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German Pages 176 Year 2018
Weltentzweiung und Weltversöhnung in Hofmannsthals Griechischen Dramen
University of Pennsylvania Studies in Germanie Languages and Literatures edited by DETLEV W. SCHUMANN with the cooperation of
Gerhard Baumgaertel Richard C. Clark Adolph C. Gorr Adolf D. Klarmann Albert L. Lloyd Heinz Moenkemeyer Alfred Senn
OTTO SPRINGER
Weltentzweiung und Weltversöhnung in Hofmannsthals Griechischen Dramen von
WILLIAM H. R E Y
Philadelphia UNIVERSITY OF PENNSYLVANIA PRESS
© 1962 by the Trustees of the University of Pennsylvania Published in Great Britain, India, and Pakistan by the Oxford University Press London, Bombay, and Karachi
Library of Congress Catalogue Card Number 61-6885
Printed in Great Britain by W. & J. Mackay & Co Ltd, Chatham, Kent
Für OSKAR SEIDLIN In Erinneruig an dreißig Jahre der Freundschaft
Geist ist überwundene Wirklichkeit. Was sich von der Wirklichkeit absentiert, ist nicht Geist. Buch der Freunde
Vorbemerkung Die folgende Studie wäre kaum geschrieben worden ohne den Beistand eines Mannes, der nicht mehr unter den Lebenden weilt. Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle meines zu früh verstorbenen Freundes, Professor Curtis C. D. Vail, in Dankbarkeit zu gedenken. Unter meinen übrigen Kollegen ist es besonders Herr Professor Franz R. Sommerfeld, dem ich verpflichtet bin. Wie so oft in den vergangenen Jahren war er auch diesmal äußerst hilfsbereit; bei der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit hat er mich mit hervorragender Sachkenntnis beraten. Schließlich gebührt mein Dank den Herausgebern dieser Serie und ihren Mitarbeitern. Sie haben meinem Manuskript viel Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet und den Text durch zahlreiche Anregungen und kritische Randbemerkungen verbessert. WHR
Inhalt Seite EINFÜHRUNG
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ÜBERBLICK
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Alkestis
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Elektro
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Ödipus
und die Sphinx
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AUSBLICK
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ANMERKUNGEN
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Weltentzweiung und Weltversöhnung in Hofmannsthals Griechischen Dramen
Einführung „Wer aber war er, und wer war er nicht?" — Diese Frage, die Hofmannsthal vor etwa 60 Jahren in einem Gedicht zum Gedächtnis des Schauspielers Mitterwurzer erhob, bestimmt heute unser Verhältnis zum Dichter selbst. Trotz aller Bemühungen der Forschung besteht noch immer keine Einmütigkeit über sein wahres Wesen. Nur allmählich beginnt sich der Nebel der Mißverständnisse und Fehldeutungen zu lichten, der die Gestalt des Dichters den Zeitgenossen verhüllte. Gewiß, die Legenden um „Loris" werden heute nicht mehr ernst genommen. Wir wissen, daß sich der junge Hofmannsthal nicht in die Schablone des weltfernen und lebensmüden Ästheten pressen läßt. Aber die literarische Kritik neigt offenbar dazu, in ihrer Deutung von einem Extrem zum anderen zu gehen. So wurde uns Hofmannsthal im Nachwort zu einem nach dem Kriege veröffentlichten Erinnerungsband als „überzeugter katholischer Christ" vorgestellt.1 In einem vor kurzem veröffentlichten Standardwerk deutscher Germanistik dagegen tritt er als einer der führenden Dramatiker der Neuromantik auf, die durch den „Kultus des Irrationalen und Unbewußten" charakterisiert sei.2 Man wird dem einzigartigen Phänomen Hofmannsthal nur gerecht, wenn man auf jede voreilige stilistische oder weltanschaulich^ Klassifizierung verzichtet. Der erste Schritt zum Verständnis dieses Dichters ist die Einsicht, daß er sich durch keinen der üblichen Ordnungsbegriffe der Literarhistoriker erfassen läßt. Er, der schon als Knabe an allen literarischen Strömungen seiner Zeit teilnahm, blieb doch keiner von ihnen endgültig verhaftet. In ihm tritt uns vielmehr ein universaler Geist entgegen, in dessen Werk die Fülle und die Problematik des späten Abendlandes Gestalt gewinnen. Auf dem antikchristlichen Erbe Europas beruhend, ist dieses Werk mit den 13
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großen Epochen des europäischen Geistes verbunden und hat doch zugleich Elemente des Orients und des Fernen Ostens in sich aufgenommen. In ihm öffnen sich die ungeheueren Horizonte unserer Gegenwart, die, wie keine andere Epoche der Menschheitsgeschichte, die Tiefe der Zeiten und die Weite der Räume erschlossen hat. Wenn jedoch Hofmannsthals Gestalt durch eine wahrhaft weltumfassende Kraft der schöpferischen Teilnahme geprägt ist, wenn ihm eine verwirrende Fülle von Farben, Stoffen, Formen zur Verfügung steht, wenn er uns aus seinem Werk in immer neuen Masken anblickt, so darf er doch nicht als ästhetischer Proteus, als „Chamäleongeist" interpretiert werden.3 Die fast unheimliche Gabe ästhetischer Verwandlungskunst verbindet sich in ihm mit der Strenge sittlicher Selbstkritik. Schon die frühen Dramen (Gestern, 1891 ; Der Tor und der Tod, 1894), deren Helden der Gefahr der Welt- und Ichauflösung zu erliegen drohen, sind Selbstdarstellung und zugleich Selbstgericht. Der junge Dichter kennt die Verlockung des unverbindlichen Spiels, aber er besitzt auch die Kraft der Entscheidung. Gerade weil er selbst durch die in die Zone des Nichts führende impressionistische Versuchung des fin de siècle hindurchgegangen ist, kánn er später seiner Zeit zum Mahner und Helfer werden. Mitten im Sturz dieser Zeit stehend, allen ihren Verwirrungen preisgegeben, die Not der Zersplitterung und Haltlosigkeit mit erleidend — so erscheint der Dichter in Hofmannsthals großer Rede von 1907 („Der Dichter und diese Zeit"). Ihm fallt die religiöse Aufgabe zu, sich der geistigen Anarchie der Epoche entgegenzustellen und in seinem Werk aus dem Chaos Welt zu schaffen. Mit diesem Akt dichterischer Selbstbestimmung bezieht Hofmannsthal eine klare Position in der geistigen Auseinandersetzung, die, ausgelöst durch die Wissenschaft und Philosophie des 19. Jahrhunderts, die Literatur um die Jahrhundertwende beherrscht. Seine Haltung ist geprägt durch die kühle Leiden-
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schaft des klassischen Geistes, der nach Ordnung, Zusammenfassung, Synthese strebt. In seinem Werk leuchtet noch einmal die große Vision des Deutschen Idealismus auf, der, entzündet vom Geist universaler Liebe, die Zwietracht der Welt zu versöhnen versuchte. So ist die kunstvolle Konfiguration seiner Komödien (Cristinas Heimreise, 1910) und der in Zusammenarbeit mit Richard Strauß entstandenen Opern (z.B. Der Rosenkavalier, 1911) darauf angelegt, die Einheit des Daseins und das Ganze des Menschen darzustellen. Er wendet sich damit entschieden gegen die Zerstörung des klassischen Menschenbildes in der zeitgenössischen Dichtung, d.h. gegen die Reduzierung des Menschlichen aufs Biologische, Soziologische oder Materielle. Der wahre Mensch ist für Hofmannsthal weder das „wilde, schöne Tier" Wedekinds noch das Produkt von Vererbung und Umwelt, wie es der naturalistischen Theorie entspricht. Anstatt das Geistig-Sittliche als Funktion des Triebhaft-Materiellen zu entlarven, strebt er danach, den Menschen als die Mitte darzustellen, in der sich das Hohe und das Niedere, das Göttliche und das Tierische durchdringen. Ähnlich wie dem reifen Thomas Mann geht es auch dem reifen Hofmannsthal um ein neues Humanitätsideal, das den rationalistischen Optimismus wie den irrationalistischen Pessimismus überwunden hat und im Zeichen der Versöhnung von Leben und Geist steht. Nirgends kommt das Bekenntnis zu einem Menschentum der Mitte schöner zum Ausdruck als in der Märchenerzählung Die Frau ohne Schatten (1919), die auf der schicksalhaften Verschränkung des Oberen und des Unteren, des Kaiser- und des Färberpaares beruht. Wenn die klassische Grundgesinnung hier unverkennbar ist, so handelt es sich doch um eine Klassik, die ihren romantischen Gegenpol in sich aufgenommen hat und zugleich durch die Schule realistischer Erzählkunst hindurchgegangen ist. Eben deshalb ist Hofmannsthals Dichtung nicht epigonenhaft, sondern begabt mit
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dem zauberhaften Glanz echter Schöpfung, in der die historische Mannigfaltigkeit dichterischer Tradition zu einer neuen Einheit verschmilzt. Das hier umrissene Wesensbild beruht auf den Forschungsergebnissen der letzten Jahrzehnte.4 Die geduldige Analyse einzelner Werke Hofmannsthals hat die Unzulänglichkeit aller voreiligen Verallgemeinerungen erwiesen. Der Autor der frühen Gedichte und Dramen, der Lustspiele und Erzählungen, der Verfasser der Mysterienspiele gewinnt in unseren Augen immer klarere Konturen. Nur die sogenannten Griechischen Dramen, besonders Elektro (1904) und ödipus und die Sphinx (1906), liegen immer noch wie erratische Blöcke in der vielgestaltigen Landschaft des Gesamtwerkes. Der Grund ist leicht einzusehen. Schon bei ihrem Erscheinen erregten diese Tragödien tiefes Befremden gerade bei denen, die sich mit dem Jugendwerk Hofmannsthals vertraut glaubten. Wo war hier der unnachahmliche Reiz der frühen Verse, wo die schwebende Musikalität der Sprache? Wo war die erlesene Schönheit der Bilder, die mystische Verzauberung, der herrlich thronende Geist — wo war Hofmannsthal? Die düstere Atmosphäre einer vorgeschichtlichen Zeit, die titanischen Gestalten des griechischen Mythos, ihre übermenschlichen Leidenschaften, ihre unmenschlichen Greueltaten, all dies schien in krassem Widerspruch zu der vielbewunderten Dichtimg „Ariels," des Götterjünglings der modernen deutschen Literatur, zu stehen. Oder gab es doch einen verborgenen Zusammenhang? Offenbarten die Tragödien vielleicht einen höchst zweifelhaften seelischen Hintergrund, der unter der makellosen Fassade der Jugendverse verborgen gewesen war? Enthüllte sich Hofmannsthal etwa als Vertreter einer perversen Dekadenz, hinter deren Schönheitskult sadistische Instinkte lauerten? So wurden die Griechischen Dramen als literarische Blutorgien und ihr Verfasser als der Verkünder einer Entfesselung der
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Triebe betrachtet, die durch den Sexualtaumel hindurch ins Nichts oder ins Chaos führen mußte. In seinen Dramen griff Hofmannsthal, wie eine entrüstete Interpretin ausführte, „hinunter in eine dunkle Urzeit, in der . . . ohne Maß und Scham ein dunkles, an jedes Verbrechen angrenzendes Lebensgefühl durchs Weltall taumelte."5 Seitdem sind die Formulierungen der Kritik zwar etwas milder geworden; aber wie das eingangs angeführte Beispiel zeigt, werden Hofmannsthals Tragödien auch heute noch von Kennern des modernen Dramas als Verherrlichung des Irrationalen gedeutet. Selbst in dem engeren fassungen. So stellt ein im Jahre 1955 erschienenes Buch von Walter Jens den Hofmannsthalschen ödipus als den „Sklaven seines Blutes" dar.· Auch die im folgenden Jahre veröffentlichte Studie von Elisabeth Steingruber erkennt der ödipusgestalt weder geistige Freiheit noch sittliche Würde zu. Die Verfasserin glaubt, Hofmannsthal habe „aus seinem tiefsten Lebensverlangen heraus" eine Welt gestaltet, wo „die wilden ungefesselten Gewalten des Lebens, die die Urnatur im Blute aufpeitschen," triumphieren, eine Welt, „wo wildere, dämonischere und titanischere Mächte herrschen und den Menschen beherrschen."7 Demgegenüber unternimmt diese Arbeit den Versuch einer positiven Deutung. Anstatt den Chor der ablehnenden und entrüsteten Stimmen zu verstärken, erheben wir zunächst die Frage nach den Beweggründen und Absichten des Dichters. Wir behaupten, daß Hofmannsthal auch in der düsteren Welt des griechischen Mythos sich selber treu bleibt — ja, daß gerade die Griechischen Dramen den Kampf des Dichters um geistige Selbstbehauptung gestalten. Das bedeutet, daß die Wendimg zur antiken Tragödie nach unserer Auffassung keineswegs einen Bruch oder eine bedauerliche Entgleisung darstellt, sondern sich mit innerer Notwendigkeit aus der Entwicklung des W.-B
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Dichters ergibt. Denn in den Griechischen Dramen erreicht die Auseinandersetzung Hofmannsthals mit einem Problem, das bereits den jungen Dichter erschreckte und faszinierte, ihren Höhepunkt. Es handelt sich um das von Nietzsche gestellte Problem des Lebens. Zwar hat Hofmannsthal seine ursprünglichen Gesamtpläne zu Elektro und ödipus und die Sphinx nicht ausgeführt. Beide Dramen sind also eigentlich Bruchstücke und führen nicht zu einer abschließenden Lösung. Sie bieten schon deswegen der Kritik genug Angriffsflächen. Aber auch wenn diese Tragödien nicht als vollkommene Kunstwerke betrachtet werden können, so ist die Bedeutung, die ihnen als Durchgangsstufen zukommt, doch kaum zu unterschätzen. Mit ihnen durchbricht Hofmannsthal den Lebensbann, der ihn seit der Jahrhundertwende gefangen hielt. In einem schöpferischen Aufruhr seiner Kräfte gegen den Alpdruck des Irrationalen gewinnt er die Voraussetzungen für die dichterische Bewältigung der Lebenstriebe und gestaltet die Grundmotive, die sich später in dem reifen Werk zu voller Harmonie entfalten. Das heißt also, daß der Verfasser der Griechischen Dramen weder als gläubiger Jünger Nietzsches noch als überzeugter Schüler Freuds gesehen werden darf. Trotz der intensiven Anteilnahme an den geistigen Strömungen seiner Zeit bewahrt der Dramatiker Hofmannsthal seine künstlerische Freiheit. Wer Elektra als „Agamemnons hysterische Tochter" 8 sieht, wer Ödipus und die Sphinx als dramatisierten Schulfall der Psychoanalyse betrachtet, verfehlt das eigentliche Wesen dieser Werke. Hofmannsthal selbst faßt das Nichtverstandenwerden als Schicksal des wahren Kunstwerks auf. Nicht ohne Bitterkeit schreibt er im Jahre 1911 an Richard Strauß: „Das eigentliche Poetische eines Dichtwerkes, der wirkliche Gehalt, wird zunächst niemals verstanden.... Das Höhere, das Wesentliche bleibt unerkannt, ausnahmslos. . . Im Hinblick auf Elektra fahrt er fort: „Und hat denn — über lauter Hängen-
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bleiben am Äußerlichsten — aus häufigem Vorkommen des Wortes ,Bhit,' an einer gewissen heftigen, gewaltsamen Ausdrucksweise — auch nur der zehnte Teil der Kritiker das eigentliche Grundmotiv der .berühmten Elektro' bis heute auch nur erkannt, geahnt?" • Aus dieser Äußerung geht hervor, daß Hofmannsthal das Eigentliche von Elektro gerade nicht in einer Verherrlichung des Blutes oder der Triebe sah. Seine Formulierungen dürfen vielmehr als Aufforderung verstanden werden, das Höhere in den Tiefen zu suchen. Dies bestärkt uns in unserer Bemühung, im folgenden die Griechischen Dramen gleichsam gegen den Strom zu lesen, so wie Rilke seinen Malte gelesen wissen wollte. Unter dieser Perspektive erscheinen sie weder als psychopathologische Studien noch als Dokumente eines dekadenten Nihilismus, sondern als ein äußerster Versuch des Dichters, die Wildnis des Lebens geistig zu durchdringen und so jenes Ganze des Daseins darzustellen, das auf der Versöhnimg von Ich und Welt und zugleich auf der Verschmelzung von Trieb, Seele und Geist im hohen, dichterischen Menschen beruht. Halten wir in der Geschichte der Dichtung nach vergleichbaren Bemühungen Ausschau, so tritt uns die Gestalt Hölderlins entgegen, der bei allen Unterschieden doch das tragische Thema mit Hofmannsthal gemeinsam hat: die verlorene und wiederzugewinnende Einheit des Daseins. Beide Dichter setzen der tragischen Erfahrung der zerbrochenen Welt ihren Glauben an die allumfassende Liebe entgegen. Der Sinn der Entzweiung wird in der Wiedervereinigung auf höherer Stufe gesehen, der Sinn der Dissonanz in der bereicherten Harmonie. Daher ist für Hölderlin der tragische Konflikt dem „Zwist der Liebenden" vergleichbar, der mit Versöhnimg — ja mit Verwandlung endet.10 Nicht umsonst hat Hofmannsthal seiner Tragödie ödipus und die Sphinx als Motto jenes Wort Hölderlins vorangestellt, das die Rechtfertigung des tragischen Leids in der Verwandlung von Gefühl in
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Geist sieht: „Des Herzens Woge schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn nicht der alte stumme Fels, das Schicksal, ihr entgegenstände." Daß Leben Geist und Geist Leben werde, ist die tiefe Sehnsucht des reifen Hofmannsthal. Auch seine Tragödien legen Zeugnis davon ab; sie führen durch tragische Zersplitterung zur heilen Welt und enden mit dem Preislied auf das ganze, das göttliche Dasein.
• •
Uberblick Wenn im folgenden versucht wird, einen Uberblick über Hofmannsthals Weg zu den Griechischen Dramen und über die Grundzüge dieser Dramen zu geben, so sind Vereinfachungen unvermeidlich. Man hat mit Recht gesagt, daß jede Entwicklungsstufe des Dichters durch die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen charakterisiert sei. Daher lassen sich eindeutige Aussagen, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen, nur unter Vorbehalt machen. Wenn wir also feststellen, daß das Jugendwerk Hofmannsthals bestimmt ist durch die beglückende Erfahrung des Seins, der in sich ruhenden Einheit von Ich und Welt, von Innen und Außen, so ist damit nur ein Aspekt angedeutet. Der Gegenaspekt stellt sich dar als Beunruhigung durch die Erfahrung des Werdens, des ständigen Gleitens und Entgleitens aller Dinge. Die Antinomie der Zeit, die im Gegensatz zwischen Dauern und Vergehen besteht, ist eine der Antinomien des Daseins, von denen nach Hofmannsthals Worten „diese oder jene zur Achse der geistigen Existenz"11 wird. Schon das Jugendwerk zeigt die Bemühung um eine schöpferische Versöhnung dieses Gegensatzes in der Harmonie des Gedichts. Aber im Vergleich zu den späteren Dramen ist die künstlerische Darstellung dieser Harmonie noch relativ unproblematisch. Sie ergibt sich entweder als unmittelbarer Ausdruck jener selig-traumhaften Identität von Ich und All, die das Vorrecht der jugendlichen Seele ist, oder aber sie wird geschaffen durch das magische Wort des dichterischen Geistes, der sich in der Mitte aller Dinge weiß und seinen Auftrag in der Bändigung des chaotischen „äußeren Lebens" erblickt. Die Gestalten des Zauberers und des Kaisers in den frühen Gedichten sind Repräsentanten eines solchen magischen Dichtertums, das auf dem Glauben an die weltbewegende Kraft des 21
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autonomen Geistes beruht. Obwohl dieser Glaube mancherlei Anfechtungen ausgesetzt ist und mancherlei Abwandlungen erfahrt, bleibt doch die klassisch-romantische Konzeption einer kosmischen Einheit von Ich und Welt, Geist und Leben bis zur Jahrhundertwende hin unerschüttert. Die Weltdarstellung im Frühwerk steht im Zeichen des harmonisch abgewandelten Einen. Nirgends kommt dies deutlicher zum Ausdruck als in jenem Werk, dem noch der reife Dichter seine Liebe schenkte, dem Kleinen Welttheater (1897/98). Die Figuren dieses Spiels bewegen sich, in größerem oder kleinerem Abstand, um den gleichen Mittelpunkt. Sie wandeln das Erlebnis des Hen-kai-pan ab, indem sie sich gegenseitig spiegeln, ergänzen und steigern. Mit der Gestalt des Wahnsinnigen ist die höchste Steigerung erreicht. Im Begriffe, den Sprung in das Herz der Welt zu tun, kommt er der mystischen Vereinigung von Ich und All am nächsten. Er steht auf der Schwelle einer Selbstauflösung, die doch zugleich die höchste Selbsterfüllung darstellt, denn das Aufgehen im Universum wird erstrebt von einer Seele, die selber universal ist und daher dort wahrhaft zu sich findet, wo sie sich zu verlieren scheint. Wollte man die Konfiguration des Kleinen Welttheaters graphisch darstellen, so müßte man ein System konzentrischer Kreise wählen; denn das Spiel ist beseelt vom Geiste der Harmonie, der nur den Zusammenklang, nicht den Zusammenstoß der Kräfte kennt. In dem krisenhaften Übergang Hofmannsthals aus der Jugendperiode in die Reifezeit um die Jahrhundertwende, den der fiktive Brief des Lord Chandos widerspiegelt („Ein Brief," 1902), zerbricht der Glaube an den magischen Weltbesitz des dichterischen Geistes. Das Gedicht „Der Jüngling und die Spinne" (1899) gipfelt in der Einsicht: Die Welt besitzt sich selber! Damit wird die tragische Grunderfahrung der entzweiten Einheit, die als ein Element der Beunruhigung schon das Jugendwerk durchzieht, zum beherrschenden Problem. Die
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unheimliche und verlockende Macht des Lebens ist aus der kosmischen Harmonie herausgebrochen und tritt Hofmannsthal als ein Anderes gegenüber, das eigenen Gesetzen folgt. Mehr noch — der Dichter findet sich als Lebender in dieses Leben geworfen und dem Lebensschicksal preisgegeben, das darin besteht, Schmerzen zu leiden und Schmerzen zuzufügen. Die Größe Hofmannsthals bewährt sich in seinem Entschluß, allen Versuchungen zur Flucht zu widerstehen und dieses Schicksal auf sich zu nehmen. Er lehnt die Idee einer „reinen Poesie" ab und begibt sich auf den Weg ins Leben. Aber dieser Schritt bedeutet weder eine resignierte noch eine enthusiastische Hingabe des dichterischen Geistes an den Widergeist des Irrationalen. Als ein Kämpfender, Leidender, Liebender in das Chaos der Leidenschaften geworfen, bleibt der Dichter nun erst recht seiner ursprünglichen Aufgabe treu, die umfassende Einheit des Daseins darzustellen, die nun auch die Gewalt des Triebhaften in sich aufzunehmen hat. Diese Aufgabe konnte jedoch nicht mehr in den Formen des Jugendwerks geleistet werden. Wie sich aus dem Beispiel des Kleinen Welttheaters ergibt, fehlt den frühen Dramen gerade das eigentlich Dramatische. Die in sich reflektierte Harmonie des Kreises hat für den Konflikt, das Urelement des Dramatischen, keinen Raum. Hofmannsthal mußte also eine Form finden, in der die Tragik des dem Gesetz des Widerspruchs verfallenen natürlichen Daseins durch die Vermittlung des dichterischen Genius in einer höheren, vom Geiste durchwirkten Harmonie aufgehoben wird. Er fand die seinen Bedürfnissen entsprechende Verbindung von Tragödie und Mysterium auf dem Weg über die Antike. Damit ist schon gesagt, daß die Griechischen Dramen weder eine Nachahmung der klassischen Tragödie sind noch ein Versuch, den antiken Mythos im Sinne der Psychoanalyse zu modernisieren. Die Aufzeichnungen Hofmannsthals lassen keinen Zweifel daran, daß für ihn die Helden seines dramatischen
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Frühwerks zu denen der Griechischen Dramen in Analogie stehen. Im Grunde handelt es sich bei allen um Darstellungen der dichterischen Existenz in verschiedenen Situationen. Während die Repräsentanten des Dichters im Frühwerk vom Schicksal der Schicksallosigkeit bedroht sind, weil sie sich entweder der unverbindlichen Flüchtigkeit des Moments oder der schrankenlosen Ganzheit des All-Einen hingeben, treten uns die Protagonisten der Griechischen Dramen als Gebundene entgegen. Sie sind durch ihr Schicksal an einen bestimmten Ort gebunden, der sich als Schnittpunkt verschiedener Kraftlinien ergibt. Die allumfassende Rundung des Kreises ist unterbrochen durch die Eckpunkte eines eingelagerten Dreiecks, das die verlorene Einheit symbolisiert, indem es die Figuren nicht nur verbindet, sondern auch gegeneinanderstellt. Nadler hat mit Recht darauf hingewiesen, daß sich das Dreieck als Konfigurationsschema auch in den früheren Spielen Hofmannsthalsfindet.1*Aber erst in den Griechischen Dramen gewinnt es seine volle Bedeutung. Erst hier bezeichnet es das Spannungsfeld des echten Konflikts, in dem sich der Raum der dramatischen Handlung öffnet. Und hier wird es zum Symbol einer fast paradoxen Schicksalsverkettung, die das Verhältnis der engsten natürlichen Gemeinschaft zwischen den Hauptgestalten in den schmerzlichsten Gegensatz verkehrt. Es ist gewiß kein Zufall, daß die Familie im Schaffen Hofmannsthals eine so große Rolle spielt. Wenn die Zusammenordnung von Eltern und Kind in verschiedenen Abwandlungen immer wiederkehrt, so ist dies keineswegs auf ein naturalistisches Interesse des Dichters an Vererbungsproblemen zurückzuführen. In der Dreiecksbeziehung Vater-Mutter-Kind fand er vielmehr die Dreieinigkeit des Menschlichen verkörpert, die für ihn die versöhnte Mannigfaltigkeit des Daseins symbolisiert. Es ist leicht zu begreifen, daß die Konfiguration der Urdreiheit eine besondere Bedeutung gewinnen mußte, als es für Hof-
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mannsthal galt, den Bruch im Gefüge des Einen dramatisch zu gestalten. Hier werden mancherlei Verbindungslinien zwischen seinen künstlerischen Interessen und der antiken Theatertradition sichtbar. Auch dort fand Hofmannsthal „Familientragödien," aber eben nicht im naturalistischen Sinne, sondern als Darstellung mythischer Gestalten in ihren Beziehungen untereinander und zu den Göttern. Auch dort stand der Held im Schnittpunkt der Schicksalslinien, unter dem Gesetz der Notwendigkeit, und die Frage war, ob und wie menschliche Freiheit trotz dieser Verstrickung möglich sei. Und nicht zuletzt entwickelte sich in der antiken Tragödie die Handlung aus einer Freveltat gegen die göttliche Weltordnung, die dann im Vorgang des Spiels wiederhergestellt wurde. Vor allem das Motiv der Gewalttat mußte für Hofmannsthals schöpferische Bemühungen von Interesse sein, denn in ihm kam ja die Tragik des Weltwiderspruchs am schlagendsten zum Ausdruck. Die Ermordung des Vaters durch die Mutter {Elektro) oder der Mordversuch des Vaters am Kind (Ödipus) zerstört die ursprüngliche Dreieinheit der Daseinskonfiguration. Für den modernen Autor Hofmannsthal, der sich mit Schopenhauer und Nietzsche auseinandersetzen muß und sein eigentliches Problem daher in der Bändigung des entfesselten Triebes sieht, bedeuten diese Freveltaten ein Vergehen des titanischen Lebens gegen die Harmonie des Ganzen. Der Gewalttäter folgt dem Instinkt der Selbstsucht; er handelt egozentrisch und versündigt sich in seinem Willen zu Macht und Lust gegen das Ethos des Weltmittelpunkts. Seine Schuld ist nicht als Verstoß gegen ein über dem Leben stehendes sittliches Gesetz zu sehen, sondern als Vergehen gegen das Mysterium der immanenten Einheit des göttlichen Seins, das vom Menschen die selbstüberwindende Liebe zum Ganzen fordert. Hier wird deutlich, daß es sich bei Hofmannsthals Griechischen Dramen um eine schöpferische Begegnung mit der
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antiken Tragödie handelt. Indem der Dichter den griechischen Mythos in sein Werk aufnimmt, verwandelt er ihn zugleich. Das legendäre Handlungsgefüge wird ihm zum dramatischen Gerüst, das die Last seiner eigenen Problematik trägt. Sein Problem aber ist die Auseinandersetzung des Dichters als des Anwalts der in sich ruhenden Harmonie des Seins mit dem „Willen" in Schopenhauers Sinn, d.h. mit den dynamischen Lebensmächten, an denen er als Lebender ebenfalls teilhat. Daraus ergibt sich, daß Schuld und Schicksal in Hofmannsthals Dramen im letzten Grunde unter dem Aspekt von Werden und Sein zu sehen sind. In der Untat, die die Handlung auslöst, bricht der Urgegensatz auf zwischen Einheit und Vielheit, Ordnung und Chaos, Ruhe und Bewegung — der Urgegensatz, auf dessen Versöhnung alle Existenz beruht. Der Bestand der Welt als Welt ist bedroht. Das Schicksal, das dadurch herausgefordert wird, kann weder im naturalistischen Sinne als empirischer Kausalzusammenhang noch in moralischem Sinne als ewige Gerechtigkeit, weder als das Walten einer persönlichen Gottheit noch als die über Götter und Menschen erhabene, eherne Notwendigkeit gedeutet werden. Aus ihm spricht vielmehr die Stimme des Ur-Einen, auf dem die gegliederte Mannigfaltigkeit des Kosmos beruht. Der Vollstrecker des Schicksals aber ist der Held, der gewisse Aspekte des Dichterischen repräsentiert. In der Konfiguration der Urdreiheit kommt ihm die Position des Kindes zu. Denn das Kind steht im Schnittpunkt der Kraftlinien seiner Eltern. Der Konflikt, durch die Schuld des Vaters oder der Mutter ausgelöst, zerspaltet seine Seele. Die Gegensätzlichkeit des „äußeren Lebens" wird zu einem inneren Widerspruch und kann daher auch in der Innerlichkeit des Helden überwunden werden. Die im Geiste gewonnene Harmonie aber wirkt wiederum nach außen und heilt die Wunde der Welt, die durch die Schuld der Eltern entstanden ist. Die Wechselwirkung von Innen und
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Außen im Dienste der Welterlösung bestimmt die eigentümliche Struktur von Hofmannsthals Griechischen Tragödien. Auf Grund dieser Einsicht läßt sich die These rechtfertigen, daß sie keineswegs typisch griechisch sind, sondern in dramatischer Form und mythischem Gewand das Wunder des dichterischen Geistes darstellen, dessen allversöhnende Kraft die Welt aus ihrer Zersplitterung erlöst. Eben dadurch aber weisen sie sich als echte Schöpfungen Hofmannsthals aus. Denn der Glaube an die weltversöhnende Mission des Dichters ist ja ein charakteristischer Grundzug seines Wesens, der sich auf allen Entwicklungsstufen findet und noch in der ersten Fassung des Trauerspiels Der Turm (1925) zum Ausdruck kommt. Wenn die große Rede des Jahres 1927 („Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation") erklärt, „. . . alles im äußeren Zerklüftete" müsse „hineingerissen werden ins eigene Innere und dort in eines gedichtet werden, damit außen Einheit werde,"13 dann stützt sich noch dieser Versuch einer Lösung der europäischen Kulturkrise auf die Grunderfahrung des Dichterischen als der harmonisierenden Macht, welche die repräsentativen Gestalten des Frühwerks und der Griechischen Dramen geprägt hat. Freilich ist immer zu bedenken, daß das Dichterische in Hofmannsthals Werk durch eine reiche Polarität ausgezeichnet ist. Schon in den Jugendgedichten erscheint es unter den polaren Aspekten von Herrschaft und Dienst. Nicht nur der Kaiser von China („Der Kaiser von China spricht") ist ein Repräsentant des Dichters, sondern auch der Schiffskoch, der uns als Gefangener und Gepeinigter entgegentritt („Der Schiffskoch, ein Gefangener, singt"). Aber wenn in dem Gedicht das leidvolle Verkanntsein des Dichters beklagt wird, so findet es in der Rede von 1907 („Der Dichter und diese Zeit") seine volle Rechtfertigung. Dort beschreibt Hofmannsthal den Dichter als den unerkannten Bettler, der im Dunkel unter der Stiege liegt, und zwar in dem „Haus der Zeit," das im Grunde sein Eigentum
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ist Aber eben dieses unerkannte Wohnen erlaubt ihm eine leidend-genießende Teilnahme an allem. Als Bruder, ja als Sklave aller Dinge besitzt er eine unbegrenzte Kraft der liebenden Hingabe, die ihn zugleich befähigt, alles, was ihm entgegentritt, in sein eigenes Inneres hineinzunehmen und dort zu harmonisieren. Ein Vergleich mit den Jugendgedichten zeigt, daß die Aufgabe des Dichters grundsätzlich die gleiche geblieben ist und daß nur seine Haltung eine bezeichnende Abwandlung erfahren hat: der Herrschende ist zum Dienenden geworden. Der Auftrag der Weltversöhnimg wird nicht durch die Befehlsgewalt des zauberischen Wortes, sondern durch die Kraft der liebenden Hingabe erfüllt. Wenn die Welthaftigkeit des dichterischen Geistes ursprünglich als gegeben erschien, so ist sie nun das Ergebnis einer Ich-All-Identifizierung, die auf der grenzenlosen Bereitschaft zum Selbstopfer beruht. Mit dem Opfergedanken ist das zentrale Leitmotiv der Griechischen Dramen angeschlagen, das auch für die Werke der Reifezeit Bedeutung gewinnt. Allerdings unterscheiden sich die Hauptgestalten der Dramen von dem Idealbild des Dichters in Hofmannsthals Rede dadurch, daß sie nicht in einem unmittelbaren Verhältnis zum Universalen stehen. Sie sind vielmehr der Widersprüchlichkeit des zerspaltenen Daseins ausgesetzt. Ihre Position im Rahmen des Urdreiecks bringt sie in Gegensatz zu dem einen und in Verbindung mit dem anderen Konfigurationspartner. Aber gerade dies ist ja die Voraussetzung der dramatischen Form und zugleich zukunftsweisend für das weitere Schaffen Hofmannsthals. Die Repräsentanten des Dichters werden in eine doppelte Ich-Du-Beziehung hineingestellt. Sie sehen sich aus der mystischen Allverbundenheit der „Präexistenz," die gleichbedeutend ist mit Ungebundenheit, herausgerissen und den Bindungen des menschlichen Daseins unterworfen. Die Handlung aber ist darauf angelegt, den Gegensatz der Protagonisten (Elektra, ödipus) zu den schul-
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digen Gewalttätern (Klytämnestra, Lalos) zu überwinden und ihren Beziehungen zu den Opfern der Freveltaten (Agamemnon, Jokaste) eine seelisch-kosmische Universalität zu verleihen. So gewinnen die Repräsentanten des Dichters, nachdem sie durch die Verworrenheit und Schuld des Lebens hindurchgegangen sind, den Zugang zur Einheit des Ganzen. Alle Griechischen Dramen setzen ein nach dem tragischen Ereignis der Weltentzweiung und münden in die dichterische Tat der Weltversöhnung, d.h. in die mystische Identifizierung des erhöhten Ich oder Wir mit dem Universum. Die Magie aber, die diese Leistung vollbringt, ist nicht die des Wortes, sondern die der Opfertat. In ihr verbinden sich Rausch und Askese, Ekstase und Sittlichkeit. Das Motiv der Treue und des Opfers bestimmt das Weltverhältnis des Dichters in Hofmannsthals Werk nach der Jahrhundertwende. Die Existenz des ins Leben geworfenen Geistes gründet sich auf ein Paradox: der Weg zur Selbstbehauptung führt durch die Selbsthingabe. Der zur Erfüllung des dichterischen Auftrags auserwählte Held ist nun der „zum Opfer bestimmte" („Ad me ipsum," 215). Der Akt des Selbstopfers überbrückt nicht nur die Kluft zwischen Ich und Du, Geist und Welt — er bricht auch die selbstbesessene Lebensgier. Aus dem Rasen der natürlichen Triebe erhebt sich ein Über-Natürliches. Das endlose Werden wird unterbrochen durch ein Beharrendes, das in seinem innersten Wesen sittlich ist. Zugleich aber bindet die Treue den in der Totalität des Zeitlos-Einen schwebenden Geist an ein Einzelnes in der Zeit und überwindet so den Urgegensatz zwischen Werden und Sein. Darauf aber beruht für Hofmannsthal die echte menschliche Existenz. Da die Griechischen Dramen keine Transzendenz des Geistes kennen, bleibt dieser immanenten Sittlichkeit eine Bestätigung von „oben" versagt. Als Bleibendes ist sie jedoch einem anderen Bleibenden zugeordnet, das sich hinter der Dynamik des
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Lebens verbirgt. Es ist die Einheit des Seins, die tief unter der in Raum und Zeit auseinandergetretenen Wirklichkeit in sich selber ruht. Sie wird erfahren im unendlichen Augenblick der Liebe und des Todes. Die Verschränkung von Treue und Tod, von Bindung und Entbindung, von Lebensethik und Todesmystik ist ein charakteristischer Zug in Hofmannsthals Werk. Er erscheint bereits in jener Jugenddichtung, die das Thema der Treue anschlägt, in Der Tor und der Tod. Schon hier zeigt sich eine eigentümliche Auffassung von der inneren Polarität des Dionysischen, auf die wir noch zurückkommen werden. Der dionysische Tod, der identisch ist mit dem die Grenzen des persönlichen Ich sprengenden Rausch des All-Einen, tritt nämlich zugleich als Mahner zu Bindung und Gesetz auf. So kann Claudio, der Held des Spiels, einerseits den Entschluß fassen „Ich will die Treue lernen . . ." und andererseits im Fühlensübermaß des Sterbens eine ekstatische Erfüllung finden. Im melodramatischen Kurzschluß des Endes fallen Ethik und Mystik zusammen. Das Thema der Treue kann nicht entwickelt werden, weil die Konfiguration des Spiels keine echte Ich-Du-Beziehung des Helden vorsieht. In den Griechischen Dramen dagegen (und das gilt bereits für die bald nach Der Tor und der Tod entstandene Übertragung des Dramas Alkestis von Eurípides) kommt das Motiv der Treue und des Opfers zu voller Entfaltung. Schon hier sei darauf hingewiesen, daß für Hofmannsthal Treue, Opfer und Tat aufs engste zusammengehören. Das Selbstopfer ist der höchste Ausdruck der Treue und zugleich das tiefste Wesen der Tat. Denn die wahre Tat steht über dem Handeln (im üblichen Sinne des Wortes), das den Menschen durch die Wechselwirkung von Stoß und Gegenstoß nur immer tiefer in das dem Individuationsprinzip verfallene Leben verstrickt. Der egozentrische Gewalttäter, der den elementaren Trieb der Selbstsucht bejaht und sich durch die Zerstörung des
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Du behaupten will, wird weit übertroffen von dem Opfertäter, der durch die Kraft der Selbsthingabe ausgezeichnet ist und durch sein Aufgehen im Du die tragische Trennung des Lebendigen überbrückt. Dieser Vorgang der Ich-Du-Verbindung gewinnt durch die Magie des Opfers Gegenseitigkeit: in dem Maße, in dem sich das Ich in das Du verwandelt, verwandelt sich das Du in das Ich. Mit dieser „allomatischen" Verwandlung wird die höchste Form der Liebe Ereignis und erlöst die Welt vom Fluch der Gespaltenheit. Auf dem Vorgang der Selbsthingabe beruht aber auch die Leistung des Dichters und die Wirkung des Dichterischen. Nirgends hat Hofmannsthal dies stärker betont als im „Gespräch über Gedichte" (1903).15 Der fiktive Dialog sieht im Symbol das „Element der Poesie." Die symbolischen Bilder und Gestalten des Dichters haben die zauberhafte Kraft, uns in ihren Bann zu ziehen, sodaß wir uns selbst vergessen und in ihnen aufgehen. Daher kann Gabriel, der führende Gesprächspartner, fragen: „. . . was ist klarer, als daß sich mein Fühlen in Hamlet auflöst, solange Hamlet auf der Bühne steht und mich hypnotisiert?" Die Wirkung von Dichtung beruht also auf einem magischen Akt, in dem der Hörer oder Leser sich mit dem dichterischen Symbol identifiziert. Für Hofmannsthal hat dieser Akt religiöse Bedeutung. Er vergleicht ihn daher mit dem Vorgang des Schlachtopfers, bei dem der stellvertretende Opfertod des Tieres eine symbolische Identität des Opfernden und des Geopferten voraussetzt. Gabriel erklärt: Der Mensch, der das erste Tieropfer brachte, „muß, einen Augenblick lang, in dem Tier gestorben sein, nur so konnte das Tier für ihn sterben." Was für die Wirkung von Dichtung gilt, trifft auch auf die Leistung des Dichters zu. Sie ist bedingt durch die wechselseitige Durchdringung von Stoff, Schöpfer und Werk. Um die Natur in die Vision des Gedichts zu heben, muß der Dichter sich der Erscheinungswelt ganz hingegeben haben. Wenn die
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Bilder und Gestalten seines Werkes den Leser bezaubern und verwandeln sollen, so muß der Dichter selbst in allen lebendig sein. Hofmannsthal kommt daher zu der Schlußfolgerung, die Selbstaufgabe sei „die Wurzel aller Poesie." Das Wort des weltlosen Dichters, der sich in die eigene Innerlichkeit verschließt, muß leer und wirkungslos bleiben. Erst durch die Hingabe des dichterischen Geistes strömt die Lebensfülle in das dichterische Wort und gibt ihm die Kraft, das Lebendige zu bewegen. Auf der Opfertat beruht zugleich die wahre Freiheit des ins Leben geworfenen Geistes. Sie stellt für Hofmannsthal ein Paradox dar, denn sie besteht in der Identifizierung des Helden mit dem Willen des Schicksals. Aus der geistesgeschichtlichen Situation des Verfassers erklärt sich der Umstand, daß es ihm schwerer fällt, diese Freiheit der Selbstüberwindung zu gestalten, als den Autoren der klassischen Epoche. Denn er sieht sich der Herausforderung des entfesselten Lebens gegenüber, die den unbewußten Trieb als bestimmende Schicksalsmacht proklamiert. Wir deuteten schon an, daß sich Hofmannsthal nicht auf eine der im 19. Jahrhundert entwickelten Positionen festlegen läßt. Zwar erkennt er mit Schopenhauer in der ungebändigten Lebensgier eine dämonische Kraft, die zum Kampf aller gegen alle drängt. Aber er folgt ihm nicht in der Verurteilung des Lebens. Ebensowenig identifiziert er sich mit der romantischen Abkehr von der Lebenswirklichkeit, mit der Ich-Auflösung in den Wonnen des Liebestodes, wie sie Wagner in Tristan und Isolde verherrlicht. Auf der anderen Seite ist ihm aber auch die Glorifizierung des barbarischen Lebens, wie sie von Nietzsche vertreten wird, nicht gemäß. Die Universalität des Hofmannsthalschen Geistes erweist sich darin, daß er in seinem Werk sowohl die Flucht vor dem Leben (Elis in Das Bergwerk zu Falun, verfaßt um 1899) als auch die enthusiastische Verfallenheit an das Leben (der Abenteurer in Der Abenteurer und
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die Sängerin, 1899) gestaltet, ohne sich doch auf eines dieser Extreme festzulegen. Zwischen der Askese des Geistes und der Trunkenheit des Blutes findet er vielmehr die für ihn charakteristische Synthese in der Haltung des Opfertäters, der den Trieb bändigt, indem er ihn beseelt. In diesem Akt der Durchdringung von Leben und Tod, Trieb und Geist wird die dionysische Vereinigung des Gegensätzlichen verwirklicht. Mit Dionysos erscheint eine Gestalt, die in Hofmannsthals Werk leitmotivischen Charakter besitzt. Sie leuchtet bereits in der Jugenddichtung an entscheidenden Stellen auf, entfaltet aber erst nach der Krise um die Jahrhundertwende ihre volle Bedeutung. Bezeichnenderweise tritt sie in den Entwürfen zu einem Trauerspiel Pentheus (1904), das sich auf Die Bacchen des Euripides stützt, als tragende Figur auf. Hier ist Dionysos bestimmt durch die gleiche Polarität, welche die Gestalt des Todes in Der Tor und der Tod kennzeichnet. Die Entwürfe Hofmannsthals schildern den Einbruch rauschhaften Lebens in das erstarrte Herrschaftssystem eines Geistes, repräsentiert durch Pentheus, der nicht mehr von den unterirdischen Quellen genährt wird und daher den Zusammenhang mit dem Ganzen des Daseins verloren hat. Die sich selber fragwürdige Ordnung wird durch eine Woge der Lebens- und Todestrunkenheit hinweggeschwemmt. Aber der Sieg des Dionysos führt nicht zu einer zügellosen Herrschaft des Triebes. Die Auflösung der erstarrten Herrschaftsordnung erweist sich als Regenerationsprozeß. Am Ende steht die Rückkehr der Entfesselten aus dem rauschhaften in das soziale Leben, und es ist Dionysos selbst, der, „eine gewaltige Stimme erhebend wie eherne Trompete,"16 sie zur Ruhe ruft. Die literarische Kritik hätte sich mancherlei Mißverständnisse ersparen können, wenn sie früher zu der Einsicht gekommen wäre, daß der Dionysos Hofmannsthals weder auf das mythische Urbild noch auf eine seiner geistesgeschichtlichen w.-c
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Abwandlungen festgelegt werden kann. Vielmehr mußte Dionysos, als der im irdischen Weibe gezeugte, als der sterbende, zerrissene und wiedergeborene Gott, der die Gegensätze des Daseins in sich vereint, für ihn zum mythischen Repräsentanten seines eigenen Dichtertums werden. Begreiflicherweise gewinnt dieses Konzept des Dionysischen eine gesteigerte Bedeutung dort, wo die tragische Zerrissenheit der Welt das beherrschende Thema ist, in den Tragödien. Schon der junge Hofmannsthal notiert: „Der tragische Grundmythos: die in Individuen zerstückelte Welt sehnt sich nach Einheit, Dionysos Zagreus will wiedergeboren werden."17 In der Tat ist die wiedergewonnene Einheit das Ziel der Griechischen Dramen. So könnte man sie also als dionysische Tragödien bezeichnen, wenn dieser Terminus nicht durch Nietzsches Schrift über Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik vorbelastet wäre. Eine Klärung der Zusammenhänge ist umso wichtiger, als hier sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Gegensätze bestehen. Wenn der junge Nietzsche die Hoffnung auf die Wiedergeburt des Dionysos als einen „Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt" 18 bezeichnet, so ergibt sich schon aus der Analogie der Formulierungen, daß der Dichter dem Philosophen in der Grundauffassung der Tragödie verpflichtet ist. (Auch für Hofmannsthals Allgemeinbild der Antike ist die Re-interpretation der griechischen Kultur durch Bachofen, Burckhardt und Nietzsche bedeutsam gewesen.) Die Griechischen Dramen stehen also im Zeichen der Mysterienlehre der Tragödie, denn auch in ihnen ereignet sich das „Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein," von dem Nietzsche spricht. Bei näherem Zusehen ergeben sich aber doch auch sehr bezeichnende Unterschiede. Denn unter Ursein versteht Nietzsche nicht die jenseits von Raum und Zeit selig in sich kreisende Harmonie des All-Einen, wie sie etwa in der Vision des Sehers Teiresias (ödipus und die
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Sphinx) aufleuchtet, sondern den „Willen." Es ist nach Nietzsche die Aufgabe der dionysischen Kunst, diesen Willen „in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principium individuationis, das ewige Leben jenseits aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung" zum Ausdruck zu bringen. Darin besteht der metaphysische Trost, ja die metaphysische Freude, die die dionysische Tragödie vermittelt. Der Held, die höchste Willenserscheinung, „wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird." Auf den Höhepunkten der Handlung identifiziert sich der Zuschauer mit dem Willen zum Leben: „Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Übermaaß von unzähligen, sich in's Leben drängenden und stoßenden Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermeßlichen Urlust am Dasein Eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen." Der ganze Nachdruck liegt hier auf der unersättlichen Daseinsgier des Lebenstriebes. Das „Ursein" enthüllt sich als ein ewiges Werden, das von einer unerschöpflichen Zeugungslust getrieben wird. Der Zuschauer erlebt mit dem Helden die Schrecken der individuellen Existenz, aber er überwindet das Entsetzen vor der Absurdität des Daseins, indem er sich dem Rausche des sich immer neu gebärenden Lebens hingibt. Damit folgt er dem Ruf der Natur, der in der dionysischen Kunst laut wird: „ ,Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!' "
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Wir glauben gezeigt zu haben, daß von einer solchen Verherrlichung der ewig gebärenden und verschlingenden Urmutter Natur bei Hofmannsthal nicht die Rede sein kann. Für ihn handelt es sich nicht um die radikale Bejahung eines Extrems, sondern um die Darstellung der versöhnten Gegensätze des Daseins im dichterischen Menschen. Gewiß, auch die Griechischen Dramen enden als Welterlösungsfeste, so wie es Nietzsches Theorie vorsieht. Aber in ihnen wird nicht der Triumph des Lebenstriebes über den Menschen gefeiert, sondern der Mensch selbst, der die Polarität von Werden und Sein, Leben und Tod in sich aufgenommen hat und so das Ganze ekstatisch darstellt. Die Erhöhung der Hofmannsthalschen Helden in den Schlußszenen darf weder mit Blutrausch noch mit Sexualorgie verwechselt werden. Denn die Erhöhten haben die sittliche Leistung des Selbstopfers vollbracht, und ihre Tat stellt mit der kosmischen Ordnung auch die soziale Ordnung wieder her. Eben weil dies so ist, können die Griechischen Dramen nicht als Tragödien im strengen Sinne betrachtet werden, die in jenem Grenzbereich spielen, wo Sinn und Unsinn, Glaube und Verzweiflung sich erschreckend mischen. Selbst dort, wo der Held stirbt, wie in Elektro, ist der Untergang des persönlichen Ich verklärt durch seine Erhöhung ins Universale. Man könnte die Griechischen Dramen daher als dramatische Mysterienspiele bezeichnen, die auf der Dialektik des Tragischen und Mystischen beruhen. Im Frühwerk Alkestis ist der Vorgang noch ganz eindeutig; die Tragik der zersplitterten Welt wird durch das dionysische Mysterium überwunden. In Elektro jedoch erscheint die mystische Erhöhung der Heldin zugleich unter tragischem Vorzeichen. Die persönliche Tragik der treuen Tochter, die sich für den Vater opfert, wird zwar durch ihre Entrückung ins Ewige aufgehoben, aber eben damit verfehlt sie den Weg in die Zeit und zu den Menschen. Die ödipusgestalt
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schließlich ist bestimmt durch eine mehrfache Überblendung des tragischen und des mystischen Aspekts. Der auserwählte königliche Jüngling muß durch das Orakel erfahren, daß er der Verfluchte ist. Aber der Fluch enthält zugleich den Segen dionysischer Lebenserfüllung. Diese ihrerseits erscheint wieder im Lichte apollinischer Erkenntnis als Schuld und Hybris und muß daher zur Katastrophe führen. Aber auch die ödipustrilogie, die Hofmannsthal plante, wäre keine Tragödie im strengen Sinne des Wortes geworden, denn sie hätte die Tragik des von den Göttern gestürzten hohen Menschen zuletzt in seiner Entrückung aufheben müssen. Es versteht sich, daß die üblichen Ordnungsbegriffe, wie Charakter- oder Schicksalsdrama, nicht auf die Griechischen Dramen anwendbar sind. Hofmannsthals Gestalten sind keine Charaktere im Sinne des psychologischen Dramas, sondern Repräsentanten von Seinsmächten, die sich um die Mitte des hohen Menschentums gruppieren. Das Schicksal aber ist identisch mit dem Gesetz der Mitte und daher trotz der tragischen Aspekte grundsätzlich auf die Erfüllung des Helden angelegt, allerdings ohne daß er sich dessen bewußt wäre. Das einzige wirklich tragische Thema Hofmannsthals ergab sich in dem Augenblick, da dieses Konzept des Schicksals fragwürdig wurde. Es ist das Thema des Dichters, der mit seinem Auftrag der Welterlösung am Widerstand der Welt scheitert. Damit aber war Hofmannsthals dichterische Existenz selber in Frage gestellt. Es spricht für die Heldenhaftigkeit dieses von der Seligkeit der Harmonie erfüllten Autors, daß er der Drohung des Verhängnisses nicht ausgewichen ist. In der letzten Fassung des Trauerspiels Der Turm (1927) hat er den Prinzen Sigismund als den vom Geist der Liebe beseelten Erlöser dargestellt, der seine Erlösungstat nicht vollbringen kann, weil er der brutalen Gewalt der modernen Diktatur zum Opfer fällt. Hier ist das geheime Band zwischen der Macht des Schicksals
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und der Macht der Liebe, das die früheren Dramen Hofmannsthals zusammenhält, gelöst. Das Geschick erscheint als Geschichte, die autonom geworden ist und den Sinn der menschlichen Existenz bedroht. Die große klassische Vision der einen Welt, in der Geist Leben ist und Leben Geist, zerbricht. Und selbst für die eschatologische Hoffnung Hölderlins auf die Rückkehr der Götter in die entgötterte Welt bleibt kein Raum. Aber wenn das Opfer des Helden die Welt auch nicht verwandeln kann, so ist es doch nicht sinnlos. In ihm erweist sich der Geist als die wahre Wirklichkeit, die über die Gewalt des Tatsächlichen erhaben ist und deren Abglanz das Dunkel der Weltnacht durchbricht. Man wird dem Dichter nicht gerecht, wenn man versucht, diese letzte und einzige Tragödie aus seinem Werk auszuklammern oder als ein Dokument des Nihilismus zu verurteilen. Hart an der Grenze der Selbstaufhebung stehend, entrichtet Hofmannsthal in ihr der ungebändigten Dämonie der geschichtlichen Bewegung seinen Tribut. Ohne den Glauben an das Licht des Geistes aufzugeben, erkennt er die Schwerkraft des Materiellen an und widerlegt damit den Verdacht, er sei der unermüdliche Sänger eines kosmischen Idylls, dessen Schönheit um den Preis der Wahrheit erkauft werden müsse. Daß er, der so tief von der erlösenden Kraft des dichterischen Geistes überzeugt ist, den Mut hat, auch sein Scheitern in der Welt zu gestalten — darin liegt die Größe einer letzten Selbstüberwindung, die Ehrfurcht gebietet.
Alkestis Es wurde oben darauf hingewiesen, daß sich Hofmannsthal bereits in seiner Jugenddichtung dem griechischen Drama zugewandt hat. Die Freie Übertragung der Alkestis des Euripides entstand bald nach Der Tor und der Tod um die Jahreswende 1893/94. In ihr greift Hofmannsthal die für sein späteres Schaffen richtungsweisenden Motive von Opfertod und Wiedergeburt einer Liebenden auf. Wie man sich erinnert, schildert das Spiel des Euripides das Schicksal der Königin Alkestis, die ihren Gatten, Admet, mehr liebt als sich selbst. Daher geht sie für ihn, den Apollon um den Preis eines freiwilligen Opfers vom Zwang des Sterbenmüssens losgekauft hat, in den Tod. Die Gestorbene aber wird vom Halbgott Herakles dem Tode entrissen und mit dem trauernden Admet, der ihr die Treue gehalten hat, wieder vereint. Schon dieser kurze Überblick zeigt, welch tiefer Zusammenhang zwischen der eigenen Produktion des jungen Dichters und seiner Übertragung des Euripides besteht. Hofmannsthal nimmt eine „fremde" Dichtung nicht aus kulturhistorischem oder philologischem Interesse in sein eigenes Werk auf; er folgt vielmehr dem Grundsatz der Wahlverwandtschaft. Aus dem unerschöpflichen Füllhorn dichterischer Tradition greift er die Gestaltungen heraus, die zum Ausdruck seines eigensten Anliegens werden können. Dieses Anliegen, die Versöhnung der tragischen Gegensätze des Daseins im dichterisch-königlichen Menschen, ist grundsätzlich immer das gleiche. Nur die Situationen und die Konstellationen der Kräfte erfahren Abwandlungen, die für die jeweilige Entwicklungsstufe des Dichters charakteristisch sind. Alkestis ist dadurch ausgezeichnet, daß die Problematik der frühen Jugendperiode gelöst wird mit dichterischen Mitteln, die weit vorausweisen auf die Werke der 39
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Reifezeit. Sowohl die Magie des Opfers wie auch die „allomatische" Verwandlung durch die hohe Liebe, die Hofmannsthal in dem Selbstkommentar zu Ariadne auf Naxos fast 20 Jahre später beschreibt, treten hier bereits als Motive auf und verleihen dem Handlungszusammenhang seiner antiken Vorlage tiefere Bedeutung. Wie weit Alkestis über Der Tor und der Tod hinausführt, geht aus der Tatsache hervor, daß hier die entscheidende Erfahrung von Tod und Wiedergeburt nicht in der Innerlichkeit des isolierten Ich, sondern in der Ich-Du-Gemeinschaft zweier Liebenden stattfindet. Claudio kommt über den Willen zur Bindung und über das Paradox des Sterbens, in dem ihm der Tod als das wahre Leben erscheint, nicht hinaus. Für Alkestis und Admet dagegen wird die Todesmystik in ihrer Lebensgemeinschaft und ihrem Lebensamt fruchtbar. Die reine Atmosphäre des Spiels, die den Fieberdunst der Leidenschaften nicht kennt, erlaubt es dem Dichter, das Motivgefüge in schöner Freiheit zu entfalten. Das erste der Griechischen Dramen ist noch nicht unter dem Medusenblick des Lebens geschrieben; darum ist es harmonischer, aber zugleich auch unproblematischer als die späteren Stücke. Die Krise der Jahrhundertwende ist in Alkestis noch nicht akut geworden; insofern gehört das Spiel trotz aller zukunftsweisenden Elemente doch der frühen Schaffensstufe an. Vor allem fehlt diesem Stück gerade das Dramatische, das Hofmannsthal nach 1900 erstrebte. Keine Gewalttat, kein Mord löst die Handlung aus; denn das Leben steht hier nicht unter dem Gesetz des Triebes, sondern unter dem der Vergänglichkeit. Daher ist auch das Motiv der Lebensschuld, das später in ödipus und die Sphinx dominiert, noch kaum entwickelt. Das Opfer der Alkestis bleibt unbefleckt. Der Weg zum höheren Leben führt noch nicht durch die Wildnis der Niederungen. Nicht die Erfüllung des Schicksals, sondern die Flucht vor dem Schicksal macht den Menschen schuldig. So ist Admet, der
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König, manchen anderen männlichen Helden des Jugendwerks verwandt im Versuch, sich dem Schicksal zu entziehen. Dieses Schicksal aber ist hier nicht in die Schrecken des Lebens gekleidet; es trifft den König vielmehr im Grauen vor dem Tod. Die Bewältigung des Lebens erweist sich hier wie in anderen Jugendwerken als gleichbedeutend mit der Bewältigung des Todes. Der Tod aber erscheint zunächst als Herr der Vergänglichkeit, vor dem sich die Nichtigkeit des Lebens enthüllt. Wenn Hofmannsthal die Grundstimmung von Alkestis als „das unsäglich Wundervolle des Lebens" 19 beschreibt, so tritt in dieser Wendung nur ein Aspekt hervor. Denn Leben und Tod sind durch die Polarität des Wundervollen und des Grauenhaften bestimmt. Mit dieser polaren Perspektive geht Hofmannsthal über Euripides hinaus. Er projiziert seine eigene Todesauffassung in die Landschaft der antiken Fabel und verleiht ihr damit eine metaphysische Tiefe, die sie ursprünglich nicht besaß. Während Euripides den Tod nur als den schwarzbeschwingten Würger, den Vernichter des Lebens kennt, erhebt Hofmannsthal den Halbgott Herakles zum Künder des dionysischen Todes, in dem das Wunder des der Zeit entrückten, in sich ruhenden, göttlichen Seins erfahren wird. Der Tod erscheint also im Zeichen des Werdens (oder besser: des Vergehens) und im Zeichen des Seins. Jedem der beiden Aspekte ist eine bestimmte Lebenshaltung zugeordnet. Das Wissen um den zerstörenden Tod drängt zum Genuß des flüchtigen Moments, wie er vom Chor der jüngeren Frauen gefordert wird: O brechet die Früchte, umschlinget einander, beladet mit Leben die fliehenden Stunden, mit Lachen und Liebe, mit Herrschaft und Lust!20 Wie sich zeigt, ist die Bejahung des Moments, d.h. des Werdens, gleichbedeutend mit der Bejahung des Lust- und Machtprinzips, das dem natürlichen Leben zugrunde liegt. Die
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Erfahrung des dionysischen Todes dagegen vermittelt den Kontakt mit dem Ganzen als dem Muttergrund jeder individuellen Existenz. Diese Erfahrung ist in ihrer höchsten Form dem königlichen Menschen vorbehalten, der sich kraft seiner Opfergesinnung über den Egoismus des Selbsterhaltungstriebes zu erheben vermag und damit die bloße Natur überwindet. Die Entwicklung der beiden Hauptgestalten, Alkestis und Admet, verläuft vom einen zum anderen Pol der Todeserfahrung. Auch Alkestis kennt zunächst nur die Angst vor dem düsteren Tod, und Admet, zurückschauernd vor der Macht der Vergänglichkeit, ruft aus: So grauenvoll ist, wenn man es bedenkt, das Leben. (24) Beide finden Erlösung vom Flucb der Zeit im Geheimnis des Seins, dessen Verkünder Herakles ist. Wenn im folgenden versucht wird, ein Schema der Konfiguration zu entwerfen, das der Handlung des Stückes zugrunde liegt, so handelt es sich naturgemäß um eine Arbeitshypothese, die keine absolute Gültigkeit beansprucht. Wie bereits erwähnt, wird der Konfigurationskern der Griechischen Dramen von einem Dreieck gebildet, das in einen Kreis eingelassen ist. In diesem inneren Bezirk stehen die Vertreter der älteren und der jüngeren Generation, Eltern und Kind, einander gegenüber. Hier ereignet sich das eigentliche dramatische Geschehen; hier wird die Einheit des Daseins zerbrochen und wieder geheilt. Der innere Kreis der Konfiguration ist jedoch von einem äußeren umschlossen. Dieser umreißt ein Kraftfeld, in dem die Grundformen des Daseins (Leben und Tod; Sein, Nichts und Werden) in repräsentativen Gestalten erscheinen. Es ist bezeichnend, daß sich Hofmannsthals Kunst der Konfiguration erst in ödipus und die Sphinx voll entfaltet. Aber auch schon in Alkestis ist der schöpferische Drang des Dichters auf
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die Form des Welttheaters hin deutlich spürbar. Denn auch hier öffnet sich im äußeren Kreis, in dem Apollon, der Tod und Herakles auftreten, der Raum des Göttlichen und Dämonischen, der den inneren Bezirk des Menschlichen umgrenzt. Apollon: unsterblich und schicksallos
Die Gestalt Apollons ist einzigartig in der Welt der Griechischen Dramen; denn diese Welt ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß das „Obere" nicht in Erscheinung tritt. Die ewigen Götter, die über dem Leben und über dem Tod stehen, sind den Menschen unzugänglich. (Elektra z.B. betont wiederholt, sie kenne die Götter nicht.) In den Umkreis des irdischen Daseins hineingebannt, erfahren die Protagonisten das Göttliche nicht als apollinische Transzendenz, sondern als dionysische Immanenz. Mit dem Verzicht auf die Transzendenz des Geistes trägt Hofmannsthal der geistesgeschichtlichen Situation um die Jahrhundertwende Rechnung, die im Zeichen Nietzsches steht. Apollon also, der unsterbliche Gott, wirkt wie ein Außenseiter in diesem Spiel, in dem gerade das Totsein von Herakles als „göttliche Art der Trunkenheit" (37) gepriesen wird. Freilich ist der unsterbliche Gott mit der Vorgeschichte des Spiels untrennbar verbunden; denn er befreit durch seine Fürbitte beim Schicksal König Admet von der Drohung des Sterbenmüssens. Aber dieser Schritt, der mit der Liebe Apollons zum sterblichen Menschen begründet wird, ist doch recht zweideutiger Natur. Zwar mildert er die Todesangst Admets, aber zugleich verleitet er ihn auch zu seinem eigentlichen Vergehen: dem Fluchtversuch vor dem Schicksal des Todes. Nichts deutet darauf hin, daß der wissende Gott, der die Ankunft des Herakles voraussieht, Einsicht in die tiefere Bedeutung des Schicksalstausches besäße. Im Gegenteil, wenn er den Tod zu überreden sucht, die alten Eltern Admets anstelle der jungen Frau mit sich zu nehmen, so steht er damit der Erfüllung des Schicksals — und
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das ist hier gleichbedeutend mit der Erfüllung des hohen Menschentums — im Wege. Der unsterbliche, schicksallose Gott ist vom schicksalhaften Verhältnis des sterblichen Menschen zum Tode ausgeschlossen. Das Sterbenkönnen erweist sich als eine paradoxe Möglichkeit der Selbsterfüllung, die nur dem hohen Menschen zukommt. Sie gibt seiner Existenz eine tiefe metaphysische Rechtfertigung und bewahrt auch angesichts der ewigen Götter ihre eigentümliche Bedeutung. Denn der tod-losen und daher auch leb-losen Transzendenz des Göttlichen tritt in Hofmannsthals Dramen die Tod und Leben vereinende Immanenz entgegen, die eine eigene, dionysische Form der Göttlichkeit darstellt. Ihren Höhe- und Umschlagspunkt erreicht die Vergöttlichung des königlich-dichterischen Menschen am Ende von Ödipus und die Sphinx. In der Schlußhymne der Jokaste werden die Götter, die nicht sterben können, arm genannt. Damit enthüllt sich die dionysische Todesbejahung als Hybris, die dem Sturz des göttlichen Menschen ins Elend des Sünders vorausgeht. Von einer solchen Tragik des Dionysischen ist in Alkesiis noch nichts zu spüren. Wohl aber zeichnet sich (trotz Apollons) die Eigenart des Hofmannsthalschen Weltbildes ab. Denn der Wille des Schicksals, dessen Ort im Mittelpunkt des Konfigurationsschemas gedacht werden muß, ist der Wille zur Harmonie. In ihrer höchsten Form aber stellt sie sich in den Helden dar. Die Griechischen Dramen sind also auf die Identifizierung der Hauptgestalten mit dem Schicksal angelegt. Und zwar handelt es sich nicht nur darum, daß die Protagonisten das Schicksal als eine objektive Macht bejahen und auf sich nehmen. Vielmehr fallen die Grenzen zwischen außen und innen. Indem die Helden ihr eigenwilliges Ich hingeben, nehmen sie den Willen des Schicksals in sich auf und gewinnen damit jenes universale Ich des Dichters, in dem die Gegensätze der äußeren Welt aufgehoben sind. Darin ist der eigentliche Sinn der Hand-
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lung zu sehen, der freilich weder in Alkestis noch in Ödipus und die Sphinx den Handelnden bewußt ist. In beiden Werken verbirgt sich die wahre Natur des Geschicks hinter dem Schein des Orakels. In Alkestis scheint die Intervention Apollons dem König die Freiheit vom Schicksal zu gewähren. Aber diese falsche, selbstsüchtige Freiheit dient doch nur dazu, die echte hervorzulocken, nämlich die Freiheit zum Schicksal, die im Selbstopfer der Königin zur Tat wird und den scheinbar losgekauften Mann erst recht bindet. Der schwarzbeschwingte Würger Tod Wenn der wahre Sinn des Schicksals wenigstens im ersten Teil des Dramas verhüllt bleibt, so ist dies vor allem der düsteren Erscheinung des Todes zuzuschreiben. Er tritt als der Menschenschnitter auf, der ein Schwert in der Hand trägt und sich seiner Macht freut, „junge und schöne Menschen hinzustrecken" (11). In ihm gewinnt nicht nur die unerbittliche Notwendigkeit des Sterbenmüssens, sondern zugleich die Dämonie des Vernichtenwollens Gestalt. Die folgende Szene der um das Schicksal der Königin besorgten Edlen im Vorhof des Palastes ist denn auch beherrscht von einer lastenden Atmosphäre des Grauens. In der unheimlichen Stille kommt die Unheimlichkeit des Lebens zum Ausdruck, das ganz dem Verhängnis der Vergänglichkeit und Nichtigkeit verfallen zu sein scheint. Auch das Auftreten der sterbenden Alkestis bringt keine Wandlung. Im Gegenteil, ihr Dahingehen scheint gerade die Ubermacht des Todes zu bestätigen, die sich in der Flüchtigkeit der menschlichen Existenz enthüllt: Denn sterben muß ich, sterben, heute! hier! In dieser Stunde sagt ihr noch: „Sie war." (21) Das tragische Motiv der Todesverfallenheit wird aufgenommen vom Chor der älteren Frauen. Sie singen das
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Schicksalslied des stolzen Menschen, der „im hohen Wagen des Lebens" dahinfährt, bis ihn das „stumme Geschick" anspringt und mit „eichener Keule" niederschlägt (25). Hier wird die Einsicht ausgesprochen, daß eine Lebenshaltung, die sich auf das egoistische Lust- und Machtprinzip gründet, nur ein negatives Verhältnis zum Schicksal kennt. Das Schwert des Todes und die Keule des Geschicks stehen in innerer Analogie als Symbole der dämonischen Vernichtungsmächte, die über das natürliche Leben verhängt sind. Aber auch der königliche Mensch fällt dem Verhängnis zum Opfer, wenn er sich nicht opfern kann. Die Flucht in den Genuß der „fliehenden Stunden," die vom Chor der jüngeren Frauen empfohlen wird, bietet keine echte Lösung. Nur im Bleibenden kann die Rettung vor dem Fluch der Vergänglichkeit gefunden werden. Das Selbstopfer der Königin aber hat bereits den Zugang zu diesem Bleibenden eröffnet. Es erschließt sich, durch eine für Hofmannsthal charakteristische paradoxe Fügung, im Zentrum des Nichts. Der Gesang der Sklavinnen vor dem Auftritt des Herakles trägt dieser Entwicklung Rechnung. Er enthüllt die Doppeldeutigkeit des Todes, der als „Geier" oder als „Falter" gesehen werden kann (26). Herakles: Bote des Dionysos >
Mit Herakles erscheint die Gestalt des äußeren Konfigurationskreises, die für den Handlungsablauf und den Motivzusammenhang des Dramas die größte Bedeutung besitzt. Sein Auftreten markiert den Wendepunkt des Spiels, denn es führt zur Verwandlung der Welt. Hier tritt der Umschlag aus dem Grauenhaften ins Wunderbare ein, von dem bereits die Rede war. Das Verhängnis des vergänglichen Lebens wird aufgehoben durch die Erfahrung des unvergänglichen Seins, die im Tode zu gewinnen ist. Diese Erlösungsbotschaft zu verkünden, ist der erste Auftrag des Hofmannsthalschen Herakles, der sich
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gerade darin wesentlich von der Dramengestalt des Euripides unterscheidet. Denn während der antike Halbgott das lustvolle Leben im heutigen Tage preist, ist Hofmannsthals Herakles eng verwandt mit der Gesalt des Todes in Der Tor und der Tod. Auch er gehört zu „des Dionysos, der Venus Sippe", auch er ist ein Bote jener höchsten Welt, die im Zeichen des All-Einen steht. Das mystische Wissen um den göttlichen Urgrund des in sich ruhenden Seins, aus dem sich alles vergängliche Einzelne erhebt und in den es wieder zurücksinkt, befreit das Leben vom Fluch des Todes. Der Alpdruck der Vergänglichkeit weicht, denn das Schicksal des Sterbenmüssens, das zunächst als Triumph des Nichts erschien, erweist sich als Erhöhung in die göttliche Trunkenheit des mütterlichen Alls. Erst damit wird der Blick frei für das „unsäglich Wundervolle des Lebens," von dem Hofmannsthal im Zusammenhang mit Alkestis spricht. Die Perspektive des Wunders aber, die den Schrecken überwunden hat, ist die des dionysischen Dichtertums. Der Sieg des Herakles über den vernichtenden Tod, der im Gewand der Fabel als ein Ringen geschildert wird, hat also für Hofmannsthal symbolische Bedeutung. Die Drohung des Nichts wird von der rettenden Macht des Seins überwunden, die Lösung der Antinomie der Zeit im Ereignis der Wiedergeburt vorbereitet. Diese höchste Tat kommt jedoch nicht dem Halbgott, sondern dem Menschen zu. Als Sohn einer sterblichen Mutter steht Herakles den Menschen näher als der Gott Apollon und kann daher zum Lehrmeister des dionysischen Lebens werden. Aber als Sohn des Zeus steht er doch auch wieder über der Ebene des Menschlichen. Sprachrohr und Werkzeug des Schicksals, trägt er zwar zur Schicksalsverwirklichung bei, geht aber nicht in den eigentlichen Vorgang der Wiedergeburt ein, der auf der IchDu-Verwandlung durch das Liebesopfer beruht. Herakles bleibt unverwandelt, gerade weil er stärker ist als der Schnitter Tod. Die Wiedergeburt aber, in der sich die polaren Aspekte von
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Leben und Tod verschränken, wird um den Preis des Sterbens erkauft. Es ist wichtig, daß Hoftnannsthal den Helden seines Dramas das Sterben nicht leicht macht. Die Bitternis des vernichtenden Todes ist keineswegs von Anbeginn im mystischen Entzücken der Erhöhung aufgehoben. Die Todesangst muß vielmehr durchlitten, die Zone des Grauens muß durchschritten werden, damit das Opfer echt sei und die paradoxe Einheit des Gegensätzlichen erscheine. Das Preislied des zechenden Herakles auf den Tod als „göttliche Art der Trunkenheit" und auf den Rausch des Weines und der Sinnlichkeit als Zugang zur Erfahrung des Wunderbaren im Leben hat also nur bedingte Gültigkeit. Uber der Selbstvergessenheit des Rausches steht die der Liebe, weil sie die sittliche Form der Selbstaufgabe mit einschließt. Daher ist es bezeichnend, daß der dionysische Zecher, der mit dem epheubekränzten Becher auftritt, sich am Ende als Lehrer der Frömmigkeit und Gerechtigkeit erweist. Aus seinem Munde erfährt die Tat der Alkestis ihre tiefste Bestätigung. Der Vorgang der Wiedergeburt, den wir immer wieder als Höhepunkt der reifen Werke Hofmannsthals finden, beruht auf dem Opfer, nicht auf der Orgie. Der Bezirk des Menschlichen Der apollinische Gott, der dionysische Halbgott und der Würger Tod bezeichnen, wie wir gesehen haben, den äußeren Kreis der Konfiguration. Mit ihnen treten Grundmächte des Daseins auf, die einander im inneren Bezirk des Menschlichen begegnen. Sie sind unwandelbar; dem Menschen dagegen wird vom Schicksal der Auftrag der Verwandlung erteilt, der paradoxerweise auf der Kraft des Beharrens beruht. Hofmannsthal hat in einem zum Essay umgearbeiteten Brief an Richard Strauß über Ariadne ausführlich über dieses Paradox gesprochen. Er teilt die Gestalten des Spiels in zwei Gruppen, Repräsentanten des niederen und des höheren Lebens. In der ersten
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Gruppe, vertreten durch Zerbinetta und Harlekin, finden sich die leicht Vergessenden und Treulosen, die ganz in der wechselnden Stunde aufgehen. Dem Werden als dem Prinzip des natürlichen Lebens unterworfen, sind sie bloße Natur und bleiben als die ewig Wechselnden sich immer gleich. Diesem Paradox der im Wechsel Unverwandelten ist das der im Beharren Verwandelten übergeordnet. Wer sich, so wie Ariadne, über das natürliche Leben erhebt, muß nicht nur die Kraft, sondern auch den Mut zur Erinnerung haben; denn er nimmt damit die Gefahr der Erstarrung und des Todes auf sich. Daraus kann er nur durch das Wunder der Liebe errettet werden. Der Wiedergeborene ist der wahrhaft Verwandelte, der, weil er sich dem natürlichen Fluß des Lebens wiedersetzte, eine höhere Stufe der Existenz gewonnen hat. So ist, wie Hofmannsthal sagt, „ans Beharren, ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft." 21 Auch die Schicksalserfüllung ist an die Treue geknüpft. Denn nur der kann nach seiner Auffassung Schicksal haben, der treu zu sein und sich einem Du zu opfern vermag. Umgekehrt tritt das Schicksal mit der Aufforderung zum Opfer an den Menschen heran, und in dieser Prüfung scheiden sich die Repräsentanten des hohen und des niederen Lebens. So treten sich in Elektro die beiden Schwestern gegenüber, und so steht im inneren Konfigurationsdreieck von Alkestis der Vater Admets gegen die Gattin. Pheres: der unkönigliche König Mit Pheres erscheint die Gestalt des schuldigen Vaters in Hofmannsthals Werk, die für die Tragödien (mit Ausnahme von Elektro) hohe Bedeutung besitzt. Sie kehrt in Lalos (Ödipus und die Sphinx) und in Basilius {Der Turm) wieder und findet sich auch in anderen Dichtungen. Die Schuld des Vaters besteht darin, daß er den Aufruf des Schicksals zum Selbstopfer nicht begreift oder nicht beachtet und so das Kriterium des hohen W.-D
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Menschentums nicht erfüllt. Da für Hofmannsthal Vatertum und Königtum aufs innigste verbunden sind, wiegt diese Schuld besonders schwer. Denn der König, der in die Mitte gesetzt ist, kann seine Herrschaft nur rechtfertigen, indem er das Ethos der Mitte, die selbstüberwindende Liebe im Hinblick auf die Einheit des Ganzen, in sich verkörpert. Diese Einheit aber tritt nirgends plastischer in Erscheinung als im Kind, das aus der Zweiheit der Eltern hervorgeht. In ödipus und die Sphinx wie auch in Der Turm, ist daher die selbstsüchtige Haltung des VaterKönigs die Quelle alles Übels. Das Vergehen gegen den Sohn zerstört die Harmonie der Welt und ruft das Chaos herauf. In Alkestis indessen kommt der Gestalt des Pheres eine so weittragende Bedeutung nicht zu. Die Drohung der Anarchie, die das Alterswerk überschattet, ist in der Jugenddichtung noch nicht akut geworden. Die Opferbereitschaft der Gattin Admets gleicht die Opferverweigerung des Vaters sofort aus. Dennoch gehört Pheres zu den „niederen Lebensmasken," um in der Terminologie des Ariadnebriefes zu sprechen; denn er ist ganz ins flüchtige Leben hineingebannt. Das flache Lob des Lebensgenusses, das der Chor der jüngeren Frauen vorträgt, wird von ihm wieder aufgenommen. Da er kein Verhältnis zum Geheimnis des Seins hat, das sich hinter der Flucht der Erscheinungen verbirgt, kennt er den Tod nur als den Würger, der das kurze, süße Leben überwältigt. Die Opfertat der Alkestis muß ihm daher als töricht erscheinen. Gegenüber der „Torheit" der Selbsthingabe lehrt er die „Weisheit" der Selbstbewahrung. Als das Schicksal mit dem Aufruf zum Opfer an ihn herantritt, schweigt er still — und bleibt daher schicksallos. Es ist interessant zu verfolgen, wie Hofmannsthal dieser Gestalt mit wenigen Strichen die Züge einer tragischen Selbstironie verleiht, die sie bei Euripides nicht besitzt. Für unseren Dichter ist Pheres „uralt, fast phantastisch" (32) und ohne jene menschliche Würde, die sich aus der Treue ergibt. Das „ganz
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unwürdig hilflos Häßliche" (33) seiner Erscheinung aber ist das Ergebnis des Alterns, durch „bloße Zeit" bewirkt. Die Selbstironie besteht darin, daß diese Ruine eines Menschen, die dem flüchtigen Moment zum Opfer gefallen ist, sich an eben diesen Moment klammert und seine Süße verherrlicht. Die Frage des abgehenden Pheres „Bin ich nicht ein König, he, / so gut als er ein König?" (35) dient also nur dazu, seine ganz unkönigliche Haltung hervorzuheben. Aber wenn das Scheitern des Vaters damit nur zu offenkundig wird, so erweist sich doch auch die Haltung des Sohnes als fragwürdig. Denn er hat sich als erster der unköniglichen Flucht vor dem Schicksal schuldig gemacht, indem er das zweifelhafte Geschenk des unsterblichen Gottes, die Freiheit vom Sterben, annahm und zu seiner Rettung gebrauchte. Hofmannsthal hat zwar das lange Streitgespräch zwischen Vater und Sohn, das er im Drama des Euripides fand, gekürzt und gemildert. Aber den entscheidenden Zug, nämlich daß der anklagende Sohn durch den beschuldigten Vater angeklagt wird, hat er durchaus beibehalten. Der Widerspruch in Admets Haltung tritt klar zutage. Wie kann er, der selbstsüchtig am flüchtigen Leben hängt, vom Vater den Verzicht auf dieses Leben erwarten? Der Streit der Könige zeigt, daß auch er das wahre Königtum nicht von Anfang an besitzt und in Gefahr steht, dem verderblichen Beispiel des Vaters zu folgen. Das Spiel beschreibt, wie König Admet wahrhaft König wird. Es ist die Geschichte eines Mannes, der auf der Flucht vor dem Schicksal sich umwendet und ihm entgegensieht. Aber da hier alles auf die gegenseitige Verwandlungskraft der „allomatischen" Liebe gegründet ist, läßt sich das Schicksal Admets nicht von dem der Alkestis trennen. In ihrer Gemeinschaft wird das Ethos der Mitte wiedergewonnen, das der Vater als der unkönigliche König verleugnete. Darum kann sich am Ende die Harmonie des Kreises um die wiedergeborene Drei-Einheit des
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Menschlichen schließen. Nicht umsonst weist in der Opernfassung (1923) der scheidende Herakles auf die Kinder des Königspaares hin (432), deren Erscheinen die Eintracht einer erlösten Welt besiegelt. Die Magie des Opfers Mit der Welterlösung ist der geheime Wille des Schicksals erfüllt, der (so müssen wir schließen) bereits die Abmachung der Schicksalsgöttinnen mit Apollon bestimmte. Schicksal, Mensch und Welt sind durch eine prästabilierte Harmonie aufeinander bezogen. Die Freiheit des Menschen, sei es zur Flucht, sei es zum Opfer, ist in den Schicksalsplan eingefügt. Zwar beginnt der Weg der Liebenden ins höhere Leben mit einer Fluchtbewegung. Es ist die unkönigliche Frage König Admets, die ihm „zwischen Scham und Todesangst" (10) entschlüpft, die Frage nach dem stellvertretenden Opfer, das ihn vor dem natürlichen Tod retten soll. Seine alten Eltern, als „niedere Lebensmasken" nur auf Selbstbewahrung bedacht, erschauern und schweigen. Aber sein junges Weib spricht. Ihre Worte „. . . ich flehe, anstatt deiner gib mich hin!" (10) sind nicht das Ergebnis eines inneren Konflikts; sie sind der spontane Ausdruck ihres Wesens. Alkestis, die Liebende, steht lebend über dem Leben. Ihre Existenz beruht auf einem Paradox: selber Individuum, überwindet sie das Individuationsprinzip. In der Hingabe des Ich an ein Du ist die Vereinzelung und die Flüchtigkeit des natürlichen Daseins aufgehoben. Zugleich aber verschwindet die Drohung des Schicksals, die über dem besitz- und machtgierigen Menschen hängt. So ereignet sich im Opfer der Alkestis die echte Tat, die den Menschen aus der Verfallenheit des kreatürlichen Lebens befreit und, indem sie ihn verwandelt, auf die Stufe des höheren Lebens erhebt. Aber nicht nur das Ich, das sich opfert, auch das Du, für das dieses Opfer gebracht wird, nimmt an dem Vorgang der Ver-
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Wandlung teil. Da die Schranken der Individuation im Akt der Hingabe durchbrochen werden, ist auch das Du nicht mehr isoliertes Individuum. Es hat vielmehr das sich hingebende Ich gleichsam in sein eigenes Dasein aufgenommen. Der Zustand einer magischen Identität ist erreicht, der die Bindungen des kreatürlichen Lebens weit übertrifft. Die natürliche Polarität von Mann und Frau ist aufgehoben in der über-natürlichen, geistig-sittlichen Gemeinschaft der Liebe. Vor seinem Abschied weist Herakles den König auf das unergründliche Wunder der Einswerdung von zwei ursprünglich getrennten Wesen hin, das die Gesetze des Lebens überschreitet: Des Lebens Früchte geben sich nicht uns, sie lassen allenfalls sich nehmen: diese gab sich dir hin und gibt sich dir aufs neu so ganz, wie kaum dir selber du gehörst. (50) Wenn Admet an diesem Wunder der hohen Liebe teilnehmen kann, so beweist dies, daß er grundsätzlich über der niederen Lebensstufe des Vaters steht. Sein Fluchtversuch, so zeigt sich nun, war nur eine Schwächeanwandlung, die er sofort bereute. Er enthüllt sich als würdiger Partner von Alkestis, indem er sich dem Aufruf des Schicksals nicht entzieht, sondern Treue mit Treue vergilt. So kommt es zu dem paradoxen Schauspiel, daß der Mann, der durch die Treue seiner Frau vom Tode gerettet worden ist, doch „stirbt," weil er der Toten unlösbar verbunden bleibt. Es bedürfte weder des Treueversprechens, das die sterbende Alkestis ihm abnimmt, noch der Treueprobe, der ihn Herakles unterwirft, als er mit der dem Tode abgerungenen „Fremden" zurückkehrt. Wenn Admet vorher der Versuchung nachgab, sich ans Zeitliche zu klammern, so erwartet er nun nichts mehr davon. „Was kümmert mich die Zeit!" (22) ruft er aus und kann sich sein Leben nur noch als ein trauervolles Warten auf den Tod vorstellen.
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In ihm, so wie später in Eiektra, offenbart sich die Würde des hohen Menschentums; sie ist an das Nichtvergessen geknüpft. Aber zugleich deutet sich auch die Gefahr der Erstarrung an, die mit dem Willen zur Erinnerung verbunden ist. Fast könnte es scheinen, als ob Admet, indem er sich dem Bleibenden weiht, vom Strom des Lebens ausgeschlossen werde. Jedoch ist das Problem der Treue hier noch nicht so radikal gestellt. Das Vergessen, das den hohen Menschen im reifen Werk Hofmannsthals nur durch das Erlebnis der erlösenden Liebe zuteil wird (man denke etwa an Ariadne), erfahrt hier in Anlehnung an Euripides eine andere Rechtfertigung. Allerdings handelt es sich nicht um die Erinnerungslosigkeit der „niederen Lebensmasken," die nur von Moment zu Moment leben können. Vielmehr versteht Admet das Vergessen des eigenen Leids als Auftrag der Selbstlosigkeit; er ergibt sich als sittliche Verpflichtung aus dem Opfer der Alkestis. Dieses Opfer also soll (schon vor der Wiederkehr der Toten) im Leben fruchtbar werden, und zwar im Seelenadel des wahren Königtums. Für Admet beruht es nicht auf dem Willen zur Macht, sondern auf der Freude am Dienst: . . . mir ist auferlegt, so königlich zu sein, daß ich darüber vergessen könne all mein eignes Leid! (31) Dieses Selbstvergessen als Selbstüberwindung übt Admet gegenüber seinem Gast Herakles; er verschweigt ihm sein Leid, um das Gebot der Gastfreundschaft erfüllen zu können. Und eben damit wirkt er an der Kette der Liebestaten mit, die von der Opfertat der Alkestis bis zu ihrer Rettung durch Herakles führt. So durchbricht das Gute, fortzeugend Gutes gebärend, das Gesetz des selbstbesessenen Lebens und verwandelt die Welt.
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Wunder der Wiedergeburt Es ist bezeichend, daß Hofmannsthal an dieser Stelle wiederum über Euripides hinausgeht. Für ihn ist die sittliche Durchdringung des natürlichen Daseins nur ein Schritt auf dem Wege zur Versöhnung des Gegensätzlichen in der dionysischen Einheit des Ganzen. So läßt er, dem Gang der Fabel vorauseilend, dem trauernden Admet die Vision „wundervoll erhöhten Lebens" (31) zuteil werden, das aus dem Tode der Alkestis erblüht. Als Herrscher in diesem Reich der Wunder, in dem der Tod ins Leben aufgenommen ist, will Admet sein Leid vergessen. Er dürfte es vergessen, denn die Tote, als Same des erhöhten Lebens in die Erde gesenkt, wäre in der Blüte gegenwärtig, und damit hätte sich sein Leid verklärt. Hier wird die Möglichkeit einer überpersönlichen Wiedergeburt der Alkestis angedeutet, die nicht an Herakles als den deus ex machina der Fabel gebunden wäre und doch ihrem Opfertod Sinn verliehe. Hier zeigt sich auch, daß das Königtum im Reich der Wunder die politische Ebene weit hinter sich läßt und als Symbol dionysischen Dichtertums gesehen werden muß. Aber Admets Vision bleibt Episode. Sie muß Episode bleiben, nicht nur weil es der Mythos so will, sondern weil sie dem Bedürfnis Hofmannsthals nach der Darstellung des „Allomatischen" nicht genügt. Der Vorgang gegenseitiger Verwandlung muß fortgeführt werden. Das königliche Dichtertum soll sich nicht in der universalen Einsamkeit des allverbundenen Ich, sondern in der Zwei-Einigkeit der Liebenden darstellen. Gerade darin geht ja Alkestis über die frühen Jugendwerke hinaus. So fällt Admet wieder in die Erstarrung des „Todes" zurück, in die ihn seine Treue zu der Toten versetzt hat, und es bedarf der Wiederbegegnung mit der von Herakles dem Tode Entrissenen, um die zweite Phase der Verwandlung, die Wiedergeburt, herbeizuführen. Wie zu erwarten, gewinnt auch dieser Vorgang, der im Drama des Euripides vorgezeichnet ist, bei
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Hofmannsthal vertiefte Bedeutung. Sie ergibt sich aus der Dialektik des Todes. Wie oben dargelegt, erscheint er als Vernichtung und als Erhöhung des Lebens. Natürlich erhalten wir keine direkte Mitteilung über die Todeserfahrung von Alkestis. Der Dichter schildert nur die Reaktion Admets beim Anblick der Wiedergekehrten, die er trotz ihrer Verhüllung ahnungsvoll erkennt. Aus seinen Worten aber ergibt sich, daß Alkestis die Dialektik des Todes erfahren hat und durch die Drohung des Nichts in die göttliche Fülle des Seins eingegangen ist. Denn sie erscheint Admet nicht als ein Schatten aus der Öde der Unterwelt, sondern „als wär sie aus dem Herzen aller Dinge / ans Licht getreten!" (45). Hier Idingen die Worte des zechenden Herakles an, der das Totsein als „göttliche Art der Trunkenheit" beschreibt und eine wiederkehrende Tote mit einer Göttin vergleicht. In der Tat, Alkestis hat den Rausch des in sich seligen All-Einen gekostet. Dies ist es, „was übermenschlich-unsäglich ihren innern Sinn erfüllt" (50) und einen Schauer des Wunderbaren und des Fürchterlichen um sie verbreitet. Gemäß dem Gesetz des „Allomatischen" aber wirkt nun die Verwandlung der Liebenden ins Göttliche auf den Geliebten zurück. Beim Anblick der Wiedergekehrten fühlt Admet, daß die Starrheit seines Innern sich löst, daß die Fesseln und Verstrickungen des Lebens von ihm abfallen und daß auch er an der Entrückung aus dem Strom des Werdens ins Ewige teilhat: Als trüge mich der Adler in die Luft und unter meinem Fuß versänken die verlaßnen Lebensfluten dieser Welt! (45) Die Sicht des hochfliegenden Vogels, die das räumlich Getrennte verbindet, symbolisiert in Hofmannsthals Werk oft die beseligende Erfahrung des All-Einen. Die Wiedergeburt führt also nicht einfach aus dem natürlichen Tod in das natürliche
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Leben zurück. Die Wiedergeborenen sind vielmehr auch die Erhöhten, weil sie durch den Tod das Wunder des Seins unter dem Fluß des Werdens erlebt haben. Sie sind zugleich die Vereinigten, weil ihre gegenseitige Treue die Trennung der Individuation überwunden hat. Ihre Gemeinschaft stellt im Getrennten die Einheit, im Flüchtigen das Bleibende dar. Die zwei Antinomien, die Hofmannsthal als sein Grundproblem erkannte, „die der vergehenden Zeit und der Dauer — und die der Einsamkeit und der Gemeinschaft" („Ad me ipsum," 228), sind gelöst. Der dichterische Auftrag der Heiligung der Welt durch die Versöhnung ihrer tragischen Gegensätzlichkeit ist vollbracht. Dem unsterblichen Gott Apollon steht die dionysische Göttlichkeit des sterblichen Menschen gegenüber, der den Willen des Schicksals erfüllt, indem er kraft seiner Hingabe die Schrecken des Daseins besiegt und ins Herrliche verwandelt.
Elektra Die Schrecken des Daseins! Als Hofmannsthal nach der Chandoskrise sein Ringen um die Tragödie begann, wußte er wohl, daß sein dringendstes Problem in Alkestis nicht gelöst war. Gewiß, Alkestis und Admet hatten das Grauen vor dem Tod überwunden und damit das „unsäglich Wundervolle" des Lebens erfahren. Aber bei der Verklärung ihrer Welt war die Lebenswirklichkeit gleichsam übersprungen worden. Das Leben war eben nicht allein unter dem Aspekt der Vergänglichkeit zu erfassen. Es war mehr, es war "der Rausch, die Qual, / der Haß, der Geist, das Blut," es war „das lebendige, allmächtge." Diese Wendungen stammen aus einem der frühsten Spiele Hofmannsthals, Der Tod des Tizian (1892).82 Sie zeigen an, daß schon der junge Dichter die Drohung und die Lockung elementarer Leidenschaft erfahren hat. Je älter er wurde, desto stärker mußte er die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den irrationalen Mächten des Vitalen und Irrationalen empfinden. Aber zur gleichen Zeit schreckte er auch davor zurück. In den Werken, die gegen die Jahrhundertwende entstanden, ist deutlich die Angst vor dem Chaos der Triebe zu spüren. Ist das Medusenantlitz des Lebens überhaupt zu ertragen? Muß die nach Reinheit und Harmonie dürstende Seele des Dichters nicht fliehen vor der selbstbesessenen Gier des Animalischen? Oder besteht die Möglichkeit, daß der dichterische Geist, in die Tiefen des Lebens gestürzt und in die Wildnis des „Willens" verstrickt, sich darüber erhebt und das Tierische ins Göttliche, den mörderischen Haß in versöhnende Liebe verwandelt? Hofmannsthal hat eine Antwort auf diese Frage in Elektra zu gestalten versucht. Sein Ringen um die Tragödie ist gleichbedeutend mit dem Ringen um die dichterische Bewältigung des triebhaften Lebens. Wie schwer ihm dies fiel, läßt sich an der 58
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Vorgeschichte dieses Versuchs ablesen. Sowohl Die Hochzeit der Sobeide (1899) wie Das Bergwerk zu Falun sind gekennzeichnet durch die Fluchtgebärde der Protagonisten. Das Entsetzen, das Sobeide ergreift, als ihre Traumwelt vor der brutalen Wirklichkeit zerflattert, kehrt wieder im Lebensekel Elis Fröboms, der ihn aus der Zeit hinausdrängt und im Wunderreich zeitloser Innerlichkeit Zuflucht suchen läßt. Von hier aus gesehen, fällt die für Hofmannsthals Schaffen epochale Bedeutung der Elektragestalt sogleich ins Auge: Elektro flieht nicht. Im Gegenteil, sie hält den Blick unentwegt auf die mörderische Mutter gerichtet, und die Atmosphäre der „Unentfliehbarkeit," die über der Szene liegt, ist der Ausdruck ihrer lebensbannenden Magie. Es ist sicher kein Zufall, daß Hofmannsthal „Szenische Vorschriften zu .Elektra' " erlassen hat.23 Im Bühnenbild soll sofort das sichtbar werden, was sich während des Spiels in den vom Fieber der Leidenschaft geschüttelten Gestalten, in der archaischen Gewaltsamkeit ihrer Sprache, in ihrem unheilschwangeren Schweigen enthüllt: die aus den Abgründen der menschlichen Natur aufbrechende Macht des Blutes. Darum also das flakkerade Licht der Fackeln, der düstere Kontrast von Schwarz und Rot, darum der unheimlich gekrümmte Feigenbaum, der „wie ein halbaufgerichtetes Tier" auf dem Dach des Hauses liegt, und darum schließlich „große Flecken von Blut," die auf der Erde zu glühen scheinen. All dies ist neu in Hofmannsthals Werk, all dies steht in deutlichem Kontrast zu den Jugenddichtungen. In seinem Bestreben, den spannungsgeladenen dramatischen Raum der Bühne zu erobern, schreckt der Dichter selbst vor dem Extrem nicht zurück. Die Übersteigerung der künstlerischen Mittel bezeugt den ungewöhnlichen Energieaufwand, mit dem er um die Bewältigung seines Problems kämpfte. Die Unzulänglichkeit der zeitgenössischen Kritik erwies sich
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darin, daß sie dieses Problem noch nicht einmal erkannte. Man identifizierte die Absichten des Autors mit den Mitteln der Darstellung, man sah nur den Kampf der niederen Leidenschaften, nicht die Geburt des Höheren, die sich darin ereignete. So erschienen in der Besprechung eines der berühmtesten Theaterkritiker jener Tage Ausdrücke wie „Schlächtereien" und „Blutplätschern," u die dann auch von Literarhistorikern übernommen wurden: „Elektra ist die Blutgier in Person." 28 Dies führte zu einer pathologischen Deutung im Sinne der Psychoanalyse. Als „Agamemnons hysterische Tochter" konnte Elektra natürlich keinen Anspruch auf höhere Würde erheben, denn ihre Treue enthüllte sich in diesem Fall als unterdrückter Trieb. Es ergab sich vielmehr die Schlußfolgerung: „. . . diese Elektra ist eine pathologische Studie, eine Folge der widrigen Dekadenzen unserer Zeit."88 Wie ein Echo auf diese ablehnenden Stimmen deutscher Interpreten mutet ein Verdammungsurteil aus der angelsächsischen Literaturkritik an: „To minds attuned to the language and thoughts of Aeschylus and Sophocles, Hofmannsthal must appear distasteful, to put it mildly. . . ." " Wir haben schon darauf hingewiesen, wie tief enttäuscht Hofmannsthal über diese Art der Beurteilung war, die in den Tiefen befangen blieb und darum „das Höhere, das Wesentliche" übersah.88 Für ihn war die Beschwörung der dunklen Lebenskräfte ja keineswegs Selbstzweck, sondern nur die Voraussetzung zur Gestaltung der entscheidenden dramatischen Situation: der königlich-dichterische Mensch im Kampf mit den entfesselten Gewalten des Triebes. In dieser Hinsicht darf Elektra durchaus mit Sigismund in dem Trauerspiel Der Turm verglichen werden, an dessen Vorstufe Hofmannsthal bereits in den Jahren nach der Jahrhundertwende arbeitete. Wie der Prinz in das Chaos der Geschichte, so ist die Königstochter in das Chaos des Lebens geworfen. In beiden Fällen steht Geist gegen Ungeist, in beiden Fällen bleibt dem Helden das hohe Glück der
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Ich-Du-Beziehung versagt. Vergleicht man die Konfiguration von Elektra mit Alkestis, so zeigt sich sofort, daß hier für das Wunder der „allomatischen" Liebe kein Raum ist. Die Gestalten des inneren Konfigurationsbezirks (der ermordete Vater, die mörderische Mutter, die zur Rache berufene Tochter) sind unentrinnbar aneinandergeschmiedet. Eine Versöhnung des durch die Untat der Mutter entstandenen Konflikts ist unmöglich. Im Gegensatz zur Tragödie des Sophokles kann und will die Rächerin ihre Rache nicht überleben. (Pylades kommt bei Hofmannsthal nicht vor.) Die Urdreiheit des Menschlichen ist dem Untergang geweiht. Aber das Spiel endet trotzdem nicht im Nichts. In der sterbenden Elektra stellt sich vielmehr durch die Magie des Opfers die Einheit des Ganzen dar. Die Tochter, die die Wunde des Vater-Mutter-Konflikts im Herzen trug, rückt, nach der Erfüllung ihrer Mission, im Augenblick des Todes in die Mitte der Konfiguration und repräsentiert den überwundenen Widerstreit. Aus ihrem Opfer erhebt sich eine versöhnte Welt, die in der Freude der Überlebenden aufstrahlt. So ist die Tragik des Individuums Elektra in der Erhöhung des Todes aufgehoben, aber dieser Vorgang erscheint selbst wieder in tragischem Licht, weil der Heldin das Wunder der Wiedergeburt nicht zuteil wird. Es gibt kein liebendes und geliebtes Du, das Elektra aus ihrer universalen Einsamkeit erlösen könnte. Da sie sich völlig dem Bleibenden und dem Ganzen weiht, wächst sie über jede Beziehung zu einem Einzelnen im Strome der Zeit hinaus. Zwar vollbringt sie den dichterischen Auftrag der Weltversöhnung, aber sie geht selber nicht in die versöhnte Welt ein. Im Gegensatz zu Admet und Alkestis ist es Elektra nicht gegeben, die Antinomien von Leben und Tod, Ich und Gemeinschaft in ihrer Existenz zu lösen. Außerdem ist die Problematik der Treue hier bis zum äußersten entwickelt. Die Verbindung von Treue und Tod erweist sich
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als unauflösbar. Die soziale Tragik, die sich zugleich mit der mystischen Erfüllung daraus ergibt, ist im letzten Grunde nicht die der Frau, sondern die des hohen Menschen, der sich nur mit dem Sein, nicht mit dem Werden verbinden kann. In diesem negativen Verhältnis Elektras zur Zeit liegt auch ihr Unvermögen begründet, in der Wirklichkeit zu handeln. Als Repräsentantin des dichterischen Geistes ist sie nur zu der inneren Tat der aus dem Opfer genährten Einbildungskraft fähig und muß das wirkliche Handeln Orest überlassen. So spiegelt sich in der Problematik des Tuns die Problematik des Dichters, der sich den Weg ins Leben vorgezeichnet hat und doch den letzten Bannkreis der Innerlichkeit nicht überschreiten kann. Da die Deutung von Elektro bisher unter der Vermischung des Treueund des Tatmotivs gelitten hat, sollen im folgenden die beiden Problemkreise gesondert behandelt werden. Nur so offenbart sich das zweifache Paradox des Endes, das ein Siegen im Scheitern und ein Scheitern im Siegen darstellt. Es ist bezeichnend, daß Elektra in Hofmannsthals Drama die Bühne niemals verläßt. Ihre Gegenwart beherrscht das Spiel vom ersten bis zum letzten Augenblick. Alle anderen Gestalten sind durch die Beziehung zu ihr bestimmt. Bei dieser Konzentration auf eine Figur muß die Gesamtkonfiguration zurücktreten. In Elektra fehlt die Fülle der Beziehungen, die Ödipus und die Sphinx auszeichnet. Ägisth ist nur flüchtig skizziert, Orest auf die Funktion des ausführenden Organs beschränkt. So bleiben die Schwester, Chrysothemis, und die Mutter, Klytämnestra, die beide im Bannkreis Elektras stehen. In diesem Rahmen vollzieht sich die Handlung bis zum Auftreten Orests. Sie stellt nicht eigentlich ein äußeres Geschehen dar, sondern ein Ringen der Seelen, das in der großen, von Hofmannsthal frei gestalteten Szene zwischen Elektra und Klytämnestra seinen Höhepunkt erreicht.
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Treue als Frommsein Es mag zunächst befremdlich erscheinen, in der blutgierigen, haßerfüllten Elektra eine Repräsentantin des hohen Menschen zu sehen. Jedoch die Aufzeichnungen Hofmannsthals lassen keinen Zweifel daran, daß er sie zu den Gestalten der Auserwählten rechnet, die in seinem Werk Aspekte des dichterischen Geistes verkörpern. Im Selbstkommentar „Ad me ipsum" werden als Beispiele genannt: „ödipus, auch Elektra, oder der Kaiser, desgleichen Elis Fröbom" (215). Zugleich weist Hofmannsthal auf die wesentlichen Motive des Dramas hin. So scheint ihm das „Alkestis- und Ödipus-Thema [der Weg zum Leben und zu den Menschen durch das Opfer] sublimiert in der Elektra" (217). In einem Brief an Richard Strauß bezeichnet er als das Grundthema „ein simples und ungeheueres Lebensproblem: das der Treue." 89 Im Gegensatz zu den „niederen Lebensmasken," die sich dem Leben im Moment hingeben und keine Erinnerung kennen, leistet Elektra, so wie der Typ der treuen Frau in den Lustspielen, dem Strömen der Zeit Widerstand. „Elektra vergißt nicht," heißt es im Ariadne-Brief an Strauß,30 und dieses Nichtvergessen bringt sie in Gegensatz zu Chrysothemis und Klytämnestra, die beide vergessen möchten. Ihr Widerstand gegen das Vergessen nährt sich aus der Kraft des väterlichen Blutes, das in ihren Adern fließt. Aber ihre Haltung ist mehr als eine dumpfe Reaktion der biologischen Erbmasse. Sie besitzt das schärfste Bewußtsein von ihrer Mission und den entschiedensten Willen zu ihrem Schicksal. Darum kann Hofmannsthal in seinen „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien" von „bewußter Aufopferung" 31 ihrer Person sprechen. Dieser heroische Akt verleiht Elektra eine höhere Würde, die sie über die Natur erhebt. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, daß in der götterfernen Welt dieses Dramas eine autonome und verpflichtende Rechtsordnung nicht ins Spiel tritt. Anders als bei Sophokles,
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beruft sich Elektra hier weder auf eine himmlische noch auf eine irdische Gerechtigkeit. Sie kennt nur das Gebot der Rache. Aber es ist bezeichnend, daß für Hofmannsthal Rache mehr ist als die Befriedigung persönlichen Hasses. Im Aufruf zur Sühne des Vatermordes wird vielmehr die Stimme des Schicksals laut, die sich im Namen der Harmonie des Ganzen gegen die selbstbesessene Lebensgier der Mörderin wendet. Zugleich repräsentiert das Gebot der Blutrache den Ansatzpunkt sittlicher Ordnung. So ist in Elektra, wie Hofmannsthal in den „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien" schreibt, „das Gesetz, das primitivste, strengste, schon da." Und der Sinn des Dramas kann von ihm umrissen werden als „Hingabe an das Gesetz" {Prosa, III, 355). Es ist also von grundsätzlicher Bedeutung, daß „Blut" in Elektra, ebenso wie in ödipus und die Sphinx, unter verschiedenen Aspekten gesehen werden muß. Zunächst erscheint es als Träger des selbstsüchtigen Lebenstriebes. Die Ermordung Agamemnons durch Klytämnestra ist eine Blut-Tat in diesem Sinne. Aber zugleich steht „Blut" auch für die aller Individuation voraus- und zugrundeliegende Lebenseinheit. Diese mystische Bedeutung setzt „Blut" mit dem dionysischen Tod als der in sich ruhenden Einheit des Ganzen in Beziehung. Der überindividuelle Aspekt muß naturgemäß im Kind am stärksten ins Bewußtsein treten, weil seine Existenz auf der Durchdringung des väterlichen und des mütterlichen Blutes beruht. Wenn also Elektra der Stimme des Blutes folgt, so überwindet sie damit den selbstsüchtigen Trieb und bringt ihr individuelles Ich der Verwirklichung des Schicksals zum Opfer. Hofmannsthal erklärt in den „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien," wie er die Haltung seiner Heldin verstanden wissen will. Sie stellt eine entschiedene Wendung gegen die verflachte Idee des autonomen Individuums dar, die aus der Tradition des Liberalismus stammt. Individuelle Freiheit in diesem Sinne bedeutet ihm „pöbelhafte Abgrenzung der einzel-
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nen Selbstsucht" {Prosa, III, 352). Sowohl in Elektra als auch in Jedermann sieht er das Individuum, wie es im psychologischen Drama erscheint, in Frage gestellt. Das Gemeinsame dieser so verschiedenartigen Stücke besteht nach seiner Meinung darin, daß die Einzelperson mit der höchsten Schicksalsforderung konfrontiert und auf das Wesentlichste reduziert wird. Hofmannsthals Frage ist: „. . . was bleibt vom Menschen übrig, wenn man alles abzieht?" Er sucht „nach dem Letzten, das bleibt, nach dem Blutig-Ernsten, nach dem sittlichen Fundament der Wirklichkeit." Unter dem prüfenden Blick des Dichters wird den individuellen Gestalten alles genommen, bis von Jedermann nur der Gottes Ruf folgende Sünder übrig bleibt und von Elektra nur die dem toten Vater treue Tochter, deren Freiheit darin besteht, daß sie sich mit dem göttlichen Schicksal identifiziert: „. . . das Geschick ist sie, und sie ist das Geschick" {Prosa, III, 354, 356). Damit ist das Individuum ins Gesetz, das Gesetz ins Individuum eingegangen. Die Spannung zwischen Persönlichem und Überpersönlichem ist gelöst. Ein geläuterter Freiheitsbegriff tritt zutage, den Hofmannsthal im Spätwerk Goethes gestaltet sieht. Wie sich bereits in Alkestis zeigt, ist eben dieser Freiheitsbegriff für den hohen Menschen Hofmannsthals gültig. Der Wille zur Hingabe überwindet „das materie-gefesselte tierische niedere, noch schlummernde Ich, das noch in der Natur steckt." Er ist „der eigentliche Beginn der übertierischen geistigen Tat" {Prosa, III, 365). Die Selbstaufgabe Elektras in der übertierischen, geistigen Tat der Treue führt also nicht ins Leere. Zwar kann sie zu Orest sagen: „Sieh, ich bin / gar nichts. Ich habe alles, was ich war, / hingeben müssen" (64); aber ihr Opfer ist dennoch Selbstaufgabe und Selbstbehauptung zugleich. Gerade indem Elektra sich hingibt, bewährt sie sich als Elektra, denn die Schicksalsforderung der Treue entspricht ihrem tiefsten Wesen. Das Verhältnis von Persönlichem und Uberpersönlichem ist also paradox: W.-E
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Elektra muß sich opfern, um sich als Elektra zu bewahren — denn die Alternative hieße Chrysothemis. Hofmannsthal hat dieses Paradox mit verschiedenen Akzentsetzungen formuliert. „In Elektra ist die Person verlorengegangen, um sich zu retten," heißt es in „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien" {Prosa, III, 354). In seinen Tagebuchnotizen findet sich der Vermerk: „Elektra ist nicht mehr Elektra, weil sie eben ganz und gar Elektra zu sein sich weihte." 32 Bei der Interpretation dieser Notiz müssen die individuellen und überindividuellen Aspekte deutlich geschieden werden. „Elektra ist nicht mehr Elektra" heißt: sie ist nicht mehr die Königstochter, das Mädchen, der Mensch, der sie einmal war, denn sie hat ihre aristokratische Würde, ihre Schönheit, Unschuld, Scham, natürliche Weiblichkeit verloren und ist ein von Widersprüchen zerrissenes Unwesen geworden: . . . ohne Brautnacht bin ich nicht, wie die Jungfraun sind, die Qualen von einer, die gebärt, hab ich gespürt und habe nichts zur Welt gebracht . . . (65) Damit enthüllt sich der negative Aspekt ihres Opfers, der von der bisherigen Kritik so stark betont worden ist. Die Aufgabe ihres natürlichen Wesens führt zur Perversion, zum Abnormen, zur gräßlichen Verzerrung. Der Haß gegen die Mutter macht sie zur Bestie, zum Dämon. Der unterdrückte erotische Trieb drängt wieder empor und bestimmt die Bilderwelt ihrer Sprache. Maximilian Harden hat daraufhingewiesen: „Ihre Metaphern, ihre Assoziationen findet sie nur im Geschlechtsleben des Weibes." 83 Das Leben in der nie erlöschenden Erinnerung an den Vater, im immer gegenwärtigen Bewußtsein der Verpflichtung zur Rache an der Mutter unterbricht die Verbindung mit der natürlichen Wirklichkeit. In ihren Worten „. . . alles war mir / um seinetwillen nichts" (65) enthüllt sich
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der erschreckende Weltverlust, den sie durch ihre unbedingte Treue zu dem Toten erlitten hat. Ist also die psycho-pathologische Deutung Elektras nicht doch berechtigt? Die angeführten kommentierenden Hinweise Hofmannsthals lassen keinen Zweifel daran, daß er anderer Auffassung war. In der Tat können die Tiefendimensionen der Gestalt Elektras nicht durch medizinische Analysen erfaßt werden, weil in dieser Sicht alles Un-natürliche als abnorm erscheinen muß, während es doch zugleich das Uber-natürliche ist. Darauf aber kommt es Hofmannsthal gerade an. Der Widerstand Elektras gegen die entfesselte Lust- und Machtgier der Mutter enthüllt die Stärke des Geistes in einer dem Trieb verfallenen Welt. Ihr eigener Verzicht auf natürliche Trieberfüllung, ihr unnatürlicher Haß gegen die Mutter rufen zwar pathologische Symptome hervor, aber dies ist der Preis, der für die Überwindung der Natur bezahlt werden muß. Ihr Wille zum Schicksal, der den selbstsüchtigen Eigenwillen des Individuums aufhebt, ist gleichbedeutend mit Frommsein. Von hier aus ergeben sich Analogien zu anderen Gestalten in Hofmannsthals Werk, die durch die Tat der Selbstüberwindung ausgezeichnet sind. Auf den ersten Blick wird man gewiß nicht allzuviel Verwandtes zwischen der blutgierigen Elektra und der zarten Gestalt der Kaiserin in Die Frau ohne Schatten entdecken können. Und doch sind beide durch die Kraft der Hingabe miteinander verbunden. Elektra opfert sich für den toten Vater, so wie die Kaiserin sich für den zu Stein erstarrten Gatten opfert. Dieses Motiv legitimiert Elektra als „Erwählte," als Verkörperung des hohen Menschentums, wenn auch in einer extremen Situation. Wenn Elektra nicht mehr Elektra ist, um „ganz und gar" Elektra zu sein, dann ergibt sich für uns die Frage: Wer ist diese gesteigerte Elektra? Hofmannsthal antwortet in den „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien": „Sie ist der Vater
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(dieser ist nur in i h r ) . . . " (Prosa, III, 354). Er bestätigt damit die entscheidende Aussage seiner Heldin: „ . . . ich bin das hündisch / vergoßne Blut des Königs Agamemnon!" (58). Im Gegensatz zu den oben angeführten paradoxen Formulierungen, die das zerrüttete natürliche Ich der Heldin beschreiben, ist diese Selbstdefinition von höchster Eindeutigkeit. Sie zeigt, daß es falsch wäre, Elektra die Gabe der Verwandlung überhaupt abzusprechen, wie dies Walter Jens in seinem Buche tut. Freilich ist Verwandlung für Hofmannsthal ein so vieldeutiger Begriff, daß der Interpret nur auf Grund klarer Definitionen damit operieren kann. Wie bereits erwähnt, kennt Elektra nicht eine Verwandlung im Sinne der Wiedergeburt, in der die treue Frau aus Tod oder tödlicher Erstarrung zurück ins Leben geführt wird (Alkestis, Ariadne). Dagegen nimmt sie durch ihre Hingabe für den Vater an dem Mysterium des Schlachtopfers teil, das Hofmannsthal, wie erwähnt, im „Gespräch über Gedichte" beschreibt. Durch ihre Selbstaufopferung für den Vater wird eine magische Identität zwischen ihr und dem Toten hergestellt. Der tragische Aspekt der Treue, der Verlust des natürlichen Ich, erweist sich als Voraussetzung für den Vorgang der Selbstverwandlung, in dem Elektra eine neue Mächtigkeit gewinnt. Denn nur weil sie den Toten in sich aufgenommen hat, wird ihr die Kraft der Bezauberung zuteil, die sie über Mutter und Schwester ausübt. In dem Bann, den sie über das ganze Haus wirft, tritt die innere Tat der Treue nach außen und bestimmt die Wirklichkeit. Das dichterische Wort, das im ChandosBrief leer und löcherig erschienen war, der Welt entfremdet und unfähig, das Wirkliche zu erfassen, gewinnt in Elektras Mund neue Kraft. Denn nun ist es nicht ein blasser Reflex des weltlosen Geistes; es steigt vielmehr aus den Tiefen des Blutes empor und hat Macht über das Lebendige. Das Opfer Elektras ist also nicht nur ein sittlicher, sondern auch ein dichterischer Akt, dem ihre Sprachgewalt entspringt. Die Macht der Sprache ist die
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einzige Waffe, die sie besitzt — nicht das Mordbeil, das sie am Ende doch vergißt. Mit deren Hilfe vollbringt sie die magische Tat, die sich unmittelbar aus ihrer Treue zum Vater ergibt: die innere Zerstörung der Mutter. Elektra: magische Vergegenwärtigung Man hat früh erkannt, daß die Konfiguration der drei Frauengestalten, Elektra — Chrysothemis — Klytämnestra, bestimmt ist durch ihr Verhältnis zur Zeit. Bei allen Unterschieden ist damit ein gemeinsamer Bezugspunkt gegeben. Wie in Hofmannsthals Lustspielen handelt es sich auch hier um Komplementärfiguren, die gerade in ihrem Gegensatz verbunden sind. Der Dichter hat diesen inneren Zusammenhang öfters betont. In einem Brief schreibt er: „. . . die drei Frauengestalten sind mir wie die Schattierungen eines intensiven und heimlichen Farbtones gleichzeitig aufgegangen."34 Noch in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1922 kommt er darauf zurück: „Auch dort wo Kontraste dargestellt sind, . . . wie die heroische Elektra und die nur weibliche Chrysothemis, . . . kam es mir immer darauf an, daß sie mitsammen eine Einheit bildeten, recht eigentlich eins waren" („Ad me ipsum," 234). Im Unterschied zu den Lustspielen kommt es jedoch in Elektra nicht zur Versöhnung der Spannungen in einer polar gegliederten Harmonie. Der Gegensatz zwischen Elektra und der Mutter ist gerade deswegen tödlich, weil er aus der unheil• baren Entzweiung des Einen stammt. Es muß in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß Hofmannsthal Werden und Sein nicht als neutrale Aspekte der Zeit versteht, sondern als dämonisch-kosmische Mächte, „welche über die Seele verfügen wollen" („Ad me ipsum," 226). In diesem Sinne ist Elektra dem Sein verschworen. In ihrem Kampf gegen das Werden erfüllt sie grundsätzlich die gleiche Mission, die den Repräsentanten des autonomen
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dichterischen Geistes (Zauberer und Kaiser) in der Jugendlyrik Hofmannsthals zugeteilt ist: die Überwindung der Zeitbewegung durch magische Vergegenwärtigung. Was in der äußeren Zeit in Vergangenheit und Zukunft auseinandertritt, wird von Elektra durch eine gewaltige geistige Anstrengung zu ständiger innerer Gegenwart zusammengeballt.35 Sie löst die Ereignisse des Mordes und der Sühne aus der Gebundenheit an einen bestimmten Zeitmoment und verleiht ihnen die Kraft ewiger Wiederkehr. Bereits vor ihrem Auftreten vernehmen wir aus dem Mund der Dienerinnen das Echo ihrer magischen Sprache, die das Vergehende ins Bleibende verwandelt. Wendungen wie „das ewige Blut des Mordes" oder „die Schmach, die sich bei Tag und Nacht erneut" (13) sind charakteristische Beispiele dafür. Der eigentliche Akt der Beschwörung aber ereignet sich zunächst in Elektras großem Monolog. Er ist an den Toten gerichtet, der doch nur in ihr lebt, und offenbart so die magische Identität von Vater und Tochter. Hier zwingt sie das chronologische Vorher und Nachher zusammen in das Jetzt der dichterischen Vision, die Anfang und Ende, Tod und Wiederkehr des Vaters, Verbrechen und Triumph der Rache umfaßt. Aber auch dieses Jetzt ist kein einmaliger, vorübergehender Moment, sondern kehrt wieder in täglicher ritueller Erneuerung. Ist es doch die Stunde vor Sonnenuntergang, „die Stunde wo sie um den Vater heult, / daß alle Wände schallen" (9). Die immer wieder geleistete magische Vergegenwärtigung des Vergangenen und Zukünftigen ist darauf gerichtet, das • freie Fließen der Zeit in einen geschlossenen Kreislauf zu bannen. Die geschlossenen Horizonte der magisch gebändigten Zeit bestimmen auch die Raumgestaltung der Szene. Hofmannsthal stellt in „Szenische Vorschriften zu ,Elektra' " fest: „Der Charakter des Bühnenbildes ist Enge, Unentfliehbarkeit, Abgeschlossenheit" {Prosa, II, 81). Zugleich werden hier die Grenzen des
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von Elektra beherrschten Raum-Zeit-Zusammenhanges deutlich. Denn jenseits des düsteren, schicksalschwangeren Drinnen öffnet sich das Draußen, die freie Welt: „Es ist ein Element der Stimmung, daß es in diesem traurigen Hinterhof finster ist, während es draußen in der Welt noch hell ist. Der hellste Fleck ist das offene Tor rechts" {Prosa, II, 83). Durch eben dieses Tor tritt später Orest ein, ein Bote aus der Außenwelt, der nicht im Banne Elektras steht. Der freie Raum kennt nur den natürlichen Rhythmus der Zeit. Chrysothemis sehnt sich danach: „ . . . draußen geht die Sonne auf / und ab" (19). Diese Zeitbewegung, die Elektra ausschalten möchte, läßt sich doch nicht unterdrücken. Die Zeit dringt gleichsam unterirdisch in den magisch beherrschten Raum ein und nimmt Rache an der Magierin: auch Elektra altert. Sie ist nicht nur Maske des Schicksals, sondern auch Kreatur. Chrysothemis weiß um die Macht der Vergänglichkeit: „Mit Messern / gräbt Tag um Tag in dein und mein Gesicht / sein Mal . . (19). Wie im Jugendwerk Hofmannsthals zeigt sich also auch hier, daß der Strom der Zeit nicht gestaut werden kann. Bei aller hermetischen Abgeschlossenheit ist Elektra eben doch vom Draußen abhängig. Die Ankunft Orests, die sie als Erfüllung des Schicksals ständig antizipiert, bedeutet zugleich das Ende ihrer Welt. Damit wird wirkliches, einmaliges Ereignis, was Elektra in ihren Visionen immer wieder beschwor. Die natürliche Zeit bricht von draußen in den Bannkreis ein, und im Vorgang des Werdens wird die Existenz der Magierin aufgehoben. Chrysothemis: Sehnsucht nach Vergessen Wenn Elektra im Zeichen der Treue, des Seins und des Todes steht, so verkörpert Chrysothemis den ergänzenden Gegensatz, die Komplementärfarbe: Vergessen, Werden, Weiterleben. Hofmannsthal hat öfters auf diesen Zusammenhang hingewiesen, am deutlichsten in „Ad me ipsum," wo es heißt:
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„Die Unbegreiflichkeit der Zeit: eigentliche Antinomie von Sein und Werden. Elektra — Chrysothemis" (217). Im Drama selbst treten die kontrastierenden Perspektiven am schärfsten hervor in Elektras Ausruf „Vergessen? Was! bin ich ein Tier?" (20), der ausgelöst wird von dem Bekenntnis der Chrysothemis: „Wär ich fort, / wie schnell vergäß ich alle bösen Träume — Bei näherer Untersuchung zeigt es sich jedoch, daß die Zeiterfahrung der Chrysothemis komplexer ist, als das vereinfachende Schema Hofmannsthals erwarten läßt. Ihr an sich unproblematisches Wesen ist zerrüttet, weil es in den Bannkreis der Schwester geraten ist: „Du bist es, die mit Eisenklammern / mich an den Boden schmiedet" (18). Unter der Last des Grauens erstarrt ihre Seele: „. . . ich kann nicht einmal weinen, / wie Stein ist alles!" (18). Sie erfahrt ihr Dasein als leere, sinnlose Dauer: „. . . immer sitzen wir hier auf der Stange / wie angehängte Vögel . . ." (19). Schlimmer noch, unter dieser scheinbaren Bewegungslosigkeit rinnt die Zeit nur umso schneller dahin und reißt das Selbst der Chrysothemis mit fort. Daher klagt sie: Zuweilen „bin ich was ich früher war, / und kanns nicht fassen, daß ich nicht mehr jung bin. / Wo ist denn alles hingekommen, wo denn ?" (20). Hier kommt das Unbegreifliche, Rätselhafte des Vergehens zum Ausdruck, das Hofmannsthal von Jugend auf erschüttert hat. Die Antinomie der Zeit dringt in das Ich der Chrysothemis ein und führt zur Selbstverwirrung. Die Erfahrung des inneren Seins, der bleibenden Selbstidentität, gerät in Widerspruch mit dem ständigen Dahinschwinden. Es zeigt sich also, daß der Selbstverlust Elektras keine vereinzelte Erscheinung ist; auch Chrysothemis ist davon bedroht. Darum möchte sie beten, „daß ich mich / in mir kann wiederfinden!" Aber während Elektra durch ihr Selbstopfer die magische Identität mit Vater und Schicksal gewinnt, ist Chrysothemis der Gefahr völliger Selbstentleerung ausgesetzt. Sie also ist es, die (vor Orests
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Sühnetat) als ein Wesen ohne Gegenwart bezeichnet werden muß, denn sie findet Erfüllung weder in der Wirklichkeit noch in der Vision. Leben und nicht leben — so bezeichnet Chrysothemis ihr von Widersprüchen zerrissenes Dasein in Elektras Bannkreis, dem sie entfliehen möchte. Für sie ist das wahre Leben draußen zu finden, im Strom des Werdens, der ihr gleichbedeutend ist mit organischer Entfaltung. So sucht Chrysothemis ihre Erfüllung als Gattin und Mutter im natürlichen Rhythmus des Lebens: „. . . ich bin / ein Weib und will ein Weiberschicksal" (19). Sie will also kein persönliches Schicksal haben, sondern nur am Gattungsschicksal teilnehmen. Deshalb gehört sie grundsätzlich zu den Masken des niederen Lebens und steht in einer gewissen Analogie zu Zerbinetta. Hofmannsthal zieht diese Parallele im Ariadnebrief. Dort heißt es: „So steht hier aufs neue Ariadne gegen Zerbinetta, wie schon einmal Elektra gegen Chrysothemis stand" {Prosa, III, 138). Klytämnestra: Schoß und Grab Wenn Chrysothemis eine Komplementärfigur zu Elektra ist, dann stellt Klytämnestra ihre eigentliche Gegenspielerin dar. Auch bei ihrer Deutung muß die Frage erhoben werden, die Hofmannsthal im Ariadnebrief in bezug auf Bacchus stellt: Wen verbirgt diese Maske? Es ist jedoch zu beachten, daß Klytämnestra (wie Chrysothemis) in dem Drama bereits unter dem Einfluß Elektras steht, sodaß ihr ursprüngliches Wesen rekonstruiert werden muß. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß Elektra zu Beginn der großen Szene Klytämnestra zweimal eine Göttin nennt (25 f.). Dies kann nicht als bloße Taktik oder Ironie gedeutet werden. Es handelt sich vielmehr um einen ersten Hinweis auf die mythische und kosmische Bedeutung der Klytämnestra-Gestalt, die später ganz deutlich wird aus den Worten Elektras:
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Du hast mir ausgespieen, wie das Meer, ein Leben, einen Vater und Geschwister: und hast hinabgeschlungen, wie das Meer, ein Leben, einen Vater und Geschwister. (27) Hier nimmt Klytämnestra Züge der Großen Mutter an und erscheint als Verkörperung der gebärenden und verschlingenden Natur. Darum steht sie im Zeichen des Meeres, das, in der Tiefe des Zeitlosen ruhend, doch mit seinen Bewegungen in die Zeit tritt und im Rhythmus von Geburt und Tod das Werden als kosmischen Wechsel konstituiert. Ebenso wie Chrysothemis ist also auch Klytämnestra dem Werden zugeordnet. Während jedoch Chrysothemis die in der sozialen Gemeinschaft vorgegebene Norm der weiblichen Existenz anerkennt und in der Ehe Erfüllung finden möchte, tritt in Klytämnestra der elementare, ungebändigte Lebenstrieb hervor, der sich keinem anderen Gesetz als seiner eigenen Dynamik unterwerfen will. Schoß und Grab in einem, ist Klytämnestra für Elektra „ein Koloß," der sie, wie alles Erzeugte, in seinen „ehernen Händen" hält (27), aber selber keine Bindung anerkennt und sich daher gegen den Erzeuger wendet. Es ist bezeichnend, daß Hofmannsthal das Iphigenie-Motiv völlig ausschaltet. Wie man sich erinnert, versucht die Klytämnestra des Sophokles die Ermordung Agamemnons darzustellen als ihre Rache für die Opferung Iphigeniens. Allerdings gibt sie damit Elektra nur Gelegenheit, ihre fadenscheinigen Argumente zu widerlegen. Bei Hofmannsthal fällt dieser Rechtfertigungsversuch Klytämnestras weg. Er muß wegfallen, damit der mythische Aspekt der gebärenden und zerstörenden Mütterlichkeit nicht durch heuchlerisches Moralisieren der Person beeinträchtigt werde. Die Ermordung Agamemnons, des Gatten und Vaters, ist also in Hofmannsthals Drama als ein Ereignis von kosmischer Tragik anzusehen. Wenn Elektra auch in einer Welt spielt, die
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aus kyklopischen Urzeiten beschworen scheint, so ist die Gestalt des Vaters doch verbunden mit Ehe und Ordnung, d.h. mit der sozialen Lebensnorm, gegen die sich der mütterliche entfesselte Lebenstrieb erhebt. Die Ehe aber ist auch auf dieser archaischen Stufe geheiligt — wenn nicht als sittliche Institution, so doch als Mysterium des Lebens, in dem die polaren Kontraste des Daseins sich verbinden und zu einem Symbol der ursprünglichen Lebenseinheit werden. Die Tat Klytämnestras ist also ein Vergehen des elementaren, selbstbesessenen Lebenstriebes gegen die höhere, sozial gebundene Lebensform, die mystischen Symbolwert besitzt. Klytämnestra zerreißt das Verbundene und vergeht sich damit gegen die tiefste Lebenssehnsucht, die auf die Wiedervereinigung des Getrennten gerichtet ist und ihren stärksten Ausdruck findet in der Gestalt des Kindes. Es zeigt sich, daß Klytämnestras Tat paradoxer Natur ist: aus dem Blut geboren, ist sie gegen das Blut gerichtet. Muß sie also nicht auch durch das Blut gerächt werden ? Karl J. Naef, der eine zusammenfassende Darstellung von Hofmannsthals Wesen und Werk zu geben versucht hat, ignoriert diese Zusammenhänge, wenn er „die eigentliche ideelle und künstlerische Schwäche der Elektra" darin sieht, daß „die Rache für die böse Tat der Klytämnestra als ihrem (d.h. ihrer Tochter) Blute immanent und nicht in ein Höheres, Geistiges verlegt gedacht wird. . . 36 Wie schon oben erwähnt, beruht Elektra gerade auf der Voraussetzung, daß das Geistige nicht unabhängig vom Blut existiert. Das Blut muß vielmehr als der Muttergrund des Geistes gesehen werden, insofern es die dem Einzeltrieb übergeordnete Lebensganzheit repräsentiert, die hier gleichbedeutend ist mit dem Göttlichen. Die Rache für den Vatermord ist der Auftrag dieses göttlichen Blutes, das keineswegs mit Klytämnestras mörderischem Blut identisch ist. Elektra kann die Rache übernehmen, weil sie mehr ist als die Tochter ihrer Mutter, nämlich die Vereinigung des mütterlichen
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und väterlichen Blutes, des mörderischen und des gemordeten Lebens. Eben aus dem Punkte, wo die Elemente des Lebens in einen tödlichen Widerspruch zueinander geraten, entspringt das Geistige. Durch die Tat der Mutter ist Elektras Existenz in einem höheren Sinne unmöglich geworden, denn sie ist das Opfer des sich selbst bekämpfenden Lebens. Bedroht von der Auflösung ihrer Natur, kann sie sich nur retten, indem sie in ihrem Innern den Widerstreit der natürlichen Elemente versöhnt und im Geiste verbindet, was sich im Leben entzweit hat. Im Sumpf der Zeit Weil die Ermordung Agamemnons ein Vergehen des anarchischen Lebenstriebes gegen die göttliche Lebenseinheit im oben dargelegten Sinne ist, verfallt Klytämnestra der Magie ihrer Tat. Dieser Vorgang darf keineswegs als Folge eines schlechten Gewissens betrachtet werden. Klytämnestra kennt keine Schuld, ebensowenig wie Elektra den Begriff der Gerechtigkeit kennt. Weit entfernt von der Reue, wäre die Mörderin nur zu bereit, sich der ungehemmten Befriedigung ihres Lustund Machttriebes hinzugeben, wenn ihre Natur nicht gelähmt wäre durch die Angst vor der Zukunft und die Erinnerung an die Vergangenheit. Die Tatsache, daß Klytämnestra, Verkörperung der elementaren Dynamik des Lebens, nicht vergessen kann, offenbart die tiefe Zerrüttung ihres Wesens, die unter dem Banne der Tat eingetreten ist. Die Tat erweist sich als eine Wirklichkeit, die dem Strom des Werdens widersteht. Mit ihr tritt ein Seiendes in Klytämnestras Welt, das seine Macht im Vergehen der Zeit nicht verliert. Die Tat ist, weil sie war. Wie in Hofmannsthals erstem dramatischem Versuch, Gestern, dringt das Vergangene in die Gegenwart ein; ja, es zieht sogar die Zukunft in seine Gewalt. Im Banne der Tat vollzieht sich Klytämnestras gespenstische Verwandlung, die einer Selbstauflösung gleichkommt. Das Motiv des Selbstverlustes zeigt also in
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den weiblichen Hauptgestalten bestimmte Variationen: Chrysothemis ist nur davon bedroht, Klytämnestra dagegen ist das Opfer und Elektra die Priesterin, der sie zum Opfer fallt. Elektras Beschwörungen, die das Vergangene und Zukünftige vergegenwärtigen, steigern nur noch Klytämnestras Zeiterlebnis nach der Tat, an dem sie innerlich zugrunde geht. Die Krise Klytämnestras ist bestimmt durch den Verlust des Zeitsinnes. Sie weiß nicht mehr, ob die ihr verhaßten Äußerungen Ägisths „heute oder einmal / vor langer Zeit" gefallen sind (30). Da die Zeitbewegung für sie fast zum Stillstand gekommen ist, kann sie nicht mehr deutüch zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden. Noch mehr als Chrysothemis lebt sie in einem Alptraum, in dem alles zu öder Dauer erstarrt ist: „. . . alles sieht mich an, / als wärs von Ewigkeit zu Ewigkeit" (31). Chrysothemis kennt neben der öden Dauer auch das reißende Fließen der Zeit und fürchtet, sich darin zu verlieren. Für Klytämnestra dagegen ist die Zeit zum stehenden Sumpf geworden, in dem sie „wie ein faules Aas" zerfallt (31). Dieser seelische Fäulnisprozeß ist ihre Art des Selbstverlustes: . . . ich weiß auf einmal nicht mehr, wer ich bin, und das ist das Grauen, das heißt mit lebendigem Leib ins Chaos sinken . . . (30)
Es ist von tieferer Bedeutung, daß Klytämnestra, die durch den Gattenmord gegen die Lebensordnung verstoßen hat, als Opfer ihrer Tat selber dem Ungeformten, Ungeordneten verfällt. Gegenüber diesem Vorgang ist alles, was sie sonst noch vorbringt, Ausflucht. Hofmannsthal sagt in „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien" darüber: „. . . sie sucht sich die getane Tat ungeschehen zu machen, das Eigentliche des Mordes zu vergessen . . ." {Prosa, III, 355). Es ist nicht ohne tragische Ironie, daß Klytämnestra, um sich zu retten, bei eben den
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Mächten Zuflucht sucht, die Elektro beherrscht. Sie glaubt an die Magie der Stunde, des Wortes und des Opfers. Aber sie kann nicht von den magischen Kräften geheilt werden, weil diese Kräfte aufs engste mit jener Tat verbunden sind, die sie um jeden Preis vergessen will. So ist ihre Lage völlig ausweglos: solange sie die Tat verleugnet, bleibt sie im lähmenden Bann dieser Tat. Erkennt sie ihre Tat aber an, dann muß sie zugleich ihr Todesurteil anerkennen. Ähnlich wie Kreon in Ödipus und die Sphinx ist sie jedoch unfähig, sich selbst zu opfern. Eben darum kennt sie nicht die echte Magie, sondern nur den hilflosen Aberglauben, der über die leere Formel und das gekaufte Opfer nicht hinauskommt. Ebenso erfolglos ist sie in dem Bestreben, dem zersetzenden Bann der fortwirkenden Tat zu entgehen, indem sie sich auf die Macht des unverbindlichen Wechsels beruft: „Geht denn nicht alles / vor unsern Augen über und verwandelt / sich wie ein Nebel?" (35). Unter diesen Voraussetzungen ist allerdings die Wahrheit unerforschlich, alles widerruflich und der Begriff der Tat unhaltbar. Wenn die Zeit in eine Folge von kleinsten Zeitpunkten aufgelöst wird, dann ist dazwischen kein Raum für das Tun: „Erst wars vorher, / dann wars vorbei — dazwischen hab ich nichts / getan" (35). Auch der Begriff des Täters ist dann Illusion, da das Ich in den ständigen Wechsel hineingerissen wird und seine Identität verliert: „Bin ich denn noch, / die es getan?" (35). In diesem Argument lebt die impressionistische Zeiterfahrung Andreas in Gestern wieder auf. Aber hier wie dort erweist sich der Versuch, nur im Moment zu leben, als Flucht vor der Wirklichkeit, die nicht gelingen kann. Wenn Hofmannsthal in dem oben angeführten Zitat sagt, Klytämnestra suche das Eigentliche des Mordes zu vergessen, so weist er selbst auf den Mißerfolg ihrer krampfhaften Bemühungen hin. Demgegenüber vertritt Gerhart Baumann in seinem schon mehrfach angeführten Aufsatz die These, die Stunde der Tat sei „für
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Klytämnestra unwiderruflich hinweggespült; sie löst im Vergessen auf, was sie getan" (a. a. O., S. 165). Er kommt daher zu der Schlußfolgerung, sie gleite „in schwindelerregender Virtuosität" über die Tat hinweg, „ohne sie zu berühren" (166). Aber schon einige Zeilen weiter muß er zugeben, daß ihr ein „derartiges Hinweggleiten über die Tat" unmöglich ist, weil Elektra für sie „das beständig drohende Gestern" verkörpert. Zweifellos ist sich Elektra völlig darüber im klaren, daß die Selbstauflösung Klytämnestras nicht eine Folge des Lebens in Wechsel und Vergessen ist, wie es die Mutter darstellen möchte, um der Verantwortung zu entrinnen, sondern sich gerade umgekehrt unter der Qual des Nicht-vergessen-könnens vollzieht. Eben darum nährt die Tochter unermüdlich die Flamme der Erinnerung, versperrt der Mutter den Fluchtweg ins Vergessen und zwingt sie, ihrem Verhängnis ins Auge zu sehen. „Sie ist das ganze Haus" Nirgends zeigt sich die unheimliche Kraft der Sprache Elektras deutlicher als in ihrer prophetischen Vision am Ende der Auseinandersetzung mit der Mutter. Hier ist der eigentliche Höhepunkt des Dramas erreicht. In einer grausig-grandiosen Vergegenwärtigung des Kommenden wird die magische Tat durch die dichterische Einbildungskraft vollbracht. Klytämnestras Erfahrung der verzögerten Zeit ist in Elektras Beschwörung noch gesteigert. Der Augenblick vor dem Tode, der so oft in Hofmannsthals Werk die Erlösung von der Zeit durch eine Erhöhung in die zeitlose Einheit des Daseins bringt, erscheint hier in düsterster Zeitlupenperspektive: „. . . diese Zeit / — sie dehnt sich vor dir wie ein finstrer Schlund / von J a h r e n . . . " (39 f.). Kein erlösender Laut mildert das ins Endlose projizierte Grauen. Klytämnestras Versuch, den Bann der Sprachlosigkeit zu durchbrechen, wird zunichte durch das „ungeheure Wort,"
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das in Elektras Gesicht geschrieben steht: „. . . denn mein Gesicht / ist aus des Vaters und aus deinen Zügen / gemischt . . (41). Ohne Zweifel enthält dieses ungeheure Wort, aus dem Klytämnestra ihr Verdammungsurteil ablesen soll, mehr als einen biologischen Tatbestand. Im stummen Dastehn Elektras tritt der Mutter ihr eigenes Spiegelbild entgegen. Das Motiv der Kinder als der erhöhten Spiegelbilder der Eltern, das Hofmannsthal in „Ad me ipsum" zu seiner Märchenerzählung Die Frau ohne Schatten notiert, erscheint hier ins Negative verkehrt. Die Begegnung mit der Tochter im Augenblick der Todesvision bedeutet nicht Selbstverklärung, sondern Selbstvernichtung für Klytämnestra, weil sie begreifen muß, daß sie durch den Mord an Agamemnon nicht nur den Mann, den Anderen, sondern ihr höheres Selbst, verkörpert im Kinde, getroffen hat. Es ist bezeichnend, daß Klytämnestra gegen die visionäre Kraft Elektras völlig wehrlos ist. Sie kann nicht widersprechen, sie kann nur dastehen, „gräßlich atmend vor Angst" (41), ein zitterndes Opfertier im Banne der Opferpriesterin. Auch das Verhältnis von Mutter und Tochter ist zuletzt bestimmt durch die Magie des Opfers. Elektra, die durch ihre Hingabe an den Vater eine magische Identität zwischen sich und dem Toten hergestellt hat, dringt zugleich als zerstörerische Kraft in die Seele der Mutter ein. Sie beherrscht ihr Unterbewußtsein, aus dem die Angstträume emporsteigen: „Ich! ich! / ich hab ihn ihr geschickt. Aus meiner Brust / hab ich den Traum auf sie geschickt!" (23). Aber der Vorgang der seelischen Durchdringung wirkt auch zurück. In dem Maße, in dem Elektra in Klytämnestra eindringt und von ihr Besitz ergreift, verwandelt sie sich selbst in ihr Opfer. Die Einsicht in diese Zusammenhänge spricht aus Orests Frage: „Schwester, ob die Mutter nicht / dir ähnlich sieht?" (65). Die Verwandlung Elektras in die Mutter muß unter zwei
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Gesichtspunkten gesehen werden. Sie stellt zunächst einen weiteren Schritt in ihrer Selbstauflösung dar und trägt so zur Tragik des Individuums bei. Aber die Auflösung des personalen Selbst ist doch zugleich die Voraussetzung für die Konstituierung eines mystischen Selbst, in dem das Ganze verkörpert wird. Eben weil Elektra, wie sie zu Orest sagt, „gar nichts" ist, kann sie alles sein. Erst in diesem Zusammenhang gewinnt das oben teilweise angeführte Wort Hofmannsthals aus „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien" seine volle Bedeutung: „Sie ist der Vater (dieser ist nur in ihr), sie ist die Mutter (mehr als diese selbst es ist), sie ist das ganze Haus . . ." {Prosa, III, 354). Das ganze Haus — gehen wir zu weit, wenn wir in dieser Wendung einen Hinweis sehen auf die kosmische Harmonie der Kräfte, in der sich die ursprüngliche Einheit alles Seienden spiegelt? Es will uns scheinen, Elektra habe durch ihre Selbsthingabe, durch das Hereinnehmen der äußeren Widersprüche in ihr Inneres, eine Mission vollbracht, die der Aufgabe des Dichters entspricht, wie sie Hofmannsthal in seinem Vortrag von 1907, „Der Dichter und diese Zeit," dargestellt hat. Ist Elektra nicht der Ort des Dramas, in dem sich die Elemente der Zeit zu magischer Gegenwart verknüpfen, in dem alles zusammenkommt? Dient sie nicht, durch ihren Haß hindurch, der Harmonisierung der Welt? Der Tod als ewiger Augenblick Mit der großen Szene Elektra—Klytämnestra hat der eigentliche seelische Vorgang des Dramas seinen Abschluß gefunden. Die Lösung und Erlösung der tief ineinander Verwachsenen durch den Tod wird hier bereits angedeutet. Der Tod Elektras ist von der bisherigen Forschung meist negativ gedeutet worden. Für Lilli Hagelberg ist der Schluß des Stückes „nicht die Lösung, sondern der Zusammenbruch." Sie vergleicht Elektra mit „einer Rakete, die nicht nach Gesetzen, sondern W.-F
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durch einen dämonischen Willen . . . emporschießt und dann in sich zusammenstürzt." 37 Naef bezeichnet diesen Vergleich als ein gutes Bild und bestätigt Hagelbergs Deutung: „Wer dächte bei Elektras Tode an Verwandlung, an Emporläuterung und nicht vielmehr an Zusammenbrechen und Vernichtung?" Für ihn kommt daher das Ende „dem Selbstmord gleich." 38 Das jüngste Zeugnis für diese Auffassung ist die im Jahre 1954 erschienene Arbeit von Hugo Wyss, in der Elektras Ende folgendermaßen gekennzeichnet wird: „Die innere Selbstzerstörung vollendet sich im äußeren Zusammenbruch." 3B Der Versuch der hier zitierten Autoren, den Tod Elektras ganz eindeutig als Zusammenbruch darzustellen, steht jedoch nicht mit den Kommentaren Hofmannsthals in Einklang. Zwar spricht er in „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien" davon, daß sie „doppelt zugrunde gehen muß" {Prosa, III, 354), nämlich als Individuum und als Frau; aber diese Bemerkung kann doch nicht als eine erschöpfende Antwort auf unsere Frage angesehen werden. In anderen Äußerungen nämlich steht dem negativen Aspekt stets ein positiver gegenüber. In dem bereits zitierten Ariadnebrief weist Hofmannsthal darauf hin, daß in den Minuten, die dem Tod Elektras vorangehen, die Tiefe ihrer Natur sich wieder öffne, das Band zu einem Unnennbaren, Ewigdauernden hin wieder zusammengefügt werde {Prosa, III, 139). Hier erscheint der Tod, der die physische Vernichtung bedeutet, zugleich als ewiger Augenblick, als geistige Erhöhung ins Zeitlose, und offenbart so eine Ambivalenz, die wir bereits aus Alkestis kennen und die auch bei der Interpretation von Elektro unter keinen Umständen ignoriert werden darf. Sie findet sich bereits in Hofmannsthals Aufzeichnung des ersten Einfalls zu Elektro, Anfang September 1901: „Auch das Ende stand sogleich da: daß sie nicht mehr weiterleben kann, daß, wenn der Streich gefallen ist, ihr Leben und ihr Eingeweide ihr entStürzen muß,
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wie der Drohne, wenn sie die Königin befruchtet hat, mit dem befruchtenden Stachel zugleich Eingeweide und Leben entStürzen." 40 Hofmannsthals Elektragestalt ist also im Gegensatz zu der des Sophokles von Anfang an bestimmt durch die Notwendigkeit ihres Todes. Für diese Notwendigkeit lassen sich verschiedene Gründe anführen. Das Entscheidende jedoch ist die totale Hingabe an ihren Auftrag, in der sie sich selbst verzehrt, sodaß nichts mehr übrig bleibt für ein normales künftiges Leben. So müssen Erfüllung und Vernichtung für sie zusammenfallen. Hofmannsthals Vergleich mit der Drohne, die stirbt, indem sie zeugt, hebt die unlösbare Verbindung von Leben und Tod, Selbsterfüllung und Selbstaufgabe in der Gleichzeitigkeit des höchsten Augenblicks hervor. Welche Verkennung des Dichters, dieses Ereignis als Selbstmord abzutun! Wir glauben dagegen gezeigt zu haben, daß Elektra schon vor ihrem Tode durch ihre Treue, ihr Selbstopfer und ihre magische Identifizierung mit Vater und Mutter die Mission des dionysischen Helden erfüllt, die für Hofmansthal nach der Jahrhundertwende in Analogie steht zum Auftrag des Dichters. Ihre Todesekstase ist also nur die letzte Bestätigung und Steigerung ihres Lebensauftrags. Weil sie die Zerstückelung der natürlichen Erscheinungswelt geistig überwunden hat, kann sie mit dem Ewigen, Einen in Kontakt treten. In diesem erhöhten Augenblick erscheint sie als die Repräsentantin des Ganzen, und insofern ist ihre persönliche Tragik aufgehoben. Durch das Opfer ihres Ich gewinnt sie, auf einer höheren Stufe als Claudio, das „gesteigerte Ich der Sterbenden," das gekennzeichnet ist durch „la présence de l'univers" („Ad me ipsum," 220, 228). Nach dem Durchgang durch die Zeit, durch die Leiden der Treue und des Opfers, stellt sich im dionysischen Tod die Allverbundenheit der „Präexistenz" wieder her.41
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Das Geheimnis des Reigens Elektras Tanz ist als der höchste Ausdruck dieser Vereinigung von Ich und „Uber-Ich" zu deuten, der jenseits des Wortes liegt und daher „namenlos" (74) genannt wird. So wie das Grauen Klytämnestras sprachlos ist, versagt hier unter der „Last des Glückes" (75) die Sprache.42 „Schweigen und Tanzen" ist die einzig geziemende Haltung in dem Augenblick des „angespanntesten Triumphes" (75). Es kann nicht verwundern, daß gerade dieser Tanz, bei dem Elektra sich „wie eine Mänade" (74) bewegt, Anlaß zu Fehldeutungen gegeben hat.43 In den ablehnenden und zum Teil entrüsteten Stimmen der Kritiker kommt die Meinung zum Ausdruck, Elektras Tanz sei eine Sexualorgie, die das Chaos verherrliche. Wenn das zuträfe, dann verschwände der Unterschied zwischen Mutter und Tochter, sodaß also das Versinken Klytämnestras ins Nichts und die Erhöhung Elektras ins All-Eine eigentlich aufs gleiche hinausliefen. Aber es ist ja offenkundig, daß eine solche Gleichschaltung der Gestalten unter nihilistischem Vorzeichen der dramatischen Konfiguration des Stückes widerspricht. Eine Überprüfung der Worte Elektras, die dem Tanz vorausgehen, beweist, daß hier von einer Verherrlichung des Chaos keine Rede sein kann. Zwar gibt der Text in der ursprünglichen Fassung ihr Erlebnis nur andeutungsweise wieder. Aber er macht doch deutlich, daß sie den Jubel der Hausgenossen als eine Musik empfindet, die aus ihr selbst hervorkommt (74). Die äußere Harmonie der Welt, die durch die Sühne des Mordes wiederhergestellt ist, entspringt ihrem Innern, in dem die Gegensätze schon vorher überwunden waren. Deshalb warten alle auf Elektra, die „den Reigen führen muß" (74). Mit diesem Wort ist ein Leitmotiv angeschlagen, das sich bereits im Jugendwerk Hofmannsthals findet. Dort symbolisiert der Reigen als in sich geschlossener Rundtanz die in sich bewegte Harmonie des Ganzen. Auch der bald nach Elektra verfaßte
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Aufsatz über Oscar Wilde („Sebastian Melmoth," Prosa, II, 133-138) betont die unauflösliche Einheit des Mannigfaltigen und sogar des Gegensätzlichen. „Man kann kein Ding ausschließen," ruft Hofmannsthal aus. „Es ist überall alles. Alles ist im Reigen." Es ist bezeichnend, daß der Dichter das Reigenmotiv in dem erweiterten Text der für Richard Strauß redigierten Opernfassung von Elektra (1908) wieder aufnimmt, wenngleich in verschlüsselter Form. Der Zusatz, der unmittelbar vor dem Tanz Elektras eingefügt ist, endet mit einer Betrachtung über die Liebe. Chrysothemis, die dem Leben Zugekehrte, sagt: „Liebe / ist Alles! Wer kann leben ohne Liebe?" Darauf entgegnet Elektra: „Ai! Liebe tötet! aber keiner fährt dahin / und hat die Liebe nicht gekannt" (533). Das Bemerkenswerte daran ist, daß hier auch für Elektra der Haß umschlägt und überwunden wird in einer allumfassenden Liebe. Im Gegensatz zu Chrysothemis, die an die Liebe von Mensch zu Mensch im sozialen Leben denkt, vertritt Elektra die Auffassung des Mystikers. Die Wendung „Liebe tötet" kommt auch in Erwin Rohdes Buch Psyche vor, in dem Hofmannsthal während der Arbeit an Elektra geblättert hat.44 Rohde betrachtet das Streben nach Vereinigung mit dem Göttlichen als das Gemeinsame aller Mystik und zitiert in diesem Zusammenhang das Wort von Dschelaleddin Rumi: „Wer die Kraft des Reigens kennet, wohnet in Gott; denn er weiß, wie Liebe tödte." 45 In einer Fußnote erklärt Rohde: „In der Sprache dieses Mystikers bedeutet das: er weiß, wie das sehnsüchtige Streben nach der Rückkehr zu Gott, der Seele ins All, die eingeschränkte Individualität des einzelnen Menschen zersprengt." Wie stark Hofmannsthal von dieser mystischen Deutung der Liebe beeindruckt war, geht daraus hervor, daß er seinen Aufsatz über Wilde mit einer Variation des von Rohde zitierten Wortes Dschelaleddin Rumis abschließt und es preist als ein „wundervolles Wort," das „tiefer als alles" sei. Elektras Ausspruch
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„Liebe tötet" ist also getragen von dem mystischen Wissen, daß das Individuum aufgehoben werden muß, wenn die Seele an der in sich bewegten Ruhe des All-Einen, dem göttlichen Reigen, teilnehmen will. Von hier aus gesehen, ist ihr Haß gegen die Mutter, der sich aus dem Leiden an der zersplitterten Welt nährt, nur die Kehrseite einer mystischen Liebe, die auf die ungebrochene Ganzheit des Seins gerichtet ist. Selbstopfer als Erlösungstat
Trotz aller erotischen Untertöne ist also Elektras Tanz weder eine Entfesselung gehemmter Triebe, noch eine Verherrlichung des Chaos. Die Sprache des in das Opernbuch eingefügten Textes ist frei von sinnlichem Exzeß. Sie wird vielmehr bestimmt durch die mystische Symbolik des Lichtes. In antithetischen Formulierungen wird der Umschlag aus dem Dunkel ins Helle, die Erlösung aus der tödlichen Starre der entleerten Individualität gefeiert: Ich war ein schwarzer Leichnam unter Lebenden, und diese Stunde bin ich das Feuer des Lebens und meine Flamme verbrennt die Finsternis der Welt. (532) Auffallend ist die ich-bezogene Bildersprache, die das mystische Grundthema in einer besonderen Abwandlung erscheinen läßt. Das Ich wird nicht ins Universale aufgelöst, sondern mystisch bestätigt und erhöht. Anstatt im All zu versinken, nimmt es die zerstreuten Kräfte gleichsam in sich hinein und stellt sich als höchste Intensivierung des All-Lebens dar. Auch hier, auf dem Gipfel ihrer Entwicklung, bleibt Elektra sich treu. Sie vollzieht die Vergegenwärtigung des Ganzen in ihrem Selbst. Das Überzeitliche und Überräumliche tritt durch sie für einen Augenblick in Zeit und Raum ein. Das göttliche Mysterium der Lebenseinheit wird Ereignis, aber nicht in Taumel
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und Raserei der entfesselten Bacchantin, die an die Ebene des Elementaren gebunden ist, sondern in der Selbstverklärung des ent-selbsteten Opfers. Es zeigt sich also, daß Hofmannsthal gerade dort, wo er sich dem Dionysischen im Sinne des antiken Mythos zu nähern scheint, darüber hinausgeht und durch die Mystik des Opfers, die die christlich-idealistische Ethik der Selbstüberwindung enthält, eine höhere Ebene der Darstellung gewinnt.48 Im Ausruf Elektras „Wir / sind bei den Göttern, wir Vollbringenden" (532) klingt das Motiv der Vergöttlichung des Menschen auf, das auch den Schluß von Alkestis und ödipus und die Sphinx bestimmt. Allerdings ist diese äußerste Steigerung hier nur für die Dauer des erhöhten Augenblicks zu leisten. Im Tod Elektras sprengt der unendliche Inhalt das endliche Gefäß. Im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Motiv der mystischen Liebe muß noch auf den Erlösungsgedanken hingewiesen werden, der in diesem Zitat zum Ausdruck kommt. In der Wendung „ . . . meine Flamme / verbrennt die Finsternis der Welt" erfährt das Grundthema des Selbstopfers seine höchste Vollendung. Auf dieser Ebene geht es nicht mehr um die Untat Klytämnestras, sondern um das Weltübel als solches, das sich darin manifestiert. Durch das Opfer Elektras wird im Rahmen dieses Dramas die Harmonie der Welt wiederhergestellt. Darum hat es auch soziale Bedeutung. Der Jubel der Chrysothemis und der übrigen Hausgenossen drückt die Freude der Lebenden über die Erlösung vom Fluch aus, die sie der sterbenden Elektra verdanken. Nur weil sie die Welt wieder in Einklang mit sich selbst gebracht hat, ist ein erfülltes Leben in der sozialen Lebensordnung möglich. Die „Gesichter von Männern und Frauen" (74), die hinter Chrysothemis zur Tür hereindrängen und beim Todestanz Elektras zugegen sind, deuten den Zusammenhang zwischen der mystischen und der sozialen Bedeutung dieses Ereignisses an. Es trifft also nicht zu, daß Elektra „außerhalb des Geschehens" bleibe und „mitten im Siegesrausch verlassen"
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sei. Sie nimmt vielmehr eine Position ein, die durch Einsamkeit und Verbundenheit zugleich bestimmt ist und an die gesteigerten Glücksmomente des Dichters selber erinnert: „. . . in völliger Einsamkeit, . . . aber allen gleich nah wie im Mittelpunkt einer Kugel." 48 Elektra steht also gerade am Ende des Dramas im Zentrum des Geschehens, während Orest mit gutem Grunde unsichtbar bleibt. Die Tragik des magischen Geistes Zu Beginn dieses Kapitels wurde gesagt, daß Elektras Ende als doppeltes Paradox aufgefaßt werden müsse, nämlich als ein Siegen im Scheitern und als ein Scheitern im Siegen. Bisher haben wir mit der Untersuchung der Motivkette Treue — Opfer — magische Identifizierung — Erhöhung nur den Triumph Elektras dargestellt. In ihm offenbart sich die Macht des dichterischen Geistes, der die Wirklichkeit in sich aufnimmt, sodaß Welt und Traum verschmelzen. Die Glorie des Dichters aber, in der die Tragik des Individuums aufgehoben ist, erscheint selber wieder in tragischem Lichte. Denn die universale Einsamkeit des Mittelpunkts, von der Hofmannsthal in der oben angeführten Briefstelle spricht, ist nicht nur Glück, sondern auch Verhängnis. Wer als einzelner die dichterische Tat der Weltversöhnung vollbringt, kann nicht zugleich in diese Welt eingehen. Entrückt ins Bleibende, nimmt er nicht mehr am Werden teil. Im Zustand der Allverbundenheit kann er kein echtes Verhältnis zu der konkreten Wirklichkeit gewinnen. Die Erhöhung ins Göttliche schließt die menschliche Ich-DuBeziehung aus. Dies ist der eigentliche Grund dafür, daß Elektra weder handeln noch lieben kann. Wir sprechen hier von Handeln, um der Doppeldeutigkeit des Wortes Tat zu entgehen. Aus unserer Darstellung ergibt sich, daß Elektra sehr wohl zu der geistig-sittlichen Tat des Opfers, nicht aber zu der realen Tat fähig ist. Mehr noch:
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gerade weil sie die innere Kraft der Beschwörung besitzt, bleibt ihr der Zugang zur Betätigung im Draußen verschlossen. Dies meint Hofmannsthal, wenn er in „Ad me ipsum" erklärt, Elektras Verhältnis zur Tat sei „mit Ironie behandelt" (217). Es hat nicht an Versuchen gefehlt, das ironische Verhältnis Elektras zur Tat aus ihrer Weiblichkeit zu erklären. Diese Interpretation hann sich auf Bemerkungen Hofmannsthals in „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien" stützen, in denen der Dichter sie als die „Täterin" bezeichnet, die sich zur Tat berufen fühlt und doch darüber „doppelt zugrunde gehen muß: weil sie als Individuum sich fähig hält und schon als Geschlecht unfähig ist, die Tat zu tun." An anderer Stelle heißt es: „ . . . sie meint kaum mehr Frau zu sein, spricht von sich wie von einer Toten — und vergißt das Beil, denn sie ist doch Frau" {Prosa, III, 354, 355). Nach unserer Auffassung waren diese Notizen nicht dazu bestimmt, eine erschöpfende Darstellung der tragischen Aspekte Elektras zu geben. Hofmannsthal kehrt in seinen Bemerkungen überhaupt bald den einen, bald den anderen Gesichtspunkt hervor, sodaß Widersprüche unvermeidlich sind. In „Ad me ipsum" zum Beispiel will er den Zusammenhang Alkestis — Elektra — Ödipus hervorheben und stellt daher fest: „Das Entscheidende liegt nicht in der Tat sondern in der Treue" (217). Nach den „Aufzeichnungen" dagegen, die das Gemeinsame von Jedermann und Elektra betonen, „steht die Tat und das Verhältnis zur Tat im Mittelpunkt" {Prosa, III, 354). Eine folgerichtige Interpretation läßt sich nur durchführen auf Grund der Einsicht, daß beide Aspekte gegenseitig bedingt sind. In Elektra schließt die mystische Erfüllung in der Treue das Scheitern an der realen Tat mit ein. Die Problematik aber, die sich aus der Verschlingung der beiden Motivketten ergibt, ist auf der höchsten Bedeutungsebene nicht die der Frau, sondern die des magischen Dichtertums. Elektra erweist sich als
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eine Figur des Übergangs. Sie ist gewiß nicht mit der Gestalt des Zauberers aus der Jugenddichtung Hofmannsthals identisch, denn die Magie ihrer Sprache nährt sich aus der Kraft des Opfers. Aber obwohl der dichterische Geist den Glauben an seine Autonomie aufgegeben und sich im Akt der Hingabe mit der Welt verbunden hat, obwohl er am Ringen der Lebensmächte teilnimmt, bleibt er doch inmitten dieses Ringens im Bannkreis der Einbildungskraft befangen. Hier enthüllt sich die Dialektik der Innerlichkeit, die sich zum Universum erweitern kann und doch zugleich ein unsprengbarer Kerker ist. Hofmannsthal hat dieses Thema in dem imaginären Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall behandelt, das unter dem Titel „Uber Charaktere im Roman und im Drama" im Jahre 1902 erschien.49 Dort heißt es vom Dichter: „Wie der Geist aus der Flasche Sindbads des Seefahrers, wird er sich ausbreiten wie ein Rauch, wie eine Wolke und wird Länder und Meere beschatten. Und die nächste Stunde wird ihn zusammenpressen in seine Flasche, und, tausend Tode leidend, ein eingefangener Qualm, der sich selber erstickt, wird er seine Grenzen, die unerbittlichen, ihm gesetzten Grenzen, spüren, ein verzweifelnder Dämon in einem engen gläsernen Gefängnis, durch dessen unüberwindliche Wände er mit grinsender Qual die Welt draußen liegen sieht, die ganze Welt, über der er vor einer Stunde brütend schwebte, eine Wolke; ein ungeheurer Adler, ein Gott." Das gleiche Thema wird auch im Trauerspiel Der Turm aufgenommen, an dessen von Calderon bestimmten Vorstufen Hofmannsthal nach der Jahrhundertwende zu arbeiten begann. Auch für den Prinzen Sigismund ist der Turm der Innerlichkeit Universum und Gefängnis in einem. Die Tragik Elektras läßt sich also weder individualpsychologisch noch biologisch deuten, sondern muß in dem Zusammenhang der Dichterproblematik gesehen werden. Sie, die in der visionären Gegenwart lebt,
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verfehlt den realen gegenwärtigen Augenblick. Sie, die kein Vergessen kennt, vergißt im entscheidenden Moment das Werkzeug der Tat, das Beil, und zwar über dem Wort, der Seligpreisung des Täters! Erst damit erschließt sich die volle ironische Bedeutung des Beilmotivs, die sich keineswegs in dem Kontrast zwischen männlichem Tun und weiblicher Geschwätzigkeit erschöpft. Die Beilszene steht vielmehr in Analogie zu der Beschwörungsszene in der ersten Fassung des Trauerspiels Der Turm, in der Sigismund durch den Messerstich der Zigeunerin ums Leben kommt. In beiden Fällen wird die Schwäche des dichterischen Geistes enthüllt, der, befangen in seiner Vision, hilflos ist gegenüber der konkreten Wirklichkeit. Orest: Fremdling aus der Außenwelt Elektro bezeichnet in der inneren Biographie Hofmannsthals eine Zwischenstation: die Heldin kann den Weg ins Leben und zu den Menschen, den sich der Dichter vorgezeichnet hat, nicht vollenden. Im Bannkreis der Innerlichkeit eingeschlossen, kommt sie nicht zum echten Handeln. Das Wesen des Dramas aber erfordert Handlung, und Elektro sollte ja ein Drama sein. Wie also war der Widerspruch zwischen Thematik und Form zu lösen ? Die ästhetische Problematik und zugleich der eigentümliche Reiz von Elektro liegen darin begründet, daß dieser Widerspruch ungelöst blieb. Er mußte ungelöst bleiben, denn das Nichthandelnkönnen des dichterischen Geistes ist an sich überhaupt kein dramatisches Motiv. Eben weil die Heldin in Elektro nicht zum Handeln kommt, kann auch der Autor nicht zum Drama kommen. Er kommt nur scheinbar dazu — weil ihm der Mythos die Gestalt Orests in die Hände spielt. Orest aber, der in der Tragödie des Sophokles durchaus am rechten Orte ist, erweist sich im Rahmen der Konfiguration Hofmannsthals als Fremdling aus der Außenwelt. Bereits Maximilian Harden hat dies in seiner Besprechung des Stückes
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erkannt: „Warum mußte dieser Fremdling, der Wesenlose, uns in die Tragödie tölpeln ?" Er sieht in ihm nur das ausführende Organ Elektras: „Er ist hier ja nur ihr Werkzeug, die Hand, die ihren Willen bedient." Es ist aufschlußreich, daß Hofmannsthal in einem Brief Hardens Kritik an der Gestalt Orests noch unterstreicht: „Uber die Elektro hat er tatsächlich das einzige sehr Treffende gesagt, das ich irgend gelesen hätte: nämlich daß sie ein schöneres Stück und ein reineres Kunstwerk wäre, wenn der Orest nicht vorkäme." 60 Damit gibt Hofmannsthal selbst das Mißverhältnis zwischen der männlichen Hauptfigur und der Konfiguration der drei Frauengestalten zu. Das Erscheinen Orests hätte nur dann eine tiefere Berechtigung, wenn mit ihm der echte Täter aufträte, der Geist und Tat miteinander vereint. Um das Problem des Tuns für den Dichter zu lösen, müßte er die Verbindung von Innen und Außen, „den Übergang aus dem Bewußten zum Unbewußten" vollziehen, der nach „Ad me ipsum" (226) die Voraussetzung der Tat ist. Aber so wie Elektra in die Innerlichkeit gebannt ist und keinen Zugang zur Welt findet, so steht Orest völlig in der Welt, ohne am Problem der Innerlichkeit teilzuhaben. Er handelt vielmehr naiv, in frommer Einfalt, ein gehorsames Werkzeug der Götter, denn er weiß: „. . . sie haben diese Tat mir auferlegt, / und sie verwerfen mich, wofern ich schaudre" (64). Obwohl er ein Zittern nicht verbergen kann, schreckt ihn doch keine Vision der Schuld und des Grauens zurück. Gewiß, auch er opfert sich dem Schicksal, aber ohne klare Vorstellung davon, was dieses Opfer für ihn bedeutet. Anders als der ödipus Hofmannsthals ist er in voller Identität mit seiner Funktion. Denken und Einbildungskraft sind ausgeschaltet. Im Unterschied zu Elektra, die Vergangenheit und Zukunft immer wieder im Geiste beschwört, geht Orest ganz im realen Augenblick auf. Als Kontrastfigur zu Elektra ist Orest genau so einseitig wie
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die Schwester. Daher kann er, ebenso wie sie, im Rahmen des Stückes nicht zu voller Selbstverwirklichung kommen. Bezeichnenderweise verschwindet er mit dem Vollzug der Sühnetat von der Bühne. Wir können also Gerhart Baumann nicht zustimmen, der in Orest einen Repräsentanten menschlicher Selbsterfüllung in Hofmannsthals Werk sehen möchte: „Orest gelangt zu sich, indem er sich aufgibt in der Tat" (a. a. O., S. 179). Diese Formel aus „Ad me ipsum" (221), „Tun ist Sichaufgeben," läßt sich hier nicht anwenden, da Orest sich noch nicht als Ich, als der Welt und dem Schicksal gegenüberstehenden Geist, erfahren hat. Gerade weil der Kontrast zwischen Innen und Außen, Traum und Tat für ihn nicht zum Problem wird, kann er nicht das „Gesetz des sich selbst durchdringenden Gegensatzes" (Baumann, 179) erfüllen. Anstatt die Verbindung zwischen dem Reiche des Bewußten und Unbewußten herzustellen, ist er dem unbewußten Tun anheimgegeben. Es ist dieses völlig unproblematische Tun, das Elektra in ihrer Seligpreisung des Täters verherrlicht. Für sie, deren Seele „eine Wunde ist, ein Brand, ein Eiter / und eine Flamme" (66), erscheint die Tat „wie ein Bette, / auf dem die Seele ausruht." In diesen Worten kommt die ganze Sehnsucht der unter der Bürde des Geistes Leidenden nach dem einfachen So-sein des Handelnden zum Ausdruck. Gegenüber dem unbewußten Tun erscheint alles Fühlen, Denken, Reden als nichtig. Es versteht sich, daß dieses Werturteil keine unbedingte Gültigkeit beansprucht. Die Problematik des Unproblematischen völlig außer acht lassend, spiegelt es vielmehr die Sprachverzweiflung des dichterischen Geistes, der seine beschwörende Kraft bis zum äußersten gesteigert hat und dabei an die unüberwindlichen Wände seines Gefängnisses gestoßen ist. In dieser Grenzsituation, kurz vor seiner Erhöhung ins All-Eine durch den Tod, verherrlicht das dichterische Bewußtsein den Umschlag ins Unbewußte, der ihm doch unter den gegebenen Voraussetzungen
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nicht zuteil werden kann. Denn gerade während Elektra nicht nur den Täter, sondern auch seinen Gehilfen, der ihm das Beil aus der Erde gräbt, im Worte glorifiziert, vergißt sie das Beil in Wirklichkeit und bestätigt damit die Unerbittüchkeit der Trennungslinie, die für sie zwischen der Innenwelt des Wortes und der Außenwelt des Handelns besteht. So stehen sich in Elektra die Träumende und der Handelnde gegenüber, ohne daß es zu einer tieferen Verbindung zwischen ihnen käme. Der Gegensatz von Sein und Werden, der sich hinter dem von Geist und Tat verbirgt, ist nicht gelöst, sondern nur in zwei Extremen dargestellt. Während die Elektra des Sophokles den Bruder um seiner selbst willen liebt, ist er für Hofmannsthals Heldin Mittel zum Zweck. Die Möglichkeit der Erlösung Elektras aus ihrer universalen Einsamkeit durch eine echte Ich-Du-Beziehung zu dem Bruder kann sich nicht verwirklichen. Das Verhältnis Orest — Elektra bleibt unfruchtbar. Die Konfiguration hat keine verwandelnde Kraft und erweist sich so als technische Hilfskonstruktion. Allerdings bleibt zu bedenken, daß Hofmannsthal ursprünglich eine Fortsetzung von Elektra plante, die das Schicksal Orests darstellen sollte.51 In diesem zweiten Teil wäre, so dürfen wir schließen, der unbewußt Handelnde zum Bewußtsein seines Tuns erwacht. Er wäre der Magie des Opfers verfallen, hätte seine Tat, die vorher bloß von ihm ausgeführt wurde, mit allen Schmerzen auf sich nehmen müssen und wäre damit zum echten Täter geworden. Die Bedeutung des Leides für Orests künftige Entwicklung unterstreicht Hofmannsthal in „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien": „Orest duldet die Tat: darum muß er tun, damit er leide, was er leidet, weil er tat" {Prosa, III, 355). In der vorliegenden Form aber bietet Elektra keine Lösung des Geist-Tat-Problems. Die echte Tat kann gar nicht getan werden, weil keine der Hauptgestalten ein echtes Verhältnis zum Tun hat: Klytämnestra will nicht getan haben, was sie tat; Elektra
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kann nicht tun, was sie tun will, und Orest weiß nicht, was er tut. Diesem Verfehlen der Tat entspricht das Verfehlen der echten Existenz im Leben, in der sich Erinnern und Vergessen, Beharren und Verwandeln durchdringen. Orest macht im Rahmen des Stückes überhaupt keine Verwandlung durch. Klytämnestras Verwandlung im Banne ihrer Untat führt zur Auflösung ins Nichts. Elektra aber wird durch das Mysterium des Opfers ins All-Eine erhöht und tritt damit aus der Zeit heraus. Zwischen diesen Extremen bleibt die Mitte, in der sich Geist und Tat, Sein und Werden vermählen sollten, leer. Das weitere Ringen Hofmannsthals um die Tragödie war daher ein Ringen um das Menschentum der Mitte. Die Polarität von Wissen und Handeln, Geist und Leben, in Elektra durch die Kontrastfiguren von Schwester und Bruder verkörpert, war in einer Gestalt zu vereinigen. Der Weg ins Leben, den sich der Dichter vorgezeichnet hatte, konnte im Werk nur gestaltet werden, wenn sich Traum und Tat, Tod und Liebe verbanden. Die Suche nach der höchsten Synthese des Menschlichen führte Hofmannsthal zu ödipus und Jokaste.
Ödipus und die Sphinx Ödipus und die Sphinx (1906) scheint zunächst nichts anderes zu sein als die dramatisierte Vorgeschichte zu der Ödipustragödie des Sophokles.62 Im ersten Akt, der an einem Kreuzweg im Lande Phokis spielt, berichtet der junge ödipus einem vertrauten Diener über seine Erfahrungen in Delphi. Er hat den Tempel des Gottes aufgesucht, um Aufschluß zu erhalten über seine Abkunft. Der Spruch des Orakels schien jedoch seine Fragen nicht zu beantworten. Der Gott gewährte ödipus nicht die klare Erkenntnis, nach der er suchte, sondern versenkte ihn in den „Lebenstraum." In ihm ermordete ödipus einen Mann und vereinigte sich mit einem Weib; beider Gesichter waren jedoch verdeckt. Die Priesterin gab dem Traum, der Gewalt und Wollust als das Wesen des Lebens zu enthüllen schien, die folgende Deutung: . . . des Erschlagens Lust hast du gebüßt am Vater, an der Mutter Umarmens Lust gebüßt, so ists geträumt, und so wird es geschehen. (294) Von Entsetzen über das grausige Schicksal gepackt, das für ihn den Triumph des barbarischen Triebes und den Verlust aller menschlichen Würde, Freiheit, Unschuld bedeutet, beschließt ödipus, nicht mehr nach Korinth zu seinen vermeintlichen Eltern zurückzukehren, sondern als einsamer, unbehauster Beter sein Leben zu verbringen. Aber gerade dieses Opfer seines bisherigen königlichen Daseins, das ihm die eigene und eigen-sinnige Freiheit gegenüber der göttlichen Notwendigkeit erkaufen soll, führt ihn seinem Schicksal entgegen. Nachdem seine Diener nach Korinth zurückgekehrt sind, trifft er mit Laios, dem König von Theben, seinem wirklichen Vater, zu96
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sammen, der auf der Fahrt nach Delphi begriffen ist, um bei dem Orakel Hilfe gegen die todbringende Sphinx zu finden. Aus dem Streit mit dem Herold des Königs entwickelt sich ein Kampf, in dem Laios und seine Diener, bis auf einen, getötet werden, ödipus, der den Vater nicht erkennt, deutet das Ereignis als Zeichen seiner Berufung zur freien Tat. Die Stimmen seiner Ahnen dagegen, die im Sturm laut werden, bezeichnen ihn als „unsres Blutes Sohn" (316) und weisen auf seine vom Schicksal vorgeschriebene Thronbesteigung in Theben hin. Mit diesem offenen Widerspruch zwischen der vermeintlichen Freiheit der Tat und dem unentrinnbaren Gesetz des Blutes schließt der erste Akt. Der zweite Akt, der in Theben spielt, zerfallt in vier Teile. Sie stehen im Zeichen des Thronanwärters Kreon, der Königinnen Antiope und Jokaste, des Sehers Teiresias und des eintreffenden Helden ödipus. Kreon, Jokastes Bruder, ist eine Gestalt, die bei Hofmannsthal im Verhältnis des ergänzenden Gegensatzes zu ödipus steht. Der moderne Dichter verschlingt die Schicksalsfaden der beiden noch enger als der Mythos, indem er den Knaben Kreon zum Boten der Priester macht, der dem König Laios am Vorabend seiner Hochzeitsnacht mit Jokaste das Orakel verkündete: . . . wenn dir je der Schoß der leuchtenden Jokaste einen Sohn gebiert, so stirbst du auch von dieses Sohnes Hand. Nun wähle! (323) Das Wissen um sein künftiges Königtum, das dem Kinde Kreon durch das Orakel zugefallen war, lähmte die Tatkraft des Mannes. Da er wußte, daß seine eigenen Taten keinen Einfluß auf sein Schicksal hatten, gab er sich der antizipierenden Phantasie hin, die ihm den Zugang zur Wirklichkeit versperrte. Nun, nach dem Tode des Laios, läßt er einen Magier aus seiner W.-G
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mystischen Versenkung reißen, um durch ihn die Kraft zur Tat, zum Griff nach Krone und Schwert zu gewinnen. Aber er kann den Rat des Magiers — opfre, „was du nicht gekauft hast" (326) — nicht befolgen, weil er nur Käufliches kennt und gerade zum echten Opfer des königlichen Menschen, zur Selbstaufgabe, nicht befähigt ist. Darum haßt er den Schicksalstraum, den er am Morgen des Entscheidungstages träumt und der ihm das Scheitern seiner ehrgeizigen Pläne ankündigt. Er sieht sich als alten Mann, aber immer noch nicht als König von Theben, sondern als Diener eines neuen Herrn, der ihm als „eine Art jüngrer Laios" (328) erscheint. Die Träume des ödipus und des Kreon sind also koordiniert. Sie zeigen, daß das Schicksal den Träumern zwar verschiedene Rollen im Lebensspiel zugewiesen hat, aber doch an beide die gleiche Forderung stellt: das Opfer des menschlichen Eigenwillens zugunsten der göttlichen Vorsehung. Da Kreon seiner Machtgier nicht entsagen kann, gleichzeitig aber von seiner Ohnmacht durchdrungen ist, verfallt er einem zermürbenden Zwischenzustand zwischen Verlangen und Zweifel. Weder die Kunde von einem Volksaufstand zu seinen Gunsten noch das Selbstopfer seines jugendlichen Schwertträgers (des einzigen Menschen, der wirklich an ihn glaubt) kann ihn daraus erlösen. Die nächste Szene spielt in einem Frauengemach des königlichen Palastes. Im Laufe eines dramatischen Gesprächs zwischen der Mutter des Laios, Antiope, und seiner Gattin, Jokaste, wird das Schicksal des Kindes enthüllt, das Jokaste vor Jahren in der Verborgenheit geboren hat. Jokaste berichtet von dem Mordbefehl des Vaters, der sich selber retten wollte und daher gegen den Willen des Schicksals handelte. Sie erwähnt zugleich die Alternative, die sie damals dem Laios vorschlug und die er ablehnte: das Selbstopfer der Eltern zugunsten des Kindes. Voll Sehnsucht nach dem Tod, ist Jokaste bereit, sich den Müttern zu opfern, deren Kinder von der Sphinx verschlungen
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worden sind, zur Strafe für das Verbrechen des Königs an seinem Sohn. Antiope aber, die Stamm-Mutter, die nur an die Fortpflanzung des königlichen Geschlechtes denkt, ahnt, daß Jokaste vom Schicksal nicht für den Tod, sondern für das Leben bestimmt ist, und weiht ihren Leib „für ihn, dem Platz zu machen / Laios hat sterben müssen" (362). Die Szene gipfelt in ihrem Gebet: Bacchos, wir schreien zu dir auf, wir sind von deinem goldnen Blut! (366) Darauf kündigt sie einen vom Schicksal gesandten Gott an, der sich mit Jokaste vermählen werde. Unterdessen hat sich das Volk vor dem Palast versammelt und fordert die Erhebung Kreons zum König. Antiope verhöhnt ihn als „den Schattenmann, den Unhold ohne Kraft" (367) und beschuldigt ihn, die Ermordung des Laios veranlaßt zu haben. Der Streit wird unterbrochen durch die Ankunft des blinden Sehers Teiresias. Er beschreibt den Gegensatz zwischen der Lebensgier des triebhaften Blutes, welche die Welt beherrscht, und den Lebenstiefen des heiligen Blutes, „wo Weh und Wahn erstorben sind" (374). Von Antiope nach dem Mörder des Laios befragt, vom Volk bestürmt, den Retter der Stadt vor der Sphinx zu bezeichnen, erblickt Teiresias mit dem inneren Auge den, der beides ist: ödipus, auf dem Wege zur Stadt. Ergriffen von der Vision des sich erfüllenden Schicksals, nennt er den Nahenden einen Halbgott, der sich „aus Qualen ohne Maß erhebt" (377), und wirft sich vor Jokaste, der „Mutter," nieder. Das Volk zwingt die Königin zu schwören, daß Haus, Schwert und Krone des Laios, ebenso wie sie selbst, dem angekündigten Retter gehören sollen. Sie leistet den Eid, beschließt aber insgeheim, in den Tod zu gehen. Kreons Zweifel an sich selbst werden bestätigt; das Volk erkennt ihn nicht als den künftigen König an.
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Die nächste Szene steht ganz im Zeichen des eintreffenden ödipus, der, umstrahlt vom königlichen Glanz des Lebens, dem Volk als Held und junger Gott erscheint. Als er von der Not der Stadt erfahrt, fühlt er sich in seinem Glauben bestätigt, daß der Fluch des Schicksals von ihm genommen und daß er von den Göttern zur Vollbringung heroischer Taten ausersehen sei. Jokaste, vom Volk erneut herausgerufen, bricht bei seinem Anblick unwillkürlich in den Ruf „Lalos!" aus. ödipus ist „wie vom Blitz getroffen" (386). Die vom Schicksal für einander Bestimmten stehen sich in einem Schwebezustand zwischen Erkennen und Verkennen gegenüber. Uberwältigt von der Aussicht auf die Erfüllung seiner geheimsten Wünsche, bereitet sich ödipus vor, die Sphinx zu besiegen. Die Zeichen der Götter scheinen ihn in seinem Vorhaben zu ermutigen. Die Flamme des Opferfeuers schlägt hoch auf, als sein Wanderstecken als Gabe dargebracht wird. Zugleich entfallt der sterbenden Antiope ihr Stab, den nur „ein Gott und ein Geschick" (351) aus ihren Händen winden konnten, ödipus macht sich auf den Weg, beseelt von dem aufs höchste gesteigerten Selbstbewußtsein des seiner magischen Allmacht sicheren Geistes: . . . In meinen Adern halt ich die Welt: es stürzt kein Stern, es taumelt kein Vogel von der Nestbrut, ohne mich. (390) Im dritten Akt, der die Begegnung mit der Sphinx im Gebirge oberhalb Thebens bringt, hat sich Hofmannsthal am weitesten vom antiken Mythos und von dem modernen Stück Peladans entfernt. Er baut die Konfiguration ödipus — Kreon noch weiter aus, indem er beide der Sphinx entgegenführt und so ihrem Schicksal gegenüberstellt. Kreon, als Fackelträger verkleidet, kommt, um die Vernichtung des verhaßten Nebenbuhlers durch die Sphinx zu erleben, ödipus will die Sphinx besiegen, um durch die Größe der selbstherrlichen Tat König in Theben zu werden.
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Beide werben um das Schicksal, ödipus durch das Wagnis der Tat, Kreon durch das beschwörende Wort — und beide werden enttäuscht. Die Funktion der Sphinx ist bei Hofmannsthal eine andere als bei Sophokles. Sie stellt ödipus nicht die aus der Sage bekannte Rätselfrage, durch deren Beantwortung er die Überlegenheit seines Geistes beweist. Vielmehr nennt sie ihn bei seinem Namen (den er in Theben verschwiegen hat), erinnert ihn an den Traum im Tempel zu Delphi und zerschmettert damit seine Hoffnung, sich durch das freigewählte Opfer und die eigenmächtige Tat von seinem Schicksal losgekauft zu haben. Auch der Sieg über die Sphinx, wie er ihn sich vorgestellt hat, wird ihm nicht zuteil, denn das Ungeheuer stürzt sich selbst in den Abgrund mit einem Schrei, „in dem sich ein Triumph / mit einem Todeskampf vermählt" (404). Während also der ödipus des Sophokles durch sein Wissen über die Sphinx zu triumphieren glaubt, wird der Held Hofmannsthals durch das Wissen der Sphinx in die tiefste Verzweiflung gestürzt. Denn was er von der Sphinx erfährt, ist die Wahrheit des unentrinnbaren Schicksals. Schon hier also wird der Träumer zum Wissenden. Aber dieses Wissen ist tödlich, denn es enthüllt die Verfallenheit alles Lebendigen an das Gesetz des mord- und lustgierigen Lebenstriebes.53 Entsetzt vor der schicksalshaften Macht des Titanischen in der eigenen Natur, will ödipus, der hohe Mensch, in den Tod fliehen. Damit ist die erste Phase seiner Entwicklung im dritten Akt, die von der Anmaßung zum Zusammenbruch führt, abgeschlossen. Die zweite Phase wird durch den Mordversuch des verkleideten Kreon eingeleitet, ödipus wehrt den Angriff zwar ab, aber sobald sich der Angreifer als Jokastes Bruder zu erkennen gibt, reicht er ihm sofort den Dolch zurück und bietet sich als freiwilliges Opfer dar. ödipus, der für Kreon und die Welt als Sieger über die Sphinx erscheinen muß, ist also bereit, die Früchte dieses Sieges hinzugeben, obwohl sie die Erfüllung seiner tiefsten Wünsche darstellen. Diese Szene ist wichtig für die weitere
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Entwicklung der Handlung. Der dritte Akt läßt sich nur verstehen, wenn ihre Bedeutung klar erkannt wird, ödipus, der um die Unentrinnbarkeit des Lebensgesetzes weiß, will sich opfern, um der eigenen Verfallenheit an den Lebenstrieb und den Lebenswahn zu entgehen und die Geliebte vor der Befleckung durch seine Begierden zu retten. Dieser Akt sittlicher Selbstüberwindung führt zur dritten Phase. Nachdem der Held im Angesicht des Todes die Selbstsucht des niederen Triebes und den Hochmut des selbstgewissen Menschen innerlich überwunden hat, kann der fürs Leben Bestimmte ins Leben zurückkehren, ohne ihm doch je wieder völlig zu verfallen. Dies aber ist der tiefere Auftrag des Schicksals; daher hemmt es den dolchschwingenden Arm Kreons und sendet den Blitz, das „Licht der Götter" (406), als Zeichen der Erfüllung. Der Schluß des Aktes führt ödipus und Jokaste zusammen und bringt die Vereinigung der Polaritäten des Daseins in der Ich-Du-Gemeinschaft des hohen Menschentums. Alles, was der einsamen Elektra versagt war, ist den Vereinigten gewährt: das Vergessen, die Liebe, die Tat, das Leben, aber auch die Lebensschuld. Die dionysische Göttlichkeit des dichterisch-königlichen Menschen entfaltet sich in höchster Steigerung — und erweist sich als Hybris. Der Jubel der durch die Liebe Verwandelten ist überschattet von der Drohung des Schicksals, das den Helden erhöht, um ihn zu zerschmettern. So weist der Schluß von Ödipus und die Sphinx auf die Tragödie Oedipus Rex von Sophokles voraus, die Hofmannsthal übersetzte, um sie seinem eigenen Stück als Fortsetzung anzufügen.54 Aber es wäre falsch, den Sturz des königlichen Menschen als das letzte Wort unseres Dichters anzusehen. Wir wissen vielmehr, daß er eine Trilogie plante, die durch einen „einaktigen Ödipus-Greis," entsprechend dem Sophokleischen ödipus auf Colonus, abgeschlossen werden sollte.55 Aus diesen
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Plänen, die bisher nicht veröffentlicht waren, hat Hederer in seinem kürzlich erschienenen Buche eine Reihe von Notizen mitgeteilt (S. 157-160). Sie zeigen, daß Hofmannsthals ödipustrilogie mit der Entrückung des Helden zu den Göttern enden sollte. Stärker noch als in dem Sophokleischen Stück ist alles auf die Verklärung und Erlösung des vielgeprüften Dulders abgestellt, ödipus, der Greis, ist „wunderbar durchleuchtet"; seine Stimme ist „gelöst wie nie." In „unnennbaren Qualen" hat er die Dialektik des menschlichen Schicksals durchlebt, das Segen und Fluch, Aufschwung und Absturz in sich schließt, und ist nun reif zur höchsten Einsicht in den Sinn seines Geschicks und zur höchsten Frömmigkeit des amor fati: „Unser Unglück ist so groß, daß es etwas wie ein Glück in sich hat. Wir verstehen jetzt die ganze Welt." Auf Schicksalsbejahung und Weltbejahung ist die letzte Botschaft gegründet, die der Unbehauste, Vereinsamte, Erblindete verkündet: „Ich segne die Sonne, die ich nicht sehe." Seine Liebe zum Dasein findet Antwort in der Natur, die sich dem „Schmerzenskind" liebend öffnet. Sie ist in Hofmannsthals Worten „voll erbarmender Arme, voll Heilkraft, liebender Schoß und Grab." Was dem Jüngling ödipus als Fluch des Schicksals erschien, enthüllt sich dem Greis als göttliche Gnade. Sein religiöses Vertrauen erfahrt eine letzte Bestätigung. Schuld, Verblendung, Hybris und Leid sind gerechtfertigt als Phasen eines göttlichen Heilsplanes. „Deshalb," notiert Hofmannsthal, „vermag Trauerspiel in Idylle überzugehen." Die menschliche Tragik wird im göttlichen Mysterium aufgehoben. Die ödipustrilogie war also dazu ausersehen, den tragischen Konflikt zwischen Mensch und Schicksal als einen „Zwist der Liebenden" im Sinne Hölderlins darzustellen, der mit Versöhnung endet. Hier wird deutlich, daß in Hofmannsthals Werk „heidnisches" Traumspiel und „christliches" Welttheater keinen Gegensatz bilden, sondern unter verschiedenen Voraussetzungen
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und in verschiedener Form die gleiche Botschaft verkünden. Stimmen der Kritik Dies ist der große Zusammenhang, in den das uns vorliegende Werk eingeordnet werden muß, wenn Fehldeutungen vermieden werden sollen. Unter den Hofmannsthal-Forschern haben sich neben Josef Nadler besonders Grete und Hans Heinrich Schaeder um eine problemgerechte Interpretation von ödipus und die Sphinx bemüht.56 Im übrigen aber läßt sich nicht sagen, daß dem Dichter von Zeitgenossen und Nachwelt viel Verständnis für sein eigentliches Anliegen entgegengebracht worden wäre. Das Ringen Hofmannsthals um die Synthese des Menschlichen wurde kaum zur Kenntnis genommen. Ohne Blick für die innere Fülle und den Beziehungsreichtum der Motive und Gestalten, deutete man das Werk als Triumph des ungebändigten Lebenstriebes über den hilflosen und verblendeten Menschen. Schon Maximilian Harden identifizierte das auf hintergründige Dialektik angelegte Schicksal in Ödipus und die Sphinx mit der elementaren Fortpflanzungsgier des Blutes und sah in ihm „das Leben, das sich durch Gräuel und Grausen erhält." Fruchtbarkeit um jeden Preis ist nach seiner Auffassung der Wille der Götter: „Durch Gräuel und Blutschande schreitet die Menschheit vorwärts. Ohne so grausige Blutmischung stürbe sie aus; und was sind Götter über leerem Land?" 57 Auch Naef sieht die Problematik des Werkes unter bevölkerungspolitischem Aspekt: „Das ist ja das eigentliche Thema und der tiefste, allumfassende Kampf des Dramas: Das Leben gegen die Erstarrung; die Fruchtbaren gegen die Unfruchtbaren." Der dionysische Held Hofmannsthals wird so zu einer Art Zuchtstier des Schicksals. Er bleibt mit Blindheit geschlagen, bis „der Zweck der Täuschung erfüllt und die neue Brut ins Leben gesetzt ist." 68 Diese ungerechtfertigte Vereinfachung der Interpretation, die
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den ödipus Hofmannsthals der Übermacht des barbarischen Lebens preisgibt und ihn sowie Jokaste als die Opfer unbegreiflicher, grausamer Willkür sieht, findet sich auch in dem vor einigen Jahren erschienenen Buch von Walter Jens. Trotz einer gewissen Einsicht in die Verschlingung von Freiheit und Notwendigkeit ist er in Interpretation und Formulierung von Naef abhängig. So ist ödipus auch für ihn ein „Medium, hörig und folgsam der herrischen Stimme des Blutes," ein „trunkener Illusionist," ein „höriger Sklave des Augenblicks" (a. a. O., S. 90, 92). Obwohl Jens Hofmannsthals Plan einer ödipustrilogie kennt, ist er der Meinung, daß mit den letzten Zeilen der Ubersetzung des Sophokleischen Oedipus Rex der „wahre Schluß des zeitlich vorhergehenden Dramas geschrieben" worden sei. Daher glaubt er, das Schicksal in Ödipus und die Sphinx unter dem Aspekt eines dem Helden aufgetragenen „VerderbenPlans" sehen zu dürfen, und will in der Verbindung von ödipus und Jokaste „nur eine Station auf dem Wege des Grauens" erkennen (a. a. O., S. 91, 92, 90). Seine Schlußfolgerung lautet: „Der Jubel des Endes ist ein Schrei der Verdammnis" (S. 90). Zu spät erinnert sich der Autor an das Wort von Hölderlin, das dem Stück als Motto vorangestellt ist und das als den Sinn des Schicksals die Verwandlung der Woge des Herzens in Geist versteht. Sein Zugeständnis, daß das Ende von Ödipus und die Sphinx doch „nicht nur als tragische Ironie zu begreifen" sei, kann die Einseitigkeit seiner Deutung nicht ausgleichen.68 Ganz erstaunlich ist die Tatsache, daß Hederer, der neuerdings Auszüge aus Hofmannsthals Plänen für einen „ödipusGreis" veröffentlicht hat, die Bedeutung dieser Aufzeichnungen für die Interpretation von Ödipus und die Sphinx nicht erfaßt. Er gibt zwar zu, in Hofmannsthals geplanter Trilogie umgreife ein „kosmisches Mysterium . . . das Drama des Menschen" und der Mythos öffne sich „in einen Gnade gewährenden Bereich" (S. 159). Aber offenbar ist er so befangen in seinem Vorurteil
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gegen das mythische Traumspiel, daß er dennoch darauf besteht, in Ödipus und die Sphinx walte ein „auswegloses Verhängnis" (S. 157) und die Weissagung der delphischen Priesterin sei „die eines unseligen Gottes, der einen dunklen sinnlosen Kosmos durchwirkt" (S. 151). Nun ist es aber offenbar unmöglich, die Teile der von Hofmannsthal geplanten Trilogie so rücksichtslos auseinanderzureißen. Trotz aller Widersprüche in der Entwicklung des Helden müssen die Stationen seines Schicksalsweges doch im Rahmen des Gesamtplans durch eine tiefere Folgerichtigkeit miteinander verbunden sein. Die „versöhnende Antwort," die Hofmannsthal nach Hederer im dritten Teil auf das „ausweglose Verhängnis" (S. 157) des ersten Teils geben wollte, setzt voraus, daß dieses Verhängnis eben doch nicht so ausweglos ist, wie der Interpret meint. In der Verblendung und Verstrickung des Helden, in den rätselhaften Botschaften des Schicksals muß ein Sinn verborgen sein, der im Laufe des Spiels immer klarer hervortritt und schließlich am Ende der Trilogie alle Dunkelheiten erhellt und alles scheinbar Sinnlose aufhebt. Bei der Voreingenommenheit Hederers gegen Ödipus und die Sphinx kann es nicht überraschen, daß er sich nicht sehr bemüht, diesen verborgenen Sinn zu finden. Er beschränkt sich darauf, den Handlungszusammenhang zu skizzieren, und verzichtet auf eine wirkliche Interpretation, indem er erklärt: „Was zwischen ödipus und der Sphinx geschah, ist kaum deutbar" (S. 155). Anstatt die Grundbegriffe zu klären, auf denen Hofmannsthals Stück beruht, begnügt er sich mit der unergiebigen Feststellung: „Alles ist vieldeutig" (S. 156). Zwar erinnert auch er sich des Hölderlinschen Mottos, das dem Drama vorangestellt ist, und räumt ein, die Woge des Herzens, die sich am Schicksal bricht, sei „von dunkler Schönheit" (S. 157). Wie aber diese Schönheit in einer nach seiner Meinung geist-losen Welt in Geist verwandelt werden soll, vermag er nicht zu erklären.
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Blut und Schicksal Die angeführten Kritiker werden der Spannweite und Tiefe des Hofmannsthalschen Werkes nicht gerecht. Sie bleiben am Oberflächlichen haften, ohne des Dichterwortes zu gedenken, daß das Tiefe versteckt werden müsse — und zwar an der Oberfläche. So muß also noch einmal darauf hingewiesen werden, daß das Blut, das die Geschicke der Handelnden bestimmt, in Ödipus und die Sphinx kein eindeutiger Begriff ist. Es erscheint vielmehr unter drei Aspekten als das goldene, das heilige und das selige Blut. Das goldene Blut, das von der alten Königin Antiope verherrlicht wird, ist der unersättlich nach Gestaltung drängende Lebenstrieb, der sich in der Dynamik der Zeit, im Werden und Vergehen, verwirklicht. Sein Gesetz ist das titanische Lust- und Machtprinzip. In ihm bricht die elementare Naturgewalt auf, deren schrankenlose Entfesselung zum Chaos, zum Kampf aller gegen alle führen müßte. Zerstörerisch und fruchtbar zugleich, ist das goldene Blut der Nährstrom der gestalteten Welt, die sich im Wechsel von Geburt und Tod erhält. Trotz seiner dämonischen Züge ist es doch göttlichen Wesens, denn nur aus ihm steigt die Kraft der Fruchtbarkeit, sei es zur Zeugung, sei es zur schöpferischen Tat. Von ihm wird das Doppelantlitz des Lebens geprägt, das grauenhaft und herrlich zugleich ist. Im heiligen Blut stellt sich der ergänzende Gegensatz des goldenen Blutes dar. Der Lust und dem Schmerz entzogen, ruht es im Innern der Welt als der eine, ewige Wesensgrund alles Seienden. Von ihm kündet der blinde Seher Teiresias, der den inneren Blick hat und „sieht, was nicht da ist" (371). Es zeigt sich also, daß Hofmannsthal die Antinomie von Werden und Sein in das Medium des Blutes hineinverlegt und ihm so eine vertiefte Bedeutung verleiht. Dieser Vorgang ist geistesgeschichtlich von besonderem Interesse. Das Ewige tritt aus der zweifelhaft gewordenen Transzendenz des Geistes in die
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immanente Tiefe des Lebens, ohne sich jedoch mit der Macht des Triebes zu identifizieren. Auch im Medium des Blutes ist die Grundspannung des Daseins gewahrt, die auf dem Gegensatz von Bewegung und Ruhe, Zeit und Ewigkeit, Trieb und Geist, Leben und Tod beruht. Nur unter dieser metaphysischen Voraussetzung kann der Auftrag des hohen Menschen, die Versöhnung der Polaritäten, gestellt und erfüllt werden. Diese Versöhnung ereignet sich im seligen Blut der Liebenden am Ende von Ödipus und die Sphinx. In ihnen kommt auf einer höheren Ebene alles zusammen, was im natürlichen Dasein auseinandergetreten ist. Das Paradox erscheint als die Form des höheren Lebens, das dem Willen des Schicksals entspricht. Wie noch zu zeigen sein wird, enthüllen sich also auch im Schicksal verschiedene Bedeutungsschichten. In dem Wortlaut des Orakels scheint zunächst nur das Diktat des nackten Triebes zum Ausdruck zu kommen. So faßt es ödipus selber auf, und darum versucht er, dem Schicksal zu entfliehen. Aber ebenso wie in Elektro das Gebot der Rache den Auftrag der Versöhnung enthält, verbirgt sich auch in Ödipus und die Sphinx das Höhere im Niederen. Die Aufgabe, die das Schicksal dem Helden stellt, ist weder die Flucht in die Reinheit des Geistes noch das Sichverheren an die elementare Gewalt des Triebes, sondern die Vereinigung beider durch die verwandelnde Kraft der Liebe. Da kein Lebender dem Gesetz des triebhaften Lebens entrinnen kann, ist die Selbstüberwindung im Opfer der einzige Akt der Freiheit, der dem hohen Menschen gewährt ist. Aber gerade indem er diesen Akt vollzieht, tut er den Willen des Schicksals.40 Hier wird die Verbindung sichtbar, die bei allen Unterschieden zwischen ödipus und die Sphinx und dem Salzburger Großen Welttheater besteht. In beiden Werken sind die Rollen im Lebensspiel vom Schicksal festgelegt, aber wie sie gespielt werden, bleibt dem Spieler überlassen. Der Bettler vollbringt die
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sittliche Tat der Selbstüberwindung ebenso wie ödipus. Aber er tritt danach aus dem Leben heraus und weiht sich der reinen Anschauung Gottes, ödipus dagegen soll ins Leben treten und die Ganzheit des Menschlichen verkörpern, die das Unreine zwar verwandelt und in sich aufgenommen, aber nicht aufgehoben hat. Gerade weil der hohe Mensch hier der ganze Mensch ist, darf die Lebensschuld nicht getilgt werden. Weit entfernt von einseitiger Idealisierung, sind ödipus und Jokaste also schuldig und unschuldig, gebunden und frei. Im Leben stehend, haben sie das Leben überwunden, ohne doch dem Lebensschicksal entrückt zu sein.81 Vereinigung des Unvereinbaren Hier zeigt sich bereits, wie schwierig die Aufgabe war, die Hofmannsthal sich gestellt hatte. Nun erst trat sein dringendstes Problem, der Lebenstraum, in den Vordergrund. Denn in Elektro wird der Gegensatz von Ich und Es nur verdeckt, nicht gelöst. Das Schicksal fordert von der Heldin den heroischen Verzicht auf die natürliche Trieberfüllung im Leben um der geistig-sittlichen Tat der Treue willen. Dieser Verzicht auf das Niedere zugunsten des Höheren ist dem Wesen des hohen Menschen gemäß. Die Lebensschuld wird für die in den Tod Entrückte überhaupt nicht zum Problem, ödipus dagegen sieht sich aus der Reinheit der Jugend herausgerissen und der Schicksalsforderung der Trieberfüllung gegenübergestellt. Die göttliche Notwendigkeit scheint hier nicht auf die Erhöhung, sondern auf die Erniedrigung des hohen Menschen gerichtet. Sie stößt ihn in den Abgrund der Schuld und bedroht ihn mit dem geistigen Tod unter der Ubermacht des Barbarischen, das aus den Tiefen seiner eigenen Natur emporsteigt. So wird im Falle des ödipus die Identität des hohen Menschen mit dem Schicksal problematisch, die für Elektra eine gegebene Voraussetzung war. Das Erschrecken des Geistes vor der Macht des Triebes
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führt zur Selbstspaltung, ja zur Selbstverleugnung des Helden. Das Leitmotiv der Flucht vor dem Schicksal, das wir aus Alkesiis kennen, klingt wieder auf. Aber in Ödipus und die Sphinx flieht der Held nicht vor dem Tod, sondern vor dem Leben. Die Spannung zwischen Bewußtem und Unbewußtem ist bis zum äußersten gesteigert. Die Frage, die sich der Dichter stellen mußte, lautet: Wie ist diese Spannung zu lösen? Wie ist der Umschlag aus der Schicksalsverneinung in die Schicksalsbejahung zu gestalten? Wir haben bereits angedeutet, daß die Integration des Gegensätzlichen, die Hofmannsthal vorschwebte, nur auf Grund einer vielfältig geschlungenen Paradoxie möglich war. Der Held mußte in das grauenhafte Antlitz des Lebens blicken und doch seinem Zauber offen bleiben. Er mußte sich dem Tode darbieten, ohne ihm zu verfallen. Er mußte die Verzweiflung über die Nichtigkeit des Menschen vereinen mit dem Vertrauen auf seine göttliche Berufung. Er mußte die notwendige Lebensschuld erfahren und sie zugleich durch sein freiwilliges Opfer adeln. Er mußte um die Unentrinnbarkeit des Schicksals wissen und dieses Wissen zugleich vergessen können; denn nur so ließen sich die Widersprüche, die in Elektro offen geblieben waren — Geist und Leben, Traum und Tat, Bewußtsein und Unterbewußtsein — versöhnen. Das Vergessen des Entsetzlichen unter dem Zauber der hohen Liebe ist die Voraussetzung für die Erlösung des Helden aus dem Bann des tödlichen Wissens. Aber die Wahrheit der Liebe ist nicht etwa bloße Illusion, sondern der Wahrheit des Wissens übergeordnet. Denn sie entspringt dem unbewußten, religiösen Vertrauen auf das göttliche Wesen des All-Einen, das sich hinter der Welt des Triebes verbirgt und durch die Schicksalserfüllung des hohen Menschen in die Wirklichkeit tritt. Lebensschuld und Lebensblindheit gewinnen so einen tieferen Sinn: Sie sind der Preis, der für die Verwirklichung der gött-
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lieben Ganzheit des Daseins im Menschen bezahlt werden muß. Nur wenn sich das Tier und der Gott im Menschen verbinden, ist die Zerfallenheit der Welt überwunden. Die beseligende Erfahrung der Selbstverwandlung und der Weltverwandlung im Wunder der Liebe erlaubt es ödipus und Jokaste, das gewußte, vergessene und doch geahnte Lebensschicksal zu bejahen. Im Vollgefühl der dionysischen Herrlichkeit, die Tod in Leben, Leid in Freude verwandelt, bejahen sie am Ende des Stückes auch die im Dunkel gegenwärtige Schuld und führen so den Schicksalsumschlag mit herbei, der in König Ödipus eintritt und im Zeichen der apollinischen Götter steht. Schon aus dieser kurzen Zusammenfassung ergibt sich der kritische Einwand, der gegen Ödipus und die Sphinx geltend gemacht werden muß. In seinem Bestreben, die höchste Integration des im Zeichen der Immanenz stehenden Menschen darzustellen, ist der Dichter zu weit gegangen. Die Gegensätze, die in den Protagonisten versöhnt werden sollen, sind so weit gespannt, daß ihre Überwindung nicht ohne Gewaltsamkeit möglich ist. Da sein tiefstes Problem, die geistige Bewältigung des Lebens, in Elektro nicht gelöst werden konnte, unternahm Hofmannsthal in Ödipus und die Sphinx einen neuen Versuch, der die höchsten Ambitionen des Dramatikers unter den schwierigsten Bedingungen erfüllen sollte. Im Grunde lief die Aufgabe, die er sich hier stellte, auf die Vereinigung des Unvereinbaren hinaus. Aber obwohl er diese Aufgabe durch eine staunenerregende Verkettung von Ambivalenzen und Paradoxien löste, sind doch die Bedeutungszusammenhänge derart kompliziert, daß sie den Leser und den Kritiker verwirren müssen. Auch der Zuschauer im Theater kann weder den Tiefsinn der mit Problematik überbürdeten Handlung erfassen noch die Leistung Hofmannsthals würdigen, der diese Last gleichsam auf einer Nadelspitze im Gleichgewicht hält. Die Hoffnung des Dichters, sich mit ödipus und die Sphinx den Zugang zur Bühne zu eröffnen,
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war also zum Scheitern verurteilt. Aber andererseits ist die Bedeutung des Werkes für sein Schaffen kaum zu unterschätzen. Hier laufen mancherlei Entwicklungslinien der Jugenddichtung zusammen, und von hier aus ergeben sich weite Ausblicke auf die Produktion der Reifezeit. *
Im Gegensatz zu Elektro ist in Ödipus und die Sphinx die Konfiguration voll entfaltet. In den Gestalten des äußeren Kreises werden die Grundaspekte des Daseins sichtbar: Kreon (Nichts) — Teiresias (Sein) — Antiope (Werden). Sie sind (mit Ausnahme Kreons gegen Ende des Spiels) an ihren Ort gebunden und nicht wandlungsfähig. Ihre Positionen umreißen den Bewegungsbereich der zur Wandlung aufgerufenen Figuren des inneren Bezirks: Laios — Jokaste — ödipus. Die tragende Mitte der gesamten Konfiguration ist der Ort des Schicksals, das in dem göttlichen Orakel und in der Gestalt der Sphinx in Erscheinung tritt. Da sein wahres Wesen verhüllt ist, wäre es zunächst als X zu bezeichnen. Die Interpretation bewegt sich von außen nach innen. Erst nachdem die Gestalten des äußeren Ringes analysiert sind, erschließt sich der innere Kreis. Erst dann lassen sich auch die verschiedenen Aspekte des Schicksalsspruches darstellen. In ihrem Lichte wird die Begegnung des Helden mit der Sphinx und mit Jokaste im letzten Akt zu deuten sein. Kreon: das Nichts im Herzen Man hat die Gestalt Kreons des öfteren beschrieben, ohne jedoch ihre Funktion im Rahmen der Konfiguration voll sichtbar zu machen. Im folgenden soll daher vor allem die Perspektive entwickelt werden, in der die Probleme des Schicksals und der Wahrheit (und damit die Gestalt des ödipus) im Zusammenhang mit Kreon erscheinen. Hofmannsthal selbst hat betont, daß „Kreon für das Ganze so ungeheuer wichtig" ist.82 Er hat
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auch darauf hingewiesen, daß Kreon und ödipus, ebenso wie andere Kontrastfiguren seines Werkes, eine ursprüngliche Einheit bilden und daher gerade in ihrem Gegensatz verbunden sind: „Jede Trennung ist schon Allegorie. Auch das Gegeneinanderstellen von ödipus und Kreon ist Allegorie. Der Tod ist mitten im Leben."43 In der Tat läßt sich ödipus nur würdigen, wenn dabei stets die Alternative Kreon im Auge behalten wird. Aus Hofmannsthals „Ad me ipsum" geht hervor, daß beide grundsätzlich auf der Stufe des königlichen Menschen stehen und als Aspekte des dichterischen Geistes zu sehen sind. Ihr Gegensatz liegt in ihrem Verhältnis zum Leben begründet. Während ödipus dazu berufen ist, die Hoheit des Geistes mit der Kraft und der Schuld des Lebens, die Schärfe der Erkenntnis mit dem Zauber der Liebe, das bewußte Wissen mit dem unbewußten Tun zu vereinen, bleibt Kreon die Versöhnung des Gegensätzlichen versagt. In ihm erscheint vielmehr ein später Claudio, der Typ des weltlosen, in die eigene Innerlichkeit gebannten Geistes, der nun allerdings jede Erinnerung an die mystische Erfahrung der ursprünglichen All-Einheit verloren hat. Darum kann hier seine Problematik mit unerbittlicher Schärfe entwickelt werden. Schon der Knabe Kreon tritt unter das Zeichen des tödlichen Wissens. Daß die Priester gerade ihn zum Boten des Orakelspruches machen, der den Sohn des Laios und der Jokaste bedroht, ist mehr als unglücklicher Zufall; es gehört vielmehr in sein Schicksalsbild. Das Wort aus seinem Mund enthält den „giftgen Tod" (325), der in die Lebenssaat geträufelt wird und der ihn zum Feind aller Lebensgläubigen, der Mütter und der Täter, stempelt. Hier erweist sich die mythische Bedeutung Kreons in Hofmannsthals Stück; sie erhebt ihn über die Gestalt der Sage und der Sophokleischen Tragödie. Zugleich liegt in der Verbindung von Wissen, Wort und Tod seine Modernität begründet, die im Zusammenhang mit der Problematik Nietzsches W.-H
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und des jungen Thomas Mann zu sehen ist. In dieser Hinsicht symbolisiert Kreon die religiöse Krise des aus dem Lebensgrund gerissenen Geistes, dessen überbewußte Selbstreflektion ins Leere führt und daher im Nihilismus zu enden droht. Aber Hofmannsthal hat in ihm nicht nur den vom Zweifel geschlagenen Intellekt, sondern zugleich die auf sich zurückgeworfene Einbildungskraft dargestellt. In ihrer einsamen Innerlichkeit kann sie nur sich selber befruchten und erzeugt daher „ungeborene kraftlose Träume" (325). Kreon also ist das Schreckbild eines selbstbefangenen Dichtertums, dem der Weg des ödipus ins Leben verwehrt ist — Absage Hofmannsthals an das Konzept einer "reinen," aus dem Lebenszusammenhang gelösten Kunst. Das Verhältnis Kreons zur Zeit ist, wie das zur Lebenswirklichkeit, negativ. Die Wendung, mit der Hofmannsthal in „Ad me ipsum" die Gestalten seiner Jugenddichtung charakterisiert, „antizipierter Weltbesitz" (224), gilt grundsätzlich auch für ihn, jedoch nur in negativem Sinne. In den imaginären Erfüllungen seiner Zukunftsträume lebend, verfehlt er die echte Erfüllung im Realen. So ist er vom Strom der Zeit, vom lebendigen Werden, ausgeschlossen. Im Gegensatz zu ödipus, der vom Lebensstrom getragen wird, verfallt er einer inneren Erstarrung, die der äußeren Erfahrung der „versteinten Welt" (325) entspricht. Aber er ist nicht nur den Verwandlungen des Lebens entzogen, sondern auch ohne Zugang zum unwandelbaren Sein. Die Götter verglühten ihm wie alte Fackeln (324), und die Erinnerung an das Mysterium der All-Einheit ist erloschen. Aus dem Zeitlichen wie aus dem Ewigen gähnt ihm die gleiche Leere entgegen, die er selber in sich trägt. Denn er, der Allzubewußte, findet in sich nicht die Kraftquellen des Unbewußten, sondern einen bodenlosen Abgrund. Aus ihm steigen die fahlen Träume der Ohnmacht empor. Hier wird der Gegensatz zwischen ödipus und Kreon voll
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sichtbar. Gewiß, auch die Seele des träumenden ödipus „findet keinen Grund" (291); aber es ist der Abgrund der Lebensfülle, der sich in ihr öffnet, während Kreon mit Schaudern das Nichts in sich entdeckt. Daraus erklärt sich die ihm eigentümliche Sehweise des Durchschauens. Weil er den vernichtenden Tod in sich trägt, muß er „mit jedem Blick / die Leichen sehn in übertünchten Gräbern" (336). Weil er in seiner Seele weder das Geheimnis noch das Wunder des Lebens findet, entzaubert sich ihm die Welt und wird käuflich, berechenbar, benutzbar, Mittel zum Zweck seiner selbstsüchtigen Machtgier. Wenn ödipus die Gabe der Verwandlung ins Höhere besitzt, so ist Kreon eine niedere Abart des Midas, „dem was er anrührt scheußlich sich verwandelt" (338). Ödipus — Kreon: Glaube und Zweifel Die lähmende Erfahrung des Nichts in der eigenen Seele, die Hofmannsthal in Kreon gestaltet hat, ist ein konstitutives Element seines Werkes. Sie bildet den Gegenpol zu jenem Mysterium der Einheit von Ich und All, in dem sich die Fülle des in sich ruhenden Seins offenbart. Diese Grundpolarität erscheint bereits in der Jugenddichtung. Im Erstdruck von Der Tor und der Tod finden sich die folgenden Verse, in denen Claudio seine Verzweiflung über das nihilistische Selbsterlebnis leidenschaftlich zum Ausdruck bringt: Der Seele gottverfluchte Hundegrotte, Am tiefsten Leben tödlicher Verdacht, Des Fühlens Abgrund, Ausgehn allen Lichts, Aufwachen in der grenzenlosen Nacht Und Anblick des medusengleichen Nichts !M Nach 1900 gewinnt die Erfahrung des dem Nichts preisgegebenen Ich eine erhöhte Bedeutung für Hofmannsthal. In dem Grade, in dem die metaphysische Sicherheit der „Präexistenz"
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fraglich wird, verstärkt sich die Drohung der Leere und des Chaos. Die Erfahrung des Lord Chandos, dem die Worte zu Wirbeln werden, „durch die hindurch man ins Leere kommt" (Prosa, II, 14), ist im Erlebnis des „Zurückgekehrten" (1908) zu einer gespenstischen Vernichtung des Seienden gesteigert.® In einer plötzlich entleerten Welt erfahrt er „ein so unbeschreibliches Anwehen des ewigen Nichts, des ewigen Nirgends," daß er sich zu verlieren droht. Erst die Bilder van Goghs, deren Gestaltenreichtum „aus einem fürchterlichen Zweifel an der Welt herausgeboren war und nun mit seinem Dasein einen gräßlichen Schlund, gähnendes Nichts, für immer verdeckte," geben ihm das Vertrauen zum Dasein zurück. Welt zu schaffen, aus dem Zweifel an der Welt heraus; die Leere zu füllen, unter der Drohung der Leere stehend — das erscheint Hofmannsthal in jenen Jahren als die eigentliche Mission des Dichters. In dem Vortrag „Der Dichter und diese Zeit" (1907) sieht er ihn schaffen wie die Spinne, „aus dem eigenen Leib den Faden hervorspinnend, der über den Abgrund des Daseins sie trägt" (Prosa, II, 291). Das Nichts also ist ebenso wirklich wie das Sein, die Nichtigkeit des Lebens ebenso überwältigend wie seine Fülle. Kreon, der aus dem Leeren in die Welt blickt, muß sie leer und wesenlos sehen. Sein Gesichtspunkt läßt sich nicht widerlegen, sondern nur überwinden durch jene Selbstüberwindung, die er am Ende des Stückes vollzieht. Auf der anderen Seite aber steht der Perspektive des Zweifels die der Gläubigkeit gegenüber; aus ihr ergibt sich die Bereitschaft zur Hingabe. Dieser Grundkontrast ist nicht nur im Verhältnis Kreon — ödipus dargestellt, sondern kehrt abgewandelt in der Beziehung Kreon — Jokaste und Kreon — Knabe Schwertträger wieder. Der Zweifler Kreon, der das wahre Opfer nicht kennt, wird also in der Gesamtkonfiguration der Gruppe der Gläubigen und Opferbereiten gegenübergestellt.
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Die Gläubigkeit ist die Perspektive des echten Dichters. Sein Schaffen beschwört aus dem Nichts das Sein und verwandelt das Chaos in Harmonie. Aber in seinem Werk errichtet er nicht etwa eine Welt des schönen Scheins. Dichten ist vielmehr ein religiöser Akt, der dem Glauben an das sinnerfüllte Geheimnis des Unfaßbar-Einen entspringt. Eben weil der Dichter im Grunde seiner Seele ein Gläubiger ist, kann er durch sein Werk auch Glauben erwecken, d.h., wie Hofmannsthal in „Der Dichter und diese Zeit" sagt, „ein Fürwahrhalten über allen Schein der Wirklichkeit" {Prosa, II, 295). Die Wahrheit des Göttlichen, Ewigen, ohne die für unseren Dichter kein wahrhaftes Leben möglich ist, erschließt sich jedoch wiederum nur dem, der innerlich und äußerlich am Leben teilhat. Schon der junge Hofmannsthal ist davon überzeugt, daß das reine Denken nicht imstande ist, das wahre Wesen des Lebens zu erfassen: „Es hängt aber das ganze Leben an der geheimnisvollen Verknüpfung von Denken und Tun. Nur wer etwas will, erkennt das Leben. Von dem Willenlosen und Untätigen kann es gar nicht erkannt werden, so wenig als eine Frau von einer Frau."" Da aber der Weg ins Leben aus der Freiheit und Unschuld der „Präexistenz" herausführt, ergibt sich die Schlußfolgerung, daß nur der in die Bande der Schuld Verstrickte die Möglichkeit zu jener religiösen Erkenntnis, gewinnt, die mehr ist als ein kaltes Durchschauen aus der Distanz, nämlich ein liebendes Durchdringen und Durchdrungensein. Gerade in diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich Hofmannsthals Plan einer Trilogie zu vergegenwärtigen. Dann wird uns ödipus nicht als der schwachsichtige und sich selbst betrügende Träumer erscheinen, als den ihn Naef darstellen möchte. Denn seine „Illusionen" sind nicht etwa gleichzusetzen mit jenen Selbsttäuschungen, in denen Nietzsche eine List des Lebens zur Sicherung der eigenen Fortentwicklung erblickt. Seine „blinde" Hingabe entspringt vielmehr dem unbewußten
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Vertrauen auf den Sinnzusammenhang des Daseins und auf die göttliche Berufung des Menschen. So treten in ödipus und Kreon die Haltung des Glaubens und die des Zweifels einander gegenüber. Aber ihre Gegenüberstellung ist, nach dem Wort des Dichters, Allegorie. Im Verhältnis der Komplementärfiguren bekundet sich die Einheit des Ganzen, die auf der Polarität von Leben und Tod, Sein und Nichts beruht. Sie wird bestätigt durch den Gang des Spiels, der zu einem Austausch polarer Elemente führt. Der im leeren Wissen erstarrte Kreon wird, getroffen vom Strahl des Wunderbaren, zum Gläubigen und erlebt damit die Gnade der Verwandlung, die ihn für das Leben und das Königsamt reif macht. Der gläubig-blind im Lebenstraum befangene ödipus wird unter dem gräßlichen Blick der Sphinx zum Wissenden. Damit ist die Enthüllung der Wahrheit in der Sophokleischen Tragödie bereits vorweggenommen, und die höchste menschliche Möglichkeit wird sichtbar: die Frömmigkeit des greisen ödipus, der die Bezauberung und die Schuld des Lebens erfahren hat; der durch das Wissen und das Leid hindurchgegangen ist und der seinen Glauben zuletzt durch die Erhöhung zu den Göttern gerechtfertigt sieht. Teiresias: Seher des Seins Der Ort Kreons in der Konfiguration der Tragödie ist nicht nur durch sein Komplementärverhältnis zu ödipus bestimmt. Im Zeichen des vernichtenden Todes stehend, wird er vielmehr auch den Müttern (Antiope, Jokaste) und dem Seher Teiresias gegenübergestellt. Die Gestalt des Sehers ist für unsere Interpretation von besonderer Bedeutung, weil sich mit ihr in einer Welt des titanischen Lebens, die keine Transzendenz des Geistes kennt, das Ewige in der Tiefe erschließt. Teiresias, der für die Vorgänge und Gestalten der „Wirklichkeit" Blinde, schaut mit dem inneren Auge „ins Innere der Welt" (371). Er erweist damit seine Verwandtschaft mit den repräsentativen Gestalten hohen
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Dichtertums aus dem Jugendwerk Hofmannsthals, deren Ort die Mitte aller Dinge ist. Entrückt in eine Tiefe, in die selbst der Lebenstraum des ödipus nicht hinabreicht, erfahrt er das göttliche Sein, das keine Zersplitterung in Raum und Zeit kennt. Unberührt von den aus dem Gegensatz geborenen Leidenschaften des Lebens, kreist dort das „heilige Blut" selig in sich selbst. In der Schau des Teiresias erscheint es als blühende Welt, als verklärter Kosmos, in dessen vollkommener Harmonie Sterne auf- und untergehen (374). Diese immanente Transzendenz des ewigen Seins stellt den Gegenpol zum Strom des ewigen Werdens dar. Der mystische Aspekt des Blutes aber ist von höherem Rang als der elementare. Bezeichnenderweise ist es der heilige Seher, der mit dem göttlichen Schicksal Vertraute, der die unersättliche Lebensgier verurteilt (373). Denn der gleiche Trieb, der zur Zeugung drängt, treibt den Gezeugten gegen den Erzeuger und führt zu einer gegenseitigen Zerfleischung der Väter und Söhne, die zwar dem Gesetz des ewigen Werdens entspricht, aber zu der Harmonie des ewigen Seins in Widerspruch steht. Teiresias bricht in die Klage über das Chaos des titanischen Lebens aus, als man ihm das blutbefleckte Gewand des Laios vorhält. Das Ereignis des Vatermordes, das sich ihm enthüllt, erscheint wie eine erneute Bestätigung seiner düsteren Vision. Erstaunlicherweise wandelt sich jedoch seine Haltung völlig, sobald der nahende ödipus in sein inneres Bückfeld tritt. Der scheinbar dem Gesetz des titanischen Lebens verfallene Vatermörder erscheint ihm nun „königlich" (377). Worin liegt dieser Wechsel der Aspekte begründet? Von der Größe seines Gesichts überwältigt, spricht Teiresias nur in Andeutungen vom Schicksal des ödipus und der Jokaste. Aber so viel ist doch klar, daß sich die Geburt des göttlichen Menschen in einem Ubermaß des Leidens vollzieht. Nur aus dem tiefsten Abgrund menschlicher Qual bricht der Glanz des
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Göttlichen hervor (377). Während die triebhafte Gier zu Zeugung und Mord führt und sich in dem ewig gebärenden und verschlingenden Leben erschöpft, kommt dem Leiden eine höhere Fruchtbarkeit zu. Nur der aus Leid am Leben Geborene und selber am Leben Leidende kann die Gier, und damit die Zerrissenheit, des Lebens überwinden. Aber diese Überwindung darf nicht zu Verneinimg oder Askese führen. Die Erfahrung des problematischen Daseins, die in den Willen zum Nichts zu münden droht, muß vielmehr in eine höhere Bejahung umschlagen, die das Grauen in Glanz verwandelt und sich damit über die Gegensätze erhebt. Dieser Umschlag aus der Verneinung des natürlichen Lebens in die Bejahung des höheren Lebens ist der wesentliche Vorgang in Ödipus und die Sphinx. Wenn sich der Seher Teiresias vor Jokaste niederwirft, in der nach seinen Worten „ein großes Leiden auf zum Himmel" schreit (372), wen er sie „Mutter" nennt, so verehrt er in ihr nicht die elementare Fruchtbarkeit, sondern die Gebärerin des göttlichen Menschen, die durch dessen verwandelnde Kraft selber vergöttlicht wird. Von besonderem Interesse ist seine Antwort auf ihre Frage: „Weihst du mich?" (377). Die Aussage des im schicksallosen Raum des ruhenden Seins wohnenden Sehers — „Nein, Mutter, / du bist es, die mich weiht" — deutet darauf hin, daß der Verwirklichimg des Göttlichen in der Zeit, die durch Leid, Schuld, Opfer und Liebe führt, ein höherer Rang zukommt als der zeitlosen Schau. Damit ist wieder das Grundthema Hofmannsthals, die geistige und sittliche Durchdringung des Lebens, berührt. Angesichts der Verbundenheit von Seher und Orakel dürfen wir erwarten, daß in dem so barbarisch anmutenden Schicksalsspruch ein geheimer Auftrag für ödipus verborgen ist. Dann käme die Erfüllung des Schicksals einer religiösen Sendung gleich, die der Held freilich kaum ahnt, während der Dichter selbst die Last des Daseins auf sich nahm
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in dem Wissen, „er trage sie, von Göttern verhängt, um der Götter willen." 47 Antiope: Priesterin der Fruchtbarkeit
„Wehe denen, die unfruchtbar sind!" (345). — Dieser Ausruf kennzeichnet den Ort, den Antiope im äußeren Konfigurationsfeld einnimmt. Wenn Kreon dem Nichts zugeordnet ist und Teiresias dem Sein, so erscheint in ihr die Priesterin des unbändigen Triebes. Aus unerschöpflicher Fülle erzeugt er den nie versiegenden Strom geformten Lebens. Sie, die Stamm-Mutter, ist ganz in das Werden hineingebannt, das sich im Wechsel von Geburt und Tod, von Lust and Qual erhält und die kraftfunkelnden Gestalten der titanischen Könige aus sich entläßt. Gegenüber Jokaste, der vom Leid Versehrten, die die Fragwürdigkeit der alles verzehrenden Lebensgier einsieht und den Tod als Erlösung ersehnt, ist sie von einer archaischen Ungebrochenheit. Der Tod bedeutet ihr weder Lockung noch Drohung. Sie bejaht das Sterben um des Gebärens willen. Als Mutter toter Söhne steht sie „halb im Leben, halb im Tod" (350) und hat damit die Polarität des Werdens in sich aufgenommen. Genährt von uralten Göttern, verkörpert sie eine vor-sittliche Lebensbejahung, die keine Schuld kennt, es sei denn die der Unfruchtbarkeit. Mit ihr, der Ahnin, ragt die titanische Urwelt der Ahnen, denen ödipus in seinem Traum begegnet, in die Gegenwart des Spiels. Sie sind ausgezeichnet nicht nur durch die übermenschlichen Dimensionen ihrer Gestalten, durch die Dämonie ihrer Leidenschaften, sondern vor allem durch ihre Haltung dem Schicksal gegenüber. Selber vom Blute der Götter, kennen sie weder Unterwerfung noch Opfer. Ihr titanisches Königtum erweist sich im Ringen mit dem Geschick. So ringt Antiope mit den Göttern „wie eine Riesenfackel mit dem Sturm" (351). So ringt Laios mit dem Schicksal „Brust gegen Brust" (357).
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Es ist bezeichnend, daß Antiope den Mordbefehl des unväterlichen Vaters rechtfertigt. Die Alternative der Jokaste, das Selbstopfer der Eltern zugunsten des Kindes, existiert für sie nicht. Denn die Opfergesinnung steht in schärfstem Gegensatz zum selbstbesessenen Lebenstrieb. In diesem Zusammenhang ist der Abstand bedeutsam, der sich im zweiten Akt, in der Szene vor dem Palast zu Theben, zwischen Antiope auf der einen Seite und Teiresias und Kreon auf der anderen auftut. Sie, die Bacchus um Hilfe anruft, ist eine Dionysierin auf der Ebene des Elementaren; denn sie kennt nur die polare Einheit von Leben und Tod, die sich in der Dynamik des Werdens verwirklicht. Dagegen hat sie weder zu der in sich ruhenden Einheit des Seins noch zu der Leere des Nichts ein Verhältnis. So treten sich in dem „goldnen Blut" (366) der Antiope und dem „heiligen Blut" des Teiresias Werden und Sein als polare Aspekte des Göttlichen gegenüber. *
Nun, nachdem die äußeren Grundpositionen umrissen sind, zeichnet sich die Sendung der im inneren Bezirk stehenden Hauptgestalten deutlicher ab. Ihnen ist aufgegeben, die große Einheit der von den äußeren Figuren repräsentierten Aspekte in sich darzustellen. Laios: Zerbrecher des Lebensringes Mit Lalos tritt uns eine Figur des Übergangs entgegen. In der Generationskette des Königshauses steht er zwischen den Ahnen und dem Sohn, das heißt zwischen zwei verschiedenen Arten der Lebenshaltung. Auf den ersten Blick scheint er der echte Sproß der Titanin Antiope zu sein. Für Jokaste ist es bedeutsam, daß beide die gleichen Hände haben. Geschaffen zum Greifen und Umklammern, werden diese Hände zum symbolischen Leitmotiv für den titanischen Willen zu Macht
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und Besitz (351 ff.). Bezeichnenderweise kehrt in Jokastes Wendung „Mit fürchterlichen Händen greift / ihr in die Welt" (357) die Frage wieder, die ödipus am Kreuzweg in Phokis an Laios richtet: „Mit was für Mörderhänden greifst du in die Welt hinein?" (313). Aber wenn Laios auch die Selbstbesessenheit der Ahnen teilt, so verfügt er doch nicht mehr über ihre unbändige Lebenskraft. Gewiß, auch er ringt mit dem Schicksal, aber er unterliegt in diesem Ringen, und nicht nur äußerlich. Jokaste „sah ihn bleicher werden / und finstrer, sah ihn leiden" (358). Dieses Leiden ist nicht identisch mit der titanischen Qual der ungebrochenen Ahnen. Laios leidet an seiner eigenen Tat gegen das Kind, d.h. an sich selbst. In ihm wird das titanische Leben problematisch. Aber er kommt nicht darüber hinaus, weil sein Leiden keine verwandelnde Kraft besitzt. Unfähig, sich über sich selbst zu erheben, ist er in höherem Sinne „von den Unfruchtbaren" (313). Es ist bedeutsam, daß er dies kurz vor seinem Tode von dem unerkannten Sohn hören muß, der ihn also hinter dem Schein der Fremdheit „erkennt." Vater und Sohn vertreten hier nicht nur zwei verschiedene Generationen. In ihnen stehen sich der alte und der neue Mensch gegenüber, Verkörperungen titanischer Gewaltsamkeit und der Bereitschaft zum Opfer. Die Gestalt des Laios ist für die Handlung des Spiels von hoher Bedeutung. Seine Tat, der Mordbefehl gegen das Kind, schürzt den Knoten der tragischen Verstrickung. Selbstsüchtig und ungläubig, handelt er gegen den Willen der göttlichen Vorsehung, die von ihm gläubige Selbstüberwindung fordert. Schon hier also zeigt sich, daß der Schicksalsspruch des Laios, der dem des ödipus entspricht, nicht mit dem Gesetz des titanischen Lebens identisch ist. Dieses Gesetz treibt die Väter gegen die Söhne und die Söhne gegen die Väter. Das Orakel dagegen enthält eine sittliche Forderung, denn es stellt Laios
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vor die Entscheidung für oder gegen die titanische Lebenshaltung. Diese Entscheidungssituation wird besonders deutlich in dem Bericht Kreons (323), der mit dem Jokastes (356) nicht ganz übereinstimmt. Nach Kreon erhält Laios die Schicksalsbotschaft der Priester bereits am Abend vor der Hochzeitsnacht, und der Text der Botschaft endet bezeichnenderweise mit den Worten: „Nun wähle!" Neben der Möglichkeit völliger Askese bietet sich Laios also die Wahl zwischen dem Selbstopfer zugunsten des Kindes, zu dem Jokaste rät, und der Selbstbewahrung auf Kosten des Kindes. Daß er sich gegen das Kind entscheidet, ist die Quelle alles Übels. Denn damit wird nicht nur die Generationskette unterbrochen, sondern zugleich die Urdreiheit Vater — Mutter — Kind, die sich im Kinde als Einheit erweist, gesprengt. Als Vergehen gegen diese Einheit, die mystischen Symbolwert besitzt, hat die Tat des Laios, so wie die der Klytämnestra in Elektro, kosmisch-mythische Bedeutung. Die Harmonie des Daseins ist dort durch die Schuld der Mutter, hier durch die Schuld des Vaters gestört. Damit fallt dort der Tochter, hier dem Sohne der Auftrag zu, sie auf höherer Ebene wieder herzustellen. In dem Verhältnis Laios — ödipus erscheint eine Abwandlung der Grundkonfiguration Vater — Sohn, die, wie bereits dargelegt, im Werke Hofmannsthals leitmotivischen Charakter besitzt und auf allen Entwicklungsstufen auftritt. Laios, der unväterliche Vater, begreift nicht, daß das Wesen der Herrschaft im Dienst und das Wesen der Macht in Liebe besteht. Der Titanensohn kann sich nicht opfern. Seine Sünde gegen die Harmonie des Daseins wird durch die Sphinx bestraft. Sie, die die Polarität der natürlichen Mannigfaltigkeit (Tier und Mensch, Männlichkeit und Weiblichkeit) in ihrer Ungestalt vereint, ist der Bote des Schicksals, d.h. aber zugleich der Anwalt der Lebenseinheit, die von Laios bedroht wurde. Ihr Auftrag enthüllt daher auch den wahren Sinn des Schicksalsspruches. Aus
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dem Verbrechen des Vaters gegen das Kind geboren, mordet sie Kinder und hält die Drohung des Todes über die Stadt, bis sich die schuldig-unschuldigen Opfer des Vaters (Mutter und Sohn) zusammenfinden und durch ihre gegenseitige Hingabe das zerrissene Gewebe der Lebenseinheit heilen. Jokaste: Verneinung des Triebes Wir nähern uns nun dem Zentrum der Konfiguration, welches durch das Verhältnis Jokaste — ödipus gebildet wird. Wenn sich die Gestalten von Mutter und Sohn gegenüberstehen, so handelt es sich, ebenso wie bei der Beziehung ödipus — Kreon, um Allegorie im Sinne des oben angeführten Dichterwortes. Begreiflicherweise wird jedoch die Trennung der männlichen Figuren, trotz ihrer gegenseitigen Annäherung im Gange der Handlung, nie aufgehoben. Die Konfiguration Jokaste — ödipus dagegen ist auf Vereinigung durch gegenseitige Hingabe angelegt, sodaß sich das Ganze des Daseins in ihrer sinnlichübersinnlichen Gemeinschaft darstellen kann. Damit ist der Ort Jokastes in dem Geflecht der Beziehungen grundsätzlich festgelegt. Obwohl sie als Mutter zu Antiope gehört und mit ihr zusammen Kreon, dem Unfruchtbaren, gegenübertritt, unterscheidet sie sich doch wieder von der Titanin, weil sie aus der Ungebrochenheit des titanischen Lebens herausgefallen ist. Aus dem gleichen Grunde ist sie mit Laios verbunden und doch zugleich von ihm getrennt. Sie gehört in die Reihe der Frauengestalten in Hofmannsthals Werk, die zu scheitern drohen, weil ihr Wille zu selbstloser Hingabe an der Selbstbesessenheit des Mannes abprallt. So ist Jokaste, ebenso wie Ariadne, gekennzeichnet durch „die Gebärde derer, die fliehen wollen vor der Welt" {Prosa, III, 139). Dies war auch die Gebärde der Sobeide. Für Jokaste und Ariadne aber führt die Abkehr vom natürlichen Leben nicht in den Tod, sondern durch das Wunder der Liebe zum höheren Leben.
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Dieser Vorgang der höheren Selbstverwirklichung setzt allerdings die Erfahrung der Todesnähe voraus. Erst im Willen zum Tode wird die bloße Natur, die Verfallenheit an den Lebensstrom, innerlich überwunden. Nach dem leidvollen Verlust des Kindes zieht sich Jokaste „so aus dem Leben, wie man seinen Leib / aus einem Bade zieht," und ist „ganz abgelöst" (358). Als lebende Tote hofft sie, von den Paradoxien ihres Schattendaseins erlöst zu werden durch ihr Lebensende, das ihr Ruhe und Reinheit verheißt (352). Was sie ersehnt, ist also nicht der dionysische Tod, der gleichbedeutend ist mit dem Rausch der Lebenseinheit, sondern das Nicht-Leben, das ewige Nichts. Daher sieht sie, im Gegensatz zu Antiope und in Analogie zu Kreon, das Dasein in der Perspektive der radikalen Negativität. Ihr schaudert bei dem Gedanken an Mutterschaft, denn „das rasende Begehren" des Lebenstriebes führt zu maßloser Schuld und Qual (352). So nimmt sie jene Haltung der Lebensverneinung an, der auch ödipus nach seiner Begegnung mit der Sphinx verfällt. Wie der Sohn, so wird auch die Mutter dem Medusenantlitz des Lebens gegenübergestellt. Aus der Verzweiflung der Seele gibt es nur zwei Auswege: Selbstmord oder Opfer. Wie ödipus wählt Jokaste das Opfer. Da ihr der unväterliche Vater die gemeinsame Hingabe für das neugeborene Kind verwehrt hat, will sie, die Mutter, sich für die Mütter opfern, deren Kinder von der Sphinx verschlungen werden. Hier ist der Punkt erreicht, an dem die Lebensverneinung ins Positive umschlägt. Der Wille zum Tode wird für die Gemeinschaft fruchtbar. In Jokastes Entschluß zur Hingabe wird das Sittliche Ereignis, das auf die Wiederherstellung des Sozialen, d.h. auf die Rettung der Welt vom Chaos, ausgerichtet ist. Wie wir sahen, findet sich das Motiv des Selbstopfers um der Harmonie des Ganzen willen auch in Elektro. In Ödipus und die Sphinx geht Hofmannsthal jedoch einen entscheidenden Schritt darüber hinaus. Sollte die geistig-sittliche Durchdringung des
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Lebens gelingen, so durfte die Heldin nicht sterben, sondern mußte den Weg zurück, aus dem Nichts ins Werden, finden. Der Ubergang aus dem Tod ins höhere Leben durch das Wunder der Liebe ist jedoch nicht einfach ein Umschlag von einem Extrem ins andere. Es besteht vielmehr ein seelischer Zusammenhang: Die Bereitschaft zu völliger Selbstaufgabe, die sich in der Sehnsucht nach dem Tode äußerte, findet lebendige Erfüllung im Verhältnis zum Geliebten. Weil Jokaste und Ariadne den Tod erwarteten, können sie sich ihrem lebensvollen Erlöser hingeben, „wie Lebendes, sonst in sich gebunden, nur dem Tod sich so völlig aufgelöst dahingibt" {Prosa, III, 142). Die Hingabe des ganzen Wesens, entgegen dem Trieb der Selbstbewahrung, ist die Voraussetzung für jene verwandelnde Liebe, in der die bloße Natur zugunsten der göttlichen Einheit des Sinnlich-Ubersinnlichen überwunden wird. In ödipus und die Sphinx ist die Verwandlung Jokastes, die sich in der Begegnung mit ödipus vollzieht, bereits vör seiner Ankunft, in der Szene Jokaste — Antiope, durch das Motiv des „toten" Kindes vorbereitet. Jokaste deutet die Sphinx als den Boten ihres Kindes aus der Unterwelt. Sie glaubt, das Kind habe den Vater in sein Schicksal getrieben und warte nun auch noch auf den Tod der Mutter (359). In ihrer Sehnsucht nach dem Tode ist also die Sehnsucht nach dem Sohne versteckt, die sich, ohne daß Jokaste es weiß, auf den Lebenden und Nahenden richtet. Daraus ergibt sich die tiefsinnige Ironie dieses Auftritts. Sie beruht auf einem doppelten Mißverständnis: Jokaste erwartet den Tod, Antiope ahnt in dem Kommenden den Bringer des Lebens — während er doch in Wirklichkeit der Bote des Dionysischen im höchsten Sinne ist, d.h. der Leben und Tod durchdringenden Liebe. Ödipus: Konflikt zwischen Leben und Geist Wie schon erwähnt, ist ödipus nicht als Individuum, sondern
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als mythischer Repräsentant jenes hohen Menschentums zu sehen, das für Hofmannsthal in der Gestalt des Dichters seine Erfüllung findet. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich aus einer älteren Fassung der Szene am Kreuzweg im Lande Phokis.48 Aus einem langen Monolog des ödipus geht hervor, daß er, auch nachdem er das Orakel vernommen hat, noch ganz durchdrungen ist von der Reinheit und Freiheit seines Wesens. Er fühlt sich sicher in der scheinbaren Autonomie und dem magischen Weltbesitz des dichterischen Geistes, der noch im Zustand der „Präexistenz" verharrt: . . . der Königsmantel meines freien Willens umfließt mir meine Schulter, und mir ist als hätte ich die ganze Welt um mich geschlagen und empfinge in mein Blut davon die Wärme. (536) In diesem älteren Monolog empfindet ödipus das Schicksal noch als eine äußere Macht, der er seinen eigenen freien Willen entgegenstellt. In der endgültigen Fassung der Tragödie dagegen begreift er sofort, daß das Schicksal aus den Tiefen seiner eigenen Natur empordrängt, ödipus tritt uns hier als der Gespaltene entgegen, der den Gegensatz zwischen Geist und Blut, Ich und Es in sich selber trägt. Das Grundproblem Hofmannsthals, die Versöhnung der Widersprüche, ist damit zu einer Existenzfrage des Helden geworden. Eine Lösung aber scheint zunächst unmöglich zu sein, denn ödipus hat den Glauben an die Freiheit des Geistes aufgegeben. Er weiß, daß das Bewußtsein angesichts der Schicksalsgewalt des Unbewußten keinen Widerstand leisten kann: „. . . es waltet durch uns hindurch wie durch leeren Raum" (301). Das Unbewußte aber, das der „Lebenstraum" dem jäh aus der Unschuld der „Präexistenz" Gerissenen enthüllt, scheint beherrscht von dem Gesetz des titanischen Lebens, dem Trieb nach Macht und Lust, der in der
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Ermordung des Vaters und dem Besitz der Mutter die höchste Erfüllung findet. Die barbarische Raserei der Ahnen ist im Blut des ödipus gegenwärtig: „. . . was längst geschah, kann wieder geschehn" (300). In einem Schreckbild des entfesselten Lebens sieht er, „wie sie sich würgen, / der Vater den Sohn, der Bruder den Bruder" (299). Das Grausen des Helden verrät die Urangst des Dichters vor der zerstörenden Gewalt des Chaos. Sie erscheint nun noch bedrohlicher, da sie sich als Schicksalsmacht enthüllt, die „im tiefsten Grund / des Wesens schläft" (288 f.). So verbindet sich in ödipus der Schrecken vor dem Weltuntergang in der Anarchie des triebhaften Blutes mit dem Schauder vor dem Selbstverlust, den auch andere Helden Hofmannsthals angesichts der ungebändigten Wirklichkeit des Lebens empfinden. Die Dialektik des Schicksals Unter dem oben dargelegten Gesichtspunkt erscheint das Schicksal als der „Wille" (in Schopenhauers Sinn), dem der Geist unterworfen ist. Im Zusammenhang mit der Gestalt des Teiresias wurde jedoch schon darauf hingewiesen, daß „Blut" in Hofmannsthals Stück kein eindeutiger Begriff ist, sondern sich unter titanischen und mystischen Aspekten darbietet. Das Gleiche gilt für das Unbewußte. Es birgt nicht nur die Gewalt des Triebes, sondern auch die Macht der Seele. Der Seele aber ist jener innere Blick eigen, der den Seher Teiresias auszeichnet. Ihre Sehnsucht ist nicht auf das Chaos des entfesselten Lebens, sondern auf die göttliche Harmonie des Ganzen gerichtet. Wenn also der Dichter das Schicksal mit dem Unbewußten gleichsetzt, dann kann der Sinn des Schicksals nicht der Triumph des nackten Triebes sein. Hinter dem titanischen Aspekt des Orakels zeichnen sich vielmehr Hinweise auf eine höhere Bedeutung ab, die den Motiven des Vatermordes und der Mutterliebe mystischen Symbolwert verleiht. Dieser Zusammenhang ist w.-i
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allerdings dem Helden nicht bewußt und wird zunächst nur in Andeutungen sichtbar. Hierher gehört die Gestalt des Schicksalsboten, der Sphinx. In ihr sind Kontraste des Daseins — Tierisches und Menschliches, Männliches und Weibliches — eine entsetzenerregende Verbindung eingegangen. Die dionysische Auffassung des Göttlichen als des die Widersprüche in sich zusammenfassenden Einen wird durch die Erscheinung der Priesterin bestätigt, die das Orakel im Tempel zu Delphi verkündet. In ihr stellt sich das Übernatürliche als Vereinigung der natürlichen erotischen Polarität des Lebens dar. ödipus sagt von ihr: „Weib und Mann kann sich / in eins verschränken: aus dem Weibe glühte / der Gott . . (293). Besonderes Interesse verdient die Art, in der das Herannahen der Priesterin beschrieben wird: . . . so wie die Mutter kam es, wenn sie ans Bett des Kindes tritt, so wie die Braut zum Bräutigam . . . (293) Die Verschränkung von Mutter und Braut nimmt das Inzestmotiv des Orakels vorweg, das aber hier nicht psychoanalytisch als Ausdruck ungehemmter Trieberfüllung, sondern als Sinnbild dionysischer Mystik gesehen werden muß. Die paradoxe Idee des Göttlichen als des All-Einen, in dem die Gegensätze des natürlichen Lebens überwunden sind, schlägt die Verbindung zwischen Teiresias' Vision des „heiligen Blutes" und den Gestalten der Sphinx und der Priesterin. Hier zeigt sich, daß die Hauptmotive eine mehrschichtige Bedeutung besitzen. Sie umfaßt das Titanische und das Mystische. Der geheime Auftrag des Helden besteht darin, die Verbindung herzustellen, indem er das Niedere mit dem Höheren vereint. Unfähig, dem Gesetz der Lebensschuld zu entrinnen, erfüllt er dieses Gesetz. Aber indem er es erfüllt, verwandelt er es zugleich. Wenn er den Vater erschlägt, so tut er es nicht um „des Erschlagens Lust"
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willen; und wenn er sich mit der Mutter vereint, so bedeutet ihm dies weit mehr als „des Umarmens Lust," so wie es eigentlich dem Wortlaut des Orakels entspräche. Am deutlichsten wird dieser Vorgang der Sublimierung im Zusammenhang mit der Gestalt der Mutter. Sie, die nach dem Urgesetz des triebhaften Lebens das Ziel der ungezügelten Lustund Machtgier des Sohnes sein müßte, enthüllt sich als das Idealbild königlichen Frauentums, dem die ganze Ehrfurcht seiner Seele gehört (298). Weil sich die sinnlich-übersinnliche Ganzheit des Weiblichen in ihr darstellt, weil sie ihm Geliebte ist und zugleich Heilige, kann sie auch die ganze Kraft der Hingabe in ihm entbinden, die auf grenzenlose Vereinigung von Ich und Du gerichtet ist. In dieser Vereinigung des Getrennten wird das dionysische Mysterium auf höherer Ebene verwirklicht. Darin liegt für Hofmannsthal die wahre Bedeutung des Inzestmotivs. Die Idee der alle Aspekte des Weiblichen in sich vereinigenden Geliebten findet sich auch in anderen Werken des Dichters, z.B. in Notizen zum Romanfragment Andreas oder die Vereinigten, mit dessen Vorstufen sich Hofmannsthal bereits im Jahre 1907 beschäftigt hat. In einer Aufzeichnung bezeichnet der Dichter den Höhepunkt der Beziehung des jungen Andreas zu dem Zwitterwesen Maria-Mariquita, das sich in ein geistiges und ein sinnliches Ich gespalten hat, durch den folgenden Satz: „Die sich in jener Nacht Andres gibt, Geliebte, Schwester, Mutter, Heilige — ist die Ganze, weder Maria noch Mariquita, mehr als beide . . ,"69 Die Aufgabe der Selbstintegration ist also den Hauptgestalten des Romans ebenso wie denen der Tragödie gestellt. Erst wenn der Liebende die Spaltung zwischen Trieb und Geist in sich selbst überwunden hat, kann er sich der sinnlich-übersinnlichen Geliebten ganz hingeben und damit die höchste Form der menschlichen Gemeinschaft verwirklichen. Die Fähigkeit zu diesem Akt der Selbstaufgabe verbindet
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ödipus mit der Gestalt des Bacchus in Ariadne. Auch er ist Maske des höheren Lebens und steht damit über den gemeinen Lebensmasken, die bloße Natur sind. Auch er vermag zu widerstehen, wo „die gemeine Natur widerstandslos hinsinkt" (Prosa, III, 141), und bewahrt sich vor den Versuchungen der abenteuerlichen Erotik, weil sie dem Tiefsten in seinem Verlangen nicht genügen (297). Die Begegnimg ödipus — Jokaste ist also Schicksal in doppeltem Sinne. Dem Gesetz des Lebens gehorchend, treten sie sich doch nicht als die Sklaven des Lebens gegenüber, sondern als die durch die Kraft der Hingabe Ausgezeichneten, in deren Seele sich der Trieb in Liebe verwandelt. Damit gewinnt ihre Vereinigung eine höhere Notwendigkeit, die nicht dem titanischen, sondern dem dionysischen Aspekt des Orakels entspricht. Wir haben versucht, die Entsprechung zwischen dem Wesen des Schicksals und dem Wesen des Helden deutlich zu machen. Im Orakel wird die Stimme des Unbewußten laut, die das sittliche Bewußtsein mit Grausen vernimmt, da es sich der Barbarei des Triebes verfallen glaubt. Es zeigt sich jedoch, daß auch der elementare Trieb nur beschränkte Gewalt besitzt, weil er der verwandelnden Kraft der Seele unterworfen ist. Der Orakelspruch bezieht sich also auf ödipus als den ganzen Menschen, dessen Wesen auf die Dreieinigkeit von Geist, Seele und Trieb gegründet ist. Der unausgesprochene Sinn des Schicksals fordert die volle Selbstverwirklichung des Helden. Sie besteht in der Verschmelzung der drei Grundmächte zu einer lebendigen Einheit und erfährt in der Ich-Du-Gemeinschaft ihre Vollendung. Aber, so muß hinzugefügt werden, der dionysische Auftrag, der auf die Integration des hohen Menschen und der Welt hinausläuft, ist selbst wieder tragischer Natur, da er unlösbar verbunden ist mit der Lebensschuld. Diese Schuld — ein notwendiges Element in der den ganzen Menschen umfassenden Lebenseinheit — erscheint als Greuel,
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sobald der Held das dionysische Mysterium erfüllt hat und unter das apollinische Gebot der Selbsterkenntnis tritt. Mit dem Erwachen des ödipus aus dem Lebenstraum zerbricht die göttliche All-Einheit der Immanenz unter der Wucht der radikalen Forderung nach Wahrheit. Sie geht von den Göttern der Transzendenz aus und wird von dem sittlichen Bewußtsein des Helden bejaht. Obwohl dieser dialektische Umschlag aus der dionysischen Immanenz in die apollinische Transzendenz, dem die Verwandlung des Helden aus dem Halbgott in den Sünder entspricht, nicht mehr in ödipus und die Sphinx stattfindet, ist das Spiel doch darauf angelegt. Über der titanischen und dionysischen Bedeutungsebene des Schicksals schwebt die Ahnimg einer Vorsehung, die den vergöttlichten Menschen aus der Harmonie des verklärten Daseins reißt, in die Erkenntnis seiner Nichtigkeit schleudert — um ihn schließlich als Urbild des Dulders wieder zu erheben. Die Tragik von Hofmannsthals ödipus besteht also darin, daß er die Dialektik des Schicksals erleidet und in den Widerspruch zwischen dem dionysischen und dem apollinischen Aspekt des Göttlichen gerät. Aber, so dürfen wir schließen, in Hofmannsthals Trilogie hätte sich diese Tragik als beschränkt und dieser Widerspruch als fruchtbar erwiesen. Denn auf Grund einer prästabiherten Harmonie entspricht die Dialektik des Schicksals den Phasen der menschlichen Selbstverwirklichung. Sie führt den Helden in die schuldhaften Bindungen des Daseins hinein und hebt ihn auch darüber hinaus, damit er teilhabe an der selbstbefangenen Seligkeit des Lebens und an dem durchdringenden Licht der Erkenntnis, um schließlich als der maßlos Leidende durch göttliche Gnade zu den Göttern entrückt zu werden. Die Freiheit des Selbstopfers Im Gegensatz zu Elektra, die sich mit dem Schicksal identifiziert und im Zeichen des Seins steht, wird ödipus ins Werden
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geworfen, um durch Opfer und Verwandlung zu sich selbst zu finden. Seine Entwicklung vollzieht sich in zwei Phasen; sie sind durch die Begegnung mit der Sphinx voneinander getrennt. Auf beiden Stufen tritt der Held dem Schicksal gegenüber, einmal im geträumten und einmal im erlebten Lebenstraum. In der ersten Entwicklungsphase ist seine Haltung bedingt durch den Fluchtversuch vor dem Schicksal, den er unternimmt, um die Freiheit und Würde seines präexistenten Selbst zu bewahren, der ihn aber ironischerweise gerade seinem Schicksal entgegenführt. Der Anspruch auf Freiheit und Unschuld entspringt der Hybris des hohen Geistes; er ist der frommen Bejahung der Lebensschuld nicht fähig. Jedoch findet sich in der fragwürdigen Haltung des ödipus dem Schicksal gegenüber ein starkes sittliches Element, das für die Erfüllung seines Auftrags unerläßlich ist: seine Bereitschaft zum Opfer. Sie unterscheidet ihn von der starren Selbstbesessenheit seiner titanischen Ahnen und setzt ihn zu Jokaste in Beziehung. Es ist bezeichnend, daß das Opfermotiv, auf dessen grundlegende Bedeutung bereits öfters hingewiesen wurde, schon in dem Traumgesicht des ödipus zu Delphi auftaucht. Die Wendung „. . . ich war der Priester, der das Messer schwingt, / und ich zugleich war auch das Opfertier" (291) nimmt die Idee der magischen Identität zwischen dem Opferaden und dem Geopferten auf, deren Sinn in der Vereinigung des Getrennten liegt. Sie ist ein entscheidendes Leitmotiv des Spiels, das an verschiedenen Punkten in bedeutsamen Abwandlungen wiederkehrt und seine höchste Steigerung in der Schlußhymne der Jokaste erfahrt. Die Haltung der Selbstaufgabe verbindet nach Hofmannsthals Auffassung Opfer, Tat und Liebe. Mit ihr erscheint das Gegenprinzip zu der titanischen Lust- und Machtgier. Die Hingabe des eigenen Selbst öffnet die Dimension einer Freiheit, die in der sittlichen Durchdringung der elementaren Notwendigkeit besteht. Zwar ist von der Opferbereitschaft des
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ödipus in dem Orakelspruch nicht die Rede, aber gerade sie stellt die Voraussetzung für die Erfüllung der höheren Notwendigkeit dar. Nur weil ödipus kein Titan, sondern der hohe Mensch ist, kann er der Partner des göttlichen Schicksals, der „Auserwählte, zum Opfer bestimmte," sein. Diese Wendung Hofmannsthals in „Ad me ipsum" (215) deutet die unauflösliche Dialektik von Bestimmung und Entscheidung an. Um sie noch deutlicher sichtbar zu machen, könnte man sagen: ödipus ist der zur Freiheit des Selbstopfers Bestimmte. Die Bereitschaft zum Opfer findet sich auf allen Entwicklungsstufen des Helden. Schon seine Entscheidung, nicht nach Korinth zurückzukehren, schließt das Opfer seines Königserbes mit ein, das den Weltbesitz des präexistenten Dichtergeistes symbolisiert (302 f.). Bei der Begegnung mit Laios will er den Zorn des titanischen Vaters durch das Opfer seiner eigenen persönlichen Würde und durch die Bereitschaft zur Dienstbarkeit versöhnen: „Ich will mich erniedern bei Tag und Nacht — ich schlafe vor deinem Bett auf der Erde — / ich betreue dir die Pferde . . ." (312). Mit diesen Worten straft ödipus die Stimmen der Ahnen Lügen. Obwohl er die titanische Tat des Vatermordes verüben muß, tut er es doch nicht in titanischem Geiste. Das Ethos des Dienens und der Selbsterniedrigung stammt nicht aus dem Ahnenblut und verleiht seinem künftigen Königtum sittliche Würde. Das wird noch deutlicher bei seinem Auftreten in Theben. Schon vor seiner Begegnung mit Jokaste ist er bereit, sein Leben hinzugeben, um die Stadt aus ihrer Todesnot zu retten. Mutter und Sohn sind im Willen zum Selbstopfer verbunden, der hohe soziale Bedeutung besitzt. Denn hier wird die Idee eines Königtums sichtbar, das sowohl über dem titanischen Machtbesitz als auch über der egozentrischen Weltverbundenheit der „Präexistenz" steht. Der wahre König, ebenso wie der wahre Dichter, tritt durch seine Opferbereitschaft zwischen die Sphinx und das
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Volk. Sein Auftrag ist es, die Welt von der Angt vor dem Schicksal als dem Unheimlichen, Unbegreiflichen, Unmenschlichen zu erlösen. Es ist daher kein Zufall, daß die Worte des Volkes im zweiten Akt — „Ich will nicht / nackt sein und bloß und ohne einen Schutz . . ." (367) — der Formulierung entsprechen, mit der Hofmannsthal in dem Vortrag „Der Dichter und diese Zeit" die Sehnsucht der Lesenden beschreibt: „. . . sie wollen nicht schaudernd dastehen in ihrer Blöße unter den Sternen." Der Dichter-König erfüllt die Sehnsucht der Menschen nach Geborgenheit, indem er „um ihre Blöße die Falten seines Gewandes schlägt" {Prosa, II, 279). Damit ist das egozentrische Weltverhältnis des Dichters aufgegeben. Es entspricht grundsätzlich der Stufe der „Präexistenz" und bestimmt noch den Schluß des oben angeführten Monologs, der aus einer älteren Fassung des ersten Aktes stammt. Gewiß, auch auf der neugewonnenen Stufe heißt Dichten für Hofmannsthal, in Anlehnung an Hebbel, die Welt wie einen Mantel um sich schlagen und sich wärmen. Aber diese Gebärde besitzt nun eine soziale und religiöse Bedeutung; der Dichter steht im Dienste der Gemeinschaft. Eben dieser dichterische Auftrag ist es, der ödipus zu der Höhle der Sphinx führt. Freilich ist er für diese Begegnung nicht vorbereitet. Er lebt in der Hoffnung, durch das frei gewählte Opfer dem ihm bestimmten Schicksal entronnen zu sein. Er glaubt, einen Weg ins Leben gefunden zu haben, ohne den Preis der Lebensschuld bezahlen zu müssen. Die Spannung zwischen Ich und Es ist noch nicht gelöst, die Aufgabe der Selbstintegration nicht vollbracht. Immer noch auf der Flucht vor sich, verleugnet er seine Identität: „Eine Straße kam ich / vom Berg herab und habe keinen Namen" (383). Seine Schuld besteht darin, daß er den magischen Weltbesitz der „Präexistenz" auch in der Existenz bewahren will. Die letzten Verse des zweiten Aktes sind getragen von dem hohen Selbstbewußtsein des autonomen Dichter-
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tums, das Hofmannsthals Jugendwerk erfüllt. Mit der souveränen Gebärde des Zauberers und des Kaisers aus den frühen Gedichten tritt ödipus seinen Gang zu der Höhle der Sphinx an: „. . . dort lauerts, unter meiner Hand zu sterben! / Denn meine Hand ist schwer wie eine Welt . . ." (391). Was der Held im dritten Akt von den gräßlichen Lippen des Dämons erfahrt, spiegelt die Krise des dichterischen Selbstbewußtseins wider, mit der das Jugendwerk Hofmannsthals abbricht. Nirgends hat der Dichter diese Krise so erschütternd dargestellt wie in dieser Szene. Die Vorgänge des dritten Aktes bedürfen einer besonders sorgfaltigen Interpretation, weil sie zu einem eigentümlichen Schwebezustand der Hauptgestalten zwischen Wissen und Nicht-Wissen, Erinnern und Vergessen, Freiheit und Verfallenheit führen, der sich dem Versuch einer eindeutigen Festlegung entzieht. In einer Welt, zu deren Grundvoraussetzungen der Gegensatz zwischen Wissen und Leben gehört, ist den Lebenden die volle Wahrheit unzugänglich. Nur als Sehend-Blinde können sie ihr Schicksal erfüllen. Eine bewußte Bejahung des enthüllten Schicksals ist unter diesen Umständen unmöglich. Dennoch bestimmt die Haltung des amorfati das Ende von ödipus und die Sphinx. Allerdings handelt es sich hier um die bewußte Bejahung des verhüllten Schicksals, dessen Ambivalenz als Erfüllung und Drohung jedoch zumindest geahnt wird. Ödipus und die Sphinx Die Sphinx ist ebenso hintergründig wie das Schicksal, als dessen Bote sie erscheint. Hofmannsthal hat ihrem legendären Umriß Tiefenperspektive verliehen und sie in neue Bedeutungszusammenhänge eingeordnet. Während der ödipus des Sophokles durch die Begegnung mit der Sphinx in seiner Hybris bestärkt wird, erfahrt der Held Hofmannsthals die unentrinnbare Macht der Notwendigkeit. Während dem antiken Helden
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das Vergessen des Orakels leicht gemacht wird, gehört es zu dem Schicksal des Hofmannsthalschen ödipus, daß ihm sein Schicksal, bewußt oder unbewußt, gegenwärtig bleibt. Soll er seinen Auftrag erfüllen, so darf er weder das „blinde Werkzeug" des Fatums (Naef) noch ein „trunkener Illusionist" (Jens) sein. Er muß vielmehr in das gräßliche Antlitz des Lebens blicken, ohne vor ihm aus der Welt zu fliehen. Das Entsetzen, das ödipus angesichts der Sphinx erfaßt, wirft ihn wieder in den „Grausen-Abgrund" zurück, der sich in Delphi vor ihm öffnete. So wie das Orakel scheint auch die Sphinx den Triumph des titanischen Lebens anzukündigen. Aber ebensowenig wie das Orakel läßt sie sich darauf festlegen. Denn zugleich ist sie ja die große Mörderin, die über der Stadt liegt „gleich einer Totenwolke" (367). Die Drohung des Todes, die von ihr ausgeht, steht jedoch wiederum im Dienste des höheren Lebens. Denn diese Drohung ist die Strafe des Schicksals für das Verbrechen des unväterlichen Vaters Lalos am Kinde ödipus und enthält außerdem den unausgesprochenen Auftrag der Welterlösung für den Sohn. Die Verschränkung von Leben und Tod erweist, daß die Sphinx auch in ihrem Wesen die dionysische Vereinigung des Gegensätzlichen verkörpert, die in ihrer Erscheinung zum Ausdruck kommt. Die Gemeinschaft zwischen ihr und ödipus reicht also viel tiefer, als es dem Helden bewußt ist. Ihm ist aufgegeben, die Einheit des GöttlichMenschlich-Tierischen, die in dem Dämon als das Ubernatürliche, Unheimliche erscheint, auf der Ebene des Menschlichen zu verwirklichen. Hinter dem gräßlichen Antlitz der Sphinx verbirgt sich also die Erlösungssehnsucht der zerrissenen Welt, an der auch das Göttliche teilnimmt. Es ist der Schicksalsauftrag des Auserwählten, die große Versöhnungstat zu vollbringen. Im Hinblick auf diese Tat hat die Sphinx auf ihn gewartet, und um ihretwillen stürzt sie sich in den Abgrund. In ihrem Schrei, dem „namen-
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losesten, / furchtbarsten Schrei, in dem sich ein Triumph / mit einem Todeskampf vermählt" (404), kehrt der Schrei der Bacchen wieder, den Hofmannsthal in den Aufzeichnungen zu Pentheus als „das Symbol des Ungeheuern, nicht mehr Bedingten, . . . des Übernatürlichen" beschreibt (Dramen, II, 525). In ihm findet das dionysische Paradox der Vereinigung von Leben und Tod, von Erfüllung und Vernichtung seinen ekstatischen Ausdruck. Der Triumph im Todesschrei der Sphinx darf also nicht als das Hohngelächter des Schicksalsdämons über den rettungslos verfallenen Helden gedeutet werden. Die Beziehungen zwischen ödipus und der Sphinx sind so eng geschlungen, daß die oft gestellte Preisfrage „Wer ist der Sieger?" überhaupt nicht anwendbar ist. Ihre Begegnung ist nicht auf Sieg und Niederlage angelegt; beide Partner stellen vielmehr das Paradox des besiegten Siegers dar. Darin drückt sich die unauflösbare gegenseitige Abhängigkeit von Mensch und Schicksal aus. Zwar kann sich der Mensch gegen die Macht der göttlichen Notwendigkeit nicht behaupten. Aber das Göttliche bedarf wiederum des Menschen, um sich in der Welt zu verwirklichen. So bedeutet auch für ödipus sein Erlebnis Vernichtung und Erfüllung zugleich. Der „Namenlose," der sich in der Hybris des autonomen Geistes zur heldisch-herrschaftlichen Tat berufen glaubt, wird durch die Worte der Sphinx zerschmettert; aber für ödipus, den zum Opfer Bestimmten, opfert sie sich selbst. Die Gegenseitigkeit des Opfermotivs erweist sich also auch auf der metaphysischen Ebene. Wie die hohe Liebe von Mensch zu Mensch, so ist auch das Liebesverhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen bestimmt durch gegenseitige Hingabe, ödipus, dem Menschen, der sich im Dienste der Götter opfern soll, tritt in der Sphinx der Götterbote gegenüber, der durch sein Selbstopfer die Opfertat des Helden hervorlockt. Die Erlösung der entgötterten Welt durch den hohen Menschen schließt die
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Erlösung der weltlosen Götter mit ein. Die menschliche Selbstverwirklichung ist gleichbedeutend mit der Vergöttlichung des Daseins.70 Im Abgrund der Verzweiflung Daß es keine echte Alternative zwischen Freiheit und Notwendigkeit gibt, daß die wahre menschliche Freiheit vielmehr in der Erfüllung der göttlichen Vorsehung besteht — diese klassische Weisheit betont Hofmannsthal besonders, indem er zu Beginn des dritten Aktes nicht nur ödipus, sondern auch Kreon der Sphinx entgegenführt. Als der „Handelnde" und der „Wissende" vertreten sie polare Aspekte des menschlichen Anspruchs auf Autonomie und sind doch durch ihre egozentrische Haltung verbunden. Beide möchten das Schicksal mit ihrem eigenen Wunschtraum identifizieren — darin liegt ihre Schuld. Sie tritt zutage in dem selbstbewußten Ausruf des ödipus: „Um meinetwillen / ist alles dies geschehn . . ." (391). Und die gleiche Selbstüberhebung kehrt wieder in dem Gebet Kreons: „Schicksal . . .: du hast nicht für den Knaben, / den Straßenwandrer, nein, du hast für mich / die Nacht da aufgebaut. . . " (396). Zugleich verstoßen ödipus und Kreon gegen die echte Opfergesinnung, indem sie von ihrer Opferbereitschaft eine magische Wirkung auf das Schicksal erwarten. Es entbehrt nicht der Ironie, daß Kreon die Hybris des „Täters" ödipus durchschaut, während ihm die Einsicht in die Hybris des „Wissens" verschlossen bleibt. Seine große Anrufung des Schicksals endet mit der Erkenntnis: „Dir [dem Schicksal] ist nichts für Taten feil, / die ganze Seele willst du . . ." (396). Gerade damit aber spricht er sich selbst das Urteil, denn auf dieser Entwicklungsstufe ist er zu einer echten Hingabe noch nicht fähig. Wenn er seine Seele der Sphinx opfern will, um damit die Herrschaft über Theben einzuhandeln, so ist dies die Perversion des wahren Opfers.
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ödipus aber, der mit der Siegesgewißheit des zur eigenen Tat Berufenen zu der Höhle emporgestiegen ist, sieht seinen Glauben an das Königtum des herrschaftlichen Geistes zertrümmert: . . . da lieg ich und wollte Taten tun und habe nichts getan als mich verraten an den Tod! (399) Die gleiche Erschütterung, die er bereits in Delphi erlebte, droht ihn zu überwältigen, denn nun ist die Zwecklosigkeit seines frei gewählten Opfers offenbar geworden. Mit dem Verlust der Freiheit aber hat die menschliche Existenz für ihn ihre Würde und ihren Sinn verloren. Die Götter erscheinen dem aus allen Hoffnungen gerissenen Helden nun als die „Gräßlichen," die auf „goldenem Gestühl da droben" sitzen und sich an den Qualen der von den Hunden des Schicksals gehetzten Sterblichen weiden. Was ist der Mensch? Ein hilfloses Opfer seiner überirdischen Verfolger, denn er kann ihrem allumfassenden Netz nicht entgehen: Die ganze Welt ist euer Netz, das Leben ist euer Netz, und unsre Taten machen uns nackt vor euren schlummerlosen Augen, die auf uns schauen durch das Netz . . . (399) Es ist gewiß kein Zufall, daß in Hofmannsthals „goldenem Gestühl" die „goldenen Tische" aus dem Parzenlied der Goetheschen Iphigenie anklingen. Was in Iphigeniens Seele aus archaischen Tiefen empordrängt, die Erinnerung an die erhabene Grausamkeit der Götter, hat sich für den Dichter des ödipus zu der Schreckvision eines hoffnungslosen, dem Hohn der Übermächte preisgegebenen Daseins verdichtet. In dieser Szene erweist sich Hofmannsthal als der Erbe Büchners und anderer Autoren des 19. Jahrhunderts, die, wie Walter Höllerer
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gezeigt hat, das Leitmotiv der über das menschliche Leid lachenden Götter als Ausdruck moderner Desillusionierung verwenden.71 Es ist bedeutsam, daß der ödipus Hofmannsthals — im Gegensatz zum Sophokleischen Helden — durch das erbarmungslose Wissen mitten aus seinen selbstüberheblichen Träumen herausgerissen wird. Er durchläuft also gleichsam den Desillusionierungsprozess des modernen europäischen Bewußtseins, ohne doch dem Nihilismus zu verfallen. Zunächst allerdings trifft die Erfahrung der menschlichen Nichtigkeit gegenüber dem Schicksal den Helden mit voller Wucht. Die Hybris des hohen Geistes zerflattert, das Leben wird zur unerträglichen Qual, aus der tiefsten Verzweiflung bricht der Wille zum Tode hervor. Bezeichnenderweise tritt auch an diesem Tiefpunkt das Leitmotiv des Opfers auf, allerdings in einer nihilistischen Verkehrung des ursprünglichen Sinnes. Denn „der Priester sein / und auch zugleich das Opfertier" (399), heißt hier nichts anderes als Selbstmord begehen und wäre also das Gegenteil der Selbstverwirklichung, die ödipus aufgegeben ist. Die Selbstzerstörung des Helden aber käme einer kosmischen Katastrophe gleich. Erst diese Gefahr des Weltzerfalls verleiht der Welterlösung durch ödipus und Jokaste ihre volle Bedeutung. Halten wir fest: Die erste Reaktion des Helden auf seine Begegnung mit der Sphinx führt zur Durchbrechung der kreatürlichen Bindung an das Leben. Im Willen zum Tode überwindet ödipus die bloße Natur und den titanischen Lebenstrieb. Nachdem sich die Freiheit der Tat als eine Täuschung erwiesen hat, findet der hohe Mensch in der Freiheit zum Tode eine letzte Zuflucht. Der innere Sieg
Aber die äußerste Form der Selbstbehauptung durch Selbstvernichtung ist nur der Ausgangspunkt jener Gegenbewegung
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des dritten Aktes, die zur tragischen Erhöhung des Helden führt. Wiederum benutzt Hofmannsthal das kontrastierende Zusammenspiel ödipus — Kreon, um die Wandlung des Helden hervorzuheben. Kreon ist immer noch besessen von seiner Machtgier und will daher den verhaßten Rivalen ermorden, um das Schicksal zu bezwingen. Nachdem der Anschlag mißglückt ist, ergreift er aus den gleichen Motiven die Gelegenheit, den sich ihm freiwillig Darbietenden zu töten, ödipus dagegen ist nun endlich fähig zu der wahrhaft selbstlosen Opfergesinnung. Er erstrebt nicht mehr eine Beeinflussung des Schicksals im Sinne seiner Wünsche, sondern entschließt sich zur Aufgabe des eigenen Willens. Seine Bereitschaft, sich von Kreon opfern zu lassen, führt sittlich über die Todessehnsucht hinaus, die der Verzweiflung entsprungen war. Die Hoffnung, sich selbst entrinnen zu können durch die Trennung von Ich und Es, Geist und Trieb, ist endgültig zerstört. Er weiß jetzt: „Ich bin ein König und ein Ungeheuer / in einem Leib. . . . / Kein Gott trennt eins vom andern . . (405). Nur durch seinen Opfertod glaubt er das Ungeheuer vernichten zu können — und ahnt nicht, daß er es durch seine Bereitschaft zur Hingabe auch im Leben überwunden hat. Denn er leistet den Verzicht auf Lebenstrieb und Lebenswahn in einem Augenblick, da alles Begehrte schon als sein Eigentum vor ihm hegt und Kreon ihn als den Sieger feiert. Er gibt den errungenen Besitz hin und erhebt sich damit über den titanischen Trieb des BesitzenWollens. Indem er den Anspruch auf die selbstherrliche Tat als Wahn erkennt, indem er den Hochmut des großen Menschen von sich weist, überwindet er in diesem Augenblick der Einsicht auf der Schwelle des Todes die Versuchung und Verblendung des Lebens. Im Unterschied zum antiken Helden besitzt also Hofmannsthals ödipus das Wissen um die Wahrheit und die Demut der Selbstüberwindung. Diese Erfahrung ist eine notwendige
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Durchgangsphase auf dem Weg zu seiner nächsten Entwicklungsstufe, auf der er sich der dionysischen Hybris des vergöttlichten Menschen schuldig macht. Im dialektischen Prozeß zwischen Wissen und Nicht-Wissen, Enthüllung und Verhüllung ist hier ein äußerster Punkt erreicht, an dem die Sophokleische Entschleierung der Wahrheit vorweggenommen wird. Aber der ödipus Hofmannsthals ist noch nicht zur Weisheit des Dulders bestimmt. Er ist auf dem Weg ins Leben und kann den Lebenssegen nur um den Preis der Lebensblindheit und der Lebensschuld gewinnen. So senkt sich der Schleier des Vergessens über ihn, der ihm die tödliche Wahrheit des Wissens verbirgt, damit er sich dem göttlichen Zauber der Liebe hingeben kann, in der sich die schuldig-unschuldige Ganzheit des Daseins darstellt. Es ist jedoch festzuhalten, daß der Held, der nun aus dem Schatten des Todes, dem Auftrag zur Hingabe folgend, wieder unter das Gesetz des Lebens tritt, innerlich über der Sklaverei des Wahns und des Triebes steht. Bezeichnenderweise fallt der Blitzstrahl, das Zeichen der Erwählung, erst, nachdem ödipus den sittlichen Akt der Selbstüberwindung vollzogen hat. Sein äußerster Wille zur Selbstverneinung im Opfertod ist zwar auch Schicksalsverneinung, aber er ist zugleich die notwendige Voraussetzung der höheren Schicksalserfüllung. Das „Licht der Götter" leitet den letzten Abschnitt in der Entwicklung des Helden ein, die Hinwendung zum höheren Leben. Er, der sich ganz dem Tode hingegeben hat, ist nun zur Hingabe an die lebendige Liebe reif. Freilich muß ödipus den Blitzstrahl zunächst als Befreiung von dem Fluch des Orakels mißverstehen. Aber dieses Mißverstehen ist nur relativ. Er glaubt, seine Erwählung durch die Götter hebe die Schuld auf; seine Schuld jedoch ist in die Berufung mit eingeschlossen. Nicht das Lebensschicksal selbst, nur seine Aspekte wandeln sich mit der Verwandlung des Helden. Im Vorgang der Wiedergeburt schlägt die Verzweiflung über die Verfallenheit des
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Menschen um ins Vertrauen auf seine göttliche Berufung. Die Drohung des Chaos, die für ödipus im tödlichen Wissen gegenwärtig ist, weicht vor dem Zauber des Lebens zurück. Darin aber verbirgt sich die Verheißung eines Höheren. Nur wer den Segen und die Schuld des Lebens erfahren hat, ist reif zur Erkenntnis und schließlich zur Weisheit. In seiner Rede „Der Dichter und diese Zeit" beschreibt Hofmannsthal eine Erfahrung, die zu der seines Helden in Analogie steht. Wenn wir aus dem Schlafe aufwachen, so fragt er, starrt dann unser Denken nicht manchmal „in irgend eine Tiefe unseres Daseins mit einem furchtbaren eisernen qualvollen Blick? Nichts hält diesem Blicke stand. Wie trag ich das? fragt eine Stimme gräßlich in uns. Wie leb ich und trage das und mache nicht ein Ende mit mir? Denn es gibt keine erträgliche Antwort . . . . Aber ein einziges Wiedereinschlafen und dies ist fort, weggetilgt mit süßem Balsam des Lebens" {Prosa, II, 291 f.). Dem Wiedereinschlafen entspricht in Ödipus und die Sphinx das Vergessen, dem süßen Balsam des Lebens das Wunder der Liebe. Erinnern und Vergessen Mit diesem Motiv ist ein Grundthema Hofmannsthals angeschlagen, das auch in Elektro und Ariadne gestaltet wird. In dem mehrfach angeführten Ariadnebrief hat der Dichter Vergessen und Erinnern als Symptome des niederen und höheren Lebens dargestellt. Den niederen Lebensmasken, die bloße Natur sind, ist auch das Vergessen Natur. Ganz dem Lebensstrome hingegeben, vergessen sie von Moment zu Moment und haben keinen Anteil am Bleibenden. Die hohen Menschen dagegen, die durch die Kraft der Erinnerung und der Treue ausgezeichnet sind, können eigentlich nicht vergessen und sind daher von innerer Erstarrung und dem Tode bedroht. Ihnen wird Vergessen und Verwandlung nur im Wunder der Liebe zuteil. Elektra bleibt von diesem Wunder ausgeschlossen; W.-K
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Ariadne findet darin Erlösung. Sie wird verwandelt, aber, wie Hofmannsthal in „Ad me ipsum" bemerkt, „jenseits des Lebens" (217). Die Problematik von Ödipus und die Sphinx beruht auf dem Gegensatz von Wissen und Leben; daher gewinnt hier das Motiv des Vergessens eine besondere Bedeutung. Für ödipus und Jokaste ist in der Erinnerung das Wissen um die Grauenhaftigkeit des Daseins, die Gefahrdung des Geistes, die Nichtigkeit des Menschen aufbewahrt. Demgegenüber bedeutet Nichtwissen und Vergessen die Geborgenheit in der ungespaltenen Tiefe des Lebens. So kann der „nackte Stein," der den Gegensatz von Bewußt und Unbewußt nicht kennt, für ödipus zum Repräsentanten „heiliger Vergessenheit" werden (414). Der Auftrag des hohen Menschen aber besteht darin, Leben und Geist, Vergessen und Erinnern zu verbinden. Das tödliche Wissen muß im Wunder der Liebe aufgehoben werden und doch zugleich als dunkle Drohung gegenwärtig bleiben. So ist ödipus geneigt, sich dem Vergessen hinzugeben: Mir ist, als wüßt ich Dinge, deren Namen das Blut gefrieren machen. Doch, Jokaste, ich hab sie nur gelernt, in deinen Armen sie zu vergessen. (413) Jokaste dagegen trägt die Erinnerung an ihre Todeserfahrung in sich: Bin ich denn Jokaste, habe ich nicht ihren Leib geborgt und bin ein Gast von drunten aus der finstern Welt. . .? (413) Die Begegnung von Mutter und Sohn am Schluß des Stückes steht im Zwielicht des Wissens und Nichtwissens, des Erkennens und Verkennens, das ihre Worte hintergründig und doppeldeutig erscheinen läßt. So sagt ödipus zu Jokaste: „Um dich, /
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die mir kein Traum gezeigt, hab ich die Jungfraun / verschmäht in meiner Jugend Land" (412). Das bedeutet: Du bist nicht die Mutter, von der das Orakel sprach — und du bist es doch. Jokastes rhetorische Gegenfrage ist voll ahnungsvoller Einsicht: „O Knabe, / bist dus, um den ich sterben wollte, wenns mich / hinunterzog zu meinem Kind ?" (412). Aber der Schwebezustand des Sehend-Blindseins wird doch nie aufgehoben, weil sonst die das Stück tragende Metapher des Lebenstraums aufgehoben würde. Das Wissen um das Nichtwissen Das Gleiche gilt auch für das Verhältnis des Helden zum Schicksal, ödipus erfüllt und verwandelt sein Schicksal durch die Hingabe an Tod und Liebe; aber er weiß nicht, daß und wie er es tut. Es entbehrt nicht der Ironie, daß er als Sieger über die Sphinx zum König ausgerufen wird, während sein echtes Königtum doch auf dem Sieg über sich selber beruht. Dies ist seine wahre Tat, die ihn zur Gestalt des Bettlers aus dem Salzburger Großen Welttheater in Beziehung setzt. Aber im Unterschied zum Bettler begreift er nicht, daß er diese Tat vollbracht hat. Darum kann er zu Jokaste sagen: „Der ödipus, / der vor dir steht, ist seiner Taten Kind / und diese Nacht geboren" (412). Diese Worte sind geprägt vom Vergessen und enthalten doch eine Spur der höheren Erinnerung. Sie bedeuten mehr, als der Sprecher weiß. Einerseits kehrt hier der Wahn der schicksalsbezwingenden Tat wieder, vor dem sich ödipus durch seinen Opfertod bewahren wollte. Andererseits ist die Wahrheit der Wiedergeburt durch die Tat der Selbstüberwindung ausgesprochen. Von einem bewußten Aufsichnehmen des erkannten Schicksals kann also keine Rede sein. Dennoch gewinnt ödipus im weiteren Verlauf der Szene ein gewisses Verständnis für die Verschränkung von göttlicher Notwendigkeit und menschlicher
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Tat. Das zeigt sich, als Jokaste fragt: "Ah, was ist es, das wir tun?" (415). ödipus antwortet darauf: „Die blinde Tat der Götter" (415). Aus dieser Antwort spricht nicht nur die Einsicht in die Blindheit des eigenen Tuns, sondern auch die Bereitschaft, das von den Göttern Verhängte zu vollbringen, obwohl es der menschlichen Erkenntnis entzogen ist. Damit ist ein bedeutsamer Schritt zur Uberwindung der Spaltung zwischen Ich und Es vollzogen. Bezeichnenderweise verschweigt der Held nach der Begegnung mit der Sphinx seinen Namen nicht mehr. Seine Flucht vor sich selbst ist zu Ende. Der hohe Mensch ist ins schuldhafte Leben getreten und hat damit den Auftrag der Selbstintegration vollbracht. Es ist der ganze ödipus, der am Schluß des Stückes erscheint. Er hat den inneren Gegensatz zwischen König und Ungeheuer durch die Kraft der Seele in eine höhere Einheit verwandelt und ist zum Repräsentanten eines umfassenden Menschentums geworden, das, schuldig-unschuldig, den Gott und das Tier in sich verbindet. Nicht das volle Wissen ist dem im Leben befangenen Menschen zugänglich, wohl aber das Wissen um das Nichtwissen. In der Schlußhymne Jokastes wird gerade dieses Wissen um das Dunkel, um die verborgene Drohung des Schicksals, bejaht. Verzückt ruft sie aus: „ . . . das Dunkel, das wir wissen, und doch lachen wir . . ." (416). Diese Worte sind zunächst einmal eine Herausforderung an die apollinischen Götter; sodann aber spricht aus ihnen die Einsicht in die gegenseitige Bedingtheit von Dunkel und Licht, Leid und Seligkeit, Schuld und Erfüllung. In der die Polaritäten verbindenden dionysischen Lebenseinheit wird das Zerstörerische fruchtbar; daher weicht der Alpdruck der Todesangst. Die Liebe als dionysisches Mysterium „Schicksal auf sich zu ziehen, anderer Schicksal zu werden, ist edelste Lebenskraft; sie ist an die Auserwählten verteilt. . ."
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{Prosa, III, 141). Diese Äußerung Hofmannsthals stammt aus dem Ariadnebrief und bezieht sich auf den Knaben Bacchus, der durch seine Begegnung mit Ariadne zum Gott wird, indem er sie verwandelt. In der reinen Atmosphäre dieser Begegnung ist die Dialektik des Schicksals, die sich in Ödipus und die Sphinx findet, aufgehoben. Die Auserwählten der Oper werden ins Eindeutig-Göttliche entrückt; die der Tragödie sind der Vieldeutigkeit des Lebens verfallen. Aber wenn ihr Schicksal auch Fluch und Segen zugleich ist, so bleibt es doch eine Auszeichnung, die sie über die Masse der Schicksallosen erhebt. Bei aller Verschiedenheit steht die Begegnung von ödipus und Jokaste in Analogie zu der von Bacchus und Ariadne. Denn auch hier ereignet sich jene schicksalhafte gegenseitige Verwandlung, die Hofmannsthal als „allomatisch" bezeichnet. Für den Dichter ist die Kraft der Verwandlung göttlicher Natur. Darum spricht Jokaste ödipus als Gott an: „Du bist ein Gott. Nur Götter schaffen um, / was sie berühren" (411). Auch für sie gilt, was Hofmannsthal über Ariadne sagt: „Sie war gestorben und ist aufgelebt, ihre Seele ist in Wahrheit verwandelt . . ." (Prosa, III, 140). Aber sie ahnt noch nicht, daß sie, die Verwandelte, den Verwandter selbst verwandelt hat. Wie er sie, so hat sie ihn aus der Zuflucht des Todes zur Hingabe ans Wagnis des Lebens verlockt. Damit haben sie die zweite Phase ihres auf Gegenseitigkeit beruhenden Opfers vollbracht. Sie stehen sich gegenüber als zwei Menschen, die durch die Gegensätze des Daseins hindurchgegangen sind und sie in sich aufgenommen haben. Der Sinn der Liebe besteht hier darin, „daß in ihrer Glut der beständig in innerste Teile auseinanderfallende Mensch zu einer Einheit zusammengeschmolzen wird."' 2 Dieses Mit-sich-selbsteinig-sein ist die Voraussetzung für eine Begegnung, die über die niedrige Erotik hinausgeht. Nur weil der Liebende und die Geliebte das ganze Menschentum verkörpern, weil jeder der beiden die Verbindung von Natur und Geist, Eros und Ethos,
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Trieb und Seele, Leben und Tod in sich vollzogen hat, sind sie zur höchsten Vereinigung fähig. In ihr stellt sich die ursprüngliche Einheit des Seins auf höherer Ebene dar. Auf diesem Gipfelpunkt der Handlung wird die Wiedergeburt des Dionysos Zagreus Ereignis. Das Ewige geht in die Zeit ein, und das Eine findet in der bewegten Mannigfaltigkeit Verkörperung. Der Gegensatz zwischen dem in sich ruhenden „heiligen Blut" des Teiresias und dem nach immer neuer Gestaltung drängenden „goldenen Blut" der Antiope wird gelöst im Feuer des „seligen Blutes" (414), das im ewigen Augenblick der Ich-Du-Begegnung entbrennt. In diesem Zusammenhang gewinnt auch das Leitmotiv des Opfers seine tiefste Bedeutung. In Jokastes Worten „Priester und Opfer sind wir" (416) lebt der Gedanke der Identität zwischen Opfernden und Geopferten wieder auf. Aber hier beruht diese Identität auf der Gegenseitigkeit des Opferwillens. Jeder der beiden gibt sich dem andern hin und empfangt zugleich dessen Hingabe. Der Gegensatz zwischen Tun und Leiden ist aufgehoben. Mit der Uberwindung des Individuationsprinzips gewinnen ödipus und Jokaste im Leben jene tiefste Gemeinschaft, die Jokaste ursprünglich im freiwilligen Opfertod mit Lalos ersehnte, aber wegen seiner titanischen Selbstbesessenheit nicht verwirklichen konnte. Die gegenseitige Verwandlung der Liebenden ist nicht ein Vorgang innerhalb der weltlosen Innerlichkeit, sondern hat soziale Bedeutung. Nachdem die Sphinx, die „Totenwolke," vor dem zum Opfer bestimmten ödipus zurückgewichen ist, hebt sich ganz Theben „wie eine Sturmflut, seinen König sich / herabzuholen von der Klippe" (408). Auch am Ende von Elektro kommt die Lebensfreude der Gemeinschaft, die durch das Selbstopfer der Heldin von dem Alpdruck des Todes befreit worden ist, zum Ausdruck. Aber die Verbindung zwischen der Repräsentantin des dichterischen Geistes und den
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Lebenden kommt nicht zustande. Unfähig zu lieben und zu handeln, wird Elektra durch den Tod entrückt, ödipus und Jokaste dagegen haben die Einsamkeit des universalen Ich überwunden. Der königliche Dichtergeist ist im Erlebnis der Liebe selber sozial geworden und kann daher den Ort einnehmen, der ihm hier zukommt: nicht unter der Menge der Menschen, sondern als die ragende Spitze der sozialen Pyramide, zwischen dem Volk und dem Schicksal. „ Wir sind mehr als die Götter . . ." Wie schon betont, ist die Entwicklung des dritten Aktes bestimmt durch die Dialektik der Menschenauffassung. Die Hybris des eigenmächtigen Täters wird durch die Begegnung mit der Sphinx gebrochen. Aber die Verzweiflung des Helden über die eigene Nichtigkeit, die sich daraus ergibt, ist nur Durchgangsstadium auf dem Wege zur Glorifizierung des dionysischen Menschen, der, Dichter und König in einem, durch seine Hingabe die Gegensätze des Daseins in sich aufgenommen und die Ich-Du-Spaltung überwunden hat. Die Heilung der Welt erscheint als die höchste, die heilige Tat. Darum endet Jokastes Hymnus mit den Worten: „. . . unsere Hände / heiligen alles, wir sind ganz allein / die Welt!" (416).7S Das Wir als Universum — mit dieser Formel läßt sich das neue Weltverhältnis des hohen Menschentyps bezeichnen, das Hofmannsthal in Ödipus und die Sphinx gestaltet. Die präexistente Ich-All-Einheit kehrt hier auf höherer Stufe wieder. Zwischen der egozentrischen und der allomatischen Form des dichterischen Weltbesitzes liegt der Weg ins höhere Leben, der durch den Tod führt. Die Bejahung des menschlichen Daseins in Jokastes Worten beruht daher auf der Bejahung des als fruchtbar erkannten Todes. Damit verlagern sich die Akzente in der Beziehung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Wenn zuvor die Allmacht der ewigen Götter „auf goldenem
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Gestühl da droben" (399) der Machtlosigkeit des im Lebensnetz gefangenen Menschen gegenübergestellt wurde, so heißt es nun in Jokastes Preislied: „. . . arm sind sie gegen uns, die Götter, die / nicht sterben können, arm!" (416). Der Reichtum des Menschen besteht also im Sterbenkönnen. Der Tod, der bisher unter dem Aspekt der Negativität als das Nichtsein erschien, tritt nun in seiner positiven Bedeutung für das höhere Leben hervor. Die Verwandlung des Todes vollzieht sich in dem Gespräch zwischen ödipus und Jokaste gegen Ende des dritten Aktes. Zunächst steht besonders Jokaste noch tief im Schatten der „finstern Welt." Wir erfahren erst jetzt, daß sie, ähnlich wie ödipus nach der Begegnung mit der Sphinx, den Gedanken des Selbstmordes erwogen hat: „Die Adern waren / dem selbstgeführten Messer allzunah" (413). Der Wille zum Tod erscheint jedoch nun als Schuld gegenüber dem erfüllten Dasein, die sie sich gegenseitig bekennen. (Jokaste: „Jeder Mutterschaft / hab ich geflucht, gepriesen habe ich laut / den kinderlosen Schoß." — ödipus: „Jokaste, ich / hab mit gebäumter Seele in den Tod / verflucht mein Leben"). Der Wendepunkt ist erreicht mit den Worten des Helden: „Wie wir sind und nicht sind!" (414). Hier wird das Geheimnis des hohen Menschentums ausgesprochen, das in der Fähigkeit besteht, das natürliche Dasein zu transzendieren und so an Leben und Tod gleichzeitig teilzuhaben. Aus der Begegnung mit dem Nichts entspringt die Fülle des Ganzen. Völlig durchdrungen von diesem Erlebnis, stammelt Jokaste: „Ich müßt in deinen Armen / des Todes sein!" (414). Aber sie meint hier nicht mehr den vernichtenden, sondern den dionysischen Tod, der mit der Lebenseinheit identisch ist. Das Hinsterben in den Armen des Geliebten ist die höchste Form der Hingabe; in ihr verbinden sich Tod und Liebe. In dieser Hingabe wandeln sich Leid in Lust, Verzweiflung in Seligkeit, Schuld in eine höhere Form der Unschuld,
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die, weil in der Tiefe der Schmerzen errungen, über der natürlichen und verdienstlosen Reinheit der Jugend steht. Die dionysische Todeserfahrung ist die Voraussetzung nicht nur der hohen Liebe, sondern auch der hohen Zeugung. Es wurde schon daraufhingewiesen, daß im Kinde die allomatische Verbundenheit der Eltern lebendige Gestalt gewinnt. Das Kind ist heilig, weil in ihm die heile Einheit der aus der Zerrissenheit erlösten Welt ihren sinnfälligen Ausdruck findet. Es verhindert auch, daß die hohe Liebe zum ästhetisch genossenen Selbstzweck wird. Die Aufgabe der Liebenden besteht darin, ihre Gegenwart für das Zukünftige hinzugeben. So sind ödipus und Jokaste „nur Rauch, daraus sich funkelnd / gebären will ein Neues, Heiliges, / Lebendiges" (415). Als Nährgrund erfüllten Daseins hat der Tod seine Schrecken verloren. Lebensbejahung und Todesbejahung fallen zusammen. Jokaste bestätigt es: ,,. . . [der Tod] ist in meinen Leib hineingesunken, / wie eine namenlose Lust, ein un- / geheueres Versprechen" (416). Um dieses Todes willen, der die Kraft der Hingabe, den Zauber der Liebe, die Verheißung des Gebärens einschließt, sind die unsterblichen Götter arm und die sterblichen Menschen reich zu nennen. Überwältigt von der Fülle ihres Gesichts, ruft Jokaste aus: „. . . o mein König, / o du: wir sind mehr als die Götter, wir . . ." (416). Mit diesen Worten wird der Übergang vom Hofmannsthalschen Vorspiel zum Sophokleischen Hauptteil der ödipustragödie angedeutet. Im Augenblick der höchsten Steigerung öffnet sich der Ausblick auf die unvermeidliche Katastrophe. Die Bedeutung dieser Szene liegt darin, daß Hofmannsthal hier einen neuen Aspekt seines Dichtertums ankündigt. Der Anspruch des dionysischen Dichters, in der Tragödie die Tragik des Daseins aufzuheben, das Leid in Freude, den Tod in Leben, den Zwiespalt in Harmonie zu verwandeln, erweist sich als Hybris. Der vergöttlichte Mensch, der das Schicksal des
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Sterbenmüssens bejaht, fordert damit zugleich die ewigen, schicksallosen Götter heraus. Er lädt die Urschuld der geschaffenen Kreatur auf sich, die Erhebung über den Schöpfer. Was in der Perspektive der dionysischen Immanenz als höchste Erfüllung erscheint, die Selbsterlösung des Menschen, in der die Welt miterlöst wird, muß zugleich als Frevel gegenüber der apollinischen und christlichen Transzendenz gelten. So zeichnet sich von hier aus der Weg Hofmannsthals nicht nur zu König ödipus, sondern auch zu Jedermann deutlich ab. Die Drohung aus dem Dunkel Die Rechtfertigung des vergöttlichten Menschen, die Jokaste vorträgt, gründet sich auf die Bejahung der Zeit als des Mediums, in dem sich der Vorgang der Verwandlung vollzieht. Im Gegensatz zu Elektro und auch zu Ariadne mündet der hohe Augenblick hier nicht in das Ewige, sei es des Todes, sei es der Entrückung, sondern ist ins zeitgebundene Leben eingebettet. Im dionysischen Enthusiasmus bewahrt Jokaste ein klares Zeitbewußtsein. Vom Gipfelpunkt der erfüllten Gegenwart („heute, dieses Heute, du und ich!") überblickt sie die düstere Vergangenheit, deren Qualen nun gestillt sind. Zugleich überträgt sie die aus Schmerzen erblühte Seligkeit der Stunde auf die Zukunft. Wie bereits erwähnt, klingt jedoch in der Stimme der Verheißung ein Unterton der Drohung mit. In Wendungen wie „das Namenlose, das noch kommt und doch / schon da ist" und „das Dunkel, das wir wissen und doch lachen wir" bricht die Ahnung des unfaßbaren Schicksals wieder durch, die Jokaste schon vor der Geburt des Kindes ödipus erfüllte: „Tag und Nacht / rang ich in mir mit dem, was dunkel ist, / mit dem was keinen Namen hat" (356). Das Dunkel ist zwar jetzt in die Schicksalsbejahung mit einbezogen, aber damit wird es nicht aufgehoben. Das Pendel des Schicksals, das die Liebenden aus der Leere des Nichts in die Fülle des Daseins riß, wird wieder
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zurückschwingen, ödipus ahnt es: „Jokaste, stirb mir nie!" (416). Dieser Ausruf entspringt überschwenglicher Seligkeit und geheimer Angst. Auch hier ist ein Hinweis auf die Katastrophe in König Ödipus verborgen; sie bedeutet jedoch nicht nur Verlust, sondern zugleich Gewinn. Denn mit Jokastes Tod wird einerseits das auf der allomatischen Verwanduing beruhende dionysische Dichter-Königtum zertrümmert; andererseits wird ödipus von der Befangenheit im Lebenstraum und von der Drohung des Dunkels befreit. Im Gegensatz zu Ariadne bedeutet hier das Allomatische keine endgültige Erlösung, weil die Lebensschuld durch die Sittlichkeit des Opfers und den Zauber der Liebe zwar verwandelt, aber nicht gesühnt wird. Mit der Erfüllung des Schicksals ist ödipus zwar er selbst geworden, aber er weiß immer noch nicht, wer er ist. Eine volle Selbstintegration setzt jedoch nicht nur Selbstidentität, sondern auch Selbstbewußtsein voraus. Erst wenn die Frage, die der Jüngling ödipus „mit halb / bekümmertem, halb frechem Herzen" (289) nach Delphi trug, die Frage nach dem eigenen Ich, die für Hofmannsthal mit der Frage nach dem Vater zusammenfallt, beantwortet ist, kommen Sein und Bewußtsein des Helden zur Deckung. Erst dann ist er zu dem bewußten Aufsichnehmen des Schicksals fähig. Wie die Aufzeichnungen in „Ad me ipsum" betonen, muß sich das höhere Leben einstellen „als richtige Schicksalserfüllung, nicht als Traum oder Trance" (221). Diese richtige Schicksalserfüllung steht in ödipus und die Sphinx noch aus. Nach Hofmannsthals Notizen zeigt das Stück den Helden vielmehr „auf dem Weg, das Schicksal zu suchen;" daher weist der Dichter auf das „Vorspielhafte" seiner Tragödie hin (221). Bild und Gegenbild des Menschen Wir beginnen zu ahnen, vor welch weitgespannten Horizonten sich Hofmannsthals ödipustrilogie abgespielt hätte,
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wenn sie vollendet worden wäre. Der Dichter hätte darin den Raum der menschlichen Erfüllungsmöglichkeiten ausgeschritten, er hätte ihre Widersprüchlichkeit und ihren kaum noch faßbaren inneren Zusammenhang dargestellt. Die Tragik des Menschen wäre im Geheimnis seiner Erwählung, die Tragödie im Mysterienspiel aufgehoben worden. Dichterische Selbstdarstellung und Menschheitsmysterium in einem, hätte die Trilogie den Kreislauf der Seele beschrieben, der das Uberirdische und das Irdische, das Zeitliche und das Ewige zusammenschließt. Versuchen wir, den Gesamtplan zu umreißen, den Hofmannsthal von Augen gehabt haben muß: Von göttlicher Abstammung, ist der Held dazu ausersehen, aus der ungebrochenen Ich-All-Einheit der „Präexistenz" ins Leben zu treten, die Macht des Triebes zu erfahren und sie kraft seiner Hingabe zu beseelen. In der allomatischen Ich-Du-Gemeinschaft wird die Einheit des Daseins auf einer höheren Stufe wiedergewonnen. Blut, Seele und Geist verbinden sich in dem hohen Menschentum, das sich im Leben verwirklicht und daher den Preis der Lebensblindheit und der Lebensschuld entrichten muß. Nachdem der Held seine Bestimmung erfüllt, nachdem er in der Lebenstat sein ganzes Selbst verwirklicht hat, enthüllt ihm das Schicksal die volle Wahrheit. Der Erkennende wird aus dem Königtum des Lebens herausgerissen. Der Verblendete erblindet, aber erst der Blinde ist der wahrhaft Sehende, der das tragische Wissen um sich selbst gewinnt. Es ereignet sich also ein zweifacher dialektischer Umschlag unter entgegengesetzten Vorzeichen: Der König wird zum Bettler, der Halbgott zum Sünder; aber der Zerschmetterte ist zugleich der Geläuterte, der sein Schicksal in Demut auf sich nehmen kann. Als der unbehauste Dulder, der den Adel des Lebens verloren hat, gewinnt er den Adel des Leides. Auch der von den Göttern Geschlagene ist der von den Göttern Erwählte. Daher kann er, nachdem er die Kontraste des Daseins durch-
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schritten und die polaren Möglichkeiten des Menschseins im Zeitlichen verwirklicht hat, ins Ewige zurückkehren. Die Kurve seiner Entwicklung ist gekennzeichnet durch den dialektischen Wechsel polarer Positionen. Sie führt von der Erhöhung, die zugleich Anmaßung ist, in die Erniedrigung, die zugleich Erwählung bedeutet. Damit durchläuft der Held den Schicksalsweg des Dichters, der im Zeichen der „Präexistenz," des dionysischen Lebens und der apollinischen Erkenntnis steht und schließlich in die Frömmigkeit des amor fati mündet. Allerdings bleibt es zweifelhaft, ob es Hofmannsthal auf der damaligen Entwicklungsstufe gelungen wäre, seinen gewaltigen Plan auszuführen. Schon die Tatsache, daß er glaubte, als Hauptteil der Trilogie seine Übersetzung des Sophokleischen Oedipus Rex benutzen zu können, erweckt Bedenken. Wie bereits erwähnt (und wie nicht ander zu erwarten), sind die Hauptgestalten des modernen und des antiken Dichters recht verschiedener Natur. Schon Maximilian Harden bemerkte diese Diskrepanz. In seiner Besprechung des Stückes betont er, daß Hofmannsthal an die antike Tragödie anknüpfen wolle, fährt aber dann fort: „Und noch jetzt zweifle ich, ob die Verbindung gelingen, diese Jokaste und dieser Kreon den Rückweg in die alte Welt finden kann." In der Tat, der ödipus des Sophokles ist kein verwandelter Verwandler. Die Magie des Opfers und der Liebe ist ihm fremd. Ebensowenig kennt er den dionysischen Enthusiasmus des welterlösenden Dichter-Königtums. Aber gerade dies ist das eigentliche Thema Hofmannsthals. Das Vorspiel ödipus und die Sphinx verlangt nach einem Hauptteil, der im Gewände des Mythos die Tragödie des dionysischen Künstler-Königs schildert. Die beiden ersten Teile hätten die gegenbildlichen Aspekte des Menschen, die in Hofmannsthals Werk seit Jedermann als „heidnische" und „christliche" Komponente nebeneinander herlaufen, in ödipus darstellen müssen. In ihm hätten das Herrschaftliche und das Nichtige, das
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Göttliche und das Sündige des Menschen sichtbar werden müssen. Aber läßt sich diese Grundpolarität des Menschlichen — und damit des Göttlichen — überhaupt in einer Gestalt darstellen? Oder ist hier eine Grenze erreicht, welche auch die auf Versöhnung alles Gegensätzlichen gerichtete Gestaltungskraft des Dichters nicht überwinden kann? Im Hinblick auf ödipus und die Sphinx und König Ödipus glauben wir diese Frage bejahen zu müssen. Im Bestreben, „schrankenlos in uns das Auseinanderliegende zu verbinden" (Prosa, II, 411), hat Hofmannsthal das Unmögliche versucht. Die beiden ersten Teile seiner geplanten ödipustrilogie schließen sich nicht zur Einheit zusammen. Nicht nur die Gestalt des Protagonisten verliert durch die Spannungen zwischen Vorspiel und Mittelstück ihre Identität — es besteht zugleich ein unerträglicher Widerspruch zwischen den jeweiligen Konzeptionen der Götter in ihrem Verhältnis zum Menschen. Unter dem Eindruck dieses Widerspruchs schreibt Elisabeth Steingruber: „In ödipus und die Sphinx sind die Götter ins Innere der Menschen hineingenommen, sie teilen sich diesen einzig aus diesem unbegreiflichen Abgrund heraus mit. Bei Sophokles aber besteht das ungeheure Gegenüber, das auch in der Übersetzung nicht getilgt werden kann, da sonst alles zusammenfallt. Und ganz andere Götter sind es, die hier und dort walten. Bei Sophokles die klaren olympischen Götter und unter ihnen in ausgezeichneter Weise der Gott des delphischen Orakels, der Lichtgott Phöbos Apollon. Bei Hofmannsthal aber herrschen dunkle Mächte . . ." (Steingruber, S. 130). Wie bereits dargestellt, erscheint das Göttliche in Ödipus und die Sphinx als dionysische Immanenz, in König Ödipus dagegen als apollinische Transzendenz. Dem geplanten Nachspiel wäre die ungeheure Aufgabe zugefallen, beide Perspektiven zu vereinen. Ist dies der Grund, warum es nicht geschrieben wurde — warum es nicht geschrieben werden
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konnte? Man hat schon früh erkannt, daß Hofmannsthal sowohl der christlichen wie der antik-humanistischen Überlieferung des Abendlandes verpflichtet ist. Er hat an beiden Grundkomponenten der europäischen Tradition teil, ohne sich auf die eine oder die andere festzulegen. Der Reichtum des Werkes entfaltet sich gerade auf Grund der unaufhebbaren Polarität des Dichters. Der Versuch des Bettlers im Salzburger Großen Welttheater, einen neuen Weltstand zu gründen, der im Rahmen der vorgegebenen göttlichen Weltordnung als Frevel erscheint, wird zum tragischen Auftrag Sigismunds in der ersten Fassung des Trauerspiels Der Turm, wo sich eben diese Ordnung in Auflösung befindet und die einzige Rettung vor Chaos und Gewaltherrschaft von der Schöpfertat des königlichen Geistes zu erwarten ist. So steht in Hofmannsthals Werk die Demut des Geschöpfs neben dem Hoch-Mut des Schöpfers. Der geplante Schlußteil der ödipustrilogie jedoch hätte zu einem Kurzschluß zwischen beiden Polen führen müssen. Ist es verwunderlich, daß der damals noch um die Entfaltung seiner inneren Fülle ringende Dichter diesen Gewaltakt nicht vollbringen konnte?
Ausblick Die Deutung von Elektro und Ödipus und die Sphinx hat ergeben, daß diese Stücke nicht als künstlerisch vollkommen betrachtet werden können. Zugleich aber ist ihre hohe Bedeutung für die Entwicklung Hofmannsthals deutlich geworden. Das Ringen des Dichters um die Tragödie stellt eine notwendige und entscheidende Durchgangsphase auf seinem Weg ins Leben dar, der zu den Meisterwerken der Reifezeit, den Lustspielen und Opern, hinführt. Die Darstellung einer in sich versöhnten Welt in Der Rosenkavalier wäre unmöglich ohne die vorhergegangene sittliche Durchdringung des triebhaften Lebens im ödipusdrama. Mit ödipus und die Sphinx erreicht Hofmannsthals Auseinandersetzung mit dem Leben-Geist-Problem einen äußersten Punkt, auf den bereits die Entwicklungslinien des Frühwerkes hinzielen. Denn die tragische Erfahrung der Trennung von Innen und Außen setzt bereits ein, nachdem sich die Ich-WeltHarmonie der jugendlichen „Präexistenz" aufgelöst hat und nachdem der Versuch einer geistigen Weltbezwingung in der sogenannten magischen Dichtung gegen das Jahrhundertende gescheitert ist. Der in das Mannesalter eintretende Dichter muß in der Emanzipierung der Wirklichkeit, sei es nun des Lebens oder der Geschichte, sein zentrales Problem erkennen. Die Drohung der Daseinsspaltung führt in Hofmannsthals Werk zur Konzeption von zwei problematischen Typen. Die weltlose Geistigkeit, repräsentiert etwa durch Claudio, wird dem allen Reizen des Lebens verfallenen Abenteurertum gegenübergestellt. Die isolierte Innerlichkeit, das lähmende Wissen, die ins Nichts führende Reflektion tritt zu der hemmungslosen Hingabe an den Rausch des Vitalen und Erotischen in Gegensatz. Hier zeigt sich, wie eng die eigene Problematik 160
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Hofmannsthals mit der durch Nietzsche bestimmten geistesgeschichtlichen Situation verbunden ist. Zugleich wird die große Bedeutung der ödipusgestalt für die künstlerische Entwicklung des Dichters sichtbar. Denn in ödipus überschneiden sich die beiden Problemkreise. In seiner Seele durchdringen sich die Qual des Wissens und die Lust des Lebens. Er ist beladen mit der Doppellast der Erkenntnis und des Triebes und kann nur im Tode von seiner überschweren Bürde befreit werden. Wie schon betont, führt in Ödipus und die Sphinx die Sittlichkeit des Selbstopfers nicht zur Reinigung des Helden. Seine Tragik besteht vielmehr darin, daß er gerade durch die Hingabe an das Schicksal, durch die Erfüllung des göttlichen Gebotes, durch seine Frömmigkeit also — schuldig wird. Das Ergebnis ist das Paradox des schuldlosen Schuldigen, des frommen Verbrechers, des heiligen Sünders, das in dieser Hinsicht die Problematik von Doktor Faustus und Der Erwählte vorwegnimmt. Wir sind der Auffassung, daß die Entwicklung Hofmannsthals mit einer gewissen inneren Notwendigkeit zu einer solchen atemberaubenden Konzentration der Paradoxien hinführt. Das Zusammenzwingen der Gegensätze, das er in ödipus und die Sphinx mit äußerstem Kraftaufgebot vollbringt, ist seine schöpferische Antwort auf die Drohung des Chaos, des Weltzerfalls in unserer Gegenwart. Die mythische ödipusgestalt gewinnt bei Hofmannsthals also aktuelle Bedeutung und weist bereits auf Sigismund in der ersten Fassung von Der Turm hin, auf den Helden also, dem die geistige Bewältigung der abendländischen Kulturkrise aufgetragen ist. Allerdings vermag Turm I (1925) den Zweifel Hofmannsthals an der Möglichkeit einer kulturellen Regeneration durch die dichterische Tat nicht zum Schweigen zu bringen. Die befreiende Wirkung des Werkes bleibt aus, und die Geschichtsskepsis des Verfassers findet ihren Niederschlag in der zweiten Fassung, die zwei Jahre später auf die erste folgt. W.-L
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Ödipus und die Sphinx dagegen leitet eine der reichsten Schaffensperioden Hofmannsthals ein. Nachdem die Drohung des elementaren Triebes abgewehrt ist, kann die innere Entspannung folgen. Weil ödipus die Last des Lebens getragen hat, ohne darunter zusammenzubrechen, darf sich der Dichter dem Reiz des Lebens hingeben. Das künstlerische Resultat dieser Hingabe sind zunächst die Lustspiele, die vor dem Ersten Weltkrieg entstehen. Vergleicht man ihre Hauptgestalten mit denen des ödipusdramas, so zeichnet sich eine fortlaufende Entproblematisierung ab.74 Die verhängnisvolle Verkettung der Generationen wird gelöst. Zwar spielt das Verhältnis der Alten und Jungen, der Eltern und Kinder auch weiterhin eine große Rolle in Hofmannsthals Werk, aber es gewinnt einen neuen Sinn. Die junge Generation leidet nicht mehr unter dem Schicksalsauftrag, die Schuld der Alten zu sühnen und dadurch selber schuldig zu werden. Vielmehr ist in Der Rosenkavalier den Jungen (Octavian, Sophie) die reine menschliche Erfüllung gewährt, die den Alten (Marschallin, Ochs) versagt bleibt. In Die Frau ohne Schatten, einem Werk, das als Oper und als Märchenerzählung vorliegt, fungieren die ungeborenen Kinder als „die erhöhten Spiegelbilder ihrer Eltern" („Ad me ipsum," 219), und die Eltern verwirklichen ihr eigenes Selbst, „indem die Kinder zu ihnen kommen." Auch das Wissen um die Tragik des Lebens wird den tragenden Figuren abgenommen. Das gilt für die männlichen und die weiblichen Hauptgestalten. In Der Abenteurer und die Sängerin, einem Stück, das um die Jahrhundertwende entstand und als Vorstufe der späteren Lustspiele gelten darf, leidet der Abenteurer (Baron Weidenstamm) unter dem Fluch der Vergänglichkeit. Der zweite Repräsentant des abenteuerlichen Lebens in Hofmannsthals Werk (Florindo in Cristinas Heimreise) bleibt dagegen von der Drohung des Todes unberührt und lebt in der glücklichen Zeitlosigkeit des sich ewig erneuernden Augen-
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blicks. Dem entspricht die Entwicklung der weiblichen Hauptfiguren, die von Vittoria (Der Abenteurer und die Sängerin) zu Cristina führt. Die Sängerin bleibt tief in der Verworrenheit und Schuld des Lebens verstrickt; Cristina dagegen ist ein junges, frisches Bauernmädchen, das zwar schuldig werden kann, aber Vittorias Flucht in die Lebenslüge verschmäht und damit ihre sittliche Integrität bewahrt. Besonders wichtig für den Übergang von den Griechischen Dramen zu den späteren Werken ist es, daß Hofmannsthal die Verbindung zwischen dem Schuld- und dem Opfermotiv löst. Durch die Hingabe ans Schicksal wird ödipus schuldig; dagegen die Selbstüberwindung der Kaiserin in Die Frau ohne Schatten führt zur Läuterung. Der Wandel des Hofmannsthalschen Weltbildes prägt sich am deutlichsten aus in der Änderung des Konfigurationsschemas. Das Urdreieck, das in den Tragödien die Gestalten des Vaters, der Mutter und des Kindes miteinander verbindet und zugleich gegeneinander stellt, wird in den Komödien aufgegeben. Es muß aufgegeben werden, denn es läßt keine eindeutige Lösung des durch den Gewalttäter verursachten Konflikts zu. Die Untat des einen Konfigurationspartners führt zwangsläufig zur Verbindung der beiden anderen. Wie betont wurde, sind aber sowohl Elektras imaginäre Vereinigung mit dem toten Vater als auch ödipus' sinnlich-übersinnliche Vereinigung mit der lebenden Mutter mystische Erfüllung und sittliche Verschuldung zugleich. So kommt es, daß ein eigentümliches Zwielicht über den letzten Szenen beider Dramen liegt. Um die unreine Verbindung von Jubel und Trauer aufzulösen, um den reinen Zusammenklang der Stimmen ertönen zu lassen, brauchte Hofmannsthal ein anderes Konfigurationsmodell. Er fand es in der Zusammenstellung zweier Paare, die sich bereits in Der Abenteurer und die Sängerin abzeichnet, aber erst in Der Rosenkavalier (und auf andere Weise in Die Frau ohne Schatten) voll in Erscheinung tritt. Diese Viererkombination
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ermöglicht Hofmannsthal eine neue Art der Handlungsführung; in einem Brief an Strauß über den Rosenkavalier bezeichnet er sie als „verkreuztes Doppelabenteuer" (Briefwechsel, S. 89). Was er damit meint, ist klar: Der junge Octavian gibt sein Abenteuer mit der alternden Frau (Marschallin) auf, und die junge Sophie entzieht sich der von dem Vater geplanten Ehe mit Ochs, der von Hofmannsthal als „ein dicker, älterer, anmaßender Freier" (Briefwechsel, S. 52) charakterisiert wird. So kommen die beiden Jungen zusammen, in denen sich der Zauber des Eros mit dem Willen zum Ethos verbindet. Als glückliche Synthese der natürlichen Gegensätze von Sinnlichkeit und Sittlichkeit verkörpern sie in ihrer Gemeinschaft die reine Harmonie des Daseins, die weder von Elektra noch von ödipus und Jokaste verwirklicht werden konnte. Weil die zerrissene Welt erst in den Lustspielen und Opern völlig geheilt wird, weil sich hier die Kluft zwischen Innen und Außen, Ich und Gemeinschaft schließt, vollendet auch der Dichter erst mit diesen Werken der Reifezeit seinen Weg ins Leben. Durch die Komödien, die ihm nach „Ad me ipsum" (226) das „erreichte Soziale" darstellen, gewinnt er selber die tiefste Verbindung mit seiner österreichischen Heimat. Nun erschließen sich ihm die Schätze der volkstümlichen Sprache, der bodenständigen literarischen Tradition; nun erschließt sich ihm die Bühne. Rudolf Borchardt ist wohl der erste Beobachter, der die große Bedeutung der Komödien im allgemeinen und des Rosenkavalier im besonderen für Hofmannsthals Entwicklung erkannt hat. In einem Brief aus dem Jahre 191175 stellt er sehr freimütig fest, daß der Versuch des Dichters, mit Ödipus und die Sphinx die Bühne zu erobern, gescheitert sei. Und er erkennt auch den Grund: „Das Theater hatten Sie sich mit dem Schlüssel Ihrer herrlichen Poesie öffnen wollen, und es hatte widerstanden; es verlangt weniger als Poesie und mehr als Poesie: die liberalste, breiteste, nichts ausschließende Teilnahme am
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Menschlichsten der Menschheit, am Menschlichsten eines 44 Volkes Die Teilnahme am Menschlichsten — für den priesterlichen Dichter-König ein Vergehen gegen den heiligen Geist der Kunst, für den Volksdichter eine unerläßliche Bedingung seines Schaffens — im Rosenkavalier tritt sie aufs schönste hervor. Das esoterische Wissen um die Abgründigkeit des Lebens ist zurückgedrängt und klingt nur noch in der gefaßten Trauer der Marschallin nach. Die übrigen Gestalten aber sind vom Fluch der Bewußtheit befreit und haben den Zauber geistiger Unschuld angenommen. Damit ist in der Entwicklung Hofmannsthals etwas kaum Glaubliches geschehen. Der Schöpfer der überproblematischen Tragödiengestalten hat sich in den Dichter des Naiven verwandelt. Freilich handelt es sich um jene zweite, wiedergewonnene Naivität, von der Kleist im Aufsatz über das Marionettentheater spricht. Sie setzt voraus, daß der Autor die bedrohlichsten Erschütterungen des Geistes und der Seele durchschritten hat. Wenn uns also aus den reifen Werken Hofmannsthals eine verklärte Welt entgegenlächelt, so sollten wir nicht vergessen, daß dieses Lächeln mit dem Rausch und der Qual der Griechischen Dramen erkauft ist.
Anmerkungen 1
Helmut A. Fiechtner (Hg.), Hugo von Hofmannsthal: Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde (Wien, 1949), S. 370. 1 Klaus Ziegler,, ,Das deutsche Drama der Neuzeit," in Deutsche Philologie im Aufriß, hg. v. Wolfgang Stammler (Berlin, 1952-57), 11, Sp. 1237. Ziegler versucht, Hofmannsthals Werk auf Grund einer vorgefaßten Meinung von seiner Zeit und seiner Umwelt zu deuten. Dieses Werk sei „in der melancholischen Atmosphäre des resigniert seinem Untergang entgegentreibenden Habsburgerreichs" (Sp. 1237) entstanden und müsse, wie andere Werke der sogenannten Neuromantik, als künstlerischer Ausdruck der Wiener Dekadenz betrachtet werden. Unter dem Einfluß der Untergangsstimmung nehme die äußere Welt bei Schnitzler wie bei Hofmannsthal „den Charakter eines schatten- und scheinhaften Traumgebildes an, dessen Chaotik dem Menschen weder irgend eine Art von Wahrheit noch von Sicherheit vergönnt . . ." (Sp. 1236). Das Zerfließen der Außenwelt finde seine Entsprechung in der „Auflösung des Individuellen," und der Mensch werde schließlich völlig von den unbewußten, irrationalen und elementaren Kräften überwältigt: „Das menschliche Bewußtsein ist . . . nur eine oberflächenhafte Verkleidung, nur eine in sich selber wesenlos nichtige Maske des menschlichen Unbewußten: von seinen Stimmungen und Strebungen, deren unbegreifliche Irrationalität und deren elementare Unwiderstehlichkeit jeder persönlichen Willens- und Tatfreiheit entrückt erscheint, hängt zutiefst des Menschen Wesen und Schicksal ab. Demnach erlebt sich auch im neuromantischen Drama der Mensch wesenhaft als passives Objekt des Seins — dem geheimnisvollen Walten der äußeren Umwelt wie der eigenen Innenwelt willen- und wehrlos ausgeliefert" (Sp. 1236 f.). Mit dieser Darstellung trägt Ziegler noch einmal die unhaltbaren Argumente gegen Hofmannsthal vor, die sich schon seit Jahrzehnten durch die Literaturgeschichten hinschleppen und das echte Verständnis für den Dichter erschweren. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, die Phalanx des literarischen Vorurteils zu durchbrechen. ' Arthur Schurig, „Hugo von Hofmannsthal," in Fiechtner, S. 299 ff. Neben den grundlegenden Arbeiten von Waither Brecht, Josef Nadler und Grete Schaeüder müssen hier besonders Richard Alewyns Beiträge zur Hofmannsthalforschung erwähnt werden. Sie sind ursprünglich in verschiedenen Zeitschriften erschienen und liegen jetzt gesammelt vor: Richard Alewyn, Über Hugo von Hofmannsthal (Göttingen, 1958). 5 Lilli Hagelberg, „Hofmannsthal und die Antike," Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, XVII (1924), 58. 4
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Anmerkungen
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• Walter Jens, Hofmannsthal und die Griechen (Tübingen, 1955), S. 90. 7 Elisabeth Steingruber, Hugo von Hofmannsthals Sophokleische Dramen (Winterthur, 1956), S. 128 ff. Es ist bedauerlich, daß die Verfasserin, die Hofmannsthals Griechische Dramen durchaus als mythische Selbstdarstellung des Dichters begreift und deren Deutung in vielen Punkten mit der unseren übereinstimmt, doch das Lebensproblem des Dichters nicht voll erfaßt. Sie betont zwar immer wieder seine Lebenssehnsucht, übersieht aber seine Entschlossenheit zu geistig-sittlicher Selbstbehauptung im Leben. Daher ist der ödipus Hofmannsthals auch für sie ein wehrloses Opfer des triebhaften Blutes. Im Hinblick auf das Buch von Jens stellt die Verfasserin fest, daß seine und ihre „Auffassungen und Interpretationen kaum auseinandergehen" (S. 158).—Das gleiche konventionelle Schema der Interpretation liegt auch dem jüngst erschienenen Aufsatz von Michel Vanhelleputte zugrunde: „Hofmannsthals Ringen um die Tragödie: Eine Beurteilung seiner Entwicklung als Dramatiker in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts," Revue des langues vivantes, XXIV (1958), 231-268. Die kenntnisreiche Darstellung des Verfassers, die sich auf eine Fülle von Quellenmaterial stützt, läuft doch wieder auf die altbekannte These hinaus, in ödipus und die Sphinx gehe es nur um „das vom allgewaltigen Blutstrom geleitete Schicksal, das seine Marionetten am Faden zieht" (S. 257). Nach Vanhelleputtes Auffassung fehlt den Hauptgestalten Hofmannsthals die „paradoxe Wehrfreiheit" (S. 262) gegen das Geschick: „ Sie gleichen kranken Organismen, die sich gegen das sie aufzehrende Fieber nicht mehr zu sträuben vermögen" (S. 263).— Schließlich muß noch besonders auf Edgar Hederers soeben veröffentlichtes Buch Hugo von Hofmannsthal (Frankfurt am Main, 1960) hingewiesen werden, das ohne Zweifel eine der eindrucksvollsten Leistungen der gegenwärtigen Hofmannsthalforschung darstellt. Aber trotz des hohen Ranges der Darstellung ist Hederers Deutung der Griechendramen doch fragwürdig. Bei seiner Interpretation von Elektro und ödipus und die Sphinx hat er im Grunde stets die „christliche" Weltordnung von Jedermann und dem Salzburger Großen Welttheater vor Augen. Er spricht der Metapher des Welttheaters eine höhere Wahrheit zu als der des Lebenstraumes. Das mythische Traumspiel kennt nach Hederer nur die ausweglose Tragik der Helden „in einem gebundenen, in sich verschlossenen Dasein" (S. 288). Im christlichen Mysterienspiel dagegen öffnet sich der Kosmos, und menschliche Freiheit und göttliche Gnade begegnen einander. Die Darstellung der Welt als „Bühne, zu Gott hin offen," bietet „Durchblick ins Ganze, in Überwelt, Erde und Unterwelt.'' Demgegenüber kennen die Griechischen Dramen nach Hederer nur „die verzweifelte Verschließung des Ich und der Welt," eine Verschließung, die sich enthüllt „als das, was sie ist, des Teufels" (S. 289). Unter dem Einfluß christlicher Dogmatik wendet sich also der Verfasser noch entschiedener gegen die Griechendramen als die herkömmliche
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Kritik. Selbstverständlich sind auch für ihn Elektra und ödipus hoffnungslos Preisgegebene: „Eine ursprüngliche Übermächtigung durch den Grund des Lebens will Gestalt annehmen.,Grund'heißt für Hofmannsthal in dieser Phase 3hit.' Ohne Darüber. Das ,Über-ich' ist ein dämonisches, in Licht und Dunkel ungeschiedenes Reich" (S. 147). Wie aus dem zuvor angeführten Zitat hervorgeht, richtet sich jedoch Hederers Argumentation nicht nur gegen die dämonischen Mächte des „Blutes," sondern gegen das „heidnische" Bild des Daseins, das Hofmannstbal nach der Meinung des Interpreten in den Griechischen Dramen entwirft. Eine in sich geschlossene Welt, die nur die Immanenz des Lebens kennt und den Menschen im Lebenstraum gefangen hält, ist nach Hederer grundsätzlich diabolischer Natur. Diese These hat weitreichende Folgen, denn die Metapher vom Lebenstraum ist in Hofmannsthals Werk keineswegs auf die Griechischen Dramen beschränkt. Sie stellt vielmehr ein Leitmotiv dar, das bereits in der Jugenddichtung auftritt und, nach den „christlichen" Werken, in der ersten Fassung des Trauerspiels Der Turm wieder aufgenommen wird. Wäre Hederers Darstellung richtig, dann zerfiele Hofmannsthals Werk in zwei Teile, und dem Interpreten käme die Aufgabe zu, den „christlichen" Dichter gegen den „heidnischen" auszuspielen, Es versteht sich, daß wir uns dieser Auffassung nicht anschließen können. Hofmannsthals Werk ist nicht bestimmt durch einen Dualismus unversöhnlicher Kontraste, sondern es stellt eine durch polare Spannungen im Gleichgewicht gehaltene Einheit dar, die auf komplementären Elementen der antik-christlichen Tradition des Abendlandes beruht. Wie noch zu zeigen sein wird, verbinden sich in Hofmannsthals dichterischem Universum „heidnische" Lebensangst und Lebensseligkeit mit dem „christlichen" Geist der Weltentsagung. Daß der Dichter das „Über-ich" in dem Licht des Geistes und in der Tiefe des Lebens findet, ist die Voraussetzung für den inneren Reichtum seines Werkes, der vor dem zerstörenden Zugriff einer voreingenommenen Interpretation bewahrt werden muß. « Maximilian Harden, "Elektra", Die Zukunft, XII (1904), 349 ff. • Richard Strauß und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel: Gesamtausgabe (Zürich, 1952), S. 135 f. 10 Friedrich Hölderlin, Hyperion, in Sämtliche Werke: Historischkritische Ausgabe, hg. von Norbert v. Hellingrath, II (Berlin, 1923), 291. Das folgende Zitat: S. 135. Zu Hölderlins Schicksalsauffassung vgl. Emil Staiger, Der Geist der Liebe und das Schicksal: Schelling, Hegel und Hölderlin (Wege zur Dichtung: Zürcher Schriften zur Literaturwissenschaft, XIX, Frauenfeld/Leipzig, 1935). 11 Hugo von Hofmannsthal, „Ad me ipsum." Eine von Herbert Steiner zusammengestellte Sammlung des vorliegenden Materials zu Hofmannsthals Selbstdarstellung findet sich in Die neue Rundschau, LXV (1954), 358-380. Neuerdings ist „Ad me ipsum" im abschließenden Band der
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Steinerschen Hofmannsthalausgabe erschienen: Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen (Frankfurt am Main, 1959), S. 211-244. Die folgenden Zitate sind diesem Band entnommen und mit Seitenzahlen in Klammern versehen. Die oben angeführte Wendung findet sich auf S. 227. "Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, IV (Regensburg, 1928), 925. u Hugo von Hofmannsthal, Prosa, IV (Frankfurt am Main, 1955), 411 f. Alle Zitate aus Hofmannsthals Schriften sind Herbert Steiners Ausgabe der Gesammelten Werke entnommen. u Prosa, II (Frankfurt am Main, 1951), 280 ff. 15 Prosa, II, 94-112. " Dramen, II (Frankfurt am Main, 1954), 530. Alle folgenden Zitate aus Elektro und ödipus und die Sphinx sind diesem Band entnommen. Seitenzahlen in Klammern. 17 „Aus Hugo von Hofmannsthals Aufzeichnungen 1890-95," Corona, IX (1939/40), 679. Der letzte Band der Steinerschen Hofmannsthalausgabe, Aufzeichnungen, faßt die Notizen des Dichters zusammen unter dem Titel „Aufzeichnungen und Tagebücher aus dem Nachlaß" (S. 87-210). Unser Zitat steht auf S. 106. 18 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in Gesammelte Werke: Musarionausgabe, III (München, 1920), 73, 62, 112-14. " Corona, IX (1939/40), 679. Vgl. auch Aufzeichnungen, S. 106. i0 Dramen, I (Frankfurt am Main, 1953), 26. Alle folgenden Zitate aus Alkestis sind diesem Band entnommen. Seitenzahlen in Klammern. 21 „Ariadne: Aus einem Brief an Richard Strauß," Prosa, III (Frankfurt am Main, 1952), 138 ff. " Gedichte und lyrische Dramen, 2. Aufl. (1952), S. 190. "Prosa, II, 81 ff. M Alfred Kerr, „Rose Bernd und Elektra," Die neue Rundschau, XIV (1903), 1315 f. "Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit, 2. Aufl. (Leipzig, 1928), S. 522. M Friedrich von der Leyen, Deutsche Dichtung in neuer Zeit, 2. Aufl. (Jena, 1927), S. 237. " E. M. Butler, „Hofmannsthal's Elektra: A Graeco-Freudian Myth," Journal ofthe Warburg Institute, II (1938-1939), 174. n Eine aufschlußreiche Würdigung des Stückes, die den höheren Intentionen des Dichters, besonders im Zusammenhang mit den Problemen der Zeit und der Konfiguration, gerecht wird, findet sich in Gerhart Baumanns Aufsatz „Hugo von Hofmannsthal: Elektra," Germanischromanische Monatsschrift, N. F., IX (1959), 157-182. " Briefwechsel, S. 130.
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Prosa, III, 139. " Prosa, III, 355. a Corona, IV (1933/34), 707. (Vgl. auch Aufzeichnungen, S. 201). Im Zusammenhang mit diesem Zitat stellt Gerhart Baumann in seinem oben angeführten Aufsatz fest, Elektra habe „jeder schicksalhaften Erfüllung ihres Ich sich verweigert" (S. 169). Nach unserer Auffassung geht diese Formulierung zu weit. Baumann selbst berichtigt sich, wenn er späterhin erklärt: „Elektra hatte nur dem Gesetz der Treue gehorcht, und darin erfüllte sich ihr Schicksal" (S. 171). — Wie bereits angedeutet, spricht Hederer Elektra jede geistige und sittliche Würde ab. Er glaubt, das hohe Ideal der freien Hingabe an den Willen des Schicksals werde nur von den Gestalten in Hofmannsthals Mysterienspielen erfüllt. Die Protagonisten der Griechischen Dramen dagegen reden nach seiner Meinimg „als Stimme des .Grundes' und sind ihm in Blutzauber und magischem Zwang gehörig" (S. 150). Bei dieser Auffassung bleibt es jedoch unerklärlich, wieso Hofmannsthal in den „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien" Elektra und Jedermann in ein so enges Verhältnis zueinander bringen kann. 33 A. a. O., S. 355. " Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1900-1909 (Wien, 1937), S. 384. Die angeführte Briefstelle stammt aus einem Schreiben des Dichters an Ernst Hladny, den Verfasser eines Aufsatzes über „Hugo von Hofmannsthals Griechenstücke," erschienen im Jahresbericht des K. K. Gymnasiums in Leoben (1910/12). Dieser Aufsatz war mir nicht zugänglich. " D i e reale Gegenwart ist also nur ein Mittel zum Zwecke dieser magischen Vergegenwärtigung und verliert damit ihren Eigenwert. So ist es nur ein scheinbarer Widerspruch zu unserer Auffassung, wenn Walter Jens in seinem bereits angeführten Buche formuliert: „Elektra kennt keine Gegenwart..." (S. 57). Man könnte sagen: Elektra kennt keine wirkliche Gegenwart, weil sie nur in der magischen Gegenwart lebt. Jens' Theorie, daß Elektra den Tag „vergißt," scheint uns jedoch nicht berechtigt. Es handelt sich vielmehr um einen heroischen Verzicht, der in ihre Selbstaufgabe mit einbegriffen ist und ihr die Kraft der Vergegenwärtigung verleiht. 38 Karl J. Naef, Hugo von Hofmannsthals Wesen und Werk (Zürich, 1938), S. 114. " A. a. O., S. 25. » A. a. O., S. 123. 39 Hugo Wyss, Die Frau in der Dichtung Hofmannsthals: Eine Studie zum dionysischen Welterlebnis (Zürich, 1954), S. 57. 40 „Aus Hugo von Hofmannsthals Tagebüchern," Corona, VI (1935/36), 568. Vgl. auch Aufzeichnungen, S. 131. 41 Grete Schaeder, die grundlegende Beiträge zur Hofmannsthalforschung geleistet hat, ist sich dieser Zusammenhänge bewußt. In ihrem
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Aufsatz „Hugo von Hofmannsthals Weg zur Tragödie" stellt sie fest: „Die Blut- und Opfermagie der Griechendramen verwirklicht die mystische Alleinheit, um die es in Hofmannsthals Jugend ging, das All im Ich, das der .Traum von großer Magie' bedeutet, vom Unbewußten her . . ." (Deutsche Vierteljahrsschrift f . Lw. u. Gg., XXIII [1949], 328). Walter Jens, dessen materialreiches Buch Hofmannsthal und die Griechen bereits erwähnt wurde, hat dagegen keinen Blick für das dionysische Mysterium, das sich in Elektro ereignet. Zwar beendet er sein Kapitel über dieses Stück mit der Feststellung, es biete „ein Bild dionysischer Düsterkeit, bei dessen Vollendung der vernichtete Zagreus wieder [auflebe]" (S. 74). Aber er zeigt nicht, auf welche Weise dies geschieht. Er kann es auch gar nicht zeigen, denn er interpretiert Elektra einseitig unter dem Gesichtspunkt der Tat und meint, sie habe ihr wahres Selbst im Wunschbild einer „zielbewußten Täterin" finden wollen, das sie doch niemals verwirklichen konnte. Daher kommt auch er zu der Schlußfolgerung: „Elektras Versuch, ganz sie selbst zu sein, ist gescheitert" (S. 65). Der Zusammenhang zwischen Elektras Leben und ihrem Tod wird von ihm unterbrochen, indem er einerseits erklärt, Hofmannsthal habe eine Elektra schaffen wollen, „die sich umso weiter von sich selber [entferne], je mehr sie auf sich zuzukommen [glaube]" (S. 69), andererseits aber einräumt, Elektra komme „im Tode ganz zu sich selbst" (S. 67). Für ihn erscheint Elektra „in jenem Augenblick vollkommen, da sie als Scheiternde . . . in der Vernichtung ihrer selbst erfahren muß, daß es ihr Schicksal war, sich nicht verwandeln zu dürfen" (S. 67). Aber in Wirklichkeit kennt und bejaht Elektra ihr Schicksal schon vorher, wie z.B. aus ihrem Dialog mit der Mutter hervorgeht. Daß sie sich als Individuum aufgibt, weist schon auf ihren Tod als höchsten Ausdruck ihres Selbstopfers hin, in dem das „ganze Haus" wieder hergestellt wird. Für Elektras Auftrag der Weltversöhnung hat Jens jedoch überhaupt keinen Blick. Im Gegensatz zu der Elektra des Sophokles, die ein Glied des Atreus-Geschlechts sei, habe Hofmannsthals Heldin nur eine einzige Aufgabe: „Elektra zu sein" (S. 68). Der moderne Dichter habe „die mit Aischylos beginnende Entwicklung zu Ende geführt und Elektra statt der Aufgabe, die bedrohte Welt wiederherzustellen, das Grundthema unterlegt: zu sich selbst zu finden" (S. 68). Demgegenüber ist zu betonen, daß gerade bei Hofmannsthal beides durch das Motiv der Opfermagie unlösbar miteinander verbunden ist. — Auch Hederer hat kein Verständnis für die ethische und ästhetische Bedeutung des Selbstopfer-Motivs. Zwar sieht er ein, daß die Bezeichnung Elektras als „Priesterin und Schlachtopfer zugleich" eng zusammenhängt mit dem, was in Hofmannsthals „Gespräch über Gedichte" ausdrücklich „vom Zustandekommen jedes wahren Symbols gesagt [wird]: der Redende stirbt hinüber in das Angeredete . . . " (S. 147). Die Grundidee des Dichters, daß im Vorgang des Selbstopfers die Einsamkeit des Individuums
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überwunden wird, bleibt jedoch in Hederers Deutungganz unberücksichtigt. Daher sieht er, so wie Jens, Elektra als ganz in sich selbst verschlossene Gestalt, die scheitert, „weil sie mit der Tat, zu der sie sich berufen sieht, nur an sich selbst festhält" (S. 143). Immer wieder betont er, Elektra bleibe „mit ihrer Rache verzweifelt nur sie selbst" und kenne „nichts, das jenseits ihrer Selbstempfindung wäre" (S. 148). Wir fragen uns, wie der Interpret seine Deutung mit den oben angeführten Worten des Dichters Uber die Identität Elektras mit dem Geschick, mit Vater und Mutter vereinbaren will. "Durch den Gebrauch der Worte „Glück" und „glücklich" in den letzten Versen von Elektra wird die Erinnerung an den Untertitel von Das kleine Welttheater geweckt, der Die Glücklichen lautet. In „Ad me ipsum" erläutert Hofmannsthal diesen Untertitel: „Jeder dieser Glücklichen irgendwie noch Angehöriger der höchsten Welt" (215). An anderer Stelle wird Das kleine Welttheater als „Bekehrung zur Einheit" bezeichnet (225). tt Maximilian Harden: „. . . Geschlechtsbefriedigung, Erfüllung ihres Weibwesens" (a. a. O., S. 356). Naef: „ . . . dieses Sich-aufbäumen, dieser ekstatische Siegestaumel, dieser hysterische Brunstschrei" (a. a. O., S. 118) — „Im Tode zeigt sie ihr wahres Gesicht: es ist der Wahnsinn, die Fratze ihrer Mutter" (a. a. O., S. 123). Wyss: „Die Rache des emanzipierten, aber glühend sinnlichen Weibes hat nur zu einer perversen Brunst und Selbstzersetzung geführt" (a. a. O., S. 57). "Vgl. Hofmannsthals Brief an Ernst Hladny, abgedruckt in Briefe 1900-1909, S. 384. " Erwin Rohde, Psyche: Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 3. Aufl., II (Tübingen und Leipzig, 1903), 27. 44 Wie weit Elektra von der orgiastischen Sinnlichkeit des bacchantischen Taumels entfernt ist, läßt sich aus einem Vergleich zwischen der Szene ihres Todes und der Traumvision Aschenbachs in Thomas Manns Der Tod in Venedig ablesen. 47 Jens, S. 65, 67. 48 Aus einem Brief Hofmannsthals an Burckhardt: Carl J. Burckhardt, Erinnerungen an Hofmannsthal und Briefe des Dichters (Basel, 1943), S. 62. Neuerdings in Hugo von Hofmannsthal und Carl J. Burckhardt, Briefwechsel (Frankfurt am Main, 1956), S. 104 f. " Prosa, II, 38-56. 40 Hugo von Hofmannsthal und Eberhard von Bodenhausen, Briefe der Freundschaft (o. O., 1953), S. 51. " Bereits im Jahre 1902 berichtet Hofmannsthal in einem Brief von dem Plan, „eine seltsame .Orestie' in zwei Teilen" zu schreiben, „der erste Teil Orest — Elektra, mit dem Muttennord, der zweite Orest in Delphi, mit dem Verhältnis Orest — Hesione" (Briefe 1900-1909, S. 74). Das geplante Stück Orest in Delphi sah Hofmannsthal nach einem Brief aus
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dem Jahre 1903 „als innerlich untrennbaren zweiten Teil," der als Gegensatz zum Elektradrama mit „seiner fast krampfhaften Eingeschlossenheit, seiner gräßlichen Lichtlosigkeit" wirken sollte (Briefe 1900-1909, S. 132). " Hofmannsthals Interesse an diesem Thema geht auf das Jahr 1904 zurück. In einem Brief aus Venedig bemerkt er: „Ich wollte hier .Jedermann' anfangen, da fiel mir ein französisches Stück ,ödipus und die Sphinx' in die Hände, und der Stoff gefiel mir so sehr, daß ich sogleich anfing, das gleiche zu machen. Es wird ein sehr kurzes Stück in drei Aufzügen, ein hymnenartiges, lyrisches Drama (zirka 1500 Verse), ein Vorspiel zum Oedipus rex des Sophokles" (Briefe 1900-1909, S. 165). Das erwähnte französische Stück ist Oedipe et le sphinx (1903) von Joséphin Péladan. Selbst wenn Hofmannsthal sich hier vornimmt, „das gleiche zu machen," so ist das Ergebnis doch eine echte Schöpfung seines Geistes. Er benutzt Péladans Akteinteilung und sein Handlungsgerüst, so weit es für die Darstellung der eigenen Problematik geeignet ist; er baut die Konfiguration durch die Einfügung der Gestillten Kreons und Antiopes aus und gibt besonders der Begegnung zwischen Ödipus und der Sphinx eine vertiefte Bedeutung, die auf dem Opfermotiv beruht. Zu dem Verhältnis von Hofmannsthals und Péladans Drama vgl. Konrad Schrögendorfer, ,, ödipus und die Sphinx bei Péladan und Hofmannsthal," in Festschrift für Eduard Castle: Zum achtzigsten Geburtstag gewidmet von seinen Freunden und Schülern (Wien, 1955), S. 109-121. " Hier zeigt sich Hofmannsthals Auffassung des Schicksalsproblems im Unterschied zu der Péladans besonders deutlich. Wie Schrögendorfer betont, wird bei Péladan „das Problem des Willens und der menschlichen Tatkraft in den Vordergrund geschoben." Sein ödipus ist der homme créateur, der dem Ungeheuer entgegentritt und „kraft seines Willens das Chaos besiegt. Intelligenz siegt über Stärke. Die Sphinx muß dem ödipus ,au nom de la lumière' weichen" (a. a. O., S. 117). M König ödipus (Dramen, II, 419-487). Der Erstdruck, der im Jahre 1907 in der österreichischen Rundschau erschien, trug den Titel: „ödipus der König. Tragödie von Sophokles, mit einiger Freiheit übertragen und für die neuere Bühne eingerichtet." Das Verhältnis von Hofmannsthals Übersetzung zu dem Sophokleischen Original behandelt Elisabeth Steingruber ausführlich in ihrem bereits erwähnten Buche (S. 11-61). " Briefe 1900-1909, S. 166. Der Grundgedanke der Trilogie findet sich in mehreren Briefen an Gertrud Eysoldt (S. 211, 218) und wird von Hofmannsthal auch dann noch festgehalten, als sich die Aufführung des geplanten Gesamtwerks zu dem vorgesehenen Zeitpunkt als unmöglich erweist : „Es handelt sich nur um ödipus und die Sphinx, wir spielen zunächst nur dieses Stück, später dann den König ödipus und das Nachspiel" (S. 221). 14 Neben dem bereits erwähnten Aufsatz von Grete Schaeder über
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„Hugo von Hofmannsthals Weg zur Tragödie" ist ihr Buch über den Dichter heranzuziehen, das unter dem Titel Die Gestalten erschienen ist, in Neue Forschung, No. 21/1 (Berlin, 1933). Unter den sehr beachtenswerten Aufsätzen von Hans Heinrich Schaeder ist für unser Thema von grundlegender Bedeutung: „In memoriam Hugo von Hofmannsthal," Die Antike, V (1929), 221 ff. Neben den Literaturgeschichten Nadlers vgl. besonders die Gedenkrede „Hugo von Hofmannsthal," Corona, II (1931/32), 206 ff. " Die Zukunft, XIV (1906), 346 ff. " A . a. O., S. 138, 130. Wie die meisten Interpreten ist auch Eduard Lachmann davon überzeugt, daß am Schluß von ödipus und die Sphinx die Mächte des Blutes über den Menschen triumphieren: „. . . zu den dithyrambischen Versen von ödipus und Jokaste tönt aus dem Abgrund höhnisches Gelächter herauf" (Eduard Lachmann, „Hofmannsthals Drama ,Ödipus und die Sphinx'," in Festschrift für Moriz Enzinger zum 60. Geburtstag [Innsbruck, 1953], S. 151). Unter allen Kommentaren zeichnet sich dieser Aufsatz durch besondere „Sachkenntnis" aus. Obwohl der Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen der geplanten Ödipustrilogie auch dem oberflächlichsten Betrachter deutlich sein müßte, obwohl Hofmannsthal in den bereits angeführten Briefen ödipus und die Sphinx ganz klar als Vorspiel zu seiner Sophokles-Übersetzung König ödipus bezeichnet, der wiederum ein Nachspiel folgen sollte, bringt Lachmann es fertig, die Teile dieses Gesamtplans durcheinander zu werfen und festzustellen: „Hofmannsthals Tragödie . . . ist das Mittelstück einer Trilogie, von der der erste Teil nicht geschrieben wurde, der dritte Teil durch Hofmannsthals Bearbeitung von Sophokles' ödipus Rex ersetzt werden sollte" (S. 151). 40 Wie schon erwähnt, hat Elisabeth Steingruber keinen Blick für diese Art von Freiheit. Mit der Mehrzahl der Kritiker glaubt sie, daß in Hofmannsthals Stück ein unerschütterlicher Determinismus walte: „Ausgeliefert sind die Helden ihrem Geschick, sie vermögen nichts dafür und nichts dagegen" (S. 121). Und an anderer Stelle: „Da sind die Menschen geheimnisschweren Mächten ausgeliefert; dunkle Gewalten wühlen im Blut. . . " (S. 142). " Auch in diesem Zusammenhang verkennt Steingruber die wahren Intentionen Hofmannsthals. Sie hat kein Verständnis für sein Bemühen, in ödipus und die Sphinx die gegenseitige Durchdringung des Geistigen, Sittlichen und Triebhaften darzustellen. Daher sieht sie ihn zu Unrecht im Zeichen Nietzsches als geistfeindlichen Anbeter der elementaren Vitalität: „Beide, Nietzsche und Hofmannsthal, wollen aus der Welt, in der das Denken und der Begriff sich vor das Leben gestellt haben, heraus, hinein in eine Welt, in der das Leben in ursprünglicher Unmittelbarkeit
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und Macht den Menschen durchrauscht: aus der Gedankenüberfulle und Lebensarmut hinein in die Lebensfulle, wo Fühlen und Erleben das Denken überströmen, wegspülen" (S. 141 f.). Im Gegensatz dazu glaubt Vanhelleputte in dem bereits angeführten Aufsatz einen maßgebenden Einfluß Schopenhauers auf die Metaphysik von ödipus und die Sphinx feststellen zu können. Der „transzendente Blutstrom" erscheint ihm als eine „dichterische Übertragung des Schopenhauerschen Willens," und er kommt zu der Schlußfolgerung: „Wie Schopenhauer das Abwenden des Willens vom Leben als letztes Ziel des zeitlichen Daseins erkannte, so läßt Hofmannsthal das rasende Blut sich selbst verneinen, indem er in der Abkehr von der Gier dessen Endzweck erkennt" (S. 259). Infolgedessen besteht nach der Meinung des Verfassers „kein Zweifel mehr darüber, daß Hofmannsthal hier Schopenhauers Metaphysik auf die Bühne bringt" (S. 261). Wir glauben demgegenüber gezeigt zu haben, daß Hofmannsthal weder auf die Philosophie Nietzsches noch auf die Schopenhauers festgelegt werden kann. Trotz seiner engen Verbundenheit mit dem zeitgeschichtlichen Hintergrund ist die geistige Freiheit doch ein unabdingbares Element seines Schöpfertums. » Briefe 1900-1909, S. 212 f. « Corona, VI (1935/36), 63. Vgl. auch Aufzeichnungen, S. 158. M Gedichte und lyrische Dramen (1952), S. 534. Der Erstdruck von Der Tor und der Tod erschien in Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1894 (München, 1894). Nach Herbert Steiners Mitteilung stehen die angeführten Verse dort in Klammern. " „Die Briefe des Zurückgekehrten / Der vierte," Prosa, II, 343-352. " „Der neue Roman von d'Annunzio," Prosa, I (Frankfurt am Main, 1950), 274. " Rudolf Alexander Schröder, „In memoriam Hugo von Hofmannsthal," Die neue Rundschau, XL (1929), 594. " Dramen, II, 534 ff. *' Diese Aufzeichnung wurde von Richard Alewyn in einem Aufsatz über „Andreas und die .Wunderbare Freundin*" mitgeteilt (Euphorion, XLIX [1955], 446-482). Neuerdings abgedruckt in der Aufsatzsammlung Alewyns Über Hugo von Hofmannsthal, S. 105-141. Unser Zitat: S. 139 f. ,0 Walter Jens kann keine Einsicht in diese Zusammenhänge haben, weil für ihn die Sphinx das „Gesetz der Lebensverneinung" (S. 90) verkörpert. Er rückt damit den Boten des göttlichen Schicksals in eine höchst bedenkliche Nähe zu Lalos und Kreon, dem „Verneiner des Lebens" (S. 89). Wenn er dann noch in Übereinstimmung mit Naef erklärt " . . . die Sphinx bleibt wahrer Sieger" (S. 87), so muß Hofmannsthals Drama in der Tat als eine Verherrlichung des Nichts erscheinen. Damit hat allerdings der Interpret die Absichten des Autors ins Gegenteil verkehrt. — Auch Steingruber wird dem komplexen Verhältnis zwischen ödipus und der
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Sphinx nicht gerecht. Für sie ist die Sphinx die „Verkörperung des Lebensrätsels," das ödipus schon beim Aufstieg zu ihrer Höhle löst, indem er seinen von Qualen überwältigten und um den Gnadentod flehenden Vorgänger in die Schlucht stürzt. Als bewährter Täter hat es ödipus nach Stein grubers Auffassung nun sehr leicht. Er braucht nur noch vor der Sphinx zu erscheinen, „so stürzt sie sich schon in den Abgrund" (S. 110). So einfach liegen die Dinge doch wohl nicht! 71 Walter Höllerer, Zwischen Klassik und Moderne: Lachen und Weinen in der Dichtung einer Obergangszeit (Stuttgart, 1958). Zu unserem Thema vgl. die Kapitel über Grabbe, Heine und Büchner. 71 Hugo von Hofmannsthal, Buch der Freunde: Tagebuch-Aufzeichnungen (o. O., 1949), S. 55. Es ist bezeichnend, daß Hofmannsthal den Untertitel seines Romanfragments, Die Vereinigten, a u c h in diesem Sinne verstanden wissen wollte. Daher sagt er von den Hauptgestalten: " . . . für jeden geht es um das Eins-werden mit sich selber" (Notiz, mitgeteilt von Alewyn, Euphorion, XLIX [1955], 473). "Walter Jens verrät seinen Mangel an Verständnis für die Identifizierung von Wir und Welt dadurch, daß er diese entscheidende Stelle falsch zitiert. Bei ihm lautet sie: „. . . wir sind ganz allein auf der Welt" (S. 89; von mir gesperrt). Dieses Fehlzitat beruht nicht etwa auf einem technischen Versehen, denn es kehrt in den Ausführungen des Interpreten wieder. Der vermeintliche Glaube der Liebenden, „allein auf der Welt zu sein" (S. 90), muß Jens in seiner irrigen Auffassimg bestärken, Hofmannsthal löse seine Helden aus dem kosmischen Zusammenhang und sei nur an ihrer Selbstverwirklichung interessiert. Wir haben demgegenüber zu zeigen versucht, daß in dem Schicksalsauftrag des ödipus Selbstintegration und Weltintegration zusammenfallen. Die von Jens vertretene Deutung ignoriert die Vater-Sohn-Problematik in Hofmannsthals Stück. In der Tat schenkt er der Gestalt des Lalos kaum Beachtung. '•Vgl. dazu meinen Aufsatz „Eros und Ethos in Hofmannsthals Lustspielen," Deutsche Vierteljahrsschrift f . Lw. u. Gg., XXX (1956), 449-473. 75 Rudolf Borchardt, „Brief über das Drama an Hugo von Hofmannsthal," in Gesammelte Werke in Einzelbänden, Prosa, I, hg. v. Maria Luise Borchardt (Stuttgart, 1957), 77-85.