galina Starovojtova und Gorbačevs Wirtschaftsberater Abel Aganbegjan forderten vom Politbüro, zur Verbesserung der Lage eine zentrale Anlaufstelle in Jerewan zu schaffen, die mit einem vom Politbüro entsandten Minister besetzt werden sollte.130 Moskau blieb also trotz allem der Drehund Angelpunkt, der sich der armenischen Sache anzunehmen hatte. Je mehr sich die armenische Regierung jedoch nach einer führenden Hand aus Moskau sehnte, desto weniger wollte und konnte Moskau sich mit fortschreitender Zeit der Probleme in der Peripherie annehmen. Die Reformen Gorbačevs, mit welchen den Unionsrepubliken mehr Freiheiten gewährt werden sollten, waren damit ad absurdum geführt worden. Die armenische Parteielite war nicht nur auf materielle Hilfe aus Moskau angewiesen, sondern auch auf dessen Hilfe bei der Koordinierung. Wie schon bei Sumgait und der Karabachfrage baten sie Moskau, Hilfe zu leisten, doch die tatsächliche Einflussnahme Moskaus und dessen Wirkmacht in der Peripherie zeigten sich höchstens noch im Diktat der Pläne, weniger in deren Umsetzung. Zwischen Arbeitermangel und Ungehorsam Zum Mangel an Materialien, Geräten, Kapital und einer funktionierenden Koordination gesellte sich, wie auch schon bei der Baikal-Amur-Magistrale und anderen sowjetischen Großprojekten, der Mangel an Bauarbeitern und ausgebildeten Fachkräften. Arbeiterfluktuation war ein chronisches Problem, das die Sowjetunion über alle Jahrzehnte in fast allen Bereichen – in der Landwirtschaft, dem Militär, dem Bauwesen und vielen anderen – begleitete. Das lag daran, dass sowjetische Produktionsweisen extrem arbeitsaufwendig waren, weil Maschinen fehlten, der Bedarf an Arbeitskräften also außerordentlich hoch war und dass zudem die Bezahlung nicht genügte, die Motivation also gering war.131 Im armenischen Fall ist der Mangel an Arbeitern auf den ersten Blick 130 GARF f. 5446, op. 162, d. 262, ll. 165–175, Bericht der Wissenschaftler A. G. Aganbegjan und G. V. Starovojtova für N. I. Ryžkov vom 14. September 1990. 131 Zum Arbeitermangel siehe: Schroeder, Gertrude E.: Managing Labour Shortages in the Soviet Union, in: Jan Adam (Hg.): Employment Policies in the Soviet Union and Eastern Europe. Second Revised Edition, New York 1987, S. 3–26; siehe auch die Arbeitsgesetze in den 1930er bis 1950er Jahren und die »Anti-Parasiten«-Gesetze der 1960er Jahre zur Bindung der Arbeiter an die Betriebe als Lösung für Arbeitermangel, Sokolov, Andrei: Forced Labor in Soviet Industry: The End of the 1930s to the Mid-1950s. An Overview, in: Paul R. ­Gregory/ Valery Lazarev (Hg.): The Economics of Forced Labor: The Soviet Gulag, Stanford 2003, S. 23–42; Fitzpatrick, Sheila: Social Parasites. How tramps, idle youth, and busy entrepre-

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dennoch überraschend, da die Arbeitslosigkeit in Armenien zum Zeitpunkt des Erdbebens 20 Prozent betrug.132 Mit dem Erdbeben wurden allein in der Erdbebenregion 38.400 Armenier arbeitslos. Hinzu kam eine große Anzahl armenischer Flüchtlinge aus Aserbaidschan, die ebenfalls noch keine Arbeit hatten. Auch wenn viele Flüchtlinge in Anbetracht der Lage nur kurz in Armenien verweilten und sich anschließend in anderen Republiken niederließen, war der Anteil der arbeitssuchenden Flüchtlinge sehr hoch. »Am Anfang des Jahres kamen die Besten der Besten her«, schrieb die Izvestija über die Arbeiter des Wiederaufbaus, »in einigen Regionen und Republiken gab es sogar Warteschlangen – wen sollte man als Erstes in die ›Zone‹ schicken?«133 Aber das änderte sich rasch oder entsprach vielleicht auch nie den Tatsachen. Von den erforderlichen 72.000 Bauarbeitern gab es im Juli 1989 lediglich 27.000 auf den Baustellen, wovon nur die Hälfte aus Armenien selbst kam.134 Im Januar 1990 suchte der sowjetarmenische Ministerrat noch 69.000 Arbeiter für seine Baustellen.135 Im Vergleich dazu gab es in Taschkent in den Jahren des Wiederaufbaus geradezu einen Ansturm von Bauarbeitern. Hier haben wohl um die 100.000 Bauarbeiter gearbeitet, wobei manche nur wegen der Prämie kamen und bald wieder abreisten.136 Dieser Mangel an Arbeitern in Armenien bedarf angesichts der hohen Arbeitslosigkeit also einer Erklärung. In erster Linie war der Bedarf an Arbeitern aufgrund der erwähnten arbeitsintensiven Bauproduktion sehr hoch, was den Mangel erst so offensichtlich machte. Aber die niedrige Beteiligung armenischer Bauarbeiter erklärte sich des Weiteren durch die defizitäre Beschäftigungsstruktur in der Sowjetunion. Viele Armenier waren gut ausgebildet und wollten nicht in schlecht bezahlten Jobs auf dem Bau arbeiten. Dieses Problem bestand vor allem in den Städten Kirovakan und Leninakan, wo qualifizierte Industriearbeiter Angst hatten, ihre neurs impeded the Soviet march to communism, in: Cahiers du Monde russe 47 (2006) 1–2, S. 377–408; Filtzer, Donald: Labor Discipline, the Use of Work Time, and the Decline of the Soviet System, 1928–1991, in: International Labour and Working-Class History 50 (1996), S. 9–28. 132 Stand März 1989 siehe GARF f. 5446, op. 150, d. 279, ll. 43–44, Brief des ZK KP ArSSR an den Ministerrat der UdSSR, N. I. Ryžkov vom 13. März 1989. 133 Izvestija 298, 24.10.1989, S. 4. 134 GARF f. 5446, op. 150, d. 281, ll. 54–65, hier l. 56, Brief vom Ministerrat ArSSR an den Ministerrat der UdSSR, N. I. Ryžkov vom 19. Juli 1989. 135 HAA f. 1, op. 127, d. 768, ll. 15–22, hier l. 20, Beschluss des ZK KP ArSSR und des Ministerrats der ArSSR über die Rekrutierung von Arbeitern vom 25. Januar 1990. 136 Ende 1968, also zwei Jahre nach dem Erdbeben, arbeiteten noch knapp 70.000 Bauarbeiter auf den Baustellen in Taschkent. Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Benjamin Kaelin, der zum Erdbeben in Taschkent gerade seine Doktorarbeit verfasst.

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gute Qualifikation entweder durch niedere Arbeit auf dem Bau oder durch Umschulung zu verlieren.137 Engpässe in den »schmutzigen« Berufen hatten sich bereits in den 1950er Jahren eingestellt, als alle, vom Technikkult berauscht, davon geträumt hatten, nur noch saubere Anlagen bedienen zu müssen. Schon damals hatte sich bemerkbar gemacht, dass der durch die sowjetische Propaganda beschriebene Fortschritt durch Technik die Bevölkerung zwar für den »Aufbau des Kommunismus« begeisterte, aber innerhalb dieser Fantasie keinen Platz für Handwerker ließ.138 Die armenische Bevölkerung war im Durchschnitt zu gut ausgebildet, um sich trotz der massiven Arbeitslosigkeit für die Arbeit auf dem Bau zu begeistern. Ein anderes Problem stellte der Mangel an armenischen Fachkräften dar, die erdbebensicheres Bauen für eine mögliche Erdbebenstärke von 9 Punkten auf der sowjetischen Skala beherrschten.139 Das lag womöglich daran, dass in den seismischen Karten von 1975 Armenien nur einer maximal möglichen Erdbebenstärke von 8 zugeordnet worden war und die spezialisierte Bauausbildung demnach nur auf Fertigkeiten für diese Stärke ausgerichtet war. Außerdem hatte der zunehmende Anteil von industriell vorgefertigten Wohnbauten über die Jahrzehnte dazu geführt, dass sich das traditionelle Bauhandwerk nicht hatte entwickeln können. Somit waren anstelle von dringend benötigten Baufachkräften nur Monteure für Betonplatten verfügbar. Logistisch gesehen kam hinzu, dass für die zahlreichen Bauprojekte detaillierte technische Dokumentationen fehlten, die aber notwendig gewesen wären, um die Bedarfs- und Gehalts­ tabellen aufzustellen. Somit konnten für viele Stellen lange Zeit keine konkreten Gehälter ermittelt und niemand eingestellt werden.140 Das führte schließlich dazu, dass viele, unter ihnen auch die wenigen Bauarbeiter, die es in der Region noch gab, stattdessen nach Russland gingen, um dort auf den Baustellen zu arbeiten, wo sie teilweise das Fünffache verdienten.141 Das lag wiederum daran, dass Bauarbeiter, die von außerhalb kamen, Zulagen erhielten, die einheimischen Arbeitern verwehrt blieben. Die Mobilisierungskampagnen, mit denen man in der Sowjetunion Arbeiter für Baustellen gewinnen wollte, schienen sich 137 Vgl. HAA f. 1, op. 127, d. 697, ll. 44–49, Brief des Vorstands des Komitees für Arbeit und Soziales der ArSSR an das ZK KP ArSSR vom 2. November 1989. In Leninakan, einer Stadt mit 230.000 Einwohnern, bildete nur eine Berufsschule Bauarbeiter aus. Vgl. ebd. 138 Ausführlicher dazu Gestwa: Die Stalinschen Großbauten, S. 377. 139 HAA f. 1, op. 127, d. 697 l. 48, Brief des Vorstands des Komitees für Arbeit und Soziales der ArSSR an das ZK KP ArSSR vom 2. November 1989. 140 Ebd. und HAA f. 1, op. 84, d. 40, ll. 66–77, Beschluss vom ZK KP der Armenischen SSR über die Rekrutierung von Arbeitern vom 25. Januar 1990. 141 Sovetakan Hayastan 27, 29.01.1989, S. 2; Krokodil 21, 1989, S. 4.

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selbst ad absurdum zu führen. Allein im Jahr 1989 reisten 12.700 Armenier in andere sowjetische Republiken zur Saisonarbeit aus, 5000 davon kamen aus der Erdbebenregion.142 Statt also ihre eigene Republik gemeinsam mit ihren Bruderrepubliken wiederaufzubauen, schraubten und mauerten sie weit entfernt von der Heimat. Gleichzeitig beschwerten sich die Baubrigaden in den anderen Unionsrepubliken darüber, dass sie Materialien, Arbeiter und Geräte nach Armenien schicken sollten, während auf den Baustellen in beispielsweise Kasachstan Armenier weiterhin Rohre verlegten und damit wiederum mit den kasachischen Kollegen auf dem Arbeitsmarkt konkurrierten.143 Um der starken Arbeitsmigration entgegenzuwirken, wurden auf Anweisung des armenischen Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Artikel in Zeitungen veröffentlicht, um die Arbeiter, die »abwandern und ein Parasitenleben« führen wollten, zum Bleiben zu bewegen.144 Mit Artikelüberschriften wie »Ich bin nicht für den schnellen Rubel weggegangen« sollte vermutlich an den Patriotismus der ausreisenden Bauarbeiter appelliert werden.145 Als sich bereits im April 1989 abzeichnete, dass der Wiederaufbau nicht mit den Kräften der vorhandenen Bauarbeiter allein gestemmt werden konnte, vergab die armenische Regierung, ähnlich wie in Taschkent 1966, Kleinkredite an Familien, um den individuellen Hausbau anzukurbeln und zu beschleunigen.146 Im August 1989 rang sich die sowjetarmenische Regierung schließlich dazu durch, armenischen Arbeitern finanzielle Anreize zu bieten, sollten sie sich für zwei Jahre auf dem Bau verpflichten. So wurde ihnen angeboten, beim Bedarf an bestimmten Produkten und Dienstleistungen die Warteliste überspringen zu dürfen oder eine Wohnung oder gar ein Grundstück schneller zu bekommen.147 Jungen Arbeitern im studienfähigen Alter wurde ein Studienplatz in Jerewan 142 Vgl. HAA f. 1, op. 84, d. 40, ll. 66–77, Beschluss vom ZK KP ArSSR über die Rekrutierung von Arbeitern vom 25. Januar 1990. Die ersten Beschwerden über ausreisende Bauarbeiter häufen sich ab April 1989, siehe Kommunist 89, 15.04.1989, S. 1. 143 Vgl. HAA f. 1, op. 127, d. 755, ll. 4, Brief eines Arbeiterkollektives aus dem kasachischen Unternehmen »Uralspecstrojtransgaz« an S. Harut’unyan vom 24. April 1989. 144 HAA f. 1, op. 127, d. 768, ll. 15–19, hier l. 18, Beschluss des ZK KP ArSSR und des Ministerrates ArSSR über die Rekrutierung von Arbeitern vom 25. Januar 1990. 145 Kommunist 148, 23.06.1989 S. 3. 146 Sovetakan Hayastan 96, 21.04.1989, S. 1; Sovetakan Hayastan 98, 23.04.1989, S. 1–2. Zu Taschkent siehe Elie/Huret: Soviet and American Ways, S. 20. 147 Der Wohnraummangel war wie in vielen Teilen der Sowjetunion auch in Armenien ein Pro­ blem. Im September 1988, also noch vor dem Erdbeben, warteten 3000 Familien auf Wohnungen, 10.000 Familien wohnten in stark renovierungsbedürftigen Wohnungen. Vgl. HAA f. 1, op. 82, d. 5, ll. 3–74, hier l. 13, Rede von S. Harut’unyan im ZK KP ArSSR am 13. September 1988.

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versprochen.148 Während diese Art von Anreizen in der Sowjetunion üblich war, war es neu, dass die Kommunistische Partei Beschlüsse erließ, nach denen die Regions- und Stadtkomitees den Ausreisewilligen entsprechende Ausreise­ dokumente verweigern und strengere Kontrollen vornehmen sollten, damit diese in Armenien blieben.149 Das Problem der besseren Bezahlung war damit jedoch noch nicht gelöst und war bei der damaligen Wirtschaftslage Armeniens auf diesem Wege auch nicht zu lösen. Schließlich wollte sich in der politisch und wirtschaftlich unsicheren Situation niemand für zwei Jahre auf dem Bau verpflichten. Das Vertrauen in die Erfolgsaussichten des sozialistischen Projekts war offenbar schon zu niedrig. Vorschläge, die Lage auf den Baustellen zugunsten der armenischen Bauarbeiter zu verbessern, kamen auch von der Bevölkerung selbst. So regten einige Bewohner dazu an, Gruppen nach Berufen zu bilden und den tatsächlichen Bedarf an Arbeitern aus den anderen Republiken zu ermitteln.150 Ein Artikel in der Jerewaner Zeitung Erekoyan Erevan rief dazu auf, einen »Rat der Wiederbelebung« zu gründen, der sich insbesondere für die Arbeitsvermittlung für Flüchtlinge und Überlebende des Erdbebens einsetzen sollte, da diese durch die Mitwirkung am Wiederaufbau die erlebten Tragödien besser verarbeiten könnten.151 Diese Eigeninitiativen aus der Bevölkerung verdeutlichen, wie unzureichend diese so wichtige Aufgabe der Bedarfsermittlung und der effektiven Arbeitsverteilung von den offiziellen Strukturen erfüllt wurde, und implizieren gleichzeitig eine Kritik an der zentralen Planwirtschaft der Sowjetunion, die der Idee nach dieses Problem lösen sollte. Aber sie zeigten auch das große Interesse der Bevölkerung, am Wiederaufbauprozess beteiligt zu sein. So suggerierte der Name des Zusammenschlusses, »Rat der Wiederbelebung«, dass die Bürger nicht nur dem sterbenden Wiederaufbauprozess dringend einen lebendigen Impuls geben wollten, sondern auch den apathisch herumsitzenden arbeitslosen Armeniern. Der Mangel an Arbeitern sollte zudem mithilfe der anderen Unionsrepubliken kompensiert werden. Dabei konnten die Bauunternehmen aus den Republiken selbst entscheiden, ob und wie viele Armenier sie in ihren Brigaden anstellen 148 Kommunist 182, 06.08.1989, S. 4. 149 Vgl. HAA f. 1, op. 84, d. 40, ll. 66–77, Beschluss vom ZK KP der Armenischen SSR über die Rekrutierung von Arbeitern vom 25. Januar 1990. 150 HAA f. 1, op. 127, d. 757, ll. 91–94, Brief von T. Petrosyan, Rentner aus Jerewan, an das ZK der KP Armeniens vom 18. Mai 1989. 151 HAA f. 1, op. 127, d. 755, ll. 23–24, Brief an die Zeitung Erekoyan Erevan mit 19 Unterschriften von Armeniern vom 19. Juli 1989.

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wollten. Die Bereitschaft, in Armenien zu arbeiten, war jedoch nicht sehr groß. Im Durchschnitt erschienen von den aus anderen Republiken angeforderten Arbeitern nur etwa 20 Prozent und diese blieben oftmals nur über einen kurzen Zeitraum.152 Das war darauf zurückzuführen, dass jede Republik ihre Arbeiter selbst bezahlen musste. Eine weit entfernte Republik musste also viel Geld für Hin- und Rückfahrten ausgeben. Durch eine enorme Arbeitsfluktuation wurden die Kosten zusätzlich in die Höhe getrieben, da dadurch mehr Fahrten finanziert werden mussten. Zudem hielten die miserablen Arbeits- und Wohnbedingungen in Armenien Arbeiter aus anderen Republiken davon ab, nach Armenien zu reisen oder für längere Zeit dort zu bleiben.153 Die Vorstellung von gut organisierten Baustellen, die durch die Presse der vorangegangenen Jahrzehnte gespeist worden war, hatte weder damals der Wirklichkeit entsprochen noch tat sie es jetzt. Während in Taschkent 1966 manche Bauarbeiter trotz Anreizen ferngeblieben waren, weil sie in der Hitze in Zelten hätten hausen müssen, wollten nur wenige in Armenien bei Minusgraden ohne feste Behausung leben.154 Mancherorts beschwerten sich die Gäste auch nur darüber, dass nicht für ausreichend Unterhaltung und Beschäftigung am Abend gesorgt wurde.155 Darüber hinaus reichte die Lebensmittelversorgung bei Weitem nicht für alle aus.156 So wurden in Spitak große Versorgungschwierigkeiten gemeldet, die sich noch verschlimmerten, als im Sommer 1989 viele Evakuierte nach Spitak zurückkehrten. Die Menge der Lebensmittel war auf 10.000 Menschen ausgerichtet, jedoch lebten dort nun, zusammen mit den Bauarbeitern, 40.000. Sowohl die Bewohner als auch die Bauarbeiter klagten über Hunger und leere Geschäfte – ein Phänomen, das zum gleichen Zeitpunkt viele Menschen in der Sowjetunion 152 Je nach Quelle schickte Aserbaidschan nur zehn Prozent der geforderten Arbeiter, Lettland 30 Prozent, Kirgistan 30 Prozent, Tadschikistan 50 Prozent und Turkmenistan 16 Prozent. Beispielsweise GARF f. 5446, op. 150, d. 278, ll. 30–55, Brief vom Ministerrat der UdSSR an die jeweiligen Ministerräte der am Wiederaufbau beteiligten Republiken vom 9. August 1989. 153 Darauf wird an mehreren Stellen hingewiesen. Vgl. u. a. HAA f. 1, op. 127, d. 697, ll. 44–49, Brief vom Komitee für Arbeit und Soziales der ArSSR an das ZK KP ArSSR vom 2. November 1989. Siehe auch den Artikel in Kommunist 156, 01.07.1989, S. 3, in dem der Polizeichef Armeniens in der mangelnden Freizeitbeschäftigung einen Grund für die steigende Kriminalität sieht. 154 Zu den Taschkent fernbleibenden Arbeitern aus anderen Republiken siehe Elie/Huret: Soviet and American Ways und Raab: The Tashkent Earthquake, S. 283. 155 Vgl. GARF f. 5446, op. 162, d. 262, ll. 165–175, Bericht der Wissenschaftler A. G. Aganbegjan und G. V. Starovojtova für N. I. Ryžkov vom 14. September 1990. 156 Vgl. HAA f. 113, op. 161, d. 318, l. 4, Brief eines Arbeiters in Spitak an das ZK KPSS vom 24. Januar 1989. Siehe auch HAA f. 113, op. 179, d. 1513, l. 83, Brief des Ministerrates der UsSSR an den Ministerrat der ArSSR mit der Bitte um mehr Lebensmittel- und Fleischlieferungen nach Spitak vom 26. Juli 1989.

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beschäftigte, aber hier besonders schwer wog.157 Bis Ende 1990 gab es immer noch keine Kanalisation in den meisten Orten, was das Wohnen dort zu einer weiteren Herausforderung für die Arbeiter und die Zurückgekehrten machte.158 Arbeitermangel hatte es auch schon beim Bau der Retortenstadt Ševčenko in Kasachstan (heute Aqtau), der Baikal-Amur-Magistrale und eigentlich fast jedem anderen Großprojekt gegeben, weshalb die sowjetische Regierung auf Zwangsarbeiter aus den Straflagern zurückgegriffen hatte.159 Beim Bau der Wasserkraftwerke in den 1950er Jahren war es nach der Umstrukturierung der Straflager 1953 und dem damit einhergehenden Wegfall Tausender kosten­ loser Arbeiter zu einem solch starken Arbeitermangel gekommen, dass man oft befürchtet hatte, die Bauten nicht fertigstellen zu können.160 In Armenien gab es zur Lösung des Problems den Vorschlag, zusätzlich Armee-Baubrigaden für den Bau einzusetzen. Diese Idee war nicht neu und beispielsweise schon für den Bau der Baikal-Amur-Magistrale und andere sowjetische Großprojekte umgesetzt worden.161 Viele Bauorganisationen appellierten, wenn sie in Schwierigkeiten kamen, an die Regierung, sie müssten Soldaten zur Verfügung gestellt bekommen; andernfalls sei der Plan nicht einzuhalten.162 Im Zuge der Glasnost’-Reformen kritisierten Militärmitarbeiter die Anstellung von Soldaten für Großbaustellen jedoch heftig, da die als militärische Übung deklarierte Arbeit extrem schlecht bzw. gar nicht bezahlt wurde. Oftmals wohnten die Soldaten in elenden Behausungen und litten später aufgrund der schlechten Versorgung an Krankheiten.163 Als Resultat arbeiteten sie extrem unmotiviert und langsam, was sich wiedrum auf die Produktivität auswirkte. Im Oktober 1990 beschloss die Kommunistische Partei Sowjetarmeniens, dass junge armenische Männer sich, anstatt zum Wehrdienst zu gehen, jetzt zwei bis drei Jahre auf den Baustellen in der Erdbebenregion verpflichten sollten. Auf diese Weise wollte sie 30.000 bis 40.000 Arbeiter rekrutieren.164 Im 157 Vgl. Kommunist 183, 08.08.1989, S. 3 und GARF f. 5446, op. 162, d. 263, ll. 14–15, Brief vom Ministerrat der ArSSR an den Ministerrat der UdSSR vom 17. Oktober 1990. 158 Vgl. GARF f. 5446, op. 162, d. 262, ll. 165–175, Bericht der Wissenschaftler A. G. Aganbegjan und G. V. Starovojtova für N. I. Ryžkov vom 14. September 1990. 159 Guth: Stadt der Wissenschaftlich-Technischen Revolution, S. 112–115. 160 Gestwa: Die Stalinschen Großbauten, S. 393–440. 161 Siehe Grützmacher: Die Baikal-Amur-Magistrale, S. 238; Gestwa: Die Stalinschen Großbauten, S. 440. 162 Izvestija 234, 21.08.1989, S. 2. 163 Pravda 116, 26.04.1989, S. 3; Graham, Loren R.: The Ghost of the Executed Engineer. Technology and the Fall of the Soviet Union, Cambridge, Massachusetts 1993, S. 87. 164 HAA f. 1, op. 127, d. 691, ll. 81–82, Brief von S. Harut’unyan an M. S. Gorbačev vom 25. Oktober 1989.

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Dezember 1990 wurden zunächst mehrere Hundert Rekruten, Armenier und Nichtarmenier, auf den Baustellen eingesetzt, um dort ihren Armeedienst für die sowjetische Armee zu leisten.165 Die Disziplin in den sowjetarmenischen Armeeeinheiten sank jedoch mit zunehmender Popularität der Nationalbewegung, die sich dafür einsetzte, eine eigene, von der Sowjetunion unabhängige Armee zu gründen – ein Akt, der als Fundament für die bald folgende Unabhängigkeit galt. Den Wunsch, nicht mehr in der sowjetischen Armee zu dienen, begründete der Oberste Sowjet Armeniens im Mai 1990 damit, dass die Sicherheit seiner armenischen Soldaten innerhalb der sowjetischen Armee seit Sommer 1988 nicht mehr gewährleistet sei. Viele seiner Soldaten seien insbesondere vonseiten aserbaidschanischer Soldaten massiver Gewalt ausgesetzt gewesen.166 Immerhin erreichte der Oberste Sowjet Armeniens, dass 15 anstatt fünf Prozent seiner 20.000 jährlichen Rekruten in Armenien stationiert wurden.167 Von diesen waren aber auch nicht alle gewillt, in der Armenischen SSR zu arbeiten. Im Januar 1990 berichtete die Krasnaja Zvezda von 1200 armenischen Wehrdienstverweigerern, was sich vermutlich auch auf die Rekrutierung von Arbeitern für armenische Baustellen auswirkte.168 Die Wirkungslosigkeit auch dieser letzten Maßnahme, Arbeiter zu rekrutieren, wirft einen erhellenden Blick auf die verschwindend geringe Arbeiterdisziplin in der Sowjetunion kurz vor deren Ende.169 Die gegebenen Strukturen und sozialen Faktoren machten es unmöglich, ein Großprojekt dieser Art effizient durchzuführen, womit die Rekrutierung von Arbeitern für den Wiederaufbau in Armenien im krassen Gegensatz zu jenem in Taschkent 1966 steht. Das liegt jedoch auch daran, dass die Arbeit in Taschkent leichter und attraktiver war, da ein Großteil der Zerstörungen von den Bauherren selbst ausgelöst wurde und nicht durch das Erdbeben, wodurch der Wiederaufbau einfacher war. Der Generalplan für Taschkent, eine Stadt – in Armenien waren drei Städte und zahlreiche Dörfer zerstört – lag bereit, es kam also nicht zu demotivierenden Wartezeiten. 165 So waren in Kirovakan 700 militärische Bauarbeiter tätig, von denen 450 armenischer Nationalität waren. Aus einem Schreiben geht hervor, dass sie im Dezember 1990 von der sowjetischen Armee eingezogen worden sind. Vgl. HAA f. 113, op. 180, d. 181, ll. 84–90, Schreiben des Leiters der Abteilung Bau des Ministeriums für Atomenergie und Atomindustrie der UdSSR an den Vorstand des Ministerrates der ArSSR vom 5. März 1991. 166 GARF f. 9654, op. 10, d. 84, ll. 96–97, Beschluss vom Obersten Sowjet der ArSSR vom 3. Mai 1990. 167 Mouradian: The Mountainous Karabagh Question, S. 29. 168 Ebd. 169 Zur Arbeitsdisziplin als einem Grund für die Auflösung des sowjetischen Systems siehe ­Filtzer: Labor Discipline.

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Nicht zuletzt herrschte im Gegensatz zu Armenien, wo die Winter kalt waren und im Norden relativ lange dauerten, in Taschkent ein fast durchweg warmes Klima. Dort ist es durch die relativ erfolgreiche Mobilisierung gelungen, aus der Katastrophe eine Erfolgsgeschichte des Sozialismus zu machen. In Armenien mangelte es an Arbeitern, da sie keinerlei Interesse mehr am Aufbau des Sozialismus bewiesen. Die geringen finanziellen Anreize waren vermutlich nur für Arbeiter aus den ärmeren Republiken wie Usbekistan attraktiv und einen anderen Magneten gab es Ende der 1980er Jahre nicht mehr. Als Armenien mit der Zeit immer mehr aus den Nachrichten verschwand, handelte es sich beim Wiederaufbau der Städte auch nicht mehr um ein prestigeträchtiges Bauvor­ haben, sondern er war vielmehr zu einer zweiten Katastrophe herangewachsen, an der kein Bauarbeiter unter solchen Bedingungen teilnehmen wollte. Der Wiederaufbau als Spielball ethnischer Konflikte Zum Mangel an Arbeitskräften, Material und einer unterstützenden Arbeitsstruktur kam erschwerend eine im Juli 1989 von Aserbaidschan verhängte Transportblockade hinzu. Dies bedeutete, dass der Zugverkehr zwischen Armenien und Aserbaidschan an den Grenzorten zwischen Idževan und Agstafa im Nordosten Armeniens und an den Republikgrenzen in Nachičevan im Süden Armeniens blockiert wurde (s. Karte, S. 10–11). Da 85 Prozent des armenischen Schienenverkehrs über Aserbaidschan verliefen, kam das einem Totalausfall der Versorgung auf allen Ebenen gleich.170 Der Eisenbahnverkehr über Georgien war für die hohe Anzahl an zu transportierenden Güterwaggons keine Alternative, da die größtenteils eingleisig gebaute Strecke von Tblissi über Suchumi in die RSFSR nicht so belastbar war. Außerdem gab es über Baku kürzere und einfachere Verbindungen mit den anderen Republiken – insbesondere mit den zentralasiatischen –, aus denen Material und Hilfsgüter nach Armenien geschickt wurden. Bereits vor der Blockade waren Güter auf Zügen, die durch Aserbaidschan nach Armenien fuhren, zerstört worden. So waren die Nahrungsmittel vergammelt und die temporären Häuser zerbrochen oder unvollständig angekommen. Manchmal hatten die Täter den Zement mit Wasser übergossen und ihn so unbrauchbar gebracht.171 Im Gegenzug hatten Ende Juli 1989 Gruppen von Armeniern in Meghri, einer Stadt im Süden Armeniens, versucht, den 170 De Waal: Black Garden, S. 87. 171 GARF f. 5446, op. 162, d. 262, ll. 33–35, Bericht des Ministerrates der ArSSR an den Ministerrat der UdSSR vom 10. Dezember 1989; Kommunist 181, 04.08.1989, S. 4. Zum Zement Kommunist 251, 31.10.1989, S. 3.

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Zugverkehr zwischen Baku und Nachčivan, der aserbaidschanischen Exklave, die nur über die Armenische SSR zu erreichen war, zu stören.172 Vielleicht als Reaktion darauf oder infolge einer Akkumulation der Ereignisse ließ Aserbaidschan kurz darauf, ab Ende Juli 1989, überhaupt keine Züge mit humanitärer Hilfe und Baumaterialien mehr nach Armenien. Für Armenien hatte diese Blockade, welche vorerst bis Anfang Oktober 1989 anhielt, also etwas mehr als zwei Monate, weitreichende Konsequenzen. Zum einen kam der Wiederaufbau für diesen Zeitraum zum Erliegen, da nun erst recht keine Materialien mehr zur Verfügung standen. Zudem fehlte es auch an lebenswichtigen Medikamenten und Nahrungsmitteln. Ohne Gas, das ebenfalls von Baku über die Schienen transportiert wurde, konnten die Krankenhäuser in Armenien nicht mehr ausreichend versorgt und beheizt werden.173 Zwischen Ende Juli und Ende September kamen nach den Angaben der armenischen Zeitung Kommunist von 20 000 Waggons nur 272 in Armenien an.174 Zum anderen traf die Blockade nicht nur die Erdbebenregion, sondern durch sie wurde das gesamte armenische Wirtschaftsleben lahmgelegt. Den Fabriken fehlten nun wichtige Zulieferprodukte und Rohstoffe, die sie für die Herstellung von zum Export in andere Republiken bestimmten Produkten benötigten. Da sie dadurch die Produktionspläne nicht mehr erfüllen konnten, sollten die Fabriken trotz der Ausnahmesituation Strafen zahlen.175 Bereits produzierte Ware konnte nicht mehr ausgeliefert und für den jetzt so dringend benötigten Handel freigegeben werden. Zur Naturkatastrophe gesellten sich nun ein selbst gemachtes humanitäres Desaster und eine politische Katastrophe. Dafür verantwortlich waren die Mitglieder der aserbaidschanischen Volksfront, jener aserbaidschanischen nationalen Bewegung, die vehement für den Erhalt Bergkarabachs innerhalb der Aserbaidschanischen SSR und gleichzeitig für Aserbaidschans Unabhängigkeit von der Sowjetunion eintrat. Genau wie das Karabachkomitee in Armenien lieferten sie sich seit eineinhalb Jahren erbitterte Kämpfe mit dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. Einerseits wollten sie mit der Blockade erreichen, dass Armenien den Anspruch auf Bergkarabach fallen ließ. Andererseits, und das ist ausschlaggebender, war die Blockade für sie ein nützlicher politischer Hebel, den sie gegen die aserbaid172 GARF f. 9654, op. 6, d. 95, l. 78, Bericht über die Lage im Transkaukasus vom 31. Juli 1989. 173 GARF f. 5446, op. 162, d. 262, l. 11, Telegramm des Ministerrats der ArSSR an den Ministerrat der UdSSR vom 23. Januar 1990. 174 Kommunist 224, 27.09.1989, S. 1. 175 GARF f. 5446, op. 162, d. 262, ll. 5–6, Brief vom Ersten Parteisekretär des Rajons Gugarskij an den Ministerrat der UdSSR vom 18. Januar 1990.

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schanische Regierung einsetzen konnten.176 Denn damit erreichten sie die Verabschiedung eines Gesetzes über die Souveränität Aserbaidschans, nach dem die Rechtswirksamkeit der sowjetischen Gesetze nur dann akzeptiert würde, wenn diese nicht gegen die souveränen Rechte der Aserbaidschanischen SSR verstießen. Darüber hinaus erzwangen sie dadurch die offizielle Registrierung der Volksfront als legale Organisation Anfang Oktober 1989.177 Kurz darauf wurde die Blockade auch für einen Monat abgezogen, bevor sie dann ab Januar 1990 für fast vier Monate erneut die Armenische SSR lahmlegte. In dieser Zeit geriet die Situation zwischen Aserbaidschanern und Armeniern in Baku derart außer Kontrolle, dass Gorbačev, der sich seit eineinhalb Jahren gegen die Anwendung von Gewalt einsetzte, in Aserbaidschan den Notstand ausrief und Truppen nach Baku sandte. Hunderte Menschen starben bei dem Einsatz der Truppen des sowjetischen Innenministeriums, der als der »Schwarze Januar« in die Geschichte einging.178 Erst nachdem sich die Lage wieder beruhigt hatte, wurde auch die Transportblockade Ende April 1990 endgültig aufgehoben.179 Dass Moskau auf die Blockade vorerst kaum reagierte, sollte sich für die Beziehungen zu Armenien als fatal erweisen. Zwar drohte Gorbačev in einer Sitzung des Obersten Sowjets Ende September 1989 damit, außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen, sollte die Blockade nicht innerhalb von zwei Tagen aufgehoben werden, und entsandte im Oktober 1989 Truppen des Innenministeriums, die den Schienenverkehr regulieren sollten, aber diese Aktionen bewirkten nichts; die Züge kamen weiterhin nicht bis nach Armenien.180 Auch die Bemühungen, den Schienenverkehr über Georgien zu erweitern und zusätzliche Ressourcen aus Reserven des Verteidigungsministeriums freizumachen, waren keine weitgreifende Lösung.181 Als sich die Situation auch in Aserbaidschan erneut zuspitzte und die aserbaidschanische Kommunistische Partei gegenüber der aserbaidschanischen Volksfront kapitulierte, gab Moskau am 28. November 1989 die direkte politische Herrschaft über Karabach auf, die sie im Juli 1988 aufgrund des Konflikts übernommen hatte, und unterstellte Karabach erneut der Führung des lokalen aserbaidschanischen Sowjets, in der Hoffnung, die Blo176 De Waal: Black Garden, S. 87. 177 Ebd. 178 Ebd., S. 89–93. 179 GARF f. 5446, op. 162, d. 262, l. 114, Notiz von Lev Voronin über das Ende der Blockade vom 26. April 1990. 180 Altrichter: Russland 1989, S. 228. (In Kommunist 244, 27.09.1989, S. 1 wird die Sitzung erwähnt, aber nicht Gorbačevs Reaktion.) De Waal: Black Garden, S. 87. 181 GARF f. 5446, op. 162, d. 262, l. 92, Brief an das ZK KPSS von N. Kozichin vom 29. März 1990.

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ckade so auflösen zu können.182 Damit befriedete das Politbüro zwar die aserbaidschanische Volksfront, zog aber den Zorn der Armenier auf sich. Und allem zum Trotz führte die aserbaidschanische Volksfront die Blockade dennoch fort. Warum das Politbüro nicht mehr gegen die Transportblockade unternahm, ist anhand der Quellenlage nur schwer zu sagen. Die aserbaidschanische Volksfront genoss zu diesem Zeitpunkt bereits eine starke Unterstützung unter der Bevölkerung und es ist möglich, dass Gorbačev befürchtete, ein stärkeres militärisches Eingreifen würde Gewalt auslösen. So befürwortete der sowjetische Innenminister Vadim Bakatin einen »Verhandlungsprozess in demokratischer Form: das Zentrum ist in Form eines Beobachters anwesend«, da es »in nationalen Konflikten keine militärischen Lösungen geben kann«.183 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die sowjetische Regierung mit der Situation im Kaukasus überfordert war und zunehmend die Kontrolle verlor. Die armenische Regierung konnte gegen die Blockade anscheinend wenig unternehmen; ihr blieben nur Drohungen auf dem Papier. So forderte sie in einem Erlass des Obersten Sowjets der Armenischen SSR unter anderem, dass der wirtschaftliche Schaden in Höhe von 229 Millionen Rubel, der durch die Blockade angeblich entstanden war, aus dem Budget der Aserbaidschanischen SSR gezahlt werden solle.184 Sie bat außerdem darum, dass der Armenischen SSR die Strafen, die den Fabriken wegen Nichterfüllung des Plans auferlegt wurden, erlassen würden. Moskau antwortete daraufhin, dass ein solcher Budgettransfer nach sowjetischem Gesetz nicht zulässig sei und dass die Sowjetunion zurzeit keine Kapazitäten habe, Armenien beim Aufbau der Wirtschaft zu helfen. Zudem sollten sie sich zur Abgleichung der Strafzahlungen in jedem einzelnen Fall an die staatliche Schlichtungsstelle (Gosarbitraž) wenden.185 Dieses Antwortschreiben deuteten die Armenier als eine Absage, Armenien beizustehen. Denn nicht nur weigerte sich Moskau, Hilfe zu leisten, um gegen die Blockade vorzugehen, es wollte sich auch nicht dafür einsetzen, dem doppelt geschädigten Land die Strafgelder zu erlassen. Andere Forderungen nach Flugzeugtransporten von Nahrung und einer Strafverfolgung der für die Blockade Verantwortlichen erfüllte Moskau ebenfalls nicht. Die sowjetische Regierung kam damit weder dem seit Jahrzehnten propagierten Fürsorgeversprechen noch dem Verspre182 Suny: The Revenge of the Past, S. 137. 183 Bakatin, Vadim: Doroga v prošedšem vremeni, Moskau 1999, S. 143 f. 184 GARF f. 5446, op. 162, d. 262, ll. 30–31, Erlass des Obersten Sowjets der ArSSR vom 27. November 1989, Erlass in Kommunist 221, 23.09.1989, S. 1. 185 GARF f. 5446, op. 162, d. 262, ll. 39, Brief vom Justizministerium der UdSSR an den Ministerrat der UdSSR vom 13. Dezember 1989.

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chen nach, für den Schutz der Bevölkerung zu sorgen. Für die kommunistische Elite in Armenien verdeutlichte die Blockade, dass sie von nun an auf sich allein gestellt war und auf keinerlei Unterstützung aus Moskau zu hoffen brauchte. Der Spalt zwischen der zentralen Regierung und der armenischen, die mittlerweile auch mit Mitgliedern des Karabachkomitees besetzt war, wurde immer größer. Das Nichteinhalten des Fürsorgeversprechens brachte auch die armenische Bevölkerung gegen das Zentrum in Moskau auf. Viele Fabrikdirektoren und von der Blockade betroffene Privatpersonen wandten sich in zahlreichen Telegrammen an Moskau und baten um Hilfe, z. B. in Form von militärischem Begleitschutz in den Zügen.186 »Die Sauerstoffzufuhr einer verwundeten Republik abzudrehen« kam manchen Briefschreibern »den Verbrechen der Faschisten gleich«.187 Bei einigen Sowjetbürgern, insbesondere solchen aus dem europäischen Teil Russlands, rief die Blockade Erinnerungen an die Leningrader Blockade wach.188 Indem sie so ihr Mitleid für die Menschen in Armenien zum Ausdruck brachten, zeigten sie auch ihre Unterstützung. Diese war den Armeniern auch von anderen, wesentlich offizielleren Stellen wie beispielsweise der Allunionsversammlung der Mediziner der UdSSR sicher, die gegen die Blockade mit einem in der Zeitung Kommunist veröffentlichten Brief protestierte.189 Zahlreiche Baubrigaden aus dem ganzen Land sendeten ebenfalls unermüdlich Telegramme nach Moskau, mit der Bitte, die Blockade aufzuheben. Allerdings ging es ihnen nicht selten mehr um ihre eigenen Arbeiter. So beklagten sie in den Telegrammen oftmals die Abwanderung der eigenen Fachleute durch die Arbeitslosigkeit und baten dringend um Lebensmittel und Baumaterialien.190 Die Blockade beschleunigte nicht nur den Bruch zwischen den beiden Republiken, sondern für viele Armenier bedeutete sie auch einen tiefen Bruch in den Beziehungen zwischen Moskau und Armenien. Schließlich hatte sich, darauf beriefen sich zumindest armenische Journalisten in einem Artikel von Oktober 1989, »die Sowjetunion dazu verpflichtet, den Republiken Schutz gegen jedwede Aggression zu bieten«.191 In der armenischen Zeitung Sovetakan Hayastan wurde

186 Kommunist 244, 27.09.1989, S. 1, Interview mit Norayr Muradyan (*1941), Moskau, 15.06.2013. Zahlreiche weitere Beschwerdetelegramme in GARF f. 5446, op. 162, d. 262 und HAA f. 1, op. 127, d. 699. 187 GARF f. 5446, op. 150, d. 277, l. 191, Telegramm aus der Fabrik Akson an den Obersten Sow­ jet der UdSSR vom 28. September 1989. 188 Kommunist 239, 15.10.1989, S. 4. 189 Kommunist 231, 05.10.1989, S. 1. 190 Kommunist 225, 28.09.1989, S. 3. 191 Kommunist 234, 10.10.1989, S. 1.

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die sowjetische Regierung indirekt für die Blockade verantwortlich gemacht.192 Die Tatenlosigkeit der sowjetischen Regierung stand nach der Meinung einiger armenischer Wissenschaftler »im Widerspruch zum Ziel der Demokratisierung«; und da »die Regierung keine gesetzmäßigen Normen garantieren konnte«, sahen sie sich im Recht, sich nun an den Obersten Rat Armeniens zu wenden, »um die Souveränität Armeniens einzufordern«.193 Die Rechnung schien einfach: Bei einem Bruch des Versprechens müsse der Bund aufgelöst werden. Auf Plakaten reihten Demonstranten die Blockade in den Genozid von 1915 und das Massaker in Sumgait im Februar 1988 ein. Daneben bildeten sie Gorbačev ab, dessen Augen, Ohren und Mund abgedeckt waren. Darüber stand auf Russisch geschrieben: »Ich habe nichts gehört, nichts gesehen, nichts gesagt!«, wodurch die Plakatzeichner ihm Tatenlosigkeit vorwarfen.194 Sie glaubten nun, den endgültigen Beweis dafür gefunden zu haben, dass Moskau mit Baku kooperierte und sich gegen die Armenier verschworen habe, um gemeinsam gegen sie vorzugehen.195 Viele Armenier, aber auch Russen, die zu diesem Zeitpunkt noch in Armenien lebten, verloren in dieser Zeit »den Glauben an die Perestrojka« und, so hieß es im Telegramm der armenischen Abgeordneten Njra Kolpakova an den sowjetischen Ministerrat, »drückten offen ihr Misstrauen gegenüber der Regierung aus«.196 Die Tatenlosigkeit des Kremls bei der Bekämpfung der Blockade führte somit nicht nur den Armeniern, sondern allen Bürgern der Sowjetunion vor Augen, wie unfähig und unwillig ihre eigene Regierung war, ein in ihren Augen so kleines Problem zu regeln. Es stellte für sie die Auflösung des sowjetischen Staatsapparates dar, wenn dieser nicht einmal mehr in der Lage war, den Schienenverkehr zu überwachen und dafür zu sorgen, dass die eigene Bevölkerung Nahrung und Schutz bekommt.197 Auf einer Versammlung der sowjetarmenischen Kommunistischen Partei im Januar 1990 wurde deutlich ausgesprochen, wie sehr die Blockade »unter der armenischen Bevölkerung das Gefühl der Schutzlosigkeit verstärkt« habe.198 Die Armenier fühlten sich nun gänzlich sich selbst überlassen. Die Blockade empfanden sie als eine Form des Krieges, in dem sie sich selbst gegen den Feind verteidigen mussten, da ihnen 192 Xorhrdayin Hayastan 234, 04.10.1989, S. 4. 193 HAA f. 1, op. 127, d. 699, ll. 10–11, Brief von Geologen der Akademie der Wissenschaften in Armenien an M. S. Gorbačev vom 19. September 1989. 194 Plakat in Marutyan: Iconography of Armenian Idenity, S. 219. 195 Suny: Soviet Armenia, S. 382; Mouradian: The Mountainous Karabagh Question, S. 29. 196 GARF f. 5446, op. 150, d. 278, ll. 159–160, Telegramm eines Vertreters des Oberstes Rates der UdSSR an den sowjetischen Ministerrat vom 6. Oktober 1989. 197 Mouradian: The Mountainous Karabagh Question, S. 29. 198 HAA f. 1, op. 84, d. 40, ll. 47, Protokoll der Sitzung der ZK KP ArSSR vom 19. Januar 1990.

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ihre eigene Regierung nicht zu Hilfe kam. Aus diesem Grund schlugen einige der radikaleren Gruppierungen innerhalb der Karabachbewegung die Gründung eines gesamtarmenischen Rates der Selbstbewaffnung vor.199 In dieser Art der Selbstjustiz offenbarte sich wie in sonst kaum einem Lebensbereich, wie wenig der sowjetische Staat trotz seiner ideologischen Versprechungen Ende der 1980er Jahre den Armeniern als Sicherheitsgarant galt. Eine Investition in eine Selbstbewaffnung schien zu diesem Zeitpunkt vielen offenbar zuverlässiger als der Glaube an eine sichere Zukunft unter dem Schutz der sowjetischen Regierung und war der erste Schritt zur Unabhängigkeit von Moskau. In der armenischen Presse ist ab diesem Zeitpunkt ein deutlicher Bruch im Verhältnis zu Baku festzustellen. Dies verdeutlichte die Kluft zwischen der kommunistischen Elite in Jerewan und der in Moskau, da die Berichterstattung zeigte, wie wenig armenischen Zeitungshäusern noch daran gelegen war, die diesbezüglich von Moskau vorgegebenen Regeln zu berücksichtigen. Während die Journalisten davor noch halbwegs bemüht gewesen waren, im Ausdruck diplomatisch zu bleiben, war in der sowjetarmenischen Presse von einem gemäßigten Ton in Bezug auf die Aserbaidschanische SSR seit der Blockade nichts mehr zu spüren. Der Kommunist druckte Statistiken über den durch die Blockade entstandenen wirtschaftlichen Schaden ab und veröffentlichte Bilder der zerstörten Hilfsgüter, wie etwa von demolierten temporären Häusern und verfaulten Lebensmitteln.200 Zum ersten Mal wurde Aserbaidschan offiziell als Feind bezeichnet, während gleichzeitig Norwegen und Österreich zu den wahren Nachbarn Armeniens erklärt wurden.201 Für den Zeitraum der Blockade wurde die Berichterstattung über die Wiederaufbauarbeiten stark eingeschränkt und die sonst im Kommunisten auf Seite drei abgedruckte Rubrik »Aus der Erdbebenzone« fehlte plötzlich. Das mochte daran liegen, dass durch die Blockade keine Materialien durchkamen und es daher auch nichts über den Wiederaufbau zu berichten gab, aber vor allem zeigte es, welchen Stellenwert man nun der Blockade einräumte und für welche Zwecke man sie gleichzeitig einsetzte. So ergab sich eine einzigartige Möglichkeit, die Blockade als den alleinigen Grund für das langsame Tempo der Wiederaufbauarbeiten darzustellen. Nachdem die Journalisten in den Monaten vor der Blockade die schlechte Arbeit auf den Baustellen, das Chaos und den Mangel an Plänen, Materialien und Arbeitskräften 199 HAA f. 1159, op. 3, d. 30, l. 7, Transkript der Rede eines Unbekannten auf dem Theaterplatz vom 11. Oktober 1989. 200 Bilder zerstörter Häuser in Kommunist 232, 06.10.1989, S. 1, Statistik Kommunist 234, 10.10.1989, S. 1, Zement Kommunist 251, 31.10.1989, S. 3. 201 Kommunist 225, 28.09.1989, S. 3.

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beklagt hatten, behaupteten sie nun das Gegenteil. Vorher-nachher-Bilder der Baustellen im Verlauf der letzten Monate sollten den Fortschritt zeigen, der nur mithilfe aller verbrüderten Unionsrepubliken vollbracht werden konnte. Und nur diese Blockade verhinderte jetzt angeblich den bereits erfolgreich begonnenen Wiederaufbau.202 Aber tatsächlich war es fehlgeleitet zu behaupten, die Blockade sei allein schuld daran gewesen, dass bis September 1989 nur zehn Prozent der Bauvorhaben erfüllt worden waren. Denn schon ab April 1989, Monate vor der Blockade, hatten sich die Berichte über unzureichende Materialbeschaffung gehäuft. Im Juni 1989, einen Monat vor der Blockade, hatten sich 40 Prozent aller Waren um mehr als 40 Tage verspätet.203 Vielmehr verbarg sich hinter diesen Vorwürfen vermutlich der Versuch, die Menschen in Armenien gegen die aserbaidschanische Volksfront zu mobilisieren. Dementsprechend beschwerte sich ein Leser, dass die Blockade »nur ein Sündenbock« sei, da vorher schließlich auch wenig gebaut worden sei.204 Diskriminierung und Totschlag: Leben auf der Baustelle Wie auf den meisten sowjetischen Großbaustellen, etwa in Taschkent Ende der 1960er Jahre oder später, 1986 in Slavutič, trafen auch in Armenien Arbeiter aus allen Unionsrepubliken zusammen. Die Situation bietet daher eine gute Möglichkeit, die Struktur des interethnischen Zusammenspiels genauer zu betrachten. Im Gegensatz zu Baustellen, die aufgrund von geplanten technischen Großprojekten entstanden, stellte die Nachkatastrophen-Baustelle zudem einen Ort mit besonderer Eigenart dar. Hier trafen nicht nur muslimische Usbeken auf christliche Armenier oder europäische Russen auf zentralasiatische Kasachen, es trafen hier auch auswärtige Helfer auf eine einheimische Bevölkerung, die Hilfe erwartete. Die Zusammenarbeit zwischen denen, die Hilfe anbieten, und denen, die sie erhalten, stellte nicht nur im sowjetischen Fall ein Problem dar; so ist in der Katastrophenforschung bereits mehrfach festgestellt worden, dass mit einer solchen Zusammenarbeit Schwierigkeiten einhergehen. Demnach wenden sich Überlebende von Katastrophen manchmal gegen die externen Akteure, die zur Hilfe kommen, aus Angst, die Selbstbestimmung über ihre

202 Kommunist 231, 05.10.1989, S. 1. 203 Kommunist 179, 01.08.1989, S. 1. 204 Kommunist 253, 02.11.1989, S. 1.

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Heimat und den Wiederaufbauprozess zu verlieren.205 Durch die Notsituation, die sich nach einer Katastrophe ergibt, schaffen externe Akteure, wie etwa Rettungskräfte, einen Raum, der vorübergehend vermeintlich »unpolitisch« ist, während sie den Überlebenden bewusst oder unbewusst das Stigma der »Verletzbaren« und Hilfebedürftigen geben. Mit der Zeit jedoch wehren sich die Katastrophenopfer gegen diese Stigmatisierung, um ihren Handlungsraum als aktive Beteiligte zurückzugewinnen.206 Sie wollen nicht nur als passive Opfer gelten. Für die sowjetische Geschichte ist dies bereits in Taschkent 1966 beobachtet worden, als es bei einem Fußballspiel zwischen Pachtakor und Dinamo in Taschkent ein Jahr nach dem Erdbeben zu Ausschreitungen zwischen usbekischen und russischen Fußballfans kam. Mit aggressiven Rufen gegenüber den russischen Zuschauern und Spielern hatten Usbeken ihre Unzufriedenheit über die seit dem Erdbeben anwesenden Russen zum Ausdruck gebracht. Sie hatten Angst vor einer ethnischen Vermischung ihrer Kultur und ihrer Traditionen. Genauso wenig haben ihnen der übermäßige Alkoholkonsum und die zunehmende sexuelle Freizügigkeit in ihrer sonst sehr traditionellen und konservativen Gesellschaft gefallen.207 In der Armenischen SSR kam es 1989 aus unterschiedlichen Gründen ebenfalls zu Konflikten zwischen den verschiedenen sowjetischen Nationalitäten, die jedoch im Unterschied zu Taschkent wesentlich brutaler und folgenreicher ausfielen. Dabei spielte die Arbeitsstruktur auf den Baustellen eine entscheidende Rolle. Zum einen verstärkte die weitverbreitete Arbeitslosigkeit unter Armeniern ihre Rolle als passive Überlebende, deren Handlungsspielraum durch die Hilfe von außen maßgeblich eingeschränkt wurde. Sie fühlten sich somit nicht in der Lage, durch die aktive Mitarbeit am Wiederaufbauprozess ihrer eigenen Heimat mitzuwirken und das Stigma des »Opferseins« abzuwerfen. Während viele Armenier aus der Erdbebenregion abreisten und sich woanders Arbeit suchten, blieben die Arbeiter aus den Unionsrepubliken dort und verbrachten aufgrund der Transportblockade immer mehr Zeit damit, auf Instrumente, Baumaterialien und technische Dokumentationen zu warten. Um die 40.000 Bauarbeiter 205 Zur Beziehung zwischen Überlebenden und externen Helfern siehe insbesondere die Arbeiten von Revet: Sinistrés et survivors; Revet, Sandrine: L’ethnologue et la catastrophe, in: Problèmes d’Amérique latine 69 (2008), S. 99–120; Oliver-Smith, Anthony: The Martyred City. Death and Rebirth in the Andes, Albuquerque 1986; Oliver-Smith, Anthony: Post Disaster Consensus and Conflict in a Traditional Society: The 1970 Avalanche of Yungay, Peru, in: Mass Emergencies 4 (1979), S. 39–52. 206 Revet: Sinistrés et survivors, S. 167. 207 Aus dem Vortrag von Zayra Badillo Castro im Kolloqium des Lehrstuhls Osteuropäische Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin am 4. Februar 2015.

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saßen während der Zeit der Blockade tatenlos wartend herum.208 Als Resultat der Langeweile und der mangelnden Abwechslung verfielen viele Arbeiter ähnlich wie die Überlebenden des Erdbebens in Apathie oder dem Alkohol.209 Das Alkoholproblem war so gravierend, dass die armenische Regierung sich gezwungen sah, zwischen Kirovakan und Leninakan die erste Ausnüchterungszelle Armeniens einzurichten.210 Der übermäßige Alkoholkonsum, die Frustration und die Langeweile führten zu wilden Massenschlägereien, bei denen sich Bauarbeiter gegenseitig zu Tode prügelten oder sich gar mit Äxten die Köpfe einschlugen.211 In vereinzelten Fällen kam es auch zu Vergewaltigungen armenischer Frauen durch zugereiste Bauarbeiter.212 Die häufigste Todesursache auf den Baustellen war jedoch Trunkenheit am Steuer. Wahrscheinlich aufgrund der Häufung von Straftaten seitens der zugereisten Arbeiter legten die lokalen Abteilungen des armenischen Innenministeriums sogar Akten für Straftaten von Nichtarmeniern an, in denen deren Morde, Diebstähle, Prügeleien und Fälle von Trunkenheit am Steuer aufgelistet wurden. Darin beschwerten sich die Polizeiangestellten oftmals über die Zusammenstellung der Baubrigaden, die, wie auch schon bei den Großprojekten der 1950er Jahre, aus sogenannten »zufälligen Leuten« (russ. slučajnie ljudi – auch Gesindel) bestanden, also ehemaligen Gefangenen ohne ständigen Wohnsitz und Beschäftigung.213 Die Bitten aus Armenien, keine »kriminogenen Elemente«214 oder Leute »zu schicken, die noch irgendeine Schuld zu begleichen haben«, blieben unerhört, weil anders keine Arbeiter rekrutiert werden konnten.215 Ab 1990 stieg die Anzahl der Straftaten aufgrund der sinkenden politischen Stabilität im Land und der zunehmenden Schwierigkeiten durch den Mangel an Material. Die extrem hohe Arbeitsfluktuation hatte Auswir-

208 Die Bauministerien aus der RSFSR schrieben von 12.000 Arbeitern, die im April 1990 herumsaßen, siehe GARF f. 5446, op. 162, d. 262, ll. 113–114, Brief von verschiedenen russischen Bauministerien an N. I. Ryžkov vom 19. April 1990. 209 HAA f. 113, op. 161, d. 318, ll. 54–56, Erlass vom Ministerrat der ArSSR vom 11. Juli 1989, Interview mit dem Polizeichef Leninakans in Kommunist 156, 01.07.1989, S. 3. 210 Krokodil 21, 1989, S. 4. 211 Privatarchiv Muradyan, Ordner 31 »Prokuratur«, ohne Seitenangabe, Bericht des Innenministeriums der ArSSR vom 3. Juli 1990. 212 Privatarchiv Muradyan, Ordner 31 »Prokuratur«, ohne Seitenangabe, Bericht des Innenministeriums der ArSSR vom 7. Juli 1990. 213 Privatarchiv Muradyan, Ordner 31 »Prokuratur«, ohne Seitenangabe, Brief des Spitaker Polizeichefs an Norayr Muradyan vom 12. April 1989. 214 Krokodil 21, 1989, S. 4. 215 Kommunist 156, 01.07.1989, S. 3.

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kungen auf die Arbeitsleistungen der Baubrigaden und schuf eine Atmosphäre der Anonymität, die Akte von Gewalt und Diebstahl leichter möglich machte. Armenier waren an den Diebstählen jedoch keineswegs unbeteiligt. Um den Bau der Einfamilienhäuser voranzutreiben, aber auch um sich Geld auf dem Schwarzmarkt zu verdienen, bestahlen einige Bewohner aus der Erdbebenzone die Materiallager der Baufirmen und zogen so den Zorn der zugereisten Bauarbeiter auf sich.216 Ausschlaggebender für den weiteren Verlauf war jedoch, dass ein Teil der Einheimischen begann, sich mit Gewalt gegen die zugereisten Arbeiter zu wenden. Von den Sauf- und Prügelgelagen der zugereisten Arbeiter angewidert und wütend über die ungleichen Lohnzahlungen und die hohe Arbeitslosigkeit in den eigenen armenischen Reihen, sabotierten selbst gegründete armenische Militäreinheiten ab Mai 1990 die auswärtigen Baufirmen, indem sie nicht nur deren Baufahrzeuge und Geräte entwendeten, sondern auch bei Überfällen auf Bauarbeitersiedlungen Schüsse auf Bauarbeiter und deren Wachhunde abfeuerten.217 Es gab mindestens ein Dutzend Todesopfer unter den auswärtigen Bauarbeitern. Gewalttätige Überfälle und Mordversuche fanden in allen drei vom Erdbeben betroffenen Städten statt und richteten sich insbesondere gegen die russischen, die ukrainischen und die usbekischen Baubrigaden.218 Für die Überfälle wurden in den Briefen und Telegrammen der ­Gewaltopfer entweder die armenische Armee oder einfach »Extremisten armenischer Nationalität« verantwortlich gemacht. Oftmals waren es wahrscheinlich einfach wütende und frustrierte Gruppen von Armeniern, die vorgaben, im Namen des Karabachkomitees zu handeln. Schon einen Tag nach dem Erdbeben hatte ein Flugblatt des Karabachkomitees davor gewarnt, das Erdbeben nicht dafür zu nutzen, aus Armenien eine Allunions-Baustelle zu machen, weil das die »ethnische Zusammenstellung Armeniens« verändern würde. Zwar wollte das Karabachkomitee mit großer Dankbarkeit materielle Hilfe annehmen, den Wiederaufbau aber mit seinem »großen Überschuss an Arbeitskräften« selbst übernehmen.219 Inwieweit es über die Gewaltakte informiert war und sie gar selbst 216 Interview mit Abdulaziz Mirzaev (*1944), per Telefon, 25.06.2015. 217 Sovetakan Hayastan 91, 15.04.1989, S. 2. Berichte von Überfällen und Totschlägen: HAA f. 1, op. 127, d. 778, ll. 77, 82, 86, 87, 108; GARF f. 5446, op. 162, d. 1947, ll. 120–124, 127; GARF f. 9654, op. 6, d. 172, ll. 40–41; Privatarchiv Muradyan, Ordner 29 »Uzbekistan«. 218 Für Spitak siehe HAA f. 1, op. 127, d. 778, l. 86, Leninakan ebd., ll. 82, 84, 87, Kirovakan ebd., l. 108. 219 Flugblatt »Sootečestveniki!« vom 8. Dezember 1988, Privatarchiv Aram Manukyan. Siehe auch Xorhrdayin Hayastan 154, 23.06.1989, S. 3.

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geplant hatte, muss aufgrund der Aktenlage offenbleiben. Seit Januar 1990 gab es immer wieder Meldungen über Waffendiebstähle und das Politbüro in Armenien diskutierte die zunehmende Selbstbewaffnung unter der Bevölkerung.220 Aber dass es sich hier nicht um simple Diebstähle unter Gewaltanwendung handelte, sondern um Angriffe, die sich ausdrücklich diskriminierend gegen die zugereisten Bauarbeiter richteten, wird nicht nur am Ausmaß der Gewalt deutlich. Auf den Straßen Leninakans liefen auch Gruppen durch die Siedlungen der russischen Bauarbeiter und riefen nationalistische Losungen wie »Alle Russen raus! Wir bauen unsere Stadt alleine wieder auf!«.221 Bestimmte Teile der armenischen Bevölkerung fühlten sich durch die Anwesenheit der Bauarbeiter aus den anderen Regionen bedroht, denn diese trieben in Armenien nicht nur betrunken ihr Unwesen, sondern verdienten dabei auch noch mehr oder überhaupt etwas. Der Kampf um Ressourcen erhöhte das Konfliktpotenzial.222 Und unter dem Deckmantel des Nationalismus konnten diese Gruppen ihre auf komplexen Hintergründen basierende Wut zum Ausdruck bringen. Die Gewalt und die Losungen waren nicht unbedingt gegen eine bestimmte Ethnie gerichtet, sondern zielten darauf ab, Armenien frei von Nichtarmeniern zu halten – eine Art Säuberung, die schon im Herbst 1988 ihren Anfang genommen hatte und nun auf einer anderen Ebene fortgeführt wurde. Die bereits vor dem Erdbeben bestehende konstruierte Angst vor Fremdbestimmung verstärkte sich durch den enormen Zulauf von Arbeitern aus den anderen Republiken, allen voran aus Russland und der muslimischen Republik Usbekistan. Die Mitglieder dieser gewaltbereiten Gruppen schienen Angst vor einem möglichen Handlungs- und Machtverlust zu haben. Als Reaktion auf die Gewalt gegen ihre Bauarbeiter begannen sich die Ministerräte und Baubehörden der am Wiederaufbau beteiligten Republiken einzuschalten. So baten etwa die Leiter von Armenijasevzapstroj, einer vom russischen Bauministerium geleiteten Bauagentur, den armenischen Ministerrat um die Gewährleistung von Sicherheit für ihre Bauarbeiter und ihre eigenen Bauagenturen um eine Verstärkung der Polizeikräfte in den Bauabteilungen.223 Diese 220 HAA f. 1, op. 84, d. 40, l. 35, Protokoll der Sitzung des ZK KP ArSSR am 19. Januar 1990. 221 Interview mit Aleksandra K. (*1978), Jerewan, 22.02.2015; Pogosjan, Gevork: Čelovek v zone bedstvija (Teil 2), in: Promyšlennost, stroitel’stvo i Architektura v Armenii 2 (1990), S. 19–22, hier S. 19. 222 Ebd., S. 19. 223 HAA f. 1, op. 127, d. 778, ll. 84–85, Telefonnachricht vom Leiter von Armenijasevzapstroj an das Ministerium der RSFSR für Bau im Nordwesten (Minsevzapstroj) vom 28. Mai 1990; HAA f. 1, op. 127, d. 778, l.87, Telefonnachricht vom Sekretär des Parteikomitees Gorskij an Minsevzapstroj vom 7. Mai 1990.

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aus den jeweiligen Republiken mitgebrachten Polizisten waren jedoch oftmals selbst Ziel der Gewalt und konnten wenig ausrichten.224 Allein die Tatsache, dass die Baubrigaden ihren eigenen Polizeischutz mitbrachten, offenbarte, wie es um die Sicherheit im sowjetischen Vielvölkerreich stand. Den Bitten um mehr Sicherheitsvorkehrungen für die eigenen Bauarbeiter kamen die armenischen Behörden nicht nach. Briefe an Abgeordnete des Obersten Rates und an Lewon Ter-Petrosyan vom August 1990, als dieser gerade sein Amt als Präsident antrat, blieben unbeantwortet.225 Aus Hilflosigkeit und unter dem Druck der verängstigten Angestellten gingen die jeweiligen Ministerräte dazu über, ihre Baubrigaden aus Armenien abzuziehen. Als Erste fuhren Mitte Februar 1990 die südlich von Leninakan und in Kirovakan stationierten weißrussischen Bauarbeiter zurück in ihre Heimat nach Weißrussland.226 Nachdem Mitte Mai 1990 Überfälle auf usbekische Bauarbeiter in Spitak verübt worden waren, telegrafierte der Vorstand des usbekischen Ministerrates umgehend dem sowjetischen Ministerrat, dass die Überfälle unter den usbekischen Bauarbeitern bereits zu einer großen Kündigungswelle von insgesamt 400 Arbeitern geführt hätten. Wegen der fehlenden Sicherheit sah er sich jetzt gezwungen, alle übrigen Bauarbeiter samt Technik nach Usbekistan zurückzuholen.227 Während der plötzliche Abbruch der weißrussischen Bauarbeiten im offiziellen Schreiben noch damit gerechtfertigt worden war, dass die weißrussischen Baufirmen aufgrund der Arbeiten in Tschernobyl keine freien Kapazitäten mehr hätten, sprachen diese Zeilen aus Usbekistan eine andere Sprache.228 So nutzte der usbekische Ministerrat den »Mangel jedweder Garantien für die Sicherheit« seiner in Armenien stationierten usbekischen Bauarbeiter als Vorwand, diese abzuziehen.229 Kurz darauf, im August 1990, zogen auch die RSFSR und die Ukrainische SSR, auf 224 HAA f. 1, op. 127, d. 778, l. 108, Telegramm vom Leiter von Doneckšachstroj an den Zweiten Parteisekretär Armeniens vom 21. August 1990. 225 GARF f. 9654, op. 6, d. 172, ll. 40–41, Telegramm Leiter von Doneckšachstroj an den Obersten Rat der UdSSR vom 24. August 1990. 226 HAA f. 1, op. 127, d. 768, l. 38, Telegramm des Parteisekretärs des Rajons Artiskij an den Zweiten Parteisekretär Armeniens vom 23. Februar 1990; GARF f. 5446, op. 162, d. 262, l. 93, Telegramm aus Kirovakan an den Sovmin der UdSSR vom 31. März 1990. 227 HAA f. 1, op. 127, d. 778 l. 86, Telegramm vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Usbekistans an V. Ch. Dogužiev vom 1. Juni 1990. Die ersten usbekischen Arbeiter reisten anscheinend schon im Dezember 1989 aus, siehe Xorhrdayin Hayastan 282, 06.12.1989, S. 2. 228 GARF f. 5446, op. 162, d. 1948, ll. 80–83, Bericht von V. Ch. Dogužiev an N. I. Ryžkov über den Gang der Wiederaufbauarbeiten; HAA f. 1, op. 127, d. 778, ll. 22–23, Brief von S. Harut’unyan an den Ersten Sekretär des ZK KP der Belorussischen SSR, 26. Februar 1990. 229 Privatarchiv Muradyan, Ordner 29 »Uzbekistan«, Schreiben des Ministerrats der UsSSR vom 9. Juni 1990.

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deren Bürger ebenfalls im Mai 1990 schwere Überfälle verübt worden waren, die Mehrheit ihrer Arbeiter ab.230 Die armenische Regierung versuchte sich gegen den Abzug der Baubrigaden zu wehren. So schrieben die lokalen Parteivorsitzenden in der Erdbebenzone Bittbriefe an die jeweiligen Ministerräte, in denen sie eine Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen und die strafrechtliche Verfolgung der Täter versprachen – jedoch ohne Erfolg.231 Die Angst unter den meisten Arbeitern vor weiteren Angriffen war zu groß. Zudem stieg der Konflikt in Karabach auf ein gefährliches Level an, so dass keiner freiwillig in der Nähe der Region sein wollte. Der Abzug der Arbeiter lässt tief in das intranationale Gefüge der Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt blicken. Nicht nur waren die Einsatzkräfte des Innenministeriums so destabilisiert, dass sie Mitte 1990 schon handlungsunfähig schienen; die Regierungen der Unionsrepubliken hatten auch kein Interesse mehr daran, im Namen der nicht funktionierenden »sowjetischen Völkerfreundschaft« die Sicherheit ihrer eigenen Fachkräfte zu riskieren. Und so setzte die Evakuierung innerhalb der eigenen nationalen Bevölkerung auch ein Zeichen für die Bestrebung nach mehr nationaler Selbstbestimmung und für einen klareren Blick nach innen. Zugleich muss erwähnt werden, dass der Rückzug auch aus Angst vor Schutzlosigkeit geschah. Denn nicht nur Armenien erfuhr, dass Moskau in Problemsituationen nicht mehr eingreifen würde. Auch die anderen Republiken waren der Gewalt gegenüber ihren Arbeitern hilf- und schutzlos ausgeliefert und wussten nicht mehr, auf wen sie sich in Notsituationen noch verlassen konnten. Jedoch wäre es zu kurz gedacht, ausschließlich von Sicherheitsbedenken als Grund für den Abzug auszugehen. So spielten wirtschaftliche Beweggründe vermutlich eine mindestens genauso wichtige Rolle. Mitte 1990 war die allgemeine Wirtschaftslage in der Sowjetunion bereits problematisch. Die hohen Kosten, welche die Baufirmen an zusätzlichen Gehältern für ihre Arbeiter aufbringen mussten – dafür, dass diese außerhalb der Republik und an den Wochenenden arbeiteten –, konnten und wollten die meisten ab Sommer 1990 nicht mehr 230 GARF f. 9654, op. 6, d. 172, ll. 40–41, Telegramm aus Donezk vom 24. August 1990; HAA f. 1, op. 127, d. 778, l. 86, Telegramm vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Usbekistans an V. Ch. Dogužiev vom 1. Juni 1990 und ll. 84–85, Telefonnachricht vom Leiter von Armenijasevzapstroj an das Ministerium der RSFSR für Bau im Nordwesten (Minsevzapstroj) vom 28. Mai 1990. 231 HAA f. 1, op. 127, d. 778, l. 106, Brief aus dem ZK KP ArSSR an I. S. Silaev, den Vorstand des Ministerrates der RSFSR, vom 22. August 1990; Privatarchiv Muradyan, Ordner 29 »Uzbekistan«, Brief von N. Muradyan an den Bauminister K. Ch. Machamadaliev der UsSSR vom 30. Juli 1990.

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tragen.232 Die Baufirmen beschwerten sich im sowjetischen Ministerrat über die Mehrausgaben, die sie jetzt aufgrund der herumsitzenden Arbeiter hatten.233 Die zentrale Geldverteilung an die am Wiederaufbau beteiligten Baufirmen funktionierte nicht mehr, und das bereits weit vor der Entscheidung der Republiken, auf eine regionale Selbstfinanzierung umzusteigen.234 Die Gewalt gegen ihre Bauarbeiter war sicherlich schwerwiegend, wie mehrere Berichte aus unterschiedlichen Quellen bestätigen, jedoch kann Zahlungsunfähigkeit ebenfalls ein Grund dafür gewesen sein, die Bauarbeiter zurückzuholen. In diesem Sinne ist es denkbar, dass Republiken wie Usbekistan in ihren Schreiben die Gewalt, die tatsächlich stattgefunden hatte, instrumentalisierten, um von ihrer eigenen Zahlungsunfähigkeit abzulenken. Dafür spricht etwa, dass 300 Usbeken, die der usbekische Ministerrat nach eigenen Angaben aus Sicherheitsgründen abziehen wollte, gleichzeitig in einem eigenen Schreiben an den Ministerrat der Armenischen SSR darum baten, von armenischen Baufirmen übernommen zu werden und bis zum Ende der Wiederaufbauarbeiten in Spitak – selbstverständlich mit Bezahlung – bleiben zu dürfen.235 Entweder nahmen sie die gewalttätigen Überfälle in Kauf, da sie in Usbekistan keine ausreichende finanzielle Zukunft erwartete, oder die Übergriffe wurden nicht von allen als so gefährlich und ungewöhnlich eingestuft, wie es die offiziellen Schreiben der Unionsregierungen vermuten lassen. Die in diesem Unterkapitel beschriebene Gewalt gegen die zugereisten Baubrigaden war eine Mischung aus gewöhnlichen Konfliktentwicklungen, die sich nach Katastrophen ergeben, und nationalistischen Aggressionen, die auf der Bühne der Katastrophe ausgetragen wurden. Die von externen Arbeitern verübten Diebstähle von mittleren und höheren Geldsummen oder von Bau­ material, das später auf dem Schwarzmarkt teuer verkauft wurde, verärgerten die Überlebenden der Katastrophe besonders. Der Kampf um Ressourcen nach der Katastrophe heizte den Konflikt zwischen den Lokalen und den Externen weiter an und führte dazu, dass sich die Überlebenden doppelt ungerecht behan-

232 GARF f. 5446, op. 162, d. 1947, l. 34, Brief von Gosvodchoz SSSR an den Ministerrat der UdSSR vom 10. April 1990. 233 GARF f. 5446, op. 162, d. 262, l. 113, Brief von verschiedenen russischen Bauministerien an N. I. Ryžkov vom 19. April 1990. 234 GARF f. 5446, op. 162, d. 263, ll. 34–35, Brief vom Ministerrat der ArSSR an den Ministerrat der UdSSR vom 18. September 1990. 235 Privatarchiv Muradyan, Ordner 29 »Uzbekistan«, Brief von usbekischen Arbeitern an den Ministerrat der ArSSR und das ZK KP ArSSR mit Unterschriften vom 4. Juli 1990.

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delt fühlten.236 So wurden sie, unter den Trümmern liegend, von den Außenstehenden ihrer für sie so wichtigen Ressourcen beraubt. Nur zum Teil lassen sich die aggressiven Reaktionen und Gegenreaktionen zwischen den Armeniern und den zugereisten Arbeitern aus den anderen sowjetischen Unionsrepubliken auf das von Sandrine Revet beschriebene Problem der »Subjektivierung« oder Stigmatisierung der Erdbebenopfer zurückführen.237 Denn die Angst vor den fremden Eindringlingen hatte sich schon abgezeichnet, bevor es überhaupt zur Stigmatisierung kommen konnte. So kündigte die Nationale Bewegung Armeniens diese Schwierigkeiten bereits mit ihrem Flugblatt vom 8. Dezember 1988 an. Zu diesem frühen Zeitpunkt fühlten sich die Armenier noch nicht ungerecht behandelt oder waren sich des Kampfes um Ressourcen noch nicht bewusst. Aber die Rufe nach Unabhängigkeit von der Sowjetunion wurden derweil in ihren unterschiedlichsten Klangfarben stetig lauter. Die Angst vor einem länger andauernden Eindringen Fremder in ihre Heimat – zu einer Zeit, in der sie, in ihrem Gefühl vereint, für ein vermeintlich gemeinsames nationales Anliegen, die Angliederung Bergkarabachs an Armenien, kämpften – schien bei einigen radikaleren nationalen Gruppierungen groß. In der Gewalt und den Losungen gegen die russischen Bauarbeiter kam ihre Wut gegen das Zentrum und die Bevormundung in nationalen Anliegen zum Ausdruck, gegen die sie sich zur Wehr setzen wollten. Da die offizielle Regierung offenbar nicht in der Lage war oder sein wollte, die Bürger zu beschützen, sahen sie sich genötigt, zur Selbstbewaffnung zu greifen. Diese Selbstjustiz richtete sich dann nicht nur gegen die Aserbaidschaner, sondern übertrug sich auf alles, was als innerer Feind betrachtet wurde – in diesem Fall die mutmaßlich stehlenden und betrunkenen Bauarbeiter. Zum anderen waren es nicht nur die Überlebenden des Erdbebens selbst, also die Stigmatisierten aus der Erdbebenzone, die sich aus Angst, ihre Selbstbestimmung zu verlieren, gegen die externen Fremdlinge zur Wehr setzten, sondern auch radikale Abzweigungen der Karabachbewegung aus der Hauptstadt, die sich das Chaos der Situation zunutze machten, um ihrem nationalen Anliegen Ausdruck zu verleihen.

236 Omelicheva: Natural Disasters; Nel/Righarts: Natural Disasters; Oliver-Smith: Post Disaster Consensus and Conflict. 237 Revet: Sinistrés et survivors.

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5.3 Apathie und Migration – das Ende einer sowjetarmenischen Republik Gewalt und Stagnation entfalteten ihre Wirkung auf die ohnehin traumatisierte Bevölkerung mit voller Wucht. Mitte des Jahres 1989 zeichnete sich ab, wie weit entfernt sie von einer Rückkehr in die Normalität war. Wie aber deuteten Armenier den Zerfall ihrer Illusionen über den Wiederaufbau und welche Schlüsse zogen sie daraus für sich in Bezug auf die sowjetische Regierung und ihre eigenen Zukunftsvisionen? Erstmals in der Geschichte der Sowjetunion wurden nach einer Katastrophe soziologische Umfragen durchgeführt, die zusammen mit Zeitungsartikeln und Interviews unter anderem Einblicke in Deutungen und Diskurse über das Ende des sowjetischen Projektes geben. Dabei wird deutlich, dass die durch die Stagnation der Baustellen entstandene Apathie bei der betroffenen Bevölkerung zwar nicht den Wunsch nach Unabhängigkeit ausglöst hat, dass aber die Alternativlosigkeit und die fehlende Aussicht auf ein besseres Morgen innerhalb der Union die Diskurse dominierte. Die sich weiter entfaltende Dynamik von Glasnost’ gab Autoren die Möglichkeit, ihrem Empfinden, dass die Stagnation mit dem gesellschaftlichen Verfall assoziiert war, auch in der Öffentlichkeit Ausdruck zu verleihen. Wovor sich Jurij Pavlov im Dezember 1988 noch fürchtete, war nunmehr sagbar geworden: Die Erdbebenzone spiegelte den Zerfallsprozess ihres Landes. Dem Wiederaufbau der vom Erdbeben erschütterten Städte und Dörfer blickte die Bevölkerung zunächst durchaus hoffnungsvoll entgegen. Besonders wohl tat ihr die mediale Aufmerksamkeit, mit der sie ihr Schicksal dargestellt wusste. Doch nicht nur der optimistische Ton der Zeitungsartikel beeinflusste ihre Zuversicht auf einen schnellen Wiederaufbau. Vor allen Dingen die Tatsache, dass in relativ kurzer Zeit derart viele Baufahrzeuge, Baumaterialien und Technik über die Schienen und die Luft aus der gesamten Sowjetunion nach Armenien geschafft wurden, erfüllte sie mit Freude, Hoffnung und Stolz. Als die ersten Kräne aufgestellt wurden, war das für viele Armenier ein Signal der Entwicklung – der Anfang vom Ende der Katastrophe.238 Auch die Losung »Wir bauen unser Leninakan in zwei Jahren wieder auf« nahmen die meisten Armenier zunächst fraglos an.239 Zum einen glaubten sie den Worten Gorbačevs, weil sie keinen Grund hatten, etwas Gegenteiliges anzunehmen. Taschkent 238 Interview mit Edgar N. (*1963), Jerewan, 26.10.2013. 239 Interview mit Vačik K. (*1955), Gjumri, 27.10.2013 und Grigor Azizyan (*1955), Jerewan, 16.10.2013.

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und Slavutič etwa waren sehr schnell wiederaufgebaut worden. Der Glaube an die technische und administrative Leistungsfähigkeit war unter vielen Sowjetbürgern sehr fest. »Warum hätten wir daran zweifeln sollen? Ich habe doch die Technik und das alles gesehen«, stellte der Ingenieur Vačik aus Leninakan fest.240 Keiner der befragten Zeitzeugen bezweifelte zum damaligen Zeitpunkt, dass der Mangel an Geld, Technik oder Baumaterialien das Vorhaben, die Städte in zwei Jahren wiederaufzubauen, unterminieren könnte. Darüber hinaus trug die Tatsache, dass Gorbačev die Grenzen geöffnet hatte, um ausländische Helfer und Fachkräfte für den Wiederaufbau ins Land zu lassen, offenbar zur Hoffnung bei. Marina aus Leninakan glaubte daher kurz nach dem Erdbeben ebenfalls an einen schnellen Wiederaufbau in zwei Jahren, weil »so viele Leute kamen, um zu helfen. Aus der ganzen Union kamen alle. […] Viele Italiener kamen, aus Österreich auch. Ganze Arbeitsbrigaden.«241 Der Optimismus der Bevölkerung hinsichtlich des Wiederaufbaus wurde auch durch die auffällig optimistische und enthusiastische Berichterstattung gespeist. Journalisten wollten und sollten Armeniern und dem Rest der Sowjetunion mit Zeilen wie »Häuser im Bau sind wie die Musik des morgigen Tages«, »Das Leben erhebt sich« oder »Leninakan schaut auf morgen« Mut für die Zukunft machen.242 Dafür wurden nach traditionell sowjetischer Manier, ähnlich wie beim Wiederaufbau in Taschkent, die Unermüdlichkeit und Bereitschaft der Arbeiter und kleinste Fortschritte beim Wiederaufbau betont. Bilder von Kränen, die »wie gelbe Pfeile« in den Himmel schossen, sollten durch die so beschriebene Kraft und Energie vermutlich die positive Dynamik der Baustellen und des gesamten Vorhabens symbolisieren.243 Neben dem ersten Fundamentstein des ersten Neubaus, der exakt einen Monat nach dem Erdbeben, nämlich am 7. Januar 1989, in Leninakan gelegt worden war, fand sich ein Schild mit der bekannten sowjetischen Siegesgewissheit: »Wir glauben, dass das wiederaufgebaute neue Leninakan noch schöner wird. Wir glauben, dass der Wiederaufbau der Stadt noch ein weiteres helles Beispiel wird für die internationale Freundschaft aller brüderlichen Völker der UdSSR.«244 Armenische Zeitungen warben um mehr Optimismus bei ihren Lesern, indem sie die Resilienz des armenischen Volkes in den Vordergrund stellten. So sei Armenien bereits nach dem Genozid 1915 wie ein »Phönix aus der Asche« aufgestanden 240 Interview mit Vačik K. (*1955), Gjumri, 27.10.2013. 241 Interview mit Marina K. (*1967), Moskau, 08.06.2013. 242 Banvor, 15.04.1989, S. 5; Pravda 17, 17.01.1989, S. 2 und Kommunist 304, 28.12.1988, S. 1. 243 Kommunist 304, 28.12.1988, S. 1. 244 Pravda 8, 08.01.1989, S. 4.

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und genauso würden nun auch die zerstörten Städte »leben, wachsen und wiederauferstehen«.245 Für die Sicherheit der neuen Generationen, so hieß es, sollten die Häuser nun nach den seismologischen Vorgaben gebaut werden, damit so etwas nie wieder passiere. Der Wiederaufbau sollte auch keinesfalls nur als »reiner Produktionsprozess« verstanden werden, sondern »als Maßnahme für eine verantwortungsvolle Zukunft des armenischen Volkes«.246 Wo früher noch »Erbauer des Kommunismus« gearbeitet hatten, galt es nun, nicht nur die Häuser wiederaufzubauen, sondern auch »die Schicksale Tausender Menschen«.247 Der Wiederaufbau der zerstörten Städte und Dörfer bedeutete laut der Zeitung Sovetakan Hayastan gleichzeitig den Wiederaufbau der gesamten armenischen Gesellschaft, insbesondere nach dem, was das Karabachkomitee angerichtet hatte.248 Damit stand zumindest für die Journalisten fest, dass ein Misslingen des Wiederaufbaus auch ein Scheitern der armenischen und sowjetischen Gesellschaft zur Folge haben würde. Dieser Optimismus in der Berichterstattung über den Wiederaufbau und die Hoffnung bei den Bewohnern hielten jedoch nicht lange an. Ab Sommer 1989 ist ein deutlicher Stimmungswandel in der immer kritischer werdenden Berichterstattung zu erkennen, der in etwa mit dem allgemeinen Stimmungsumschwung im Land und der Enttäuschung über die Reformen Gorbačevs übereinstimmte. Was vorher noch beschönigend über die Baustellen dargestellt worden war, kehrte sich nun fast ins Gegenteil um – eine Entwicklung, welche die Karikatur des Schauklers am Anfang des Kapitels hervorragend veranschaulicht. Schließlich symbolisieren auf dem Bild die beiden Herren aus der Politführung die von dem Zeichner so gedeutete Ignoranz und Gleichgültigkeit hinsichtlich des Geschehens in Armenien. Insbesondere im Hinblick auf die schwerwiegenden Folgen, die sich aus dem Stillstand der Baustellen für die Bevölkerung in Armenien ergaben, ist klar, dass eine solche Karikatur 1988 noch undenkbar gewesen wäre. Aber die sich mittlerweile schon seit dem 19. Parteitag im Sommer 1988 rasant entwickelnde Glasnost’ entfaltete sich im Jahr 1989 weiter. Dies hing zum einen mit Gorbačevs Forderungen nach einer Umgestaltung der Partei zusammen, die er im Februar 1989 zum Ausdruck gebracht hatte. Zwar sollte sie weiterhin die einzige regierende Partei bleiben, aber sie sollte auch anderen Organen Platz zur politischen Gestaltung einräumen. Damit rüttelte er heftig an den Fundamenten des Machtmonopols der Kommunistischen 245 Kommunist 292, 15.12.1988, S. 4. 246 Kommunist 29, 03.02.1989, S. 2. 247 Pravda 18, 18.01.1989, S. 2. 248 Sovetakan Hayastan 303, 23.12.1988, S. 2.

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Partei und untergrub die Grundlage der sowjetischen Ideologie. Zum anderen hing die zunehmende Pressefreiheit mit den ersten freien Parlamentswahlen im März 1989 zusammen. Die ersten Sitzungen des neuen Parlaments waren im Mai und Juni 1989 im sowjetischen Fernsehen übertragen worden und dies hatte die Autorität der Partei endgültig infrage gestellt. Zum ersten Mal konnten sowjetische Bürger ihre Politiker live und unzensiert im Parlament debattieren, streiten und schimpfen sehen. Die Wirkung war gewaltig; so vermochte diese Fernsehübertragung es zum ersten Mal seit Beginn der Perestrojka, die Massen zur Teilhabe am offiziellen politischen Geschehen zu bewegen. Die Menschen diskutierten auf den Straßen im Anschluss an die Fernsehübertragungen, wählten die Helden und Antihelden der Sitzungen und ›radikale‹ Reformer wie Boris El’cin und Andrej Sacharov erhielten eine Rednertribüne für ihre Anliegen.249 Nicht zuletzt litt unter den kritischen Diskussionen das Image der Partei als der unfehlbaren Institution, die Probleme bereits im Vorfeld erkannte und sie zu lösen wusste. In der Folge öffnete sich das Fernsehen ab Mitte 1989 für weitere bis dahin tabuisierte Themengebiete, wie die Verfehlungen der sowjetischen Armee, die Todesstrafe, Erotik und Sexualität, die hohe Zahl von Abtreibungen sowie die Doppelbelastung von Frauen, und überzeugte die Menschen so weiterhin von der Fehlbarkeit der Partei.250 Ein Bruch in der Berichterstattung über den Wiederaufbau in Armenien ist insbesondere ab Mai, Juni 1989 zu beobachten. Während die Pravda Anfang April 1989 noch schrieb, dass nun erste Konturen der Städte erkennbar seien, brach die Zeitung alsbald mit diesem Stil und berichtete fortan nur noch Kritisches über die Großbaustelle. In einem Artikel der Pravda vom Juni 1989 mit dem Titel »Die Wunden Armeniens – ein halbes Jahr danach«, der in vielen anderen sowjetischen Zeitungen, darunter auch den armenischen, nachgedruckt wurde, zogen die Autoren eine vernichtende Bilanz über den Wiederaufbau. Sie beschrieben den Mangel an Baumaterialien, den Pfusch am Bau trotz aller seismologischen Berechnungen und das Trauma, das der Anblick der noch immer nicht weggeräumten Ruinen in den Angehörigen auslöste. Daher seien nun »jedweder Enthusiasmus, jegliche positive Gefühle verschwunden« und »die Feuer in den Herzen der Menschen gelöscht« hieß es in einem Artikel in der Pravda.251 Es handele sich nunmehr nur noch um eine »ordinäre Baustelle«, auf der »keiner der Bauarbeiter noch stolz war« zu arbeiten und 249 Müller: Zwischen Zäsur und Zensur, S. 148. 250 Ebd., S. 174; Roth: Glasnost und Medienpolitik, S. 289. 251 Pravda 163, 12.06.1989, S. 1, 3.

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am Wiederaufbau des noch vor Kurzem so unvergleichlich wichtigen Projekts mitzuwirken.252 Die Zeitung Krokodil kritisierte in einem Artikel vom Juli 1989 eine ganze Reihe von Schieflagen auf den armenischen Baustellen, wie die fehlende Koordination unter den Behörden, die Arbeitsmigration der Armenier und den Materialmangel.253 Während die meisten Zeitungen die armenischen Behörden für den schlechten Gang der Arbeiten verantwortlich machten, griff die armenischsprachige Zeitung Sovetakan Hayastan im Mai 1989 die sowjetische Regierung direkt an und bezichtigte sie, sich nicht ausreichend für den Wiederaufbau einzusetzen, sondern nur damit beschäftigt zu sein, Probleme zu vertuschen.254 Nachdem Aserbaidschan im Juli 1989 zum ersten Mal die Blockade verhängt hatte, machte sich in der Presse nur noch Desillusion breit.255 Beispielsweise beschrieb der Kommunist in einer Ausgabe vom August 1989, dass »die Brüche in den menschlichen Schicksalen […] immer größer [wurden], weil die meisten kein bestimmtes Morgen mehr ha[tt]en.«256 Die armenischen Zeitungen übten unverblümt Kritik an der unzulänglichen Arbeit der turkmenischen, der georgischen und der tadschikischen Brigaden. Auch die russischen Arbeiter wurden nicht verschont, hatten sie doch bis August 1989 angeblich kein einziges Haus gebaut.257 »Viele von ihnen waren auch einfach nur immer betrunken« und trügen Schuld an der rasant ansteigenden Kriminalitätsrate.258 Dieser sich nun auch in den Zeitungen manifestierende Mangel an Völkerfreundschaft hatte nicht nur Folgen für den Fortgang des Wiederaufbaus, er verunsicherte auch weite Teile der sowjetischen Gesellschaft. »Was passiert mit uns?«, fragte ein Journalist aus Moskau, der sich darüber wunderte, wo der »gemeinsame Geist des Mitleids, die Unterstützung und die Hilfsbereitschaft für die Nächsten« nach dem anfänglichen Schwall an Hilfe abgeblieben waren.259 Das Nichtexistieren einer Völkerfreundschaft auf sowjetischen Großbaustellen ist auch für andere Projekte konstatiert worden. Jedoch konnte diese Wirklichkeit nun dank der Verselbstständigungsprozesse von Glasnost’ auch an die sowjetische Öffentlichkeit dringen und so Prozesse der Reflexion über den tatsächlichen Umbau der Gesellschaft in Gang bringen. 252 Ebd. 253 Krokodil 21, 1989, S. 4. 254 Xorhrdayin Hayastan 124, 24.05.1989, S. 2–3. 255 Pravda berichtete nicht über die Transportblockade. 256 Kommunist 200, 27.08.1989, S. 2. 257 Kommunist 179, 01.08.1989, S. 1. 258 Xorhrdayin Hayastan 152, 21.06.1989, S. 3. 259 Pravda 163, 12.06.1989, S. 1, 3.

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Dieses pessimistische Bild, das die Journalisten in den Zeitungen verbreiteten, reflektierte auch die Meinungen vieler Armenier vor Ort, die nun zeitnah über Umfragen ermittelt wurden. Denn neben den Reformen der Massenmedien war es seit dem Beschluss vom 19. Mai 1988 über die Wiederbelebung der Soziologie als selbstständiger Sozialwissenschaft zu einem regelrechten Boom von Meinungsumfragen gekommen.260 Solche hatte es zwar auch vorher schon unter Chruščev und Brežnev gegeben, unter diesen waren sie aber keineswegs so repräsentativ, umfassend und kritisch gewesen wie unter Gorbačev. Um das Land besser zu regieren und die Entfremdung zwischen der Bevölkerung und dem Staat zu verhindern – ein Hauptziel der Glasnost’ –, war die Regierung gewillt zu erfassen, wie die Bevölkerung über die Regierung, die Gesellschaft und die Zukunft dachte. Durch soziologische Umfragen über Alltagsprobleme und politische Ansichten erhoffte sich die neue Parteiführung, mögliche Konfliktpunkte für ihre Reformen zu ermitteln sowie hinter die Struktur des sozialen Widerstands gegen die politische Umgestaltung zu kommen und die Stimmung im Land einzufangen.261 Zu diesem Zweck wurde unter dem Ministerium für Arbeit der UdSSR im Dezember 1987 in Moskau das »Allunionszentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung« (VCIOM) gegründet. Soziologen in der ganzen Sowjetunion beteiligten sich mittels regionaler Umfragen an den Allunionsbefragungen, wobei sie stets eng mit ihren Moskauer Kollegen zusammenarbeiteten.262 In Armenien war die Soziologie an der Akademie der Wissenschaften in den Instituten für Philosophie und Recht sowie im Institut für Archäologie und Ethnografie angesiedelt und erst im Zuge der Reformen wurde 1986 auch an der philosophischen Fakultät der Staatlichen Universität ein Lehrstuhl für angewandte Soziologie eingerichtet.263 Im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau nach dem Erdbeben führte das Institut für Philosophie und Recht unter der wissenschaftlichen Leitung des armenischen Soziologen Gevork Połosyan ein groß angelegtes interdisziplinäres Forschungsprogramm mit dem humanis260 Steinsdorff: Rußland auf dem Weg zur Meinungsfreiheit, S. 47; Ahlberg, René: Sowjetgesellschaft im Epochenwandel. Studien zur Selbstaufklärung der sowjetischen Gesellschaft in der Zeit der Perestroika 1985–1990, Frankfurt am Main 1992. 261 Steinsdorff: Rußland auf dem Weg zur Meinungsfreiheit, S. 48; Ahlberg: Sowjetgesellschaft im Epochenwandel, S. 11 f. 262 Zur großen VCIOM-Studie über das Soziogramm des »Sowjetmenschen« von 1991 siehe ­Gestwa: Der Homo Sovieticus. Zur Zusammenarbeit mit Moskauer Soziologen siehe: ­Pogosjan, Gevork: Razvitie sociologii v Armenii, in: Sociologičeskie issledovanija, 8 (2014), S. 37–47, hier S. 42. 263 Pogosjan: Razvitie sociologii v Armenii, S. 42.

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tischen Projekttitel »Der Mensch im Katastrophengebiet« durch, an dem Philosophen, Soziologen, Psychologen, Kriminologen, Demografen und Ökonomen beteiligt waren. In Auftrag gegeben wurde die Umfrage vom Staatlichen Komitee für die Beseitigung der Erdbebenfolgen unter Nikolaj Ryžkov, weshalb Moskauer Beamte die administrative Leitung übernahmen.264 Auf der Grundlage dieser Meinungsstudie, für die 2000 Bewohner der größten vom Erdbeben betroffenen Städte, Leninakan, Spitak und Kirovakan, befragt wurden, erhielt die armenische Regierung Empfehlungen für die weitere Arbeit in der Katastrophenregion sowie Prognosen über die möglichen sozialen Folgen.265 Dabei handelte es sich um die erste soziologische Forschung, die im Anschluss an eine Naturkatastrophe in der Sowjetunion durchgeführt wurde, was auf den sich wandelnden Umgang mit Naturkatastrophen im Zuge der Perestrojka verweist. Fortan standen die sozialen Folgen von Katastrophen für den sowjetischen Menschen im Vordergrund. In seinen Schlussfolgerungen kam der Leiter des Projekts Gevork Połosyan zu erschütternden Ergebnissen. Ende Dezember 1989 glaubten demnach nur 1,2 Prozent der Befragten, dass die Städte in zwei Jahren wiederaufgebaut werden würden, wohingegen über 80 Prozent glaubten, dass es noch mindestens fünf bis zehn Jahre dauern würde.266 Dieses Misstrauen gegenüber der Leistungsfähigkeit des Partei- und Staatsapparates spiegelte auch den Ende 1989 unbestreitbaren Machtverfall der Partei wider.267 Połosyan schloss damals, im Januar 1990, daraus, dass das »Volk […] nicht mehr den Versprechungen der Regierung [glaubte]. Das vertieft[e] die ohnehin schon stattfindende politische Entfremdung.«268 Dieser Bruch zeigte sich auch darin, dass von den 2000 Befragten aus der Erdbebenzone 71,5 Prozent angaben, nicht an den im März 1989 abgehaltenen Wahlen der Volksabgeordneten teilgenommen zu haben.269 In ganz Armenien enthielten sich 30 Prozent der Wahlberechtigten, in manchen Teilen Jerewans bis zu 70 Prozent – die niedrigste Wahlbeteiligung für die erste Wahl der Volksabgeordneten in der ganzen Sowjetunion.270 Die hohen Stimmenthaltungen in Leninakan, einer Stadt außerhalb des Zentrums, machten auf 264 Aus einem E-Mail-Wechsel der Autorin mit Gevork Pogosjan am 13. Februar 2016. 265 Auszüge aus den Studienergebnissen in: Pogosjan: Čelovek v zone bedstvija (Teil 1 und 2). 266 Pogosjan: Čelovek v zone bedstvija (Teil 1), S. 9. 267 Ahlberg: Sowjetgesellschaft im Epochenwandel, S. 55–75. 268 Pogosjan: Čelovek v zone bedstvija (Teil 1), S. 9. 269 Ebd. 270 Zur Wahlbeteiligung in Armenien siehe Mouradian: The Mountainous Karabagh Question, S. 25.

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ganz besondere Art auf die politische Desillusionierung und Entfremdung in der Stadt aufmerksam. Um ein weiteres Zeichen zu setzen, erschien aus Protest, Entfremdung und Gleichgültigkeit kaum jemand zur Wahl des Bürgermeisters von Leninakan am 10. August 1989.271 Der Grund für diese politische Distanz innerhalb der armenischen Bevölkerung lag nach Gevork Połosyan im gegenseitige[n] Misstrauen, Enttäuschung und Unverständnis. Diese basieren auf der Vertrauenskrise, der Abwertung moralischer Wertvorstellungen des staatlichen Systems. Die Worte und die Versprechungen der politischen Führung, der Parteiführer, sind stark im »Preis gefallen«. Es ist eine Art politische Inflation entstanden, die sich durch die Erdbebentragödie, durch die Verluste und die Trauer vertieft hat.272 Abgesehen davon waren die Bewohner der Erdbebenregion auch zu wenig in den Wiederaufbauprozess eingebunden, so dass 59 Prozent der Befragten keine Vorstellung davon hatten, wie ihre Städte eigentlich konkret wiederaufgebaut werden sollten. Nach seinen Interviews mit Architekten und Bauingenieuren kam Gevork Połosyan zu dem Schluss, dass die Stadtbewohner für die Bauleiter nur »jene unerwünschte und schlecht zu kontrollierende Substanz« seien, welche die Fassade der Stadt »ruiniert[e]«.273 Statt sich also zusammenzuschließen, befanden sich nach Połosyan die Bevölkerung und der Staatsapparat »auf verschiedenen Seiten der Barrikaden«.274 Er forderte daher, dass die Bewohner in die Prozesse mit eingebunden werden, um Apathie und Entfremdung zu verhindern.275 Nicht nur die sowjetische Gesellschaft verfiel, sondern auch die armenische. Eine andere Umfrage, die diesmal jedoch das Staatliche Komitee der Armenischen SSR für Statistik (Goskomstat) im Oktober 1989 durchführte, um die Kommunistische Partei über die allgemeine statistische Versorgungslage, aber auch über die Stimmung in der Erdbebenzone zu informieren, kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Die Frage, ob die Führung der Republik alles in ihrer Macht Stehende tat, um den Wiederaufbau voranzutreiben, bejahten nur 13 Prozent der 1500 Befragten aus der Erdbebenzone. Von der Leistung ihrer örtlichen Parteiapparate während des Wiederaufbaus waren lediglich acht Pro271 Pogosjan: Čelovek v zone bedstvija (Teil 1), S. 9. 272 Ebd., S. 10. 273 Ebd. 274 Ebd. 275 Kommunist 156, 01.07.1989, S. 4. Siehe auch Zitat am Anfang des Kapitels.

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zent überzeugt. Mehr Zuversicht – aber auch nur zu 22 Prozent – schienen sie in die eigenen Landsleute gehabt zu haben, die nicht vom Erdbeben betroffen waren.276 Die Ergebnisse offenbaren, dass in den Augen der Befragten die Gründe für das Scheitern des Wiederaufbaus nicht nur bei der Regierung in Moskau zu suchen waren, sondern dass auch die lokale Republikführung, also Brežnevs Autonomisierungspolitik versagt hatte. Wie frustriert die Armenier über ihre eigene Führung waren, verdeutlicht nicht zuletzt das Banner, das die Bewohner Leninakans beim Besuch Margaret Thatchers im Juni 1990 in der Erdbebenzone hochhielten und auf dem Folgendes zu lesen war: »Ihr Besuch zwang unsere Bürokraten endlich zum Arbeiten. Bitte besuchen Sie uns doch öfter.«277 Kurz vor Thatchers Besuch waren wohl in kürzester Zeit Trümmer und Müll beseitigt worden, um bei ihr Eindruck zu schinden. Das wichtigste Thema im öffentlichen Diskurs über den Wiederaufbau war das langsame Tempo, mit dem dieser vonstattenging. Beschwerden über die unzumutbare Länge des Wiederaufbaus nach Katastrophen sind auch für viele andere Katastrophen weltweit konstatiert worden.278 Erwartungen und die tatsächlich benötigte Zeit für den Wiederaufbau klaffen in der Regel auseinander, weil jede Katastrophe eigene neue Parameter in die Planung mit einbringt und die benötigte Zeit daher oftmals schwer abzuschätzen ist. In Armenien begannen schon im April 1989, vier Monate nach der Katastrophe, die Ersten an der Umsetzung des Wiederaufbaus in zwei Jahren zu zweifeln, weil der sichtbare Fortschritt fehlte.279 Die Glaubwürdigkeit des sowjetischen Versprechens bröckelte, wogegen mittlerweile auch keine Mut machenden Zeitungsartikel mehr halfen. Den langsamen Wiederaufbau und die Tatsache, dass die offiziellen Zusicherungen vom Anfang nicht eingehalten wurden, empfanden die Überlebenden des Erdbebens wie ein weiteres Trauma oder eine weitere Katastrophe. So schrieb ein Rentner aus Jerewan in einem Brief an die armenische Regierung:

276 HAA f. 1, op. 127, d. 697, ll. 68–77, hier ll. 71, 77, Resultate der Umfrage unter der Bevölkerung in der Erdbebenzone vom 27. November 1989. 277 The Times of London 11.06.1990, S. 12. 278 Zur Problematik die Dauer des Wiederaufbaus nach Katastrophen einzuschätzen siehe Vale/ Campanella: Conclusion: Axioms of Resilience, S. 336; Dusek, Jacob: Post-disaster Reconstruction: A Quantitative Study of Residential Reconstruction Time Following Hurricanes Ivan and Dennis, BSc Dissertation, University of Portsmouth 2007. 279 HAA f. 113, op. 161, d. 318, ll. 42–56, Brief eines russischen Facharbeiters in Spitak an M. S. Gorbačev vom 22. April 1989 und Pravda 101, 11.04.1989, S. 6, wo der Journalist schreibt: »[…] viele Menschen glauben nicht daran, dass in zwei Jahren alles fertig sein wird.«

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Es ist schon Mai [1989], aber wir lesen in den Zeitungen und sehen im Fernsehen Ruinen. Unsere bereits ruinierten Seelen werden abermals zerstört. Wir haben keine Kraft mehr, das alles zu erleiden. Unser Volk ist arm und schon zerfallen. Diese Verzögerung ist ein neues Erdbeben für uns.280 Von der Hoffnung über einen bald beginnenden Wiederaufbau und damit Neuanfang für ihr Leben war nichts geblieben; »außer Schmerz [war] nichts mehr da«.281 Ganze Kollektive wandten sich in Briefen an die sowjetische Regierung, in denen sie offiziell ihr Misstrauen gegenüber der Partei ausdrückten. Darin hielten sie diese für unfähig, den Wiederaufbau zu organisieren, und forderten den Abgang der armenischen Regierung.282 Mitte Mai 1989 trugen die Armenier ihren Unmut über den Wiederaufbau zum ersten Mal auf der Straße aus. Auf dieser ersten von der Partei offiziell sanktionierten Demonstration forderten einige wenige armenische Intellektuelle und Abgeordnete des Obersten Sowjets die Beschleunigung des Wiederaufbaus. Redner kritisierten, dass sich die eigene armenische Regierung und die Behörden nicht genügend für bessere Lebensbedingungen auf den Baustellen und in den Regionen eingesetzt und dadurch die Abwanderung der armenischen Bevölkerung hervorgerufen hätten.283 Sehr bald merkten Armenier und die Bürger im ganzen Land, dass das gesteckte Ziel von zwei Jahren sich schnell in eine gefährliche Spirale verwandelte. Mehr noch als die Langsamkeit des Wiederaufbaus fürchteten die Überlebenden nämlich den Pfusch am Bau. Manche Überlebende hatten so viel »Seismophobia«, Angst vor Erdbeben, und Misstrauen gegenüber den Fähigkeiten der Bauarbeiter, dass sie ihre neuen Häuser nur mit eigenen Händen aufbauen wollten.284 Zugereisten Bauarbeitern trauten sie noch eher zu, die Häuser sicher zu bauen, als ihren eigenen, so tief war das Misstrauen gegenüber den eigenen 280 HAA f. 1, op. 127, d. 757, ll. 91–94, Brief eines Bewohners aus Leninakan an das ZK KP ArSSR vom 18. Mai 1989. 281 HAA f. 1, op. 127, d. 756, l. 24, Brief eines Bewohners aus Leninakan an das ZK KP ArSSR vom 8. Dezember 1989. 282 GARF f. 9654, op. 10, d. 412, l. 186, Telegramm vom Arbeitskollektiv ErfZNII »Agat« (Jerewan) an M. S. Gorbačev vom 21. April 1989. 283 Kommunist 113, 13.05.1989, S. 2. 284 Kommunist 156, 01.07.1989 S. 4, wo der Soziologe Gevork Pogosjan von »Seismofobija« als Grund für das Misstrauen gegenüber den staatlichen Bauprojekten spricht. Der Begriff ist sicherlich eine Anlehnung an die nach Tschernobyl entstandene »atomofobija«, die Angst vor Strahlenkrankheiten und der Nuklearkraft im Allgemeinen. Xorhrdayin Hayastan 166, 08.07.1989, S. 4, wo das Misstrauen gegenüber den staatlichen Bauorganisationen deutlich ausgedrückt wird. Siehe auch Interview mit Vergine Buniat’yan (*1961), Spitak, 15.03.2015.

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Strukturen.285 In zahlreichen Briefen äußerten Armenier aus Leninakan, dass der Bürgermeister E. S. Kirkosyan, welchen sie für das Ausmaß der Katastrophe verantwortlich machten, nicht auch noch für die Planung der neuen Häuser zuständig sein solle, sondern strafrechtlich verfolgt gehöre.286 Die Angst vor einstürzenden Häusern bezog sich auch auf die nachfolgenden Generationen. Einigen war es lieber, noch fünf Jahre in einem Zelt zu hausen, um dann aber in einem erdbebensicheren Haus zu wohnen, in dem auch noch ihre Kindeskinder weitere Erdbeben überleben würden.287 Sie wollten »keine Losungen« mehr und auch »keine feierlichen Berichte«, sondern forderten nur noch Folgendes: »Es muss nicht schöner sein! Es muss nicht schneller sein! Es soll sicherer sein! Es soll stabiler sein! Es muss ehrlicher sein!«288 Die wohl deutlichste Reaktion auf den langsamen oder ausbleibenden Wiederaufbau und die damit verbundene Hoffnungslosigkeit stellte die Abwanderung der armenischen Bevölkerung dar. Migration infolge von Veränderungen der Umwelt und Umweltkatastrophen ist schon immer ein Weg gewesen, um sich den Bedingungen anzupassen oder um schlichtweg zu überleben.289 Menschen emigrieren, weil sie aufgrund der Katastrophe ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können oder weil sie Angst vor erneuten Naturgewalten haben, was auch in Armenien bei vielen Menschen der Fall war. Bei einigen nimmt die Angst nach einiger Zeit ab und sie kehren zurück, andere bleiben für immer fort.290 Ob Menschen zurückkehren oder permanent umsiedeln, hängt davon ab, ob es adäquate Hilfe gibt, die dafür sorgt, dass Hilfsgüter gerecht verteilt werden und die Menschen Behausung bekommen. Durch die permanente Umsiedlung werden ganze Bevölkerungsgruppen entwurzelt, was wiederum zu

285 Pogosjan: Čelovek v zone bedstvija (Teil 1), S. 10. 286 HAA f. 1, op. 127, d. 755, ll. 147–148, Brief von Angehörigen der Opfer aus Leninakan an S. Harut’unyan vom 4. Februar 1989 und ebd., ll. 173–175, Brief einer obdachlosen Armenierin aus Leninakan an S. Harut’unyan, ohne Datumsangabe. 287 Ogonek 36, 1989, S. 28. 288 Ebd., S. 29. 289 Vgl. Blaikie, Piers M./Cannon, Terry/Davis, Ian/Wisner, Ben: At Risk: Natural Hazards, People’s Vulnerability, and Disasters, London, New York 1994; Hugo, Graeme: Environmental Concerns and International Migration, in: The International Migration Review 30 (1996) 1, S. 105–131; Paul, Bimal Kanti: Evidence against disaster-induced migration: The 2004 tornado in north-central Bangladesh, in: Disasters 29 (2005) 4, S. 370–385; Oliver-Smith, Anthony/Sherbinin, Alex de: Resettlement in the twenty-first century, in: Forced Migration Review 45 (2014), S. 23–25. 290 Mileti, Dennis S.: Disasters by Design. A Reassessment of Natural Hazards in the United States, Washington, D.C. 1999.

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Verarmung, sozialer Desorganisation und zum Verstoß gegen Menschenrechte im Umgang mit den Entwurzelten führt.291 Schätzungen gehen von 200.000 Flüchtlingen als Folge der Erdbebenkata­ strophe in Armenien aus.292 Allerdings lässt diese Zahl Zweifel aufkommen. Aufgrund der chaotischen Wanderungsbewegungen von Armeniern, die aus Aserbaidschan vertrieben wurden und sich zumindest vorübergehend in Armenien niederließen, aufgrund der unzuverlässigen Bevölkerungsstatistiken vom Januar 1989, die einen Monat nach dem Erdbeben erstellt wurden, und aufgrund der Massenevakuierungen ist es unmöglich, eine konkrete Zahl der Katastrophenflüchtlinge auszumachen. Bis Herbst 1989 kehrten Schätzungen zufolge 150.000 der Evakuierten zurück, die nun in Zelten, Jurten und temporären Häusern untergebracht werden mussten.293 Zum einen kehrten sie zurück, weil sie in ihre Heimat zu ihren Familien wollten, zum anderen aber auch, weil sie in den Sanatorien und Gemeinden, die sie aufgenommen hatten, nicht mehr geduldet wurden.294 Über die geschätzten 50.000 Armenier hinaus, die im Herbst 1989 noch nicht zurückgekehrt waren, befürchtete die armenische Regierung für den Januar 1990 eine erneute große Ausreisewelle aufgrund des ausbleibenden Wiederaufbaus und der widrigen Lebensumstände, insbesondere mit Blick auf den bevorstehenden Winter.295 Und in der Tat gaben 14 Prozent der Befragten aus der Erdbebenzone Ende 1989 an, auswandern zu wollen.296 Ebenso verweist die große Anzahl von 12.700 ausreisenden Arbeitern im Jahr 1989 auf starke Migrationswellen aus Armenien infolge des Erdbebens.297 Dementspre291 Oliver-Smith, Anthony: Climate Change and Population Displacement: Disasters and Diasporas in the Twenty-first Century, in: Susan A. Crate/Mark Nutall (Hg.): Anthropology and Climate Change. From Encounters to Actions, New York 2009, S. 116–136. 292 Bericht der International Organization for Migration: Migration in Armenia. A country profile, Genf 2008. 293 Krimgold: Economic and Social Impacts, S. 7013; Manasyan, Heghine/Poghosyan, ­Gevork: Social Impact of Emigration and Rural-Urban Migration in Central and Eastern Europe. Final Country Report for Armenia, Brüssel 2012, S. 7. 294 Pogosjan: Čelovek v zone bedstvija (Teil 2), S. 20. 295 HAA f. 1, op. 127, d. 697, l. 71, Resultat der Umfrage in der Erdbebenzone vom 27. November 1989. Auf die Zahl 50.000 kommt Yeganyan, Ruben: Migration Trends, Globalization and Human Development, in: UNDP: National Human Development Report 2009. Migration and Human Development: Opportunities and Challenges, Jerewan 2009, S. 23–48, hier S. 35. Auch Gevork Pogosjan schätzte die Zahl jener, die nicht zurückkehrten, auf ca. 50.000, aus einem E-Mail-Wechsel am 13. Februar 2016. 296 Pogosjan: Čelovek v zone bedstvija (Teil 2), S. 20. 297 HAA f. 1, op. 84, d. 40, ll. 66–70, Beschluss der ZK KP ArSSR und des Ministerrates der ArSSR über die Rekrutierung von Arbeitern vom 25. Januar 1990. Siehe auch Kapitel 5.2 zum Arbeitermangel.

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Missglückter Wiederaufbau

chend war die Zahl der vom Außenministerium legalisierten Dokumente für eine permanente Ausreise zwischen März 1988 und März 1989 um das Fünffache angestiegen, was ebenfalls auf das starke Bedürfnis der Menschen, ihre Existenzgrundlage zu verbessern, aber auch auf ihr Misstrauen gegenüber einer Zukunft innerhalb der Sowjetunion hindeutet.298 Nach dem Ausbruch der gewalttätigen Konflikte im Jahr 1989 in der gesamten Sowjetunion litten jedoch nicht nur Armenier unter dem Migrationsdruck. Zum 23. Januar 1990 waren insgesamt 250.000 Armenier aus Aserbaidschan, 172.100 Aserbaidschaner aus Armenien und Bergkarabach, 64.000 Mescheten aus Usbekistan und 8000 Nordkaukasier aus Kasachstan vor Gewalt und Vertreibung auf der Flucht.299 Migration als Ausweg aus politischen und ökonomischen Notlagen war ein Kennzeichen der Perestrojka-Ära und ein Produkt der Jahrzehnte währenden Politik des sowjetischen Regimes. Aber die Auswanderung von Armeniern aus Armenien aufgrund des Erdbebens und des ausbleibenden Wiederaufbaus wirkte sich noch einmal anders auf ihre Beziehung zum sowjetischen Staat aus als bei den oben genannten vertriebenen Minderheiten in den jeweiligen Republiken. Nicht nur lag ihre Republik in Schutt und Asche, sie leerte sich auch noch und ließ nur die Ärmsten und die am wenigsten Ausgebildeten der Bevölkerung zurück. So beschwerte sich ein Redner auf den Tribünen des Theaterplatzes am ersten Jahrestag des Erdbebens, dass nun im Chaos des Wiederaufbaus aus der Republik »Gold, Molybdän, Technik und ›Gehirne‹ ausgeführt« würden.300 Die Wanderungsbewegungen waren ein eindeutiges Symptom eines erkrankten Systems, in dem viele keinen Platz mehr für sich fanden. Wie das Unterkapitel zeigte, glaubte an den Erfolg des Wiederaufbaus, dem die meisten Menschen aus der armenischen Bevölkerung anfangs optimistisch entgegengeblickt hatten, ab Sommer 1989 kaum noch jemand. Soziologische Studien belegten, wie eng für die meisten Betroffenen der Wiederaufbau mit einem Vertrauen in die armenische und in die sowjetische Regierung verbunden war. Denn ein Scheitern des Ersteren stand für viele schon bald für ein Scheitern des gesamten sowjetischen Projektes. Dabei ermöglichte die politische und gesellschaftliche Öffnung, erweitert unter anderem durch die ersten 298 HAA f. 326, op. 8, d. 60, ll. 12, Bericht des Außenministeriums der ArSSR für das Jahr 1988 von März 1989. 299 GARF f. 5446, op. 162, d. 176, ll. 48–60, Bericht über die Probleme der Menschen, die ausreisen müssen, von Februar 1990. 300 HAA f. 1159, op. 3, d. 27, l. 88, Transkript der Reden auf dem Theaterplatz vom 7. Dezember 1989.

Fazit

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sowjetischen Parlamentswahlen im März 1989, noch mehr gesellschaftliche Reflexion über den Wiederaufbau in der sowjetischen Öffentlichkeit. So konnten die Zweifel an den lokalen und zentralen Regierungen offen zutage treten und die Fliehkräfte in der Republik weiter beschleunigen.

5.4 Fazit: Abbau des Vertrauens statt Wiederaufbau der Städte Die Pläne zum Wiederaufbau sollten die Perestrojka in Stein meißeln, die Offenheit des »neuen Denkens« in städtebaulichen Konzepten versinnbildlichen und Gorbačev eine Plattform liefern, auf der er seine internationalen Verflechtungen zur Schau stellen konnte. Vor allem aber verdeutlichten die Pläne den Wandel in den Handlungen und Zielen der sowjetischen Regierungsführung. Statt neuer modernisierter Städte sollten für sowjetische Verhältnisse kleine und bescheidene Wiederaufbauprojekte umgesetzt werden, die, anders als bisher, eher zum Ziel hatten, die Bevölkerung so schnell wie möglich wieder unterzubringen, als die sowjetische Allmacht zur Schau zu stellen. Auch wenn sich dies in der Umsetzung nicht immer durchsetzte, lässt sich dennoch gegenüber den Wiederaufbauprojekten in Zentralasien ein starker Wandel feststellen. Der Wiederaufbau machte deutlich, dass Gorbačevs Reformen, die einen Sozialismus mit »menschlichem Antlitz« hervorbringen sollten und deren Erfolg oder Misserfolg am Wiederaufbau in Armenien getestet wurde, ihre Prüfung nicht bestanden hatten. So entfremdete der Wiederaufbau viele Armenier vom Zentrum, weil dieses sein Fürsorgeversprechen nicht einhielt. Ihr dadurch wachsendes Misstrauen gegenüber der sowjetischen Regierung zeigte sich nicht zuletzt darin, dass viele Armenier die ersten Wahlen der Volksabgeordneten im März 1989 sowie später Gorbačevs Referendum zum Verbleib Armeniens in der Sowjetunion boykottierten. Stattdessen legten sie am Tag dieses Referendums den Tag ihres eigenen Referendums über die Unabhängigkeit, im September 1991, fest – trotz und gerade wegen des Wiederaufbaus. Denn der schleppende Wiederaufbau frustrierte die armenische Bevölkerung mehr noch als das Versagen im Katastrophenmanagement, welches im staatlichen Narrativ immer durch das außerordentliche Ausmaß der Katastrophe erklärt werden konnte. Ein zu langsames Tempo beim Bau dagegen ließ sich angesichts des sozialistischen Versprechens, für die Bevölkerung Sorge zu tragen, kaum rechtfertigen. Darüber hinaus fand der Wiederaufbau während der Jahre 1989 und 1990 statt, als die Partei ihr Monopol auf die sowjetischen Medien bereits verloren hatte und sich ein starker Verselbstständigungsprozess

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Missglückter Wiederaufbau

im sowjetischen Pressewesen bemerkbar machte. Durch die immer kritischer werdende Informationsflut in der Öffentlichkeit konnte die Kluft zwischen den Versprechungen und der Realität nicht mehr verschleiert werden. Was bei früheren Großprojekten in Taschkent und anderswo an Misswirtschaft, Schlampigkeit, Korruption, fehlendem Wissen und chaotischer Koordinierung vertuscht oder beschönigt worden war, kam nun unverblümt an die Oberfläche und trug dazu bei, das Fortschrittsparadigma der Sowjetunion infrage zu stellen. Die Journalisten unterstützten und fütterten mit ihren Berichten das Meinungsbild über den unfähigen Staat und dessen Fehlbarkeit. War der Wiederaufbau sowjetischer Städte früher dazu genutzt worden, Stärke zu symbolisieren, galt er nun als Ausdruck von staatlicher Inkompetenz und gesellschaftlichem Untergang. Plötzlich wurde jedes Gebäude im Land zum Gegenstand von Zweifeln und auf vergangenen Pfusch und zukünftige Gefahren hin untersucht. Dies geschah auch aufgrund der Akkumulation von Krisen und Katastrophen anderswo im Land, der »Katastrojka«, die sich am Wiederaufbau so bildhaft zeigte. Aus den »Erbauern des Kommunismus« wurden so die Zerstörer des Imperiums, von dessen Hochhaus nun auch die Armenier mit ihrem Referendum möglichst schnell abspringen wollten, bevor es in 1000 kleine Betonkrümel zusammenfiel, unter denen dann Erstickungsgefahr drohen würde. Nicht zuletzt trug dieses »toxische Narrativ« vom Zerfall, welches das traditionell optimistische und heroische Narrativ ersetzte, aber auch dazu bei, dass die Städte und ihre Bevölkerungen sich nicht mehr erholen konnten.301 Eine Chance sahen die Armenier zunehmend in einer Abkehr von der Sowjetunion, obwohl gleichzeitig unklar blieb, wie eine von den Führern des Karabachkomitees ausgestaltete Zukunft aussehen würde, und sie eigentlich nicht genau wussten, wie sie den Alleingang bewerkstelligen sollten. Bei dem massiven Ausmaß an Geschichtsaufarbeitung, politischen Enthüllungen, Schuldzuweisungen und ideologischer Entkernung politischer Institutionen mangelte es in Armenien an allen Stellen an optimistischen Zukunftsvisionen, die ihnen der Staat nicht mehr glaubhaft vermitteln konnte. Und schließlich zeigte die Gewalt auf den Baustellen, die rassistischen Losungen der lokalen Armenier und deren Forderungen nach einem »reinen« Armenien, das frei sein sollte von anderen Ethnien. Die mangelnde Hilfe aus den ande301 Edward Linenthal schuf hierfür in seiner Studie über den Bombenanschlag von Oklahoma City 1995 den Begriff »toxisches Narrativ«. Neben dem progressiven, welches Weiterentwicklung nach einem Trauma vorgab, dem erlösenden, wonach nach einer religiösen Bedeutung gesucht wird, fokussierte sich das giftige Narrativ (toxic narrative) auf die negativen Konsequenzen der Katastrophe und verhindere so die Heilung, siehe Linenthal, Edward T.: The Unfinished Bombing. Oklahoma City in American Memory, Oxford 2001.

Fazit

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ren Republiken verdeutlichte, dass die vermeintliche Völkerfreundschaft nicht mehr als eine Chimäre war. Moskau selbst schien wenig freie Kapazitäten für die Schwierigkeiten an der Peripherie zu haben. Davon zeugte zum einen das geringe Interesse Gorbačevs am Wiederaufbauprozess, zum anderen die anscheinende Unfähigkeit der sowjetischen Regierung, gegen die von Aserbaidschan verhängte Transportblockade vorzugehen. Moskau gab mit seiner Tatenlosigkeit, die sich gewissermaßen durch die armenische Perestrojka-Geschichte zog, wissentlich die Kontrolle in der Peripherie ab und trug so zur Beschleunigung der Zentrifugalkräfte bei, die das sowjetische Imperium schließlich kollabieren ließen. Das Kapitel zeigte, wie die republikanische Regierung in Armenien nicht nur vom Karabachkomitee und dessen Anhängern diskreditiert wurde, sondern auch von den Überlebenden des Erdbebens selbst. Im Gegensatz zu anderen Republiken wie beispielsweise Kasachstan oder Usbekistan, wo die nationalen kommunistischen Eliten die von Brežnev eingeleitete Autonomisierung zum eigenen Vorteil umzusetzen wussten, schaffte es die armenische Regierung nicht, die Erneuerungswünsche der Bevölkerung zu verkörpern. Dies war auch im Baltikum der Fall, aber während sich die Bevölkerung dort geschlossen gegen die kommunistische Führung stellte, zerfiel die armenische Gesellschaft aufgrund des Erdbebens zunehmend. Gepaart mit den heftigen Migrationsbewegungen und der Gewalt revidieren diese Prozesse das teilweise vorherrschende Bild einer sang- und klanglos zusammengebrochenen Sowjetunion. So war der Wiederaufbau zwar einerseits das Ereignis, das die Union wie ein letzter seidener Faden bis zum Schluss zusammenhielt, Armenien mit dem Zentrum verband, fungierte aber andererseits auch als Katalysator für den Zusammenbruch, weil er die Kluft zwischen sozialistischem Anspruch und Realität für jeden sichtbar zutage förderte.

6 Unvermeidbare Unabhängigkeit und die Ambivalenz der neuen Ordnung

»Dass es eine richtige Bewegung für den Austritt aus der Sowjetunion gab, nein, so war es nicht.« Lewon Abrahamyan1

Die Phasen des Katastrophenmanagements und des Wiederaufbaus zeigten, wie sehr der mangelnde staatliche Schutz bei einem solchen Extremereignis das Vertrauen in das sowjetische System als Schutzgarant erschütterte, weil die Katastrophe selbst und der Umgang mit ihr die Schwächen des Staates offenlegten. Seit den 1970er Jahren waren die Erwartungen an den Staat, Fürsorge zu leisten, gestiegen und als sich unter anderem durch das Erdbeben abzeichnete, dass jene Erwartungen zunehmend unerfüllt blieben, suchte die Bevölkerung in Armenien und anderswo in der Sowjetunion nach naheliegenden Alternativen. Das folgende Kapitel handelt von dieser Suche, indem es fragt, wie und warum die Menschen in Armenien den Weg zur Unabhängigkeit gingen und welche Vorstellungen sie sich dabei von der Zukunft einer armenischen Nation machten. Dabei spielen zum einen die neuen Beziehungen zwischen Sowjetarmeniern und der ausländischen armenischen Diaspora und zum anderen die alten Beziehungen zwischen Russland und Armenien eine entscheidende Rolle. Beide Verbindungen waren von Ambivalenz bestimmt und prägten die armenische Gesellschaft und ihr Verständnis als Nation. Die Beziehungen zwischen diesen Akteuren werfen ein weiteres Licht darauf, warum Armenien trotz der breiten Zerstörung durch das Erdbeben zunehmend vehement auf Unabhängigkeit drängte, während gleichzeitig die Haltung innerhalb der armenischen Gesellschaft einem politischen Alleingang gegenüber weniger eindeutig und zurückhaltender war, als dies beispielsweise in den baltischen Republiken der Fall gewesen ist. Die Berücksichtigung der Entwicklungen während der 1990er Jahre hilft, die Entfremdungsprozesse Armeniens vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion besser zu verstehen. Zeitlich endet die Analyse mit dem Rücktritt Lewon Ter-Petrosyans 1998, weil damit die Ära der armenischen Nationalbewegung abschließt.

1 Interview mit Lewon Abrahamyan (*1947), Jerewan, 26.09.2013.

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Unvermeidbare Unabhängigkeit

6.1 Die Diaspora2 – Von humanitärer Wohltäterin zu politischer Widersacherin Die internationale Zusammenarbeit nach der Erdbebenkatastrophe bewirkte weitreichende Veränderungen in der armenischen Politik und Gesellschaft. Denn durch die Katastrophenhilfe wurden noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Sowjetarmenien große Teile der armenischen Diaspora aus den USA und Frankreich mobilisiert, deren Engagement über einen üblichen humanitären Einsatz hinausging. Die Katastrophe gab der Diaspora die Möglichkeit, sich in ihrem ursprünglichen Heimatland zu etablieren und Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auszuüben. In der Forschung ist die Rolle der armenischen Diaspora für die Unabhängigkeit Armeniens von der Sowjetunion bisher als gering eingeschätzt worden, meist wird ihr Wirken in jenen Jahren jedoch gar nicht erst beachtet.3 In den meisten Abhandlungen über die armenische Diaspora springt die Erzählung von der Erdbebenhilfe durch die Diaspora 1988 übergangslos zum Jahr 1991.4 So ist ihre Rolle bei den politischen Veränderungen in Armenien während dieser drei Jahre bisher noch nicht untersucht worden; grundsätzlich ist der Einfluss der verschiedenen Diaspora-Gemeinden auf die postsowjetischen Transformationsprozesse in der osteuropäischen Geschichtswissenschaft bislang nur marginal behandelt worden. Das vorliegende Unterkapitel geht daher der Frage nach, auf welchen Wegen und mit welchen Konsequenzen für Armenien sich die Diaspora mit ihrem »Long-Distance«-Nationalismus in der Republik wirtschaftlich, politisch und kulturell einrichtete.5 Inwiefern wirkte die Diaspora an der Gestaltung der neuen unabhängigen Republik mit und was bedeutete ihre Anwesenheit für die Sowjetarmenier? Untersuchungen dazu können erklären, welche Strukturen – abgesehen vom bereits oft beschriebenen wirtschaftlichen 2 Diaspora ist hier nicht als homogene Gruppe zu verstehen, sondern als extrem heterogen und ambivalent. Zum Begriff »Diaspora« siehe Brubaker, Rogers: The ›diaspora‹ diaspora, in: Ethnic and Racial Studies 28 (2005) 1, S. 1–19. Nach Brubaker sind Diasporas keine gebundenen Einheiten, sondern vielmehr ein Projekt, eine Forderung, eine Einstellung und ein Idiom. 3 Sheffer, Gabriel: Integration Impacts on Diaspora-Homeland Relations. MMG Working Paper 10–08, Göttingen 2010, S. 27. 4 Siehe Ishkanian, Armine: Diaspora and global civil society: The impact of transnational diasporic activism on Armenia’s post-Soviet transition, in: Touraj Atabaki/Sanjyot Mehendale (Hg.): Central Asia and the Caucasus. Transnationalism and diaspora, London 2005, S. 113– 139; Libaridian: The Challenge of Statehood. 5 Begriff von Anderson, Benedict: Long-Distance Nationalism. World Capitalism and the Rise of Identity Politics, Amsterdam 1992; allgemein über die Schwierigkeit, den Einfluss von Diaspora-Gemeinden auf ihre Heimatländer zu messen, siehe Sheffer: Integration Impacts.

Die Diaspora

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Bankrott – Einfluss auf den gesellschaftlichen Wandel in Armenien hatten. Die Berücksichtigung der armenischen Diaspora ist ein Schlüssel zum Verständnis der postsowjetischen Zukunftsvisionen der Sowjetarmenier. Denn die Diaspora war ein fester Bestandteil der offiziell und inoffiziell kursierenden Vorstellungen eines unabhängigen Armenien. Damit beeinflusste sie die armenische Unabhängigkeitsbewegung, während sie gleichzeitig die postsowjetische Geostrategie der neuen Führung unter Ter-Petrosyan zunichtemachte, der im Gegensatz zur armenischen Diaspora großes Interesse an guten Beziehungen zur Türkei und zu Aserbaidschan hatte. Nachdem sich Armenien infolge der Transportblockade zunehmend auf eine Souveränität hinbewegt hatte, suchten viele Armenier in der nationalen Vergangenheit – etwa in der Zeit ihrer kurzen Unabhängigkeit zwischen 1918 und 1920 – nach einer Inspiration dafür, wie ihr Staat aussehen sollte; auch wenn die historische Bewertung dieser Jahre sowohl unter sowjetarmenischen als auch unter Diaspora-Historikern umstritten war und ist.6 Dabei bewegen sich die Befunde der Historiker zwischen einer Haltung, welche die erste Republik als eine parlamentarische Demokratie definiert, und einer Haltung, die in ihr nur eine Fassade für eine Daschnaken-Diktatur sieht.7 Eine der wichtigsten Fragen bei der Suche nach einer neuen armenischen Zukunft Ende der 1980er Jahre war, ob eine Unterordnung unter eine andere Macht für die Sicherheit der armenischen Bevölkerung vor der türkischen Gewalt tatsächlich so wichtig war oder ob sie nicht auch ohne diesen externen Schutz zurechtkommen könnte. Das Schutzbedürfnis der Armenier, das Thema der ständigen Feindseligkeiten durch Fremde und das Warten auf den Retter gehen in der armenischen Geschichte bis in das Mittelalter zurück.8 Die Überzeugung, dass Armenien als »Christus der Nationen« eines besonderen Schutzes bedarf, findet sich sogar noch in aktuellen Ansichten. Die Verbitterung über die mangelnde Hilfe von außen während und nach dem Genozid wechselte sich dabei stets mit der Hoffnung ab, dass eine »dritte Macht« ihnen doch noch beistehen würde.9 Zwar verstanden armenische Intellektuelle unter dieser »dritten Macht« Russland, doch entwickelte sich die Diaspora zumindest in der Übergangszeit 6 7 8 9

Dudwick: Memory, S. 410 f. Ebd., S. 410. Ebd., S. 275. Ebd., S. 277. Nur einige wenige kritisierten dieses Vertrauen auf die externen Kräfte von außen. So veröffentlichte der Philologe Rafael Ishkhanian 1989 einen Artikel, in dem er ebenjenen Verlass auf die »dritte Macht« scharf kritisierte und in Bezug auf den Karabachkonflikt dafür warb, mit Sowjetaserbaidschan direkt zu verhandeln, ebd., S. 278.

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von 1988 bis 1991 zu einer wichtigen, nicht zu vernachlässigenden Größe. Erstmals trat ein externer Akteur auf die armenische Bühne, der genauso stark wie die Sowjetarmenier selbst am Erhalt der armenischen Nation interessiert war. Der Unterstützung ihres nationalen Anliegens durch die Diaspora glaubten sich viele Sowjetarmenier bis zu den Demonstrationen im Frühling 1988 sicher. Doch in diesem Jahr, als das vermeintliche Hilfsversprechen der Diaspora bei ihrem Kampf gegen Moskau um eine Eingliederung Bergkarabachs erstmals getestet werden konnte, reagierten die Diaspora-Armenier in den Vereinigten Staaten und Westeuropa verhalten und sprachen sich sogar entschieden gegen die Nationale Bewegung Armeniens und gegen deren gegen Moskau gewandte Proteste aus.10 Bis 1988 galt Sowjetarmenien für die Diaspora-Armenier als ein idealisiertes Heimatland, das im Grunde nicht existierte. Für sie war »die Sehnsucht nach einem unabhängigen Heimatland ein Ideal, ein Statement über die eigenen edlen Gedanken und den edlen Geist. Es war kein [politisches] Programm, das eine glaubwürdige Strategie und Ergebnisse benötigte«, urteilte Gerard Libaridian, ein US-amerikanischer Historiker mit armenischen Wurzeln und der langjährige Berater Lewon Ter-Petrosyans.11 Für die meisten in der Diaspora blieb Sowjetarmenien mit dessen mittelalterlichen Klöstern und hellenistischen Tempeln bis zum Winter 1988 ein weit entferntes Museum der armenischen Vergangenheit.12 Ihre Zurückhaltung dem Heimatland gegenüber war dem Kalten Krieg geschuldet, da dieser ihnen ein Loyalitätsproblem beschert hatte. Denn sowohl Sowjetarmenien und somit der Sowjetunion als auch ihren neuen Heimatorten im Westen fühlten sich die Diaspora-Armenier zugehörig.13 Gleichzeitig hielten sie sich zurück, weil Sowjetarmenien genau genommen nicht das Land war, aus dem sie und ihre Vorfahren 1915 vertrieben worden waren. Die Städte bzw. der Teil Armeniens, aus dem sie stammten – wie Kars, Van und Erzeroum – gehörten nun zur Türkei. Mit dem neuen sowjetischen Armenien, das nach 1921 entstanden war, konnten sich viele nicht mehr identifizieren; die Sowjetisierung entfremdete sie immer weiter von dem ihnen aus Legenden und Mythen bekannten Armenien. Der einzige Weg, auf dem sie Sowjetarmenien als Heimatland akzeptieren konnten, war, es zu idealisieren und es als vorübergehenden Staat anzusehen, der irgendwann wieder zusammen mit den an die Türkei verlorenen Gebieten in das ursprüngliche 10 Siehe gemeinsames Kommuniqué der drei Diaspora-Parteien vom Oktober 1988, M ­ alkasian: »Gha-ra-bagh!«, S. 139. 11 Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 129. 12 Ebd., S. 135. 13 Zum doppelten Loyalitätsproblem der Diaspora siehe Sheffer: Integration Impacts, S. 28 ff.

Die Diaspora

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Armenien umgewandelt werden würde.14 Als die Demonstrationswellen 1988 begannen, wurde die Diaspora größtenteils selbst davon überrascht, weil sie kaum Verbindungen zu den tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklungen im Land hatte.15 Sie befand sich über lange Zeit mental zwischen den Sowjetarmeniern auf den Straßen und der sowjetischen Regierung im Kreml. Mit Letzterer hatte sie bisher ein distanziertes, aber funktionierendes Arbeitsverhältnis unterhalten. Die wenigsten Diaspora-Armenier glaubten daran, dass Sowjetarmenier eine nachhaltige politische Bewegung etablieren würden, und stellten sich auf die Seite der sowjetischen Regierung, aus Angst, diese würde den Menschen in Armenien irgendwann den Schutz verwehren. Unter den Diaspora-Parteien, die mehr als Lobbyparteien verstanden werden müssen, waren insbesondere die Partei der Ramkavar und die der Hunchakian gegen die Idee von einer Unabhängigkeit von der Sowjetunion – eine Haltung, der sich seit Beginn der 1980er Jahre auch die bisher traditionsgemäß antisowjetische ARF, die Partei der Daschnaken, anschloss. Durch die jahrzehntelang währende sowjetische Propaganda waren auch die Daschnaken schlussendlich überzeugt davon, dass Armenien Moskau als Beschützer gegen den Pantürkismus benötigte.16 Zum gleichen Zeitpunkt, als die Menschen in Sowjetarmenien zunehmend damit begannen, sich mit der Idee einer möglichen Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu beschäftigen, hörten die Letzten in der Diaspora auf, sich gegen das sowjetische Regime und den Verbleib in der Union zu wehren. Diese konträren Entwicklungen können erklären, warum die Presseorgane der Diaspora-Parteien das Karabachkomitee bis zu dessen Verhaftung im Dezember 1988 absichtlich kaum beachteten. Die Diaspora wollte die Idee der Unabhängigkeit nicht weiter propagieren. Zwei Ereignisse weisen darauf hin. Beim 24. Weltkongress der ARF, der im Sommer 1988 stattfand, also auf dem Höhepunkt der politischen Proteste in Sowjetarmenien, bildeten nicht jene Massenproteste, sondern die pantürkische Gefahr den Hauptdiskussionsgegenstand der Kongressteilnehmer. Und als internationale Menschenrechtsorganisationen gegen die politische Gefangenschaft des Karabachkomitees im Dezember 1988 nach dem Erdbeben auftraten, berichteten Diaspora-Zeitungen zwar darüber, doch nur wenige Diaspora-Armenier protestierten öffentlich

14 Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 124. 15 Ebd., S. 136. 16 Panossian, Razmik: The Armenians: Conflicting Identities and the Politics of Division, in: Charles King/Neil J. Melvin (Hg.): Nations Abroad. Diaspora Politics and International Relations in the Former Soviet Union, Boulder 1998, S. 79–102, hier S. 87.

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gegen die Verhaftung.17 Ihrer Meinung nach konnte das für die Diaspora vordergründige Ziel – die Rückgewinnung der verlorenen Territorien (Bergkarabach, Nachčivan und die Gebiete in der heutigen westlichen Türkei) – nur mit einem starken Staat wie der Sowjetunion erreicht werden.18 Darin bestand die grundlegendste Differenz zwischen der Mehrheit der armenischen Diaspora, die nichts mehr wollte als die Rückgabe ihrer alten Territorien, und den Sowjetarmeniern, die sich – je nach Epoche – mit ganz anderen Problemen unter der Sowjetherrschaft herumschlagen mussten. Das Erdbeben änderte zwar nichts daran, dass die drei Diaspora-Parteien Angst vor Protesten in Armenien und vor einer antisowjetischen Haltung hatten, aber Armenien wurde binnen weniger Tage zum Fokus aller Diaspora-­ Armenier und so wurde Raum für eine Annäherung zwischen den beiden Flügeln geschaffen. Aus vielen Regionen der Welt, in denen sich die armenische Diaspora mittlerweile niedergelassen hatte, strömten Hilfsgüter, Experten und Ärzte nach Sowjetarmenien. Endlich konnten sich nicht mehr nur Rechtsanwälte und Politiker für »Hay Tahd«, die armenische Sache, engagieren, sondern auch Diaspora-Armenier aus allen anderen Gesellschaftskreisen und Berufsgruppen, was ihre Anzahl in die Höhe trieb.19 Das Erdbeben war der Beginn einer neuen Beziehung zwischen Armeniern im Heimatland und der Diaspora im Ausland, aber auch der Beginn eines neuen Selbstgefühls der Diaspora-Armenier. Denn infolge der solidarischen Spenden- und Rettungsaktionen für Sowjetarmenien entstand zum ersten Mal seit den Vertreibungen 1915 innerhalb der armenischen Diaspora-Gemeinden der Eindruck von Zusammengehörigkeit zwischen der Diaspora und Sowjetarmeniern. Nachdem die armenischen Gemeinden weltweit bis in die 1970er Jahre hinein damit beschäftigt gewesen waren, ihre Traumata der Vertreibung aufzuarbeiten, sich zu assimilieren und sich in die neuen Heimatländer zu integrieren, hatten sie nun, Ende der 1980er Jahre die Gelegenheit, sich wieder als armenische Gemeinschaft zu verstehen und sich auch für die »armenische Sache« einzusetzen.20 Bis zum Erdbeben gab es im Umgang mit der eigenen armenischen Identität drei Möglichkeiten, die denen vieler anderer Diaspora-Gruppen weltweit ähneln: sich zu wünschen, die eigene 17 Libaridian, Gerard J. (Hg.): Armenia at the Crossroads. Democracy and Nationhood in the Post-Soviet Era. Essays, interviews and speeches by the leaders of the national democratic movement in Armenia, Watertown 1991, S. 127, Fußnote 3; Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 139. 18 Libaridian: Armenia at the Crossroads, S. 93, Fußnote 17. 19 Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 127. 20 Verluise: Armenia in Crisis, S. 37; Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 123.

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Identität zu vergessen, weil sie zu sehr mit schmerzhaften Erinnerungen und Stigmata verbunden war, seine armenische Identität aufwendig über Jahrzehnte zu kultivieren oder – und so erging es den meisten Diaspora-Armeniern – sich permanent zwischen beiden Polen hin- und herzubewegen.21 Das Erdbeben rief vielen Diaspora-Armeniern in Erinnerung, dass es noch ein Armenien gab, zu welchem sie zwar keine persönliche Beziehung hatten, das aber ein Ort war, den sie als kulturelle Heimat bezeichnen konnten.22 So erinnerte sich der Historiker Richard Hovannisian: Leute, die seit 50 Jahren keine Armenier waren oder sich nicht als solche fühlten, entdeckten plötzlich [durch die Katastrophenhilfe], dass sie Armenier sind. […] Und jeder, der bis dahin aufgegeben hatte, sich ethnisch zu identifizieren, wollte plötzlich als Armenier angesehen werden.23 Die Diaspora-Armenier wurden nicht nur in Armenien »als Stars empfangen«, sondern spielten plötzlich auch in den USA eine wichtige Rolle, die ihnen vorher nie zugekommen war.24 Denn nun war ihr Rat und ihre Expertise gefragt, was die armenische Diaspora in der amerikanischen Öffentlichkeit für kurze Zeit sichtbarer machte als dies vorher der Fall gewesen ist. Zwar bedeutete dies noch lange nicht, dass die Mehrheit der armenischen Diaspora für die Unabhängigkeit Armeniens von der Sowjetunion war, aber ihre dauerhafte Anwesenheit in der Kaukasusrepublik und ihre Spenden in Höhe von insgesamt einer Milliarde US-Dollar weckten zumindest innerhalb der sowjetarmenischen Gesellschaft die Hoffnung auf politische und vor allem auf materielle Unterstützung, sollten sich die Armenier eines Tages tatsächlich nicht mehr auf die Unterstützung aus dem Kreml verlassen können.25 So wurde die Idee von der Teilhabe und Mitarbeit der Diaspora an der Gestaltung ihrer Republik sehr schnell zu einem festen Bestandteil in den Zukunftsvisionen der armenischen Nation. Wie schon zuvor die kommunistische Regierung setzten nun die Anführer der Nationalen Bewegung Armeniens ebenfalls auf die 21 22 23 24

Verluise: Armenia in Crisis, S. 38. Interview mit Mary Najarian (*1934), Los Angeles, 05.08.2014. Interview mit Richard Hovannisian (*1932), Los Angeles, 27.07.2014. Zitat aus Interview mit Mary Najarian (*1934), Los Angeles, 05.08.2014; zur neuen Bedeutung der Diaspora in den USA in: Interview mit Richard Hovannisian (*1932), Los Angeles, 27.07.2014. 25 Höhe der Spendensumme aus der Diaspora in de Waal, Thomas: Great Catastrophe. Armenians and Turks in the Shadow of Genocide, Oxford 2015, S. 197.

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finanzielle Unterstützung der Diaspora, diesmal jedoch um ein unabhängiges Armenien aufzubauen. So erklärte Vazgen Manukyan, der politische Partner Lewon Ter-Petrosyans und ab August 1990 der Ministerpräsident der Armenischen SSR, in einer Artikelserie vom Mai 1990 über die Zukunft Armeniens, dass Armenien nicht mehr Teil der Sowjetunion sein könne. Er begründete das damit, dass die sowjetische Wirtschaft noch für lange Zeit in den »ökonomischen Abgrund« rollen würde und Armenien somit »keine Aussichten auf Entwicklung« anbiete. Weiter erklärte er, dass »Souveränität, […] Unternehmergeist und [die] […] Diaspora die entscheidenden Rollen spielen werden«, um sich aus ebendiesem wirtschaftlichen Abgrund schnell zu befreien und »nicht unter den Trümmern zu liegen, wenn das [sowjetische] Regime zusammenbricht«.26 Das unabhängige Armenien, erklärte Ter-Petrosyan als Vorsitzender des Obersten Sowjets in einer Rede im Oktober 1990, müsse angesichts der kollabierenden Sowjetunion »neue Garantien für seine Existenz« schaffen. Dabei sollten insbesondere die »materiellen […] Ressourcen [der armenischen Diaspora] von essenzieller Hilfe für das Gemeinwohl […] der Republik« sein.27 Neben einer eigenen Armee, einer neuen Außenpolitik und dem eigenen Unternehmergeist war die Diaspora in seinen Augen die Säule, auf die sich die Entwicklung der armenischen Nation stützen müsse.28 Aufgrund der offiziellen Verlautbarungen über die Zukunft mit der Diaspora, aber auch weil es für viele in Armenien offenbar nahelag, sie als neuen Akteur bei der Gestaltung ihrer Zukunft mit zu bedenken, brachten Armenier ihre Wünsche nach einer engen Zusammenarbeit mit der Diaspora ebenfalls zum Ausdruck. Zwischen 1988 und 1990 wurden Demonstrationen vom Slogan »Zusammen mit der Diaspora« begleitet.29 Einige Redner auf den Tribünen gingen unbeirrt davon aus, dass »die armenische Diaspora und das ausländische Kapital [beim Aufbau des Landes] helfen werden«.30 Dabei richteten Armenier ihren Blick auf die Zukunft, denn, so prophezeite es ein Redner auf den Tribünen in Jerewan im Herbst 1989, auch in zehn Jahren werde das unab26 Libaridian: Armenia at the Crossroads, S. 66, 94 (englische Fassung von Vazgen Manukian: It is Time to Jump off the Train), Originaltext ist erschienen in Hayk (offizielles Organ der Armenischen Nationalen Bewegung) Nr. 15–18, Mai–Juni 1990. 27 Libaridian: Armenia at the Crossroads, S. 115 f. (aus der englischen Fassung der Rede Lewon Ter-Petrosyans vor dem sowjetarmenischen Parlament am 22. Oktober 1990). 28 Ebd., S. 116. 29 Djatlov, Viktor/Melkonjan, Eduard: Armjanskaja diaspora: očerki sociokult’urnoj tipologii, Jerewan 2009, S. 170. 30 HAA f. 1159, op. 3, d. 29, ll. 46, 48, Transkript der Reden auf dem Theaterplatz vom 28. Mai 1989.

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hängige Armenien »sich vor allem auf die Hilfe der ausländischen armenischen Diaspora stützen«.31 Viele Armenier glaubten der Verheißung, Armenien könne später als unabhängiges Land durch den Verkauf des armenischen Mineralwassers »Jˇermuk« und mit dem Handel von Mineralien wirtschaftlich aufblühen.32 Die Diaspora sollte hier als Kooperationspartner fungieren. Diese Erwartungen fußten einerseits auf der Erfahrung, die sie nach dem Erdbeben mit der Diaspora gemacht hatten, andererseits aber auf mythischen Vorstellungen über das reale Leben und die vermeintlichen Möglichkeiten der im Ausland lebenden Armenier. In jedem Fall waren ihre Erfahrungen mit der Diaspora geringer als ihre Erwartungen an sie, was langfristig zu Enttäuschungen führen musste.33 Die Republik wurde zur Freihandelszone erklärt, in der die armenische Diaspora investieren sollte, wie es ihr beliebte. Durch die Hilfe der armenischen Diaspora versprachen sich Armenier einen leichteren »freien Zugang zur äußeren Welt im Sinne des Handels«.34 Diese Hoffnung war umso bemerkenswerter, als sich in den Reden jener neuen Politikergarde ansonsten kaum Hinweise auf ein wirtschaftliches Konzept für ein unabhängiges Armenien finden lassen. Das Geld aus der Diaspora schien das vorerst einzige Standbein ihres unabhängigen Staates zu sein, aber das großzügige Engagement seit dem Erdbeben führte dazu, dass nur wenige in Armenien Zweifel daran hegten, dass dieses Geld für sie auch in Zukunft bedingungslos zur Verfügung stehen würde. Dabei stammte die Idee der Freihandelszone und der damit einhergehenden Einbindung der armenischen Diaspora nicht von der armenischen Nationalbewegung, sondern von Mitgliedern des Politbüros in Moskau. Schon im Dezember 1988, direkt nach dem Erdbeben, hatte der sowjetische Außenminister Eduard Šewardnadse in einem Brief an Gorbačev den Vorschlag einer »freien Zone« gemacht, in der es der armenischen Diaspora möglich sein sollte, Unternehmen zu errichten, die hochwertige Technologie herstellten. Damit sollte nicht nur die Entwicklung Armeniens, sondern die gesamte sowjetische Volkswirtschaft und somit die Perestrojka unterstützt werden.35 Im Mai 1989 trug dann Suren Harut’unyan, der Erste Parteisekretär Sowjetarmeniens, den Vorschlag einer durch die 31 HAA f. 1159, op. 3, d. 29, l. 93, Transkript der Rede von Suren Apresyan (unbekannt) auf dem Theaterplatz am 24. September 1989. 32 Interview mit Vačik K. (*1955), Gjumri, 27.10.2013. 33 Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 374. 34 HAA f. 1159, op. 3, d. 29, l. 78, Akop Akopyan in einer Rede in Jerewan am 11. September 1989. 35 Gorbačev Fond f. 5, op. 1, d. 18205, Brief von G. Ch. Šachnazarov an M. S. Gorbačev vom 22. Dezember 1988.

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armenische Diaspora finanzierten Freihandelszone auf dem ersten sowjetischen Volksabgeordnetenkongress in Moskau vor, wobei es auch ihm nicht nur um den Wiederaufbau der Erdbebenzone ging, sondern auch um »die Lösung anderer technischer und technologischer Probleme, die im Interesse des ganzen Landes lagen«.36 Für die Umsetzung der Pläne wurde sowohl das sowjetarmenische Außenministerium eingesetzt als auch die sowjetische Vereinigung »Rodina«, die seit 1955 als Teil des sowjetischen Propagandasystems die kulturellen Verbindungen zwischen ehemaligen Sowjetbürgern, die jetzt im Ausland lebten, und den Bürgern in der Sowjetunion förderte. Auch sie sollten dabei helfen, die »für die Sowjetunion gewinnbringenden Geschäftsverträge« voranzubringen.37 Schließlich war die Idee der Freihandelszone zur Ankurbelung der Wirtschaft vor allem in der RSFSR beliebt. Allein im Jahr 1991 erhoben in Russland über 150 Verwaltungseinheiten Anspruch auf diesen Status.38 An den Angeboten westlicher Firmen, die kommerzielle Geschäfte machen wollten, war weder die Moskauer Führung noch die sowjetarmenische Regierung interessiert. Vielmehr galt das Interesse dem Geld und Projekten, die dem Wiederaufbau halfen. Alle Projekte sollten entweder direkt durch die Diaspora oder mithilfe der Spendengelder, welche bereits zur Verfügung standen, finanziert werden. Moskau weigerte sich dabei, diese Gelder, die anfangs noch auf die Moskauer Spendenkonten gingen, für den Kauf von Geräten und Maschinen auszugeben, und verwies in Briefen an die armenische Regierung stets auf den republikanischen Spendenfonds in Armenien.39 Moskau gab zwar kein Geld, um Projekte zu subventionieren, wollte aber über jede Idee eines Joint Ventures bestimmen, während Armenien durch sein eigenes Außenministerium die Geschäfte an Land zog und über die Netzwerke verfügte.40 Das wirkte sich auch auf die Stimmung in der armenischen Diaspora aus, die vom anfänglichen Enthusiasmus bald in Enttäuschung überging.41 Zum einen lag dies an dem Chaos über die Zuständigkeiten, aber auch daran, dass Moskau viele Entschei36 GARF f. 9654, op. 1, d. 31, l. 45, Protokoll des Kongresses der Volksabgeordneten vom 31. Mai 1989, siehe auch dazu Artikel in Xorhrdayin Hayastan 124, 24.05.1989, S. 2–3. 37 RGANI f. 5, op. 102, d. 402, l. 10, Bericht von »Rodina« an das Politbüro vom 31. März 1989. 38 Wardomski, Leonid: Wirtschaftsbeziehungen zwischen Zentrum und Regionen in Rußland. Schwierige Suche nach einem Interessenausgleich, BIOst 18, Köln 1994, S. 9. 39 GARF f. 5446, op. 150, d. 277, ll. 83–84, Brief von Gosstroj SSSR an den Ministerrat der UdSSR vom 30. März 1989. 40 GARF f. 5446, op. 150, d. 277, l. 83. Zu Joint Ventures während der Perestrojka siehe Hanson: The Rise and Fall, S. 200–209. 41 HAA f. 326, op. 7, d. 246, l. 19, Bericht des Außenministeriums der ArSSR vom 22. August 1989.

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dungen westlicher Ingenieure und Baufirmen, die armenische Bauherren und Ministerien für sinnvoll hielten, blockierten, weil diese Entscheidungen nicht den zentralen Baubestimmungen aus Moskau entsprachen.42 Darüber hinaus waren sowjetische Joint Ventures für westliche Firmen im Allgemeinen nicht attraktiv genug, da sie oftmals mit massiver Korruption sowie gewalttätigen Schutzgeldbanden einhergingen und sich die westlichen Firmen nur zu 49 Prozent beteiligen durften.43 Die größte Enttäuschung erlebten die US-amerikanischen Investoren jedoch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Zwar hatten die Investoren auch zuvor auf die zentrale Staatsführung geschimpft, weil ihnen die Geschäftsabwicklungen nicht schnell genug gingen, der neuen armenischen Regierung fehlte aber nach Einschätzung westlicher Unternehmer grundsätzlich die Fähigkeit, strukturiert Projekte zu leiten und internationale Kooperationen zu verwalten, was sich negativ auf den ausländischen Unternehmergeist auswirkte.44 Die Investoren aus der armenischen Diaspora zogen sich zunehmend zurück und verloren das Interesse daran, in diesem wirtschaftlich und politisch instabilen Umfeld zu investieren. Dabei waren es gerade jene wirtschaftlichen Versprechen und Verbindungen aus den Diaspora-Gemeinden, welche durch das Erdbeben schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden waren, die den Sowjetarmeniern das Gefühl gegeben hatten, auf etwas anderes als auf Moskau bauen zu können. Neben der Tatsache, dass die neue Regierung unter Lewon Ter-Petrosyan ein materielles Interesse an der armenischen Diaspora hatte, nutzte sie die »politischen und intellektuellen Ressourcen« der Diaspora, um die Visionen von einem unabhängigen Armenien zu erfüllen.45 Hierbei traten nun insbesondere die Diaspora-Parteien in den Vordergrund. Für die Koordinierung der internationalen Kooperation im Wirtschafts- und Bildungssektor bedurfte es in Jerewan neuer Institutionen. Aus diesem Grund akkreditierte die armenische Regierung ab Anfang 1990 in Armenien ausländische Diaspora-Organisationen wie die Armenian Assembly of America (AAA), die Armenian General Benevolent Union (AGBU) und die Armenian Relief Society. Diese Organisationen waren einerseits Wohltätigkeitsvereine, die sich für die Belange aller Armenier 42 Interview mit Mihran Agbabian (*1932), Los Angeles, 29.07.2014. 43 Gestwa, Klaus: Von der Perestroika zur Katastroika. Michail Gorbatschow und der Zerfall des Sowjetimperiums (Teil 1), in: Einsichten und Perspektiven (2016) 1, S. 22–33, hier S. 31; Hanson: The Rise and Fall, S. 200–209. 44 Interview mit Mihran Agbabian (*1932), Los Angeles, 29.07.2014. 45 Libaridian: Armenia at the Crossroads, S. 116 (englische Fassung der Rede Lewon Ter-­ Petrosyans vor dem sowjetarmenischen Parlament am 22. Oktober 1990).

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und somit auch für die »armenische Sache« einsetzten. Sie ließen sich gleichzeitig den drei armenischen Diaspora-Parteien zuordnen, in deren Namen sie agierten. Damit traten neben wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Akteuren, die von der sowjetischen Regierung durchaus gewollt waren, auch politische Akteure auf den Plan, die versuchten, noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion im politisch instabilen Armenien an Einfluss zu gewinnen und das Geschehen mitzugestalten. Schon im Herbst 1990 war die Armenian Assembly of America, welche bis Anfang der 1980er Jahre der ARF zugeordnet wurde, später aber als parteiunabhängig galt, mit der armenischen Nationalbewegung eng verwoben.46 Indem die Assembly im Rahmen der Erdbebenhilfe als Wohltätigkeits- und Hilfsorganisation vor Ort in Armenien ein Büro eröffnete, legten die Parteien gleichzeitig auch den Grundstein für ihre physische Präsenz in Armenien. So eröffnete zunächst die Armenian Assembly of America als Wohltätigkeitsorganisation im Winter 1989 ihre Repräsentanz und im Sommer 1990 folgten die Büros der ARF, der Ramkavar und der Hunchakian-Partei. Ohne die Erdbebenkatastrophe wäre eine solche Einmischung der Diaspora-Parteien in das politische Geschehen in Armenien noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion vermutlich undenkbar gewesen. Sowohl die Wirkung der Katastrophe als auch das politische Chaos, welches sich vor und nach dem Erdbeben entfaltet hatte, gaben den Diaspora-Parteien in Zeiten, in denen eine Art Doppelherrschaft in Sowjetarmenien bestand, die Gelegenheit für ein Comeback in ihrem neu entdeckten Heimatland. Insbesondere die Eröffnung des ARF-Parteibüros hatte eine große Wirkung auf die armenische Bevölkerung. Die Partei hatte mit ihrer antitürkischen und ihrer – wenn auch über die Zeit und durch die sowjetische Propaganda mittlerweile abgemilderten – antisowjetischen Haltung einen starken symbolischen und fast mythischen Wert in Armenien. Mehr als die beiden liberalen Diaspora-Parteien Hunchakian und Ramkavar verkörperte die ARF die Idee von Unabhängigkeit und die der »armenischen Sache« – nationalistische Konzepte, der sich viele Sowjetarmenier auf der Welle der nationalen Bewegung gerne anschlossen.47 Schon vor ihrer offiziellen Repräsentanz in Jerewan 1990 hatten verbotene ARF-Symbole wie etwa die Trikolore von 1918–1920, Helden aus der ARF-Vergangenheit, revolutionäre Lieder und revolutionäre Literatur Grundlagen für die armenische Nationalbewegung gebildet. Armenier mach46 Hovannisian, Garin K.: Family of Shadows. A Century of Murder, Memory, and the Armenian American Dream, New York 2010, S. 157. Das AAA organisierte im September 1990 die All-America Tour von Lewon Ter-Petrosyan. 47 Panossian: Post-Soviet Armenia, S. 229.

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ten Scherze darüber, dass es schon einen Mangel (deficit) an orangefarbenem Stoff gab, so viele rot-blau-orange Flaggen hingen an den Fenstern.48 Zwischen 1988 und 1989 glichen die Gefühle vieler Sowjetarmenier gegenüber der ARF wohl fast einer »religiösen Verehrung«49. Es war gerade dieser Effekt der »verbotenen Frucht«, durch den die Partei in einem Sowjetarmenien, das gerade auf der Suche nach einem neuen nationalen Selbstbild war, auf sehr ertragreichen Boden stieß.50 Viele Sowjetarmenier hofften, dass die neue Partei ihre politischen Werte, Ideale und Traditionen dem neuen, sich im Entstehen befindenden Armenien vermitteln würde.51 Auch wenn die ARF keine Partei im klassischen Sinne war, assoziierten Armenier mit ihr die Möglichkeiten einer alternativen politischen Aktivität im Land, nachdem sie der ihnen nur allzu bekannten kommunistischen Parteiarbeit überdrüssig geworden waren.52 Zudem konnten sich die Armenier bei einer Unterordnung unter die ARF sicher sein, dass diese ihnen erlauben würde, die armenische Kultur zu schützen, da dies schließlich im eigenen Interesse der armenischen Diaspora lag. Bei keiner anderen externen Macht konnten sich dessen so sicher sein, weshalb die Anwesenheit der armenischen Diaspora den Sowjetarmeniern als gute Alternative zum sowjetischen Protektorat erschien, sollte die Sowjetunion tatsächlich zerfallen. Wie groß der Einfluss der Diaspora-Parteien auf die politische Gestaltung der neuen Nation war, zeigt sich an den Inhalten der Souveränitätserklärung vom 23. August 1990 – ein Akt, über den viele in der armenischen Diaspora zunächst anscheinend sprachlos waren. Die Presse der Diaspora berichtete am Folgetag über dieses Ereignis nur zurückhaltend und ohne Enthusiasmus.53 Das lag zum einen an dem Versuch der Diaspora-Presse, dem Ereignis durch Neutralität seinen Wert zu nehmen. Zum anderen war das Dokument wesentlich unkonkreter als etwa die Unabhängigkeitserklärung aus den baltischen Republiken. Während der Oberste Sowjet Litauens die Republik im März 1990 zu einem unabhängigen Staat erklärt hatte, rief das armenische Dokument vom August 1990 nur den »Beginn des Prozesses« aus, um in unbestimmter Zukunft »eine unabhängige Staatlichkeit zu errichten«. Es war keine Erklärung der Unabhän-

48 Dudwick: Memory, S. 409. 49 Melik-Hakobian, S.: Establishment of the Second Republic of Armenia and the Dashnak­ tsutiun (ARF), in: Nor Gyank (Los Angeles), 28. November 1996, S. 51. 50 Djatlov/Melkonjan: Armjanskaja diaspora, S. 171. 51 Ebd., S. 170. 52 Ebd., S. 171. 53 Libaridian: Armenia at the Crossroads, S. 107.

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gigkeit, sondern eine Erklärung über die Unabhängigkeit. Immerhin strichen die Autoren der Erklärung das Wort »Sowjetisch« aus dem Namen der Republik.54 Die Diaspora fand in der Erklärung über die Unabhängigkeit ihren Platz in zwei Klauseln: in einer, die allen Diaspora-Armeniern das Recht auf die armenische Staatsbürgerschaft zusprach, und in einer anderen Klausel, die die internationale Anerkennung des Genozids von 1915 als nationales Ziel formulierte. Die erste Klausel war unproblematisch, doch bedeutungsvoll, da die neue armenische Regierung somit die Diaspora offiziell als einen Teil der armenischen Nation anerkannte und dadurch die Vernetzung der beiden Teile der Nation bestätigte.55 Über die zweite Klausel entfachte sich in Armenien jedoch ein emotionaler Streit. Während viele sowjetarmenische Politiker dagegen waren, konkrete historische Ereignisse in der Unabhängigkeitserklärung zu erwähnen, und es für ausreichend befanden, sich ganz allgemein auf historische Gerechtigkeit zu berufen, waren es vor allem die Diaspora-Organisationen, die keine Unabhängigkeitserklärung ohne die Erwähnung des Genozids akzeptieren wollten.56 Als Vertreter der Diaspora-Parteien, insbesondere Edmond Azadian, ein Schriftsteller und Journalist aus Boston von den Ramkavar, im sowjetarmenischen Parlament öffentlich dafür plädierten, die Anerkennung des Genozids zu einem zentralen Element der Erklärung zu machen, traten die Anführer der Nationalen Bewegung Armeniens entschieden dagegen auf.57 Zwar war die Anerkennung des Genozids auch vielen Sowjetarmeniern wichtig – schließlich gab es seit 1965 Anti-Türkei-Demonstrationen in Jerewan und jährliche Gedenkmärsche zum Gedenken an den Genozid und hatten sich 1965 Sowjetarmenier bei der sowjetischen Regierung den Bau eines Genoziddenkmals in Jerewan erkämpft, ohne dass diese jedoch den Genozid damit anerkannte –, aber aufgrund der jahrzehntelang währenden Tabuisierung des Völkermordes durch das sowjetische Regime und des Bewusstseins der geografischen Nähe zur Türkei gab es in Sowjetarmenien mehr gemäßigtere Stimmen als in der Diaspora. Für die meisten Sowjetarmenier hatte es zudem seither zahlreiche andere Ereignisse gegeben, die sie als Genozid deuteten und die den Völkermord von 1915 mit neuen Erfahrungen überlagerten. So galt die »Entarmenisierung« von 54 Siehe die Souveränitätserklärung des Oberstes Rates der ArSSR, 24. August 1990, in: L ­ ibari­dian: Armenia at the Crossroads, S. 108. 55 Suny: Looking toward Ararat, S. 230. 56 Libaridian: Armenia at the Crossroads, S. 110. 57 Azadian, Edmond Y.: Address to the Parliament of Armenia: On Independence and the Future of the Republic [20. August 1990], in: Edmond Y. Azadian (Hg.): History on the Move. Views, Interviews and Essays on Armenian Issues, Detroit 1999, S. 2–7.

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Nachčivan durch die Aserbaidschanische SSR in den öffentlichen Diskursen als ein »weißer Genozid«, die schwere Luftverschmutzung in Jerewan als ein »ökologischer Genozid« [und] die auf Assimilation abzielende Politik von Aserbaidschan wurde als »kultureller Genozid« definiert.58 Das Pogrom in Sumgait im Februar 1988 galt schlichtweg als »Genozid«. Der Genozid von 1915 war für viele Menschen in Armenien mehr ein Referenzpunkt, auf den die neuen »Völkermorde« zurückgeführt wurden, um deren Wirkung zu verstärken. Demgegenüber bildete der Genozid von 1915 für die Diaspora-Armenier weiterhin den einzigen Schwerpunkt, der durch nichts überboten werden konnte.59 Denn, so schlussfolgert zumindest der Historiker Gerard Libaridian, »da es die Diaspora nur aufgrund des Genozids gab, wurden alle […] Probleme auf die Türken zurückgeführt«.60 Am Ende der hochemotionalen Debatte hatten die Vertreter der Diaspora offenbar gesiegt; so wurde der Genozid in der Erklärung erwähnt und zugleich ein Grundstein für den weiteren Umgang mit der Genozidthematik gelegt. Doch die Wirkung der Diaspora auf den gesellschaftlichen Wandel der armenischen Nation beschränkte sich nicht nur auf theoretische Grundlagen. Um von ihrem politischen Wissen und ihren Fähigkeiten zu profitieren, aber auch um ein Zeichen für die neue Kooperation zu setzen, holte Lewon Ter-Petrosyan Akteure aus der armenischen Diaspora in seine Regierung, vorrangig aus den Vereinigten Staaten und Westeuropa. Schon früh, ab 1990, durften Diaspora-­ Armenier im Parlament sprechen und ihre Ansichten zur Lage der Nation zum Ausdruck bringen, womit sich der Oberste Sowjet Armeniens so national wie möglich zeigen wollte.61 Im Januar 1991 machte Lewon Ter-Petrosyan schließlich den aus Boston stammenden US-Historiker Gerard Libaridian zu seinem engsten politischen Berater und im Januar 1992 berief er Sebough Tashjian, den Manager eines großen Stromversorgers aus Kalifornien, zu seinem Minister für Energie.62 Schließlich stammte auch der Autor der armenischen Verfassung, Vartkes Yeghiayan, aus der armenischen Diaspora in den USA.63 Die wohl wichtigste, weil folgenschwerste Berufung war die von Raffi Hovannisian zum armenischen Außenminister. Im September 1990 organisierte die Armenian Assembly of America für Lewon Ter-Petrosyan eine Tour durch die USA, auf 58 59 60 61 62 63

Dudwick: The Karabagh Movement, S. 64. De Waal: Great Catastrophe, S. 198. Libaridian: Armenia at the Crossroads, S. 161. Interview mit Gerard Libaridian (*1945), per Telefon, 07.10.2016. Fischer/Grigorian: Six to Eight Characters, S. 117. Ebd., S. 115.

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der er Raffi Hovannisian als persönlichen Begleiter bekam. Hovannisian war Mitarbeiter der Assembly und hatte sich seit Mai 1988 regelmäßig in Armenien aufgehalten. Lewon Ter-Petrosyan fand Gefallen an dem jungen Diaspora-Armenier und machte ihn zunächst zu einem seiner politischen Berater. Hovannisian war ein junger Rechtsanwalt aus Kalifornien, hatte seine Kinder nach Städten in der Osttürkei benannt und galt schnell als ein perfektes »Modell für den amerikanischen Rückkehrer: ein erfolgreicher Bürger der Diaspora, der sein gutes Leben für ein bedeutungsvolles eingetauscht« hatte.64 Als er im November 1991 in das Amt des Außenministers von Armenien berufen wurde, stellte er viele junge Diaspora-Armenier aus den USA und Frankreich als Mitarbeiter ein und gab so der Diaspora innerhalb der neuen unabhängigen Regierung ein zusätzliches Gewicht.65 Seine Berufung zum Außenminister durch Lewon Ter-Petrosyan stieß bei fast allen Regierungsmitgliedern und Beratern auf Widerspruch, weil er aus dem Ausland kam, kaum diplomatische Erfahrungen hatte und zudem in der Genozidfrage einen harten Kurs vertrat, was gute Beziehungen zur Türkei schwierig machen würde. Ter-Petrosyan glaubte jedoch, dass nur ein westlicher Außenminister Armenien die gewünschte internationale Anerkennung bringen könne und dass dies ohnehin nur ein Job in der Öffentlichkeitsarbeit war und weniger einer in der Diplomatie.66 Aber Raffi Hovannisian nahm seine Rolle als Außenminister ernst und wollte mehr sein als ein PR-Manager. Die Beziehungen zwischen der Diaspora und den Sowjetarmeniern blieben ambivalent und schwierig. Schließlich trafen trotz der ethnischen Gemeinsamkeiten zwei Akteure mit unterschiedlichen Interessen aufeinander. Zwar brachte ihr Engagement Ressourcen nach Sowjetarmenien, doch erschwerte die Diaspora mit ihrer so ganz eigenen, oftmals zur armenischen Regierung in Widerspruch stehenden politischen Agenda den Aufbau des neuen Staates erheblich. Aufgrund der unterschiedlichen historischen Entwicklung der Diaspora-Armenier und der sowjetischen Armenier und der daraus resultierenden unterschiedlichen Prioritätensetzung kam es immer wieder zu Konflikten. Während viele Diaspora-Armenier hofften, im neuen Armenien endlich ihre nostalgischen Träume vom wahren Armenien zu beleben – koste es, was es wolle –, waren sich viele sowjetarmenische Politiker bewusst, dass sie ihre Ziele nur mit Schlichtung und Kompromissen erreichen konnten. Auf einer zweiten Ebene veränderten sich zudem die Machtverhältnisse zwischen den beiden Akteursgruppen. Die 64 Hovannisian: Family of Shadows, S. 161. 65 Ebd., S. 168. 66 Interview mit Gerard Libaridian (*1945), per Telefon, 07.10.2016.

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Sowjetarmenier verstanden sich in Bezug auf die armenische Diaspora stets als »Spender armenischer Kultur«, da sie auf dem letzten noch übrig gebliebenen armenischen Territorium lebten.67 Seit dem Erdbeben jedoch kamen die Spenden vielmehr aus den Töpfen der armenischen Diaspora – in Form von Geld, das die armenische Diaspora für ihre »nationale Wiedergeburt« investierte.68 Damit wurden die Verhältnisse umgekehrt und jede Seite fing an, für ihre Position zu kämpfen. Die politischen Divergenzen zwischen beiden Seiten, die schon 1988 begonnen hatten, wurden erstmals deutlich bei der Beurteilung der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991. Zwar unterstützte keine der drei Diaspora-Parteien einen solchen in ihren Augen waghalsigen Schritt, aber die liberale Partei der Ramkavar, die sozialdemokratische Partei Hunchakian und mit ihnen eine Mehrheit der Diaspora sprachen sich trotz früherer Vorbehalte schnell für die Unabhängigkeit aus. Dagegen blieb die nationalistische, ehemals antibolschewistische ARF bei ihrer Haltung gegen die mit dem Referendum im September 1991 gewonnene Unabhängigkeit, für die sie paradoxerweise seit 1920 bis Ende der 1980er Jahre im Exil gekämpft hatten. Ihrer Meinung nach hatten die Sowjetarmenier die Unabhängigkeit nicht in einem Kampf errungen; vielmehr sei sie ihnen entgegengeworfen worden, was nach Ansicht der ARF nicht einer echten Unabhängigkeit gleichkam.69 Einen größeren Streitpunkt stellte jedoch der starke Fokus auf die internationale Anerkennung des Genozids seitens der armenischen Diaspora dar, da er im Gegensatz zu Ter-Petrosyans Ziel stand, gute Beziehungen zu seinen Nachbarn aufzubauen. Schließlich musste er, wenn er nicht nur auf die Freihandelszone und das Geld der Diaspora bauen wollte, auch Handelsbeziehungen zu Georgien, Aserbaidschan und der Türkei vorweisen können. Insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen zu Letzterer kollidierten die Vertreter der Diaspora mit der neuen Regierung, allen voran die ARF. Für sie waren Handelsbeziehungen mit der Türkei erst dann möglich, wenn diese den Genozid anerkennen würde. Für die Regierung Ter-Petrosyans aber stand fest, dass eine »Realpolitik« benötigt würde. Nach Vazgen Manukyan beispielsweise war es eine Idiotie, »freiwillig darauf zu verzichten, mit einem der

67 Mkrtčjan, Tagui: Armjanskaja diaspora CŠA i Armenija v 1990-e godach, in: Vestnik Tambovskogo universiteta 7 (2014) 135, S. 3. 68 Als »nationale Wiedergeburt« bezeichnete der Sohn Raffi Hovannisians in seinen Memoiren die Investitionen in Armenien von Louise Manoogian Simone, der Präsidentin der Armenian General Benevolent Union, in: Hovannisian: Family of Shadows, S. 161. 69 Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 140.

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vier Nachbarn ökonomische Bindungen zu knüpfen.«70 Der Traum von armenisch-türkischen Handelsbeziehungen zerbrach, als sich die Türkei nach der offiziellen armenischen Unabhängigkeitserklärung im September 1991 weigerte, offene diplomatische Beziehungen mit Armenien einzugehen.71 Die Fronten verhärteten sich weiter, nachdem Raffi Hovannisian in seiner neuen Position als armenischer Außenminister bei dem Treffen des Europarates in Istanbul im September 1992 während einer Rede die Türkei erstmals öffentlich des Genozids und des Verstoßes gegen die Menschenrechte beschuldigt hatte.72 Während man ihn in Beirut, Aleppo, Paris und Boston für diese Worte bejubelte und die Los Angeles Times Raffi Hovannisian gar zum berühmtesten Mann Armeniens kürte, forderte Lewon Ter-Petrosyan einen Monat später seinen Rücktritt vom Außenministeramt.73 Zu spät hatte er erkannt, wie sehr sich die verschiedenen Haltungen und Bedürfnisse der armenischen Diaspora und der postsowjetischen Armenier hemmend auf die Entwicklung Armeniens auswirkten. Der Rücktritt Hovannisians bestätigte die unterschwelligen Spannungen, die durch die unterschiedlichen Wertvorstellungen, Überzeugungen und Auffassungen zustande gekommen waren. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei brachen im April 1993 endgültig ab, nachdem armenische Truppen die aserbaidschanische Stadt Kelbajar in Bergkarabach sowie andere Regionen inner- und außerhalb Bergkarabachs angegriffen und eingenommen hatten, so dass in der Folge rund 50.000 Aserbaidschaner flüchten mussten.74 Die Karabachfrage war ein weiterer Grund für die Entfremdung zwischen der Diaspora und der neuen Regierung, aber auch für die Spaltung innerhalb der armenischen Regierung. Lewon Ter-Petrosyan wusste angeblich nichts von dem wahren Ausmaß der Angriffspläne und hätte diesen – weiterhin auf Versöhnung mit Aserbaidschan und der Türkei aus – so nicht zugestimmt.75 Für die Angriffe waren sein Verteidigungsminister Vazgen Manukyan und die armenische Führung in Karabach verantwortlich und sie wurden von den Diaspora-Armeniern in diesem 70 Libaridian: Armenia at the Crossroads, S. 73. 71 De Waal: Great Catastrophe, S. 203. Die Konservativen in der Türkei forderten von Armenien die Anerkennung der türkischen Grenzen und den Verzicht auf territoriale Ansprüche. 72 Los Angeles Times, 17.10.1992, http://articles.latimes.com/1992-10-17/news/mn-226_1_ foreign-policy [20.11.2018]. 73 Hovannisian: Family of Shadows, S. 177. 74 De Waal: Black Garden, S. 212. 75 Ebd., S. 212. Gerard Libaridian bestritt dies allerdings im Interview und erklärte, dass Lewon Ter-Petrosyan alles gewusst habe, in: Interview mit Gerard Libaridian (*1945), per Telefon, 07.10.2016.

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Punkt unterstützt. Während Armenien schon im offiziellen Gründungsdokument der armenischen Nationalbewegung vom Mai 1988 die Karabachfrage in den Hintergrund gerückt hatte und sich stattdessen auf die Selbstbestimmung der Armenier konzentrieren wollte, galt Karabach für viele Diaspora-Armenier als jener Ort, der im Gegensatz zu Armenien noch die »wahren Werte des ›Armenischen‹«, das »Reine, Traditionelle, Heroische« beinhaltete, weshalb sie die Nationale Bewegung Armeniens des Öfteren bezichtigten, Karabach im Stich gelassen zu haben.76 Auch wenn vielen Diaspora-Armeniern Karabach bis 1988 eigentlich kein Begriff gewesen war, rief die Enklave bei ihnen nun noch mehr als bei den Armeniern aus der ehemaligen Sowjetunion Assoziationen mit den bereits 1915 verlorenen Gebieten wach und diente als Vehikel für ihre nationalen Forderungen nach Mitspracherechten. Das geschah auch, weil die starke Identifizierung Aserbaidschans mit der Türkei Aserbaidschan für viele Diaspora-Armenier zu einer bloßen Erweiterung der Türkei gemacht hatte.77 Den Karabachkrieg selbst unterstützten einige Diaspora-Armenier finanziell oder durch eine direkte Beteiligung an den Kampfhandlungen vor Ort. Auch wenn sich die Zahl mit 14 Freiwilligen aus der Diaspora in Grenzen hält, war die Wirkung dennoch beträchtlich.78 Insbesondere um den Kalifornier Monte Melkonian, der über mehrere Jahre Mitglied der armenischen Terrororganisation ASALA (Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia) und von 1991 bis zu seinem Tod 1993 aktiv am Karabachkrieg beteiligt gewesen war, entstand in Armenien ein regelrechter Personenkult, der bis heute anhält.79 Mittlerweile häufen sich die Forschermeinungen unter Politikwissenschaftlern, nach denen sich die Einmischung von Diaspora-Gemeinden in kriegerische Konflikte im Heimatland negativ auf eine Lösung auswirkt.80 Das führen Wissenschaftler darauf zurück, dass gerade jene Diaspora-Gruppen, die aufgrund von Gewalt und Vertreibungen unfreiwillig zu solchen geworden sind, 76 Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 144. Dazu siehe auch: Panossian: The Armenians, S. 86; Dudwick: Armenia: The Nation Awakens, S. 279. 77 Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 144. 78 Zahl bei Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 143. 79 So werden jährlich an seinem Geburtstag große offizielle Gedenkveranstaltungen in Jerewan durchgeführt. 80 Siehe exemplarisch Collier, Paul/Hoeffler, Anke: Greed and Grievance in Civil War, Policy Research Working Paper 2355, The World Bank, Washington, D.C. 2000, http://documents.worldbank.org/curated/en/359271468739530199/Greed-and-grievance-in-civil-war [13.03.2017]; Lyons, Terrence: Diasporas and homeland conflict, in: Miles Kahler/Barbara F. Walter (Hg.): Territoriality and Conflict in an Era of Globalization, Cambridge 2006, S. 111– 129; Sheffer, Gabriel: Diaspora Politics. At Home Abroad, Cambridge 2003.

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ein Trauma von Vertreibung und den Mythos über eine mögliche Rückkehr in ihre alte Heimat beibehalten und mit dieser über einen »Long-Distance«-Nationalismus verbunden bleiben.81 Sobald es ihnen möglich ist, engagieren sie sich demnach, oftmals über große Entfernungen hinweg, in den innenpolitischen Angelegenheiten des Heimatlandes, um ihre emotionale Anbindung aufrechtzuerhalten. Dabei gelten die Maßnahmen, welche unter anderem finanzielle Unterstützung für terroristische Gruppen, den Kauf von Waffen oder das Verbreiten von nationalistischer Propaganda umfassen können, als eher schädlich und konfliktfördernd und weniger als konflikthemmend. Für die Mitglieder einer jeden Diaspora nimmt die Frage einer potenziellen Rückkehr ins Heimatland großen Raum ein. Manche Analysen gehen daher gar so weit zu behaupten, dass ein eventuell eintretender Frieden und Wohlstand im ursprünglichen Heimatland, in diesem Fall Armenien, die Rechtfertigung der jeweiligen Diaspora, im nun sicheren und wohlhabenden Gastland zu bleiben, ad absurdum führen würde.82 Diese müsse also im Heimatland für Unruhe sorgen, damit sie weiterhin im Gastland bleiben kann, ohne sich dafür schuldig zu fühlen. Diese Entscheidung, absichtlich zum Konflikt bzw. wenig zum Ausgleich desselben beizusteuern, führen diese Studien darauf zurück, dass ein Krieg die Diaspora nicht physisch betrifft, da sie ihn über das Telefon, das Fernsehen oder heute über das Internet nur virtuell miterlebt. Dadurch nimmt sie unter Umständen auch radikalere und nicht auf Schlichtung abzielende politische Haltungen an, wie es bereits bei Raffi Hovannisian bezüglich dessen Haltung zur Türkei deutlich geworden ist.83 In Bezug auf den Beitrag der armenischen Diaspora zu einer möglichen Verschärfung des Karabachkonflikts geht es weniger um die finanzielle Unterstützung im konkreten Kriegsgeschäft als um die ideelle und politische Unterstützung. So waren durch die Vertreter der armenischen Diaspora in der Regierung sowie durch die Diaspora in der langfristigen Katastrophenhilfe in Armenien eine Lobby für den Kampf um Karabach vertreten, die Druck auf die lokalen Politiker ausübte. Hinzu kamen jene Diaspora-Armenier, die sich außerhalb Armeniens für die »armenische Sache« starkmachten, sich für die Wiederher81 Lyons: Diasporas and homeland conflict; Sheffer: Diaspora Politics; Anderson: Long-Distance Nationalism. 82 Demmers, Jolle: New wars and diasporas: suggestions for research and policy, in: Journal of Peace, Conflict and Development 11 (2007), S. 1–26, hier S. 11. 83 Demmers, Jolle: Diaspora and Conflict: Locality, Long-Distance Nationalism, and Delocalisation of Conflict Dynamics, in: The Public 9 (2002) 1, S. 85–96, hier S. 94; Lyons: Diasporas and homeland conflict, S. 17.

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stellung ihrer Nation einsetzten, humanitäre Hilfe und Spenden für Karabach organisierten und somit auf indirektem Wege den Konflikt weiter aufrechterhielten.84 Der womöglich signifikanteste Beitrag zur Unterstützung des Krieges war jedoch das vom US-Kongress beschlossene und mithilfe der armenischen Diaspora in den USA erkämpfte Gesetz von 1992, nach dem es der US-amerikanischen Regierung untersagt wurde, Aserbaidschan finanziell zu unterstützen.85 Der vorläufige Sieg über Aserbaidschan 1994 füllte viele in der armenischen Diaspora mit großem Stolz und hoher Zufriedenheit.86 Denn das gewonnene Territorium, das über das ursprüngliche Gebiet der ehemals autonomen Repu­blik Bergkarabach hinausging, fühlte sich für sie vermutlich wie ein kleiner Ersatz für die 1920 an die Türkei verlorenen Gebiete an. Um den Sieg und die nationale Zugehörigkeit zum Territorium zu markieren, finanzierten verschiedene Gruppen aus der armenischen Diaspora den 40 Millionen US-Dollar teuren Highway, der Armenien bis heute mit Karabach verbindet.87 Aufgrund der Divergenzen über die Beziehungen zur Türkei, die Anerkennung eines unabhängigen Karabach, die Nähe zu Russland und das Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft für Diaspora-Armenier kollidierte die ARF schon bald mit dem armenischen Präsidenten.88 Die Partei hatte sich seit dem Erdbeben in Armenien so weit etablieren können, dass einer ihrer Repräsentanten, der armenische Schauspieler Sos Sargsyan, bei der ersten Präsidentenwahl im Oktober 1991 als Konkurrent Lewon Ter-Petrosyans antreten konnte. Obwohl er weniger als fünf Prozent der Stimmen erhielt, wurde seine Kandidatur als Provokation aufgenommen.89 Schließlich hatte sich die ARF seit Beginn der Karabachbewegung gegen eine Unabhängigkeit von der Sowjetunion ausgesprochen und dann in rasantem Tempo ihre eigenen Strukturen aufgebaut, um plötzlich doch ein unabhängiges Armenien zu vertreten, gegen das sie vorher so protestiert hatte. Die ARF stand nun für eine Antiregierungs- und Anti-Ter-­ Petrosyan-Kampagne, die so weit ging, dass einige in der Öffentlichkeit behaup84 Koinova, Maria: Diasporas and secessionist conflicts: the mobilization of the Armenian, Albanian and Chechen diasporas, in: Ethnic and Racial Studies 34 (2011) 2, S. 333–356, hier S. 348. 85 Ebd., S. 347. 86 Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 143. 87 De Waal: Black Garden, S. 205. 88 Im Juli 1995 wurde die doppelte Staatsbürgerschaft per Gesetz verboten, weil diese nach Ansichten der armenischen Regierung ein Schlupfloch für Militärverweigerer darstellte. Außerdem hätte sie Diaspora-Armeniern zu viel politisches Gewicht in innerarmenischen Entwicklungen gegeben. 89 Djatlov/Melkonjan: Armjanskaja diaspora, S. 173.

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teten, die Besetzung Armeniens durch die Türkei wäre besser als eine Regierung Armeniens durch Ter-Petrosyan.90 Ter-Petrosyans damaliger Regierungsberater Gerard Libaridian sah darin einen Hass, der sich eigentlich gegen ein Armenien und dessen Bevölkerung richtete, »die es gewagt hatten, den Lauf der Geschichte zu verändern, ohne vorher die Diaspora gefragt zu haben«.91 Die ARF konnte, so Libaridian, schwer damit umgehen, dass ihre Fantasievorstellung von einem sagenumwobenen Armenien durch ein echtes, verarmtes Land ersetzt worden war.92 Ihre Erwartungen, im neuen Armenien an Macht zu gewinnen und sich so vielleicht als Mitbegründer eines zweiten echten Armenien zu behaupten, wurden offenbar enttäuscht. Zu stark waren die Machtansprüche der neuen Regierung, als dass sie für ihre ehemaligen humanitären Wohltäter den Platz geräumt hätte, zumal sie sich erst vor Kurzem von der Beherrschung durch einen »Dritten« gelöst hatte. Der Machtkampf verdeutlicht die politischen Verwundbarkeiten, die das Chaos des Zusammenbruchs hinterlassen hat. Im Dezember 1994 verbot Ter-Petrosyan die ARF. Den Mitgliedern warf er den Versuch eines Staatsstreiches, terroristische Aktivitäten sowie Drogenhandel vor.93 Mit den erklärenden Worten »Politik wird nur auf dieser Erde gemacht«94 machte Ter-Petrosyan deutlich, dass Parteien, die aus der Ferne dirigiert und finanziert wurden, in Armenien keine Berechtigung hatten und dass sich die Diaspora nicht zu weit in die innerarmenischen Angelegenheiten einmischen sollte. Kurz darauf, im Juli 1995, verbot er per Gesetz die doppelte Staatsbürgerschaft, die den Diaspora-Armeniern zu viel politischen Einfluss ohne tatsächliche Verantwortung ermöglicht hätte.95 Damit stellte er das Nationenkonzept der Diaspora-Armenier »eine Nation, eine Heimat« erstmals infrage. Für ihn waren Armenier in Armenien und die Diaspora-Armenier zwei unterschiedliche politische Einheiten, die erst dann zueinander finden würden, wenn die Diaspora-Armenier die Dominanz Armeniens anerkennen würden.96 Die Geister, die er eigenhändig 1988 nach dem Erdbeben gerufen hatte, waren ihm in den Rücken gefallen. Nun konnte er sie nur noch gewaltsam von sich fernhalten, wodurch er sowohl im In- als auch im Ausland seine Glaubwürdigkeit als demokratischer Herrscher einbüßte. Um die Diaspora dennoch als Geldgeber 90 Horizon Armenian Weekly, 13.03.1995, S. 16. 91 Libaridian: The Challenge of Statehood, S. 142. 92 Ebd. 93 Panossian: Post-Soviet Armenia, S. 233. 94 Djatlov/Melkonjan: Armjanskaja diaspora, S. 174. 95 Panossian: The Armenians, S. 90. Gesetz vom Juli 1995. 96 Ebd., S. 91.

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zu behalten, hielt er am ›Armenischen Fonds‹ fest, den seine Regierung im Mai 1992 angesichts der Erdbebenfolgen, des ökonomischen Zusammenbruchs und des Karabachkrieges gegründet hatte. Diese Organisation koordinierte alle Wohltätigkeitsorganisationen der Diaspora von Armenien aus, wodurch sie zum einzigen und dabei – soweit es ging – unpolitischen vermittelnden Organ zwischen der Diaspora und Armenien wurde. Damit konnte Ter-Petrosyan das Wohltätigkeitsmonopol der Diaspora-Parteien untergraben und durch die »Depolitisierung« deren Einfluss auf das politische Geschehen stoppen, ohne auf die finanziellen Ressourcen verzichten zu müssen.97 Doch nicht nur die politische Elite Armeniens hatte mit den Diaspora-Geistern, die sie und das Erdbeben gerufen hatten, zu kämpfen. Während Sowjetarmenier zwischen 1988 und 1990 auf dem Theaterplatz die Diaspora in ihre Zukunftsvisionen eines unabhängigen Staates noch fest eingebunden und zu ihr aufgeblickt hatten, weil sie Geld und Wissen hatte, veränderte sich diese Haltung bald nach der Unabhängigkeit.98 Der innere armenische Konflikt zwischen eigenen nationalen Zielen und dem Bedürfnis nach Autonomie auf der einen Seite und dem Bedarf an externer finanzieller Hilfe und Expertenwissen auf der anderen Seite begleitete Armenien von 1991 an und begleitet es auch heute noch. Die meisten Bezüge, welche Sowjetarmenier zur armenischen Diaspora herstellten, waren materieller Natur. Direkt nach dem Erdbeben fühlten sich viele Sowjetarmenier von der Diaspora angezogen. Nicht wenige witterten die Chance, über sie Beziehungen zu knüpfen und mit ihrer Hilfe in den Westen zu kommen.99 Andere sahen in dem Eindruck von Reichtum, den die Diaspora vermittelte, einen Anreiz darin, über ihre eigene Situation als Armenier in der Sowjetunion zu reflektieren.100 Und schließlich waren Sowjetarmenier für die Erdbebenhilfe, die in den armenischen Diaspora-Gemeinden gesammelt wurde, dankbar, auch wenn bei vielen Armeniern der Eindruck hängen blieb, die Hilfe sei nie im vollen Umfang bei ihnen angekommen.101 Trotz des Anspruchs der Diaspora, alle Armenier weltweit als Mitglieder der armenischen Nation anzusehen, wurde Anfang der 1990er Jahre deutlich, wie stark Armenier in Armenien die Diaspora eher als Ausländer und als Fremde denn als Armenier betrachteten. Das lag zum einen daran, dass nur sehr wenige  97 Ebd., S. 93.  98 Interview mit Richard Hovannisian (*1932), Los Angeles, 27.07.2014.  99 Interview mit Herghine T. (*1961), Gjumri, 06.10.2013. 100 Interview mit Vačik K. (*1955), Gjumri, 27.10.2013. 101 Hinweise darauf finden sich in fast allen von der Autorin durchgeführten Interviews mit Zeitzeugen aus Armenien.

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Diaspora-Armenier tatsächlich ins Heimatland Armenien zurückkehrten und den USA oder Westeuropa den Rücken kehrten. Zum anderen waren die meisten Diaspora-Armenier mittlerweile so gut in ihrer neuen Heimat, den USA, Frankreich oder Syrien, angekommen und integriert, dass sie sich von Grund auf von den postsowjetischen Armeniern und deren Erfahrungen unterschieden. Der neue enge Kontakt durch private und politische Initiativen trug dazu bei, dass beide Seiten mehr voneinander erfuhren und das Bild voneinander dementsprechend anpassen mussten, was zu Spannungen führte. Innerhalb der Diaspora-Armenier wurden Armenier in Armenien nun nicht mehr als kulturell »rein« beschrieben, sondern vielmehr als faul, opportunistisch und durch das sowjetische Regime verdorben.102 Die Armenier in Armenien auf der anderen Seite begannen die Diaspora zunehmend als arrogante Schwafler wahrzunehmen, die ihre Reden nicht in Taten umsetzten.103 Letzteres Urteil erschwerte eine klare Haltung zur Diaspora, gegenüber der sich die Armenier oftmals dennoch zu Dankbarkeit verpflichtet fühlten. Die Gratwanderung zwischen Dankbarkeit und Ablehnung wird insbesondere an dem Diaspora-Projekt der Amerikanischen Universität Armeniens deutlich, welche im September 1991 als Ersatz für die im Erdbeben zerstörte Polytechnische Hochschule in Leninakan ihre Türen öffnete. Viele Armenier störten sich damals noch daran, dass die Unterrichtssprache Englisch statt Armenisch war. In einem Artikel beklagte Rafael Ishkanian, dass, nachdem die armenische Sprache 70 Jahre lang an zweiter Stelle nach dem Russischen gestanden hatte, nun das Englische das Russische ersetzen würde. Die Amerikanische Universität Armeniens bezeichnete er daher als einen »tödlichen Schlag für Armenien«.104 Das armenische Parlament führte diesbezüglich sogar eine rechtliche Untersuchung durch, um herauszufinden, ob diese und auch andere ausländische Institutionen in anderen Sprachen als Englisch unterrichten durften.105 Über die Universität berichtete die armenische Presse so gut wie nicht.106 Jene Armenier, die sich in ihrer nationalen Identität Anfang der 1990er Jahre noch nicht gefestigt fühlten, nahmen die amerikanische Präsenz und das dazugehörige Exportprojekt als Bedrohung wahr, weil sie glaubten, durch eine »Verwestlichung« oder »Amerikanisierung« Teile ihrer Kultur zu verlieren. In einem Artikel von Februar 1991 warnt ein armenischer Journalist davor, fremde Werte wie die Beto102 Panossian: The Armenians, S. 89. 103 Ebd. 104 Agbabian: American University of Armenia, S. 155. 105 Ebd., S. 156. 106 Ebd., S. 155.

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nung der Wirtschaft einfach so anzunehmen.107 Diese Beispiele verdeutlichen den Kampf zwischen der Diaspora, die ihren festen Platz im Heimatland suchte, einerseits und Armenien, welches seine Stellung als Zentrum der transnationalen armenischen Nation nicht verlieren wollte, andererseits. Der Historiker Ronald Suny stellte fest, dass der Einfluss der Diaspora auf das Heimatland wesentlich geringer war, als es im Grunde möglich gewesen wäre.108 Damit bezog er sich auf die Unfähigkeit der armenischen Diaspora, längerfristig geeint zu handeln und somit stärker auf Armenien zu wirken. Jedoch macht der Zusammenhang zwischen dem Erdbeben und dem Auftreten der armenischen Diaspora in der sowjetarmenischen politischen Arena noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 deutlich, dass ihr Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht so gering war wie bisher vermutet. Das Unterkapitel legte nahe, dass das Engagement der Diaspora nach dem Erdbeben dazu führte, dass Armenier in der Unterstützung durch die Diaspora eine Alternative zur Abhängigkeit von Moskau sahen, sollte es zu einer Unabhängigkeit von der Sowjetunion kommen. Diese war von der D ­ iaspora allerdings nicht beabsichtigt gewesen, schließlich trat sie geschlossen gegen die Unabhängigkeit Armeniens von der Sowjetunion auf. Die ­Diaspora-Politik, die Ter-Petrosyan praktizierte, leitete sich bei genauerem Hinsehen stark von jener der Kommunistischen Partei ab. Nicht nur stammte die Idee einer Freihandelszone aus deren Feder, auch seine Strategie, die Diaspora hauptsächlich als finanzielle Ressource zu betrachten, ihr aber keine tatsächliche nationale Zugehörigkeit zuzugestehen, wurde in der Sowjetunion schon seit Mitte der 1980er Jahre durch das sowjetarmenische Außenministerium verfolgt.109 Trotz dieser Kontinuität fällt die Leichtigkeit auf, mit der die politischen Vertreter der Diaspora bereits im Jahre 1990 beim »Wiederaufbau« der Nation beteiligt sein konnten, ohne dabei von der sowjetischen Regierung aufgehalten zu werden. Denn diese hatte durch die finanzielle Not und die politische Instabilität im Land nicht nur keine Kapazitäten, sich um Armenien zu sorgen, sondern es war von ihr durchaus gewollt, dass sich ein externer, wohlhabener Akteur dieser Republik annahm.

107 Dudwick: Memory, S. 424, Artikel in Golos Armenii 40, 27.02.1991, S. 3. 108 Suny: Looking toward Ararat, S. 229. 109 Siehe Kapitel 4.

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6.2 Russland und Armenien – Trennung auf Zeit und Bindung für die Ewigkeit Bei den Zukunftsvisionen für eine mögliche Zeit nach der Unabhängigkeit spielte die Diaspora eine entscheidende Rolle. Parallel dazu bewirkte sie auf längere Sicht gesehen aufgrund ihrer Haltung zur Türkei und zur Genozidfrage noch etwas anderes: die Wiederannäherung an Russland. Während der Jahre von 1988 bis 1990 wandte sich Armenien, auf dem Weg zur Unabhängigkeit, von der Regierung in Moskau, dem Kreml, ab, weil dieser die politischen und sozialen Erwartungen der armenischen Bevölkerung nicht erfüllen wollte und konnte. Nicht selten wandte sich die Wut auch gegen Russland im Allgemeinen, wie Beschreibungen von Russland als einem Sklaventreiber, Ausbeuter und Tyrannen in den Reden und Texten einiger der Mitglieder aus dem Karabachkomittee einmal mehr veranschaulichen.110 Damit verschwammen oftmals auch die Grenzen zwischen dem Frust auf Russland und dem Widerstand gegen das sowjetische Projekt. Jene, die den Wunsch nach Unabhängigkeit äußerten, wandten sich mal von Russland ab, mal zeigten sie weiterhin eine Affinität zu Russland und zu dessen kulturellem Erbe. Diese Zerrissenheit war auch Teil des Führungsstils von Lewon Ter-Petrosyan, der im August 1990 den Vorstand des Obersten Sowjets in Armenien übernahm. Er war sich bewusst, dass Armenien aufgrund seiner geostrategischen Position und seiner desaströsen wirtschaftlichen Lage nach dem Erdbeben nicht ohne gute Bindungen zu Moskau würde auskommen können. Diese Befürchtung, auf Moskau angewiesen zu sein, verstärkte sich insbesondere durch den schleppenden Wiederaufbau der Erdbebenregion und unter dem Druck des schwelenden Karabachkrieges. Und schließlich herrschte weiterhin große Angst vor einer möglichen neuen Welle der Gewalt vonseiten der Türkei. Eine Anbindung an Russland und die Unabhängigkeit von der Sowjetunion bildeten für die neue Regierung Armeniens keinen Gegensatz. Das vorliegende Unterkapitel beleuchtet, wie die armenische Führung den Balanceakt zwischen einem guten Verhältnis zu Russland und politischer Eigenständigkeit von 1988 bis in die 1990er Jahre organisierte und rechtfertigte und wie die armenische Bevölkerung ihn deutete. Das ist insofern wichtig, als dadurch erklärt werden kann, wie und warum sich Armenien nach dem 1988 eintretenden Prozess der Entfremdung nach nur kurzer Zeit, bereits im Herbst 1991, Moskau wieder annäherte und somit die Grundlagen für das sich bis heute ständig im Wandel befindende armenisch-russische Verhältnis 110 Siehe die Texte in Libaridian: Armenia at the Crossroads.

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legte. Vor diesem Hintergrund der sich permanent wandelnden Beziehungen vermag das Unterkapitel mit seiner Analyse die Ereignisse und Stimmungen in Armenien in den Jahren 1988 und 1989 einmal mehr zu gewichten und aufzuzeigen, was Armenier dazu bewog, für die Unabhängigkeit zu stimmen, und was ihre Entfremdung von Moskau und dem sowjetischen Projekt bedeutete. Gleichzeitig wird dadurch deutlich, welche Visionen eines neuen unabhängigen postsowjetischen Staates in Armenien kursierten und wie sich die Nation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion definierte. Dem Erdbeben kam dabei eine wichtige Rolle zu. Aufgrund der umfangreichen Wiederaufbauarbeiten fehlte der jungen Republik Geld, um Krieg gegen Aserbaidschan zu führen, weshalb sie sich wieder Russland zuwenden musste. Gleichzeitig blieb bis in die 1990er Jahre hinein die Baustelle der Erdbebenzone und später die von Russland eingeführte Katastrophendiplomatie das Verbindungsglied zwischen Russland und Armenien. Das Verhältnis zwischen Armenien und Russland sowie dem sowjetischen Projekt war von Beginn an von Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits galt Russland als Garant des Schutzes vor einem neuen Genozid, weshalb Armenier sich im sowjetischen Projekt gut eingerichtet hatten, andererseits wurde ebendieser Protektor bisweilen von einigen Intellektuellen als jene Hürde angesehen, die Armenien daran hinderte, endlich seine eigene lang ersehnte Staatlichkeit zu errichten. Daraus resultierte eine gewisse Zurückhaltung und Zwiespältigkeit in den Forderungen nach Unabhängigkeit Ende der 1980er Jahre, obwohl bereits 1988 und insbesondere 1989 als Folge der Gewalterfahrung eine Neubewertung des sowjetischen Projekts beobachtet werden konnte, die die Möglichkeit einer Unabhängigkeit zunehmend in Betracht zog. So erklärten Banner auf Demonstrationen im April 1989, zum Jahrestag des Pogroms von Sumgait, die Unabhängigkeit von der Sowjetunion zur Garantie dafür, einen Genozid zu verhindern.111 Im September 1990 wurden die ersten Denkmäler russischer und sowjetischer Persönlichkeiten, meist heimlich und ohne Zuschauer, aus Jerewan entfernt.112 Noch deutlicher für den Wunsch nach Unabhängigkeit sprach jedoch der Entschluss des Obersten Rates Armeniens vom 1. März 1991, sechs Monate später eine Volksabstimmung über den Verbleib Armeniens innerhalb der Sowjetunion durchzuführen. Als Ende März 1991 der Stadtrat von Jerewan mit zwei Gegenstimmen und vier Stimmenthaltungen beschloss, die wichtigste 111 Marutyan: Iconography of Historical Memory, S. 110. 112 Abrahamjan, Levon A.: Bor’ba s pamjatnikami i pamjat’ju postsovetskom prostranstve (na primere Armenii), in: Acta Slavica Iaponica 20 (2003), S. 25–49, hier S. 27 f.

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und größte Leninstatue in der Republik auf dem Platz der Freiheit in Jerewan (heute Platz der Republik) abzutragen, schien sich der Ausgang dieses Referendums in gewisser Weise bereits abzuzeichnen: Die Lenin’sche Idee sollte in Armenien der Vergangenheit angehören. Doch die Stimmung bei der Abtragung sowie der Hergang verdeutlichte die ambivalente Haltung in der armenischen Bevölkerung zum Abschiednehmen von eben jener Idee. Am Tag der Abtragung selbst, am 13. April 1991, wurden auf dem Platz, der sich schon seit den frühen Morgenstunden füllte, vor allem zwischen den älteren, vorsichtigeren Stadtbewohnern und den jüngeren Menschen Diskussionen über die konkrete Rolle Lenins beim Schicksal der Armenier geführt.113 Während die älteren Zuschauer des Spektakels der Meinung waren, dass sich durch die Beseitigung seiner Statue die Läden auch nicht füllen würden, glaubten die jüngeren, dass die Demontage nötig sei, um der Geschichte Armeniens »die Chance auf neues Leben« zu geben.114 Als der Kopf Lenins abgetragen wurde, jubelten viele Menschen auf dem Platz, und als endlich auch der Körper auf dem Lastwagen lag, bewarfen ihn die Umstehenden unter Zurufen, Applaus und Pfiffen mit Münzen oder kleinen Steinchen, wie eine private Videoaufnahme von dem Ereignis zeigt.115 Vielen Zuschauern war anfangs unwohl bei dem Gedanken daran, Zeuge einer, wie der Ethnologe Lewon Abrahamyan es formulierte, »Hinrichtung« zu sein. Manchen erschien die Zeremonie wie eine Beerdigung, wenn sie riefen, sie wollen dabei ein Lied auf der Zurna hören, einem traditionellen Holzblasinstrument, das auf Beerdigungen (und Hochzeiten) in Armenien gespielt wird.116 Ihrem Empfinden nach trugen sie Lenin nach einer demokratischen Abstimmung offenbar zu Grabe. Gleichzeitig ähnelten die Münzen für den Ethnologen auch jenem Ritual, bei dem man Münzen in einen Brunnen wirft, um anzuzeigen, dass man an diesen Ort zurückkehrt. Auf Lenin übertragen bedeutet dies nach Abrahamyan, dass sich die Umstehenden ein Wiedersehen mit Lenin wünschten.117 Den anschließenden Jubel hielt Abrahamyan gleichzeitig für die »Freude über die Befreiung von dem Tyrannen, der in diesem Fall als das Zentrum dunkler Kräfte wahrge-

113 Ebd., S. 32. 114 Ebd., S. 32. 115 Artem Mirza-Akayan: Removal of Lenin Statue in Yerevan, 13. April 1991, https://www.youtube.com/watch?v=-cpDRhDH2hs [22.08.2018]. 116 Abrahamjan: Bor’ba, S. 32 und Mitschnitte von der privaten Filmaufnahme Artem Mirza-­ Akayans. 117 Ebd., S. 33.

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nommen wurde, die normale Entwicklung Armeniens störend«.118 Wofür die anfängliche Trauer stand, erklärt er nicht. Als die Demonstranten im Frühjahr 1988 den Leninplatz mieden und stattdessen den Opernplatz als Referenzort wählten, um ihre Ansprüche auf die nationale Kultur und verlorene Gebiete zum Ausdruck zu bringen, schlossen sich, wie die Historikerin Maike Lehmann argumentiert, das Nationale und das Sowjetische noch nicht aus.119 Den Gründervater der Sowjetunion nun unter Applaus und einem Hagel von Münzen wegzutragen zeigte im April 1991, zweieinhalb Jahre später, einerseits deutlich Widerstand gegen die sowjetische Ideologie, anderseits aber auch die ambivalente Haltung ihr gegenüber. Als weiterer Beweis für diese »dunklen Kräfte«, die dem sowjetischen Projekt anscheinend innewohnten und von denen man sich daher befreien musste, galt vielen Armeniern der Angriff sowjetischer Armeetruppen auf von Armeniern besiedelte Dörfer in Bergkarabach, nur wenige Wochen nach der »Beerdigung« Lenins. Diese unter dem Namen »Operation Ring« bekannt gewordene Mission hatte zum Ziel, illegale armenische und karabachische Rebellen im und um das Gebiet Bergkarabachs zu entwaffnen. Nachdem sich mehrere Sowjetrepubliken bereits durch Souveränitätserklärungen von Moskau losgesagt hatten und in Armenien Lenin schon von seinem Sockel geholt worden war, betrachtete Moskau die Loyalität Aserbaidschans als wichtig für das Überleben der Union. Da die Führung in Aserbaidschan aber ein Interesse an Karabach hatten, musste das Politbüro diese Agenda unterstützen, wollte es die lokalen Machthaber zur Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags bewegen.120 Und so standen, einem Erlass Gorbačevs folgend, im Sommer 1991 eine ganze Division der sowjetischen Armee mit Panzern und schwerer Artillerie sowie die damals neu gegründeten Spezialeinheiten Aserbaidschans (OMON – Otrjad mobil’nyj osobogo naznačenija, dt.: Mobile Einheit besonderer Bestimmung) einigen Hundert armenischen Rebellen in Bergkarabach gegenüber. Die offizielle Begründung für diesen Einsatz war die Bekämpfung illegaler bewaffneter Formationen. Was folgte, waren ein Bürgerkrieg zwischen armenischen, sowjetischen und aserbaidschanischen Militäreinheiten sowie brutale Razzien und Geiselnahmen. Alle Bewohner der 17 betroffenen armenischen Dörfer in Aserbaidschan, insgesamt 5000, wurden vertrieben, ins Gefängnis von Gandscha (bis 1989 Kirovabad) in Aserbaidschan gebracht oder später gegen 118 Ebd., S. 31. 119 Lehmann: Eine sowjetische Nation, S. 366. 120 De Waal: Black Garden, S. 114.

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Soldaten ausgetauscht. Zwischen 25 und 30 Armenier wurden getötet.121 Am 8. Mai 1991 kündigte Lewon Ter-Petrosyan offiziell an, dass die Sowjetunion Armenien »faktisch den Krieg erklärt« habe.122 Die Reaktion auf diesen Gewaltakt richtete sich insbesondere gegen Russland, aber auch gegen den sowjetischen Staat im Allgemeinen. In der armenischen Presse hieß es hierzu, dass der Kreml das aserbaidschanische Regime benutze, um den Prozess der Selbstbestimmung Armeniens um jeden Preis aufzuhalten, um den Gedanken zu stärken, dass die Republik ohne die Unterstützung der Sowjetunion nicht in der Lage sei, eigenständig zu existieren, und um die Republik dazu zu zwingen, vom Weg der Unabhängigkeit abzukommen.123 Die Autoren der Artikel sahen den Ursprung der Initiative und des »staatlichen Terrorismus gegen die Republik Armenien und das armenische Volk« in Moskau.124 Die armenische Zeitung Golos Armenii berichtete über eine bedrohliche antirussische Stimmung in der Republik.125 Im April 1991 erschien in der Nezavsimaja Gazeta ein Artikel, in dem ein Mitglied der russischen Karabachbewegung »Krik«, Andrej Nujkin, beschrieb, wie die junge Generation von Karabachis »schon mit Hass gegen Russen im Blut« aufwachse und wie die ältere Generation »den Russen« diese Verbrechen nie verzeihen würde.126 Andrej Nujkin wurde wenige Tage nach Erscheinen des Artikels in Moskau verhaftet – vermutlich ein verzweifelter Versuch der sowjetischen Behörden, gegen die mit Hass beladene antirussische Stimmung vorzugehen und das Image des Regimes zu schützen.127 In ihrer Wut auf die zentrale Politik bezog sich die armenische Presse dabei oftmals auf die sowjetische Armee, die in ihrer Wahrnehmung eine russische war. Früher, so hieß es in einem armenischen Gesuch um Hilfe an den Patriarchen von Moskau, habe »der sowjetische Soldat als Befreier, als Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit [gegolten]. Aber jetzt blickt das [armenische] Volk auf ihn als Feind und Okkupanten, seine Brutalität und Böshaftigkeit sehend.«128 Auf Protestmärschen in Moskau, ebenfalls im Mai 1991, forderten junge Armenier, »den Zynismus der zentralen Mächte« abzuwehren und die »Stimme gegen den staatlichen Terrorismus« zu erheben.129 121 Ebd., S. 115–118. 122 Golos Armenii 88, 08.05.1991, S. 1. 123 Golos Armenii 93, 21.05.1991, S. 1. 124 Ebd. 125 Golos Armenii 90, 10.05.1991, S. 1. 126 Nezavisimaja Gazeta 70, 06.04.1991, S. 3. 127 Golos Armenii 97, 05.06.1991, S. 1. 128 Golos Armenii 90, 14.05.1991, S. 1. 129 Golos Armenii 91, 17.05.1991, S. 1.

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Die armenischen Geisteswissenschaftler Lewon Abrahamyan und Razmik Panossian beschrieben diese Momente antirussischer Ressentiments als »Episoden« oder als »Phasen«, deren kurze Dauer nicht auf eine allgemeine Abneigung Russland gegenüber schließen lässt.130 Ähnlich gemischt war die Einstellung zum sowjetischen Projekt. Denn in der Tat waren mitnichten alle Intellektuellen uneingeschränkt für die Unabhängigkeit und gegen Russland eingestellt. Auch die neue Führung unter Ter-Petrosyan war sehr vorsichtig im Umgang mit der Idee einer Unabhängigkeit. Allein die Erklärung »über die Unabhängigkeit« – anstatt einer Erklärung »der Unabhängigkeit« –, welche die neue Regierung im August 1990 vorlegte, illustrierte diese Vorsichtigkeit, Ängstlichkeit und Zurückhaltung, mit der die neue Regierung dem Kreml mit ihren vagen Zukunftsvorstellungen entgegentrat. Wie sie sich gegenüber der »Nation« und der Unabhängigkeit positionierten, hing stark davon ab, wie sie die armenische Vergangenheit in Bezug auf die Türkei und Russland deuteten.131 Die Ethnologin Nora Dudwick unterscheidet drei Gruppen: Die erste Gruppe, in deren Augen Russland der Retter der Armenier war, befürchtete bei einer Unabhängigkeit die Marginalisierung Armeniens in Kunst, Kultur und Wissenschaft. Sie sah keine Alternative zu Moskau und glaubte, dass Armenien nur im Verbund mit Moskau vor einer vermeintlichen türkischen Aggression sicher war. Die zweite und vermutlich größte Gruppe zweifelte an Moskaus guten Absichten für Armenien und ordnete dem Machtzentrum die Rolle des Ausbeuters und Tyrannen zu. Dennoch war diese Gruppe eher an einer Föderation mit Moskau als Zentrum interessiert denn an einer Unabhängigkeit. So lange Russland sich nicht in armenische Belange einmischte, befand sie, würde Armenien sich stets loyal gegenüber Russland verhalten. Am radikalsten war nach Dudwick die dritte Gruppe, die ganz gegen eine Fremdbestimmung von außen war, wobei Armenier die Befreiung ihrer Meinung nach nur dann erreichen konnten, wenn sie sich zunächst vom »Joch der Nichtarmenier« befreiten.132 Abgesehen von diesen Haltungen armenischer Intellektueller war bei vielen Armeniern die Angst vor einem Alleingang in der Wirtschaft und der Karabachfrage sehr groß. Einige Armenier waren der Meinung, dass das Geld, welches Armenien fortan im Falle einer Unabhängigkeit für den Schutz seiner Grenzen ausgeben müsste, besser in den Wiederaufbau der Erdbebenregion 130 Abrahamjan: Bor’ba, S. 27. Auch Razmik Panossian spricht von einer »antirussischen Phase«, allerdings beschränkt er diese auf die Zeit von 1989 bis 1990, Panossian: Post-Soviet Armenia, S. 277. 131 Dudwick: Memory, S. 404. 132 Ebd., S. 405–415.

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gesteckt werden könnte.133 Zudem gab es die Befürchtung, dass sich die ohnehin bestehenden antiarmenischen Tendenzen in der Moskauer Regierung nach einem positiven Ausgang des Referendums noch weiter verstärken könnten und dies die Armenier noch mehr in Gefahr bringen würde.134 Moskau würde, so der armenische Politologe Amajak Hovannisyan auf einer Konferenz in Jerewan Ende Mai 1991, »nie die Unabhängigkeit anerkennen, wird alles tun, um dem einen Riegel vorzuschieben, bis Armenien wieder in seine alte prorussische Rolle fallen« würde.135 Die Ungewissheit über Moskaus Reaktion bei einem Austritt aus der Sowjetunion war groß und verängstigte weite Teile der Gesellschaft.136 Viele Armenier machten sich große Sorgen über die Fähigkeit Armeniens, eigenständig existieren zu können.137 Es schien, als ob der Konflikt um Bergkarabach, der die Armenier im Grunde von Moskau entfernte, sie auch gleichzeitig an Moskau band, weil er neue Sorgen und Existenzängste heraufbeschwor. Mit der bevorstehenden Entscheidung zur Unabhängigkeit verband sich zudem die Frage, wie sich Armenien zu Russland positionieren würde und was das für seine eigene armenische Identität bedeuten könnte. Auch die Folgen des Erdbebens waren ein Grund für die trotz aller russischen Gewalt bestehenden Zweifel an einem Austritt aus der Sowjetunion. Einige, vor allem diejenigen, die entweder vom Erdbeben direkt betroffen oder am Wiederaufbau beteiligt waren, fragten: »[W]as hätten wir denn machen sollen ohne Moskau?«138 Der Anblick der Trümmerhaufen ließ die Bewohner Leninakans, der Stadt, in der die Karabachbewegung sehr erfolgreich war, ihre politischen Ziele hintanstellen. Einen Wiederaufbau ohne die Hilfe Moskaus konnte sich dort mittlerweile kaum noch jemand vorstellen. Diese Zweifel und Ängste trugen dazu bei, dass die antirussischen Stimmungen in der Tat nur Episoden blieben und das Verhältnis nie längerfristig unter feindlicher Anspannung stand. Endgültig kehrten die guten Beziehungen, nur wenige Monate nach der »Operation Ring«, mit dem Augustputsch 1991 zurück. Dieser gab vielen Menschen in Armenien einerseits den letzten Anstoß dazu, bei ihrem eigenen Referendum geschlossen für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu stimmen, andererseits führte er Armenien und Russland 133 Golos Armenii 107, 21.06.1991, S. 2. 134 Ebd. 135 Golos Armenii 96, 31.05.1991, S. 3. 136 Libaridian, Gerard J.: Modern Armenia. People, Nation, State. New Brunswick 2004, S. 210. 137 Ebd., S. 210. 138 Interview mit Grigor Azizyan (*1955), Jerewan, 16.10.2013, und Interview mit Vačik K. (*1955), Gjumri, 27.10.2013.

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wieder näher zueinander. Die Unsicherheit war groß. Zunächst reagierte Lewon Ter-Petrosyan auf den Putsch verhalten. Er vermied es, Stellung gegen die Putschisten zu beziehen, und forderte die armenische Bevölkerung dazu auf, nicht gegen die Putschisten zu demonstrieren. Doch zwei Tage später verurteilte er den Putsch schließlich doch.139 Nichts war mehr zu spüren von antirussischen Tendenzen und Hasstiraden auf den Kreml. In einem Schreiben an Boris El’cin drückte Lewon Ter-Petrosyan seine Bewunderung für dessen Standhaftigkeit und Heldentum während des Putsches aus. »Das Volk Armeniens«, so schrieb er, blickte nun »mit Sicherheit in die Zukunft [und] bekräftigt[e] seine Bereitschaft zur engen Zusammenarbeit mit dem Volk Russlands«.140 Damit drückte Ter-Petrosyan nicht nur seine Zustimmung für El’cin aus, sondern signalisierte auch, wo er Armenien in der zukünftigen Beziehung zu Moskau sah: auf Augenhöhe. Lewon Ter-Petrosyan war keineswegs grundsätzlich gegen eine Kooperation mit der Regierung in Moskau, aber er lehnte anscheinend die Idee ab, zu einem Imperium zu gehören und sich von dessen Zentrum Entscheidungen diktieren zu lassen. Gleichzeitig war er sich insbesondere durch den Putsch bewusst geworden, dass Armenien ohne diplomatische Verbindungen zur Türkei und ohne die guten Beziehungen zu Moskau im Falle eines Zusammenbruchs der Sowjetunion scheitern würde.141 Seiner Ansicht nach war Russland der Bär »und [Armenien] die kleine Maus oder die Ameise. Russland niest und [Armenien] lande[t] unter dem Bären.«142 Sicherheitspolitische Überlegungen bestimmten seine außenpolitische Richtung und sorgten für einen annähernden Ausgleich in den armenisch-russischen Beziehungen. Jedoch wollte Ter-Petrosyan keinesfalls zu den traditionellen Beziehungen zwischen Armenien und Russland zurückkehren – ein Ziel, in das er während seiner Amtszeit viel Energie steckte. Neben Ter-Petrosyan hoben auch andere armenische Intellektuelle, wie Lewon Mkrtčjan, Professor an der Staatlichen Universität Jerewan, in Zeitungsartikeln das »Heldentum der Russen [hervor], das […] die Armenier vor der unvermeidlichen Diktatur der Junta gerettet hatte«, und verlangten, dass Gorbačev nun auch deren »Kriminalität in Karabach aufdecken« solle.143 Glaubt 139 Lozo, Ignaz: Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion, Köln 2014, S. 298 f. 140 Golos Armenii 137, 22.08.1991, S. 1, aus dem offiziellen Schreiben an Boris El’cin, den Vorstand des Obersten Sowjets der RSFSR R. I. Hasbulatov und den Vorstand des sowjetischen Ministerrates I. S. Silaev. 141 Interview mit Gerard Libaridian (*1945), per Telefon, 07.10.2016. 142 Ebd. 143 Golos Armenii 140, 27.08.1991, S. 2.

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man den Zeitungsartikeln, fühlten sich viele Armenier mit Russland wieder verbunden, weil der Augustputsch in Moskau von den gleichen Akteuren ausgeführt worden war wie die »Operation Ring«. Einige armenische Intellektuelle vermuteten daher, dass der Angriff auf Armenier in Karabach durch die sowjetische Armee nur als »militärisches Versuchsgelände« gedient habe, auf dem »Jazov, Pugo und Krjutčkov zusammen mit ihren aserbaidschanischen Kampfgefährten […] ihre Methoden ausprobiert haben, um dann [in Moskau] mit Gewalt die konstitutionellen Organe zu beseitigen und sie durch unrechtmäßige totalitäre Strukturen zu ersetzen«.144 Die armenische Historikerin Gayane Machmuryan von der Akademie der Wissenschaften in Jerewan sah den dreitägigen Widerstand gegen den Putsch in Moskau als ein Äquivalent zu dem nunmehr seit drei Jahren andauernden Kampf der Armenier gegen die Nationalitätenpolitik in Moskau, ohne den es ihrer Meinung nach niemals zur Niederschlagung des Putsches gekommen wäre.145 Denn erst in dem Moment, in dem die »Unlösbarkeit unserer Probleme auch für das Volk der Russen zur Bedrohung wurde, als die gleiche Kriegsmaschine auch ihre Kinder nahm«, habe es »eine Chance auf gegenseitiges Verständnis« gegeben, urteilte Machmuryan im September 1991.146 Die neue Haltung gegenüber Russland kam prompt zum Ausdruck. Nur wenige Tage nach dem Putsch fragte ein armenischer Journalist in der Zeitung Golos Armenii, warum denn in Spitak eigentlich alle russischen Schulen geschlossen wurden, wenn doch die Kinder der russischen Bauarbeiter ebenfalls eine Möglichkeit benötigten, ihre Ausbildung fortzusetzen.147 Da die Bauarbeiter in der Regel ohne Familien angereist waren, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Forderung ein vorsichtiger Versuch war, die nationalistischen Sprachregelungen über das Verdrängen der russischen Sprache aus dem armenischen Alltag durch die erfundenen russischen Schulkinder wieder aufzuweichen und Russland gegenüber eine positive Haltung zu zeigen. Im Gegensatz zur verhaltenen Stimmung in Bezug auf das armenische Referendum zum Austritt aus der Sowjetunion zweifelten nun nach dem Putsch in Moskau wenige daran, dass eine Unabhängigkeit Armeniens der für sie einzige Weg war. »Niemand [will] mehr den Unionsvertrag unterschreiben«, hieß es in dem Artikel der Historikerin Machmuryan.148 Lewon Ter-Petrosyan forderte 144 Von der »unabhängigen Assoziation für den Schutz der Rechte der armenischen Bevölkerung in Karabach«, mit 70 Unterschriften, in: Golos Armenii 139, 24.08.1991, S. 3. 145 Golos Armenii 146, 18.09.1991, S. 2. 146 Ebd. 147 Golos Armenii 139, 24.08.1991, S. 1. 148 Golos Armenii 146, 18.09.1991, S. 2.

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auf einer Pressekonferenz am 27. August 1991 die armenische Bevölkerung dazu auf, den Unionsvertrag zu überdenken. Denn, so fragte sich Ter-Petrosyan, »zu welcher Union rufen die Genossen uns auf? Zu einer Union, in der zu jeder Minute die Rückkehr zum Stalinismus und Faschismus möglich ist?« Die Zukunft Armeniens, sagte er weiter, »vertrauen wir nicht einem Land an, über dem hin und wieder die Gefahr des faschistischen Umsturzes schwebt«.149 Dies war eines der Argumente, die beim Referendum über den Austritt Armeniens aus der Sowjetunion am 21. September 1991 offenbar über 90 Prozent der armenischen Bevölkerung dazu brachten, für den Austritt zu stimmen und sich vollständig für unabhängig zu erklären. Die Gewaltbereitschaft der Putschisten, das darauf folgende Chaos und das Verbot der KPdSU überzeugten schließlich auch diejenigen davon, mit Ja zu stimmen, die zuvor unsicher waren. So erinnerte sich Grigor Azizyan ein Bauingenieur aus Jerewan: »Ohne den Augustputsch hätte ich nicht für die Unabhängigkeit gestimmt.«150 Dieses Zitat macht deutlich, dass – obwohl die endgültigen Zahlen des Referendums von einer eindeutigen Zustimmung zur Unabhängigkeit sprachen – die tiefergehende Meinung der armenischen Bevölkerung dazu nicht ganz so eindeutig war. Die Entscheidung für die Unabhängigkeit war also keineswegs die einer plötzlich erwachten armenischen Nation, die sich seit Februar 1988 kontinuierlich auf den Weg eines in ihren Visionen schon feststehenden eigenen Staates gemacht hatte; vielmehr gab es viele unterschiedliche, sich stets im Wandel befindende Meinungen über den Sinn und Unsinn eines solchen Unterfangens, das in den Augen vieler Armenier auch zahlreiche Gefahren barg. Die Unabhängigkeit war für sie angesichts der Schwäche des sowjetischen Staates eher eine unausweichliche Notwendigkeit als ein angestrebtes Ziel.151 Trotz der negativen Erfahrungen, welche Armenier mit Russland in den vergangenen Jahren gemacht hatten, wurde Russland aufgrund der Bedrohung durch den ab 1992 voll entbrannten Karabachkrieg, aber auch wegen des nötigen Wiederaufbaus wieder zum Hoffnungsträger und Retter. Für viele Armenier war mit Boris El’cin ein Demokrat an die Macht gekommen, der in keiner Verbindung mit dem alten sowjetischen Regime stand und der nun jene Aufgabe zu Ende führen sollte, deren Erledigung Gorbačev nach Meinung vieler verweigert hatte, nämlich die Eingliederung Bergkarabachs in Armenien. Vergessen war schnell, dass sich auch El’cin bei den Pogromen in Baku und den 149 Golos Armenii 140, 27.08.1991, S. 1. 150 Interview mit Grigor Azizyan (*1955), Jerewan, 16.10.2013. 151 Zu diesem Schluss kommt auch Dudwick: Memory, S. 415.

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Militäreinsätzen gegen Armenier zurückgehalten und im Grunde nie Stellung zu Karabach bezogen hatte. Aber wie in den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken – das Baltikum ausgenommen – gab es in Armenien keine öffentliche Debatte über die Fehlleistungen des sowjetischen Regimes sowie keine Beurteilung der Auswirkungen auf die Wirtschaft, die politische Kultur, die Bildung und die Gesellschaft im Allgemeinen.152 Stattdessen wurden im Handumdrehen viele an den Kommunismus erinnernde Straßen- und Städtenamen wie Leninakan, Kirovakan und Kamo abgeändert. Denkmäler explizit armenischer Kommunisten blieben jedoch unangetastet, wie beispielsweise das Denkmal für Stepan Šaumjan (1878–1918), einen armenischen Bolschewiken, der den Spitznamen »kaukasischer Lenin« bekommen hatte, sowie das Denkmal für Agasi Chandžjan (1901–1936), den Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei Armeniens von 1930 bis 1936, und das Denkmal für Alexander Mjasnikov (1886–1925), einen sowjetischen Revolutionär armenischer Abstammung.153 Der Kommunismus als Ideologie und seine Auslegung durch die eigenen Landsleute wurden offiziell nicht so sehr abgelehnt wie die imperiale Ausrichtung der Sowjetunion. So mussten die Gesichter Lenins und Marx’ verschwinden, armenische Kommunisten aber konnten bleiben; zumindest für jene Teile der Bevölkerung, die sich weiterhin mit dem sowjetischen Projekt identifizierten. Dieser Zwiespalt zeigte sich zudem in der Besetzung der neuen armenischen Regierung. Ähnlich wie auch schon bei seinem Ziel, gute nachbarschaftliche Kontakte herzustellen, hing Ter-Petrosyans Vorsicht im Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit Armeniens eng damit zusammen, dass er eine positive nationale Identität schaffen wollte, die sich nicht das alte Regime zum Feind machte. Um keine Gegner zu produzieren, holte Lewon Ter-Petrosyan daher viele der im August 1991 noch verbliebenen Mitglieder der Kommunistischen Partei in seine neue Regierung und lobte öffentlich deren Wirken in der Vergangenheit.154 Damit belohnte er auch die friedliche Machtübergabe an die armenische Nationalbewegung 1990 und sicherte sich so stabilen politischen Rückhalt in den ersten Jahren seiner Amtszeit.155 Mit dem Beginn der Energiekrise und auf dem Höhepunkt des Karabachkrieges 1993–1994 machte sich dann auch unter vielen Armeniern Nostalgie in Bezug auf die kommunistische Vergangenheit breit, die sich die Armenier »als glückliche Zeit voller Stabilität und relativen 152 Libaridian: Modern Armenia, S. 211. 153 Diese Hinweise verdanke ich Tigran Harut’yunyan. 154 Golos Armenii 140, 27.08.1991, S. 1. 155 Suny, Ronald Grigor: Provisional Stabilities. The Politics of Identities in Post-Soviet Eurasia, in: International Security 24 (1999) 3, S. 139–178, hier S. 157.

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Wohlstands der Nation« in Erinnerung riefen.156 Die nationale Identität konnte die sowjetische nicht für jeden ersetzen.157 Mit dem Ende des Karabachkrieges löste die Sowjetnostalgie den Nationalismus in Armenien ab, so dass der Historiker Razmik Panossian von einer Ära der »postnationalistischen« Politik in Armenien spricht.158 Damit meint er, dass mit dem Wegfall der Bedrohung aus Aserbaidschan ethnischer Nationalismus nicht mehr als Bindeglied zwischen den auch schon 1988 sehr heterogenen politischen Strömungen fungierte. Auch wenn Panossians Ansichten im Hinblick auf Armeniens Außenpolitik nicht ganz zutreffend sind – schließlich machte die armenische Regierung die Zugehörigkeit Bergkarabachs zu Armenien weiterhin an ethnischen Kriterien fest –, ließ Nationalismus als innenpolitische Mobilisierungskraft deutlich nach. Was blieb, waren ein Blick zurück in die Sowjetunion, aber auch zur vorsowjetischen Geschichte, zur Religion – und eine pragmatische Russlandpolitik, die keinen Platz mehr hatte für das Narrativ von einer russischen Fremdbestimmung.159 Die Beziehungen zu Russland wurden bereits vor dem Ende des Karabachkriegs zunehmend enger. Im Januar 1992 erreichten erste Schreiben aus Armenien und Karabach Boris El’cin, in denen er gebeten wurde, dafür zu sorgen, dass Aserbaidschaner keine Armenier mehr töten.160 Da die gesamte Artillerie Armeniens aus sowjetischer Produktion stammte, war das Land zudem weiterhin auf Nachschub aus jenem Sortiment angewiesen, das nun in Russland produziert wurde. Damit war die alte Verbindung zwischen Armenien als Schutzsuchendem und Moskau als Schutzgebendem wiederhergestellt. Zahlreiche weitere Briefe und Zeitungsartikel folgten, in denen Armenier ihre Hoffnung auf eine Unterstützung Moskaus im Konflikt mit Aserbaidschan um Bergkarabach zum Ausdruck brachten. So hieß es in einem Brief vom März 1992, verfasst von Wissenschaftlern der Armenischen Akademie der Wissenschaften aus den Disziplinen Physik, Mathematik, Biophysik und Volkswirtschaft: »[…] unsere natürliche Hoffnung liegt auf Russland; mit Ihrer Hilfe soll die Willkür beendet werden, dieses unsinnige und bösartige Blutvergießen. […] Helfen Sie uns! Stoppen Sie die Blockade! Stoppen Sie den Genozid!«161 Viele fanden, dass Russland aufgrund seiner Funktion als Rechtsnachfolger der Sowjet156 Abrahamian: Armenian Identity, S. 256. 157 Florin: Kirgistan und die sowjetische Moderne, S. 258. 158 Panossian: Post-Soviet Armenia, S. 225. 159 Zur postsowjetischen armenischen Identität im Hinblick auf Geschichte und Religion siehe: Abrahamian: Armenian Identity, insbes. Kap. 1, 6, 8. 160 Golos Armenii 5, 21.01.1992, S. 1. 161 Golos Armenii 25, 06.03.1992, S. 1.

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union keine andere Wahl habe und die Unterstützung nicht verweigern könne; es sei »dazu verpflichtet, die Rolle des Vermittlers zu spielen« und »rechtlich oder moralisch etwas zu tun«.162 Dieses hier zum Ausdruck gebrachte Selbstverständnis entsprach fast im Wortlaut jenen Aussagen aus dem Jahr 1988, als Moskau tatsächlich noch das politische Zentrum für Armenien gewesen war und große Teile der armenischen Bevölkerung den Kreml darum gebeten hatten, in der Karabachfrage zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die Adoleszenz der armenischen Nation und deren Abspaltung vom »russischen Onkel«163, wie Lewon Ter-Petrosyan Russland einmal nannte, hatte – so könnte man meinen – nur für kurze Zeit gehalten. Eher scheint diese Beanspruchung von Hilfe darauf hinzudeuten, wie wenig einige Intellektuelle in Armenien 1991 tatsächlich an eine Unabhängigkeit von Moskau glaubten und wie sehr der Ausgang des Referendums mehr einer Entscheidung für das kleinere Übel glich als einem direkten Wunsch nach Entfernung von Russland als dem Unterdrücker ihrer nationalen Rechte und Bedürfnisse. Vielmehr war das Wegstoßen von Russland in den Augen Lewon Ter-Petrosyans eine Notwendigkeit gewesen, um sich Russland wieder auf Augenhöhe anzunähern und sich somit einerseits dessen Schutzes sicher sein, andererseits aber auch die Vorzüge der Selbstbestimmung nutzen zu können. Die russische Regierung engagierte sich ab Ende 1992 nicht nur zunehmend in den Verhandlungen im Karabachkonflikt, sondern suchte ab Anfang 1993 generell zunehmend Kontakt zu den Sowjetrepubliken. So kündigte El’cin im Februar 1993 an, dass Russland in den Territorien der ehemaligen Sowjetunion »besondere Kräfte als Garant für Frieden und Stabilität« haben sollte.164 Im Herbst 1993 verkündete der russische Außenminister Andrej Kozyrev, dass der Südkaukasus und Zentralasien Teil der russischen strategischen Einflusssphäre seien und dass keine internationale Organisation die Rolle des Garanten für Frieden je übernehmen könne.165 Moskau wollte sich, in dem Glauben, dieser Aufgabe politisch und wirtschaftlich gewachsen zu sein, auf dem alten imperialen Territorium wieder behaupten, zwei Jahre nach dem Ende der Sowjetunion. Ein Blick in russische Zeitungen aus dieser Zeit verrät, wie sehr Russland Bedrohung und Gefahr aus allen Himmelsrichtungen, insbesondere aber 162 Golos Armenii 27, 12.03.1992, S. 1. 163 Nezavisimaja gazeta 154, 13.08.1992, S. 1, 3. 164 Smolansky, Oles M.: Russia and Transcaucasia: The Case of Nagorno-Karabakh, in: Alvin Z. Rubinstein/Oles M. Smolansky (Hg.): Regional Power Rivalries in the New Eurasia. Russia, Turkey, and Iran, Armonk 1995, S. 201–230, hier S. 205. 165 Ebd.

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aus dem Süden, wahrnahm.166 Der Kampf zwischen Russland, der Türkei und dem Iran um Einfluss an den Südgrenzen der ehemaligen Sowjetunion führte auch dazu, dass Moskau besonderes Interesse am Karabachkrieg zeigte.167 Da sich die aserbaidschanische Regierung zunehmend der Türkei annäherte, die russische Führung dies aber verhindern wollte, positionierte sich El’cin nach lang anhaltender Neutralität auf der Seite Armeniens und unterstützte es im Kampf gegen Aserbaidschan. Um die Regierung in Aserbaidschan gleichzeitig jedoch nicht zu entfremden und es für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zu gewinnen, sandte der Kreml schließlich Kriegsausrüstung in beide Länder. Bis Ende 1993 bekam Armenien 250 Panzer und Aserbaidschan 400 geliefert.168 Der Kampf um Einfluss nahm noch mehr zu, nachdem Haydar Aliev, Aserbaidschans neuer Präsident, im Herbst 1994 einen Erdölvertrag mit Washington unterschrieben hatte. Jetzt gab es neben der Türkei und dem Iran noch die USA als Akteur und Konkurrenten. Russland war nun zwar wieder in die Angelegenheiten außerhalb seiner Südgrenzen involviert, vorerst jedoch nicht in direkter wirtschaftlicher Hinsicht. Russlands finanzielle Möglichkeiten, im Südkaukasus zu investieren, um Einfluss auszuüben, waren zu geringfügig und die wirtschaftlichen Abhängigkeiten nach der Restrukturierung der Wirtschaft in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er Jahren zu unbedeutend, um tragfähig zu sein.169 Doch auch wenn Russlands Selbstbild als Großmacht in den 1990er Jahren nicht seiner tatsächlichen Macht entsprach, sondern eher ein Wunschbild war, blieb Russland für Armenien ein wichtiger Referenzpunkt, schon allein – aber nicht nur – des Krieges wegen. 170 Ein anderer Weg, die ehemaligen Republiken an sich zu binden, war eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit im Katastrophenschutz zwischen Russland und den neuen unabhängigen Republiken. Nach dem Erdbeben in Armenien hatte Nikolaj Ryžkov im Sommer 1989 einen sowjetischen Katastrophenschutz gegründet, die »Staatliche Kommission für außergewöhnliche Situationen« (Gosudarstvennaja komissija črezvyčajnych situacji – GKČS). Diese Behörde wurde fortan auf Unionsebene mit Vertretungen in den Republiken als koordi166 Suny: Provisional Stabilities, S. 150. 167 Smolansky: Russia and Transcaucasia, S. 208. 168 Ebd., S. 209. 169 Zubarevich, Natalia V./Fedorov, Yuri E.: Russian-Southern Economic Interaction: Partners or Competitors?, in: Rajan Menon/Yuri E. Fedorov/Ghia Nodia (Hg.): Russia, the Caucasus, and Central Asia. The 21st Century Security Environment, Armonk 1999, S. 119–146, hier S. 130 f. 1996 betrug der Handel zwischen Armenien und Russland lediglich vier Prozent des Umfangs im Jahr 1991 und lag bei 171 Millionen US-Dollar, ebd., S. 121. 170 Suny: Provisional Stabilities, S. 150.

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nierende Stelle für die Versorgung der Bevölkerung nach Natur- und Technikkatastrophen tätig. Als Dachorganisation vereinte sie die verschiedenen einzelnen Institutionen, die vorher mit dem Katastrophenschutz beauftragt gewesen waren, wie etwa die Feuerwehr, das Gesundheitsministerium sowie sämtliche anderen Ministerien, vor allem aber die Abteilungen des Zivilschutzes. Das bedeutete, dass sie über die Geräte, die Ausbildung der Mitarbeiter, die Anzahl der Medikamente, die Ausstattung der Flugzeuge und der Fahrzeuge usw. wachte. Die Behörde installierte zudem in weiten Teilen des Landes ein automatisiertes Warnsystem, welches von einer Schaltzentrale in Moskau koordiniert wurde. Sämtliche Kommunikation bezüglich Katastrophen innerhalb der gesamten Sowjetunion lief hier zusammen. Zu ihren Aufgaben gehörte neben der Bergung von Opfern nach Unfällen und Katastrophen die Nachversorgung der Opfer, wozu auch die Kompensationszahlungen sowie Seminare zur Vorbereitung der Bevölkerung auf Katastrophen zählten.171 Innerhalb des sowjetischen Verwaltungsapparates wurde die GKČS so schnell zu einer angesehenen Institution, die für Schutz und Ordnung stand, wobei insbesondere der »russische Großteil der Retter« an Ansehen gewann.172 Der Erfolg der Kommission rührte daher, dass sich die krisenhaften Momente in der Sowjetunion in diesen letzten Jahren häuften und die GKČS zu Zeiten der finanziellen und politischen Krise besonders oft Effizienz zeigen konnte.173 Außerdem hatte sich die sowjetische Regierung mit der Gründung eines umfangreichen zentralen Katastrophenschutzes erhofft, in der neuen aktualisierten Version des staatlichen Retters die Kontrolle über die Bevölkerung und ihre eigene Legitimation zurückerlangen zu können, weshalb sie das Projekt mit großen Summen förderte.174 Die Institution diente auch dem Ziel, die Republiken an sich zu binden. So argumentiert Marc Elie in seinem Aufsatz über die Entstehung dieser neuen, letzten sowjetischen Rieseninstitution, dass ihre Gründung auch als letzter Versuch, den Zentrifugalkräften entgegenzuwirken, gelesen werden kann.175

171 GARF f. 5446, op. 162, d. 1945, ll. 68–69, Informationen über die Vorbereitung der Bevölkerung auf extreme Situationen vom 25. Juli 1990. 172 Elie: Late Soviet Responses, S. 234. 173 Ebd., S. 227. 174 Siehe die Ausführungen über den heutigen Katastrophenschutz in Russland von Bertrand, Eva: Disaster, Communication and Legitimization of Power in Russia: The Case of the Forest Fires in Summer 2010, in: The Soviet and Post-Soviet Review 40 (2013) 2, S. 260–286, hier S. 262. Bertrand bezieht sich in ihrem Aufsatz auf die »Logik des legitimierenden Geschenks« (Beatrice Hibou), welches für Stabilität in Krisenzeiten sorgt. 175 Elie: Late Soviet Responses.

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Dieses Ziel, den Katastrophenschutz als Bindemittel einzusetzen, verfolgte die russische Regierung bereits zwei Jahre nach dem Zusammenbruch. Schon im Januar 1993 unterschrieben viele der ehemaligen Sowjetrepubliken ein Abkommen über die gemeinsame Zusammenarbeit in der Vermeidung und Reduzierung von Folgen, die sich aus natürlichen und technologischen Katastrophen ergeben.176 Um die Macht eines funktionierenden Katastrophensystems wissend, gründete Russlands Präsident Boris El’cin 1994 das russische Katastrophenschutzministerium (Ministerstvo Rossijskoj Federacii po delam graždanskoj oborony, črezvyčajnym situacijam i likvidacii posledstvij stichiniych bedstvij – MČS Rossii), welches fast übergangslos die Ressourcen des sowjetischen Katastrophenschutzministeriums übernahm. Es gilt heute als eines der fünf »Power«-Ministerien und ist die nach Mitarbeiteranzahl drittgrößte Organisation Russlands.177 Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte baute Moskau sein internationales Netzwerk mit Partnern im Katastrophenschutz weiter aus. Erst im März 2016 eröffneten die Regierungen Armeniens und Russlands ein »Russisch-Armenisches Zentrum für humanitäre Reaktion« in Armenien. Zwar ist das Zentrum eher ein Abnehmer russischer Katastrophenschutztechnik als ein tatsächliches Zentrum eines gemeinsamen Katastrophenschutzes, aber gerade Technik und die durch russische Spezialisten durchgeführten Trainings binden Armenien an Russland, weil Armenien dafür, wie bei den Zollvereinbarungen der Eurasischen Wirtschaftsunion, Verpflichtungen eingehen muss.178 Zudem wird der in Jerewan neu eingerichtete Kontrollraum in naher Zukunft mit dem MČS-Kontrollzentrum in Moskau verbunden. Damit würde der Plan von 1989 tatsächlich Realität werden. Auch damals waren die Sowjetrepubliken mit Moskau über dieses Kontrollzentrum verbunden. Heute handelt es sich jedoch nicht mehr um ein einzelnes Land, sondern um zwei voneinander unabhängige Staaten, so dass Moskaus Versuch, auch über die Katastrophendiplomatie Einfluss über sein »nahes Ausland« zu gewinnen, offensichtlich wird. Diese Vermutung bestätigt sich mit einem Blick auf die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Denn auch zu den zentralasiatischen Ländern, allen voran Tadschikistan, Kasachstan und Kirgistan, unterhält Russland enge Verbindungen im Bereich des Katastrophenschutzes. 176 De Guttry, Andrea/Gestri, Marco/Venturini, Gabriella (Hg.): International Disaster Response Law, Berlin, Heidelberg 2012, S. 714. 177 O. V.: Minfin predložil vydelit’ Minoborony v 2016 godu 1,4 trln rublej i 1 trln – MVD, in: http://vz.ru/news/2015/10/7/771038.html vom 7. Oktober 2015 [17.06.2017]. 178 O. V.: Glava MČS Rossii otkroet v Erevane Rossijsko-armjanskij centr gumanitarnogo reagirovanija, in: http://tass.ru/obschestvo/2749913 vom 18. März 2016 [25.05.2016].

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Mit dem Argument der Sicherheit befürworteten viele Armenier in Jerewan und Karabach die Unterstützung aus Russland. Sie machten sich für die GUS stark und schlugen sogar vor, den nächsten Gipfel der neuen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) im April 1993 in Jerewan auszurichten.179 Hinter diesem Wandel – ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt – steckte nicht nur der Karabachkrieg, sondern auch die Tatsache, dass Russland Armenien seit Januar 1993 mit Gas versorgte und bereits Finanzierungen für die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Metsamor zugesichert hatte.180 Auch viele Vertreter der armenischen Industrie befürworteten eine engere Zusammenarbeit mit Russland.181 Aus Selbstschutz, aber auch als Gegenleistung für die Finanz- und Energiespritzen erklärte sich die armenische Regierung damit einverstanden, die Grenze zwischen der Türkei und Armenien durch Russland bewachen zu lassen; an dieser Grenze wurden in der Folge armenische Soldaten stationiert, die in Moskau ihr Training und von dort auch ihre Befehle erhielten.182 Später, nach dem Ausrufen des Waffenstillstands zwischen Armenien und Aserbaidschan 1994, durfte Russland sogar seine Truppen auf dem früher sowjetischen Armeestützpunkt in Gjumri (ehemals Leninakan) stationieren. Eigentlich hätte Moskau auch gerne noch seine Truppen an der Frontlinie zwischen Armenien und Aserbaidschan stationiert, aber der aserbaidschanische Präsident Haydar Aliev erhob dagegen Einspruch.183 Armeniens Abhängigkeit von Russland wuchs mit jedem Monat, mit jeder Waffenlieferung. Bis zum Sommer 1996 unterzeichneten Armenien und Russland elf Protokolle über militärische Zusammenarbeit und 1997 schließlich den Freundschaftsvertrag über eine gegenseitige militärische Unterstützung im Falle eines Angriffes. Einzig gegen die Idee der gemeinsamen Wirtschaftsunion, die Russland schon 1995 vorgestellt hatte, erhob die armenische Regierung ihre Stimme.184 Je weniger Ter-Petrosyan an seinem anfänglichen Ziel festhalten konnte, zu einem gleichberechtigten Partner Russlands zu werden, desto mehr verlor er selbst an Macht. Das zeichnete sich unter anderem beim Wiederaufbau der Erdbebenzone ab. Die Folgen des Erdbebens schienen vor dem Hintergrund des Karabachkrieges fast zu verschwinden; andere Sorgen waren nun drückender. 179 Respublica Armenia, 27.01.1993, in: Monthly Digest of News from Armenia (im Folgenden MDNA, Artikel sind ohne Angaben des Verfassers oder Titel), Frühjahr 1993, S. 16. 180 Noyan Tapan, 28.01.1993, in: MDNA, Frühjahr 1993, S. 30. 181 Azg, 16.02.1993, in: MDNA, Frühjahr 1993, S. 22. 182 Masih, Joseph R./Krikorian, Robert O.: Armenia at the Crossroads. London 1999, S. 105. 183 De Waal: Black Garden, S. 240. 184 Libaridian: Modern Armenia, S. 244.

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Die größten Probleme, die sich Ter-Petrosyan bei dem Wiederaufbau stellten, waren der Krieg, der alle Ressourcen fraß, sowie die kollabierte Wirtschaft. Der Wiederaufbau sowie viele andere Teile der armenischen Wirtschaft hingen daher zu einem großen Teil von russischen Krediten ab.185 Es gab zu wenig Budget für zu viele Bedürfnisse. Probleme, die sich bereits 1990 abgezeichnet hatten, verschärften sich nun: Armenien konnte seine Arbeiter nicht bezahlen, weshalb viele von ihnen wiederum nach Moskau gingen, um dort ihr Glück auf dem Arbeitsmarkt zu finden.186 In einer Umfrage vom März 1993 gaben lediglich 30 Prozent aller in der Studie Befragten an, in Armenien bleiben zu wollen, die anderen 70 Prozent der Befragten wollten für wenigstens einige Monate, einige Jahre und 18 Prozent von ihnen wollten sogar für immer Armenien den Rücken kehren.187 Bis zum Jahr 1995 hatte infolge der wirtschaftlichen Stagnation fast jeder dritte erwachsene Armenier das Land verlassen.188 Für den Stillstand auf den Baustellen wurde trotz der bekannten finanziellen Schwierigkeiten aufgrund des Krieges, den die armenische Bevölkerung selbst produziert und unterstützt hatte, die Regierung Ter-Petrosyans verantwortlich gemacht. So verglich im Februar 1992 ein Journalist das Tempo des Wiederaufbaus unter der neuen Regierung mit einem »sterbenden Pulsschlag«, der »kurz vor dem Tod« steht.189 Ähnlich wie für Gorbačev, wurde der Wiederaufbau nun ebenfalls zum Lackmustest für die Regierung Lewon Ter-Petrosyans. Viele vom Erdbeben betroffene Armenier waren der Meinung, dass sich seit seinem Amtsantritt in der Erdbebenzone nichts getan habe. So beklagte der Leiter des Kulturzentrums in Spitak Ende August 1991 in Golos Armenii, dass, seitdem die Nationale Bewegung Armeniens an der Macht war, sich niemand mehr um die Erdbebenzone gekümmert habe.190 Das Problem der Erdbebenzone, so der Autor weiter, sei an die zehnte Stelle getreten und die Presse schreibe nur noch darüber, wenn es ein Jubiläum oder eine Zeremonie gebe. Daher blieb »der 185 Kredite für Erdbebenzone: Azg, 04.05.1993, in: MDNA, Juni 1993, S. 34; Kredite für Lebensmittel: Azg, 28.07.1993, in: MDNA, September 1993, S. 16. 186 Libaridian: Modern Armenia, S. 244. 187 Respublika Armenija, 21.04.1993, in: MDNA, Juni 1993, S. 33. Im Artikel steht nicht, wer und in welcher Stadt befragt wurde und wie groß die Gruppe der Befragten war. Die Studie wurde durchgeführt vom Zentrum für Soziologische Studien der Akademie der Wissenschaften in Armenien. 188 Dudwick, Nora: Armenia: Paradise Regained or Lost?, in: Ian Bremmer/Ray Taras (Hg.): New States, New Politics: Building the Post-Soviet Nations, Cambridge 1997, S. 471–504, hier S. 491. 189 Golos Armenii 14, 11.02.1992, S. 1. 190 Golos Armenii 139, 24.08.1991, S. 1.

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leuchtende Wiederaufbau der vom Erdbeben zerstörten Städte ein chimärischer Traum«, wie es ein Journalist von Golos Armenii im Februar 1992 schrieb.191 Kirovakan sei Anfang des Jahres 1992 ganz aus dem Wiederaufbauprogramm genommen worden, wohl damit es bei der Finanzierung nicht mehr berücksichtigt werden müsse.192 Im Parlament teilten sich die Meinungen über die Schuld an der Misere in jene Stimmen, die behaupteten, dass die neue Regierung »als Erbe eine kaputte Wirtschaft bekommen« habe, dazu noch ein umfangreiches Wiederaufbauprogramm, so dass sie unmöglich viel hätte erreichen können, und jene Stimmen, darunter die der Abgeordneten aus der alten kommunistischen Regierung, welche die Meinung vertraten, dass man auf der von ihnen bereitgestellten Arbeitsgrundlage gut hätte weiterarbeiten können.193 Auch nach dem Ende des Krieges 1994 wurde dem Wiederaufbau der Erdbebenzone keine politische Aufmerksamkeit zuteil. Erst nach Ter-Petrosyans Amtszeit nahmen auch die Zeitungsartikel über die Erdbebenzone wieder zu und die Regierung benannte Probleme wie fehlende Wohnungen und Arbeitslosigkeit.194 Mit der Zeit formte sich in den Städten der Erdbebenregion, insbesondere in Gjumri, aufgrund der Verdrossenheit über den Wiederaufbau jedoch die größte Opposition zur Regierung in Jerewan.195 Zu groß war die Unzufriedenheit der Bewohner in der Erdbebenregion mit ihrer Lebenssituation, an der sich trotz des Kriegsendes und der verbesserten Stromversorgung wenig geändert hatte. Viele von ihnen fühlten sich in ihren Ruinen isoliert und alleingelassen. Der neue Staat versagte bei der Grundversorgung seiner Bürger und so wurde die Erdbebenzone erneut zu einem der vielen Stolpersteine für die armenische Regierung, diesmal für Lewon Ter-Petrosyan. Die Stagnation des Wiederaufbaus war einer der vielen Zustände, die den Menschen in Armenien ihre Illusionen in Bezug auf die Unabhängigkeit sehr bildhaft vor Augen hielten. Denn genauso, wie die neue Regierung keine »klaren Vorstellungen von dem schon vor ewigen Zeiten bestätigten Generalplan der Städte«196 hatte, wurde für die Menschen deutlich, dass die meisten Konzepte eines neuen Staates erst noch erarbeitet werden mussten. Die Unabhängigkeit hatte ihnen nicht zwangsläufig eine Besserung ihrer Lebenssituation gebracht. 191 Golos Armenii 14, 11.02.1992, S. 1. 192 Ebd. 193 Ebd. 194 Azg 225, 06.12.2003, S. 1–2; Azg 228, 09.12.2008, S. 1. 195 Interview mit Gerard Libaridian (*1945), per Telefon, 07.10.2016. 196 Ebd.

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Zusätzlich zum Machtverlust in der Erdbebenregion bildete sich auch in Jerewan in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit eine Opposition gegen Lewon Ter-Petrosyans Regierung, auch wenn die ersten Jahre seiner Regierung als stabil bezeichnet werden können und er immerhin 1996 wiedergewählt wurde.197 Bereits im Februar 1992 kam es zu ersten kleinen Demonstrationen in Jerewan, auf denen die Demonstranten gegen die angeblichen autokratischen Regierungsmethoden Lewon Ter-Petrosyans protestierten.198 Weitere folgten im Februar 1993.199 Ihr Protest fußte auf einer tiefen Enttäuschung über die neuen Machthaber. Denn, so befand es ein armenischer Journalist, »nach dem totalitären Regime kam die AOD an die Macht, aber geändert hat sich im Grunde nichts«.200 Damit holte Ter-Petrosyan das gleiche Schicksal ein wie später auch El’cin, gegen den bereits im Frühjahr 1993 ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet wurde und gegen den im Sommer 1993 wütende Russen gewaltbereit demonstrierten.201 Die hohen Erwartungen an die Zeit nach der Unabhängigkeit hatten sich innerhalb kürzester Zeit in Enttäuschung und Frustration gewandelt, was Platz für politische Rivalen machte. Lewon Ter-Petrosyan warfen seine Gegner im Hinblick auf seine freundschaftliche Türkeipolitik eine »antinationale« Haltung vor und bezeichneten ihn deswegen als Verräter der armenischen Nation. Ein Vorwurf, der die Brüchigkeit politischer Bewegungen illustriert, denn schließlich war es vorher Ter-Petrosyan selbst gewesen, der als ehemaliger Anführer der Nationalbewegung den Nationalismus als Vehikel für seine Machtansprüche genutzt hatte. Heftige Kritik schlug ihm insbesondere aus den Reihen der ARF entgegen, deren Presseorgan Yerkir (arm. für Land) im Februar 1993 eine Kampagne einleitete, die zur rechtmäßigen Absetzung Ter-Petrosyans führen sollte.202 Die bestimmenden Akteure in diesen Jahren waren jedoch nicht die vielen Parteien, sondern einzelne Individuen, welche die instabile Lage ausnutzten und sich gegen Ter-Petrosyan stellten.203 Eine Umfrage des Instituts für Soziologie an der Armenischen Akademie der 197 Suny: Provisional Stabilities, S. 156. 198 Golos Armenii 16, 14.02.1992, S. 2. 199 Azg, 26.02.1993, in: MDNA, April 1993, S. 4. Zu dieser Demonstration kamen ca. 5000 Armenier, bei weiteren nur noch 150, in: Azg, 25.02.1993, in: MDNA, April 1993, S. 7. 200 Golos Armenii 16, 14.02.1992, S. 2. 201 Merridale, Catherine: Der Kreml. Eine neue Geschichte Russlands, Frankfurt am Main 2014, S. 485. 202 Noyan Tapan, 22.02.1993, in: MDNA, April 1993, S. 31. 203 Herzig, Edmund: Politics in Independent Armenia, in: Edmund Herzig/Marina Kurkchiyan (Hg.): The Armenians. Past and present in the making of national identity, London 2005, S. 166–179, hier S. 169.

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Wissenschaften vom Februar 1993, bei der nach möglichen Lösungen gefragt wurde, welche die Situation im Land verbessern könnten, fasste die politische Stimmung unter der Bevölkerung in Zahlen. Etwas über 20 Prozent der 1400 befragten Bewohner Gjumris und Jerewans befanden demnach, dass nur der Rückzug des Präsidenten die Situation verbessern könnte. Daran, dass Wahlen eine Verbesserung bringen könnten, glaubten lediglich etwas mehr als sieben Prozent. Demgegenüber befanden 45 Prozent, dass nur ein autoritäres Regime, »die Macht einer starken Hand«, das Land aus der Krise führen könne.204 Mit Blick auf die wirtschaftliche und soziale Lage bescheinigten Politiker und weite Teile der Bevölkerung Ter-Petrosyan die Unfähigkeit, Sorge für sie zu tragen, weil er sie ohne Gas und Essen die Winter überstehen ließ.205 Die Kritik brachten die Menschen in Armenien mit einem zwischen 1991 und 1994 populär gewordenen Witz zum Ausdruck. Hiernach begann die Geschichte Armeniens mit Gregor dem Illuminator (240–331) – gemeint ist der erste Katholikos der Armenischen Apostolischen Kirche, der das Christentum zur Staatsreligion Armeniens machte – und endete mit Lewon dem Terminator: von der religiösen Erleuchtung und Sinngebung im 3. Jahrhundert also zu einer Reihe kata­ strophaler Stromausfälle im 20. Jahrhundert.206 Der Witz zeigte, dass vor allem die Energiekrise den Menschen zu schaffen machte. So beschrieb die Ethnologin Stephanie Platz in ihrer Studie über die nationale Identität Armeniens nach der Unabhängigkeit, wie der Wohnungs- und Strommangel die persönlichen Beziehungen und Netzwerke der Armenier gefährdete, da traditionelle Formen der nachbarschaftlichen Beziehungen gestört wurden.207 Der Mangel an Heizmaterial zwang die Bewohner dazu, in der Stadt und in den Parks Bäume zu fällen, um sie dann später zusammen mit den Parkbänken in den Öfen zu verheizen. Somit wurde auch Stadt- und Wohnraum zerstört, was zu weitreichenden Veränderungen im gesellschaftlichen Miteinander führte. In ihrer Studie beschrieb Platz eindrücklich, wie das Leben für die meisten Armenier aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen »unmenschlich« und »tierisch« geworden war und wie manche ganz aufhörten, ihr Leben als solches zu bezeichnen.208 204 Umfrageergebnisse aus Azg, 01.03.1993, in: MDNA, April 1993, S. 32. 205 Yerkir, 27.01.1993, in: MDNA, Frühjahr 1993, S. 8. 206 Platz, Stephanie: The Shape of National Time: Daily Life, History, and Identity during Armenia’s Transition to Independence, in: Daphne Berdahl/Matti Bunzl/Martha Lampland (Hg.): Altering States. Ethnographies of Transition in Eastern Europe and the Former Soviet Union, Ann Arbor 2000, S. 114–138, hier S. 114. 207 Ebd., S. 125. 208 Ebd., S. 129.

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Ohne Fernsehen und Zeitungen fühlten sich viele Armenier zudem von der Außenwelt vollkommen isoliert, weshalb sie begannen, die armenische Nation als einen Makrokosmos ihrer selbst zu sehen. In der Konsequenz sahen sie nicht ihre eigene Situation als aussichtslos an, sondern die der Nation.209 »Die Zeit«, urteilte ein frustrierter Armenier im März 1992 in einem Zeitungsartikel sei »nur darin unterteilt [gewesen], dass manche Phasen mit Zerstören beschäftigt [waren] und manche mit Aufbauen, jetzt [war] gerade Zerstörung dran.«210 Der Witz über Lewon den Terminator spielte demnach nicht nur auf die Stromausfälle an, sondern auch auf seinen von vielen Armeniern so gedeuteten Verrat an der armenischen Nation, für deren, metaphorisch gesprochen, dunkles Ende ihn die Menschen in Armenien schon so kurz nach seinem Machtantritt verantwortlich machten.211 Die Energie- und Nahrungskrise, die bis Mitte der 1990er Jahre anhielt, machte viele Armenier apathisch, depressiv und apolitisch. Diese Nation, deren Grundbedürfnisse nach Nahrung und Schutz nicht gewährleistet waren, sehnte sich demnach auch kaum nach einer Befreiung aus dem »Joch der dritten Macht« und nach Selbstverwirklichung. Da Armenier auch schon vor der vermeintlichen Befreiung – ihrer Adoleszenz 1991 – Moskau als grundlegend für ihren sicheren Fortbestand betrachtet hatten, taten sie dies mit leeren Mägen und kalten Wohnungen nun einmal mehr. Auch wenn Lewon Ter-Petrosyan 1996 wiedergewählt wurde, hatten sich die Euphorie über die Unabhängigkeit und das Gefühl einer nationalen Einheit trotz des Sieges über Aserbaidschan im Mai 1994 aufgelöst.212 Seine Wiederwahl 1996 war dementsprechend durchzogen von Vorwürfen des Wahlbetrugs und negativen Beurteilungen internationaler Wahlbeobachter, allen voran der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Wellen wütender Demonstrationen in Jerewan waren die Folge, so dass Ter-Petrosyan nur zwei Jahre später endgültig von seinem Thron gestoßen wurde. Seine Vorstellung, Russland auf Augenhöhe zu begegnen, dafür aber eine freundlichere Türkeipolitik zu fahren, stieß nur bei wenigen Armeniern auf Verständnis. Sein Amtsnachfolger Robert Kocharyan dagegen, ein gebürtiger Karabachi aus Stepanakert, bediente ebenjenes Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz. Er kehrte zu 209 Ebd., S. 131. 210 Golos Armenii 28, 14.03.1992, S. 2. 211 Ebd.; Astourian, Stephan H.: From Ter-Petrosian to Kocharian: Leadership Change in Armenia, Berkeley Program in Soviet and Post-Soviet Studies, Working Paper Series, University of California, Berkeley, 2000, https://escholarship.org/content/qt0c2794v4/qt0c2794v4.pdf [06.11.2018], S. 37. 212 Herzig: Politics in Independent Armenia, S. 171.

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einem eher traditionellen Nationalismus zurück, einem, der wesensverwandter mit der armenischen Diaspora war und mit der Position der Karabachis übereinstimmte.213 Von einer türkeifreundlichen Politik wollte er nichts wissen und betonte stattdessen ideologisch geladen die Frage nach der Anerkennung des Genozids. Mit dieser Haltung allein führte er Armenien somit automatisch in eine nach Russland orientierte Politik zurück, die den schwierigen Balanceakt Lewon Ter-Petrosyans zwischen Augenhöhe und Abhängigkeit zunichtemachte und Armenien auf einen ganz anderen Pfad schickte. Das letzte Unterkapitel verdeutlichte, wie mehrdeutig der Weg zur Unabhängigkeit für Armenier gewesen ist und wie Angst und Vorsicht die Handlungen von politischen Akteuren oder die Entscheidungen der Bevölkerung gelenkt haben. So stand die Trauer über das Ende des sowjetischen Projekts neben der Freude über die vermeintliche Befreiung Armeniens. Diese bedeutete für viele Armenier vor allem nationale Eigenstaatlichkeit, weniger den Widerstand gegen Russland. So war die Unabhängigkeit von der Sowjetunion die einzige Schlussfolgerung, die die Armenier aus der Gewalterfahrung ziehen konnten – aber wie bald diese Erfahrungen vergessen waren, zeigte die schnelle Annäherung an Russland, das nun eine demokratische Regierung hatte, mit der sich die neue armenische Führung auf Augenhöhe zu bewegen glaubte. War es bis 1991 die Angst vor dem sowjetischen Staat, vor seiner Unterdrückung, die die Menschen auf die Straßen trieb, so begann sich mit der Unabhängigkeit abzuzeichnen, wie die (alte) Angst vor der ethnischen Gewalt die armenische Nation wieder näher an jene Macht führte, vor deren Gewalt sie einst geflohen war. Der Nationalismus, der den Sozialismus ablöste, stellte sich dabei, wie in vielen anderen postsowjetischen Ländern auch, lediglich als leeres Versprechen heraus, wie sein ideologischer Vorgänger.214 Und so blieb das sowjetische Projekt mit dem neuen armenischen verbunden, was sich an den Denkmälern, aber auch an der fehlenden historischen Aufarbeitung der kommunistischen Partei zeigte. Während in den Jahren 1988–1990 noch viele Anhänger der Bewegung die Schuld an den Problemen bei der lokalen kommunistischen Partei suchten, stellte die neue Regierung genau jene »Schuldigen« wieder in ihren Dienst.

213 Suny: Provisional Stabilities, S. 158. 214 Plaggenborg, Stefan: Verstetigte Gegenwart: Über das Zeitverständnis im real existierenden Sozialismus, in: Martin Schulze Wessel/Christiane Brenner (Hg.): Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus: Die Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext 1945–1989, München 2010, S. 19–32, hier S. 31.

Fazit

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6.3 Fazit: Postsowjetische Neuordnungen – Euphorie und Enttäuschung Die Frage danach, wie das Erdbeben auch in den Folgejahren das politische Geschehen mitgestaltete und wie es in die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen eingebettet wurde, war Gegenstand des sechsten und letzten Kapitels. Dabei wurde deutlich, wie anfällig Armenien für den Einfluss von externen Akteuren war; als Konsequenz des Erdbebens einerseits und als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion andererseits. Diese neuen Verwundbarkeiten prägten den Weg Armeniens zur Unabhängigkeit und wirkten sich darauf aus, wie Gesellschaft und Staat in Armenien die postsowjetische Zeit bewältigten. Die armenische Diaspora spielte hierbei eine größere Rolle als bisher angenommen. So ermöglichte ihr das Erdbeben, sich in die innerarmenischen Angelegenheiten einzumischen, noch weit vor dem Zerfall der Sowjetunion. Zunächst als humanitäre Helfer in der Erdbebenzone im Einsatz, nutzten die Diaspora-­Parteien schon bald, im Sommer 1990, die Gunst der Stunde, um ihre Parteibüros in Jerewan einzurichten und so nachhaltig bei Parlamentsdebatten mitzuwirken, um die für die Diaspora wichtige »nationale Wiedergeburt« voranzutreiben. Durch ihre Anwesenheit und ihre finanziellen Ressourcen wurden sie schnell Teil armenischer Zukunftsvisionen, weil sie eine Alternative zum Verbleib in der Sowjetunion boten. Auf diese Weise wirkten sie bei der Entscheidung für die Unabhängigkeit mit, obwohl die Mehrheit der Mitglieder der armenischen Diaspora die Unabhängigkeit Armeniens nicht befürwortete, weil sie Angst vor einer Wiederholung des Genozids hatte, und obwohl in Armenien die Vorbehalte gegen eine mögliche »Verwestlichung« und »Amerikanisierung« in den Diskursen stark vertreten waren. Der Zusammenprall der Armenier aus Ost und West war dementsprechend folgenreich. So zeigte die Diaspora zwar großes Interesse am Schutz der armenischen Kultur und des armenischen Territoriums. Aufgrund ihres »Long-Distance«-Nationalismus aber verschärfte sich nicht nur der Karabachkonflikt, sondern durch ihre unversöhnliche Haltung gegenüber der Türkei sah sich die neue Regierung Armeniens auch bald isoliert. Das wiederum machte das Team um Lewon Ter-Petrosyan anfällig für ein neues Abhängigkeitsverhältnis gegenüber Moskau. An der Dynamik dieses Verhältnisses wurde deutlich, wie ambivalent das Verhältnis der Armenier zur Unabhängigkeit und zu Russland war. So gab es durchaus antirussische Episoden und sowohl die Initiative der Volksabstimmung als auch die Demontage der Leninstatue im Zentrum Jerewans belegen, dass Teile der Bevölkerung gegen einen Verbleib in der Sowjetunion waren. Es waren vor allem jene Gruppen von

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Intellektuellen, die in Russland einen Verräter und Ausbeuter gesehen haben, von dem Armenien sich lossagen sollte, und jene, die in der Sowjetunion einen brennenden Zug sahen, von dem Armenien besser abspringen sollte, wenn es überleben wollte. Viele etablierte und innerhalb des Systems gut vernetzte Intellektuelle, aber auch nichtintellektuelle Armenier waren jedoch einer Unabhängigkeit gegenüber skeptisch eingestellt. Ihrer Meinung nach brauchten sie Russland, um sich vor der Türkei zu schützen und um einer politischen und kulturellen Marginalisierung zu entkommen.215 Aber auch sie stimmten beim Referendum für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion, weil aufgrund der sich zunehmend offenbarenden Schwächen des sowjetischen Systems der Alleingang vielen als unvermeidbar galt. Nicht die Unzufriedenheit mit dem sowjetischen Regime entließ die armenische Bevölkerung in die Unabhängigkeit, sondern ein pragmatisches Bewusstsein ihrer eigenen Verwundbarkeit und die Angst davor, von einem zerfallenen Sowjetstaat keinen Schutz gewährt zu bekommen. Die folgenden Jahre zeigten jedoch, dass Armenien ohnehin diesem Muster, in dem Russland als der Retter auftrat, verhaftet blieb. Die Tatenlosigkeit während der Blockade, die »Operation Ring« und die früher so gedeutete Ausbeutung durch Russland rückten rasant in den Hintergrund. Denn durch den teilweise selbst verschuldeten und auch von Russland aus geschürten Karabachkrieg sowie durch weitreichende finanzielle Schwierigkeiten entstanden in kürzester Zeit neue Abhängigkeiten von Russland, die Ter-Petrosyan das Amt kosteten und die das Land bis heute begleiten.

215 Dudwick: Memory, S. 405–408.

7 Schlussbetrachtung

»Zabota – eto rabota!«1

Katastrophen in der Sowjetunion wurden zur Gefahr für das Regime. Die gravierenden Folgen und die gescheiterte Bewältigung des Erdbebens in Armenien hatten den Wunsch der Bevölkerung nach Unabhängigkeit verstärkt und den gesellschaftlichen Wandel beschleunigt, der vorher schon durch die intellektuelle Elite Armeniens angestoßen worden war. Denn das Erdbeben veranschaulichte jene Strukturen, die die sowjetische Ordnung brüchig gemacht hatten und die schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen haben, weil sie keine Antworten mehr auf die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen boten. Indem die Erdbebenkatastrophe in Armenien die schlechten sozioökonomischen und politischen Bedingungen offenbarte, unter denen sich eine Zukunft nach dem Erdbeben für Armenier gestalten sollte, führte sie bei der armenischen Bevölkerung zur pragmatischen Erkenntnis über die Unfähigkeit des Staates, Sicherheit zu gewährleisten und Normalität herzustellen. Trotz ihrer Angst vor einem weiteren Genozid schien ihnen nur noch die Unabhängigkeit sicher, wodurch sie als eine der »dissidenten« Sowjetrepubliken zum Zerfall der Sowjetunion beitrugen. Auch vorangegangene Katastrophen in der Sowjetunion zeigten Schwächen des Systems auf und beschleunigten Entwicklungen. Aber diese Erdbebenstudie zeigte nicht nur auf, wie Staat und Gesellschaft die Katastrophe bewältigten, sondern auch, warum die Sowjetunion erst während der Perestrojka so anfällig für Erdbeben und politische Desaster wurde und es nicht wie sonst vermochte, eine unter Trümmern liegende Sowjetrepublik an die Union zu binden. Das lag zum einen daran, dass die sowjetische Regierung seit 1986 Katastrophen enttabuisierte, um durch die Berichterstattung über sie bei der Bevölkerung und politischen Gegnern Unterstützung für die Reformen einzuholen. Menschliches Leid rückte in den Vordergrund und gab so die Möglichkeit, die neue Art des Regierens zu illustrieren. Katastrophen offenbarten die Schwächen des Systems, wie im Gesundheits- und Bauwesen oder im Katastrophen1 Dt. Übersetzung: »Fürsorge, das ist Arbeit!« Schriftzug auf einem Plakat aus der Perestrojka-­ Zeit, o. J.

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Schlussbetrachtung

schutz, und erleichterten so Gorbačev, Reformen in diesen Bereichen durchzusetzen, da die Notwendigkeit ersichtlich wurde. Doch die Wirkung übertraf dieses Ziel bei Weitem. Denn statt die Reformen zu unterstützen, schadete die offene Berichterstattung dem Regime. Als Fokus legte das Erdbeben den Blick auf die charakteristischen Mechanismen des sowjetischen Systems frei, die die Bevölkerung dort erst in diese gefährliche Lage gebracht haben, die aber schon lange vorher existierten. Die Berichte über die schweren Folgen des Erdbebens sowie über den gescheiterten Prozess des Wiederaufbaus offenbarten die Symptome eines veralteten sowjetischen Wirtschaftssystems, das mit seiner Zentralverwaltung zu Korruption und Fehlkalkulationen führte, die sich in Armenien als fatal erwiesen. War Korruption im Rahmen der Perestrojka bisher nur als Produktivitätsbremse der behäbigen Zentralverwaltungswirtschaft angeprangert worden, veranschaulichten die weiten staubigen Trümmerfelder nun auch die tödlichen Konsequenzen der sowjetischen Misswirtschaft. Artikel über den fehlenden sowjetischen Katastrophenschutz ließen im scharfen Kontrast zu bereits existierenden Rettungssystemen im Ausland unter der sowjetischen Bevölkerung starke Zweifel an den Absichten und Fähigkeiten des eigenen Staates aufkommen. Erschütternd für viele war zudem der durch das Erdbeben festgestellte schlechte allgemeine Gesundheitszustand der armenischen Bevölkerung, hervorgerufen durch das desolate sowjetische Gesundheitswesen.2 Nicht zuletzt spielten auch die zuvor noch nie dagewesenen Bilder der Katastrophe eine wichtige Rolle dabei, auf welche Weise das Ereignis mit dem aktuellen politischen Zustand des Landes verknüpft wurde. Jurij Pavlovs Assoziation vom Ende der Sowjetunion beim Anblick der zugemüllten Leninstatue war dabei nur eines von vielen Beispielen. Bilder der ewigen Erdbebentrümmer, Leichen und stagnierenden Baustellen fügten sich bei den Konsumenten sowjetischer Massenmedien in das Bild der ohnehin schon in den Diskursen vorherrschenden »polnaja razrucha« (des totalen Zerfalls) und trugen so dazu bei, das Fortschrittsparadigma der Sowjetmoderne auch außerhalb Armeniens umfassend infrage zu stellen.3 Erschöpft davon, nur Zerstörung, Skandale und Probleme zu sehen, forderten die Menschen Entwarnung und Veränderungen ein, die ihnen der sowjetische Staat so schnell – wenn überhaupt – jedoch nicht mehr bieten konnte.4 Der Staat war nicht mehr die Lösung, sondern selbst das Problem. Es war weniger die Kritik per se, welche die Krise auslöste, sondern die 2 Field, Mark G.: The health crisis in the former Soviet Union: A report from the ›post-war‹ zone, in: Social Science & Medicine 41 (1995) 11, S. 1469–1478. 3 Ries: Russian Talk, S. 46 f. 4 Gestwa: Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2, S. 10.

Schlussbetrachtung

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Unfähigkeit des Systems, die angesprochenen Schwachstellen anzugehen und glaubhaft Lösungen zu präsentieren.5 Zweitens trieb der politische Kontext einer »verdichteten Geschichte«, in dem sich die Katastrophe ereignete, die rasante Entfremdung zwischen Armenien und dem Zentrum an. Für die meisten Menschen in Armenien waren die Unabhängigkeit und das Ende des sowjetischen Projektes nicht von Anfang an das Ziel gewesen. Es gab kein Erwachen der Nation aus einem tiefen Winterschlaf.6 Und von einer wirklichen »Revolution« kann in Armenien nicht die Rede sein, vielmehr nur von einer »verhandelten Revolution«.7 Denn ein Mehr an Selbstbestimmung innerhalb einer Föderation wäre für viele ausreichend gewesen – nicht weil die armenische Bevölkerung mit dem Regime zufrieden war, sondern weil sie sich von möglicher neuer Gewalt bedroht glaubte, hielt sie an der Union länger fest als andere Sowjetrepubliken. Nachdem aber die sowjetische Regierung weder bei dem Pogrom in Sumgait noch bei der Transportblockade im Interesse der Armenier gehandelt hatte; nachdem die stagnierenden Baustellen nur noch Hoffnungslosigkeit auslösten; nachdem die sowjetische Armee Armenier in Karabach angriff und der Augustputsch 1991 von denselben Generälen durchgeführt wurde, sahen auch die letzten Anhänger eines Verbleibs in der Union die Unabhängigkeit als einzig mögliche Schlussfolgerung. Die armenische Diaspora mit ihren finanziellen und politischen Möglichkeiten galt dabei vielen als alternativer Referenzpunkt. Denn der sowjetische Staat war kein Sicherheitsgarant mehr. In den Augen einiger Armenier schien die Gefahr sogar von ihm auszugehen, weshalb Unabhängigkeit bald als unvermeidbar galt. Das Erdbeben war nicht Teil einer Ursache-Folge-Kette, es war kein Auslöser für den Wandel. Vielmehr öffnete die Katastrophe als Katalysator neue Reaktions- und Handlungswege und machte so bestimmte Perspektiven und Positionen erst sichtbar. Auf diese Art trug sie zur Zuspitzung der Konflikte zwischen Armenien und Aserbaidschan und zur Entfremdung zwischen Peripherie und Zentrum bei. Alte Probleme, wie das des Umgangs mit Flüchtlingen und der Karabachbewegung, wie das der Beziehungen zum Westen oder das größerer 5 Zur Kritik als Krisenauslöser siehe Baberowski: Criticism as Crisis. 6 Titel eines Artikels von Dudwick: Armenia: The Nation Awakens. 7 So wurde der Zusammenbruch der Sowjetunion von einigen Historikern als »Revolution« bezeichnet, siehe beispielsweise Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 1079. Philipp Ther kommt in seinen Ausführungen zum Schluss, in Bezug auf den Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion von einer »verhandelten Revolution« zu sprechen, da der Machtwechsel auf dem beiderseitigen Willen beruhte, Verhandlungen durchzuführen, siehe Ther, Philipp: 1989 – eine verhandelte Revolution, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.de/zg/1989 vom 11. Februar 2010 [24.07.2017].

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Schlussbetrachtung

wirtschaftlicher Selbstständigkeit der Sowjetrepubliken, mussten nun unter neuen kritischen Bedingungen neu verhandelt werden. Akteure mussten im engen Zeitrahmen oftmals schnell reagieren und sich neu positionieren, was die Konflikte weiter anheizte. Staatliche Tatenlosigkeit wie bei der Transportblockade fiel dabei genauso schwer ins Gewicht wie die feindlich gestimmten Jubelschreie in Baku am Abend des Erdbebens oder die Verschwörungstheorien um die tektonische Waffe. Das Erdbeben löste diese Entwicklungen nicht aus, sondern es bereitete die Grundlagen für die Ausgestaltung dieser Prozesse. Zum Dritten hatten sich über die Jahrzehnte der Sowjetherrschaft sowohl der staatliche Umgang mit Katastrophen als auch die Ansprüche an die Fürsorgepflichten des Staates verändert. Eine erhöhte politische Anfälligkeit war die Folge. Den durch Konsum gestiegenen Erwartungen der Bevölkerung konnte die sowjetische Regierung nicht mehr entsprechen, aber Defizite im Katastrophenschutz und beim dazugehörigen Wiederaufbau waren für viele nicht mehr akzeptabel. Für die Stabilität des Regimes ging die Gefahr von Katastrophen von deren Zerstörungskraft aus, die das durch Konsum und Technik erkaufte Sicherheitsgefühl der Bevölkerung in kurzer Zeit infrage stellen konnte. Da aber bis zur Mitte der 1980er Jahre Katastrophen vorwiegend verschleiert wurden und zudem ihre politische Gefahr ohnehin beschränkt war, in einem Regime, das mit Terror, Hunger und Unterdrückung regierte, das größte Risiken für die Bevölkerung in Kauf nahm und tödliche Umweltverschmutzung akzeptierte, wurden Katastrophen erst spät zur Bedrohung für das sowjetische Regime. Denn während Katastrophen durch die neue Offenheit einerseits vom Staat besser bewältigt werden konnten, musste dies gleichzeitig unter immer schwierigeren Bedingungen geschehen, weil sich überall in der Sowjetunion soziale, politische und ökonomische Brandherde auftaten, zu deren Auflösung es dem Staat an sozioökonomischen Voraussetzungen fehlte. Gefahren durch Katastrophen nahmen trotz vermeintlicher Modernisierung zu. Um Diskrepanzen zwischen technologischen Verheißungen und der dennoch eintretenden Zerstörung sowie zwischen staatlicher Fürsorge und tödlichen Gefahren abzudecken, entwickelten sich über die Jahrzehnte sowjetischer Herrschaft spezifische Bewältigungsmuster, die als Merkmale sowjetischer Katastrophenkultur gelten können: die Inszenierung des sowjetischen Heldentums sowie der sowjetischen Völkerfreundschaft und Fürsorge, aber auch das Aufkommen von Allmachtsfantasien beim Wiederaufbau.8 Für Josif Stalin barg die Erdbebenkatastrophe in Aschgabat 1948 die Gefahr, dass der im Aus8 Elie: Governing by Hazard.

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land schon weithin bekannte Widerspruch zwischen der sowjetischen Propaganda und der Realität erneut offenbar würde, weshalb er die Katastrophe in der Öffentlichkeit weitestgehend verschwieg. Dennoch versuchte er, sie dafür zu nutzen, die zentralasiatischen Sowjetrepubliken weiter an das sowjetische Projekt zu binden. Leonid Brežnev versteckte das Erdbeben 1966 in Taschkent nicht, sondern nutzte im Gegenteil die Gelegenheit der Katastrophe, um im Wettbewerb mit dem Westen um die beste Organisationsfähigkeit und architektonische Bauleistungen zu brillieren. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern sah der Reformer Michail Gorbačev Katastrophen als Möglichkeit, auf strukturelle Schwächen im Staat hinzuweisen, um so die Perestrojka-Reformen wirksam voranzutreiben. Anders als in Japan, der »Earthquake Nation«, oder in der Schweiz aber, wo Naturkatastrophen zum Nation-Building genutzt wurden, standen in der Sowjetunion die heftigen und oft unvorhersehbaren Ereignisse zu sehr im Gegensatz zum technologischen Fortschrittsanspruch des Regimes, die Natur beherrschen und kontrollieren zu können, als dass sie offiziell als Teil der sowjetischen Normalität begriffen worden wären.9 Doch trotz und gerade wegen des Fortschrittanspruchs hatten die Gefahren für den Sowjetbürger über die Jahrzehnte der Sowjetherrschaft eher zu- als abgenommen, weil die sowjetische Zentralverwaltungswirtschaft mit ihrem Zeit- und Finanzdiktat durch Pfusch am Bau und durch riskante Urbanisierungsprojekte stetig neue Verwundbarkeiten schuf. Gleichzeitig machte die zunehmende Komplexität technologischer Systeme es auch in der Sowjetunion unmöglich, Katastrophen gänzlich zu verhindern.10 Da der sowjetische Staat es aber versäumte, sein ziviles Katastrophenschutzsystem regelmäßig zu modernisieren, sank seine Fähigkeit, die Sicherheit seiner Bevölkerung zu garantieren. Denn trotz der militärischen Stärke und der zentralen Kommandogewalt, die es ermöglichten, in kurzer Zeit das gesamte Land zur Rettung und zum Wiederaufbau zu mobilisieren, scheiterte der Staat bei der Bewältigung der Katastrophe in Armenien, gerade weil er nur auf Mobilisierung und Reaktion gesetzt hatte. An feinen, insbesondere flexiblen und an die komplexen Risiken der Moderne angepassten Strukturen zum Katastrophenschutz und zur Katastrophenvorsorge fehlte es jedoch. Die Geschichte des Umgangs mit Katastrophen zeigte auf, wie Konsum und technologischer Fortschritt das Bedürfnis nach Sicherheit und Fürsorge immerfort nährten und den Staat so an seine Grenzen trieben. Bis zur ­Perestrojka  9 Clancey, Gregory: Earthquake Nation. The Cultural Politics of Japanese Seismicity, 1868– 1930, Berkeley 2006; Pfister: Von Goldau nach Gondo. 10 Perrow, Charles: Normal Accidents. Living with High-Risk Technologies, Princeton 1999.

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Schlussbetrachtung

bestimmte der Staat, wofür er Sorge tragen wollte, was er den Menschen an Fürsorge schenkte und worauf sie ein Recht hatten. Unter hohen wirtschaftlichen Kosten konnte der Staat durch seine überdehnte soziale »Fürsorgediktatur« einerseits Kontrolle über seine Bevölkerung ausüben, sich andererseits temporäre Loyalität sichern.11 »Zabota«, die Fürsorge für den Sowjetmenschen, war zwar auf dem Papier ein wichtiger Wert in der sowjetischen Gesellschaft und für das Regime ein »weicher Stabilisator«, der durch seine Verheißungen von Konsum und Emanzipation Loyalität bei der Bevölkerung erkaufen konnte.12 Doch gerade Katastrophen konnten den Widerspruch zwischen Absicht und Umsetzung sowie die Grenzen des sozialistischen Fürsorgeversprechens aufdecken. Mit dem Wegfall des Informationsmonopols unter Gorbačev erweiterte sich der Bereich der »zabota«, da immer mehr Probleme an die Oberfläche traten. Davon zeugte auch die Gründung des Staatlichen Komitees zum Schutz der Natur (Goskompriroda) 1988 und eines einheitlichen Katastrophenschutzes 1989, die Fürsorge für die Bevölkerung tragen sollten. Aber auch diese neuen Institutionen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Fürsorgestaat überfordert war, weil er die hohen Kosten der Sozialpolitik mit seiner langjährigen ineffizienten Planwirtschaft nicht mehr zu decken wusste.13 Das sowjetische Regime zerbrach also nicht an seinen Naturkatastrophen, aber sie sind Zeugnisse jener sozioökonomischen Herausforderungen, vor denen der sowjetische Staat in seinen unterschiedlichen Epochen stand und an denen er am Ende scheiterte. Im gegenwärtigen Armenien und gegenwärtigen Russland schreiben heutige Zeitgenossen dem Erdbeben indes eine andere, ja sogar gegenteilige Rolle zu. Mitnichten wird es als Bühne für Konflikte oder als Fenster in die damals bestehenden gesellschaftlichen Widerstände und Schwächen des sowjetischen Systems gedeutet. Heute wird der sowjetische Mythos eines tragischen Schicksalsschlags wiederbelebt, der die Menschen noch ein letztes Mal miteinander verband. So bringen etwa Texte auf Gedenksteinen in Armenien zum Aus11 Jarausch, Konrad H.: Care and Coercion: The GDR as Welfare Dictatorship, in: Konrad H. Jarausch (Hg.): Dictatorship as Experience. Towards a Socio-Cultural History of the GDR, New York 1999, S. 47–69, hier S. 59, 62. 12 So hieß es in der sowjetischen Verfassung von 1977: »Die [sowjetische Gesellschaft] ist eine Gesellschaft, in der das Gesetz des Lebens die Sorge aller für das Wohl eines jeden und die Sorge eines jeden für das Wohl aller ist.« Zitiert in: Rousselet, Kathy: Constructing Moralities around the Tsarist Family, in: Jarrett Zigon (Hg.): Multiple Moralities and Religions in Post-Soviet Russia, New York, Oxford 2014, S. 146–168, hier S. 161; Jarausch: Care and Coercion. 13 Zur sozialen Überdehnung siehe Plaggenborg: Experiment Moderne, S. 235 f.

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druck, dass das Erdbeben die Menschen zusammengebracht habe und so »zur Gewähr der Wiedergeburt Armeniens« wurde.14 Im Museum für armenische Geschichte in Jerewan liegen in den Vitrinen, die sich mit dem Erdbeben befassen, fast ausschließlich Bilder zur internationalen Zusammenarbeit und zur Völkerfreundschaft – die Kontinuität des sowjetischen Narrativs und eine nicht zu übersehende Sowjetnostalgie in Bezug auf den wahrgenommenen Zusammenhalt zwischen den Ethnien. Auch armenische Geschichtsbücher für Schule und Universität konzentrieren sich auf den wenigen Seiten über das Erdbeben auf die Völkerfreundschaft und listen in Tabellen die Hilfeleistungen der jeweiligen Republiken und Länder auf. In Interviews beschrieben einige, wie sie die Zeit zwischen dem Erdbeben und dem Ende der Sowjetunion als hoffnungsvoll erinnern, weil sie noch an den Wiederaufbau glaubten.15 Dessen Scheitern begründeten viele mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Gedenkveranstaltungen sind dem Leid der »unschuldigen Opfer des Spitaker Erdbebens« gewidmet; eine historische Aufarbeitung und die Suche nach den Verantwortlichen geschehen hingegen nicht.16 Neben den Gedenksteinen und Geschichtsbüchern sind seit 2016 zwei Kinofilme entstanden, die sich den Ereignissen rund um das Erdbeben in Armenien widmen und wichtige Einblicke in den heutigen Umgang mit der Katastrophe und in die armenisch-russischen Beziehungen geben: der Film »Spitak« von Aleksandr Kott, der im November 2018 in die Kinos kam, und »Erdbeben. Eine Tragödie, die die Welt vereint«, ein im Dezember 2016 ausgestrahlter Blockbuster von Sarik Andreasjan, beide in einer russisch-armenischen Koproduktion entstanden. Im Mittelpunkt der Filme stehen diejenigen Tage, in denen sich die Bevölkerung noch im Schockzustand befand; gezeigt werden Szenen vom Suchen und Finden, die unter dem Publikum große Emotionen hervorriefen. Mitnichten wird die Katastrophe als Ergebnis sozialer und politischer Prozesse gesehen, deren Ursprünge bis weit in die Vergangenheit zurückreichen. Vielmehr wird das Erbeben als Ausnahmesituation dargestellt, die ohne Vorgeschichte auskommt. »Und dann kam plötzlich die Katastrophe. Sie kam von nirgendwoher«, erklärte der Regisseur Alekandr Kott in einem Interview.17 Ähnlich wie die Gedenksteine betonen die Filme Freundschaft unter Individuen, insbesondere zwischen Russen und Armeniern und an vielen Stellen wird 14 Auf einem Gedenkstein im Zentrum Gjumris (Oktober 2013). 15 Interview mit Vartan P. (*1960), Gjumri, 27.10.2013; Interview mit Edgar N. (*1963), Jerewan, 26.10.2013. 16 Auf einem Gedenkstein in Gjumri (Oktober 2013). 17 O. V.: »Spitak«, in: http://telestofilm.ru/ru/filmy/spitak.html vom 14. Juni 2016 [15.06.2017].

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Schlussbetrachtung

deutlich, wie sehr die Katastrophe als letzte gemeinschaftliche Heldentat des Vielvölkerstaates gedeutet wird. Die Fortführung der sowjetischen Tradition, den politischen Umgang mit Katastrophen nicht allzu kritisch zu hinterfragen, bedarf einer Erklärung. Schließlich wäre ebenso ein Film wie der italienische Kinofilm von 2010 über das Erdbeben in der Stadt L’Aquila aus dem Jahr 2009 denkbar gewesen, der den italienischen Zivilschutz sowie die gesamte italienische Regierung kritisch ins Visier nahm.18 Ergiebig scheint hierfür ein Blick auf die russische Kulturpolitik sowie auf die armenisch-russischen Beziehungen nach 1991. Spätestens seit der offiziellen Aussage des russischen Präsidenten Vladimir Putin im April 2005, nach welcher der »unnötige« Zusammenbruch der Sowjetunion die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« gewesen sei, dominiert im heutigen Russland das Narrativ einer Sowjetunion, die es noch geben könnte, wenn Gorbačev sie nicht zerstört hätte.19 Hier legte Vladimir Putin fest, was eine Katastrophe ist und was nicht. Aus diesem Grund, aber sicherlich auch aus persönlicher Überzeugung der Regisseure gibt es kaum russische oder armenische Filme, die die Diskrepanz zwischen sowjetischem Anspruch und der Realität aufdecken. In ihrem Drang danach, heute eine neue Sowjetunion zu erfinden, in der ehemalige Sowjetrepubliken wirtschaftlich und politisch zusammenarbeiten und so Russland zum Machtaufstieg verhelfen, unterstützt die russische Regierung Projekte, die ebenjenen einmal dagewesenen Zusammenhalt auch historisch vermeintlich belegen können. Dazu eignet sich die Erdbebenkatastrophe von 1988. Dementsprechend vermitteln beide Filme den Eindruck einer vereinten Sowjetunion, deren von Gorbačev ausgelöster Zusammenbruch zu einem jähen Ende der Völkerfreundschaften führte. Die Filme, die jeweils mit 50 Millionen Rubel vom russischen Kulturministerium finanziert wurden, seien gedreht worden, »um daran zu erinnern, wer zu Hilfe kam«, und um den »Mut und das Heldentum« zu zeigen. In Zeiten wie diesen, erklärte Elena Glikman, die Produzentin von »Spitak«, in einem Interview weiter, »müssen wir daran erinnern, 18 Ein Film von Sabina Guzzanti, Draquila – L’Italia che trema (dt. Draquila – Italien bebt), 2010. Der Name des Films ist eine Wortschöpfung aus den Worten Dracula und L’Aquila. Die Rolle des blut- und geldsaugenden Draculas übernimmt im Film der damalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi. 19 So Vladimir Putin auf der Föderalen Versammlung in Moskau am 25. April 2005, o. V.: Vladimir Putin: »Raspad SSSR – krupnejšaja geopolitičeskaja katastrofa veka«, in: https://regnum. ru/news/polit/444083.html vom 25. April 2005 [19.06.2017]. Im September 2016 sagte er vor der Duma, dass der Zusammenbruch nicht nötig gewesen sei, siehe o. V.: Putin: Ne nužno bylo razvalivat’ SSSR, in: https://regnum.ru/news/polit/2184253.html vom 23. September 2016 [06.07.2017].

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[…] wie Menschen sich miteinander verbunden haben, unabhängig von ihrer Nationalität.«20 So kann das Erdbeben auch noch 30 Jahre später dafür genutzt werden, um an die ehemalige vermeintliche Völkerfreundschaft zu erinnern. Derartige Erinnerungen helfen, ein für den Staat und für viele Menschen in Russland sinnvolles Narrativ über die sowjetische Vergangenheit aufzubauen. Die Erinnerung an die Völkerfreundschaft kurz vor dem Zusammenbruch verbindet so die sowjetische Vergangenheit und die postsowjetische Gegenwart in einem historischen Kontinuum auf eine Art, die es ermöglicht, das Ereignis schmerzlos in die Geschichte des gegenwärtigen Russland einzuschreiben.21 Es ist daher auch kein Zufall, dass der Film »Spitak« zur Hälfte auf der ehemaligen Militärbasis nahe der Stadt Mirnij auf der 2014 von Russland annektierten Krim gedreht wurde. Denn schon bevor der Film »Spitak« überhaupt in die Kinos kam, wurde im Internet die Verbindung zwischen der angeblichen sowjetischen Völkerfreundschaft während des Erdbebens und den vermeintlichen Heimatgefühlen der Krimbewohner für Russland betont.22 »Der Film [von Andreasjan] vermittelt uns auf indirektem Weg die russische Propaganda, nach der wir nichts sind ohne eine Supermacht«, schreibt eine armenische Filmkritikerin.23 Insofern zeugen nicht nur das Aufgreifen eines armenischen Themas durch das russische Kulturministerium, sondern auch die Hintergründe der Produktion vom russischen imperialen Erbe, das sich im russischen Kino heute bemerkbar macht.24 Auch in Armenien sind nicht alle Menschen an einer historischen Aufarbeitung der Naturkatastrophe interessiert. Im Gegensatz zum Erfolg des Filmes in Russland war der Film »Erdbeben« von Andreasjan in Armenien ein Flop. Der Film wurde zum einen den Gefühlen und Erinnerungen der armenischen

20  Duginova, Anastasija: Elena Glikman i Aleksandr Kott vspomnjat »Spitak«, in: http://www. kinometro.ru/production/show/name/Spitak_movie_8725 vom 4. April 2016 [15.06.2017]. 21 Dobrenko, Evgeny/Shcherbenok, Andrey: Introduction Between History and the Past: The Soviet Legacy as a Traumatic Object of Contemporary Russian Culture, in: Slavonica 17 (2011) 2, S. 77–84, hier S. 83 22 Baum, Elena: Zemletrjasenie: v Krymu režisser Kott snimaet svoju versiju tragedii 1988 goda, in: http://crimea.mk.ru/articles/2017/02/04/zemletryasenie-v-krymu-rezhisser-kott-snimaet-svoyu-versiyu-tragedii-1988-goda.html vom 4. Februar 2017 [19.06.2017]. 23 Sevada, Sjune: Abnakan Yerkrašarž kam inč’pisin č’petk’e e lini režisory [Ein unnatürliches Erdbeben oder Wie ein Regisseur nicht sein sollte], in: https://champord.am/anbnakan-erkrasharj/?l=ru vom 6. Dezember 2016 [03.07.2017]. 24 Zum imperialen Erbe im russischen Kino nach 1991 siehe Condee, Nancy: The Imperial Trace. Recent Russian Cinema, Oxford 2009.

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Schlussbetrachtung

Zuschauer nicht gerecht; vielen missfiel wohl das »unnötige Pathos«.25 Zum anderen waren die Folgen des Erdbebens noch zu präsent; die dort lebenden Menschen sind heute noch zu betroffen von den Bildern und dem Verlust ihrer Angehörigen.26 Der Mangel an kritischer historischer Aufarbeitung hat verschiedene Gründe. So könnte eine solche Aufarbeitung ein Bild der Menschen in Armenien zutage fördern, das nicht dem einer Nation der guten Christen entspricht. Eine der heftigsten und am meisten geäußerten Kritiken am Film »Erdbeben« war, dass die dort gezeigten Plünderer eine Erfindung der Regisseure seien.27 Solche unsolidarischen Aktionen habe es damals nicht gegeben, auch wenn Archivquellen und Zeitungsartikel das Gegenteil belegen können.28 Neben unschuldigen Opfern und Rettern ist im Narrativ kein Platz für Plünderer, die aus dem Elend der Menschen Kapital schlagen wollten. Dies würde das Bild von Armenien als dem Opfervolk und dem der Völkerfreundschaft verkomplizieren. Dem Regisseur des zweiten Films, »Spitak«, rieten seine armenischen Berater daher, die Plünderungsszenen wegzulassen, die er schon fest eingeplant hatte.29 Auch daran, dass die Bauarbeiter aus den anderen Republiken mit Parolen vertrieben wurden, erinnerten sich die Armenier in den Interviews mit der Verfasserin nur dann, wenn das Aufnahmegerät ausgeschaltet war. Es passt nicht in das Bild der gastfreundlichen Armenier, dass Besuchern, die zum Helfen gekommen waren, die Tür gewiesen wurde.30 25 In Russland sahen den Film knapp 900.000 Kinozuschauer, Statistik von Juli 2017 in: o. V.: Zemletrjasenie, in: https://www.kinopoisk.ru/film/839961/ [03.07.2017]. Zu den Zuschauerzahlen in Armenien keine genauen Angaben, aber zum Beleg dafür, dass der Film bedeutend weniger Erfolg in Armenien hatte, siehe Sevada: Abnakan Yerkrašarž. 26 Dafür spricht auch, dass nur wenige der von der Verfasserin Interviewten aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten am 7. Dezember, zum Jahrestag des Erdbebens, Nachrichten schauen. Zu heftig wirken die dort gezeigten Bilder der Zerstörung auf sie. Den Kinofilm sahen daher vor allem nach 1988 geborene junge Menschen, wie mir Bewohner aus Spitak per E-Mail mitteilten. 27 O. V.: Fil’m »Zemletrjasenie« potrjas Gjumri, in: http://newsarmenia.am/news/­analytics/ film-zemletryasenie-potryas-gyumri/ vom 26. Juli 2016 [16.06.2017]; Akopjan, Goar: ­Dobrye russkie i škval emocij v fil’me »Zemletrjasenie«, in: https://www.aravot-ru.am/2016/ 11/20/227045/ vom 20. November 2016 [20.11.2017]. 28 Beispielsweise NAA f. 1, op. 127, d. 638, l. 18, Brief einer Frau an das ZK KP ArSSR vom 15. Dezember 1988; GARF f. 9654, op. 6, d. 95, ll. 17–19 und 24–26, Bericht über die Lage im Transkaukasus am 15. und 18. Dezember 1988; Gai: Unesu bol’ tvoju, S. 155. 29 Tokmaševa, Maša: Drama o zemletrjasenii »Spitak« vyjdet v prokat v 2018 godu, in: https:// www.kinopoisk.ru/news/2911428/ vom 15. März 2017 [15.06.2017]. 30 Selbst Norayr Muradyan, der mir selbst Zugang zu seinem Privatarchiv gab, in dem sich diesbezügliche Akten befanden, weigerte sich, mir über die Zusammenstöße zwischen Armeniern und Usbeken Auskunft zu erteilen.

Schlussbetrachtung

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Zudem sind der armenischen Regierung die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Russland viel zu wichtig, als dass sie Russland, den Rechtsnachfolger der Sowjetunion, mit einem eigenen Narrativ verärgern würde. Dies ist insbesondere aufgrund des Beitritts Armeniens zur Eurasischen Wirtschaftsunion so, aber auch weil Armeniens Wirtschaft zu einem großen Teil von den Geldsendungen armenischer Arbeitsmigranten in Russland abhängt.31 Es würde einer Provokation gleichkommen, die Sowjetunion kritisch zu hinterfragen, weil es nicht dem russischen Narrativ entspräche. Daher ist es nicht überraschend, dass auch die Menschen in Armenien Gorbačev umso mehr als Auslöser für das Erdbeben betrachteten, je mehr in Russland die Auffassung vertreten wurde, dass dieser der einzig Schuldige am Zusammenbruch der Sowjetunion sei und dass ihm der Prozess für dieses schwere Verbrechen gemacht werden solle.32 Während die Anthropologin Nora Dudwick Ende der 1980er Jahre feststellte, dass nur einige an das Gerücht der tektonischen Waffe glaubten, gibt es heute in Armenien kaum jemanden, der nicht davon überzeugt ist. Die Verschwörungstheorie passt für viele Armenier in das Narrativ, die Zerstörung der kaukasischen Republik sei der Anfang des Endes der Sowjetunion gewesen, den Gorbačev absichtlich eingeleitet hatte – per Knopfdruck. Durch die Schuldzuweisung an Gorbačev als Einzeltäter können Regimekritik und Einheitsutopie problemlos nebeneinander existieren. Zuletzt ist Armeniens Weigerung, das Ereignis historisch aufzuarbeiten, darauf zurückzuführen, dass die postsowjetischen armenischen Regierungen den Erdbebenopfern bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. So jährte sich die Katastrophe im Dezember 2018 zwar bereits zum 30. Mal, doch noch immer wohnen Hunderte Familien aus Gjumri und Spitak in den 1989 aufgestellten temporären Häusern, ohne Zugang zu fließendem Wasser oder Strom. Allein in Gjumri warteten 2010 noch 3200 Familien darauf, in eine richtige Wohnung ziehen zu können. Von den durch das Erdbeben zerstörten Unternehmen wurde in dieser Stadt kaum eines wiederaufgebaut, weshalb die

31 World Bank: Migration and Remittances Factbook 2016, 3rd edition, Washington, D.C. 2016, S. 12. 32 Zuletzt stellten Dumaabgeordnete am 9. April 2014 den Antrag auf Strafermittlung gegen Michail Gorbačev für seine Entscheidung, die Sowjetunion gegen den Willen der sowjetischen Bevölkerung aufgelöst zu haben. Siehe Gromkovskij, Vladimir: Sud nad Gorbačevym kak sposob i sredstvo, in: http://expert.ru/2014/04/11/sud-nad-gorbachevyim-kak-sposob-i-sredstvo/ vom 11. April 2014 [03.07.2017].

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Schlussbetrachtung

Arbeitslosigkeit dort besonders hoch ist.33 Wie unangenehm der armenischen Regierung der Zustand der Erdbebenregion heute ist, zeigt zudem die Tatsache, dass der armenische Präsident zum Jahrestag des Erdbebens immer seltener nach Gjumri reist, um einen Kranz niederzulegen, auch aus Angst vor der Kritik der Bewohner.34 Der Anblick dieser Katastrophenstädte 30 Jahre nach dem Erdbeben verstärkt die Sowjetnostalgie und die Sehnsucht nach einer einst verbundenen Sowjetunion. Am Ende funktionierte Gorbačevs Einheitsutopie also doch, wenn auch post mortem. In der Konsequenz übersieht diese Sehnsucht aber, dass gerade das Erdbeben in enger Kollaboration mit Glasnost’ und Perestrojka demonstriert hat, wie das sowjetische Regime durch seine ineffiziente Zentralverwaltungswirtschaft und durch sein rigides politisches System nicht mehr in der Lage gewesen ist, auf Herausforderungen wie Naturkatastrophen zu reagieren. Der Austritt Armeniens aus dem Verbund war auch die Anwort auf ebendiese Unfähigkeit des sowjetischen Staates, für seine Bevölkerung zu sorgen und Sicherheit zu garantieren.

33 2015 betrug die Arbeitslosigkeit in Gjumri 52 Prozent, o. V.: High Unemployment in ­Gyumri Is the Main Cause of Migration Among Youth: Study, in: http://epress.am/en/2015/06/03/ high-unemployment-in-gyumri-is-the-main-cause-of-migration-among-youth-study.html vom 3. Juni 2015 [19.06.2017]. 34 Zum 25. Jahrestag des Erdbebens, im Dezember 2013 erschien der armenische Präsident nicht in Gjumri, weil er schon einige Tage vorher mit Vladimir Putin, der zu einem Staatsbesuch im Land war, Blumen in Gjumri niedergelegt hatte.

8 Anhang

Unpublizierte Quellen Gosudarstvennyj Archiv Rossiskoj Federacii (GA RF)

f. 5446 Sovet Ministrov SSSR f. 9654 S”ezd narodnych deputatov SSSR, verchovnyj sovet SSSR i ich organy Rossiskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšij Istorii (RGANI)

f. 5 Apparat CK KPSS, dokumenty za 1935–1991 gg. f. 89 Dokumentov, rassekrečennyе special’noj komicciej po archivam pri presidente RF 1992–1994 gg. (1919–1991 gg.) Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ekonomiki (RGAE)

f. 339 Gosudarsvennyj komitet SSSR po delam stroitel’stva (Gosstroj SSSR)1 f. 4372 Gosudarstvennyj planovyj komitet Soveta Ministrov SSSR (Gosplan SSSR) Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Kinofotodokumentov (RGAKFD)

r. 23997 o. A.: Zemletrjasenie v Armenii. Ostatki ot fil’ma »Zemletrjasenie«, Central’naja studija dokumental’ych fil’mov (CSDF), Moskau 1988. r. 30796 Chejfec, S.: Poka grom ne grjanet, CSDF/Čelovek i vremja, Moskau 1989. r. 30521 Koltun, Ju.: Voz’mu tvoju bol’, Leningradskaja studija dokumental’nych film’ov (LSDF), Leningrad 1989. Meždunarodniyj Fond Social’no-ekonomičeskich i politologičeskich issledovanii (Gorbačev-Fond)

f. 5 Ličnyj fond G. Ch. Šachnazarova f. 2 Ličnyj fond A. S. Černjaeva

1

Diese Bezeichnung galt von 1950 bis 1986, zwischen 1986 und 1991 hieß der Fond Gosudarstvennyj stroitel’nyj komitet SSSR.

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Anhang

Nationales Archiv Armeniens/ Hayastani Azgayin Arkhiv (HAA)2

f. 1 Zentrales Komitee der Kommunistischen Partei der Armenischen SSR f. 113 Ministerrat der Armenischen SSR f. 326 Außenministerium der Armenischen SSR f. 1159 Nationale Bewegung Armeniens f. 1339 Armenische Gesellschaft der Grünen f. 1678 Partei der Armenischen Nationalbewegung Archiv der Vereinten Nationen (UN)

f. Office for Humanitarian Affairs UNDRO (Genf) f. Office of the disaster relief co-ordionator (UNDRO) – USSR Earthquake, 1988 (New York) S-1046/10/7 Archiv der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC)

f. 0 Humanitarian Coordination Bodies Open Society Archives (OSA)

f. HU OSA 300–85–9 Publiziertes Samizdat f. HU OSA 300–8-41 Radio Liberty Research Bulletin Archiv der Deutschen Presseagentur (dpa)

AFP-Pressemeldungen zum Stichwort: Erdbeben Armenien 1988, Zeitraum 12/1988 bis 12/1989. Privatarchive

Aram Manukyan (Jerewan) – ehemaliges Mitglied der Karabachbewegung Norayr Muradyan (Jerewan) – Erster Parteisekretär von Spitak, 1988–1991

2 Für die bessere Lesbarkeit erfolgt hier die Übersetzung der Bezeichnungen vom Armenischen ins Deutsche. Viele Opisi in diesem Archiv haben keine Bezeichnung und fehlen daher hier.

Gedruckte Quellen

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Unpublizierte Quellen

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Argumenty i fakty Banvor Chicago Tribune

Interviewpartner

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Der Spiegel Die Zeit Golos Armenii Izvestija Kommunist (ArSSR) Komsomol’skaja Pravda Krasnaja Zvezda Krokodil Los Angeles Times Le Soir Literaturnaja Gazeta Moskovskie novosti Monthly Digest of News from Armenia (MDNA) Nezavisimaja gazeta Novoe Vremja Ogonek Pravda Sovetakan Hayastan (ab Mai 1989 Xorhrdayin Hayastan)3 Stroitel’naja Gazeta

Interviewpartner Im Laufe der Dissertation habe ich 45 halbstrukturierte Interviews geführt. Je nach dem Beruf, den die Befragten damals ausgeübt haben und heute ausüben und ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion, habe ich unterschiedliche Fragestellungen gehabt. Die Personen habe ich entweder über persönliche Netzwerke kennengelernt oder habe, wie z. B. bei Norayr Muradyan, dem ehemaligen Ersten Parteisekretär von Spitak, oder Ararat Haydeyan, dem ehemaligen Chefarchitekten von Spitak, explizit nach ihnen gesucht, weil sie mir in den Archivquellen aufgefallen sind. Meist habe ich die Interviews auf Russisch und nur in Einzefällen auf Englisch (z. B. mit Gerard Libaridian) oder auf Deutsch (z. B. mit Hermann Klein-Hitpaß) geführt. Meine Interviewpartner habe ich in Armenien, Moskau, Los Angeles und Elsterwerda getroffen. Wenige Gespräche 3 Xorhrdayin Hayastan kann wie Sovetakan Hayastan mit »Sowjetisches Armenien« übersetzt werden, aber während das Wort »Sovet« (russ. Rat) aus dem Russischen abgeleitet ist, ist das Wort »Xorhrd« (arm. Rat/Vorstand) armenischen Ursprungs.

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führte ich telefonisch oder per E-Mail. Sie dauerten zwischen 30 Minuten und drei Stunden. Im Folgenden sind nur jene Personen in chronologischer Reihenfolge aufgeführt, die ich in der Dissertation zitiert habe. Abrahamyan, Lewon (*1947): Ethnologe, Armenische Akademie der Wissenschaften, 26.09.2013 in Jerewan. Agbabian, Mihran (*1923): Ingenieur, Gründer der American University of Armenia, 29.07.2014 in Los Angeles. Azizyan, Grigor (*1955): Ingenieur bei »Armprojekt«, 16.10.2013 in Jerewan. Banowč’yan, Aršak (*1963): Historiker, Politiker, ehemaliger Aktivist, Initiator der ersten Umweltbewegung in Armenien 1987, 04.06.2015 in Jerewan. B., Edik (*1957), Februar 2015 in Spitak. Danielyan, Karine (*1947): Biochemikerin, Mitglied der ehemaligen sowjetischen Umweltbewegung, aktuell Professorin für Umweltstudien in Jerewan, 10.06.2016 in Jerewan. Gasparayan, Genrich (*1950): Stadtarchitekt für Gjumri, 02.06.2015 in Gjumri. Haydeyan, Ararat (*1952): Chefarchitekt Spitaks (1979–1994), 31.03.2015 in Elsterwerda. Hovannisian, Richard (*1932): Historiker, 27.07.2014 in Los Angeles. K., Aleksandra (*1978): ehemalige Bewohnerin Leninakans, 22.02.2015 in Jerewan. K., Marina (*1967): Verkäuferin, ehemalige Bewohnerin Gjumris, 08.06.2013 in Moskau. K., Vačik (*1955): Ingenieur, Bewohner Gjumris, 27.10.2013 in Gjumri. K., Vergine (*1958): Hausfrau, Bewohnerin Gjumris, 27.10.2013 in Gjumri. Klein-Hitpaß, Hermann (1934–2014): Einsatzleiter des Technischen Hilfswerks in Armenien 1988–1989, Telefongespräch, 31.07.2013. Libaridian, Gerard J. (*1945): Historiker, ehemaliger Berater Lewon Ter-Petrosyans, T ­ elefongespräch, 07.10.2016. Lobanov, Aleksey (*1936): ehemaliger Offizier beim sowjetischen Zivilschutz, Zeitzeugengespräch, 13.06.2013 in Moskau. Lobanov, Andrej (*1956): damals als Medizinstudent in Armenien zum Arbeitseinsatz, heute Arzt, 05.06.2013 in Moskau. M., Abdullaziz (*1944): ehemaliger Bauleiter aus Usbekistan, 1988–1990 in Armenien tätig, Gesprächsnotiz anhand eines Gesprächs, 25.06.2015. Manowčaryan, Ašot (*1956): Historiker, Publizist, ehemaliges Mitglied des Karabachkomitees, 25.10.2013 in Jerewan. Mileti, Denis (*1945): Soziologe, ehemalige Direktor des Natural Hazard Center in Boulder, USA, 1988–1989 zu Forschungsaufenhalt in Armenien, Befragung per E-Mail, 11.11.2016–01.12.2016. Muradyan, Norayr (*1941): Ingenieur, Erster Parteisekretär von Spitak 1988–1991, Zeitzeugengespräch, 13.06.2013 in Moskau und 07.12.2013 in Spitak. N., Edgar (*1963): Feuerwehrmann, Gesprächsnotiz, basierend auf einem Gespräch, 26.10.2013 in Jerewan. Najarian, Mary (*1928): Krankenschwester, zum Einsatz in Armenien, 05.08.2014 in Los Angeles. Najarian, Vartkes (*1928): Arzt, zum Einsatz in Armenien, 05.08.2014 in Los Angeles. Nikonov, Andrej A. (*1932): Seismologe, Institut für Erdphysik an der Russischen Akademie der Wissenschaften, 06.10.2015 in Moskau. P., Vartan (*1960): ehemaliger Mitarbeiter auf dem Flughafen Gjumri, 27.10.2013. Paskevičyan, Tigran (*1959): Historiker, Aktivist, Initiator der ersten Umweltbewegung in Armenien 1987, 04.06.2015 in Jerewan. Rautjan, Tatjana (*1930): Seismologin, Befragung per E-Mail, 05.11–15.11.2016.

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Abkürzungsverzeichnis

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Zubarevich, Natalia V./Fedorov, Yuri E.: Russian-Southern Economic Interaction: Partners or Competitors?, in: Rajan Menon/Yuri E. Fedorov/Ghia Nodia (Hg.): Russia, the Caucasus, and Central Asia. The 21st Century Security Environment, Armonk 1999, S. 119–146.

Abkürzungsverzeichnis AAA (Armenian Assembly of America) Wohltätigkeitsorganisation der armenischen Diaspora AES (atomnaja električeskaja stancija) Atomkraftwerk AGBU (Armenian General Benevolent Union) Wohltätigkeitsorganisation der armenischen Diaspora ARF (Armenian Revolutionary Federation) armenische politische Partei CSDF (Central’naja studija dokumental’ych fil’mov) Zentrales Studio für Dokumentarfilme GKČS SM SSSR (Gosudarstvennaja komissija Soveta Ministrov SSSR po črezvyčajnym situacijam) Staatliche Kommission für Katastrophenschutz unter dem Ministerrat der UdSSR Glavlit (Glavnoe upravlenie po ochrane gosudarstvennych tajn v pečati pri Sovete Ministrov SSSR) Zentrale Verwaltung für den Schutz staatlicher Druckgeheimnisse unter dem Ministerrat der UdSSR GO (Graždanskaja oborona) Zivilschutz Goskomarchitektura SSSR (Gosudarstvennij komitet po architekture i gradostroitel’stvu) Staatliches Komitee für Architektur und Städtebau der UdSSR Goskomgidromet (Gosudarstvenniy komitet po gidrometeorologii) Staatliches Komitee für Hydrometeorologie Gosplan SSR (Gosudarstvennyj planovyj komitet Soveta Ministrov SSSR) Komitee für Wirtschaftsplanung des Ministerrats der UdSSR Gossnab SSR (Gosudarstvennyj komitet SSSR po material’no-techničeskomu snabženiju) Staatliches Komitee der UdSSR für die materiell-technische Versorgung Gosstroi (Gosudarstvenniy stroitel’nyj komitet) Staatliches Komitee für Bauwesen Gosvodchoz SSSR (Gosudarstvennyj komitet po vodnomu chozjajstvu) Staatliches Komitee für Wasserwirtschaft Kazglavselezaščita (Kasachskoe glavnoe upravlenie po stroitel’stvu i techničeskomu obsluživaniju lavinnoj zaščity) Kasachisches Generaldirektorat für den Bau und die Instandhaltung von Lawinenschutzmaßnahmen KP (Kommunističeskaja Partija) Kommunistische Partei MAA (Meždunarodnaja akademija architektury) Internationale Akademie der Architekten MČS Rossii (Ministerstvo Rossijskoj Federacii po delam graždanskoj oborony, črezvyčajnym situacijam i likvidacii pocledstvij stichijnych bedstvij) Ministerium für Katastrophenschutz der Russischen Föderation Mingeo (Ministerstvo Geologii) Ministerium für Geologie Minsevzapstroj RSFSR (Ministerstvo stroitel’stva na severo-zapade RSFSR) Ministerium für Bauwesen im Nordwesten der RSFSR MPVO (mestnaja protivovozdušnaja oborona) örtliche Flugabwehr NPO Gruzmorberegozaščita (naučno-prouzvodstvennoe ob“edinenie po izučenie i ochrane prirody beregovoj zony Černogo morja) Wissenschaftliche Produktionsvereinigung für die Erforschung und den Schutz der Natur am Schwarzen Meer PSO Armenijasevzapstroj (Pervoe stroitel’noe ob“edinenie stroitel’stva na severo-zapade Armjanskogo SSR) Erste Bauvereinigung für Bauwesen im Nordwesten der Armenischen SSR RFSFR (Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja Respublika) Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik

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Anhang

SSR (Socialističeskaja Sovetskaja Respublika) Sozialistische Sowjetrepublik TĖO (techniko-ėkonomičeskoe obosnovanie) Machbarkeitsstudie ZK KP ArSSR (Central’nyj Komitet Kommunističeskoj Partii Armjanskogo Socialističeskogo Sovetskogo Respubliki) Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik ZK KPSS (Central’nyj Komitet Kommunističeskoj Partii Sowetskowo Sojusa) Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion