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German Pages 216 [220] Year 1971
SNELL · SZENEN AUS GRIECHISCHEN DRAMEN
BRUNO SNELL
SZENEN AUS GRIECHISCHEN DRAMEN
WALTER DE GRUYTER & CO. BERLIN 1971
Archiv-Nr. 37 92 70 1 © 1971 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'scbe Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbudihandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Printed in Germany Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Drude: Walter Pieper, Würzburg Umschlag: Rudolf Hübler, Berlin
Vorwort zu den Sather Lectures 1964 Als ich vor fast vier Jahren die freundliche Einladung vom Department of Classics at the University of California, Berkeley, erhielt, die 50. Sather Lectures an dieser berühmten Universität zu halten, fühlte ich mich recht verwirrt. Ich hatte mir gerade vorgenommen, keine neuen Verpflichtungen mehr einzugehen. Aber, so dachte ich dann, vielleicht könnte ich ältere Pflichten mit diesen Vorlesungen verknüpfen, und wählte den nicht sehr anziehenden Titel: Szenen aus griechischen Dramen. Vor etwa 30 Jahren faßte ich den Plan, Naucks ,Tragicorum Graecorum Fragmenta* zu erneuern, und wenn mich auch manches andere immer wieder von dieser Hauptaufgabe meines Lebens abgezogen hat, so habe ich die Arbeit daran doch stetig fortgesetzt, und das Sammeln der Fragmente war begleitet von Überlegungen über die Rekonstruktion verlorener griechischer Tragödien. So lag es nahe, einige Gedanken vorzutragen über das eine oder andere verlorene Stück, über das ich gearbeitet hatte. Leider hat Forschung den Drang, ihre eigenen Wege zu gehen, abseits von oder gar entgegen den Absichten dessen, der sie steuern sollte. Als ich mich an Aischylos' Achilleis setzte, war da ein PapyrusFragment, übrigens das längste Stück, das wir aus dieser Trilogie besitzen, das bedeutende Philologen freilich für unecht oder zum mindesten für zweifelhaft erklärten. Mein stärkstes Argument für die Echtheit war ein dort (zum ersten Mal) geäußerter Gedanke, der nah verwandt ist mit Ideen, die Aischylos in seinen erhaltenen Dramen als erster ausspricht. So fand ich mich auf meinem Steckenpferd reiten: dem nachzuspüren, wo wichtige Vorstellungen in der griechischen Dichtung neu auftauchen. Ähnlich ging es, als ich mich an Euripides' ersten Hippolytos machte. Seit langem diskutiert man, ob Senecas Phädra zur Rekon-
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Vorwort zu den Sather Lectures 1964
struktion dieses Dramas hilft. Der letzte Philologe, ein sehr bedeutender, der darüber gehandelt hat, äußert sich skeptisch. Wieder scheint es mir möglich, durch Argumente aus der „Geistesgeschichte" die Frage zu entscheiden. Auch aus anderen Dramen möchte ich methodische Exempla geben und das Allgemeine, die Ideengeschichte, an Einzelheiten demonstrieren. Ich hoffe, daß das, was (um mit Horaz zu reden) eine Amphora sein sollte, kein gemeiner Krug geworden ist, und daß ich etwas von einer erregenden Erfahrung vermitteln kann: mir ist die geschwinde Entwicklung des griechischen Denkens im 5. Jhdt. ein faszinierendes Schauspiel; sie verrät sich in Details, die aufmerksam verfolgt sein wollen. Da diese neuen Gedanken Besitz der westlichen Kultur geworden sind, sehen wir hier uns selbst wachsen. Die beiden letzten Kapitel besprechen ein Satyrspiel, das im Heerlager Alexanders des Großen in Indien aufgeführt ist; sie werden selbst eine Art Satyrspiel sein und zeigen, welche Farce man aus dem machen konnte, was die Griechen der klassischen Zeit gewonnen hatten. *
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Ich danke der University of California für die Einladung, im Oktober und November 1963 die Sather Lectures zu halten, und meinen Kollegen des Classics Department in Berkeley für ihre vielfachen Hilfen. Besonders dankbar bin ich den Professoren Joseph Fontenrose und W. K. Pritchett, die meinen Besuch in Berkeley zu einer der schönsten Erfahrungen meines Lebens gemacht haben. *
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Das erste Kapitel habe ich schon vorher 1963 vorgetragen als Philipp Maurice Deneke Lecture in Lady Margaret Hall, Oxford. Das .Governing Body of Lady Margaret Hall' erlaubte freundlich, die Veröffentlichung bis auf diese Gelegenheit zu verschieben. Berkeley, Februar 1964 B.S.
Vorwort 1969 Dieser deutschen Fassung der Sather Lectures füge ich drei Vorlesungen verwandten Inhalts hinzu, die ich im März 1966 im Institute of Classical Studies in London gehalten habe. Audi den Londoner Freunden danke ich herzlich nicht nur für die Einladung, sondern vor allem für die freundschaftliche Aufnahme und die förderliche Diskussion über viele der von mir behandelten Fragen. Im Frühjahr 1967 habe ich diese Dinge an verschiedenen italienischen Universitäten vorgetragen und dabei ebenfalls verständnisvolle Förderung gefunden. Die deutsdie Bearbeitung hat es weder vermeiden können nodi wollen, daß an manchen Stellen durchschimmert, was sich auf die ursprüngliche Gelegenheit bezieht. Andrerseits habe idi mancherlei geändert — audi erweitert — zum guten Teil nach Anregung und Belehrung durch andere. Es kam dem Buch auch zugute, daß ich es nun — nach Absdiluß der Ausgabe der Tragici Minores — in größerer Muße fertigstellen konnte; außerdem war es eine Erleichterung und, wie idi hoffe, ein Nutzen, daß ich midi in der eigenen Sprache freier bewegen konnte. Die Londoner Vorlesungen beziehen sich ausschließlich auf die „kleinen Tragiker", knüpfen damit an die Agen-Kapitel an, ergänzen audi die Ausgabe der Tragici Minores, die gleichzeitig erscheint.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Sather — Vorlesungen I II
III IV
Achill bei Aisdiylos Leidenschaft und Erkenntnis a. Phaidra im ersten Hippolyt» b. Medea und Phaidra im zweiten Hippolytos Vita activa und Vita contemplativa in Euripides' Antiope Ein einzigartiges Satyrspiel, Pythons „Agen" a. Aufbau, Datierung b. Quellen, Tendenz
1 25 25 51 77 104 104 121
Londoner Vorlesungen V Astydamas' Hektor VI VII
Anhang
Indices
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Agathon, Chairemon
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Ezechiels Moses-Drama
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Der Florentiner Papyrus mit Aisdiylos' Myrmidonen Neophrons Medea
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I.
Achill bei Aischylos
Achill ist für Piaton (Apol. 28 D, Symp. 179 E) ein großer Held, weil er den frühen Tod wählt um des unsterblichen Ruhmes willen; er lebt seitdem im Gedächtnis der Menschen, wie denn Goethe in der Achilleis (v. 515) von ihm sagt: alle Völker verehren Deine treffende Wahl des kurzen rühmlichen Lebens. Wir lesen diesen Achill leicht in Homer hinein, obwohl dieser von der Wahl Achills nicht spricht. Zwar erleben wir in der Ilias mit, wie es immer sicherer wird, daß er jung stirbt; wir hören audi, ihm sei es bestimmt, entweder jung und ruhmvoll zu sterben oder lange und ruhmlos zu leben, aber daß er bewußt, mit eigenem Entschluß, das Edlere gewählt hätte, sagt die Ilias nirgends. Wie das bei Homer im Einzelnen aussieht, wird sich später zeigen. Von einer Entscheidung Achills kann nicht vor dem attischen Drama die Rede sein. Achill, der Größte der Griechen im trojanischen Krieg, hat, wie es scheint, im Mittelpunkt nur einer einzigen antiken Tragödie gestanden, der Achilleus-Trilogie des Aischylos. Daß Aischylos solche Entscheidung Achills über sein Leben dargestellt hat, ist fragwürdig, ergibt sogar Schwierigkeiten. Sicher ist nur, daß Achill bei ihm eine neue Seelen-Dimension gewinnt, die eine echte Entscheidung erst möglich madit, und überhaupt ein stärkeres Bewußtsein von seinem eigenen Handeln erwirbt. Die Achill-Trilogie des Aischylos ist uns nicht erhalten. Einiges daraus kennen wir durch Zitate antiker Autoren, anderes aus den lateinischen Bruchstücken der Myrmidonen und des Achilles von Accius, der das äschyleische Stück offenbar getreulich nachgebildet hat, mehr
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Achill bei Aisdiylos
noch aus Papyrusbruchstücken, die während der letzten 30 Jahre aufgetaucht sind. Vor allem das von Norsa-Vitelli herausgegebene Bruchstück (fr. 225 Mette) 1 ist wichtig: Achill ist aus Zorn darüber, daß Agamemnon ihm die Briséis fortgenommen hat, dem Kampf der Griechen gegen die Trojaner ferngeblieben; seitdem sind die Trojaner siegreich. Der alte Phoinix teilt Achill mit, die Griechen würden ihn steinigen, wenn er nicht in den Kampf zurückkehre. Dieses Motiv der Steinigung hat Aischylos neu eingeführt 2 ; als vergeblicher Versuch, den Achill wieder in den Kampf zu holen, entspricht diese Szene der homerischen Presbeia. In der Uias ist es ein Widerspruch, daß Achill in seinem Zorn verharrt, jedoch den Patroklos in die Schlacht sendet. Für die Handlung ist es notwendig, daß er dem Kampf fernbleibt, die Griechen aber trotzdem Hilfe bekommen. „Gespielt wird mit der Möglichkeit, Achill durch Götterspruch gebunden sein zu lassen (Π 36 f.), aber diese Möglichkeit wird ausdrücklich nicht ausgenutzt (Π 50 f.). Vielmehr charakterisiert Achill selbst sein Verhalten bewußt als Inkonsequenz und Halbheit (Π 60f.). Spater (Σ 450) erwähnt Thetis vor Hephaistos nur kurz referierend, daß Achill den Patroklos in die Schlacht sandte (vgl. dazu Wilamowitz, Ilias und Horn. 173). Hier mußte also Aischylos eine Motivierung neu erfinden, wenn er den Auszug des Patroklos in den Mittelpunkt des ersten Stückes seiner Achill-Trilogie setzte 3 ." Das Motiv der Steinigung dient dazu, es Achill innerlich unmöglich zu machen, wieder an dem Kampf teilzunehmen; er kann sich solchem Druck nicht fügen, wird nur desto verstockter. Auf dem Papyrus entwickelt sich zwischen Achill und seinem Mitunterredner etwa folgendes Gespräch 4 : Daß es wirklich hierher gehört, ist jetzt gesichert, da Bartoletti ein neues Florentiner Stück mit POx. 2163 fr. 11 verbunden hat: Am. Stud, in Pap. 1, 1966, 121 fi.: das fr. 225 ist von der gleichen Hand geschrieben wie die Oxyrhynchos-Stücke der Myrmidonen (fr. 213—218; vgl. Lobel zu POx. 2 1 6 3 ) . — Dazu s. vor allem V. di Benedetto, Maia 19, 1967, 373. 2 Später hat Euripides Iph. Α. 1349 f. es aufgenommen. 3 C.-E. Fritsch, Neue Fragmente des Aischylos und Sophokles, Hamburg 1936, 24. 4 Zum teilweise unsicheren Text s. d. Anhang S. 194. 1
Achill bei Aischylos
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Achill:
[Was nützt es ihnen, daß sie] meinen Leib steinigen werden? Glaube ja nicht, daß der Peleus-Sohn, wenn er von Steinen zerfetzt ist, je von dem Kampf ablassen wird auf dem Trojanischen Feld zugunsten der Trojaner, — von dem waffenlosen Kampf. 5 Jedoch kann das geschehen. Da könntest du diesen Phoinix (?): leichteren Weg finden zu dem, was du meinst, dem Leidens-Arzt für die Menschen (dem Tod). Aus Angst vor den Achaiern soll ich wieder an die Achill: Waffen meine Hand legen, die im Groll [sie gerade losgelassen] hatte wegen des schlechten Feldherrn? [Wohlan!] Wenn ich als Einzelner, wie die Bundesgenossen behaupten, eine so große Niederlage veranlaßt habe, dann mag ich auch alles für das AchaierHeer [verderben] 6 . Ein solches Wort zu sagen hindert mich die Scham nicht. Denn wer kann behaupten, daß solche Anführer und solche Heeres-Kommandos 7 edler seien als ich 8 ? 5
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Phoinix als Sprecher hatte schon Vitelli erwogen. Durch das neue Florentiner Bruchstück hat das an Wahrscheinlichkeit gewonnen, vgl. Di Benedetto a. a. O. (siehe Anmerkung 1). — Β. Döhle, Klio 49, 1967, 121 denkt an Odysseus als Gesprächspartner, wie er es auf attischen Vasen seit dem 2. Jahrzehnt des 5. Jhdts. ist. Döhle bringt diese Vasenbilder mit Aischylos in Verbindung, da sie Achill zeigen, wie er in seinem Zelt sitzt, grübelnd oder trauernd, meist mit verhülltem Haupt. Doch ist möglich, daß diese Zeichnungen nicht direkt auf Aischylos zurückgehen, sondern ζ. B. auf ein Bild, dessen Maler zwar den Achill unter dem Einfluß der JMyrmidonen' gestaltet hat, sonst aber der Ilias gefolgt ist; dafür spricht, daß auf den Vasen mehr Personen auftauchen als Aischylos auftreten lassen konnte. Daß diese aus der Ilias stammen, zeigt Döhle selbst. Bestehen bleiben Döhles Argumente dafür, Aischylos' ,Achilleis' nicht später als in den Anfang der 80er Jahre zu setzen. Der Vorschlag κείροι] μ' v. 11 ist viel kritisiert, gefällt auch mir nicht sonderlich, aber ich habe keinen besseren gesehen, der sich der Größe der Lücke einfügt. Vgl. a. S. 197. Gemeint sind natürlich die Kommandeure, die ταγοί. In der englischen Version dieses Buches ist das, wie Lloyd-Jones anmerkt, nicht richtig herausgekommen. Im weiteren (v. 21 fi.) ist der Gedankengang offenbar: „Agamemnon wirft mir Verrat vor und ich soll schimpflich sterben . . . [In Wahrheit liegt das
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Achill bei Aischylos
Wenn Aischylos zunächst audi nur eine Motivation dafür brauchte, daß Achill nicht wieder in den Kampf zog, so hat er diese doch so gewählt, daß die beiden Parteien, die einander gegenüberstehen, sich grundsätzlich wandeln, daß für jede Seite Motive ins Spiel kommen, die Homer noch nicht kannte, die aber für Aischylos und seine Zeit höchst bedeutsam waren 9 . In Homers Presbeia (Ilias, Buch 9) handelt es sich um Ehre und Ansehen Achills; die Gesandten versuchen auf verschiedene Weise, dem Achill zu zeigen, daß er nichts von seiner Reputation verliert, wenn er unter den Bedingungen, die Agamemnon jetzt bietet, in den Kampf zurückkehrt; er werde dann noch größere Ehre gewinnen (302 fi., 603 lï.). Aischylos rückt anderes in den Mittelpunkt: Wenn die Griechen dem Achill drohen, ihn zu steinigen, beanspruchen sie ein Recht: das Recht, ihn zu strafen. Bei Homer versucht die Gesandtschaft, Achill zu bereden, bietet Geschenke an, damit er von seinem Zorn abläßt, macht ihm klar (245), daß er selbst in Not kommt, wenn die Griechen unterliegen, und bittet ihn, jedenfalls, wenn er schon dem Agamemnon zürnt, Erbarmen zu haben mit den anderen Griechen (301), aber sie beansprucht nicht, juristisch gegen ihn vorzugehen, appelliert nicht einmal an so etwas wie Kameradschaft10. Unglück darin, daß wir] einen unscheinbaren Feldherrn [haben, der] das Heer [schon längst] verdirbt, [was ich schon immer] der Wahrheit entsprechend gesagt habe, [und der auch weiterhin] das Heer zugrunderichten wird." — In v. 30 ist leider nicht klar, wer der „Ankläger" ist. Entweder spricht Achill von sich oder Phoinix von Achill, und gemeint sind die gerade geäußerten Vorwürfe gegen Agamemnon, oder aber es geht auf die Anklage, die Phoinix dem Achill mitgeteilt hat. Dieses habe ich bei den probeweise versuchten Ergänzungen im kritischen Apparat vorausgesetzt. 9 Am gründlichsten hat unser Bruchstück besprochen W. Schadewaldt, Hellas und Hesperien 166—210 ( = Hermes 71, 1936, 25—60); über den Unterschied zwischen Homer und Aischylos dort S. 194—202. 1° Am nächsten kommt Homer an das, was wir Kameradschaft nennen würden, wenn Thetis II. 18, 128 zu Achill sagt, als dieser nach dem Tod des Patroklos nun doch in den Kampf ziehen will: ού κακόν έστι, τειρομένοις έτάροισιν άμυνέμεν αΐπύν δλεθρον. Achill ist entschlossen, Patroklos an Hektor zu rächen und dadurch Ruhm zu gewinnen. Thetis sagt (auf die schwierigen vorhergehenden Verse gehe ich
Achill bei Aisdiylos
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Die Steinigung ist, wie man im deutschen Redit sagt, eine Todesstrafe „zu gesamter Hand". Sie schließt den Verbrecher aus der Gemeinde aus, strenger als Ächtung. Dem zur Steinigung Verurteilten steht es frei zu fliehen, aber auf der Flucht kann er getötet werden. Steinigung ist nicht etwa Lynchjustiz, sie erfolgt βουλή δημοσίη, wie Hipponax (77 D.) sagt, und wird verhängt bei sakralen Verbrechen, bei Tempelschändung usw. Vor allem aber ist Steinigung die Strafe für Deserteure. Audi hier gehört sie ursprünglich zum Sakralrecht, denn Gebet und Opfer vor Krieg und Schlacht sollen nicht nur den Sieg erflehen, sondern auch die Solidarität der Krieger festigen; wer sich einer so befestigten Gemeinschaft entzieht, verfällt der sakralen Strafe. Steinigung gibt es schon bei Homer, aber in ganz anderem Kontext. Wie verschieden Homer und Aisdhylos die Steinigung auffassen, zeigen folgende Stellen: Uias 3,56 sagt Hektor zu Paris: άλλα μόλα Τρώες δειδήμονες· ή τέ κεν ήδη λάϊον εσσο χιτώνα κακών ενεχ1 οσσα εοργας. In Aischylos* Sieben 196 ff. verkündet Eteokles: κεί μή τις αρχής της έμής άκούσεται άνήρ γυνή τε χώτι τών μεταίχμιον, ψήφος κατ' αυτών όλεΰρία βουλήσεται λευστήρα δήμου δ' οΰτι μή φύγη μόρον. nicht ein): „Es ist kein Schlechtes, den bedrängten Gefährten den Tod abzuwehren", d. h. „man kann dir keinen Vorwurf daraus machen, daß du den Gefährten hilfst." Wie in ähnlichen Fällen erscheint hier bei Homer ein Gutes nur negativ als ein Nicht-Schlechtes: es ist nichts dagegen zu sagen, wenn man das Konventionell-Erwartete, das gar nicht als Wert bezeichnet zu sein braucht, tut. Vor allem aber ist hier nicht das Einstehen füreinander als solches eine moralische Verpflichtung, sondern die objektive Aufgabe, „einander den Tod abzuwehren", wie denn etwa Achill an einer anderen Stelle bitter-ironisch sagt, er hätte immer, wie ein Vogel seinen unflüggen Jungen Atzung bringt, sich Tag und Nacht gemüht und wacker gekämpft, sei der Krieg auch nur um Weiber gegangen. (II. 9, 323 ff.) H Rud. Hirzel, Die Strafe der Steinigung, Abh. Ak. Lpz. 1909, 225 ff. K. Latte, RE. s. ν. Steinigung. Schadewaldt a. a. O. 171 f.
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Achill bei Aischylos
Eteokles weiß sich als verantwortlicher Feldherr, der den, der nicht gehorcht, zur rechtlichen Strafe zieht. Hektor dagegen meint, Paris habe sich, da er durch den Raub der Helena den Krieg der Griechen gegen Troja anzettelte und seine Stadt in Gefahr brachte, außerhalb der Gemeinschaft gestellt und Steinigung verdient, aber „die gesamte Hand" versagt, „die Trojer sind zu feige, sonst würden sie dich unter Steinen begraben12 für das, was du getan hast". Sowohl das Faktische wie das juristische Verfahren ist bei Homer anders als bei Aischylos. Zweifellos ist, was Paris getan hat, ein Verbrechen, zweifellos hat er die Sicherheit der Stadt derart aufs Spiel gesetzt, daß der Staat eingreifen müßte. Aber solch ein Staat, solch eine funktionierende Rechtsordnung ist offenbar nicht da. Hektor sagt: die Trojer sind δειδήμονες, ängstlich. Die „gesamte Hand" tritt nicht in Aktion, weil man sich scheut, gegen einen Prinzen vorzugehen, — und Hektor selbst hat nicht eingegriffen, obwohl er das nach seinen späteren Worten (22, 113 ff., s. u. S. 149 f.) hätte tun können. Eteokles dagegen droht mit Steinigimg nicht für den Fall, daß jemand ein Verbrechen begehe und damit den Staat schädige, sondern lediglich für Insubordination. Er verlangt Gehorsam für den Staat. Solcher Staat entwickelt sich erst nach Homer; naturgemäß macht er sich vor allem in Zeiten des Kriegs geltend, — wie bei Eteokles so in der Achill-Szene des Aischylos. Jemand — wir wissen nicht wer, etwa Agamemnon oder der Rat der Könige — beansprucht, Forderungen an den Einzelnen zu stellen und den, der ihnen nicht nachkommt, als unbotmäßig zu strafen; das ist „Verrat", und Verrat verdient Steinigung 13 . Schon der Chor der Myrmidonen, also Achilles' eigene Gefolgschaft, wirft ihm Verrat vor: Jedenfalls behauptet ein antiker Lexikograph u , „am Anfang des Stückes", d. h. in den Anapästen, mit denen 12 Zu der Wendung „das Stein-Hemd anziehen" vgl. Alk. 24 A 17 = 129 L.-P. αλλ η θάνοντες γάν έπιέμμενοι πείσεσθ' im' ανδρών . . S i m . 67, 4 von dem Schnee, den man „beerdigt", damit er lebendig bleibt: ζωή Πιερίην γήν έπιεσσαμένη. Weiteres bei E. Fraenkel zu Aisdi. Ag. 872 (auch Aisch. epigr. 2, 4 D.). υ z. B. Aristoph. Adi. 281 βάλλε τόν προδότην (sc. Dikaiopolis). Weiteres bei Sdiadewaldt 172. 14 Fragment 212A M.
Achill bei Aischylos
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er auftritt, hätte der Chor der Myrmidonen das Wort προπίνειν in der Bedeutung „verraten" gegen Achill gebraucht15. In einem weiteren Fragment 16 , das bald auf dies erste gefolgt sein kann, heißt es — und die Worte sind offenbar auch an Achill gerichtet: „damit du das Hellenen-Heer nicht verrätst", und in dem Dialog mit Phoinix sagt Adiill v. 20: er warf mir Verrat vor, προδοσίαν ενειμ' έμοί17. Da sonst anscheinend kein antiker Autor Achills Fernbleiben vom Kampf Verrat nennt, fällt es besonders auf, wie sehr Aischylos dies betont. Ich frage hier nicht, wieweit diese Rechtskonstruktion, Insubordination sei Verrat und solcher Verrat verdiene Steinigung, den realen Rechtsverhältnissen, sei es der Frühzeit, sei es der Zeit des Aischylos, entsprach. Falls Aischylos hier alte Motive benutzt, verwendet er sie, um Modernes darstellbar und plausibel zu machen: daß der Staat eine objektiv gültige, strenge Ordnung setzt, daß er das Recht hat, Bürgerpflichten zu fordern. Es ist nicht deutlich, welche Argumente Achill diesem staatlichen Anspruch auf Gehorsam entgegenstellt. In dem, was kenntlich ist, bestreitet er das Recht nicht grundsätzlich, noch erkennt er es grundsätzlich an, — beides würde ihn wohl audi dem homerischen Achill zu sehr entfremden, der von solchem Recht nodi nichts weiß; so mag Aischylos weislich darauf verzichten, ihn davon reden zu lassen. Dagegen steigert er Homer gegenüber den Anspruch, den Achill als tüchtigster der Griechen stellt. Er nennt sich ευγενέστερος (ν. 13) als die übrigen Fürsten, was er zweifellos ist, weil allein er eine Göttin 15
SchoL Pind. O. 7, 5 (1, 200, 11 Dr.) προπίνειν έστί κυρίως τό δμα τφ χράματι τό άγγεΐον χαρίζεσθαι. Womöglich ist es also Symposion-Jargon, προπίνειν für προδιδόναι zu sagen; vgl. die vom Sdioliasten zitierten Stellen Anakr. 407 Page und Demosth. 18, 296. Zum mindesten mußte also der, der diesen Vers zitierte, wissen, daß man Achill Verräter nannte. 16 fr. 221, 5 M. — Dazu kommt aus Accius' Achilles fr. 1 qua re alia ex crimine inimkorum eflugere possis, delica, „erkläre, wie du sonst dem Vorwurf (der Beschuldigung) der Feinde entgehen kannst." Ribbeck hat schon 1873 geschlossen, daß man Achill Verrat vorwarf; das bestätigt sich. — Lloyd-Jones, Gnomon 38, 1966, 13 behauptet, idi schlösse auf den „Verrat" nur aus der Steinigung; die 4 Stellen, die ausdrücklich von Verrat sprechen, läßt er beiseite. 17 Zum Text s. u. S. 196.
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Achill bei Aischylos
zur Mutter hat, — während Homers Achill nicht in dieser Weise darauf pocht, daß ihm mehr Ehre zukommt 18 . Aber auch seine kriegerische Tätigkeit rückt Achill ganz anders als bei Homer in den Vordergrund, so sehr, daß er, wie es scheint, seiner Person soviel Gewicht beimlßt wie alle den anderen zusammen, die den Anspruch erheben, das Gemeinwesen zu sein 19 . Aber all diese homerischen Motive von Ehre und Groll, von Stolz und Beleidigtsein würden selbst in dieser Steigerung den absoluten Anspruch des Rechts nicht aufwiegen, den die Griechen gegen ihn erheben. Vor allem ein Satz kennzeichnet den aischyleischen Achill: τοϊον] δ' άφεΐναι τοΰπος ουκ αιδώς μ' εχει (ν. 12). Das bezieht sich wohl — sicher ist es nicht — darauf, daß er bereit ist, das ganze Griechenheer zugrunde zu richten 50 . E r weiß, daß er, indem er dies offen ausspricht, die αΙδώς, die Scham mißachtet, aber in seiner EmWie schon Sdiadewaldt (177) hervorhebt. W Ob Achill hier auf seine Tapferkeit gegenüber Kyknos hingewiesen hat, ist zweifelhaft, s. u. S. 197 des Anhangs. 20 s. Anhang S. 197. Die andere Möglichkeit wäre, daß Achill sagt: idi schäme mich nicht zu sagen, daß ich allein soviel wert bin wie all die anderen Griechenfürsten. — Lloyd-Jones, Gnomon 38, 1966, 14 meint, Achill sage hier nicht mehr als Agamemnon Κ 237 f. zu Diomedes, als er ihn ermuntert, sich für seinen Gang nach Troja den besten Gefährten auszusuchen. „Schäme dich nicht, den besseren, (d. h. angeseheneren, — er meint Menelaos) zurückzulassen, nimm getrost den Geringeren mit (nämlich Odysseus) und laß dich nicht von der Aidos beeinflussen, indem du auf die Abstammung siehst, — auch nicht, wenn er königlicher ist." Es ist aber ein Unterschied, ob jemand sagt: „Lege getrost deine Aidos ab" oder ob Achill von sich selbst spricht: „Mich hält die Aidos nicht zurück." Damit setzt er persönlich die eigene Reputation aufs Spiel. — Im Übrigen ließe sich darüber diskutieren, ob Achill sagt, er könne das Heer ins Verderben bringen, oder er sei für das Heer Ein und Alles, — das hängt davon ab, ob man Ergänzungen beibringen kann, die genau in die Lücken passen. Aber das Wichtige ist bei beiden Ergänzungsversuchen gleich, daß er (ganz anders als bei Homer) sagt: Mir ist gleichgültig, was andere von mir sagen. — Anne Pippin Burnett, Gass. Philol, 62, 1967, 289 meint, diese Verse ließen sich auch so ergänzen, daß Achill sagt: „Aidos keeps a man from boasting beyond measure, but it does not keep me from saying this (that the fate of the army depends upon me), for mine is no immoderate boast. I am as well-born as any and have shown my valor in the following ways, etc." Das wird dann ein recht braver Achill, ob aber auch ein aisdiyleisdier? einer, dem gerade die Steinigung angedroht ist? Außerdem wüßte man gern, wie ein entsprechender Text auf dem Papyrus herzustellen ist. 18
Achill bei Aischylos
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pörung meint er sich dazu berechtigt. Ob er damit objektiv recht hat oder ob etwas von Hybris darin steckt, ist eine weitere Frage, auf die ich noch zurückkomme: Nur Hybris, nur Verblendung ist es offenbar nicht21. Der erste in Griechenland, der bewußt die αιδώς und die gesellschaftlichen Konventionen verletzt und nicht ohne Stolz davon spricht, ist Archilochos, der in der Schlacht, was als Schande galt, seinen Schild verlor. Aber der Unterschied zwischen Archilochos und dem aischyleischen Achill ist groß: Archilochos hat in einer Notlage etwas getan, von dem die anderen meinen, es sei schmählich; er zeigt aber, daß es nützlich und richtig war, — er hat sein Leben gerettet 22 . Der aischyleische Achill dagegen wirft Scham und Anstand über Bord, weil er durchsetzen will, was er für gerecht hält — gegen das Unrecht der anderen. Wenn einer der alten Lyriker übliche Meinungen durchbricht, entlarvt er etwas Anerkanntes als töricht oder unwesentlich. Das Urteil über die Konvention ist Spott und Verachtung: Tut meinetwegen, was ihr wollt, — ich weiß Besseres. Achills Widerspruch ist radikaler: Im scharfen Entweder-Oder von Recht und Unrecht geht es um Prinzipien, die nichts anderes neben sich dulden. „Ich schäme mich nicht. . heißt: es ist mir gleich, was ihr davon denkt, ich stehe zu meiner Tat, zu meinen Uberzeugungen und werde sie gegen euren Widerstand durchsetzen. Fern von dem Achill-Wort ist audi, was bei Sappho (fr. 137 L.-P.) jemand sagt (es ist Alkaios nach Aristoteles): ·9έλω τί τ5 εϊπην, άλλά με κωλύει αϊδως, worauf Sappho antwortet, dann wären die Worte nicht auf ein Edles und Schönes aus. Auch hier wird die Scham durchbrochen: das Wort „Scham hindert mich zu sprechen", gesteht Man muß in solchen Fällen das Risiko einer Ergänzung ,exempli gratia' auf sich nehmen. 21 Selbst wenn es reine Hybris -wäre (ohne Überzeugung vom eigenen Recht) wie ζ. B. in den gleich zu besprechenden Worten Klytaimestras, müßte man anerkennen, daß solche Hybris nicht existieren kann ohne den persönlichen Anspruch auf Recht. 22 Fr. 6 Diehl. Der richtige Text ist zweifellos: έξέφυγον θανάτου τέλος, was jetzt J. Tarditi (fr. 8) gotdob aufgenommen hat. — Archilochos zeigt sich auch sonst um die Nachrede unbekümmert: fr. 9 u. 40A.
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Achill bei Aischylos
Liebe, erkennt zugleich aber die αιδώς an. Dies graziöse Spiel, dieser kleine Versuch, die Konvention zu durchbrechen, ist fern von dem herausfordernden Selbstbewußtsein Achills. Der Satz: „Ich schäme midi nicht . . hat einen Klang, wie er vor Aischylos nicht vorkommt, bei ihm aber öfter. Als Klytaimestra erfährt, daß Troja gefallen ist und Agamemnon heimkehrt, befiehlt sie dem Herold (Ag. 587 ff.), Agamemnon zu melden, sie hätte treu sein Haus gehalten, an keinem anderen Mann Freude gehabt (was natürlich gelogen ist) und ihre Reputation gewahrt. „So rühme ich mich in voller Wahrheit, und solches Rühmen ist nicht schändlich für eine edle Frau. (613 f. ουκ αισχρός ώς γυναικί γενναίοι λακείν). Eigentlich verbietet es die Scham, sich derart zu rühmen — sich gerade solcher Dinge zu rühmen — aber als edle Frau und weil es die Wahrheit ist, durchbreche ich die α ' ι δ ώ ς 2 3 D a s ist, wie gesagt, Schwindel, um Agamemnon in die Falle zu locken, doch hat sie auch manches gegen Agamemnon vorzubringen, was diesen belastet. Darauf komme ich noch in der nächsten Vorlesung zurück, wenn ich von Phaidras Schuld bei Euripides spreche. Jedenfalls kann bei Aischylos ein selbstbewußter Mensch so die Wahrheit gegen die Konvention ausspielen, während der zitierte Sappho-Vers: „mich hindert die Scham" nicht provozierend auftrumpft. Klytaimestra spricht noch öfter so. Als Agamemnon aufgetreten ist, sagt sie zum Chor (v. 855): „Ihr Bürger . . . ich werde mich nicht schämen, von meiner Gatten-Liebe zu sprechen (ουκ αίσχυνοΰμαι)", — auch das ist wieder Verstellung. Aber im grausamsten Ernst sagt sie (v. 1372 f.), als sie Agamemnon ermordet hat (und hier handelt es sich wie bei Achill um eine ,Tat'): „Von all dem, was ich vorher der Situation zuliebe geredet habe, scheue ich mich nicht, das Gegenteil zu sagen (ουκ έπαισχυνθήσομαι), denn wie konnte ich sonst mein Ziel erreichen . . . Jetzt habe ich erreicht, was ich wollte, und ich werde dies nicht ableugnen (και τάδ' ουκ άρνήσομαι)." Sie bekennt sich zu ihrer Tat. Achill läßt die Scham beiseite, um etwas zu sagen, wozu er ein Recht zu haben glaubt; Klytaimestra proklamiert ihr Verbrechen. 23 Vgl. Denniston-Page z. St.
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Später freilich sagt sie zum Chor (1497): „Du bist sicher, daß dies meine eigene Tat ist . . ., aber in der Gestalt von dieses Toten Weib nimmt der alte Unheils-Geist Rache für die Missetat des grausamen Atreus." Damit kehrt Klytaimestra in gewisser Weise zurück zur alten mythologischen Motivation menschlichen Handelns 24 . Aber nun ist das Wissen darum nicht mehr naiv-ursprünglich, sondern eine Einsicht, die sie gewinnt, da ihr Selbstvertrauen zusammenbricht. Was sie als ihr Recht ausgegeben hat, erweist sich als Hybris; der doppelte Aspekt der neuen Auffassung vom eigenen Handeln tritt zutage: Das neue Bewußtsein von Gerechtigkeit und Dike kann fehlgehen, kann einen Menschen desto grausamer der Ate, dem Alastor, den Dämonen ausliefern. Das Gemeinsame in den Worten Achills und der noch stolzen Klytaimestra ist — und vor Aischylos gibt es das nicht —, daß jemand für Wort und Tat als für etwas Eigenes eintritt. Bei Homer rühmt sich oft ein Held seiner eigenen Tat; das SichRühmen (ευχεσΰαι) gehört sich sogar, wenn etwa ein Krieger seinen Gegner erschlagen hat. Aber das homerische εΰχεσΦαι bedeutet „feierlich erklären, gleichsam mit geschwellter Brust sprechen", je nach der Situation kann es „beten", „geloben", „sich rühmen" sein 25 . Es mag eitles Prahlen meinen, kann an Hybris grenzen, aber der moralische Makel ist dann lediglich, daß das Rühmen über das gestattete Maß hinausgeht. Seine Quantität macht es zur Hybris. Wenn ein Gott dem Helden κϋδος verliehen hat, Überlegenheit und Erhebung, ist es sein Recht, fast seine Pflicht, die Tat zu verkünden und Ansehen, Ehre, Respekt zu gewinnen. Achill und Klytaimestra schlagen gerade umgekehrt ihre Reputation in den Wind. Die Beteuerungsformel Klytaimestras: ουκ άρνήσομαι braucht auch Prometheus, der die Verantwortung dafür übernimmt, zugunsten der Menschen das Feuer gestohlen zu haben: εκών εκών ημαρτον, ουκ άρνήσομαι, „freiwillig, freiwillig habe ich gefehlt, ich werde es nicht 24 Vgl. A. Lesky, S Ber Heidelb. phiL-hist Kl. 1961, 4 S. 52. 25 J. Latacz, Gnomon 41, 1969, 253 versucht den Umfang des Wortes an dem deutschen „angeben" zu illustrieren. Dort audi weitere Literatur.
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leugnen" (v. 266). Auch er sagt stolz, was zu sagen eigentlich die Scham verbietet 26 . Die eigene Tat, zu der Prometheus sich bekennt, ist moralisch vertretbar, freilich ist audi sie nicht frei von Hybris. Die der Klytaimestra ist nicht vertretbar; die des Achill ist problematisch, wir werden noch sehen, inwiefern. Aber jede einzelne dieser drei Figuren — das ist das Neue — ruft uns dazu auf, zu fragen und zu grübeln, was Recht und was Unrecht, was Verantwortung und was Hybris ist. Die Rechnung geht nicht mehr so glatt auf wie früher. Daß Recht absolut und uneingeschränkt gelten müsse, hat für Aischylos zwei Seiten: der Staat fordert, daß seine Rechtsordnung unbedingt herrscht; der Mensch gewinnt das Bewußtsein, daß er, wenn das Recht auf seiner Seite ist, unbedingt dafür einzutreten hat. Im Namen seines Rechts kann und muß er gegen das geltende Recht revoltieren. Positives Recht und Naturrecht, wie man später unterschied, entwickeln sich miteinander und aneinander. Der Satz: „Ich schäme mich nicht, zu tun oder zu sagen, was ich für Recht halte", spricht besonders prägnant den Gegensatz aus zwischen einer ursprünglichen shame-culture und einer entwickelten guilt-culture, einen Gegensatz, den amerikanische Ethnologen herausgearbeitet und den E. R. Dodds in seinen Sather Lectures auf das alte Griechentum angewandt hat 27 , y> Vgl. Philol. Suppl. 20,1 S. 97 f. — Weniger stolz sagt Orest Eum. 588 τούτου δ'οΰτις δρνησις πέλει und 611 δράσαι γάρ, ώσπερ ϊστιν, οΰκ άρνοΰμεΟα, aber dodi mit dem gleichen Bewußtsein, daß es sidi um seine eigene Tat handelt. — Wenn Ardiilodios 73 D. sagt: ήμβλακον καί πού τιν' άλλον ήδ" δτη κιχήσατο, sagt er deutlich, daß das nidit „sein" Fehler war, sondern der der Ate, — dergleichen gibt es auch bei Homer. 27 E. R. Dodds, The Greeks and the Irrational 1951, vor allem Kap. 2. Er zitiert S. 26, Anm. 10 Ruth Benedict, The Chrysanthemum and the Sword, die (zumal auf S. 222 ff.) diese Begriffe benutzt, um den Unterschied zwischen japanischer und puritanisch-amerikanischer Moral herauszuarbeiten. — In einem wichtigen Beitrag hierzu meint A. W. H. Adkins (J Η St. 89, 1969,18), für Homer sei jeweils das .Ergebnis' von Regungen und Handlungen wichtig; deswegen schlägt er vor, nicht von ,shame-culture' sondern von .resultsculture' zu spredien, wobei freilich die zuständige moralische Instanz unbenannt bleibt, so daß man auch an einen handfesten Nutzen denken könnte, — vgl. etwa Theod. Storm:
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denn der Satz meint: „Ich gebe meine Reputation preis und halte mich an das Recht, an mein Recht. Shame-culture bedeutet, zum mindesten bei den Griechen, strenge Ordnung der Werte, religiöse Bindung; da bleibt kein Raum für Freiheit der Entscheidung. Solch neues Bewußtsein vom Recht hat sich in Griechenland allmählich entwickelt; auf die Vorstufen für das, was wir bei Aischylos hören (etwa bei Hesiod), gehe ich jetzt nicht ein, berühre nur zwei Punkte, die den aischyleischen Achill angehen. Archilochos verflucht in der Straßburger Epode (fr. 79 D.) jemanden, der ihm durch Eid in Freundschaft verbunden war, ihn aber verraten hat; er schließt das Gedicht mit den Worten: „Der mir Unrecht tat, mit Füßen trat den Eid, — und war ehedem mein Freund", δς μ' ήδίκησε, λάξ δ' έπ' όρκίοισ' εβη τό πριν εταίρος εών. Archilochos reagiert gegen ein erfahrenes Unrecht nicht weniger leidenschaftlich als der aischyleische Achill, aber Achill sucht das erlittene Unrecht durch eigenes Handeln, nicht nur durch die Schelte, oder auch nicht, wie Hesiod es tut, durch die Paränese zurechtzurücken: er glaubt sich berechtigt und verpflichtet, sein Recht praktisch durchzusetzen. Schon Archilochos tut einen Schritt von der shame-culture zur guilt-culture, da er, wie man mit recht gesagt hat 28 , vom verletzten Recht spricht, ος μ' ήδίκησε, Homers Achill aber, der seiner Mutter Thetis klagt, wie Agamemnon ihn behandelt hat, von der gekränkten Ehre (A 355 ή γάρ μ' Άτρεΐδης . . . ήτίμησεν). Archilochos, wie bald nach ihm auch Alkaios, empfindet das Unrecht des eidbrüchigen Freundes aber eher als Bruch persönlichen Vertrauens; von einem Konflikt zweier widerstreitender Rechtsansprüche spürt man noch nichts. Bei Solon, dem Attiker, tritt dann sowohl die absolute Geltung der objekDer eine fragt: Was kommt danach? Der andere fragt nur: Ist es recht? Und also unterscheidet sich Der Freie von dem Knecht. Zur weiteren Entwicklung der Vorstellungen von Aidos s. B. Witte, Die Wissenschaft vom Guten und Bösen 1970, 33 ff. 28 H. Gundert, Das Neue Bild der Antike 1, 137, 2.
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tiven Rechtsordnung wie die Unbedingtheit des persönlichen Rechtsbewußtseins als Grundlage des Staates deutlicher hervor als bei irgendjemandem sonst vor Aischylos29, aber sein unersdiiitterter Glaube an Zeus als den Garanten des Rechts läßt .tragische' Problematik noch nicht aufkommen. Er betet nodi unbefangen, daß die Götter ihm Reichtum und Ansehen geben und ihn zur Freude den Freunden und zum Schaden den Feinden leben lassen30, — „ich sehne mich danach, Geld zu haben, aber auf Unrechte Weise möchte ich es nicht erwerben" (1, 1 ff.). Archilochos, Alkaios, Solon werden empfindlicher gegen das Unrecht, bei Aischylos geht es um das Recht. Die archaische Vorstellung, daß der Mensch seinen Wert in der Achtung der anderen gewinnt, daß er sich bewährt, wenn er den Freunden nützt und den Feinden schadet, wird seit Aischylos schal, lebt aber weiter. Die neue Spannung zwischen dem Rechtsanspruch des Staats und dem Rechtsbewußtsein des Einzelnen ist bitterer, unversöhnlicher: Achill und die Griechen können bei Aischylos so schwer zusammenkommen wie später bei Sophokles Antigone und Kreon. Homerische Helden verhandeln leichter über Anspruch auf Ehre und deren Gewährung; wenn die „zukommende Portion" auf dem Spiel steht, kann man versuchen, durch Überreden einen Ausgleich zu schaffen. Rechtsansprüche treten härter auf. Achills Anspruch, sein Eigenes zu behaupten, greift bei Aischylos noch über die Sphäre des Rechts hinaus. Größe und Gefahr dieses neuen Selbstbewußtseins zeigt Aischylos auch am Schmerz Achills, nachdem Patroklos in den Kampf gezogen und gefallen ist 31 . Homer beschreibt II. 18, 22 ff. den trauernden Achill und sein Gefolge in Gesten und in rituellen Klagezeremonien: er bestreut sein Haupt mit Staub, wirft sich zu Boden, rauft die Haare. Die Dienerinnen schreien laut, schlagen sich die Brüste und werden ohnmächtig; Antilochos weint und hält dem Achill die Hände aus Furcht, er könne sich mit dem Eisen die Kehle zerschneiden. „Leid" wird nur be» Vgl. Dichtung und Gesellschaft 90. 30 Vgl. A. Dihle, Die goldene Regel 32 f. 31 Schadewaldt 198 ff. hat das eindrucksvoll ausgeführt. Ich wiederhole das
nidit, versuche nur, es in Einzelheiten zu ergänzen und zu präzisieren.
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schrieben, aber nicht von den Betroffenen geäußert: eine schwarze Wolke des Leids umhüllte Achill (v. 22), die Mägde sind in ihrem Thymós voll Leid (άκαχημένοι), ferner bejammert Achill den Freund (όδύρετο), seufzt in seinem Herzen (εστενε κυδάλιμον κήρ) und schluchzt fürchterlich (σμερδαλέον ωμωξεν). Ins Übermenschliche steigert Homer die Klage in der folgenden Szene (35 f.): Achilleus' Mutter, die unsterbliche Thetis hört auf dem Meeresgrund, wo sie bei ihrem greisen Vater Nereus sitzt, was geschieht. Da erhebt sie den Weheschrei, und alle Göttinnen der Meerestiefe, die Nereiden, umringen sie. Es folgt eine lange Reihe ihrer wohlklingenden Namen, der sogenannte Nereiden-Katalog, und von ihnen heißt es, daß sie alle zugleich sich die Brüste schlagen32. Die übliche Klage der Frauen, die zunächst die Dienerinnen vollziehen (wir kennen sie von den Dipylon-Vasen), erhebt sich also in den göttlichen Bereich, wird groß, weit, erhaben. Aber nicht nur dies. Die NereïdenNamen: Dunkelblau, Inselmaid, Grottennymphe, Klippenjungfer, Wellenhüpf und Wellenfang geben ein freundliches Bild des Meeres, wie es sich vor dem Auge ausbreitet 33 ; so klärt sich der Jammer, nun kann Thetis in ruhigeren Worten von dem gegenwärtigen und dem nodi bevorstehenden Leid sprechen. Anders bei Aischylos: Achill sitzt im stummen Schmerz lange auf der Bühne. Sein Affekt entlädt sich nicht in der überkommenen Form; in schweigendem Brüten versinkt er gleichsam in ein sich neu öffnendes Inneres, das im Verstummen desto eindrücklicher spricht; so hat Aischylos es auch in der Niobe dargestellt34. 32 Uber die Bedeutung des Nereiden-Katalogs in diesem Zusammenhang s. Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk 21944, 249. 33 Glauke, Neraia, Galateia, Aktaia, Kymodoke, Kymothoe; vgl. Entd. d. Geistes 31955, 68 f. 34 Man vergleiche demgegenüber, wie in der Ilias 17, 695 Antilochos bei der Nachricht vom Tod des Patroklos verstummt: δήν δέ μιν άμφασ'ιη έπέων λάβε, τώ δέ ol cicce δακρυόφιν πλήοθεν, θαλερή δέ οί εοχετο φωνή. Dasselbe Motiv kehrt audi Od. 4, 705 und 19, 472 wieder. — Den schweigenden Achill versuchen zunächst seine Gefährten, die Myrmidonen, 2x1 bereden, den Griechen wieder im Kampf zu helfen (fr. 213 M.), was, wie schon Welcker gesehen hat (Aesch. TriL 416; s. audi B. Döhle, Klio 49, 1967, 80) auf II. 16,
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Nachdem, wie der neue Papyrus (s. o. S. 3, 5) lehrt, der alte Phoinix Achill zum Reden gebracht hat, folgte ein Gespräch Achills mit einem der Gefährten, aus dem uns Plutarch zwei Verse erhalten hat. R. Merkelbach hat gezeigt 35 , daß nicht, wie man bisher annahm, Achill diese Worte sprach; der Kontext bei Plutarch fordert, sie einem Freund zuzuweisen: es ist eine besonders raffinierte Schmeichelei, wenn man den Liebenden nicht seiner Leidenschaft wegen lobt, sondern umgekehrt, wenn man dem Liebenden sagt, er hätte viel Liebloses und Hartes getan, das man ihm übelnehmen könnte. Der Gefährte sagt zu Achill: „Du hast die keusche Weihe der Schenkel nicht in Ehren gehalten, du, für die dichten Küsse Undankbarer" (fr. 228 M.), und dazu gehört offenbar ein weiteres Fragment: „. . . das [Zusammenwohnen] dort und die fromme Vereinigung der Schenkel" (fr. 229 M.), σέβας δέ μηρών άγνόν ουκ έπηδέσω, ώ δυσχάριστε των πυκνών φιλημάτων * * ή ξυναυ]λία δ' έκ[ει μηρών τε τών σών ευσεβής ομιλία. Der Freund bestärkt Achill in der Trauer um den toten Patroklos und in der Liebe zu ihm, indem er ihn lieblos und undankbar schilt: er hat den Geliebten in den Kampf und den Tod geschickt. Wir wissen nicht, wie der alte Phoinix bei Aischylos dem schweigenden Achill zugeredet hat, — dieser Gefährte sprach gewiß im schroffen Gegensatz zu ihm; zweifellos machte er Achill vollends bewußt, daß er Schuld war am Tod des Freundes 16 . Wie im ersten Stüde der Trilogie (durch 200—207 zurückgeht, wo Achill den ausziehenden Myrmidonen sagt, sie hätten ihm vorgeworfen, daß er sie wegen seines Grolls vom Kampf abhielte. — Dann müssen Talthybios und Eurybates (dieser als stumme Person) aufgetreten sein (vgl. Döhle a. a. O. 82; Di Benedetto, Maia 19, 1967, 375) und Achill den Befehl übermittelt haben, daß er in den Kampf zurückkehren müsse. Die weitere Steigerung war offenbar, das Phoinix ihm die Strafe der Steinigimg ankündigte. 35 RhMus. 112, 1969, 109. 3 6 So mit Redit Merkelbach, der auf Ilias Σ 82 verweist, den Keim dieser Erfindung: Achill sagt, er hätte den Tod des Patroklos herbeigeführt (τόν απώλεσα); darüber s. u. S. 17 f.
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das Motiv der Steinigung) erhöht Aischylos also auch hier das Verantwortungsbewußtsein Achills. Die Gefühle Achills -werden bei Aischylos persönlichere Gefühle. Wenn wir nadi den Ausführungen Merkelbachs nun die von Plutarch zitierten Verse nicht mehr als Selbstdarstellung Achills nehmen dürfen, können sie den von Plu tardi angegebenen Zweck doch nur erfüllen, wenn sie Achills Liebe widerspiegeln. Als besondere Schönheit stellt sich jetzt heraus, daß sie diese ohne Rücksicht auf dezente Konventionen beschreiben, daß Achill sich aber nicht selbst so schonungslos äußert. Wenn der Gefährte in dem ersten Satz Achill vorwirft, die αίδώ;, die Rücksicht auf den frommen Bund verletzt zu haben und undankbar für die vielen Küsse zu sein, zielt das auf etwas viel Persönlicheres, als wenn Ardiilodios oder Alkaios sich über den Bruch eines Eides erbittern, weil ein Freund zum Feind geworden ist. Das persönliche Glück freundschaftlichen Zusammenseins ist über die alten Freund-Vorstellungen, füreinander zum Nutzen, aber den Feinden zum Schaden zusammenzuleben, hinausgewachsen. Das weist schon voraus auf Fragen, die Euripides' Alkestis, Medea und Phaidra aufwerfen. Und wenn solche Gemeinschaft .heilig' und ,fromm' heißt, so entfernt sich das weit von den alten rituellen Vorstellungen: es ist keine konventionelle Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist. Daß Achill zum eigenen Wort und zur eigenen Tat steht, äußert er durch das Gleichnis vom Adler, der dem Pfeil, der ihn tötet, die eigene Feder geliehen hat (fr. 231 M.). Auch Homers Achill weiß, daß er den Patroldos in den Tod gesandt hat, weiß es aber nur auf die unverpflichtende Art, wie auch sonst Menschen bei Homer von ihrer Schuld wissen, ohne Verantwortung, ohne die volle Überzeugung, wirklich selbst etwas getan zu haben. Achill sagt zu Thetis (IL 18, 79 ff.): „Den Wunsch (daß die Griechen zurückgeschlagen werden) hat mir ja Zeus erfüllt; aber welche Freude habe ich daran? Denn mein lieber Gefährte, den ich mehr als alle anderen ehrte (nota: τΐον) ist gefallen. Ich habe ihn ins Verderben gebracht (άπώλεσα), die Waffen aber hat Hektor . . . Jetzt fordert mich mein Thymós nicht auf zu leben und unter Menschen zu sein, ehe nicht Hektor mit dem Tode
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gebüßt hat." Achill sagt: „Ich habe ihn ins Verderben gebracht", aber nicht eigentlich mit dem Bewußtsein persönlicher Schuld, sondern resignierend, denn als er weiter dem nachdenkt, wie alles gekommen ist, verflucht er den Zorn (χόλος), der auch einen Verständigen wütend werden läßt, — „so wie mich Agamemnon in Zorn gebracht hat. Aber was vorher geschehen ist, wollen wir lassen, wenn auch betrübt, den Thymós bezwingend, notgedrungen" (v. 1 1 1 — 1 1 3 ) . Obgleich er nicht, wie etwa Agamemnon 19, 8 6 fl., sagt: „Ich bin nicht schuldig, sondern Zeus und Moira und Erinys" 37 , ist doch audi für ihn, trotz des „ich habe ihn ins Verderben gebracht", nicht eigentlich er selbst schuld, sondern ein Affekt, der über ihn gekommen ist. Damit findet er sich ab. Nicht aber findet er sich in das, was Hektor ihm angetan hat, an ihm muß er sich rächen. Aischylos' Achill, der alle Rücksicht auf die Meinung anderer in den Wind schlägt, der alles auf eigene Verantwortung nimmt, kann, nachdem das Schlimme geschehen ist, so nicht mehr sprechen. E r hat selbst den Freund in den Tod geschickt und sidi selbst damit zutiefst getroffen. „Antilochos, beklage mich mehr als den Toten, midi den Lebenden, denn das Meine ist dahin" (fr. 227 M.). „Nicht von fremden, nein, von den eigenen Flügeln werden wir erwischt" (fr. 231 M), besagt die Fabel vom Adler. Schon nach dem Unrecht, das Agamemnon ihm zufügte, hatte er offenbar vom „Tod als Arzt der Leiden" gesprochen (fr. 2 2 5 , 6 M.). Mit vollem Wissen um seinen frühen Tod, ja, mit dem Willen zu sterben, muß er in seinen letzten Kampf gezogen sein 3 8 . Eine Wahl zwischen langem rühmlosen Leben und frühem glorreichen Tod hat da kaum Platz, — würde sich dürftig, gar philister37 Zu dieser Form der Selbst-Reflexion vgl. die ausgezeichnete Analyse von E. R. Dodds, The Greeks and the Irrational, p. 3 ff. 38 Der Wunsch zu sterben hat hier anderen Klang als wenn etwa Sappho sagt τεθνάκην άδόλως θέλω (94, 1 L.-P.), oder wenn es sonst in der früheren Dichtung heißt, es sei besser zu sterben als zu leben: Hier ist die moralische Existenz als das Wesentliche eines selbstbewußten Menschen zerstört. — Daß bei Aischylos auch andere Wendungen dieses Motivs vorkommen konnten, etwa in den wohl von Priamos gesprochenen Worten (fr. 249 Μ. διαπεφρονρηται βίος) ist selbstverständlich. Ähnliche Stellen führt Pearson an zu
Soph. fr. 698.
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haft ausnehmen bei dem Achill, der aus den Fragmenten der aischyleischen Achilleis spricht. Sie paßt weder in die Vorstellungen der shame-culture und findet sich deshalb auch nicht bei Homer 39 , denn da gibt es noch nicht den Streit um Werte, nodi eigentlich in die guiltculture·, da sollte nicht das κλέος wichtig sein, sondern das Recht, um das es tatsächlich bei Aisdiylos an den Stellen, die erhalten sind, geht. Freilich mag Aisdiylos dem Motiv der Wahl und Lebensentsdieidung doch eine eigene bedeutungsvolle Wendung gegeben haben: Achill konnte mit einem stolzen Trotzdem in den Tod gehen wie etwa Eteokles (der den Gedanken an Ruhm und Ansehen auch nicht einfach beiseite sdiiebt, — vgl. v. 7 und 683 £E., obwohl auch dort anderes auf dem Spiel steht), und der Ruhmes-Gedanke konnte moralisch-rechtlich sublimiert sein über das Homerische hinaus. Dann wären Motive vermischt, die genau genommen nicht zueinander passen. Solche Zwiespältigkeit steckt, wie Friedrich Mehmel gezeigt hat 40 , in dem Achill der platonischen Apologie (28 D). Sokrates zitiert dort das 18. Buch der Ilias, wo Thetis zu Achill sagt, er würde selbst sterben (v. 96), wenn er den Tod des Patroklos an Hektor gerächt hätte. Bei Piaton antwortet Achill: „So mag ich denn sterben" — mit diesem Worte beginnt Achill auch bei Homer (v. 98), — aber Sokrates paraphrasiert 39 Vgl. R. Pfeiffer, DLZ. 56, 1935, 2131 ff. in seiner Rezension von W. Jaegers Paideia, Bd. 1, die leider nicht in seine ausgewählten Schriften aufgenommen ist (dodi vgl. in diesen S. 44, 2) und E. R. Schwinge, Hypomnemata 1, 1962, 103 fi. (mit den dort zitierten Ausführungen von Sdiadewaldt). Idi will hier nicht auf die umfangreiche Literatur eingehen, die sich mit dem Problem der Entscheidung und mit der Entdeckungsgeschichte des Idi beschäftigt; sie wird angeführt von K. Oehler, Die Lehre vom noetisdien und dianoetisdien Denken bei Piaton und Aristoteles, Zetemata 29, 1962, 4 f. (Oehler S. 3 hebt besonders hervor, wie das Bewußtsein von Schuld für diese Entwicklung bedeutsam ist). M. J. O'Brien, A J Ph. 87, 1966, 234 Mit mir entgegen, man müßte audi die Stellen untersuchen, an denen Homer „Entscheidungen" darstellt, etwa Wendungen wie δοάσσατο κέρδιον είναι oder άριστη φαίνετο βουλή. Diese hat Chr. Voigt, Überlegung und Entscheidung, Studien zur Selbstauffassung der Menschen bei Homer, 1933, ausführlich besprochen, und ich hätte wohl noch einmal (wie schon öfter) ausdrücklich darauf verweisen sollen. Andererseits wirft mir O'Brien mit Recht vor, ich wiederhole mich — aber das passiert leider, wenn man ein umfassendes Thema gern immer genauer, womöglich immer klarer behandeln und mit Einzelheiten belegen möchte, to Antike und Abendland 4, 1954, 28.
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dann weiter: „damit ich nicht hier bleibe als Gegenstand des Gelächters" . Mehmel sagt mit redit, daß sich der Achill Homers von dem des Sokrates, der sich für seine Todesbereitschaft auf ihn beruft, wesentlich unterscheidet: Homers Achill gewinnt mit seinem Tod die Anerkennung der Gemeinschaft, in der er steht, da er das tut, was man von einem Edlen nach den geltenden Vorstellungen erwartet; Sokrates stellt sich gerade umgekehrt gegen die Gemeinschaft, nimmt im Widerspruch zu ihr den Tod auf sich; nur für den homerischen Helden ist bedeutsam, ob er verlacht wird, nicht aber für Sokrates. Dieser schiebt jedoch vier Worte zwischen die beiden angeführten Sätze ein, die Achill bei Homer nicht sagt: δίκην έπιθείς τφ άδικοΰντι: „das Recht, d. h. die gerechte Strafe zufügend dem, der Unrecht getan hat." Bereits vorher hatte Sokrates gesagt, daß es einem anständigen Menschen bei der Wahl von Leben oder Tod nur darauf ankommen könne, πότερα δίκαια ή αδικα πράττει, „ob er Gerechtes oder Ungerechtes tut" (28 B), — also geht es ihm um anderes als um das „rühmliche Leben" 41 . Dies Motiv der „Gerechtigkeit" geht auf Aischylos zurück. Mag es also sein, daß Aisdiylos im weiteren Verlauf der Trilogie dargestellt hat, was Piaton an einer anderen Stelle, wo er noch einmal Achills Gespräch mit seiner Mutter Thetis erwähnt, so formuliert: er brachte es über sich zu wählen (έτόλμησεν ελέσθαι) den Tod für seinen Liebhaber Patroklos, indem er ihm Hilfe brachte und ihn rächte (Symp. 179 E); auch da vertieft Piaton das Motiv des Ruhmes; den eigentlichen und echten Ruhm erwirbt man sich ohne Rücksicht auf die Meinung der Vielen durch Eintreten für das Recht. Piaton sagt im weiteren nicht, daß Achill Ruhm erntete unter Menschen, sondern: „Die Götter bewunderten ihn und ehrten ihn mehr als irgendjemanden sonst." Das ist keine Gottheit mehr, die nach dem allgemeinen Glauben hier und da helfende Ratschläge gibt wie bei Homer, sondern ein höheres Prinzip, das Recht fordert. Ähnlich sublimiert Sokrates in der Apologie die Vorstellungen von der Gottheit, wenn er, „weil 41 Isokrates, Euag. 3 spricht ohne Schwierigkeit über die άντί τοϋ ζην άποθνχισκειν εύκόλως αίρουμένους, και μάλλον περί της δόξης η τοϋ βίου σπουδάζοντας, και πάντα ποιοΰντας οπως αδύνατον τήν περί αύτών μνήμην καταλείψουσιν. E r verbindet die „Wahl" etwa mit dem, was Tyrtaios fordert.
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der Gott es aufträgt" (ζ. B. 28 E), so handelt, wie er handelt. So müßte auch bei Aischylos Ruhm nicht erstrebtes Lob für die einzelne Heldentat sein, sondern die höhere Würdigung eines gerechten Handelns. Sogar Kant meint, daß der Mensch selbst dann, wenn er all sein Handeln nur auf Recht und Pflicht stellt, nicht auskommen kann ohne den Glauben, daß das rechte Handeln zu einem Glück führt, nicht zu irdischem Glück, sondern zu einem „höheren", — sonst wird das Leben sinnlos. Doch lassen wir die moralischen Spekulationen. Sicher ist, daß erst bei Aisdiylos Achill ein solcher Mensch wird, von dem man Entscheidungen erwarten kann, dem sein Wort und seine Tat gilt, ohne daß er sich von α'ιδώς, der Scham vor den Seinen, leiten läßt· Es ist nützlich, mit Dodds shame-culture und guilt-culture zu unterscheiden, um zwei Entwicklungsstufen der moralischen Reflexion der Griechen voneinander abzuheben, aber auf der zweiten Stufe können Elemente der älteren auftauchen. Wenn diese Trennung historisch belangreich sein soll, so können Elemente der zweiten Stufe nicht sdxon auf der ersten Stufe erscheinen. Zwei Stellen aus dem homerischen Dialog zwischen Thetis und Achill mögen lehren, was Homer meint, warum er nicht von einer „Tat" oder „Entscheidung" spricht42. Wie die Modernen so leicht tun, ohne sidi ihrer platonischen Interpretation bewußt zu sein. Eine der feinsinnigsten Deutungen des homerischen Achill gibt A. W. Gomme in seinen Sather Lectures (The Greek Attitude to Poetry and History) S. 47. Er behandelt etwas sehr Wichtiges und oft Übersehenes, aber um es herauszubringen, brauchen wir weder „Tat" nodi „Entscheidung" herbeizuziehen, wie er es tut. Auf der anderen Seite setzt Gomme richtig auseinander (S. 109), daß der „freie Wille klar impliziert ist" in den Worten von Kandaules' Weib zu Gyges (Herodot 1, 11, 2): νΰν τοι δυοΐν όδών παρεουσέων, Γύγη, δίδωμι αΐρεσιν όκοτέρην βούλεαι τραπέσθαι. Aber modern ist er, wenn er fortfährt: „There is, in fact, no possible story (.poetic' story) about human beings which does not imply free will." — Wenn Lesky, „Die Botschaft der Griechischen Tragödie", 'Ελληνική Άνθρωπιοτ. 'Et., Σειρά I, 41, 1968, 15 sagt: „Für eine der bedeutendsten Leistungen der aischyleischen Tragödie halten wir es, daß in ihr die Problematik des handelnden Menschen entdeckt wurde. Oder sagen wir besser gleich das Entscheidende: die Tragödie des handelnden Menschen", so ist das genau das, was auch ich zum mindesten gemeint habe, — und da sollten wir uns vielleicht audi über Homer verständigen können. — Vgl. auch Lesky, Anz. f. d. Altertumsw. 20,1967, 90 ff.
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Er sagt weniger, andererseits sehr viel mehr. Erst solche Einzelinterpretationen schützen uns davor, daß Formeln wie ,Scham — Schuld* leblose Schlagwörter werden. Achills Worte (90 fi.) lauten: „Nicht einmal (ουδέ) mein Thymós fordert mich auf zu leben, ehe ich nicht Hektor erschlagen und den Tod des Patroklos gerächt habe." Sein Drang, seine Leidenschaft, seine Lust, seine unmittelbare Reaktion auf das, was ihm geschehen ist (all das umfaßt der Thymós) trägt ihm auf, Rache an Hektor zu üben; das ist keine Entscheidung, denn die setzt Reflexion voraus. Dann heißt es (114ff.): „Jetzt gehe ich, Hektor zu töten. Dann werde ich den Tod auf mich nehmen, wenn die Götter es wünschen. Selbst Herakles mußte sterben: Moira und der Zorn der Hera bezwangen ihn. So werde auch ich sterben, wenn dasselbe Schicksal mir bereitet ist. Jetzt aber wünsche idi Ruhm zu gewinnen dadurch, daß ich Hektor erschlage." Achill trifft keine Wahl zwischen langem Leben und Ruhm, sondern sagt in Resignation: falls ich sterben muß, will ich es ertragen, aber zum mindesten will ich vor meinem Tode Ruhm gewinnen. An der ersten Stelle wird er vorwärtsgetrieben von der stärkeren Regung, d. h. sein Wunsch nach Rache ist stärker als die Sorge um sein Leben. An der zweiten Stelle nimmt er den Tod als unvermeidlich, — aber wählt ihn nicht. Homers Achill ist der größte Held Vinter Griechen und Trojanern, und zugleich hat er tiefe Einsicht in die Gebrechlichkeit des Menschen, ist ein treuer Freund, rücksichtsvoller Sohn, edel gegen Seinesgleichen, selbst wenn sie in einer unerfreulichen Gesandtschaft kommen, und menschlich gegenüber dem Vater seines erbittertsten Feindes. Sein Sinn für Ehre weckt Leidenschaft in ihm, die ihn großer Taten, aber auch des Zorns und der Rache fähig macht. Selbst grausam kann er sein, und dodi schämt er sich nicht seiner Tränen. Dieser Achill ist sozusagen ein großes Stück menschlicher Natur, groß in all seinen vitalen und edlen Reaktionen; was ihm widerfährt, ist größer als irgendeine persönliche Entscheidung. Mag es uns Heutigen schwer fallen, den Unterschied zwischen Homer und Aischylos zu
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sehen, weil wir nicht leicht loskommen von dem, was uns Aischylos und Piaton gelehrt haben, — dieser Unterschied ist fundamental 43 . Ich rühre die Frage nicht auf, ob Homer eine tiefere Wahrheit über den Menschen vermittelt als Aischylos; sehr wohl könnte jemand zu beweisen suchen, daß die Griechen, indem sie ein bestimmtes und vielleicht begrenztes Wissen des Menschen um sein Handeln und um das Funktionieren seines Geistes ans Lidit brachten, etwas verloren gaben, das wir immer an Homer und seinen Gestalten bewundern werden. Aber was kann der Mensch gewinnen, ohne teuer dafür zu zahlen? Der Weg unserer Kultur ist der Weg, den die Griechen nach Homer, ja, seit Homer gegangen sind, und ich zaudere nicht, hier von Fortschritt und von einem höheren Begriff des Menschen zu sprechen. Gewiß sollen wir uns hüten, in die attische Tragödie den Konflikt von Prinzipien hineinzutragen, und was Karl Reinhardt gegen die Hegeische Deutung der Antigone vorgebracht hat 44 , gilt vollends für die ältere Tragödie. Die Gestalten sind reicher, lebensvoller, ihr Handeln und Schicksal sind bunter verwoben, als daß man sie auf abstrakte Begriffe reduzieren könnte. Dodi ist festzuhalten: das Handeln der Tragödien-Figuren wird dadurch zum persönlichen Handeln, zum Handeln im prägnanten Sinn, zum Sich-Entscheiden, daß der Mensch auf die divergierenden Ansprüche reflektiert, die an ihn herantreten, von denen jeder die Keime sowohl von Hybris wie von Recht in sich hat. Der Mensch steht vor einer Alternative und muß wählen. So kann in den Dramen des Aischylos ein Mensch vor zwei einander widersprechenden heiligen Weisungen stehen — diese Situation gibt es bei Homer noch nicht: Orest erhält von Apoll den Befehl, seine Mutter zu töten, aber damit verletzt er ein geheiligtes Recht; « Mit Freuden sehe ich, daß jetzt ein deutscher Philosoph und ein französischer Psychologe, von ganz verschiedenen Seiten aus, genau den gleichen Unterschied aufweisen, wenn sie audi in der Ausdeutung abweichen: Hermann Schmitz, System der Philosophie, 2. Band, 1. Teil: Der Leib 1965; J.-P. Vernant, Mythe et pensée chez les grecs 1965; vgl. ferner V. Cilento, Comprensione della religione antica 1967 und S. Accame, La formazione della civiltà mediterranea 1966. Ich verdanke die Kenntnis dieser hochinteressanten Bücher der Freundlichkeit der Verfasser. 44 Sophokles 73 ff. Dazu zuletzt E. R. Schwinge, Hypomnemata 1, 76 f.
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Achill bei Aisdiylos
Pelasgos hat die religiöse Pflicht, sich der am Altar um Schutz Flehenden anzunehmen, verletzt dadurch aber seine Aufgabe als König, für Wohl und Frieden der Stadt zu sorgen. Eben weil Aischylos den Achill in eine ähnlidie Konfliktsituation stellt, kann dieser nicht die gleiche Sympathie bei uns finden, die wir ihm im Rahmen homerischer Moral entgegenbringen. Wir identifizieren uns mit Aisdiylos' Adiill nur, insofern er uns überzeugt, daß seine Taten nidit nur seine Ehre und seine Geltung, sondern eine höhere Ordnung wiederherstellen sollen, für die er sich verantwortlich weiß. Seine Tragödie ist, daß er, indem er die Dike verteidigt, eben diese Dike verletzt und Unheil auf sich zieht und auf die, die ihm teuer sind.
II.
Leidenschaft und Erkenntnis a. Phaidra im ersten Hippolytos Phaidra sagt in Euripides' Hippolytos (375 ff.), als sie nachdenkt über ihre unselige Liebe zum eigenen Stiefsohn: In langer Nachtzeit habe ich darüber gesonnen, -wodurch das Menschenleben verdorben ist, διέφθαρται, scheitert. Euripides selbst wird manche Nacht darüber gegrübelt haben, woran es liegt, daß die Menschen mit ihrem Leben nicht fertig werden. In seinen ältesten uns erhaltenen Tragödien geht das Leben im engen Kreis der Familie aus den Fugen. In der Alkestis von 438 fragt Euripides, wie sich Familien-Mitglieder verhalten sollen, wenn sie wirklich zueinander gehören, — und was sie tatsächlich tun, wenn sie vor einer harten Probe stehen. Alkestis allein besteht diese Prüfung; sie ist bereit, für ihren Mann in den Tod zu gehen und führt noch einmal alles zum guten Ende 1 . Die Fabel der nächsten uns erhaltenen Euripides-Tragödie stammt nicht aus einem gefühlvollen Märchen, sondern Euripides greift eine Situation aus der Heldensage auf und bildet sie ins Krasse fort: In der Medea von 431 erfüllt Jason noch weniger als Admet, der Gatte der Alkestis, das, was man von einem Ehemann und Vater erwartet. Medea reagiert darauf mit furchtbarer Leidenschaft, — sie mordet ihre Kinder. In einem Monolog (1077 ff.) wird sie sich klar darüber, daß ihre Leidenschaft stärker ist als ihre Besinnung. 1
s. Dichtung u. Gesellsdh. 160 fí. — Ein eindrucksvolles Zeugnis dafüi, wie wichtig den Athenern in der 2. Hälfte des 5. Jhdts. v. Chr. das „echte" Zusammenleben in der Familie war, sind die Grabstelen.
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Diesen Monolog nimmt die Phaidra des Hippolytos drei Jahre später mit den anfangs zitierten Versen wieder auf. Sie sagt, in langer Nachtzeit habe sie darüber gegrübelt, wieso der Bios der Menschen aus den Fugen geht; sie spinnt die Reflexionen weiter aus als Medea und führt sie ins Allgemeine. Der uns erhaltene Hippolytos, der diesen Monolog enthält, ist eine Neu-Bearbeitung: Euripides hatte die Liebe der Phaidra zu ihrem Stiefsohn Hippolytos schon in einem früheren Drama behandelt, das ebenfalls den Titel Hippolytos führte. Dieser Hippolytos Kalyptomenos, der „sich verhüllende Hippolytos", wie man das Stück im Gegensatz zu dem 2., dem erhaltenen „Hippolytos Stephanophoros", dem „Kranzträger" nannte, ist nicht erhalten, läßt sich aber aus Bruchstücken und Nachklängen weitgehend rekonstruieren. Wenn Phaidra in dem Monolog des erhaltenen Hippolytos ausdrücklich sagt, sie hätte nächtelang über die Ursachen menschlichen Leidens gegrübelt, drängt sich die Frage auf, was diese zweite Phaidra in ihren Reflexionen an Neuem gewinnt, wenn sie die Gedanken Medeas fortführt, aber audi an die erste Phaidra anknüpft, von der sie mancherlei Züge bewahrt, andere aber bedeutungsvoll abwandelt. Vielleicht wird vor dem Hintergrund der Alkestis auch deutlich, was schon die erste Phaidra Neues zu sagen hat, und wie Euripides' Auffassung vom Menschen verknüpft ist mit der damals beginnenden attischen Philosophie. Für die Rekonstruktion des ersten Hippolytos ist vor allem Senecas Phädra wichtig: diese folgt, glaube ich, weitgehend dem ersten Hippolytos des Euripides. Jedoch ist dies umstritten und muß neu geprüft werden. Das einschlägige Material ist klar und zuverlässig zusammengestellt von C. Zintzen in seiner Kölner Dissertation2. 2
Analytisches Hypomnema zu Senecas Phaedra, Beiträge zur klass. Philologie, herausgeg. v. R. Merkelbach, Heft 1, 1960. — Entscheidendes dafür, daß Seneca dem ersten Hippolytos folgt, hat W.-H. Friedrich,. Zetemata 5, 1953, 111 ff. beigebracht, aber seine gewichtigen Argumente haben in den neueren Diskussionen nicht die nötige Beachtung gefunden; doch vgl. jetzt T. B. L. Webster, The Tragedies of Euripides 1967, zumal S. 65—71, E. Lefèvre, WSt. 82, 1969, 134 und J.Dingel, Hermes 98, 1970, 44.
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In einer Rezension äußert Pierre Grimal Zweifel, ob alle von Zintzen beigezogenen Parallelen zwischen Senecas Tragödie und späteren Schriftstellern beweisen, daß diese Stellen auf Euripides' ersten Hippolytos zurückgehen3. Noch eingehender kritisiert den Optimismus, man könne aus Seneca viel über den verlorenen Hippolytos lernen, W. S. Barrett in seinem Kommentar zu Euripides' Hippolytos (Oxford 1964). Barrett ist geneigt anzunehmen, Sophokles' Phaidra habe Seneca beeinflußt. Das mag sein. Trotzdem, glaube ich, folgte die Handlung des Seneca-Stücks im wesentlichen Euripides' verlorenem Hippolytos, wenn Seneca auch, zumal im Beiwerk, viel ändert, zufügt, ausläßt. Seneca hat nicht nur den ersten Hippolytos benutzt: eine Szene (396 ff.) hat er aus dem zweiten Hippolytos übernommen (in der Phaidra sich vorstellt, wie sie gemeinsam mit Hippolytos auf der Jagd sei: 215—222); das hat man seit langem gesehen. Barrett sagt mit Recht, diese Szene stände in Senecas Stück „höchst unpassend" : „There can be no doubt whence the scene is derived", fährt dann aber fort: „there can equally be no doubt, when it has been thus rehashed and thus misused, that it would be perilous in the rest of the play to use Seneca as evidence for the detail of a hypothetical model that is no longer preserved" (S. 36, 3). Mir scheint ein anderer Schluß geboten. Wenn diese Szene aus einem uns bekannten Kontext sich so schlecht dem Drama einfügt, Seneca also so sorglos um den Zusammenhang ist, die übrigen Teile aber eine zusammenhängende Handlung ergeben, entstammt dodi wohl diese folgerichtige Fabel am ehesten einem einzigen Drama. Wir wissen aus Senecas anderen Stücken, daß er es nicht auf konsequente und logische Handlung, auf einheitliche Psychologie und feste Charak3 Rev. et. anc., 65, 1963, 210 fi. In manchem hat er sicher recht, aber wenn er sagt (S. 211): „M. Zintzen et ses devanciers nous assurent que les récits romanesques dans lesquels se trouvent des amours d'une femme impudique . . . se conforment tous au schéma donné une fois pour toutes par Euripide" und er selbst bezweifelt, daß in diesen Fragen Sicherheit zu erreichen sei, geht er zu weit. Es handelt sich nicht nur um „des amours d'une femme impudique", sondern um eine viel speziellere Situation, die Euripides zum ersten Mal dargestellt hat.
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tere abgesehen hat, sondern daß er öfter Motive zusammenbringt, die sich, genau genommen, nicht miteinander vertragen. Wenn es also gelingt, Szenen, die wesentlich zu der konsequenten Handlung gehören, auf den verlorenen Hippolytos zurückzuführen, wird es wahrscheinlich, daß auch andere Szenen, die zu diesem festen Gewebe gehören, aus demselben Drama stammen. Vieles freilich, das nicht zur eigentlichen Handlung gehört, läßt sich als Senecas Neuerung erweisen 4 . Das wichtigste Zeugnis dafür, daß der Aufbau von Senecas Drama auf Euripides' ersten Hippolytos zurückgeht, ist dessen fr. 430 N. 2 (fr. C bei Barrett), das bisher, soviel ich sehe, für die hier behandelte Frage noch nicht ausgenutzt ist (doch kann mir aus der umfangreichen Literatur etwas entgangen sein). Der Text lautet: εχω δέ τόλμης και θράσους διδάσκαλον εν τοις άμηχάνοισιν εύπορώτατον 'Έρωτα, πάντων δυσμαχώτατον θεόν, „ich habe als Lehrer in Mut und Kühnheit ihn, der in der Hilflosigkeit den besten Ausweg findet, Eros, den Gott, gegen den man am schwersten ankämpft." Phaidra sagt, sie könne nicht gegen Eros ankämpfen, dodi lehre er sie, aus der αμηχανία (Hilflosigkeit) zu τόλμη und θράσος (zu Mut und Kühnheit) zu kommen. Genau das finden wir bei Seneca. Zuerst hilflos in ihrer unglücklichen Liebe nähert sie sich bald mutig dem Hippolytos, um dessen Liebe zu gewinnen. Das kann nicht von Sophokles stammen 5 . Euripides hat, wie idi später nodi zeigen will, als erster die Art αμηχανία gezeichnet, die Senecas Phaidra zu eigen ist. Dies ist keineswegs ein konventioneller Zug, der jeder Phaidra zukommen müßte 6 . 4 All das hat W. H. Friedrich a. a. O. gezeigt. 5 Vgl. Barrett S. 12. 6 Idi betone dies ausdrücklich gegen Lloyd-Jones (Gnomon 38, 1966, 14), der sagt: „Phaedra in any version of the story must have been in that position" ; das trifft weder für die Phaidra des zweiten Hippolytos zu, die nicht zur Kühnheit kommt, noch für Sophokles (vgl. Barrett, vorige Anm.), noch steht dergleichen in den Geschichten von Potiphars Weib, von Homers Bellerophon oder von den ägyptischen „zwei Brüdern" (über diese s. u. S. 50). Lloyd-Jones
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Mit Recht setzt Barrett das fr. 443 N. 2 (sein fr. A) in den von Phaidra gesprochenen Prolog: §) λαμπρός αίθήρ ημέρας θ' άγνόν φάος ώς ηδύ λεΰσσειν τοις τε πράσσουσιν καλώς και τοισι δυστυχοΰσιν, ών πέφυκ' εγώ, „O strahlender Äther und heiliges Licht des Tags, wie süß anzuschauen für die, die glücklich sind, und für die Unglücklichen, zu denen ich gehöre." Entsprechendes steht nicht am Anfang von Senecas Stück, denn Seneca liebt es, seine Personen bei ihrem Auftreten gleichsam mit einer Wolke ihres Milieus zu umgeben. So beschwört Hippolytos im Prolog (1—84) die attische Landschaft, die verschiedenen Arten von Hunden und Jagdgeräten, das weite Reich der Diana, — nichts davon ist euripideisch. Ähnlich tritt später Theseus auf (835—849) umwittert von den Schrecken des Hades, den er gerade verlassen hat; so muß Phaidra zunächst einmal die Atmosphäre ihrer Heimat Kreta berufen. Dann spricht sie von sich und ihrem Unglück: degere aetatem in malis lacrimisque und fährt fort (90) : sed maior alius incubât maestae dolor. Den Anruf an Äther und Tageslicht läßt Seneca, da er eine attische Theaterkonvention ist, beiseite 7 . Gemeinsam ist beiden Stücken die Ausgangssituation, daß Phaidra ihr Unglück bejammert (was sie im zweiten Hippolytos auf so direkte Weise gerade nicht tut). Barrett, der es für wahrscheinlich hält, daß Seneca einige Motive aus dem ersten Hippolytos übernahm, sagt (S. 37) über Phaidras Versuch, sich Hippolytos zu nähern: „Die Szene mag wohl auf dem ersten Hippolytos beruhen, aber wie weit, können wir nicht sagen." Diese Szene gab dem Drama den Namen „Hippolytos Kalyptomenos", weil Hippolytos sich verhüllte, als Phaidra ihm ihr schamloses Anerbieten machte8. Sicher, Seneca erwähnt das Verhüllen nicht, und er hat die führt kein Beispiel an, wo dies angeblich Selbstverständliche vor Euripides vorkäme. Vgl. auch F. Solmsen, Am. J. Philol. 88, 1967, 92. Solcher Anruf an Sonne oder Tageslicht scheint ursprünglich seinen gerechtfertigten Platz am Anfang des ersten Stückes einer Tetralogie gehabt haben, denn die Aufführung begann am frühen Morgen; vgl. Jessen, RE 8, 61, 30 If. 8 Diese „Verhüllung" mödite jetzt allerdings C. J. Herington, Phoinix 1966,
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Szene mit viel bombastischer Rhetorik ausstaffiert; aber kein ernster Zweifel kann darüber aufkommen, daß der Grundriß der Szene und Phaidras Charakter aus dem ersten Hippolytos übernommen sind: eben diese Szene hat die Empörung über Phaidras Schamlosigkeit erregt; solche schamlose Phaidra ist nicht sophokleisch, nur Euripides wird sie angekreidet9. Barrett (S. 36) gibt weiterhin zu, daß der „dialogue (129—273), with Phaedra bent on her love and the Nurse trying vainly to dissuade her . . ., may well have been suggested by a Greek model, and the first Hippolytos seems the more likeley source." Wir können dessen sicher sein, obwohl Barrett zuzugeben ist, daß die angeblichen Ähnlichkeiten mit Fragmenten des Euripides-Dramas nichts beweisen10. Auch auf diese Szene komme ich zurück. Diese drei Szenen sind wichtige Stufen im Bau des Dramas, jede ist notwendig für die einheitliche Handlung. Für Euripides waren diese Motive, was sich noch zeigen wird, keineswegs so trivial und konventionell, wie sie uns scheinen mögen, da wir sie Hunderte von Malen dort finden, wo sie aus Euripides übernommen sind. Selbst falls Barrett recht hat, daß der Einfluß von Sophokles' Phaidra auf Seneca weiter reichte, als ich anzunehmen geneigt bin, stellt das die Überlegungen, die ich vorbringen möchte, nicht in Frage. Denn mein Hauptanliegen ist, zu zeigen, was Euripides in der Medea und in der Phaidra des zweiten Hippolytos an Neuem gesehen hat. Da 171 darauf beziehen, daß am Schluß des Stückes die zerstückelte Leiche des Hippolytos verhüllt wurde. Mir scheint es nach wie vor plausibler, daß das Stück nach einer Szene hieß, in der sich Hippolytos verhüllte, — ähnlich wie Aischylos Achill und Niobe als έγκεκαλυμμένοι schweigen ließ (fr. 243 Mette), — oder (auf diese noch treffendere Parallele weist gelegentlich W.-H. Friedrich), wie Soph. Ai. 245 die Flucht mit verhülltem Haupt erwähnt. 9 S.u. S. 31,11. 13 Ein Punkt geringerer Wichtigkeit ist, daß das Gebet der Amme an den Mond (Sen. 406—423) „vermutlich angeregt war von (;Idh sage: angeregt von, nicht: übernommen aus' meint Barrett S. 36, 4) Phaidras Gebet an den Mond im ersten Hippolytos" (fr. E Barrett, fr. 491 N. 2). Weiteres s. unten. Herington a. a. O. (Anm. 8) mahnt freilich zu noch größerer Vorsicht: „.dissuasionscenes' are too regular a convention in Senecan drama." Aber ohne die Amme wird man bei der Rekonstruktion des ersten Hippolytos kaum auskommen, — und welche Rolle könnte sie sonst gespielt haben?
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Barrett (S. 29 ff.) dazu neigt, Sophokles' Phaidra vor den zweiten Hippolytos zu setzen, würden jedenfalls Stellen, die Seneca aus Sophokles übernommen hat, älter als der zweite Hippolytos und wohl auch als die Medea sein, die nur drei Jahre vor dem zweiten Hippolytos aufgeführt wurde. So hoffe ich, selbst wenn ein sicheres Urteil über Einzelheiten schwierig ist, mich doch auf leidlich sicherem Grund zu bewegen. In der Hypothesis zum erhaltenen Hippolytos heißt es: „Dieses ist der zweite Hippolytos . . . es ist klar, daß er später geschrieben ist, denn das Unanständige und Tadelnswerte (tò άπρεπες και κακηγορίας άξιον) ist in diesem Drama korrigiert." Den Vorwurf, Euripides hätte mit Phaidra ein liederliches Frauenzimmer auf die Bühne gebracht, erhebt schon Aristophanes (Ran. 1044 Φαίδρας . . . πόρνας u. ö. n ) , und offenbar berücksichtigt Euripides selbst ihn, wenn er am Anfang des zweiten Hippolytos die Göttin Aphrodite ausdrücklich von Phaidra sagen läßt (v. 47): ηδ' εύκλεής μεν, άλλ° δμως άπόλλυται, ,sie ist von untadeligem Ruf, geht aber doch zugrunde', sei es nun (das muß sich noch herausstellen), daß Euripides den Hörern von vornherein sagen will, er führe ihnen diesmal eine edlere Phaidra vor, oder daß er gegen eine falsche Deutung der früheren Phaidra protestiert. Seneca motiviert Phaidras Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolytos auf doppelte Weise, und beide Begründungen standen offenbar schon im ersten Hippolytos des Euripides. Einerseits führt Phaidra ihre Leidenschaft darauf zurück, daß sie von Helios abstammt (124 ff.) : Aphrodite haßt und verfolgt alle Nachkommen des Sonnengottes, der einst ihren Ehebruch mit Ares offenbart hat. Darum ist ihre Mutter Pasiphae in widernatürliche Liebe zu dem Stier geraten, darum mußte Phaidras Schwester Ariadne sich in den Landesfeind Theseus verlieben. Hierauf spielt Phaidra bei Seneca ν. 112 mit den Worten an: fatale miserae matris . . . malum: Ihre eigene Leidenschaft und Krankheit ist von der Mutter ererbt und von den Göttern verhängt 12 . Dementsprechend sagt in einem Fragment des euripideischen Stücks jemand 'i Barrett, Appendix d (a) sammelt die Testimonia. 12 Zintzen S. 18.
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(doch wohl Phaidra): „O Dämon, daß es für die Menschen keine Abwehr der eingeborenen und gottgesandten Übel gibt ,3 ." Diese mythisch-genealogische Begründung kann überkommenen Vorstellungen entsprechen. Seneca hat zu sehr gekürzt, als daß wir abschätzen könnten, wie weit das Motiv bei Euripides im ersten Hippolytos wirkte. Im zweiten Hippolytos rückt, wie wir sehen werden, die mythische Begründung stärker in den Vordergrund, — allerdings radikal geändert. Daneben erwähnt Phaidra ein menschliches, ein psychologisches Motiv, das ihre Liebe zu Hippolytos erregt (92): „Theseus hat sie verlassen, praestatque nuptae quam solet Theseus fidem, „Theseus hält seine eheliche Treue, wie er es gewöhnlich tut." Lesen wir den Vers, erwarten wir, daß Phaidra frühere Treulosigkeiten des Theseus erwähnt, etwa daß er ihre Schwester Ariadne verlassen oder andere Frauen geliebt hat; sie könnte sich von Schuld frei fühlen, da auch Theseus die Ehe gebrochen hat. Zu unserer Überraschung fährt Phaidra aber fort (97 f.) : stupra et illicitos toros Acheronte in imo quaerit Hippolyti pater, „Der Vater des Hippolytos sucht Ehebruch und verbotenes Lager im Hades." Das zielt auf anderes: Theseus hilft seinem Freund Peirithoos, Persephone zu rauben; nidit er ist auf Ehebruch aus, sondern sein Feund. Nun sagt Plutarch, mor. 27 F—28 Α: (Ευριπίδης) την . . . Φαίδραν και προσεγκαλοΰσαν τω Θησεΐ πεποίηκεν ώς δια τάς εκείνου παρανομίας έρασθεΐσαν του Ιππολύτου, „Euripides läßt Phaidra dem Theseus Vorwürfe machen, daß sie sich in Hippolytos verliebte wegen dessen παρανομίαι (seiner Verfehlungen)" = fr. Β Barr., p. 491 N. 2 ; das läßt sich noch vereinen mit dem V. 92 bei Seneca: „er hält seine eheliche Treue, wie er es gewohnt ist." Aber mit der Erwähnung von Peirithoos' Ehebruch gerät Seneca offenbar in einige Konfusion. Mag sein, daß er uns damit zeitig informieren will, Theseus sei weit fort 13 fr. 444 Ν. ι = fr. S Barr.: ώ δαίμον, ώς ουκ εστ' άποστοφή βροτοίς των έμφυτων τε καΐ θεηλάτων κακών, d. h. φύσι; und Gott veranlassen das Übel, was für Euripides fast dasselbe ist, wie sich noch herausstellen wird.
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im Hades, und daß er dies nicht aus Euripides übernommen hat H . Soviel ist sicher: Euripides motivierte wie Seneca die Liebe der Phaidra zu Hippolytos als eine Art Rache gegen Theseus. Damit tauchen Gedanken aus Aischylos auf: Klytaimestra behauptet im ,Agamemnon' dem Chor gegenüber, sie empfinde keine Scham über das, was sie täte oder sagte; das ist Verstellung und Lüge, doch hat sie manches vorzubringen, mit dem sie ihrem Ehemann gegenüber im Recht ist. Wie Phaidra bei Seneca ihre Liebe zu Hippolytos damit entschuldigt, daß Theseus ihr untreu ist, wirft Klytaimestra (v. 1440) dem Agamemnon vor, daß er Kassandra zur Nebenfrau hat. So durfte sie sich mit Aigisth einlassen. Beide spielen das alte Recht aus: wie du mir, so ich dir, Auge um Auge . . ., und Klytaimestra kann weiter gehen als Phaidra: Aagmemnon hat ihre Tochter Iphigenie geopfert, — es ist ihr Recht, Agamemnon zu erschlagen (v. 1417,1432). (Aischylos führt noch nicht das Motiv ein, daß das Zusammenleben, der βίος im Haus zerstört sei; sehr wohl aber konnte das im ersten Hippolytos eine Rolle spielen, wie wir es sonst beim frühen Euripides finden15.) Die alte gleichsam quantitative Kompensation konnte nicht mehr als Gerechtigkeit gelten, seitdem das Handeln des Menschen und sein Bewußtsein vom Recht problematisch wurde (vgl. oben S. 12). Aber selbst wenn Aischylos in der Vergeltung nicht mehr ein gültiges Recht sieht, ist sie ihm eine faktisch wirkende Macht; der Anspruch des Einzelnen, ihm angetanes Unrecht zu rächen, mag fragwürdig sein, trotzdem wird immer wieder ein Racheakt mit neuer Rache vergolten. Die Tat ruft womöglich eine härtere Gegentat hervor und die Gegentat eine neue noch größere. Schon Homer zeigt in der Ilias solche Folgerichtigkeit: Agamemnon nimmt sich die Chryseis; der Vater Chryses veranlaßt Apoll, die Pest zu schicken; Agamemnon gibt Chryseis zurück, aber holt sich die Briseis; deswegen grollt Achill. . . Dergleichen kehrt in anderen Mythen wieder, und Herodot Η Tatsächlich zeigen zwei Fragmente, daß Sophokles in seiner .Phaidra' Theseus abwesend im Hades sein läßt (624 f. N., 686 f. P., A und Η Barr.); vgl. Barrett App. S. 31 f.; Seneca mag dies Motiv übernommen haben, um die Rede des Theseus (835—849) anzubringen. 15 Dichtung und Gesellschaft 160 ff., s. u. S. 37.
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erklärt den Kampf der Griechen gegen den Orient dadurch, daß, sich steigernd, Unrecht immer neues Unrecht zeugte. Aisdiylos (wie andere vor ihm) verbindet solche Zwangsläufigkeit von Schlag und Gegenschlag mit dem Glauben an einen Geschlechterfluch und verleiht so der Abfolge des Geschehens noch unverbrüchlichere Notwendigkeit. Solche Notwendigkeit aber wurde anrüchig, das zeigt nicht nur Klytaimestra, sondern auch Achill, als Aischylos fragte, was Recht sei. Bei Sophokles lehnen sich gerade die großen Menschen dagegen auf, daß die Welt, beherrscht vom Gesetz der Tat und Gegentat, aus den Fugen ist; sie suchen sie wieder einzurenken, ziehen sich da freilich selbst ins Verderben. Für Aischylos und Sophokles ist das ,Zahn um Zahn' teils echtes, teils vorgegebenes Motiv des Handelns, dient auch dazu, Schicksalsverkettungen zu erklären; Euripides bringt es viel weniger ins Spiel. Selbst wenn bei Seneca Aphrodite die Helios-Enkelin haßt, weil einst der Sonnengott ihre Liebe zu Ares offenbart hat, wiePhaidra behauptet (124 fi.), so hat das in dem Stück kaum Gewicht. Sollte Euripides im irdischen Bereich mehr, als Seneca es erkennen läßt, die sündige Liebe Phaidras (wie Aischylos die der Klytaimestra) als „Gegentat" gegen eine Paranomia des Ehemanns motiviert haben, rückte er dodi anderes in den Vordergrund: eine seelische Disposition, etwas Psychologisches. In dieser „menschlichen" Begründung des Handelns verschiebt er wie in der „mythischen" die Aspekte beträchtlich; Neues tritt hervor. Seitdem man Euripides' Frauen mit Hedda Gabler oder Nora verglichen hat 14 , sagt man gern und mit Gefühl, er hätte die weibliche Seele entdeckt, — als ob die „weibliche Seele" so klar bestimmbar sei wie etwa die Insel Tahiti, die man eines Tages entdeckt hat, oder so exakt aufweisbar, wie Erkenntnisse über die Außenwelt 17 . Um solche ,Entdeckung' genauer zu beschreiben und um das Entdeckte lebendi16 Treffend dazu K. Reinhardt, Tradition und Geist 236 ff. 17 Typisch weiblich ist das, was Euripides aufweist, höchstens in dem Sinn, wie Pausamias 8, 24, 10 in der Geschichte von Alkmeon sagt: „In törichte Leidenschaften geraten viele Männer und noch mehr Frauen", ές έπιϋυμίας δέ άνοήτους πολλοί μεν άνδρες, γυναίκες δέ