Systemische Streifzüge: Herausforderungen in Therapie und Beratung 9783666403637, 9783525403631, 9783647403632


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Systemische Streifzüge: Herausforderungen in Therapie und Beratung
 9783666403637, 9783525403631, 9783647403632

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Julika Zwack / Elisabeth Nicolai (Hg.)

Systemische Streifzüge Herausforderungen in Therapie und Beratung

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

Mit 13 Abbildungen und einer Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40363-2 Umschlagabbildung: Joy Rector/shutterstock.com © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort von Julia Zwack und Elisabeth Nicolai . . . . . . . . . . . . 9 Julika Zwack und Angelika Eck Ambivalenz hat viele Gesichter: Begegnungen mit der Zwiespältigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Elisabeth Nicolai Psychiatrische Krisen bei Menschen mit geistiger Behinderung: Geschichten über Rätsel und bleibende Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Ulrike Borst Zwickmühlen in der Therapie mit Klienten mit »chronischen« Selbstkonzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Andrea Ebbecke-Nohlen Symptome – Diagnostik – Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Rainer Schwing Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Warum Netzwerkarbeit die systemische Königsdisziplin werden sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Björn Enno Hermans »Für die anderen die Hoffnung erfinden«: Praxiserfahrungen mit Multifamilientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

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Inhalt

Wolf Ritscher Familiäre Beziehungsmuster: Ein Entwurf aus familiendynamischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Eia Asen Neue Familien – neue Dilemmata? Lernprozesse für Familientherapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Rüdiger Retzlaff Der Umgang mit von körperlichen Krankheiten betroffenen Patienten – eine Herausforderung für die systemische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Arist von Schlippe Unternehmensfamilien als Herausforderung für die systemische Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Fritz B. Simon Psychotherapeuten als Coaches und Organisationsberater: Was sie lernen sollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Tom Levold Die Perspektive der »ganzen Person«. Zur gesellschaftlichen Verantwortung von Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Matthias Ochs und Julia Thom Psychotherapie(-forschung) in postpolitischen Zeiten . . . . . . 212 Wilhelm Rotthaus Warum systemische Therapeutinnen und Therapeuten sich mit Kunst befassen sollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Christina Hunger-Schoppe Betrachtungen einer interkulturell systemischethnologischen Haltung: Ergänzungen für eine interkulturelle systemische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

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Inhalt7

Mechthild Reinhard 2 x 2 = Grün: Vertrauen ins Vertrauen als hypnosystemische Kernkraft für menschenwürdige (Selbst-)Organisationen . . . 282 Susanne Altmeyer, Michaela Herchenhan und Björn Enno Hermans How to develop a systemic organization: Die Anwendung der generischen Prinzipien auf die Vorstandsarbeit in einem systemischen Verband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

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Vorwort

Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden. Emmanuel Levinas

Zu den Privilegien therapeutischer und beraterischer Arbeit gehört die Tatsache, dass die Rätsel nicht aufhören. Menschen in unterschiedlichsten Kontexten und Situationen fordern uns heraus, werfen neue oder andauernde Fragen auf. Eher von Fragen als von Antworten geleitet zu werden, ist dabei ein Kernmerkmal systemischer Arbeit – und die Voraussetzung für die Weiterentwicklung des eigenen Feldes. Die in diesem Band versammelten Autoren lassen sich von unterschiedlichsten Fragen herausfordern. Julika Zwack und Angelika Eck loten aus, welche Verführungen verschiedene Spielarten von Ambivalenz mit sich bringen und wie hilfreich auf sie geantwortet werden kann. Elisabeth Nicolai erzählt Geschichten von Rätseln und Herausforderungen in der systemischen Arbeit mit psychiatrischen Patienten mit geistiger Behinderung. Ulrike Borst geht der Frage nach, welche Zwickmühlen sich in der Begleitung von Klienten mit »chronischen« Selbstkonzepten auftun und welche Haltungen und Interventionen sich hierbei bewähren. Andrea Ebbecke-Nohlen beleuchtet die Frage, wie sich Diagnostik und systemische Therapie für Klienten sinnstiftend verbinden lassen. Im Mittelteil des Buches stehen Herausforderungen aus Jugendhilfe, sozialer Arbeit und Familientherapie im Zentrum. Rainer Schwing legt eindrucksvoll dar, warum Netzwerkorientierung bereits heute zu den zentralen Wirkfaktoren systemischer Therapie und Beratung gehört und warum es sich lohnt, sie auch dort, wo sie noch wenig(er) Einzug gehalten hat, zur Königsdisziplin zu machen. Björn © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Vorwort

Enno Hermans lädt zu einem Streifzug durch die Multifamilientherapie und beschreibt, auf welche Weise Hoffnung in scheinbar hoffnungslosen Konstellationen entstehen kann. Wolf Ritscher schärft den Blick für prototypische Beziehungsmuster in familiären Dynamiken und geht der Frage nach, wie diese weiterentwickelt werden können. Eia Asen weitet unseren fachlichen Horizont im Hinblick auf die Arbeit mit »neuen Familien« im Zuge der Reproduktionsmedizin – Familien, in denen biologische, soziale und psychologische Elternschaft keine selbstverständliche Einheit mehr bilden. Rüdiger Retzlaff fokussiert die spezifischen Herausforderungen systemischer Therapie mit von körperlicher Erkrankung betroffenen Menschen und deren Angehörigen. Arist von Schlippe und Fritz Simon widmen sich Fragen systemischer Beratung in organisationalen Kontexten. Warum Konflikte in Unternehmerfamilien oft so verfahren sind und wie dennoch hilfreich interveniert werden kann, ist Thema des Beitrags von Arist von Schlippe. Fritz Simon beleuchtet Fallstricke psychotherapeutischer Denkgewohnheiten im Umgang mit organisationalen Problemstellungen und illustriert zentrale Prämissen systemischer Organisationstheorie. Die Kapitel im hinteren Teil des Buches sind unterschiedlichsten Grundsatzfragen gewidmet. Ausgehend von der Luhmann’schen Gesellschaftstheorie stellt Tom Levold die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Psychotherapie und leitet daraus grundlegende Wertorientierungen für Psychotherapeut/-innen ab. Matthias Ochs und Julia Thom wagen den Entwurf einer postpolitischen, systemisch fundierten Psychotherapieforschung. Wilhelm Rotthaus und Christina Hunger-Schoppe gehen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen systemischer Therapie und Kunst bzw. Ethnologie nach. Mechthild Reinhard nimmt uns mit auf eine reflexive Reise und erforscht, woraus sich das »Vertrauen ins Vertrauen« als Ausgangsund Zielpunkt einer würdigen Selbstorganisation speisen kann. Den Band beschließen Susanne Altmeyer, Michaela Herchenhan und Björn Enno Hermans, die ihre Arbeit als Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) systemtheoretisch und multiperspektivisch durchleuchten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

Vorwort11

Gewidmet sind dieses Buch und die in ihm versammelten Beiträge Jochen Schweitzer. Wer ihn kennt, weiß, dass er in besonderer Weise die Vielfalt systemischen Arbeitens verkörpert und sich anwendungsorientierten Herausforderungen ebenso stellt, wie Fragen der Psychotherapiepolitik – und -forschung. Bei unseren eigenen professionellen Streifzügen war und ist uns Jochen Schweitzer ein inspirierender und ermutigender Begleiter. Wir sind gespannt, wohin ihn seine Streifzüge in den kommenden Jahren noch führen, und wünschen ihm hierfür die Beibehaltung seiner besonderen Neugier, Beharrlichkeit und Tatkraft. Julika Zwack und Elisabeth Nicolai

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Julika Zwack und Angelika Eck

Ambivalenz hat viele Gesichter: Begegnungen mit der Zwiespältigkeit

Die menschliche Not und Fähigkeit, sich ambivalent zu erleben, durchzieht das Therapie- und Beratungsgeschehen. Der klassische Entscheidungskonflikt samt seiner emotionalen Begleiterscheinungen ist dabei nur das bekannteste von vielen Gesichtern der Ambivalenz. Unabhängig davon, in welcher Gestalt sich Ambivalenz zeigt, birgt sie in der therapeutischen Praxis eine Fülle von Verführungen und Fallstricken für Klient wie Berater. Anliegen dieses Beitrags ist es deshalb, verschiedene Manifestationen von Ambivalenz in der Beratungspraxis erkennbarer zu machen und diese mit unterschiedsbildenden Interventionen zu verbinden.

Der Ambivalenzbegriff Der Ambivalenzbegriff geht auf Bleuler (1914, S. 95) zurück. Er definiert: »›Ambivalenz‹ bezeichnet zunächst eine doppelte Wertung, die naturgemäß meist eine gegensätzliche ist. Die Wertung kann eine affektive oder eine intellektuelle sein, d. h. eine Idee kann mit positiven oder mit negativen Gefühlen betont oder sie kann positiv oder negativ gedacht werden. Affektive und intellektuelle Ambivalenz sind also zwei sehr verschiedene Dinge. Sie haben aber so viele Berührungen miteinander und gehen so ineinander über, dass es mir besser schien, aus beiden einen Begriff zu machen.«

Die Definition zeigt auf, wer oder was in einem System im Widerstreit zueinander stehen kann. Ich kann das eine denken und das andere fühlen: der klassische Kampf zwischen Herz und Verstand. Genauso möglich sind widersprüchliche Gefühls- oder Gedankenlagen, die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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sich als affektive Berg- und Talfahrten bzw. endlose Pro-KontraListen im Kopf manifestieren. Ambivalenz bezeichnet nach diesem Verständnis das konflikthafte Erleben einer Polarität oder Paradoxie.

Wie tickt die Ambivalenz? Zur Organisation einer Pendelbewegung Wer an Ambivalenz denkt, hat meist inhaltliche Polaritäten im Kopf (»gehen oder bleiben«; »ansprechen oder abwarten«). Das begleitende Druckgefühl entstammt der Entweder-oder-Logik, die Eindeutigkeit fordert, wo Mehrwertigkeit herrscht. Die zur Ambivalenz gehörenden Pendelbewegungen folgen zudem bestimmten zeitlichen Mustern (»morgens denke ich, ich muss kündigen – abends denke ich, ich bleibe lieber«). Die Frequenz der Oszillation variiert – das oft quälende Hin und Her kann sich in verschiedensten Rhythmen vollziehen. Diese intrapsychische Ambivalenz kann mit Hilfe vorbewusster Delegationsmechanismen auch sozial ausgetragen werden. Der Kampf zwischen gegensätzlichen Polen verteilt sich dann auf mehrere Personen (»sie klammert, er blockt«; »umso hoffnungsvoller der Therapeut, desto skeptischer der Klient«). Auch wenn sich die beteiligten Individuen hierbei durchaus ambivalenzfrei erleben können, erfüllt der sich ergebende interaktionelle Tanz oft die Funktion, eine tieferliegende emotionale Zwiespältigkeit nicht, nur begrenzt oder zeitverzögert zu konfrontieren (»Jetzt, wo ich sie weggeschickt habe, merke ich, dass ich sie auch vermisse«). Die hier angesprochenen Dimensionen (»zeitlich, sachlich, sozial«) entsprechen den von Niklas Luhmann (1984) definierten Dimensionen zur Strukturierung von Sinn. Ambivalenzdiagnostisch bieten sie ein erstes Orientierungsraster: 1. Die soziale Dimension: Wer vertritt welchen inhaltlichen Pol im relevanten Bezugssystem, welche Interaktionsmuster entspinnen sich hierum – und welche individuellen Ambivalenzen werden über die soziale Polarisierung gegebenenfalls maskiert? 2. Die sachliche Dimension: Welche inhaltlichen Pole werden vom Klient bzw. dem Klientensystem aufgespannt? Dabei gilt es stets mitzudenken, dass die gewählte Unterscheidung nur eine von vielen möglichen ist. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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3. Die zeitliche Dimension: Wodurch wird der Takt des AmbivalenzPendels bestimmt? Wann kippt es vom einen zum anderen Pol? Durch welche äußeren und inneren Ereignisse wird das, was eben noch stimmig, plausibel und richtig war wieder zweifelhaft? Wie lange schlägt das Pendel schon (Tage, Monate, Jahre) und welche zwischenmenschlichen und leibseelischen Spuren hat dies hinterlassen? Auch wenn die Begleiterscheinungen von Ambivalenz oft eher als statisch empfunden werden (»gelähmt in Entscheidungsunfähigkeit«, »auf der Stelle treten«), mündet die Aufspannung der »doppelten Wertung« in der Zeit stets in eine bestimmte Bewegung. Dies gilt auch für die konkrete Entfaltung sozial organisierter Ambivalenz: Kommunikation schließt an Kommunikation an (»sagst du A, sage ich B«). Die Art und Weise, wie ein oder mehrere Klienten sich in ihrer Ambivalenz bewegen, ist dabei oft Teil des Problems und mit aufrechterhaltende Bedingung. Das Verständnis der jeweils charakteristischen Ambivalenzbewegung eröffnet deshalb die Chance auf unterschiedsbildende Angebote – durch Nachvollziehen und gegebenenfalls Neu- oder Andersvollziehen von Bewegungen. Im Folgenden skizzieren wir prototypische Ausgangsdynamiken mit dem Ziel, das differenzialdiagnostische Gespür für unterschiedliche Ambivalenzgesichter zu schärfen und damit die Zahl möglicher Reaktionen auf der Seite von Therapeut und Berater zu erhöhen.

Das bekannteste Gesicht der Ambivalenz: Entscheidungskonflikte Zu Entscheidungskonflikten gehört eine leidvolle Ambivalenz, ge­ prägt von Zerrissenheitsgefühlen, Lähmung und oft verzweifelten Suchprozessen. Betroffene Klienten fühlen sich ihrer Zwiespältigkeit auf eine unauflösliche Weise ausgeliefert. Ohnmacht und Handlungsdruck schicken Berater und Klient auf die naheliegende Suche nach Eindeutigkeit – eine Grundverführung, die oft zur Ausdehnung der Lähmung vom Klienten auf den Berater führt oder Entscheidungen gebiert, deren Tragfähigkeit sich als dürftig erweist. Zwei alternative Bewegungsrichtungen erweisen sich oft als nützlicher: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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1. von der Zerrissenheit zur bejahten Widersprüchlichkeit, 2. von der richtigen zur verantworteten Entscheidung. Von der Zerrissenheit zur bewusst durchlebten Wider­ sprüchlichkeit: Alles hat seine Zeit – auch die Ambivalenz Frau B. hadert mit sich. Schon lange ist sie unzufrieden mit ihrem Arbeitsplatz, bisher sind alle Wechselversuche daran gescheitert, dass der jetzige Arbeitgeber Sicherheiten bietet, die an anderer Stelle nicht zu haben sind. Im Gespräch wird deutlich, dass es viele gute Wechselgründe gibt, die zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht ausreichend Kraft annehmen. Auch der Gedanke, an der jetzigen Stelle zu verweilen, fühlt sich »unerträglich« an. Im Gespräch erkunde ich (J. Z.) bisherige Versuche, zu mehr Klarheit zu gelangen. Diese konzentrieren sich wesentlich darauf, die Entscheidungsalternativen zu schärfen (»noch mehr Informationen über die Aufstiegsmöglichkeiten an Stelle A«; »Was wäre, wenn ich B jetzt absage …«). Das Scheitern dieser Bemühungen im Hinblick auf eine klare Entscheidungsfindung verschärft Frustration, Selbstabwertung und Handlungsdruck auf Seiten der Klientin. Ich plädiere dafür, die bisherigen Erfahrungen ernst zu nehmen (»Was, wenn sich darin etwas Wichtiges zeigt?«), und deute die Gesamtsituation so, dass die Zeit möglicherweise noch nicht reif ist für eine Entscheidung. Die Klientin verlässt die Beratung mit der expliziten inneren Erlaubnis, noch eine Weile zwischen den Polen zu pendeln und zu beobachten, ob sich im Verlauf der Zeit die Gewichte verschieben. Erst nach acht Wochen will sie sich erneut der Entscheidung zuwenden. Aus »es passiert nichts« wird »ich entscheide mich für aufmerksames Weiterreifen«.

Die Bewegung von der Zerrissenheit in die einstweilige Bejahung der Ambivalenz ist wesentlich durch das Zugeständnis charakterisiert, dass Entscheidungsfindung einem Reifungsprozess gleicht, der nur begrenzt beschleunigt werden kann. Dass »ausgetragene« und bewusst ausgehaltene Ambivalenz bereits verändert, verdeutlicht die Metapher des Weberschiffchens von Derrida (1988): Wie das Weberschiffchen im Verlauf des Hin- und Hersegelns einen eigenen Teppich erzeugt, so führt auch die innere Hin- und Her- Bewegung der Unentscheidbarkeit über die Zeit zu einer eigenen Struktur. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Über die Zeit webt sich ein emotionaler Teppich, der die Grundlage für die Entscheidung oder etwas Neues, bisher Undenkbares bildet. Die Ambivalenz erreicht eine Sättigung (»Ich habe es satt«), eine Gelegenheit tut sich auf und es ist klar »die will ich ergreifen«, oder es wird spürbar, dass ich nicht entscheiden werde, sondern auf eine Entscheidung von außen warte. Indem der Klient die Ambivalenz als Teil eines notwendigen Prozesses begreift, wird aus dem quälenden Hin und Her über die Zeit eine verändernde Erfahrung. Methodisch haben hierzu auch Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer (2005) mit der szenischen Durchwanderung des Tetralemmas ein wertvolles, dem Webeprozess analoges Vorgehen vorgeschlagen. Die fünf Positionen »das eine, das andere, beides, keines von beidem, all dies nicht und auch das nicht« werden durchschritten, und die Wiederankunft am Ausgangspunkt der Entscheidungsfrage bringt vielleicht keine Entscheidung, aber vielleicht eine andere Frage oder eine neue Blickrichtung. Die Überführung von Ein- in Mehrdeutigkeit bzw. umgekehrt bleibt dabei vor allem eine Frage des Timings. Der richtige Zeitpunkt lässt sich zwar nicht objektiv bestimmen, kann aber durch TimingFragen subjektiv fühlbarer werden. ȤȤ Woran würden Sie merken, dass es für die Entscheidung noch zu früh ist? ȤȤ Wann wäre der richtige Zeitpunkt für eine Entscheidung verpasst – und woran würden Sie dies merken? ȤȤ Angenommen, Sie würden entscheiden, noch nicht zu entscheiden – was wäre ein guter Zeitraum hierfür? Weniger offensichtlich mit Ambivalenz assoziiert, aber dennoch mit ihr verbunden, sind Menschen, deren Problembeschreibungen durch sehr eindeutige Standpunkte charakterisiert sind. Eigentlich ist »alles klar« – anders als in obigem Beispiel wird kein (Entscheidungs-) Konflikt präsentiert. Leidvoll wird diese Art der Eindeutigkeit dadurch, dass sie mit Wirklichkeitskonstruktionen einhergeht, die die Situation als unveränderbar oder ausweglos erscheinen lassen bzw. immer wieder in problematische Erfahrungen münden (»ich, das ewig unverstandene Wesen«). Es regiert ein enges Set von Konstruktionen, die mit der persönlichen oder sozialen Identität verein© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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bar erscheinen. Entwicklung ist somit begrenzt, die Person oder das soziale System zeigt sich »hoffnungslos ambivalenzfrei.« Frau M. stammt aus einer Juristendynastie – auch sie will Anwältin werden. Im Studium leidet sie unter massiven Lernschwierigkeiten und Konzentrationsproblemen. Herr A. leidet an einer Erektionsstörung. Er sagt: Ich will ja, aber der Penis macht nicht mit.

Für beide Beispielsituationen gilt: Die Betroffenen erleben sich nicht als ambivalent. Ambivalenz wird durch den Beobachter, in dem Fall den Therapeuten, eingeführt, der eine andere, dem Klienten nicht oder nur unterschwellig zugängliche Seite unterstellt. Er interpretiert das präsentierte Verhalten als Versuch, interne Konsistenz zu wahren. Das therapeutische Bemühen richtet sich folglich darauf, die andere, ausgeblendete Seite der Medaille fassbar zu machen. Dazu gehört, die formulierten Anliegen in ihrer Eindeutigkeit zunächst in Mehrdeutigkeit zu überführen, um sie sinnvoll zu bearbeiten. Frau M. braucht Unterstützung dabei, ihre Konzentrationsprobleme neugierig zu erkunden: Was sagen sie mir über mich, die Facetten meiner selbst, die zu mir gehören, auch wenn sie familiär fremd/inakzeptabel sind? Welchen Sinn macht mein motivationales Dauertief? Auf welche existenziellen Bedürfnisse verweist es? Herr A. profitiert von der Einführung eines Seitenmodells: Könnten wir sagen, Sie wollen, aber Ihr Penis will nicht? Was würde der Penis sagen, wenn er sprechen könnte? Was will er nicht? Warum will er es nicht? Was will er stattdessen?

Die Fähigkeit, sich vielstimmig zu erleben, ist hier der erste Schritt in Richtung einer Veränderung. Ambivalenztoleranz wird damit zu einer wichtigen Prozesskompetenz nicht nur für Berater, sondern auch für den/die Klienten. Bejahte Ambivalenz macht oft, aber nicht immer einen hilfrei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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chen Unterschied. In vielen Situationen wird und muss bei aller Zwiespältigkeit früher oder später entschieden bzw. gehandelt werden. Auch wenn sich die Situation auf quälende Weise mehrdeutig anfühlt, stellt sich dann die sehr konkrete Frage, wie ein Mindestmaß an tragfähiger innerer Mehrheit entwickelt werden kann. Von der richtigen zur verantworteten Entscheidung – der Kompass eigener Werte Zu Entscheidungskonflikten gehört neben dem inneren und äußeren hin und her die Sehnsucht nach eindeutigen, richtigen Entscheidungen. Es steht Wichtiges auf dem Spiel, Fehlentscheidungen haben Folgen und Preise, die ängstigend, weichenstellend, sogar fatal sein können. Zwei Beispiele: Eine Psychologiestudentin am Ende ihres Studiums sucht Hilfe bei der Frage, welche berufliche Richtung sie einschlagen soll. Sie kann sich sowohl eine Tätigkeit im Bereich Personalentwicklung, als auch eine Beratungstätigkeit im psychosozialen Bereich vorstellen. Nach dem Studium möchte sie ein mehrmonatiges Praktikum absolvieren, das sie für weichenstellend hält: »Wenn ich jetzt ein halbes Jahr in der Personalentwicklung arbeite, ist der Weg in den sozialen Bereich dicht – und umgekehrt. Was ist das richtige Arbeitsfeld für mich?« Nach seiner Scheidung kommt es – mitbegünstigt durch entsprechende Verhaltensweisen des anderen Elternteils – zum Rückzug des 15-jährigen Sohnes eines Klienten. Der gefühlte Verlust der Beziehung ist ungeheuer schmerzhaft und verunsichernd. Der Klient kommt mit der Frage in Therapie: »Soll ich den Wunsch des Sohnes nach Ruhe akzeptieren oder trotzdem versuchen, irgendwie in Kontakt zu kommen? Bisher sind alle diesbezüglichen Versuche in einem Fiasko geendet – aber ich kann ihn doch nicht einfach aufgeben, oder?«

Der Wunsch, in diesen und anderen Situationen die »richtige« Entscheidung zu treffen, ist gut verstehbar. Wird er operationalisiert (»Woran würden Sie merken, dass Sie die richtige Entscheidung getroffen haben?«), wird meist deutlich, dass sich hierunter die Sehnsucht nach einer Lösung ohne Preis verbirgt. Egal, wie man es dreht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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und wendet – gut im Sinne von »definitiv richtig« will es sich einfach nicht anfühlen. Aus dem Gefängnis des Entscheidungsdilemmas hilft dann oft der Rückgriff auf die von Heinz von Foerster formulierte Erkenntnis: »Nur die unentscheidbaren Fragen sind entscheidbar« (von Foerster u. Bröcker, 2007). Gerade weil man sich so und so entscheiden kann, muss und kann entschieden werden. Folgt man diesem Gedanken, so gilt: Sich im Hinblick auf mehr oder weniger existenzielle Fragen ambivalent zu erleben ist nicht Ausdruck einer Inkompetenz, sondern realistisches Abbild einer mehrdeutigen Wirklichkeit. Und weil immer auch eine andere Entscheidung denkbar gewesen wäre, ist Eindeutigkeit (»so und nur so ist es richtig«) Utopie. Dies mag einer der Hauptgründe sein, warum Pro-Kontra-Listen so selten in stimmige Entscheidungen münden bzw. kein nachhaltiges Ergebnis bringen. Vorankommen heißt deshalb: Wählen. Wird dies akzeptiert, ist ein erster Schritt in Richtung Handlungsfähigkeit getan. Sofort wird jedoch die nächste Frage aufgeworfen: Wenn ich mich nicht richtig entscheiden kann, an welchen Kriterien orientiere ich mich dann in meiner Wahl? Hinter jeder Entscheidung verbergen sich Werte. Mit jeder inhaltlichen Alternative werden gleichzeitig ein oder mehrere Werte verwirklicht. Umso schwieriger die Entscheidung für oder gegen eine inhaltliche Option, desto bedeutsamer ist die Frage: Für welche Werte möchte ich gerne (ein-)stehen? Welchem Wert möchte ich in dieser Situation auf jeden Fall Ausdruck verleihen – bzw. was möchte ich mir auf keinen Fall vorwerfen? Oft zeigt sich, dass die zur Entscheidung stehenden Optionen inhaltlich zwar kaum in eine Rangreihe zu bringen sind, sich auf der Werteebene aber durchaus gewichten lassen. Zumindest temporäre Befreiung aus der Ambivalenz gelingt dann durch eine Positionierung auf der Wertebene: »Ich tue dies, weil ich für Wert X einstehen möchte.« In der sorgfältigen Auslotung der Werte im Hintergrund zeigt sich: Für die Psychologiestudentin ist die Tätigkeit im psychosozialen Bereich mit dem Wert »Sinnvolles tun« verbunden, gleichzeitig bestehen Ängste, sich mit einer Beratungstätigkeit im klinisch-therapeutischen Feld zu überfordern. Die Arbeit in der Personalentwicklung steht für »Bestehen

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im Großkonzern, Internationalität und Vielfalt« – verknüpft mit der Besorgnis, zum Schreibtischtäter zu verkommen. Auf der Werteebene wird spürbar, dass der Versuch »Sinnvolles zu tun« im Zweifel auch ein Risiko wert ist. Die Klientin verlässt die Sitzung mit dem Entschluss, es im psychosozialen Bereich zu versuchen und sich selbst einen Abbruch zu gestatten, falls sich die auftretenden Forderungen als nachhaltige Überforderungen erweisen. Für den verunsicherten Vater wird deutlich: weitere Kontaktversuche – wie erfolglos sie auch sein mögen – sind Ausdruck des Bekenntnisses zu seiner Vaterschaft (»Ich bin und bleibe dein Vater, unabhängig davon, wie du dich verhältst«). Dieser Wert hat klar Vorrang vor dem Bedürfnis, sich selbst vor weiteren Zurückweisungen zu schützen. Er steht aber gleichzeitig im Konflikt mit dem Wunsch, Respekt vor den aktuellen Schutzstrategien des Kindes zu zeigen. Aus der Auslotung der im Hintergrund wirksamen Motive resultiert schließlich die Entscheidung, dem Sohn mehrmals pro Woche kurze Postkarten zu schicken, in denen der Vater vom eigenen Leben erzählt und Interesse an dem des Kindes formuliert. Dieses »Bekenntnis zur Vaterschaft« soll zumindest in den kommenden Wochen unabhängig von den (Nicht-)Reaktionen des Sohnes Bestand haben.

Um von quälender Widersprüchlichkeit in einen (zumindest punktuell) bejahten Standpunkt zu gelangen, ist auch die gedankliche Fortschreibung des Status quo häufig ergiebig (»Angenommen, alles bleibt wie gehabt, Sie pendeln weiter zwischen den beschriebenen Optionen – wo stehen Sie in fünf Jahren?«) – oder im Gegenzug die Extrapolation und Inszenierung einer Entscheidungsalternative in einem Zukunftsszenario: Frau L. trägt sich mit Trennungsgedanken. Sie möchte aber – wenn möglich – doch noch Anknüpfungspunkte mit ihrem Mann finden, schon allein wegen des gemeinsamen Sohnes, den beide sehr lieben. Ich (A. E.) frage, worin sie Anknüpfungspunkte sehen könnte, und höre nur sarkastisch vorgetragene Abknüpfungspunkte. Auf meine Zweifel reagiert das Paar mit hartnäckigem Festhalten an der zumindest theoretischen Option guter Gründe des Zusammenbleibens.

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Julika Zwack und Angelika Eck

Ich extremisiere die eine Seite der Ambivalenz, mache sie erfahrbar durch eine Fantasiereise. Das Paar sitzt Rücken an Rücken: »Stellen Sie sich vor, es ist der Tag Ihrer Ehescheidung … die ersten Wochen danach, das erste Jahr geht ins Land … – am Ende Ihres Lebens blicken Sie darauf zurück und denken …?«

Durch die Konfrontation mit der bis dahin tabuisierten Option Trennung kommt Bewegung in die statisch widersprüchliche Lage. Die zuvor fast bis zum Ekel sichtbare Abkehr von Frau L. weicht der Trauer über das Scheitern der eigenen Hoffnungen und derer des Partners. In der nächsten Sitzung berichtet das Paar, dass Frau L. ihren Mann im Anschluss zum ersten Mal seit langem wieder in den Arm genommen habe. Zugleich wurden kognitiv neue Optionen angeregt: Herr L., der sich nicht trennen wollte, war bei der Fantasiereise ebenfalls sehr traurig geworden. Dennoch half sie ihm, sich die Zeit danach konkret vorzustellen und eine Ahnung davon zu bekommen, dass auch diese lebbar sein könnte. Frau L. beschließt, nicht in ihre Heimat zurückzukehren, sondern mit dem Sohn in Herrn L.s Heimatdorf wohnen zu bleiben, damit beide Eltern den Sohn betreuen können. Beide Partner hatten zuvor kein realistisches Szenario für nach der Scheidung. Die in der Fantasiereise aktualisierte Traurigkeit schärft das Gespür für die Preise, die gezahlt werden können und sollen, und diejenigen, die eindeutig zu hoch sind. Diese emotionalen Gewissheiten bilden wiederum die Grundlage einer verantworteten Entscheidung.

Beobachtungen zweiter Ordnung Wenn die Ambivalenzkonstruktion das Problem ist: Irreführende Leitunterscheidungen Bewegungen zwischen Ambivalenz und Eindeutigkeit machen Sinn und funktionieren, sofern die relevanten Leitunterscheidungen oder sachlichen Pole der Ambivalenz zur Sprache kommen. Wann immer sich das Gefühl von Stagnation über längere Zeit erhält, liegt die Frage nahe: Geht es um die vorgetragene Entscheidungssituation, oder geht es »eigentlich« um etwas anderes? Im Folgenden widmen wir uns einigen Gesichtern dieser irreführenden Ambivalenzen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Das zu Entscheidende ist noch nicht entscheidbar oder: Der unhintergehbare Schritt »davor«

Präsentiert sich Ambivalenz als Entscheidungskonflikt, sind die Entscheidungsalternativen oft scheinbar klar. Kommt es bei der Erkundung der inhaltlichen Alternativen zu kommunikativen Sackgassen oder Kreisverkehren (»Ja, aber …«), kann dies auch daran liegen, dass die kommunizierte Entscheidungsfrage gar nicht das ist, was im Moment entschieden werden kann. Diese Konstellation entsteht häufig dann, wenn einerseits ein hoher Zeitdruck empfunden wird (»Ich muss das bald entscheiden, da hängen so viele andere Sachen dran …«), aber gleichzeitig gilt: Die Zeit für die Entscheidung dieser Frage ist (noch) nicht reif bzw. der Klient verfügt im Hier und Jetzt gar nicht über die inneren oder äußeren Möglichkeiten, die geforderte Entscheidung zu treffen. Eine alleinerziehende junge Mutter lebt mit ihrer Tochter bei den Eltern. Diese sind eine große Entlastung, gleichzeitig steigt das Unbehagen, in dieser Konstellation nicht erwachsen zu werden, und der Wunsch, auch für die Tochter auf eigenen Füßen zu stehen. Die schon länger latente Überlegung, an den Studienort zurückzuziehen, nimmt Fahrt auf, als sie unerwartet vor der Wahl steht, eine dort freigewordene Stelle anzunehmen. Diese Möglichkeit und der damit verbundene Zeit- und Entscheidungsdruck münden in akute Überforderungsgefühle. Die Klientin fährt Karussell mit den verschiedenen Optionen und hat das Gefühl, »gar nicht mehr zu wissen, was richtig ist.« Der Wunsch, endlich unabhängig zu sein, liegt im akuten Konflikt mit der wachsenden Angst, es alleine doch nicht zu schaffen.

Begleitet werden dieses und ähnliche Dilemmata von einem verschleißreichen inneren Hin und Her bei gleichzeitiger äußerlicher Inaktivität. Oft ist es dann hilfreich, die vom Klienten präsentierten Alternativen nicht als Ausgangspunkt zu nehmen, sondern zunächst die Voraussetzungen für die anvisierte Entscheidung zu erkunden und damit die sachliche wie die zeitliche Dimension der Ambivalenz unter die Lupe zu nehmen: ȤȤ Wie lange denken Sie schon über diese Frage nach? Zu welchen konkreten Schritten haben diese Überlegungen bisher geführt? © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ȤȤ Wenn Sie bisher keine konkreten Schritte unternommen haben – wie erklären Sie sich das? Welche Auswirkungen hat der bisherige Stillstand? Welche hinter der Ambivalenz liegenden Fragen/Aufgaben ersparen Sie sich möglicherweise? ȤȤ Angenommen, Sie würden Ihrem bisherigen Nichtentscheiden die Bedeutung geben, dass noch etwas bedeutsames fehlt, ein Zwischenschritt, der nicht übersprungen werden kann, wenn es eine stimmige Entscheidung werden soll – was für ein Zwischenschritt könnte dies sein? In einigen Fällen besteht der nicht überspringbare Zwischenschritt im Bekenntnis dazu, dass die Ambivalenz etwas für mich löst, eine wichtige Funktion erfüllt und mich damit vor einer Entscheidung bewahrt. In anderen Fällen geht es um das Bekenntnis zu dem, was noch fehlt, um wirklich eine Entscheidung fällen zu können. Hinter den inhaltlichen Abwägungen liegen dann zum Beispiel Bedürftigkeiten, gefühlte Grenzen und Erfahrungswerte, die nicht übergangen werden wollen. Da diese den Klienten oft nicht unmittelbar zugänglich sind, kann es hilfreich sein, sie als Berater in Ich-Form in gegebenenfalls zugespitzter Weise zu formulieren, sie den Klient probehalber aussprechen zu lassen und ihn einzuladen, seine innerliche Resonanz hierauf wahrzunehmen: Nachdem ich (J. Z.) der jungen Mutter eine Weile zugehört habe, versuche ich, die den Konflikt anheizenden Bedürftigkeiten in Worte zu fassen, schlage ihr vor, diese in ihren Worten nachzusprechen und wahrzunehmen, ob es dazu ein inneres Nicken oder Kopfschütteln gibt: –– »Für mich gilt, dass ein Umzug in Ruhe wichtiger ist als ein zeitnaher Umzug.« –– »Für mich gilt, dass ich erst meine finanziellen Möglichkeiten geklärt haben muss, bevor ich gehen kann.« –– »Für mich gilt, dass ich Ruhe und Ordnung um mich herum brauche, um zu spüren, was ich will.« Aus diesen komplexitätsreduzierten Bekenntnissen und dem psychophysiologischen Feedback (»Ja genau« bzw. »Nein, so eigentlich nicht«) schält sich das für den Moment Entscheidbare heraus. Die Klientin ent-

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scheidet sich dafür, zunächst für äußere Ordnung zu sorgen (Wohnung aufräumen, finanzielle Möglichkeiten klären) und einen Tag Urlaub zu nehmen, um Ruhe für den inneren Abwägeprozess zu schaffen. Bei der in Aussicht stehenden Stelle bittet sie um eine Woche Bedenkzeit. Die große Frage wird – wenn auch nur für kurze Zeit – zurückgestellt und gleichzeitig die subjektiv unhintergehbaren Voraussetzungen für deren Beantwortung geschaffen.

Eine verwandte Variation des hier skizzierten Themas sind Druck und Lähmungsgefühle, die bereits getroffene Entscheidungen begleiten. Auch hier gilt: Gedanken und Gefühle kreisen um Leitunterscheidungen, die (zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt) nicht handlungsrelevant werden. Frau H. hat sich entschieden, zu ihrem Partner aufs Land zu ziehen. Die Koffer sind gepackt, die bisherige Wohnung gekündigt. Sie fühlt sich unwohl mit der Entscheidung. Ihr Gedankenkarussell dreht sich weiter. Da sie sich schon entschieden hat und sie, auch wenn sie sich nochmals anders entscheiden sollte, erst einmal dorthin zieht (schließlich ist das Zimmer gekündigt), empfehle ich (A. E.) ihr eine achtsame Alltagspraxis. Ihre Ambivalenz ist innerlich zeitlich weit in die Vergangenheit und Zukunft aufgespannt (»Wovon soll ich leben, wenn ich ihn verlasse? Dann hab ich aber mein bisheriges Lebens schon aufgegeben … aber in der Vergangenheit war ich mir immer so sicher«). Wir stellen klar: Sie kann sich auch in Zukunft noch gegen ihn entscheiden. Für jetzt rate ich ihr, so oft wie möglich in der Gegenwart zu spüren: Wie fühlt es sich jetzt gerade an, mit meinem Partner zu sein, jetzt, wo er in sein Butterbrot beißt, jetzt, wo wir im Bett sind, jetzt, wo wir uns den Tag erzählen usw.

In beiden Fallbeispielen lösen sich die Klientinnen temporär von ihrer Ausgangsfrage bzw. stellen den Anspruch auf Entscheidung einstweilen zurück. Unterstützt wird dies durch einen achtsamen Gegenwartsfokus, der die Ambivalenz »beruhigt.« Die junge Mutter wird handlungsfähig, indem sie spürt, was sie bereits jetzt schon sicher über sich sagen kann. Bei Frau H. wird der Zeitraum, für den die Entscheidung Gültigkeit beansprucht, in kleine, verdaulichere © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Portionen unterteilt. In beiden Fällen werden so Erfahrungen möglich, welche die Entscheidung der großen Fragen vorbereiten. Das zu Entscheidende ist gar nicht das Entscheidende Eine weitere Facette potenziell irreführender Ambivalenzen sind Situationen, in denen die vorgetragene Ambivalenz Berater und Klient an Stellen auf die Suche schickt, die zwar – um in einem altbekannten Bild zu bleiben – hell erleuchtet sind, an denen der Schlüssel aber nicht liegt.1 Die Aufmerksamkeit des Klienten fokussiert Unterscheidungen, die trotz hoher inhaltlicher Plausibilität in die Irre führen: Auf der präsentierten Ebene ist das für die Beantwortung der Frage Wesentliche nicht zu finden – auf einer anderen Ebene schon. So schlüssig die gewählten Entscheidungsalternativen oft klingen, so wichtig ist es deshalb, die Beobachtung zweiter Ordnung mitzuführen und die Vor- und Nachteile der jeweiligen Leitunterscheidung im Blick zu behalten. Jenseits von inhaltlichen Überlegungen geht es um Fragen wie: ȤȤ Warum steht genau diese Frage im Fokus der Aufmerksamkeit? ȤȤ Welche Sehnsucht steht hinter der gewählten Alternativenkonstruktion? ȤȤ Welche anderen Fragen und Unterscheidungen werden damit ausgeblendet?

Wir kommen noch einmal auf die umzugsambivalente Frau H. zurück, die ein halbes Jahr später zu einer weiteren Sitzung kommt: Frau H. berichtet, die Empfehlung zur Achtsamkeit habe ihr sehr geholfen und sie ruhig gemacht. Sie hätten sogar vor zu heiraten. Unter dieser »Verschärfung« durch äußere Entschlossenheit sehe sie sich aber nun in einem sehr spezifischen Punkt wieder im Zweifel: dem offensichtlichen Bildungsunterschied zwischen ihr und ihrem Partner. Er sei langsamer als sie und auch nicht so interessiert an vielen Dingen, 1

Ein Mann sucht nachts unter einer Laterne. Ein anderer Mann kommt hinzu. »Was suchen Sie denn?« »Ich habe meinen Schlüssel verloren.« »Wo denn?« »Na, da vorne, circa 30 Meter von hier.« »Und warum suchen Sie dann unter der Laterne?« »Hier ist das Licht besser.«

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die sie zur Allgemeinbildung zähle. Schlimm an sich selbst fände sie, dass sie hyperaufmerksam geworden sei und immer schon auf seine Fehler warte. Dann ereile sie ein Gefühlsgemisch aus Wut, Traurigkeit, Mitleid für ihn und Scham über sich selbst. Ihr Grübeln gehe dann über die konkrete Situation wieder hinaus: »Ist mit diesem Mann ein adäquater Status lebbar?« Ich (A. E.) äußere Verständnis für ihre Bedenken. Zugleich frage ich mich und sie, wie es kommt, dass sie ihren Zwiespalt ausgerechnet an der Leitunterscheidung »gebildet/schlau – ungebildet/dumm« festmache. Sie versteht sofort und es stellt sich heraus, dass sie alle bisherigen Partner als zu ungebildet empfunden habe. Sie selbst setze sich sehr unter Druck, was Bildung und Status angehe, und knapse schwer daran, dass sie im Studium häufig trotz Ehrgeiz keine brillanten Leistungen erbracht habe. Ich schlage vor, sie soll sich auf ihren Umgang mit dem inneren Konflikt konzentrieren, und halte die mitgebrachte Ambivalenz zugleich offen: Es könne sein, dass sie am Ende ihren Partner in diesem Punkt freundlicher sehen und ihn besser annehmen könne. Es könne auch sein, dass sie ihre Partner bislang unbewusst »mindergebildet« gewählt habe, um sich vor einer Selbstwertbedrohung in der Beziehung durch Intelligenz/Bildung zu schützen und dass die Partnerwahl dann nicht mehr stimmig sein wird, wenn sie mit dem Konflikt weiter ist. Im weiteren Vorgehen identifizieren wir Stimmen, die Kritikerin, die erwacht, wenn ihr Partner etwas »Unintelligentes« sagt (Gestalt Mutter, kühl von oben herab). Es gibt aber auch einen anderen Teil, den sie als »das Solide, das Weise in mir« bezeichnet. Wir verabreden, dass sie in der nächsten Begegnung mit ihrem Partner beiden Stimmen (gegebenenfalls weiteren) Gehör schenkt und insbesondere darauf achtet, was die Weise der Kritikerin stützend, tröstend, entspannend sagen könnte.

In diesem wie in vielen anderen Fällen besteht die hilfreiche Intervention darin, den Konflikt hinter der vorgetragenen Ambivalenz sichtbar und fühlbar zu machen. Dies geht einher mit einer Neudefinition des Fokus auf der sachlichen (in Form anderer Leitunterscheidungen oder Polaritäten) und der sozialen Dimension: Eine soziale Konfliktorganisation wird zur intrapsychischen. Mit der Ambivalenzbewegung zwischen intrapsychischer und sozialer Organisation © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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befasst sich auch das Konstrukt der Kollusion, bei dem Ambivalenz als soziale Koproduktion inszeniert wird (s. u.). Zerrissenheit als Lebensform – die kognitive Dauerschaukel Während für viele Menschen Ambivalenz kommt und geht, erleben einige Menschen sich fast dauerhaft in einem Zustand der Zwiespältigkeit. Egal ob es um die Gestaltung des Wochenendes, Beziehungsoder berufliche Fragen geht: Nichts scheint eindeutig und leicht entscheidbar. Interessanterweise betrifft die Ambivalenz als Lebensform häufig Menschen, die mit einem überdurchschnittlichen Maß an Fähigkeiten und Möglichkeiten ausgestattet sind. Sie haben in vielerlei Hinsicht die Wahl und damit auch die Qual. Im Weg stehen ihnen vor allem zwei mehr oder weniger implizite Grundannahmen: ȤȤ die Idee, aus allem, auch sich selbst, das Optimale rauszuholen. ȤȤ die Idee, Entscheidungen rational bzw. sachlich treffen zu wollen.

In der Sprache von Julius Kuhl (Fröhlich u. Kuhl, 2003) dominiert in diesen Fällen der Selbstkontrollmodus: Ein von den Körpersignalen des emotionalen Erfahrungsgedächtnis abgekoppelter, meist an externen Vorgaben (»Was man tut/nicht tut, was gut/schlecht ankommt, womit man es sich verbaut, was gute oder schlechte Chancen hat …«) orientierter Abwägeprozess. Die frustrierende Erfahrung hierbei lässt sich auf den Nenner bringen: (Kognitiv) werde ich nicht fertig mit mir. Herr B. meldet sich mit einer Art »Midlife-Crisis«: Seit vielen Jahren lebt er berufsbedingt in unterschiedlichen europäischen Hauptstädten, begleitet von seiner Partnerin. Ein von außen betrachtetes mondänes, abwechslungsreiches Leben, das gefühlt zunehmend ins Leere läuft. Seinen Geist bevölkern in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerichtete Ambivalenzen: Wäre es besser gewesen, in Prag zu bleiben, statt zu meinen, in Athen würde alles anders? Macht es aktuell Sinn, noch mal nach einer neuen Wohnung zu suchen, in der er sich eventuell wohler fühlt, oder tut es die alte auch, weil er sowieso bald wieder aufbricht? Soll die nächste berufliche Station wieder in Deutschland sein – hier hätte die Partnerin mehr Möglichkeiten – oder ist ein Leben in der alten Heimat nach all den Jahren gar nicht mehr gut möglich? Der seelische Grundzustand ist geprägt von Unruhe und Unsicherheit,

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Bedauern und wachsender Müdigkeit. Ich (J. Z.) schlage vor, dass wir uns von den konkreten Fragen vorerst lösen und exemplarisch den prototypischen Prozess der bisherigen Entscheidungsfindung ausleuchten. Dabei tritt eine kognitive Hyperaktivität zu Tage. Das Gefühl, schon oft falsch entschieden zu haben, verstärkt die Sehnsucht, es diesmal richtig zu machen. In der Rückschau wird deutlich, dass trotz intensiver mentaler Auseinandersetzung die eigentliche Entscheidung mehrheitlich von außen getroffen wurde: Die Vorgesetzte legt den Wechsel nahe, die Partnerin macht klar, dass eine weitere Fortbildung zu für sie nicht hinnehmbaren Abwesenheiten führt oder der Anmeldeschluss für den vielleicht wohltuenden aber terminlich schwer unterzukriegenden Fotokurs ist ohnehin verpasst.

Herr B. steht beispielhaft für viele Menschen, die Entscheidungen im Selbstregulationsmodus verlernt haben. Selbstregulation im Kuhl’schen Sinne meint die Fähigkeit, die eigenen somatischen Marker, die alle Entscheidungssituationen begleiten, wahrzunehmen und so die Signale des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses in den Abwägeprozess mit einzubinden. Wie insbesondere die Arbeiten von Antonio Damasio gezeigt haben, ist diese Form der Integration von kognitiven und emotionalen Informationen die Voraussetzung für stimmige Entscheidungen – Läsionen im Bereich des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses führen zur Unfähigkeit, selbst einfachste Entscheidungen zu treffen. Alles versinkt in Gleich-Gültigkeit. Die Abkoppelung vom Selbstregulationsmodus entsteht oft unbemerkt über lange Zeiträume. Kennzeichnend ist der Versuch, in Phasen großer Verunsicherung über eine starke Orientierung an Vernunft und vermuteten Außenvorgaben Halt zu finden. Werden die auf dieser Basis getroffenen Entscheidungen dann später als Fehler gewertet, wächst die Verunsicherung weiter an, ebenso das Bemühen um argumentative Eindeutigkeit. Zuflucht im Bauchgefühl zu suchen, erscheint kontraproduktiv und hochriskant. Auf Basis neurobiologischer Erkenntnisse lässt sich jedoch sagen: die Signale des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses nicht einzubeziehen heißt, einen Großteil der vorhandenen Information nicht zu nutzen. Rational ist dies nicht. Ebenso wenig wie der Umkehrschluss, den somatischen Markern in jedem Fall zu folgen. Was in der Vergangenheit ungut ausgegangen ist, kann für die Zukunft trotzdem der richtige © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Weg sein – und umgekehrt. Es geht also nicht um ein Entweder-oder (Verstand vs. Gefühl), sondern um die Fähigkeit, auf beiden Kommunikationskanälen zu empfangen und auszuwerten. Der kognitive Kanal von Herrn B. ist gut ausgebaut. Auf Basis obiger Argumentation kann ich (J. Z.) ihn dafür gewinnen, seinen somatischen Markern mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Doch da kommt erst einmal »gar nichts«. Ich lade ihn ein, mit einfachen Unterscheidungsübungen zu beginnen: Kaffee oder Tee – was löst welche Körperempfindung aus? Ein Buch lesen oder einfach nur dasitzen – wonach ist mir eigentlich gerade mehr? Sukzessive wird er vertrauter mit der Sprache seines emotionalen Erfahrungsgedächtnisses. Als wir uns erneut größeren Entscheidungsfragen zuwenden, beziehen wir die körperliche Resonanz als wichtige Instanz mit ein: »Angenommen, Sie entscheiden sich für Alternative A – wie fühlt sich dies körperlich an? Und: Wie wäre das Körpergefühl zur Wahl der Alternative B?« Da beide Optionen immer sowohl mit negativen als auch positiven Valenzen besetzt sind, geht es hierbei nicht darum, positive Eindeutigkeit zu fühlen, sondern die Unterschiede in den somatischen Resonanzen sorgfältig wahrzunehmen und auszuloten. Im Sinne eines unmittelbaren »Biofeedbacks« können die Auswirkungen hypothetischer Szenarien, bewusster Nichtentscheidung, Kompromisse, Selbsterlaubnisse etc. unmittelbar auf der inneren Goldwaage abgewogen werden. Die hierbei entstehenden Informationen vervollständigen das Bild. Aus Gleich-Gültigkeit der Optionen wird persönlich verantwortete Stimmigkeit.

Ambivalenz als Tarnung: Eigentlich ist schon entschieden

Verbalisierte Ambivalenz lädt zu Abwägeprozessen ein, an deren Ende sich die Waage im besten Fall in eine für den Klienten tragfähige Richtung neigt. Ambivalenz signalisiert damit immer auch Offenheit: Ich bin noch nicht entschieden, alles ist möglich und gleichwertig. Nicht immer entspricht dies den inneren Tatsachen. In einigen Fällen verbirgt sich hinter kommunizierter Ambivalenz eine nichtverantwortete Entscheidung. Frau O. sucht Hilfe aufgrund bulimischer Symptome. Sie berichtet über die Belastungen aus Heimlichkeit und Scham und den starken

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Wunsch, eines Tages eine eigene Familie zu haben. Gleichzeitig kann sie sich nur schwer vorstellen, tatsächliche Alternativen zur Bulimie zu entwickeln. Sie pendelt zwischen »es ist völlig klar, ich muss damit aufhören, sonst mache ich mir alles kaputt« und »die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass ich das eh nicht schaffe«. An dieses Kommunikationsangebot lässt sich auf vielfältige Weise anschließen. Denkbar und naheliegend wäre bspw. die Arbeit mit den beiden inneren Seiten. Im konkreten Fall wähle ich (J. Z.) die Konfrontation mit einer Wahrnehmung: »Ich glaube, Sie haben sich schon entschieden. Wenn Sie an die nächsten vier Wochen denken, wie wahrscheinlich ist es, dass Sie Alternativen zum Essanfall ausprobieren werden?« Die Klientin spürt, dass sie nicht wirklich ambivalent ist. Sie wird in den nächsten vier Wochen weiter auf Essanfälle zurückgreifen. Ich lade Sie ein, dies als Entscheidung zu formulieren. Mit der Verantwortungsübernahme für diese Entscheidung steigt das Unbehagen darüber. Ganz aufgeben möchte die Klientin sich nicht. Sie bekennt sich zu ihrem Wunsch, die Bulimie noch eine Weile beizubehalten, entschließt sich aber auch dafür, wieder regelmäßige Mahlzeiten einzuführen.

Die Situation, dass Entscheidungsfragen eigentlich schon entschieden sind, ist nicht selten. In diesen Fällen besteht die Schwierigkeit häufig darin, zur eigenen Wahl zu stehen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Heraustreten aus der Ambivalenz auch gleichbedeutend ist mit dem Verlassen der Potenzialität: Es ist eben nicht mehr/noch nicht alles möglich. Vermieden werden Trauer und der Prozess des zumindest vorläufigen Abschiednehmens. Das unterschiedsbildende Unterstützungsangebot liegt deshalb oft in einem Probebekenntnis, bei dem der Klient spürt, was für ihn derzeit gilt und die Verantwortung hierfür übernimmt. Erst wenn dies geschieht, kann produktive Ambivalenz eintreten. Ambivalenz als soziale Koproduktion: Paare im Kollusionszirkel Mehrpersonensysteme erlauben die zeitgleiche Präsenz der unterschiedlichen Seiten der Ambivalenz, die stabil auf Personen zugeschrieben werden. Am deutlichsten ist dies oft zu Beginn einer Paartherapie beobachtbar. Ein Partner reklamiert mehr Nähe, der andere © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ist für mehr Abstand. Der eine will Sex, der andere nicht. Einer fordert Aussprache, der andere schweigt. In dieser arbeitsteiligen Verlagerung intrapsychischer Ambivalenzen ins soziale System liegen Vorteile: Die Partner können sich selbst ambivalenzfrei erleben, im positiven Fall delegieren sie erfolgreich einen Pol ihrer Ambivalenz an den Partner, der den Job übernimmt, in der Beziehung für diesen Teil einzustehen. Die Lage ist insofern eindeutig, dass jeder weiß, woran er ist. Und verlässliche Reaktionen, auch wenn sie bisweilen unangenehm sind, sind ein Garant für Stabilität. Jürg Willi (1975) beschrieb dieses Phänomen als Kollusion: Das Paar kooperiert verdeckt um einen ähnlichen Grundkonflikt, zum Beispiel um Autonomie und Nähe. Indem ein Partner den Autonomie-, der andere den Nähepol besetzt, kann das Paar zunächst komplementär agieren. Was als sinnvolle Kooperation beginnt, unterliegt im Zeitverlauf der zirkulären Dynamik sich wechselseitig verstärkender Reaktionen. Wo sie einst seine Ruhe schätzte, beklagt sie jetzt sein Schweigen als Missachtung und wird von ihm als bedrohliche Furie erfahren, wo er sie früher belebend empfand. In dieser Extremisierung werden die eigenen komplementären Bedürfnisse immer unzugänglicher: Der Nähe fordernde Partner verliert seinen Wunsch nach Abstand ganz aus dem Auge. Der Freiheit Reklamierende spürt immer weniger, in wie fern er dem anderen auch nahe sein will. Ein nicht überspringbarer Schritt besteht dann darin, die delegierten Pole der intrapsychischen Ambivalenzen wieder zugänglich zu machen. Eine Variante der kollusiven Ambivalenzorganisation ist weniger statisch, sondern lässt sich als trauriger Tanz beschreiben: Anlass für die Paartherapie sind Entdeckungen von Frau F. über ein geheimes internetgestütztes Beziehungs- und Liebesleben ihres Ehemannes. Frau F. tritt sehr anklagend auf, zu Hause kontrolliert sie seine Internetaktivitäten. Herr F. hält sich bedeckt, gibt an, sich von seiner Frau sehr bedrängt zu fühlen, nicht nur in dieser Sache, sondern generell wisse sie immer alles besser und lasse ihm nicht genügend Freiraum. Er äußert Trennungswünsche, die sie wiederum zu einer Mischung aus Schimpftirade und verzweifeltem Appell veranlassen. Sie vermutet alsdann eine Psychopathologie bei ihm und beteuert mehrfach, so lasse sie sich nicht behandeln und halte eine solche Beziehung

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nicht weiter aus. Auf die Frage, was das denn konkret bedeute, weicht sie allerdings aus. Als ich (A. E.) mich vor der Schlussintervention zurückziehe, zeigt die weiterlaufende Filmaufzeichnung eine interessante Szene: Kaum ist das Paar allein im Raum, ergreift Herr F. zärtlich die Hand seiner Frau, die sich zunächst trotzig abwendet, dann aber auf seine Annäherung eingeht. Wie ein kleiner Junge, der seine Mutter bittet, nicht böse zu sein, blinkert er sie an, was ihr Herz sichtlich zum Erweichen bringt.

Dieses Paar hält sich auf der Tanzfläche gefangen, indem beide Partner in ihrer jeweiligen Ambivalenz komplementär zum anderen oszillieren, also immer die passenden Tanzschritte finden, um ein Ende des Tanzes zu verhindern. Dies gilt für die Therapiesitzung wie für die generelle Interaktion: So lange sie ihm nachstellt, verschließt er sich und will weg. Sobald sie an einem späteren Punkt der Therapie doch genug hat und erstmals eine Trennung anstrebt, »wacht er plötzlich auf« und zeigt sich bereit zum Einstellen seiner Kontakte. Nicht lange danach entzünden sich neue Konflikte um für Frau F. unklare Kontakte zu einer Frau, mit der Herr F. zu einem früheren Zeitpunkt eine Affäre hatte und die er jetzt angeblich nur platonisch als Übernachtungsgelegenheit auf einer Reise nutzen wollte.

Die Band spielt auf zu einer neuen Runde auf der Tanzfläche und die Nacht ist noch lang. Fortschritt, der Beendigung des Tanzes heißt, erfolgt auch hier durch die Rücknahme des delegierten Teils der eigenen Ambivalenz in den eigenen Verantwortungsbereich: Durch ihr Lamento ohne Konsequenz hält sich Frau F. lange Zeit in einer traurigen Scheinüberlegenheit über Wasser, die ihre Ohnmacht kaum kaschiert. Erst als sie sich im Verlauf der Therapie erlaubt, ihre eigene Bedürftigkeit deutlicher zu spüren und sich in dieser Verletzlichkeit und Schwachheit zu zeigen, anstatt den Fokus der gestrengen Mutter beständig auf ihren Mann zu richten, gewinnt sie an Kraft und Klarheit und trennt sich schließlich von Herrn F. Dieser beginnt dann eine Einzeltherapie mit dem Ziel, sein Bedürfnis nach Eskapaden und

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die Bereitschaft, dies auf Kosten seiner Frau zu tun, selbst besser zu verstehen und seinerseits zu verantworten.

Fazit: Ambivalenz hat viele Gesichter und es gilt, ihnen auf unterschiedliche Weise zu begegnen Egal ob sich Klienten in innerer Zerrissenheit oder rigider ProblemEindeutigkeit präsentieren – in beiden Fällen sprechen sie starke Einladungen aus. Angeboten werden Zwangslogiken (»Entwederoder«; »Jetzt oder nie«; »Alles oder nichts«), die für Klient wie Berater sowohl unproduktiven Handlungsdruck als auch Ohnmacht erzeugen können. Die in den Fallbeispielen mitgeführten Beobachtungsfoki haben sich für uns als nützlich erwiesen, um die Frage, was eine hilfreiche Unterschiedsbildung ausmacht, möglichst differenziert zu beantworten: Geht es um die Überführung eines bekämpften in ein bewusst durchlebtes Hin und Her – oder um die Akzeptanz, dass etwas scheinbar Eindeutiges existenziell mehrdeutig bleibt? Ist die Zeit für ein Heraustreten aus der Ambivalenz überhaupt reif? Und wenn ja, wodurch wird dieses verhindert? Durch nicht bejahte Preise, irreführende Leitunterscheidungen, ungelöste Konflikte im Hintergrund oder den Versuch, auf ausschließlich kognitivem Wege zu innerer Stimmigkeit zu gelangen? Oder ist eigentlich bereits entschieden und der Unterstützungsbedarf liegt im Bekenntnis hierzu? Auf der Haltungsebene setzen all diese Fragen voraus, Ambivalenz als existenzielle Grundbedingung zu begreifen. Wir entrinnen ihr nicht, können sie allenfalls punktuell und temporär auflösen. Ambivalenz ist aus dieser Perspektive kein Problem, sondern eine Grundverfasstheit. Eine übergeordnete Chance besteht für Klient wie Berater auch darin, sich dieser Erkenntnis anzunähern und sich auf dieser Grundlage zunehmend freudvoll in und aus der Ambivalenz heraus und in sie hinein zu bewegen. Von gelingender Therapie und Beratung sprechen wir dann, wenn es uns gelingt, Klienten hierbei mehr Navigationskompetenz zu vermitteln. Und damit schlicht: mehr Flexibilität, Freiheit und Bewusstheit im Umgang mit den entscheidbaren und unentscheidbaren Fragen ihres Lebens.

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Literatur Bleuler, E. (1914). Die Ambivalenz. In Universität Zürich (Hrsg.), Festgabe zur Einweihung der Neubauten (S. 95–106). Zürich: Schulthess. Derrida, J. (1988). Memoires. Für Paul de Man. Wien: Passagen. Foerster, H. von, Bröcker, M. (2007). Teil der Welt: Fraktale einer Ethik – oder Heinz von Foersters Tanz mit der Welt (2. korr. Aufl.). Heidelberg: Carl Auer. Fröhlich, S., Kuhl, J. (2003). Das Selbststeuerungsinventar: Dekomponierung volitionaler Funktionen. In J. Stiensmeier-Pelster, F. Rheinberg (Hrsg.), Diagnostik von Motivation und Selbstkonzept. Test und Trends, neue Folge. Bd. 2 (S. 221–257). Göttingen: Hogrefe. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Varga von Kibéd, M., Sparrer, I. (2005). Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Heidelberg: Carl Auer. Willi, J. (1975). Die Zweierbeziehung. Reinbek: Rowohlt.

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Elisabeth Nicolai

Psychiatrische Krisen bei Menschen mit geistiger Behinderung: Geschichten über Rätsel und bleibende Herausforderungen

System- und familientherapeutische Konzepte in der Psychiatrie: Vom Behandlungszusatz zur Behandlungsbasis In der familienorientierten Behandlung schwerer psychiatrischer Störungen haben neben psychoedukativen Arbeitsweisen (Hornung, 2002; Bäuml u. Pitschl-Walz, 2003) besonders systemtherapeutische Vorgehensweisen Verbreitung gefunden. Sie gründen sich auf ein system- und kommunikationstheoretisches Verständnis psychiatrischer Symptome (Schweitzer u. Schumacher, 1995; Retzer, 2004). Sie versuchen im kollaborativen Dialog oder besser: »Multilog« (Keller, 2002; Seikkula u. Olson, 2003, Aderhold, Alanen, Hess u. Hohn, 2003) mit Patient, Angehörigen und anderen wichtigen Beteiligten, schwer verständliches psychiatrisch auffälliges Verhalten aus dessen Einbindung in die Beziehungssituation des Patienten verstehbar zu machen und aus diesem Verständnis heraus neue Lösungen zu entwickeln. Sie nutzen eher das im sozialen System des Patienten vorhandene Wissen über Verschlimmerungs- und Verbesserungsmöglichkeiten, als dass sie externe Fachinformation einspeisen. Sie informieren und trainieren weniger, fragen mehr und versuchen mehr zu verstehen. Sie streben eher individuell maßgeschneiderte denn vordefinierte Bewältigungsstrategien an. Der Blick auf Kompetenzen, die positive Konnotation von auch zunächst unverständlichem Verhalten, die Wiedereinführung des Patienten in die familiäre Kommunikation, die Förderung von Neugier und Gelassenheit bei allen Beteiligten sind wichtige Ziele. Diese Haltungen und Vorgehensweisen fördern das Verständnis von psychiatrischen Krisen als sinnvolle Lösungsversuche ohne Schuldzuweisungen zu machen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Zu systemtherapeutischen Interventionen besonders bei psychotischen Patienten liegen Studien mit Kontrollgruppen aus ambulanten (De Giacomo et al., 1997) und stationären Settings (Bertgen, Sachartschenko u. Kahl, 1991) sowie zur Krisenintervention vor fraglicher Klinikaufnahme vor (Seikkula et al., 2003, 2006), ferner eine Reihe ermunternder Ergebnisqualitätsstudien ohne Kontrollgruppe (Retzer, 1994; Schweitzer u. Schumacher, 1995; Grünwald, Hegemann, Eggel u. Anthenien, 1999; Zander, Balck, Rotthaus u. Strack, 2001). Diese zeigen verminderte Erst- oder Wiederaufnahmeraten bei besserer sozialer Integration. Für den stationär-psychiatrischen Alltag haben systemische Behandlungsansätze allerdings vorwiegend noch den Charakter eines »Zusatzes«, ohne das basale Alltagsgeschäft psychiatrischer Versorgung entscheidend zu prägen. In einem früheren Projekt »Systemische Organisationsentwicklung in psychiatrischen Einrichtungen« fanden wir (Schweitzer, Nicolai u. Hirschenberger, 2005) bei vielen Klinikbesuchen zahlreiche interessante und bewährte systemtherapeutische Praktiken vor, die sich aber nur selten zu einem Gesamtkonzept der Behandlungseinrichtung integrierten (zu Ausnahmen siehe u. a. Rotthaus, 1998; Moser u. Margreiter, 2001, Scholz, Asen, Gantchev, Schell u. Suess, 2002; Gottwalz u. Aderhold, 2002). Das möchten wir ändern. Wir arbeiten – immer noch – daran, systemtherapeutisch-familienorientiertes Denken von einem Behandlungszusatz zu einem Kernprinzip stationärer Psychiatrie zu machen, das die ganze Breite psychiatrischer Alltagstätigkeiten prägt: vom Aufnahmegespräch bis zum Entlassbrief, von der Visite bis zur Patientengruppe, von der Diagnose bis zur Medikation, von der Psychotherapie bis zur Zwangsbehandlung. So oder so ähnlich fingen eine ganze Reihe der Artikel an, die wir während und nach der Projektzeit geschrieben haben. Unser SYMPA-Projekt scheint zumindest eine Fortsetzungs- vielleicht sogar eine Erfolgsgeschichte zu werden. Was bisher geschah … SYMPA (»Systemtherapeutische Methoden psychiatrischer Akutbehandlung« – Schweitzer u. Grünwald, 2003) war ein praxisorientiertes Forschungsprojekt und fand von 2002 bis 2007 zunächst in drei © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Abteilungen psychiatrischer Krankenhäuser auf sechs Projekt- und zwei Kontrollstationen statt. In der Praxis trifft SYMPA seit 2009 zunehmend auf Interesse: zwei psychiatrische Kliniken (in der Schweiz und in Deutschland) haben eintägige SYMPA Weiterbildungen für ihre Teams und Kooperationspartner abgeschlossen, drei weitere haben Interesse angemeldet und gerade sind wir dabei, mit einer dieser Kliniken ein völlig neues Feld mit systemischem Arbeiten zu betreten. Fortsetzung folgt … In diesem Artikel wird es um SYMPA nach einem Zeitsprung gehen, heute im Januar 2014 beginnen wir gerade ein neues SYMPA-Projekt. Am Isar Amper Klinikum in Haar initiierte die Oberärztin der Station für Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung eine Weiterbildung für ihr multiprofessionelles Team, aber auch für die kooperierenden und zuweisenden Wohnheime. Das ist in zweierlei Hinsicht ein Aufbruch in neue Welten. Systemisches Arbeiten für Patient/-innen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung ist, nach sorgfältiger Recherche des aktuellen Fachdiskurses und der Literatur, noch Neuland, eine Weiterbildung dazu natürlich gleichermaßen. Zum Hintergrund In ihrem Forschungsantrag beschreibt die Oberärztin Dr. Franziska Gaese (2006, 2010) zur Ausgangslage: Menschen mit geistiger Behinderung haben ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen. Häufig treten aggressive Verhaltensstörungen auf (Hemmings, 2007; Crocker, 2006). Eine erhöhte Prävalenz besteht für fremd- und selbstverletzende Verhaltensweisen (Cooper, 2009a, 2009b), die den Wohnheim- oder Werkstättenplatz gefährden können. Überwiegender Anlass für psychiatrische Konsultationen für Menschen mit geistiger Behinderung am Isar Amper Klinikum München Ost, einem der größten Fachkrankenhäuser Deutschlands, sind aggressive Verhaltensstörungen. Auf der Akut- und Krisenstation kommt es häufig zu aggressiven Auseinandersetzungen zwischen Patient/-innen und auch zwischen Patient/-innen und Mitarbeiter/innen. Die körperliche und psychische Belastung für die Mitarbei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ter/-innen ist hoch. Fachleute, die mit diesem Personenkreis arbeiten, fordern eine Neuorientierung im Sinne stärkerer Ressourcen- und Lösungsfokussierung, die präventiv wirksam wird. Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen nehmen innerhalb der Erwachsenenpsychiatrie eine Sonderstellung ein. Die mit der geistigen Behinderung einhergehende Entwicklungsverzögerung rückt sie bezüglich ihres Bedarfes an Versorgung, Förderung/Therapie und der Komplexität des Helfernetzwerkes in die Nähe des Kinder-und Jugendbereiches. Fast alle erwachsenen Patient/-innen haben eine gesetzliche Betreuung, oft durch Angehörige, die sich damit in einer Doppelrolle befinden, und viele Patienten leben gleichzeitig als Bewohner/-innen in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Ohne Berücksichtigung dieser komplexen Interessenlage können die Herausforderungen, denen Profis, Angehörige und die – zudem oftmals noch eingeschränkt sprachfähigen – geistig behinderten Menschen nicht adäquat erfasst werden. Geistig behinderte erwachsene Psychiatrie-Patient/-innen tragen ein erhöhtes Risiko für psychische sowie körperliche Erkrankungen (Ryan u. Sunada, 1997) und unerkannte Schmerzen sowie für psychosoziale Belastungsfaktoren (Brickell, 2008; Theunissen, 2005). Die Einschränkungen in der Sprachfähigkeit bergen viele Möglichkeiten für Irritationen und Missverständnisse, deren direkte Folge Unter- oder Überforderung, Einschränkungen in der Selbstbestimmung und der Teilhabe sein können. Zum anderen erschweren diese Entwicklungsverzögerungen die Erkennung von Bedürfnissen oder Missempfinden, wodurch nichtsprachlichem Verhalten vermehrt kommunikative Bedeutung zukommt. Mit zunehmender Heftigkeit und Komplexität kann es bedrohlichen Charakter annehmen. »Verhaltensauffälligkeiten« im Sinne von herausfordernden Verhaltensweisen (Emerson, 1995) sind für die Mitarbeiter in Einrichtungen der Behindertenhilfe und für Eltern meist Anlass für weitreichende pädagogische Bemühungen. Die Hürde, psychiatrisch-psychotherapeutische oder beraterische Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist oft für alle Beteiligten hoch und erfolgt nicht selten erst, wenn Probleme derart massiv geworden sind, dass das Zusammenleben an Einrichtungen bedroht ist oder nicht mehr möglich scheint. Der Verständigungsbedarf zwischen den Profes© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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sionen und Institutionen ist hoch, aber auch dem Anlass entsprechend angespannt. Aus diesem Grunde ist der ambitionierte Plan, nicht nur das multiprofessionelle Team der Station, sondern auch Mitarbeiter/-innen von acht kooperierenden Wohnheim- und Fördereinrichtungen, die der Einladung gefolgt sind, weiterzubilden.

SYMPA 2014: Ein Forschungprojekt, eine Weiterbildung und die Weiterentwicklungen in der klinischen Praxis Die Kliniksabteilung gehört zum Isar Amper Klinikum in Haar bei München, kooperierende Träger sind das Franziskuswerk Schönbrunn, die Lebenshilfe München, Dr. Löw Soziale Dienste Ebrach, Stiftung Ecksberg, Stiftung Attl und die Regens Wagner Stiftung. Die Forschungsaufgaben zum Projekt sind in bewährtere Weise am Institut für Medizinische Psychologie der Universität Heidelberg angesiedelt. Die Weiterbildung wird von Elisabeth Nicolai und Jochen Schweitzer entwickelt und gemeinsam mit einem Trainerteam aus den Reihen des Heidelberger Helm Stierlin Institut und assoziierten Gastdozent/-innen durchgeführt. Finanziell wird SYMPA von der Heidehofstiftung in Stuttgart gefördert. Die Weiterbildung ist berufsgruppenübergreifend und kliniksbzw. einrichtungsübergreifend angelegt. Sie umfasst neun Kursblöcke á zwei Tage in der Zeit von 2014 bis 2016. Insgesamt nehmen 80 Mitarbeiter/-innen teil, 25 davon gehören dem Klinikteam an. Der Ausgangspunkt für unser Projekt ist die Anfrage der systemisch weitergebildeten Öberärztin der Station, die sich Verbesserungen auf zwei Ebenen von dem Projekt verspricht. Zum einen erhofft sie sich einen positiven Einfluss auf das Auftreten und den Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen der Patient/-innen. Zum anderen wünscht sie sich eine gemeinsame Sprache für die Kooperation mit den Wohneinrichtungen. Auch in den Wohneinrichtungen sind Vorkommnisse mit Aggressionen das belastende Thema schlechthin und insofern teilen sie das Interesse an einer Veränderung – auch mit entsprechender Verständigung zwischen Klinik und Wohnheimen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Das SYMPA-Handbuch: Ein Ausgangspunkt und gemeinsamer Rahmen Systemisches Denken erklärt das Verhalten von Menschen nicht isoliert aus deren inneren Eigenschaften, sondern aus den Beziehungen zwischen ihnen. Man versucht die Ressourcen – die Kenntnisse, die Zuneigung, das Engagement – des natürlichen Umfeldes eines Menschen für dessen Behandlung zu nutzen. Zugleich ermöglichen systemische Gespräche mit Angehörigen andere Perspektiven auf eigene Schuldgefühle, das Hadern mit der Ungerechtigkeit des Schicksals oder Anklagen gegen Unzulänglichkeiten in der Betreuungssituation, was sich möglicherweise auf die Verfassung der geistig behinderten, psychisch erkrankten Menschen positiv auswirkt. Diese Kooperation der Angehörigen und der Patient/-innen wiederum senkt das, was Szapocznik et al. (1988) die Drop-out-Rate nennen – auf unseren Kontext übetragen, könnte dieser Drop-out den Ausstieg aus einer konstruktiven Kommunikation bedeuten. Die systemische Orientierung mit ihren spezifischen Haltungen und Vorgehensweisen fördert in besonderer Weise eine neugierige, wertschätzende und lösungsorientierte Kooperation zwischen den Beteiligten, eine selbstreflexive Haltung und einen Lösungsoptimismus auch in schwierigen Situationen. Die systemtherapeutische Grundhaltung verbindet eine ausdrückliche Lösungsorientierung mit gleichzeitiger Erlaubnis zur Nichtveränderung. Menschen werden stets »gute Gründe« unterstellt, Verhalten und Erleben, auch wenn man darunter leidet, nicht oder noch nicht zu verändern. Grundlage dieser Freiheit, sich für das entscheiden zu können, was in der eigenen Lebenslogik sinnvoll scheint, ist eine positive Konnotation von symptomatischem Verhalten, das im Beziehungsgeflecht des Symptomträgers »Sinn machen« könnte. Systemtherapeutische Haltungen und Methoden In den SYMPA-Weiterbildungen der Akutpsychiatrie legten wir Haltungen und Methoden zugrunde, von deren Nützlichkeit wir überzeugt sind, die aber für die Arbeit mit geistig behinderten, psychisch kranken Menschen, besonders dort, wo ein sprachlicher Austausch nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, anregende Diskussion auslösten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ȤȤ Die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten: »Handle so, dass dudie Zahl der Möglichkeiten vergrößerst« (von Foerster, 1985). ȤȤ Die Achtung der Selbstorganisation von Familien. ȤȤ Eine nichtbewertende Haltung und anhaltende Neugier für die Menschen und Beziehungen des Systems. ȤȤ Neutralität und Allparteilichkeit nicht nur gegenüber den Personen, sondern auch gegenüber Krankheitserklärungen, Problemsichten oder präferierten Lösungswegen. ȤȤ Ressourcenorientierung im Auffinden und Nutzen von Fähigkeiten und Kompetenzen. ȤȤ Auftrags- und Kundenorientierung bedeutet, sich genau kundig zu machen, welche Auftraggeber es gibt und was sie möchten. Schließlich wird der Erfolg oder die Lösung nicht an objektiven Kriterien, sondern an der Einschätzung der/des Auftraggebers gemessen. ȤȤ Eine lösungsorientierte Haltung geht davon aus, dass die vertiefte Kenntnis der Problemgeschichte für die Lösung nicht nötig ist. ȤȤ Auf Basis einer neugierigen, nichtbewertenden Haltung lässt sich auch über sehr schwere und belastende Probleme sprechen. Hilfreiches Werkzeug dabei ist das zirkuläre Fragen, das die Gesprächsteilnehmer über ihre Eindrücke der gegenseitigen Beziehungsprozesse ins Gespräch bringt, von denen sie ja auch ein Teil sind. ȤȤ Veränderungen auf der Grundlage von Anregungen und freundlichen »Verstörungen«: In der systemischen Therapie wird nicht nur die Sicht der Beteiligten zirkulär erfragt, sondern – manchmal auch absichtlich etwas irritierend – ein Perspektivwechsel, Kommentare, paradoxe Interventionen oder positive Umdeutungen von Problemen angeboten. Soweit – so gut: Bisherige Muster und neue Herausforderungen Systemische Haltungen und Methoden für die Arbeit mit geistig behinderten, psychisch kranken Menschen passend zu machen, stellte eine Herausforderung dar. Bei unseren Besuchen zum forschenden Lernen in der Klinik und den kooperierenden Einrichtungen begegneten uns Patient/-innen, Bewohner/-innen, Mitarbeiter/innen und viele Geschichten, aus einer anderen Welt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Beeindruckt und bewegt von den Begegnungen, beschlossen wir, Geschichten zu sammlen, die uns zum Grübeln, zum Nachdenken, zum Staunen und zu Bewunderung anregten und sicher noch anregen werden. Auch die folgenden Geschichten gehören zu den Rätseln und Herausforderungen.

Fallgeschichten Frau K.: Zehn Jahre ambulante Behandlung und eine unerwartete Wende Frau K. ist leicht geistig behindert und hat die Diagnose elektiven Mutismus, zudem zeigt sie Symptome einer Psychose. Bis zu ihrem 30. Lebensjahr wohnt sie bei den Eltern, die ein enges, sehr fürsorgliches Verhältnis zu ihrer Tochter haben. Ihr Zustand verschlechtert sich, nachdem sie zwei Jahre nicht gesprochen hat, und zusätzlich beginnt, die Körperhygiene zu verweigern. Die Eltern scheuen eine stationäre Einweisung bis zu dem Zeitpunkt, als sich der Zustand der Tochter in einer ausgeprägten Minussymptomatik bedrohlich verschlechtert. Ein durch die Förderstätte angefragter Hausbesuch der Psychiaterin kann die Bedenken der Eltern gegenüber einer stationären Behandlung nicht zerstreuen. Die Psychiaterin beschließt, die Eltern nicht zu drängen, sondern die stationäre Behandlung als eine Möglichkeit stehen zu lassen. Nach wenigen Wochen wird die Patientin dann doch von ihren Eltern gebracht. Die eingeleitete medikamentöse Therapie, künstlerische Therapien, und ein basales Alltagstraining tragen Früchte: Nach drei Monaten spricht die Patientin wieder, die Eltern können sich entschließen, sie in ein Wohnheim umziehen zu lassen, und inzwischen kann sie dort schon auf eine zehnjährige Geschichte zurückblicken. Zunächst erzählte die Psychiaterin, wie unerwartet die schnellen positiven Veränderungen in der stationären Behandlung für sie selbst waren. Sie vermutet, dass der Verzicht auf Veränderungsdruck, bei den Eltern die freiwillige Entscheidung, eine stationäre Behandlung zuzulassen, ermöglicht habe. Danach sei die Vertrauensbasis geschaffen gewesen, die Behandlungsmaßnahmen nicht als einen Angriff auf die Loyalität und Verbundenheit zwischen Eltern und Tochter zu interpretieren. Die Eltern konnten der Tochter die Autonomie© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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bestrebungen erlauben. Retrospektiv könnte man die Verweigerung der Tochter aller Hygiene als einen – fast pubertär anmutenden – Ausdruck von Abgrenzung und Autonomie sehen. Im klinischen Setting ist das Zuwarten in einer bedrohlich wirkenden Entwicklung eine Herausforderung an die Lösungsorientierung, dass das jeweils Richtige gschehen wird. Herr B.: Das langsame Ausschleichen einer Dauerfixierung Herr B., ein inzwischen etwa 30-jähriger geistig behinderter Mann, lebt in einer Wohngruppe mit fünf anderen ebenfalls geistig behinderten Menschen. Seine Vorgeschichte zeigt, wie kommunikative Wechselwirkungen zu dramatischen Eskalationen führen können. Als Junge lebte Herr B. bei seinen Eltern. Heranwachsend erreichte er eine stattliche Körpergröße und wurde so kräftig, dass seine Eltern – wie sie selbst es nennen – ihn nicht mehr im Zaum halten konnten. Er reagierte zunehmend aggressiv, wenn er seinen Willen nicht direkt durchsetzen konnte. Die Eltern schreckten vor dieser Entwicklung zurück und gaben stets nach, jedoch um den Preis, dass die Ungehaltenheit des Sohnes immer ungebremster wurde. Der Umzug in eine Einrichtung konnte dieser Entwicklung keinen Einhalt bieten und nach einigen sehr gefährlichen Angriffen auf Betreuende und Mitbewohner/-inner oder Mitpatient/-innen wurde Herr B. fixiert. Mit einem richterlichen Beschluss wurde diese Fixierung zur Dauerfixierung, da Herr B., sobald die Fixierung gelöst wurde, »vollkommen austickte« und mit großer Körperkraft gewalttätige Angriffe startete. Seine Übergriffe waren bei den betreuenden Profis gefürchtet, sodass man die Fixierung immer seltener löste. Er trug inzwischen eine Windel, damit man nicht zu oft gezwungen war, die Fixierung zu lösen, und einen Ganzkörperanzug, um wiederum zu verhindern, dass er sich die Windel wegreißt. All das machte den jungen Mann natürlich immer wütender und die Behandelnden immer furchtsamer. Die Angst der Mitarbeiter/-innen der Einrichtung war darauf begründet, dass einige von ihnen bereits gewürgt oder mit Fausthieben angegriffen worden waren. Aus der Spirale aus Wut und Angst schien es kein Entkommen zu geben, obwohl sich alle einig waren, dass der Zustand eigentlich untragbar sei und nicht auf Dauer anhalten dürfe. Eine einberufene Helferkonferenz beschloss, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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mit Zustimmung der psychiatrischen Klinik nahe dem Ort, an dem die Familie lebte, eine Entwöhnung aus der Fixierung zu versuchen. Dazu wurde der junge Mann in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt und in den Übergangszeiten aus Schlafen und Wachen zunehmend an eine nicht fixierte Körperwahrnehmung gewöhnt. In der Wohneinrichtung, die ihn danach aufnahm, wohnt er seither mit manchmal wechselnden Stimmungs- und Aggressionslagen, aber längst nicht mehr mit dieser Bedrohlichkeit. In der Kooperation mit der psychiatrischen Klinik werden Eskalationsspiralen vorausschauend umgangen. Manchmal nutzt ein Ortswechsel für ein paar Wochen, manchmal einfach intensiver Frühsport mit dem Bezugsbetreuer. Die Musterunterbrechung scheint nachhaltig gelungen zu sein. Frau L.: »Was sie macht, interpretieren wir als ihren Willen« In einer Wohneinrichtung wird uns die Geschichte einer 45 Jahre alten Bewohnerin, Frau L., berichtet, die über lange Jahre in früheren Einrichtungen nachts fixiert wurde, weil sie die Wände mit Kot beschmierte. Neu eingezogen in dieses Wohnheim, versuchte man anfangs die Wände immer nach solchen Aktionen zu säubern oder auch zu überstreichen, die Mitarbeiter/-innen kamen damit bald an die Grenzen der Belastbarkeit. In der klaren Entscheidung, man wolle nicht wieder zur Fixierung greifen, wurde folgende Idee entwickelt: Die Wand wurde mit einer sehr schönen LandschaftsFototapete (die die Bewohnerin ausgesucht hatte) tapeziert. Darüber wurde eine Plexiglasscheibe montiert. Das Experiment glückte: Zum einen beschmiert die Bewohnerin die Wände seither nur noch selten mit Kot und wenn dies passiert, läßt sich die Scheibe schnell und problemlos reinigen. Nicht alles passt für alle: Küchen und Schlösser In einem Wohnheim wird uns von einer Konzeptumstellung vor einigen Jahren berichtet, die viele Profis im Umfeld für unmöglich gehalten hatten. Die zuvor abgeschlossene Küche wird für die Bewohner geöffnet und jederzeit frei zugänglich gemacht. Zunächst horten die Bewohner das Essen oder essen viel mehr, als ihnen gut tut. Nach einiger Zeit setzt sich die Erfahrung durch, dass man dieses »Hamsterverhalten« gar nicht braucht, weil der Kühlschrank immer gefüllt – © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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und verfügbar – ist. Seither klappt die Versorgung mit Lebensmitteln ausgesprochen gut. Mitarbeiter/-innen und Bewohner/-innen genießen die Normalität solcher Autonomie. Eine klassische Situation, wird man sich sagen: Restriktion und Einschränkung auf der einen Seite bewirkt das Erleben von Mangel auf der anderen Seite und führt zu Hamsterverhalten, das wiederum die Idee verstärkt, man müsse alles gut einteilen und rationieren, da sonst das Maß für den Konsum fehle. Diesen Kreislauf unterbrachen die Mitarbeiter/-innen der Wohneinrichtung: Das Erleben von Fülle machte das Hamstern nach einiger Zeit doch überflüssig. In einer zweiten Einrichtung, die sehr liebevoll eingerichtet, mit spezifischen Konzeptideen möbliert und farblich ausgestattet ist, finden wir nicht nur die Küche verschlossen, sondern darüber hinaus an einzelnen Schränken nochmals eingebaute Schlösser. Auf unsere Nachfrage, wieso man nicht den freien Zugang zur Küche gewähre – wir hätten gerade von guten Erfahrungen damit gehört –, berichtet man uns Folgendes: Eine Bewohner/-in verhält sich zwanghaft gegenüber allem Flüssigen. Sie »müsse« alles austrinken, was ihr an Flüssigem zugänglich sei: Zehn Liter Milch im Kühlschrank, der Bodenreiniger, der Kasten Wasser usw. Was wir mit großem Respekt lernen: Das Zusammenleben mit diesen besonderen Menschen bewegt sich weit außerhalb vorgestellter Normen und muss mit jedem Bewohner und seinen Bedürfnissen neu erfunden werden.

Zusammenfassung und erste Resümees Die Arbeit mit Menschen, die sprachlich nicht gut oder gar nicht zu erreichen sind, ist an sich eine Herausforderung für diejenigen, die sich ganz selbstverständlich auf das sprachliche Aushandeln und Verständigen verlassen. Es geht in diesem Kontext noch einmal mehr darum, zu akzeptieren, was Menschen tun, ihre Handlungen als Ausdruck ihres Willens zu begreifen. Das wird umso deutlicher, wenn man nicht darauf zählen kann, dass es eine kognitive Einsicht in die Logik anderer geben könnte. Geistig behinderte Menschen, die zudem eine psychische Erkrankung haben, stellen uns vor die Aufgabe eines Perspektivwechsels: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Statt über Veränderungen nachdenken zu wollen, wie sie sich langsam wieder an das »Normal«-Sein anpassen können, sind die behandelnden Profis gefordert, die Unterstützung zu geben, dass Menschen so leben können, wie es für sie passt. Zum Nachdenken regt an, dass dieser Handlungsgrundsatz sonst nicht selbstverständlich erscheint. Literatur Aderhold, V., Alanen, Y. O., Hess, G., Hohn, P. (Hrsg) (2003). Psychotherapie der Psychosen – Integrative Behandlungsansätze aus Skandinavien. Gießen: Edition Psychosozial. Bäuml, J., Pitschel-Walz, G. (2003). Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer. Bertgen, M., Sachartschenko, R., Kahl, M. (1991). Überprüfung der Wirksamkeit systemischer Familientherapie im stationären Bereich bei schizophrenen Patienten. Familiendynamik, 17, 211–228. Brickell, C., Munir, K. (2008). Grief and its complications in individuals with intellectual disability. Harvard Review of Psychiatry, 16 (1), 1–12. Cooper, S.-A., Smiley, E., Allan, L. M., Jackson, A., Finlayson, J., Mantry, D., Morrison, J. (2009a). Adults with intellectual disabilities: prevalence, incidence and remission of self-injurious behaviour, and related factors. Journal of Intellectual Disability Research, 53 (3), 200–216. Cooper, S.-A., Smiley, E., Jackson, A., Finlayson, J., Allan, L., Mantry, D., Morrison, J. (2009b). Adults with intellectual disabilities: prevalence, incidence and remission of aggressive behaviour and related factors. Journal of Intellectual Disability Research, 53 (3), 217–232. Crocker, A. G., Mercier, C., Lachapelle, Y. et al. (2006). Prevalence and types of aggressive behaviour among adults with intellectual disability. Journal of Disability Research, 50 (9), 652–661. De Giacomo, P., Pierri, G., Santoni Rugiu, A., Buonsante, M., Vadruccio, F., Zavoianni, L. (1997). Schizophrenia: A study comparing a family therapy group following a paradoxical model plus psychodrugs and a group treated by the conventional clinical approach. Acta Psychiatrica Scandinavica, 95 (3), 183–188. Emerson, E. (1995). Challenging Behaviour: Analyses and intervention in people with learning disabilities. Cambridge: Cambridge University Press. Foerster, H. von (1985). Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg & Sohn. Gaese, F. (2006). Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung im Erwachsenenalter – Vorstellung eines spezialisierten Behandlungsangebotes am Bezirkskrankenhaus Haar. In R. Frank (Hrsg.), Geistige Behinderung. Verhaltensmuster und Verhaltensauffälligkeiten (S. 245–273). Freiburg i. Breisgau: Lambertus-Verlag. Gaese, F. (2010). Fremd- und selbstverletzende Verhaltensweisen bei jungen

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Ulrike Borst

Zwickmühlen in der Therapie mit Klienten mit »chronischen« Selbstkonzepten

Einschränkende Denkmuster Knifflig kann eine Situation dann genannt werden, wenn man an einem Scheideweg steht: Schlägt man Weg A ein, passiert möglicherweise etwas Ungünstiges, bei Weg B kann das aber ebenso geschehen. Man ist in einer Zwickmühle. Der nächste Zug wird auf jeden Fall so beantwortet, dass das Ergebnis schlecht ist. In diesem Beitrag soll es um Klient/-innen gehen, die sich stabile, »chronische« Selbstkonzepte zugelegt haben. Die Selbstkonzepte sind von ihren »Besitzer/-innen« gerade so konstruiert, dass jeder Schritt des Gegenübers eine Bestätigung des Konzepts nach sich zieht. Die Zwickmühle ist perfekt. Das Ergebnis ist vor allem für die Klient/-innen schlecht; sie brauchen aber ein Gegenüber für dieses Ergebnis, allein durch die eigenen Denkmuster wäre dieses Ergebnis kaum zu erzielen. Wenn auf diese Art die ganze Intelligenz weniger in die Lösungssuche als in ein Selbstkonzept voller Defizite, chronischer Krankheiten und Behinderungen fließt, braucht man als Gegenüber einen »Ausfallschritt«, eine ganz neue Idee; weder Weg A noch Weg B; die Auflösung der Zwickmühle. An drei Fallbeispielen soll gezeigt werden, wie es gelungen ist, die Zwickmühle aufzulösen. Bei vielen psychischen Störungen sind es die Denkmuster, die behindernd und einschränkend wirken, weit über die Symptome in akuten Phasen hinaus; das Problem ist »chronifiziert« (von Schlippe u. Schweitzer, 2013). Auf je unterschiedliche Art spielen die Beziehungen zu Angehörigen oder auch Therapeut/-innen eine Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung dieser einschränkenden Denkmuster. Im Folgenden sind drei Beispiele für Denkmuster aufgeführt, die in aufsteigender Rangreihe die unterschiedliche Intensität widerspiegeln, mit der Beziehungen sie hervorbringen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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und stabilisieren, umgekehrt aber auch in der Therapie von Bedeutung sind. »Ich kann nichts und bin nichts wert« Bei vielen Menschen mit psychischen Problemen liegen einengende und festgefahrene Denkmuster vor, ganz im Sinne einer »Problemtrance«: Alles Denken dreht sich um das Problem. Depressive, aber auch ängstliche oder zwanghafte Denkmuster sind Beispiele für Problemtrancen, in die die Therapeutin leicht mit hineingezogen wird. Entweder wird sie auch depressiv und ängstlich oder sie versucht besonders antidepressiv und ermutigend zu wirken und erreicht dadurch doch eher das Gegenteil. Wenn sie dieses Muster bemerkt, kann sie eine Art »Musterunterbrechung« anstreben, indem sie die Ebene wechselt: vom Diskurs in die Reflexion, von der Sprache in die Handlung, von der Problembearbeitung in die Problemutilisation (von Schlippe, Borst u. Fischer, 2014). Wenn es gut geht, ergibt sich daraus eine Erweiterung der Optionen, der Denk- und Handlungsmöglichkeiten. »Alle wollen mir Böses« Auch bei wahnhaften Störungen liegen massiv einengende Denkmuster vor. Sie ließen sich zwar an der Realität testen und müssten dann geändert werden, aber das lehnen die so denkenden Klient/-innen in der Regel zunächst ab. Erst wenn es der Therapeutin gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, kann sie vorsichtig damit beginnen, die Logik in Frage zu stellen und den Ereignissen auch andere Bedeutungen zu geben (Borst, 2011). »Meine Vergangenheit ist mein Schicksal, und ich werde dir beweisen, dass aus mir nichts mehr werden kann« Bei Klient/-innen mit chronisch negativ gefärbten Selbstkonzepten hingegen kommt oft noch dazu, dass nicht nur das Denken, sondern auch die Beziehungen in den Dienst der Bestätigung des Selbstkonzepts gestellt werden. Das Vorgehen ist, ohne den Klient/-innen entsprechende Absichten unterstellen zu wollen, besonders trickreich: »Bestätigst du mir, dass ich nichts kann, hatte ich ja recht – ich bin ein besonders unfähiger Mensch.« – »Wenn du mir sagst, ich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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könnte doch eigentlich, sagst du damit, dass ich mein bisheriges Leben vertan habe; also bin ich ein besonders unfähiger Mensch.« In der psychiatrischen Fachsprache handelt es sich hierbei, wie der Leser sicher schon bemerkt hat, um die Persönlichkeitsstörungen, deren Beginn lange zurück liegt. Ich will diesen Begriff hier nur einmal erwähnt haben, um im Folgenden zu zeigen, wie sie sich als Beziehungszwickmühlen konstituieren und als solche auch auflösen lassen. Zugegeben: Das dauert unter Umständen eine Weile …

Herr M.: »Ich kann nichts und bin nichts wert.« Ein angehender Psychiater in der Einzelselbsterfahrung erzählt zunächst seine Geschichte. Als dritter Sohn eines Berufsoffiziers und einer Hausfrau sei er das Nesthäkchen gewesen, das von seiner Mutter besonders viel Pflege und sorgende Aufmerksamkeit bekommen habe. Währen die Brüder viel mit Freunden unterwegs gewesen seien und wilde Abenteuer erlebt hätten, sei er oft krank gewesen und habe sich im stillen Kämmerlein aufs Lesen und Lernen verlegt. Das Medizinstudium habe er nicht so sehr aus genuinem Interesse begonnen, sondern um es seinem Vater recht zu machen. Eigentlich hätte er lieber Germanistik und Philosophie studiert, was aber bei den Eltern als brotlose Kunst gegolten habe. Bei der Arbeit erlebe er sich als zu schüchtern, von Selbstzweifeln geplagt, schnell zu verunsichern. Er frage sich oft, was er im Studium überhaupt gelernt habe. Er schildert mir am liebsten seine Niederlagen bei der Arbeit und im Privatleben, und schließt seine Erzählungen oft mit der Frage ab: »Finden Sie nicht auch, dass ich wieder mal versagt habe und allen gezeigt habe, dass ich nichts kann?« Ich gebe ihm weder Recht noch widerspreche ich ihm, sondern ich führe in »sokratischen Dialogen« die Denkmuster ad absurdum. So erkennt der junge Arzt zum Beispiel folgenden Denkfehler: Er nimmt an, dass er wichtige und verantwortungsvolle Aufgaben nur deshalb anvertraut bekommt, damit der ganzen Welt seine Unfähigkeit bewiesen werden kann. Seine Unsicherheit lernt er zu nutzen, indem er immer öfter seine Kollegen fragt: »Könnte es vielleicht auch ganz anders sein?«, und konkurrierende Hypothesen äußert. Er begreift, dass gesicher© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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tes Wissen in der Psychiatrie nicht denselben Stellenwert hat wie in der Chirurgie; dass es mehr darauf ankommt, Unsicherheit zu teilen, gemeinsam zu reflektieren und scheinbar dumm zu fragen. Er merkt nun, dass er (übrigens schon lange) von den Patienten sehr geschätzt wird, weil er weniger zackig als mancher Kollege Urteile fällt und Ratschläge erteilt. Woraus bestand hier die Zwickmühle und wie hat sie sich aufgelöst? Die Therapeutin geriet ständig in Versuchung, den Selbstzweifeln und -entwertungen zu widersprechen. Sie hätte damit, vielleicht ähnlich der Mutter in Kindertagen, den Mann aufgepäppelt, aber auch invalidisiert (»Ach du Armer, so schlimm ist es doch gar nicht!«) Die Utilisation der Unsicherheit dagegen kehrte das Problem ins Gegenteil. Statt als Lähmung erschien die Unsicherheit nun als »gute Freundin«, der Zweifel ganz im Sinne Descartes’ als Methode.

Familie F.: »Alle wollen mir Böses.« Frau F. sucht Hilfe im Umgang mit ihrem 35-jährigen Sohn Johannes. Nach Kindheit und Jugend mit langen Phasen von Schulverweigerung, Heimaufenthalten und Mobbing wirft Johannes seinen Eltern dies heute vor und verlangt »Wiedergutmachung« in Form von zeitlich unbefristeter Kostenübernahme für Wohnung, Ernährung und Unterhaltungselektronik. Auch will er zeitweise bei seinen Eltern wohnen, die dies jedoch sehr fürchten, da er in seinen häufigen Wutanfällen gern Mobiliar zerstört. Die Wutanfälle sind heftiger und häufiger, seit er benzodiazepinabhängig ist. Johannes kennt beinahe jede psychiatrische Einrichtung der Schweiz von innen, berichtet dort jeweils von Verfolgung durch irgendeinen Geheimdienst, erhält daraufhin regelmäßig die Diagnose »Schizophrenie« und die entsprechende Medikation, die er jedes Mal bald wieder absetzt. Johannes kommt dreimal zusammen mit seiner Mutter zu Gesprächen bei mir. Die Teilnahme seines Vaters lehnt er aufs Heftigste ab. Nach diesen Gesprächen wünscht er, in Einzeltherapie zu mir kommen zu können. Ich lehne dies ab, mit dem Hinweis auf drohende Konflikte für mich. Für Familiengespräche dagegen erkläre ich mich bereit und signalisiere Offenheit für jegliche Konstellation, in der die Familie kommen möchte, außer für Einzeltherapie. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Der Vater kommt nun häufiger mit der Mutter zusammen. Ich berate die Eltern dahingehend, dass der Vater mehr, die Mutter weniger für ihren Sohn tut und dass das Paar ganz nach den eigenen Bedürfnissen verreist, auch wenn der Sohn dagegen tobt. Frau F. gerät zwar immer wieder in Situationen, in denen sie sich allein gelassen fühlt in ihrer Sorge um Johannes. Sie erkennt aber zunehmend, dass ihr Mann zur Entlastung beitragen kann, selbst wenn Johannes seinen Vater heftig ablehnt, und reduziert ihre notfallmäßigen Finanzspritzen an den Sohn stetig. Johannes setzt seinen nicht unbeträchtlichen Charme zunehmend dafür ein, Gelegenheitsjobs und Notschlafstellen für sich zu organisieren. Die Geheimdienste erwähnt er hier nicht, und seine Wohn- und Arbeitsgenossen halten ihn für einen etwas nervösen und leicht verwahrlosten, aber sympathischen Zeitgenossen. Woraus bestand hier die Zwickmühle und wie hat sie sich aufgelöst? Johannes hatte, aus lange zurückliegenden Zeiten herrührend, immer wieder den Eindruck, von seinen Eltern zu wenig bekommen zu haben: zu wenig Liebe, zu wenig Aufmerksamkeit, zu wenig Geduld, zu wenig Geld. Im Dreieck zwischen Vater, Mutter und ihm verhielt er sich so, dass die Eltern nur alles falsch machen konnten: Sobald sich die Mutter, wie vom Sohn verlangt, ausschließlich ihm zuwandte, war der Vater ausgebootet. Spannten die Eltern zusammen, kam vom Sohn der Vorwurf, zu kurz zu kommen. In dieses Dreieck aus wechselnden Koalitionen wurde die Therapeutin anfangs mit einbezogen, und das Dreieck wurde ein Viereck. Nur durch konsequente Verweigerung der Koalitionsbildung mit einem der Familienmitglieder konnte die Therapeutin verhindern, dass sie mit in die Zwickmühle geriet. Der Mutter gelang es mit der Zeit ebenfalls besser, aus ihrer Zwickmühle auszusteigen, indem sie ihren Mann konsequent mit einbezog und den Forderungen von Johannes nach Ausschließlichkeit der Mutter-Sohn-Kontakte (der Vater sollte ausgeschlossen werden) nicht mehr nachkam. Johannes konnte seine Verstrickung lösen und sich anderen Lebensinhalten zuwenden. Er hat allerdings mindestens 15 Jahre lang so wenig für Beruf, Partnerschaft und Gründung einer eigenen Familie getan, dass auch heute noch fraglich ist, ob er, sozial gesehen, dem Mainstream folgen wird oder eher eine Nische, beispielsweise © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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im zweiten oder dritten Arbeitsmarkt und in betreuten Wohnsituationen, suchen wird. Die grundsätzliche »Strategie« der Therapie entsprach ganz dem altbekannten Konzept der strukturellen Familientherapie (z. B. Selvini Palazzoli, Cirillo, Selvini u. Sorrentino, 1992); anders als in deren Fallgeschichten der 1960er und 1970er Jahre war sich hier die Therapeutin ganz im Sinne der Kybernetik zweiter Ordnung bewusst, welche Rolle sie selbst spielte.

Frau L.: »Meine Vergangenheit ist mein Schicksal, und ich werde dir beweisen, dass aus mir nichts mehr werden kann.« Als ich Frau L. kennenlerne, ist sie 135 Kilo schwer und hat gerade eine Magenbanding-Operation hinter sich. Ihre Arme weisen keinen Quadratzentimeter gesunder Haut ohne Narben auf, ihre Oberschenkel sollen ähnlich flächendeckend verletzt sein. Die dicke Krankengeschichte spricht eine eindeutige Sprache: Frau L. »hat« eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. In vielen Einzelgesprächen, zunächst im stationären, später im ambulanten Setting, erzählt Frau L. mir ihre Geschichte: Sie wurde im Alter von sechs bis zwölf Jahren von einem Onkel schwer und auf sadistische Art sexuell missbraucht, später von ihrem Psychiater unter dem Deckmantel von Fürsorge und sexueller Befreiung missbraucht. Auch ihren Vater hat sie in Verdacht, sie sexuell missbraucht zu haben, wobei ihr die entsprechenden Erinnerungsfetzen, wie immer deutlicher wird, von den Betreuerinnen des Mädchenheims, in dem sie während vieler Jahre lebte, suggeriert worden waren. Frau L. ist eine intelligente, nicht mehr ganz junge Frau, die sicher nicht absichtlich, aber sehr geschickt und seit vielen Jahren ihre Opferrolle konstruiert. Jede Anforderung endet in einer Selbstverletzung. Die Klinikaufenthalte sind lang und gehen fast nahtlos ineinander über. Entlassungspläne scheitern regelmäßig an besonders schweren Selbstverletzungen, die dann auch zu Aufenthalten in der Akutsomatik mit aufwändiger Wundpflege führen; Verdächtigungen, dass Frau L. selbst immer wieder für Verunreinigungen der Wunden sorgt, bestätigen sich des Öfteren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Dennoch wirft Frau L. der gesamten Therapeutenzunft vor, sie jeweils zu lange in der Klinik zu behalten. Als ich sie kennenlerne, hat sie bereits 25 Therapeutinnen hinter sich gelassen, ich bin die 26. Beendet wurden die therapeutischen Beziehungen jeweils auf für Frau L. recht demoralisierende Weise, beispielsweise indem junge Therapeutinnen sich ohne ein Wort des Abschieds versetzen ließen oder ihr Bedrohlichkeit vorwarfen und sie deswegen nicht mehr alleine sehen wollten. Sie stieß jedoch auch immer wieder aufs Neue auf Therapeut/-innen, die wegen ihrer selbstzerstörerischen Handlungen in höchster Sorge waren. So hatte sie bei der letzten Therapeutin vor mir, also der 25., einen ganz exklusiven heißen Draht per Handy, auch in deren Ferien. Auch therapeutisches Sendungsbewusstsein richtete sich gerne auf Frau L.: Sie erfuhr zahlreiche Behandlungsversuche mit immer neuen Methoden. Auf diese Weise sorgte sie für die Fortbildung vieler Generationen von DBT-Therapeut/-innen. Wir entwerfen schließlich einen Pakt: Wenn ich höre, dass sie wegen latenter Suizidalität irgendwo einbehalten wird, soll ich auf der jeweiligen Station intervenieren und ihre Entlassung vorantreiben. Dies muss ich genau noch einmal tun; das Stationspersonal ist entsetzt und bezeichnet mich als leichtsinnig, weil ich Frau L. genügend Überlebenswillen zutraue, um sich nicht zu suizidieren. Während ihre Wohnungen früher jeweils recht schnell gekündigt wurden, behält sie ihre Wohnung jetzt trotz Einwänden der Beiständin, die die Finanzen verwaltet. Mit Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes lernt sie erstmals, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen – Telefon anzumelden, Rechnungen zu bezahlen, die Kehrwoche zu erledigen, usw. Sie entdeckt die Vorteile autonomer Lebenspraxis für sich. Erleichternd kommt hinzu, dass sie sich verliebt – in eine Frau. Anfangs drehen sich die Gespräche mit der Partnerin noch vorwiegend um erlittenes Unrecht, erst nach und nach tun sich Gestaltungsspielräume auf. Frau L. macht den Führerschein, nimmt erstmals seit Jahren wieder Kontakt zu ihrem Vater auf und beginnt eine Ausbildung als Sozialpädagogin. Ganz zum Schluss wird in einem feierlichen Akt die Diagnose »Borderline« entsorgt, indem sie im Abschlussbericht und in der Basisdokumentation in der Rubrik © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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»Abschließende Beurteilung« bzw. »Diagnose bei Austritt« einfach weggelassen wird. Woraus bestand hier die Zwickmühle und wie hat sie sich aufgelöst? Frau L. brachte ihre Therapeutinnen immer wieder dazu, ihr nicht viel zuzutrauen; eigentlich hieß das, ihr gar nichts zuzutrauen. Sie signalisierte: »Wenn du mich überforderst, bringe ich mich um.« Die jeweils recht kurzen therapeutischen Beziehungen bestätigten ihr aber geradezu, dass sie unfähig war, ihr Leben in die Hand zu nehmen. In der 26. therapeutischen Beziehung gelang es, mit viel Geduld und über einen Zeitraum von sechs Jahren, sich immer weniger von ihren suizidalen Äußerungen erschrecken zu lassen, ihr zurückzumelden, welches Potenzial sie über längere Zeiträume hinweg entwickeln könnte, und sie sehr pragmatisch dabei zu unterstützen. In der Mikrosteuerung der Gespräche kam es darauf an, sie nicht zu gut zu verstehen und sich öfter einmal überrascht zu zeigen darüber, was jetzt plötzlich nicht mehr gehen sollte. Auf Makroebene kam es darauf an, in ihrem Tempo mitzugehen und keine schnellen Lösungen zu erwarten oder gar vorzuschlagen, sondern auch »windschiefe Lösungen« (Fischer, Borst u. von Schlippe, 2013), bei denen die »Lösung« gar nichts mit dem (anfangs sogenannten) »Problem« zu tun hatte, zuzulassen.

Zusammenfassung: Zwickmühlen entrinnen Zusammenfassend und verallgemeinernd seien hier einige Elemente einer hilfreichen Grundhaltung skizziert: ȤȤ Ressourcenorientierung, Lösungsorientierung und Dekonstruktion der Selbstkonzepte sollten nicht zu schnell einsetzen. Es gilt immer zu bedenken und im Gespräch abzuwägen, welche Vorteile es auch haben könnte, noch weiter so von sich selbst zu denken. Würde das Selbstkonzept zu schnell geändert, hieße das ja, das Leben über weite Strecken unzureichend gemeistert zu haben. ȤȤ Es stimmt schließlich auch: Während lang anhaltender schwerer Störungen verpasst man eine Menge. Während andere gleichaltrige Leute Ausbildungen machen oder studieren, stabile Partnerschaften eingehen und eine eigene Familie gründen, hat man © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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selbst auf Grund der Probleme unter Umständen nichts von dem erreicht. ȤȤ Wenn dann doch Veränderung in Gang kommt, zaghafte Gehversuche in eine neue Richtung unternommen werden und diese dann doch (vorübergehend) in einer neuen Krise enden, sollte die Therapeutin möglichst nicht aufseufzen, stöhnen und sagen: »Oh je, Sie schon wieder …«, sondern bedenken, dass jede Krise wieder anders ist und neu betrachtet werden muss. ȤȤ Wenn die Begegnung mühselig erscheint, kann es helfen, sich der eigenen Position auf der Achse des »Fallverstehens in der Begegnung« (Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2004) zu vergewissern: Habe ich zu schnell verstanden bzw. zu verstehen geglaubt, was das Muster ist, und habe ich dadurch vielleicht zu viel Distanz zu meiner Klientin gewonnen? Habe ich darüber ganz vergessen, dass vielmehr meine Fähigkeit zur Begegnung gefragt ist, dass ich also trotz fortgesetzter Zwickmühlen und Misserfolge Nähe hätte ertragen sollen? Ein systemisches Verständnis der Störung als psychosoziobiologisch bedingt, das Wissen um die Zirkularität menschlicher Beziehungen (im Alltag und in der Therapie) und eine entsprechende Methodik des Fragens und Kommentierens helfen sehr, den Überblick, die Handlungsfähigkeit und zugleich die Begegnungsfähigkeit zu erhalten. Andere Therapieverfahren und ihre Manuale, wie zum Beispiel die kognitive Verhaltenstherapie, die Schematherapie oder die Übertragungsfokussierte Therapie werden mit Vorteil wissensmäßig integriert, geben aber nicht in gleichem Maße Hilfsmittel an die Hand, die Beziehungsphänomene als zirkulär zu verstehen und zu verändern. Literatur Borst, U. (2011). »Du sollst nicht mit mir reden, als würdest du mich kennen.« Systeme, 25 (1), 5–22. Fischer, H. R., Borst, U., Schlippe, A. von (2013). Soll Therapie Probleme lösen? Wie Wege beim Gehen entstehen. Familiendynamik, 38 (3), 223–225. Schlippe, A. von, Borst, U., Fischer, H. R. (2014). Wie kann ich in schwierigen therapeutischen Situationen meine Handlungsfähigkeit wiedergewinnen? Ein kleiner »Erste-Hilfe-Kurs«. Familiendynamik, 39 (1), 60–63.

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Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2013). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Selvini Palazzoli, M., Cirillo, S., Selvini, M., Sorrentino, A. M. (1992). Die psychotischen Spiele in der Familie. Stuttgart: Klett-Cotta. Welter-Enderlin, R., Hildenbrand, B. (2004). Systemische Therapie als Begegnung (4. erw. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

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Symptome – Diagnostik – Therapie

Symptome – klassisch gesehen Im psychotherapeutischen Kontext werden Symptome in der Regel als Ausdruck von Störungen, als Anzeichen für und Merkmale von Krankheiten angesehen, als Hinweise auf Defizite des Gesundheitszustandes. Dabei wird häufig zwischen sogenannten subjektiven und objektiven Symptomen unterschieden. Als subjektive Symptome werden Beschwerden bezeichnet, die von betroffenen Menschen selbst feststellbar sind bzw. von ihnen festgestellt und beschrieben werden. Sie zählen somit zu der Kategorie der Selbstbeschreibung. Als objektive Symptome gelten Krankheitszeichen, die von anderen, von außen festgestellt werden und zu der Kategorie der Fremdbeschreibung gehören. Bei psychischen Störungen sind es häufig die Angehörigen, die sich durch bestimmte Verhaltensweisen eines Familienmitglieds gestört fühlen oder sich über bestimmte Reaktionen Sorgen machen. Nicht selten erfolgt dann im familiären Kontext der erste Schritt in Richtung Diagnose »Du bist ja krank!« Diese pathologisierende Zuschreibung macht dem diagnostizierten Kranken die Abweichung vom Normalen zum Vorwurf und grenzt ihn aus dem Reich der Gesunden aus. In der Folge wird dann gegebenenfalls eine Diagnose von Fachleuten erstellt, ebenfalls im Sinne einer Fremdbeschreibung. In der Kombination mit weiteren Untersuchungen und einer ausführlichen Anamnese werden einzelne Symptome einer bestimmten Gesundheitsstörung zugeordnet und führen damit zur Diagnose einer Krankheit und in der Folge möglicherweise zu deren Therapie. Um die Zuordnung von Symptomen und damit die Diagnostik von Krankheiten zu erleichtern, wurden eine Reihe verschiedener und unterschiedlich detaillierter Klassifikationssysteme entwickelt. Einzelne Symptome für sich allein genommen reichen in der Regel © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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nicht aus, um eine bestimmte Diagnose zu rechtfertigen. Erst das kombinierte Auftreten von Symptomen ermöglicht die Zuordnung zu einer speziellen Erkrankung. Diese Zu- oder Einordnung von Verhalten, geäußerten Gefühlen und Gedanken ist allerdings auch von Seiten der Behandler trotz klassifikatorischer Hilfen nicht immer eindeutig zu leisten. Gerade im Falle psychischer Störungen gibt es bei der Diagnosenstellung eine enorme Bandbreite. »Fast jeder Arzt hat eine Lieblingsdiagnose. Es gehört für ihn Überwindung dazu, sie nicht zu stellen.« Diese durchaus diagnosenkritische Bemerkung verdanken wir Marcel Proust (1871–1922). Wenn Fremdbeschreibung und Selbstbeschreibung übereinstimmen, wird gern von Krankheitseinsicht gesprochen, das heißt, die Klient/-innen sind so klug, ihren Behandlern zuzustimmen und zeigen sich gegenüber deren Beschreibungen einsichtig. Der Volksmund sagt ja: »Einsicht ist der erste Weg zur Besserung«. Wenn nun aber von Klient/-innenseite subjektiv gar keine Verschlechterung vorausgegangen war? Dann ist mangelnde Einsicht subjektiv gesehen für die Klient/-innen eher ein Zeichen von Vorsicht und Abgrenzungsfähigkeit. Ein gutes Beispiel für das Auseinanderklaffen von Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung und für unterschiedliche Einsichten bei den verschiedenen Beteiligten liegt im Falle der Diagnose »manischdepressive Psychose« vor. In der manischen Phase sind Angehörige oft über alle Maßen beunruhigt und fordern massiv von ärztlicher Seite eine wirksame Behandlung der »Krankheit«. Angst um das Konto, den guten Ruf und nicht zuletzt um den Angehörigen lassen sie auf die Barrikaden gehen. Klient/-innen selbst fühlen sich in der manischen Phase dagegen in der Regel gut, voller Energie und neuer Ideen. Dass ihre Unternehmungslust Teil einer Krankheit sein soll, will ihnen nicht in den Kopf. Genau das Gegenteil finden wir indessen in der depressiven Phase. Klient/-innen leiden unter Niedergeschlagenheit und Lebensüberdruss und zeigen sich hilfsbedürftig. Ihre Angehörigen dagegen haben sich in dieser Phase meistens beruhigt, da das erkrankte Familienmitglied ja wieder stiller geworden ist. Dass es möglicherweise den ganzen Tag im Bett liegt, ist für die Angehörigen in der Regel nicht in gleichem Maße beunruhigend. Ein und dasselbe Verhalten wird also unterschiedlich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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beschrieben und bewertet, je nachdem, wer es darstellt. Symptome sind daher in der Regel alles andere als eindeutig; sie sind abhängig von der Perspektive des Betrachters.

Symptome – systemisch gesehen Dieser Mehrdeutigkeit von Symptomen trägt der systemische Ansatz in besonderer Weise Rechnung. Er betrachtet Symptome anders als die klassischen psychotherapeutischen Ansätze, und er kommt auch zu anderen Bewertungen. Symptome werden eher – wie auch in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs – als vorübergehende Eigentümlichkeiten oder als Zeichen für etwas angesehen. Sie gelten nicht als Ausdruck eines Defizits oder eines gesundheitlichen Problems, sondern als Lösungsversuche für existenzielle Herausforderungen. Sie werden als Ressourcen angesehen, die darauf hinweisen, dass der menschliche Organismus gerade dabei ist, auf ein entstandenes gesundheitliches Ungleichgewicht zu reagieren und es auszugleichen. Nehmen wir als Beispiel die depressive Symptomatik, zu der unter anderem Merkmale wie Lustlosigkeit, Passivität und getrübte Stimmung zählen. Oft wird auch geschildert, dass depressive Menschen ihre Resonanz- und Reaktionsfähigkeit gegenüber ihrem sozialen Umfeld verloren haben. Behandelnde Ärzte sprechen auch davon, dass die Betroffenen nicht mehr schwingungsfähig seien. Wenn systemisch orientierte Therapeut/-innen sich darum bemühen, depressives Verhalten als Lösungsversuch zu verstehen, dann kann ihr Hauptinteresse vernünftigerweise nicht dahin gehen, vorwiegend die Dinge zu explorieren, zu denen die Klient/-in nicht mehr fähig ist. Es würde auch wenig Sinn machen, die Entwicklungsgeschichte dieser Einschränkungen in ihrer Gänze nachzuzeichnen und zu Beginn des therapeutischen Kontaktes eine ausführliche Anamnese zu erheben. Statt die Krankengeschichte zu erfragen, steht in der systemischen Therapie die Beschreibung des Kontextes im Vordergrund, in dem das depressive Verhalten gezeigt wird. Gemeinsam mit den Klient/-innen werden Hypothesen entwickelt über die beziehungsgestaltenden Wirkungen der Symptomatik und ressourcenorientiert erforscht, welche Lösungsanteile in den geschilderten Problemen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

Symptome – Diagnostik – Therapie63

bereits enthalten sind. In der systemischen Therapie suchen Therapeut/-innen nach den »guten Gründen« für das beanstandete Verhalten und fragen ihre Klient/-innen zum Beispiel direkt danach, was sich seit Bestehen der depressiven Symptomatik in ihrem Leben geändert hat und wofür die Depression in diesem Zusammenhang ein Lösungsversuch sein könnte. Einfach ist die Beantwortung solcher Fragen nicht, und manchmal bedarf es mehrerer Versuche der Therapeut/-in, um auf diese Fragen Antworten zu erhalten. Da Menschen im Allgemeinen und Klient/-innen im Besonderen in der Regel ein tiefes Bedürfnis haben zu verstehen, was vorgeht, wollen sie nach und nach auch herausfinden, warum sie auf eine bestimmte Art und Weise fühlen, denken und handeln (Ciompi, 1997). Im systemischen Ansatz lautet die weiterführende Frage in Richtung eines vertieften Verständnisses von Symptomen allerdings nicht »Warum«, sondern »Wozu«. Die Frage nach dem »Warum« richtet den Fokus der Aufmerksamkeit eher auf die Vergangenheit, wohingegen die Frage nach dem »Wozu« hauptsächlich die Gegenwart in den Blick nimmt und damit stärker die Auswirkungen einer Symptomatik beleuchtet. Wenn Klient/-innen sich ernsthaft auf die Suche machen, ihre Symptome zu verstehen, finden sie in der Regel eine ganze Menge »Guter Gründe« für ihr beanstandetes Verhalten bzw. für ihre Beschwerden. Sie erkennen dann, dass die Symptomatik, bzw. die damit einhergehende Problematik häufig einen – wenn auch nicht idealen – Lösungsversuch darstellt. Als sinnstiftende Elemente für depressives Verhalten werden von Klient/-innen sehr vielfältige Aspekte gefunden: ȤȤ sich eine Ruhepause nehmen; ȤȤ die Verantwortung an andere abgeben; ȤȤ die anderen wichtig machen, indem man sie zu Rettern und Helfern erklärt; ȤȤ die anderen mit dem depressiven Verhalten einladen, die Anforderungen an einen selbst zu reduzieren; ȤȤ die anderen dafür gewinnen, nicht nachlassende Zuwendung zu zeigen; ȤȤ sich Aufmunterung und Trost abholen.

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Man könnte bei depressivem Verhalten manchmal sogar von einem tatsächlichen Liebestest sprechen, der prüft. »Wer hat mich wirklich lieb?« und »Wer hält mich – so schrecklich, wie ich bin – aus?« Betrachten wir Symptome als Ressourcen und untersuchen die Vielfalt »guter Gründe« für ein symptomatisches Verhalten näher, so können wir zusätzlich unterscheiden zwischen Symptomen als Folge von etwas, Symptomen als Ausgangspunkt für etwas oder Symptomen als Mittel zum Zweck (Ritscher, 1996). In diesem Sinne können wir depressives Verhalten zum Beispiel als Folge von Überforderung, als Ausgangspunkt für einen Appell an die anderen oder als Mittel zum Zweck, zum Beispiel mehr Zuwendung zu bekommen, beschreiben. Hier stellt sich auch die Frage, welche einzelnen Schritte für eine ressourcenorientierte Beschreibung von Symptomen wichtig sind. Aus systemischer Sicht gehören hierzu: ȤȤ statt nach Eigenschaften zu suchen auf Verhalten zu fokussieren, ȤȤ statt nicht mehr vorhandene Fähigkeiten und Defizite in den Mittelpunkt zu stellen auf eigenverantwortliches Verhalten und Eigenaktivität hinzuweisen, ȤȤ statt individuenzentriert vorzugehen das Gesamtsystem und die Teilsysteme und ihre Bedeutung für die beanstandeten Beschwerden im Blick zu haben, ȤȤ statt die pathologischen Zusammenhänge zu betonen die beziehungsgestaltenden Effekte bzw. die »guten Gründe« eines symptomatischen Verhaltens hervorzuheben und ȤȤ statt das Problematische zu betonen auf die lösungsrelevanten Aspekte hinzuweisen, ȤȤ statt auf Krankheit auf die Wiederherstellung von Gesundheit zu achten.

Diagnosen Die andere Sichtweise von Symptomen hat nachvollziehbarerweise erhebliche Auswirkungen auf das Stellen von Diagnosen und den gesamten diagnostischen Prozess. Im systemischen Ansatz haben Diagnosen daher eine radikal andere Bedeutung. Werfen wir jedoch auch bei diesem Begriff zunächst einen Blick auf die Wortquelle selbst. Eine Diagnose stellen hieße dann, »etwas erkennen dadurch, dass © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

Symptome – Diagnostik – Therapie65

man eine Unterscheidung trifft und damit einen Unterschied macht« (Simon, 1993). Dieses weite Verständnis des griechischen Begriffs, das schon systemisch geprägt ist, soll unsere Aufmerksamkeit auf die Weite der Möglichkeiten lenken, die mit dem Begriff Diagnose ursprünglich einhergingen. Im medizinischen Kontext hat sich der Begriff innerhalb des Krankheitsmodells allerdings in eine spezifische Richtung entwickelt und eine ganz andere Konnotation bekommen. Diagnose heißt hier »Erkennen einer Krankheit«. Als Synonyme für Diagnose gelten unter anderem Befund, Bestimmung, Beurteilung und Feststellung. Diese Bedeutungen des Begriffs, die eine Diagnose auf etwas Pathologisches und Verdinglichtes einengen, und das Stellen einer Diagnose dem medizinisch ausgebildeten Experten vorbehalten, haben es für den systemischen Ansatz über Jahre unattraktiv gemacht, sich mit dem Begriff der Diagnose überhaupt zu beschäftigen. Man kann mit Kurt Ludewig sogar von einer radikalen Abkehr von der Diagnostik sprechen (Ludewig, 2002). Historisch gesehen führte auf systemischer Seite die immer stärker werdende Einbeziehung systemischen Denkens und Handelns in den Gesundheitssektor und damit in den klinischen Alltag fast zwangsweise zu einer stärkeren Beschäftigung mit den verschiedenen psychotherapeutischen Diagnosen und damit auch mit dem Diagnosebegriff. Wenn sich Systemiker/-innen auch eher nicht danach drängen, eine Diagnose im klassischen Sinne zu stellen, so haben sie es in ihrem therapeutischen Alltag doch oft mit Klient/-innen zu tun, die bereits diagnostiziert wurden. Sie stehen zudem im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, die eine andere Sprache als die systemische sprechen, und sie arbeiten in Institutionen, die sich an den Gepflogenheiten unseres Gesundheitssystems orientieren. Die zunehmende Beschäftigung mit dem Begriff der Diagnose kann also einerseits als eine Anpassungsleistung beschrieben werden; sie entspringt aber andererseits auch dem Bedürfnis, ressourcenorientierte Beschreibungen sogenannter Symptome zu finden und sie auf einer höheren Abstraktionsebene systemisch zu ordnen. Systemische Diagnostik will die beziehungsgestaltenden Wirkungen von Symptomen erfassen und die Beziehungsmuster, die in Systemen rund um ein Symptom entstehen, beschreiben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Hier stellt sich allerdings die Frage. Kann man sich überhaupt eine Diagnostik vorstellen, die mit dem systemischen Denken kompatibel ist? Oder ist die Diagnostik inzwischen dauerhafter Bestandteil unseres Krankheitsmodells geworden? Ein österreichischer Satiriker sprach von der »Diagnose als einer der am weitesten verbreiteten Krankheiten« (Karl Kraus, 1874–1936). Wenn sich die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem systemischen Denkmodell mit einem »Ja« beantworten ließe, wie müsste dann eine systemische Diagnostik gestaltet sein?

Systemische Diagnostik – eine Unterscheidung, die einen Unterschied macht Systemische Diagnostik kann sich, will sie dem systemischen Paradigma genügen, durchaus auf die bereits zitierte Wortquelle berufen und damit auch den Gedanken von George Spencer-Brown aus seinen »laws of form« aufgreifen: »Draw a distinction« (SpencerBrown, 1969). Die Unterscheidung ist im Sinne Spencer-Brown’s der Ausgangspunkt jeglicher Wahrnehmung und Beschreibung. Er sieht die Unterscheidung als die elementare kreative Handlung an, die ihrerseits das Fundament dafür bildet, eine Vielzahl verschiedener möglicher Wirklichkeiten zu schaffen. Mit Gregory Bateson haben wir zudem gelernt, dass vor allem diejenigen Unterscheidungen besonders ergiebig sind, die einen Unterschied machen, also neue Informationen beinhalten (Bateson, 1988). Wenn wir Diagnostik also nicht in dem einengenden und nur an der Pathologie orientierten Sinne verstehen, sondern in ihrer weiteren Bedeutung als Grundlage für die Konstruktion einer Vielzahl alternativer Wirklichkeiten oder Möglichkeiten, dann haben wir eine Basis für ein Diagnoseverständnis, das mit dem systemischen Denken durchaus kompatibel ist. Obwohl die Begriffe »krank« und »gesund« Gegensätze darzustellen scheinen, unterliegen sie keinem Entweder-oder-Muster. Der jeweilige Gesundheitszustand lässt sich viel passender auf einem Kontinuum zwischen den Polen »krank« und »gesund« abtragen und stellt einen Ausgangspunkt dar, von dem es möglich ist, sich sowohl in die eine als auch in die andere Richtung zu bewegen, das heißt in Richtung »kränker« oder »gesunder«. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Die Unterscheidung »krank« und »gesund« ist zudem nicht durch den Organismus und das subjektive Empfinden allein festgelegt, sondern auch sozial definiert. Wir können sagen, dass gesellschaftliche Interessengruppen definieren und bewerten, was krank und was gesund ist (Keupp, 1991). Die Bewertung von Phänomenen als »krank« oder »gesund« ist ein Merkmal der Beobachtung und nicht der beobachteten Phänomene. Wir können mit Fritz B. Simon auch sagen, sie ist ein Teil der Landkarte und nicht Teil der Landschaft (Simon, 1995), bzw. mit Alfred Korzybski: »The map is not the territory« (Korzybski, 1933). Diagnostik ist also selbst nicht wertfrei, sondern durchaus von »Erkenntnisinteressen« geleitet (Habermas, 1981). Diagnostik hat daher stets einen hypothetischen Charakter. Und sie erlaubt nicht nur die Beschreibung von Wirklichkeiten, sondern auch die Beschreibung von Möglichkeiten. Sie beschreibt nicht nur, was ist, sondern auch was sein könnte (Schweitzer-Rothers u. Ochs, 2008). Immer dann, wenn das Interesse der Therapeut/-innen den beziehungsgestaltenden Wirkungen von Symptomen und damit ihren Lösungsanteilen gilt, werden Türen in Lösungsräume geöffnet, in denen weitere potenzielle Lösungsmöglichkeiten warten, die durchaus Alternativen darstellen können zu den bereits mit Hilfe der Symptomatik gewählten Optionen. Um zu veranschaulichen, was dies konkret bedeuten könnte, will ich nochmals auf die Diagnose »Depression« zurückgreifen. Als ein möglicher beziehungsgestaltender Effekt ihrer »Depression« war von einer Klientin genannt worden, dass sie mit ihrem Verhalten andere darauf aufmerksam mache, dass sie sich überfordert fühle und Hilfe und Unterstützung brauchen könne. Dieses implizite »Helft mir« war für sie gekoppelt mit der Idee von sich selbst, nicht zu fordernd auftreten zu wollen. Dies entsprach auch dem Leitspruch aus ihrer Herkunftsfamilie: »Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen«. Die »Depression« war also eine so gesehen ganz passende Lösung für die Klientin. Offensichtlich gibt es jedoch noch andere Wege, um Hilfe und Unterstützung zu bekommen, als sich eine »Depression« zu nehmen. Sie könnte zum Beispiel die eigenen Kinder stärker in die Pflicht nehmen, sie könnte den Ehemann deutlicher mit bestimmten Notwendigkeiten konfrontieren oder sie könnte ab und zu ein deut-

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liches »Nein« platzieren, wenn es gerade einmal wieder um die Verteilung von Aufgaben geht.

Diese alternativen Lösungen haben jedoch offensichtlich auch ihren Preis. Sie haben den Preis, aktiv werden zu müssen, etwas einzufordern und dafür vermutlich nicht nur Anerkennung zu bekommen. Vielleicht ist dann doch die »Depression« der leichtere Weg? Aber auch hier gilt das, was der Volksmund sagt: »Keine Lösung ohne Preis.« Diagnosen können pathogene und/oder salutogene Auswirkungen haben. Ein gutes Beispiel stellt die von Paul Watzlawick (Watzlawick, Weakland u. Fisch, 1979) oft erzählte Geschichte dar, in der ein schwerkranker Mann im Krankenhaus von seinem behandelnden Arzt vertröstet wird, indem dieser zu ihm sagt: »Wenn wir nur erst Ihre Diagnose hätten, dann wären wir einen Schritt weiter und könnten Ihnen helfen.« Einige Tage darauf kommt eine Koryphäe zur Visite, geht am Bett des Schwerkranken vorbei und murmelt »Moribundus«. Mehrere Jahre später trifft der inzwischen Genesene auf seinen früheren Arzt und sagt. »Vielen Dank, Herr Doktor! Sie sehen, es geht mir gut. Welches Glück, dass damals Ihr Kollege kam und die Diagnose stellen konnte.« Spätestens an dieser Stelle stellt sich nun die Frage, welche Kriterien eine systemische Diagnostik im Kontext Psychotherapie berücksichtigen könnte. Folgende Merkmale erscheinen mir von Bedeutung: 1. Systemische Diagnostik fokussiert auf den Kontext, in dem sich Menschen bewegen. Sie beschreibt Interaktionsprozesse und sieht Krankheiten und mit ihnen in Zusammenhang stehende Verhaltensweisen situationsabhängig als Ergebnisse wechselseitiger Beeinflussung. 2. Systemische Diagnostik nimmt sowohl Beziehungsmuster in den Blick als auch Wahrnehmungsmuster, die ganz häufig isomorphen Charakter haben, das heißt Strukturähnlichkeiten aufweisen. 3. Systemische Diagnostik begreift Gesundheit und Krankheit als sozial konstruierte Phänomene und sieht den diagnostischen Prozess als sozial konstruierte Wirklichkeit. Nicht allein der Organismus bestimmt, was krank ist, sondern derjenige, der die Diagnose stellt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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4. Systemische Diagnostik versteht sich als dialogisch und zirkulär. Sie greift die Beschreibungen der Klient/-innen auf und ermöglicht ihnen damit eine stärkere Partizipation in der Beschreibung ihrer eigenen Beschwerden. 5. Systemische Diagnostik hat hypothetischen Charakter und erlaubt nicht nur die Beschreibung von Wirklichkeiten, sondern auch die Beschreibung von Möglichkeiten. Sie berücksichtigt Entwicklungsprozesse auf Seiten der Klient/-innen und wird damit der Offenheit menschlicher Entwicklungen gerecht. 6. Systemische Diagnostik beinhaltet Perspektivenwechsel und unterstützt einen ressourcenorientierten und lösungsfokussierten Blick auf den Status quo und die zu gestaltende Zukunft. Krankheiten und damit verbundene Verhaltensweisen werden in einen subjektiven Sinnzusammenhang gestellt. Insgesamt geht es in einer systemischen Diagnostik nicht um richtig oder falsch, sondern darum, ob eine bestimmte Beschreibung nützlich ist; nützlich ganz pragmatisch gesehen in Bezug auf das Finden therapeutischer Lösungen. Eine so verstandene Diagnostik ist mit Maja Heiner mehr im Sinne einer Modifikationsdiagnostik zu begreifen und weniger im Sinne einer Klassifikationsdiagnostik (Heiner, 2001). Wie die traditionelle Klassifikationsdiagnostik therapeutische Arbeit behindern kann, soll folgendes Beispiel aus meinem supervisorischen Erfahrungsschatz veranschaulichen. Eine dreißigjährige Frau war seit einem Vierteljahr auf der geschlossenen Station eines Psychiatrischen Krankenhauses untergebracht. Sie wurde verschiedenen Untersuchungen unterzogen und wartete noch immer auf ein Therapieangebot. Die Kolleginnen und Kollegen konnten sich bis dato noch nicht einigen, ob es sich um eine Psychose, eine Borderline-Störung oder etwas Drittes handelte. Auf meine Frage, was denn als Nächstes geplant sei, gab man mir die Antwort: »Bevor wir die Diagnose nicht gestellt haben, können wir nicht anfangen zu therapieren.« Mit dieser Begründung wurden der Klientin noch nicht einmal therapeutische Gespräche angeboten.

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Ein derartiges Primat der Diagnostik, das im Extremfall, wie das Beispiel zeigt, therapeutische Hilfestellungen und Interventionen sogar blockieren kann, ist in organmedizinischen Fragen möglicherweise sinnvoll, sollte im psychotherapeutischen Kontext jedoch überwunden werden.

Systemische Therapie – Schlussfolgerungen Wie ist es möglich, aus der Klage über Symptome und aus den Negativbeschreibungen von Seiten der Klient/-innen herauszukommen? Wie kann der Perspektivenwechsel vom Defizit zur Ressource gelingen? Klientinnen und Klienten kommen ja in der Regel mit Defizit- und Problembeschreibungen in die Therapie, und der Kontext Therapie scheint sie geradezu herauszufordern, auf all die Dinge zu fokussieren, die in ihrem Leben nicht gut laufen. Würde sich eine Therapeut/-in allein auf die von den Klient/-innen erzählte Beschwerdengeschichte stützen, wäre ein lösungsorientiertes Verständnis sowohl für sie als auch für die Klient/-in nur schwer zu erreichen. Und wären nur die zur Verfügung stehenden Klassifikationssysteme maßgeblich, wäre die Konzentration auf die defizitären Aspekte fast unumgänglich. Möglich wird der Perspektivenwechsel durch das – dem systemischen Ansatz inhärente – Verständnis von Therapie als gemeinsamer Konstruktion von Wirklichkeit. Therapeut/-in und Klient/-in betrachten die Geschehnisse aus verschiedenen Richtungen, bringen im Dialog verschiedene Beschreibungen hervor und gestalten so zusammen therapeutische Wirklichkeit. Wir haben es hier mit einem Prozess des »Ineinandergreifens« verschiedener Konstrukte der Betroffenen und der Expertinnen und Experten zu tun (WelterEnderlin, 1999). In diesem Zusammenhang können wir auch von einem gemeinsamen Such- und Findeprozess sprechen. Dadurch, dass Therapeut/-innen durch spezifische systemische Methoden, wie zum Beispiel durch zirkuläres Fragen ihren Klient/innen Unterstützung darin anbieten, die geschilderten Beschwerden und Symptome in einen subjektiven Sinnzusammenhang zu stellen, können sie dazu einladen, die Geschichte einer Symptomentwicklung neu zu sehen, neu zu verstehen und in der Folge anders zu erzählen (Gergen, 2002). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Je besser es in der Therapie gelingt, Klient/-innen darin zu begleiten, ihr eigenes Verhalten als Lösungsversuch zu sehen, die eigenen Ressourcen zu erkennen, die eigenen Vorhaben für machbar und die Wege, diese umzusetzen für gangbar zu halten, umso erfolgreicher kann eine Therapie sein (Ebbecke-Nohlen, 2000, 2001). Und je deutlicher es gelingt, Klient/-innen dafür zu gewinnen, den persönlichen Lebensentwurf als eine Herausforderung wahrzunehmen, die sie bewältigen wollen, um so größer ist die Chance, Symptome zu verabschieden, sich aus gewohnten Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern herauszubewegen und sich als Gestalter/-innen des eigenen Lebens wahrzunehmen. Literatur Bateson, G. (1988). Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ciompi, L. (1997). Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ebbecke-Nohlen, A. (2000). Zur Organisation von Ambivalenz – Der systemische Ansatz in der Borderline-Therapie. Psychotherapie im Dialog, 1 (4), 36–45. Ebbecke-Nohlen, A. (2001). Der systemische Ansatz in der Borderline-Therapie. In. G. Dammann, P. L. Janssen (Hrsg.), Psychotherapie der Borderline-Störungen (S. 164–177). Stuttgart: Thieme. Gergen, K. (2002). Konstruierte Wirklichkeiten. Eine Hinführung zum sozialen Konstruktionismus. Stuttgart: Kohlhammer. Heiner, M. (2001). Umstrittene Begrifflichkeit. Psychosoziale Diagnostik. In H.-U. Otto, H. Thiersch (Hrsg.), Handbuch Sozialarbeit – Sozialpädagogik (S. 253–265). Neuwied: Luchterhand. Habermas, J. (1981). Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Keupp, H. (Hrsg.) (1979). Normalität und Abweichung. Fortsetzung einer notwendigen Kontroverse. München: Urban und Schwarzenberg. Korzybski, A. (1933). Science and sanity: An introduction to non-Aristotelian systems and general semantics. Lancaster, PA: Business Press (weitere Ausgaben: Brooklyn, NY: Institute of General Semantics, 2003, fifth printing). Kraus, K. (o. J.). Zugriff unter http.//www.komma-net.de/zitate/. Fachverlag für Kommunikation und Management. Ludewig, K. (2002). Leitmotive systemischer Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Proust, M. (o. J.). Zugriff unter http.//www.komma-net.de/zitate/ Fachverlag für Kommunikation und Management. Ritscher, W. (1996). Systemisch-psychodramatische Supervision in der psychosozialen Arbeit. Eschborn: Klotz. Schweitzer-Rothers, J., Ochs, M. (2008). Systemisch-Konstruktivistische Di-

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agnostik. Vom Verfeinern des Möglichkeitssinns. In M. Cierpka (Hrsg.), Handbuch der Familiendiagnostik (3. Aufl., S. 137–151). Berlin: Springer. Simon, F. B. (1993). Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie. Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Simon, F. B. (1995). Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg: Carl Auer. Spencer-Brown, G. (1969). Laws of Form. London: Allen & Unwin. Watzlawick, P., Weakland, J. H., Fisch, R. (1979). Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern u. a.: Hans Huber. Welter-Enderlin, R. (1999). Wie aus Familiengeschichten Zukunft entsteht. Neue Wege systemischer Therapie und Beratung. Freiburg: Herder.

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Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen Warum Netzwerkarbeit die systemische Königsdisziplin werden sollte Nichts trägt einen Sinn in sich. Der wirkliche Sinn liegt im Gefüge. Antoine de Saint-Exupéry

Wie uns freundliche Bakterien gegen feindselige Eindringlinge schützen: Die Forschungen zum Mikrobiom Steven Spielberg schuf in seiner 2005 realisierten Buchverfilmung »Krieg der Welten« von H. G. Wells einen bemerkenswerten Film, und das in zweierlei Hinsicht. Zum einen fiel dem Hauptdarsteller Tom Cruise erstaunlicherweise nicht die Aufgabe und Ehre zu, die Welt als Held zu retten, er spielte stattdessen einen verzweifelten Vater, der mit aller Macht versuchte, seine Kinder vor der unvorstellbaren Grausamkeit außerirdischer Eindringlinge zu retten. Aber viel eindrücklicher war die Auflösung am Ende: Nachdem die ganze Armada der Welt die Angreifer nicht aufgehalten hatte, fielen diese plötzlich um und verendeten, völlig überraschend für Tom Cruise und die Zuschauer. Im Abspann erfuhr man, was geschehen war: Bakterien hatten die Eindringlinge zur Strecke gebracht; die Menschen hatten sich im Laufe der Evolution an die kleinen Mikroben gewöhnt und mit vielen sogar eine produktive Koexistenz aufgebaut, für die Fremdlinge jedoch waren sie tödlich. Dieser überraschende Schluss eines Action-Filmes trägt eine tiefe Wahrheit: 90 % aller Zellen im menschlichen Organismus sind Mikroben, nur 10 % tragen die menschliche DNA der jeweiligen Person. Wir sind ein Biotop, ohne die Bakterien in uns wären wir nicht lebensfähig. Und sie machen neben vielen anderen nützlichen Dingen genau das, was der Film zeigt: Die Bakterien, mit denen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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wir zusammenleben, bilden die erste Stufe unseres Immunsystems und sind eng damit gekoppelt; schädliche Bakterien werden von ihnen angegriffen, vernichtet und beseitigt, unser Immunsystem wird spezifisch vorgewarnt, falls einige doch durchs Netz schlüpfen (z. B. Chehoud et al., 2013; Costello, Stagaman, Dethlefsen, Bohannan u. Relman, 2012). Aber nicht nur unser Immunsystem, unser Stoffwechsel und andere Aspekte unserer Gesundheit, auch Stimmungen und die Tendenz zu depressiven oder ängstlichen Zuständen hängen von der Art der Besiedelung und Balance in diesem inneren Netzwerk ab: Welche Bakterien vorherrschen, wie hoch die Diversität ist und wie gut wir unsere inneren Freunde behandeln (Foster u. McVey Neufeld, 2013, eine gute Zusammenfassung des gegenwärtigen Standes: Pollen, 2013). Der wissenschaftliche Fokus liegt derzeit noch auf den Bakterien, aber es ist zu erwarten, dass wir bei Pilzen und Viren ähnliche Befunde bekommen werden, erste Ergebnisse liegen schon vor (Lederer, 2012). Das Fazit dieser Erkenntnisse ist: Wir sind ein Biotop, ein Ökosystem aus Billionen von Lebewesen, ein isolierter Mensch ohne diese Mitbewohner wäre nicht lebensfähig. Wenn wir Bakterien bisher als im besten Fall harmlos, meistenteils feindselig angesehen haben, wissen wir nun: Sie sind unsere besten Freunde (manche zumindest). Und wir müssen sie hegen und pflegen, damit es uns (zusammen) gut geht. Denn es geht uns entweder zusammen gut oder keinem. Diese Entwicklung ist für uns Systemiker sehr spannend, denn sie verweist darauf, dass auch in der Medizin die Bedeutung unserer inneren Ökologie in den Vordergrund des Interesses rückt; die Vorgänge in einem komplexen, balancierten Regulationssystem lassen sich am besten mit systemischen Begrifflichkeiten erfassen. Bleiben wir noch etwas auf der zellulären Ebene. Auf dem Kongress »Das Ende der großen Entwürfe und das Blühen systemischer Praxis« in Heidelberg sprach Humberto Maturana über einen Aspekt interzellulärer Interaktion: Zellen fördern gegenseitig die Lebensbedingungen ihrer jeweiligen Nachbarzellen. Wenn er diese Dynamiken zusammenfassen wolle, falle ihm als Überschrift nur der Begriff »Liebe« ein (Maturana, 1991, mündl. Mitteilung). »Liebe besteht darin, einem anderen in einem spezifischen Interaktionsbereich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Raum für seine Existenz in Koexistenz mit einem selbst zu öffnen« (Maturana, 1985). Das gilt für Einzeller wie für Zellverbünde und auch für menschliche Gemeinschaften. Dazu passen sehr schön die Ergebnisse von Whitman und Kelsch, die beschreiben, wie neugebildete Gehirnzellen bis zu 21 Tagen von ihren Nachbarzellen »instruiert werden, bevor sie selber aktiv werden«, sie »hören erstmal zu, bevor sie anfangen zu arbeiten« (Whitman u. Greer, 2007; Kelsch, Lin u. Lois, 2008). Bleif (2013, S. 141 ff.) zeigt auf, dass mehrzellige Lebensformen nur dadurch entstehen konnten, indem die einzelnen Zellen ihren »egoistischen« Überlebenstrieb aufgaben und sich einer gemeinsamen Organisation und Koevolution untergeordnet haben. Sie bilden dabei engmaschige Verbünde und sind »tief in ihrem angestammten Milieu verwurzelt. Diese Heimatverbundenheit ist für viele Zelltypen sogar in einem ganz konkreten Sinn überlebensnotwendig. Sie gehen zugrunde, wenn sie die direkten, oft durch Eiweißbrücken vermittelten Kontakte zur Nachbarschaft verlieren. Dieser Verbund, in dem die meisten Zellen integriert sind, wird extrazelluläre Matrix genannt. Diese Matrix schafft ein sehr spezifisches lokales Milieu mit vielen löslichen Substanzen, die für das Leben und Gedeihen einer Zelle essentiell sind« (Bleif, 2013, S. 142). Zellen, die sich aus dieser Matrix herauslösen, sterben nicht selten den sogenannten »HeimwehTod« (von Zellbiologen als Anoikis, griechisch für Heimatlosigkeit, bezeichnet). Wenn Zellen entarten, gibt es etliche weitere Mechanismen, die bei missglückter Reparatur für den Tod der Zelle sorgen, wie zum Beispiel das Apoptose genannte Selbstmordprogramm in den jeweiligen Zellen. Krebszellen emanzipieren sich von der zellulären Matrix, kehren »zurück zum Egoismus« der einzelligen Lebensformen, lösen die vorhandene Gewebsstruktur auf und bilden auf Kosten der Umgebung eigene Strukturen aus (Bleif, 2013, S. 108 ff.). Schon auf zellulärer Ebene ist der positive Effekt innerer Netzwerke zu beobachten, sowohl innerhalb der Zellverbünde mit menschlicher DNA als auch innerhalb der Gemeinschaft von Billionen Lebewesen, die sich in unserem Körper zuhause fühlen. Aus der sozialen Netzwerkforschung wissen wir: Was im Inneren funktioniert, gilt auch im Äußeren. Ein gutes und balanciertes soziales Netzwerk hält uns gesund und arbeitsfähig, sorgt für gute Stimmung und hilft uns, Krisen besser zu bewältigen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Am Rande sei bemerkt, dass dieser Effekt natürlich auch für Tiere gilt, besonders für alle diejenigen, die in Gemeinschaften wie Rudeln oder Herden leben. Und wie jede gute Gärtnerin weiß, bilden auch Pflanzen Symbiosen, leben in voneinander abhängigen Biotopen, ihr Gedeihen ist von guter Nachbarschaft abhängig. Ein Beispiel aus der neueren Forschung: Gagliano und Renton (2013) fanden heraus, dass Chilisamen in der Nachbarschaft von Basilikumpflanzen besser keimen. Im Versuch wurden bekannte Signalwege wie Licht und chemische Botenstoffe blockiert, was nahelegt, dass die Pflanzen über akustische Kanäle kommunizieren: Sie erfassen die Anwesenheit des anderen, auch ohne sich »sehen oder riechen zu können«: »acoustic signals may offer […] a mechanism for mediating plant-plant relationships […] such signals may be generated in plants by biochemical processes within the cell, where nanomechanical oscillations of various components in the cytoskeleton can produce a spectrum of vibrations« (Gagliano u. Renton, 2013). Unterstützung und Kooperation zeigt sich neben Wettbewerb und Durchsetzung als grundlegendes Lebensprinzip auf allen Ebenen natürlicher Prozesse.

Wie uns freundliche Menschen gegen allerlei Beschwernisse schützen: Einige Ergebnisse aus der Forschung Der Mensch wird erst am Du zum Ich. Martin Buber

Es gibt ein kleines Dorf in Pennsylvania, das wohl wie kein anderes von Wissenschaftlern beforscht wurde. Die italienischen Auswanderer nannten es nach ihrem Heimatdorf Roseto. Es war Forschern aufgefallen, weil es dort so viele unfassbar gesunde Menschen gab. Kaum jemand war unter 55 an einem Herzinfarkt gestorben, die Todesrate lag bei allen untersuchten Krankheiten um 30 bis 35 % niedriger als im Landesdurchschnitt. Der Arzt Stewart Wolf und der Soziologe John Bruhn forschten in dem Dorf bis 1984 und veröffentlichten ihre Ergebnisse in dem Buch »The Power of Clan« (Bruhn u. Wolf, 1998). Sie fanden in den 1950er Jahren »keine Selbstmorde, keinen Alkoholismus, keine Drogenabhängigkeit und kaum Ver© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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brechen. Niemand hat Sozialhilfe bezogen. Niemand hatte Magengeschwüre. Die Leute starben an Altersschwäche« (Gladwell, 2011, S. 13). Zunächst glaubte man, dass es an der Ernährung läge oder an genetischen Komponenten, an besonderem sportlichen Eifer oder an regionalen Besonderheiten (das gute Reizklima). Diese Hypothesen mussten durch entsprechende Untersuchungen allesamt verworfen werden. Der einzige Unterschied zu anderen Gemeinden war in der Sozialstruktur zu finden. Die Emigranten hatten ihre Dorfkultur aus Italien mitgebracht: Sie lebten in Mehrgenerationen-Haushalten, pflegten enge Kontakte, auch informelle (die Plaudereien auf der Straße), halfen sich gegenseitig, hatten viele gemeinsame Freizeitaktivitäten und ein blühendes Gemeinde- und Vereinsleben. Mit der Veränderung dieser Sozialstrukturen in den darauf folgenden Jahrzehnten verblasste dieser Effekt: Krankheitsraten gingen nach oben, 1971 starb der erste Rosetani unter 45 an einem Herzinfarkt, Roseto verlor seine Einzigartigkeit (Zusammenfassungen bei Gladwell, 2011, S. 9 ff.; Johnson, 1999). Ein ähnlicher Verlauf wurde aktuell von Lill (2013, Zeitartikel: »Vom Verschwinden der Hundertjährigen«) von der japanischen Insel Okinawa berichtet, die für ihre langlebigen Bewohner bekannt war. Auch hier schien eines der gesundheitsfördernden Aspekte in der kooperativen und unterstützenden Sozialstruktur zu liegen, mit der Erosion dieser Strukturen nehmen die typischen Zivilisationserkrankungen zu, die Lebenserwartung sinkt. Auch wenn Detailfragen in der Forschung umstritten sind, so gibt es schon lange eine robuste Befundlage zu den förderlichen Effekten stabiler sozialer Netzwerke auf die organische und psychosoziale Gesundheit wie auch auf Krisenbewältigung (Cohen, 1988; Röhrle, Sommer u. Nestmann, 1998). Am beeindruckendsten zeigen dies die Ergebnisse von Holt-Lunstadt, Smith und Layton (2010), die in einer Metaanalyse von 148 prospektiven Studien zeigen konnten, dass der Einfluss der sozialen Beziehungen auf Gesundheit und Sterberate den anderen bekannter Risikofaktoren (wie Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel) gleicht und in vielen Fällen sogar überlegen ist. »Across 148 studies (308,849 participants), the random effects weighted average effect size was OR = 1.50, indicating a 50 % increased likelihood of sur© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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vival for participants with stronger social relationships. This finding remained consistent across age, sex, initial health status, cause of death, and follow-up period« (Holt-Lunstad, Smith u. Layton, 2010; siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Effektstärke verschiedener Risikofaktoren auf die Mortalität (Holt-Lunstad et al., 2010)

Gute Beziehungen und Netzwerke sind Kernvariablen für die Bewältigung kritischer Lebensereignisse, damit auch für die Bewältigung der nötigen Veränderungsanpassungen im Lebensverlauf (Sommer u. Ernst, 1977; Röhrle et al., 1998; Nestmann, 2005). Wie wirken soziale Netzwerke? Vor allem auch über die soziale Unterstützung, die in Netzwerken geschieht. Dies beinhaltet verschiedene Aspekte: ȤȤ emotionale Unterstützung: Zuwendung und Verständnis, das Gefühl, gesehen zu werden mit seinen alltäglichen Lasten und Freuden, Problemen und Erfolgen. ȤȤ praktische Unterstützung bei der Bewältigung täglicher Aufgaben durch versorgende Tätigkeiten, Mithilfe bei anfallenden Arbeiten, Babysitting, aber auch finanzielle Unterstützung oder Ressourcen, die zur Verfügung gestellt werden: ein Auto für Einkäufe und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Besorgungen, Staubsauger, Waschmaschine, Spielzeuge für die Kinder, Mehl und Eier, die beim Kuchen fehlen und beim Einkauf vergessen wurden, etc. ȤȤ Einschätzungs- und Entscheidungshilfen bei kleinen und großen Fragestellungen im Alltag wie Erziehung, Anschaffungen, Freizeitgestaltung, Arbeitsproblemen. ȤȤ Information und Beratung: Sachinformation, Erfahrungen, die zur Verfügung gestellt werden: Ärzte, Umgang mit Krankheitssymptomen, wie schneidet man Rosen etc. Dabei werden verschiedene Wirkmechanismen diskutiert (z. B. Cohen, 1988) – eine kleine Auswahl: Soziale Unterstützung ȤȤ stärkt Zugehörigkeit und Selbstwert, ȤȤ steigert das Selbstwirksamkeitserleben, ȤȤ reduziert Arbeitsbelastung, ȤȤ puffert und reduziert Stressreaktionen, ȤȤ vermittelt effektive Modelle für Bewältigungsverhalten, ȤȤ stärkt gesundheitsorientiertes Verhalten. Verschiedene Forschungsdisziplinen stützen diese Hypothesen. Die Resilienzforschung belegt eindrücklich, wie auch schwerste soziale und psychische Entwicklungshemmnisse durch soziale Netzwerke kom­pensiert werden können (Rutter, 2000; Opp, Fingerle u. Freytag, 2006). Verschiedene Studien belegen beispielsweise die protektive Funktion der folgenden Faktoren, die mit sozialen Netzwerken gekoppelt sind: ȤȤ soziale Unterstützung und Akzeptanz durch Personen außerhalb der Familie (Lieblingslehrer, Nachbarn, Freunde, Trainer, Eltern von Freunden etc.); ȤȤ Rollenvorbilder für ein konstruktives Bewältigungsverhalten bei Belastungen; ȤȤ dosierte soziale Verantwortlichkeiten und Leistungsforderungen; ȤȤ Selbstwirksamkeitserfahrungen, Selbstwerterleben; ȤȤ aktives Bemühen, Stressoren zu bewältigen, statt sie zu vermeiden oder zu relativieren. Soziologische, ökonomische und politologische Untersuchungen liefern eine Vielzahl interessanter Befunde, welche die Bedeutung und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Funktionsweise sozialer Netzwerke erhellen. Christiakis und Fowler (2009) referieren Befunde, die zeigen, wie Emotionen, Haltungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen ansteckend wirken, nicht nur zur direkten Kontaktperson, sondern nachweisbar (in abnehmender Dosierung) bis zum dritten Glied in einem Netzwerk– also bis zum Freund der Freundin der Freundin (S. 33 ff.). Dies wirkt auch auf uns selbst zurück. So steigt die Wahrscheinlichkeit, selber glücklich und zufrieden durch das Leben zu gehen, mit jedem glücklichen und zufriedenen Menschen im unmittelbaren Netzwerk um 9 %. Ebenso stellten sie fest, dass Menschen im Zentrum sozialer Netzwerke, also mit einer hohen Anzahl von Freunden und Freunden von Freunden, sich glücklicher fühlen. Zeitverlaufsstudien zeigten, dass das nicht eine Folge von sozialer Selektion ist (»glückliche Menschen ziehen mehr Freunde an«), sondern dass die Art des Netzwerkes und die eigene darin Haltungen und Gefühle moduliert. In der Stressforschung und Sozialpsychologie finden sich interessante Befunde, die zugrunde liegende Prozesse erhellen, unter anderem auch zur Bedeutung von Körperkontakt. Einige Beispiele: ȤȤ Hände halten reduziert Stressfolgen. Menschen unter Stress schütten weniger Cortisol aus, wenn ihnen ein vertrauter Mensch die Hand hält (Coan, Schaefer u. Davidson, 2006). ȤȤ Gestresste Mädchen erholen sich schneller, wenn ihre Mutter sie umarmt oder mit ihnen spricht. Leslie Seltzer und Kollegen (Seltzer, Ziegler u. Pollak, 2010) baten jugendliche Mädchen, eine Rede zu halten, was beträchtlichen Stress erzeugte; in der Versuchsbedingung mit anschließendem Kontakt zur Mutter, durch Berührung oder telefonisch, verminderte sich die Cortisolkonzentration sehr schnell, es wurde vermehrt Oxytocin ausgeschüttet. ȤȤ Dasselbe gilt für Mitarbeiter von Unternehmen: Soziale Zuwendung durch Manager (praktische Tipps, Anerkennung bei Erfolgen und Zuspruch bei Misserfolgen) steigert nicht nur Motivation und Leistung, sondern sie erhält gesund. Das zeigt in aller Deutlichkeit eine Langzeitstudie des Schweizer Instituts »sciencetransfer« in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung (Hollmann u. Hanebuth, 2010). ȤȤ Und das Ergebnis gilt auch für Basketballspieler: Eine Studie an der University of California in Berkeley ergab, dass individuelle © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Spieler und Teams mit einer höheren Quote von Berührungen (von dem tröstenden Schulterklopfen bis zum »High five« beim gelungenen Korbwurf) am Ende der Saison die bessere Leistung zeigten. »Early season touch predicted greater performance for individuals as well as teams later in the season. Additional analyses confirmed that touch predicted improved performance even after accounting for player status, preseason expectations, and early season performance« (Kraus, Huang u. Keltner, 2010). ȤȤ Und schließlich zeigen die Befunde der Psychoneuroimmunologie überdeutlich, wie die Art und Qualität der sozialen Netzwerke bis in unser Immunsystem wirken (Schubert, 2011). All dies belegt, dass soziale Netzwerke auch eine dezidiert körperliche Komponente aufweisen; einmal in ihrer Wirkung in körperliche Prozesse, und zum anderen weisen sie auf die Bedeutung positiver Körperkontakte hin.

Auch unser Gehirn ist ein Beziehungsorgan: Neurobiologische Betrachtungen Der Titel dieses Abschnitts verdankt sich dem Heidelberger Psychiater und Philosophen Thomas Fuchs (2008). In seinem Buch entwickelt er, wie das Gehirn ohne auch körperlich-leibliche Kontaktaufnahme zur Umwelt nicht denkbar ist. Seine Konzeption und die genannten Ergebnisse werden durch die jüngste neurobiologische Forschung zu Beziehung und Bindung sehr gut gestützt. Michael Meaney von der Universität Montreal fand heraus, dass die Rattenjungen besser lernen, sozialeres Verhalten zeigen und stressresistenter sind, wenn sie von ihren Müttern ausgiebig geleckt und berührt werden. Die häufigen Berührungen erhöhen die Anzahl der Cortisolrezeptoren. Dadurch wird unter Stress die Cortisolproduktion schneller gebremst und negative Stressfolgen bleiben aus (z. B. Liu u. Meaney, 1997; Weaver et al., 2004). Inzwischen sind die zugrunde liegenden epigenetischen Mechanismen gut aufgeklärt: Die Expression des Gens NR3C1, »von dem man vermutet, es schütze vor Stress und Depressionen« (Rüegg, 2010, S. 48), sorgt für die Produktion von Proteinen, die als Cortisol-Rezeptoren auf der Oberfläche von Neuronen fungieren. Ist das Gen mit Methylgruppen beladen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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wird die Genexpression gehemmt, Stress und Depression werden wahrscheinlicher. Guter und ausreichender Körperkontakt sorgt für eine geringere Methylierung und erleichtert damit die Genexpression. Die Wirkungen sind im Tierversuch und auch bei Untersuchungen an menschlichen Suizidopfern belegt (McGowanet al., 2009). Ähnlich zeigen Forschungen von Shaver und Mikulincer (gute Zusammenfassung in Mikulincer, Dolev u. Shaver, 2004), dass die Aktivierung des Bindungssystems bei ihren Probanden zu kognitiver Weite, höherer Kreativität, sozialer Zuwendung und engagiertem Handeln führten, alles Ingredienzien einer guten Problemlösefähigkeit. Diese Studien sind nur ein kleiner Ausschnitt, sie belegen die Bedeutung von Beziehungsfaktoren für Leistungsfähigkeit, Gesundheit und erfolgreiches Coping von Belastungen. Eine besondere Bedeutung erhalten sie vor dem Hintergrund unseres Wissens über die Wirkung von Cortisol auf Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Hüther (2001) beschreibt die Zusammenhänge: »Wenn eine Belastung auftritt, für die eine Person keine Möglichkeit einer Lösung durch ihr eigenes Handeln sieht, an der sie mit all ihren bisher erworbenen Reaktionen und Strategien scheitert, so kommt es zu einer sogenannten ›unkontrollierbaren Stress-Reaktion‹. Sie ist durch eine lang anhaltende Aktivierung kortikaler und limbischer Strukturen sowie des zentralen und peripheren noradrenergen Systems gekennzeichnet, die sich wechselseitig so weit aufschaukelt, dass es schließlich auch zu einer massiven und lang anhaltenden Stimulation der Cortisolausschüttung durch die Nebennierenrinde kommt. […] Halten derartige Belastungen länger an, so kann es sogar zur Degeneration noradrenerger Axone im Kortex und zum Absterben von Pyramidenzellen im Hippocampus kommen.« Das Gegengift für diese unangenehmen Gefahren ist schlicht das Erleben von Selbstwert und Erfolg, was sich in gut funktionierenden und unterstützenden Netzwerken leichter einstellen kann als in Einsamkeit, da soziale Netzwerke als Stresspuffer fungieren, und durch die zur Verfügung gestellte praktische und informationelle Unterstützung öfters kleine Erfolgserlebnisse vermitteln. Die Ergebnisse der affektiven Neurowissenschaften (Panksepp, 2004) gehen noch einige Schritte weiter. Sie zeigen, dass Lern-, Ent© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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wicklungs- und Veränderungsschritte besser mit emotionaler Beteiligung gelingen. So formuliert der Nobelpreisträger Eric Kandel (2008) in einem Interview: »Die Einspeicherung in das Langzeitgedächtnis geschieht dann besonders gut, wenn die Inhalte wichtig sind, wenn sie emotional geladen sind und wenn sie oft wiederholt werden.« Es ist zum Teil bis auf die molekulare Ebene nachweisbar, wie emotionale Anregung Lernprozesse intensiviert, bei positiven wie negativen Erfahrungen (LeDoux, 2001; Spitzer, 2007). »Durch den weitreichenden Einfluss eines emotionalen Arousals werden viel mehr Hirnsysteme gleichzeitig mobilisiert, als wenn man mit einer ruhigen kognitiven Aktivität beschäftigt ist und intensiv über ein Problem grübelt oder im Sessel sitzend […] seinen Gedanken nachhängt« (LeDoux, 2006, S. 422). Neben den positiven Emotionen, die sich in guten Beziehungen und bei kleinen und großen Erfolgen einstellen, hat Panksepp (2004; 2009) vor allem die Bedeutung des Spiels hervorgehoben. Tier- und Menschenkinder lieben es, herumzutollen, miteinander zu spielen, freudvoll, energetisch, turbulent. Dieser Spieldrang hat sich evolutionär in all den Spezies herausgebildet, die in Gemeinschaften leben. Warum? Durch dieses Spiel bildet sich das soziale Gehirn (Panksepp, 2009, S. 21), werden basale soziale Fähigkeiten eingeübt: aufeinander eingehen, sich und andere spüren, körperliche Aktivitäten entwickeln, Energie aktivieren und kanalisieren, Grenzen (eigene und die der anderen) ausloten, miteinander Freude teilen, Neues ausprobieren. All diese Fähigkeiten sind Voraussetzung, damit wir soziale Beziehungen knüpfen und pflegen können. Panksepp (2004; 2005) konnte in jahrzehntelanger Forschung zeigen, dass Ratten, die besonders viel spielen, lernfähiger, stressresistenter und sozial beliebter sind. Auch bei Menschen führt die Aktivierung dieses emotionalen Systems zu einer erhöhten Lernund Speicherfähigkeit des Gehirns. Zum einen werden beim Spiel wichtige soziale Erfahrungen gemacht, zum anderen spricht die Beteiligung dopaminerger Systeme für verstärkte neuroplastische Bahnungen. Diese Befunde zeigen eindrucksvoll, wie eng soziale Systeme mit körperlichen, insbesondere neuronalen Systemen gekoppelt sind und wie Prozesse im einen System unmittelbar die Prozesse im anderen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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wechselseitig modulieren. Für unseren Zusammenhang spielt natürlich die Stimulierung von Lernen, Veränderung und Entwicklung durch soziale Prozesse eine große Rolle. Was das für systemische Arbeit heißt, soll im nächsten Kapitel umrissen werden.

Was bewirkt die Netzwerkperspektive in der systemischen Arbeit? Johannes Herwig Lempp und Ludger Kühling (2012) postulierten in einem auch durchaus provokant gemeinten Artikel, dass Sozialarbeit »anspruchsvoller als Therapie« sei. Die Gründe sehen sie in sieben Punkten, die allesamt auf den stärkeren Kontextbezug der sozialen Arbeit verweisen: ȤȤ Auftragslagen sind komplexer. ȤȤ Austauschkonstellationen sind vielfältiger. ȤȤ Allparteilichkeit ist schwieriger zu praktizieren. ȤȤ Ambivalenzen bezüglich angestrebter Ziele und Problemlösungen sind präsenter. ȤȤ Anerkennung von fremden Umgebungen ist anspruchsvoller. ȤȤ Ablenkungen sind facettenreicher. ȤȤ Außenwelt-Probleme sind drängender. »Soziale Arbeit findet immer auch an den Orten statt, an denen sich die begleiteten Klient/-innen aufhalten – also zum Beispiel in ihren Wohnungen, am Marktplatz, der Bushaltestelle, wo sich die Jugendlichen treffen, in einer Kneipe oder in einem Café, wo sich die Klient/-innen heimisch fühlen« (S. 53). Der Artikel wurde kontrovers diskutiert, am Ende standen einige Plädoyers, um die Unterschiede bei Gleichrangigkeit der diskutierten Ansätze zu würdigen (Kühling u. Herwig-Lempp, 2013). Konstruktionen eines besser oder schlechter sind immer problematisch und mit systemisch-konstruktivistischen Haltungen ganz unvereinbar. In der gesellschaftlichen Anerkennung und Positionierung sind solche Unterschiede aber durch Bezahlung und Statusgewinn deutlich markiert. Ich möchte den beiden Autoren zustimmen: Diese gesellschaftlichen Unterschiede sind in keiner Weise durch Anspruchsniveau und Kompetenzanforderungen in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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den beiden Handlungsfeldern gerechtfertigt; beides sehe ich in der Sozialen Arbeit höher als in der ambulanten Psychotherapie nach bisherigem Zuschnitt (in der Regel Einzeltherapie in regelmäßigen Abständen). Und für wen Bequemlichkeit und die Hoffnung auf ein ruhigeres Berufsdasein die Entscheidungskriterien für das Arbeitsfeld wären, der sollte die komplexen Belastungen einer psychotherapeutischen Einzelpraxis den regelmäßigen Besuchen bei fünf- oder fünfzehnköpfigen Familien im Rahmen einer sozialpädagogischen Familienhilfe vorziehen. Aus neurobiologischer Sicht gehe ich noch einen Schritt weiter als Herwig-Lempp und Kühling (2012): Eine fachlich gut qualifizierte Sozialarbeit beinhaltet für viele Klientengruppen ein deutlich höheres Veränderungs- und Entwicklungspotenzial als die traditionelle Einzelpsychotherapie. Diesen Vorteil hätte allerdings ebenso eine netzwerk- und lebensfeldorientierte Psychotherapie, sollten sich inhaltliche Konzepte und Bezahlstrukturen in diese Richtung entwickeln. In der neurobiologischen Forschung gibt es eine gute Befundlage für die Schlussfolgerung, dass Veränderungslernen und Entwicklung am besten in lebensfeldnahen Lern- und Therapiesettings gedeihen. Fähigkeiten, Wissen und Motivation entstehen nur durch handelndes und fühlendes Ausprobieren und durch Erfolgserlebnisse (Bauer, 2005, S. 123 f.). Das Gehirn speichert Neues am besten, wenn es mit lebensnahen, praktischen Handlungserlebnissen und den dazugehörigen Emotionen und Erfolgserlebnissen gekoppelt ist. Diese Bedeutung des Handelns entspricht einem alten (und maximal vernachlässigten) Prinzip in der Pädagogik. Comenius formulierte im 17. Jahrhundert in seiner »Didactica magna«: »und damit alles sich leichter einpräge, möge man alle möglichen Sinnestätigkeiten heranziehen« (zit. nach Potthoff, 1991, S. 11). Unser Gehirn speichert keine isolierten Fakten, sondern immer Konstellationen (Hüther, 2008, mündl. Mitteilung). Grundlage dafür ist ein zeitlicher Integrationsmechanismus, der durch Synchronisation die an unterschiedlichen Stellen im Gehirn vorhandenen neuronalen Erregungsmuster zu komplexen Schaltkreisen zusammenfügt. »Was immer wieder gleichzeitig aktiviert wird, wächst zusammen« (Grawe, 2004, S. 65), das gilt für Lösungsmuster wie auch für Pro© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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blemmuster: Wenn Menschen erleben, dass sie in spannungsgeladenen, stressreichen, aversiv erlebten Situationen durch bestimmte Gedanken oder Handlungen Entlastung erfahren, so werden diese Gedanken und Handlungen als Verstärker wirksam und die entsprechenden neuronalen Netze werden gebahnt. »Autonome Erregung, Vermeidungsreaktionen, Kognitionen […] wie ›worrying‹, Zwangsgedanken, Zwangshandlungen, Vermeiden usw. wachsen zusammen zu einem immer fester etablierten Störungsmuster« (Grawe, 2004, S. 374). Auch Veränderungslernen wird situationsspezifisch gespeichert. Räumliche und soziale Kontexte werden mit unseren Erfahrungen verkoppelt; in Konvergenzzonen wie dem Hippocampus oder dem präfrontalen Kortex werden die verschiedenen Sinneseindrücke zu komplexen Erfahrungen verbunden (z. B. LeDoux, 2006, S. 178 ff.). Das bedeutet für Sozialarbeit, Beratung und Therapie, dass Veränderungsimpulse am besten wirken, wenn sie durch mehrkanalige Sinneseindrücke flankiert werden, Veränderung und Neulernen sind dann besonders wirkungsvoll, wenn sie multimodal angeregt werden. Wenn eine gestresste Mutter in einer Einzeltherapie eine gute Idee entwickelt, wie sie mit ihrem aufsässigen Sohn besser umgehen könnte, so wird diese Idee neuronal mit den anderen Sinneseindrücken gekoppelt: den bequemen Therapiesessel, den angenehmen Therapieraum, die schönen Bilder an der Wand, das freundliche Gesicht und die beruhigende Stimme der Therapeutin. Diese gute Idee hat in der Hochstress-Situation zu Hause kleinere Chancen, aktiviert zu werden. Wir alle kennen den Effekt in banalen Alltagssituationen: Am Essenstisch fehlen die Servietten, wir gehen in die Küche, dort angekommen, ist uns entfallen, was wir holen wollten. Dieser Effekt wurde in der Lernpsychologie unter dem Begriff »state bound memory untersucht« (siehe Hilgard, 1977). Wenn dieselbe Mutter diese Idee durch eine Beratung in ihrem Zuhause oder besser noch in Anwesenheit ihres Sohnes entwickelt, hat sie zumindest eine bessere Chance, in der nächsten Konfliktsituation aktiviert zu werden. Je mehr die Veränderungsarbeit ganz oder teilweise in der Lebenswelt der Klienten oder in Anwesenheit wichtiger Bezugspersonen stattfindet, desto eher wird die gute Idee, der kleine oder große Erfolg, die veränderte Sicht im Alltagskontext des Klienten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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erzeugt und mit diesen Sinneseindrücken verkoppelt: bei der systemischen Therapie mit den anwesenden Bezugspersonen, bei der Aufsuchenden Familientherapie (Conen, 2004) in den Räumen der Klienten, bei der Multifamilientherapie (Asen u. Scholz, 2009) mit den anderen Familien aus der Gemeinde und Nachbarschaft, Dies effektiviert die Veränderungsarbeit, da es die Transferleistung der Klienten erleichtert. Im Beisammensein mit meinen Kindern muss ich als Klient nicht mühevoll erinnern, was der nette Therapeut gesagt hat. Und es ist nicht das Bild im Therapiezimmer, das mich an den hilfreichen Impuls erinnert, sondern die Pflanze auf meinem Balkon oder die Stehlampe im Wohnzimmer oder das Gesicht meines Partners. Dasselbe gilt für viele Arbeitsformen der Sozialen Arbeit, in denen gerade deswegen sehr wirksame Veränderungsarbeit geleistet wird, weil dies alltagsnah und handlungsorientiert geschieht. Vielleicht liegen im Kontextbezug und der Handlungsorientierung der systemischen Therapie einige der Gründe für ihre hohe Wirksamkeit (von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2007). Und diese Überlegungen weisen daraufhin, dass die stärkere Nutzung der Lebenskontexte und der sozialen Netzwerke die Nachhaltigkeit von Veränderungen steigern kann. Soziale Netzwerke rückten in den letzten Jahren wieder stärker in den Mittelpunkt des Interesses (Herwig-Lempp, 2004; ZwickerPelzer, 2004; Altmeyer u. Kröger, 2003; Röhrle et al., 1998). Schon bei der Grundlegung der Sozialen Arbeit durch Alice Salomon vor hundert Jahren ging es darum, soziale Netzwerke zu schaffen, »die für Menschen untereinander stützenden Charakter haben sollten« (Zwicker-Pelzer, 2004, S. 366). In der Sozialen Arbeit gab es eine reiche Tradition sozialer Gemeinwesenarbeit, in der Psychologie gab es zum Beispiel mit der Gemeindepsychologie (Sommer u. Ernst, 1977, 1982) ähnliche Ansätze, ebenso in der Familientherapie (Speck u. Attneave, 1983). Die Arbeit mit und die Modellierung von sozialen Kontexten gehört unseres Ermessens konstitutiv zu systemischer Arbeit (vgl. auch Hosemann u. Geiling, 2013, S. 169 ff.). Die Neuauflage des Lehrbuchs von von Schlippe und Schweitzer (2012) betont Netzwerkkonzepte (S. 142 ff.) und listet folgerichtig mehrere bewährte und neuere Ansätze von »ökosystemischen Interventio© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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nen« (S. 395 ff.) auf, welche die Systemgrenzen weiter als nur um die Familie ziehen. Natürlich ist Netzwerkarbeit aufwendiger, psychotherapeutische Kostenträger bezahlen diese Arbeit nicht und das nötige Know-how ist erst dabei, zu wachsen und sich zu verbreitern. In vielen systemischen Ausbildungen fehlt Netzwerkarbeit als Inhalt. Jedoch kann die Einbeziehung des sozialen Netzwerks den Lösungsraum entscheidend erweitern. Ich möchte das durch einige Fallbeispiele erläutern. Von Milton Erickson wird berichtet, dass er zu einer alten Dame gerufen wurde, die nach dem Tod ihres Mannes stark depressiv reagierte und sich immer weiter zurückzog. Er hatte nur die Gelegenheit zu dem einen Kontakt; da der Besuch bei der alten Dame zu Hause stattfand, entdeckte Erickson, dass sie eine engagierte und kompetente Züchterin einer heiklen und kostbaren Veilchenart (»African violets«) war. Er gab ihr eine Anweisung mit seiner ganzen Autorität als Arzt, wohl auch, weil er die Vermutung hatte, dass eine direktive Intervention in das Wertesystem der Frau passte: Sie sollte jedes Mal, wenn in ihrer Gemeinde eine Taufe, Konfirmation, Hochzeit oder Beerdigung stattfand, der jeweiligen Familie eines ihrer Veilchen schenken.

Diese Intervention erfolgte in einem Einzelsetting, veranschaulicht aber in schöner Weise die Netzwerkaktivierung (vgl. Schwing, 2009, 2011): Sie greift starke Motive der Frau auf (freundlich sein, für andere da sein), aktiviert ihre Ressourcen (Veilchen züchten) und koppelt sie mit einem Kontext, der für die Frau wichtig gewesen war. Die Kopplung findet anhand von Übergangssituationen statt, das heißt, die Anweisung bringt die Frau in Kontakt mit anderen Gemeindemitgliedern, die gerade auch einen Übergang (teils einen freudigen, teils einen schmerzhaften) zu bewältigen haben. Und wir können uns vorstellen, dass es über den durch das Geschenk gestifteten, positiven Kontakt hinaus Einladungen gab und Gespräche über Veränderungen und deren Bewältigung stattfanden. Das heißt, implizit wurde eine Netzwerkbildung zum Thema Übergang angeregt, was der alten Dame sicher bei der Bewältigung ihres Verlusts half. Ein weiteres Fallbeispiel stammt aus meiner eigenen Praxis, es war lehrreich und mahnte mich, bei der Hypothesenbildung neben © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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den psychologischen oder familiensystemischen Perspektiven auch lebensweltliche Aspekte mit einzubeziehen (aus Schwing u. Fryszer, 2013, S. 280 ff.). Eine alleinerziehende Mutter wurde vom Jugendamt wegen verschiedener Auffälligkeiten ihrer Tochter in die Beratung überwiesen. Sie war mit dem Vater der Tochter in einer ambivalenten Beziehung gebunden. Er schlug sie, beteuerte dann immer wieder seinen Besserungswillen, der aber ohne nachhaltiges Ergebnis blieb. Sie war entschlossen, sich von ihm zu trennen, kehrte aber immer wieder zu ihm zurück. Die Tochter war durch diese Wechselbäder verwirrt und desorientiert. Die Frau war engagiert für ihre Tochter, und bestrebt, eine eigene berufliche Umschulung anzugehen, da sie unbedingt »raus aus der Sozialhilfe« wollte. Aus den Erzählungen wurde deutlich, dass die Frau über ein schwaches Netzwerk verfügte. Die diagnostische Erfassung ihres Netzwerkes mit der Netzwerkkarte bestätigte die Hypothese, dass die Mutter auch wegen ihrer Einsamkeit und der praktischen Unterstützung, die ihr Mann ihr gab, nicht von ihm los kam (Auto, Aufsicht über die Tochter, Beratung bei Behördengängen, »jemand zum Reden«). Die ersten Arbeitsschritte mit ihr bestanden deshalb darin, ihr soziales Netzwerk auszubauen. Wir stellten dies in den Rahmen ihrer Berufswünsche: Wenn sie eine Umschulung anstrebe, brauche sie in der Nachbarschaft viel Unterstützung, gerade auch für ihre Tochter, die ihrerseits mehr soziale Kontakte zum Lernen brauche. Sie aktivierte alte Freundschaften, zog in eine andere Nachbarschaft und knüpfte dort Kontakte mit anderen Müttern. Dies war erfolgreich, nach einem halben Jahr traf sie die Entscheidung, sich endgültig von ihrem Mann zu trennen. Im weiteren Verlauf begann sie eine Umschulung, die Probleme der Tochter in der Schule besserten sich, je klarer die Lebensverhältnisse waren. Einige Themen, die eigentlich Gegenstand der professionellen Beratung hätten sein sollen, klärte die Frau aus eigener Kraft, eine recht patente Mutter aus der Nachbarschaft wurde ihr zur Freundin, die ihr in der Erziehung ihrer Tochter eine große Unterstützung war.

Diese beiden Beispiele zeigen die Aktivierung von Netzwerken in einem Einzelsetting oder in einer Familientherapie. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Netzwerkorientiertes Arbeiten kann darüber hinausgehen, indem es Kontexte schafft, begleitet und verändert, um Klient/-innen heilsame und veränderungswirksame Erfahrungen zu ermöglichen. Ich möchte das an einem Beispiel eines Projektes verdeutlichen, in das ich eher zufällig geriet und das durch eine Reihe weiterer Zufälle zu interessanten Konstellationen und Erfahrungen führte. Während meines Psychologiestudiums sprach mich ein junger Sportstudent an, der mit mir in der Judomannschaft des Hochschulsports trainierte und vor seinem Examen stand. Als Projekt für seine Diplomarbeit hatte er vor, ein Trainingskonzept »Judo für blinde und sehbehinderte Menschen« auszuarbeiten und zu erproben. Er bat mich, als Co-Trainer mitzumachen, und ich stimmte gern zu. In der Stadt gab es ein Gymnasium für blinde Jugendliche, so hatten wir schnell eine Gruppe zusammen. Wir wollten im Training blinde und sehende Menschen zusammenführen und suchten nach einem Verein, der für das Projekt zu begeistern war. Ein örtlicher Verein stellte uns Hallenzeiten zur Verfügung, die Trainingshalle lag in einem Stadtviertel mit einer sozial randständigen Bevölkerungsstruktur. Nach einer kurzen Werbephase hatten wir eine große Trainingsgruppe zusammen: blinde Gymnasiasten und Jugendliche aus dem Viertel, die zu einem Großteil durch Rabaukentum, Gewalt und andere Probleme auffällig geworden waren. Kampfsport mit der Mischung aus körperlicher Aktion, aggressiver Entladung und strenger Disziplin ist für diese Jugendlichen durchaus eine Aktivität mit hoher Akzeptanz und positiven Verhaltenseffekten. In der besagten Mischung ergaben sich jedoch wunderbare Szenen und Verläufe. In der Gruppe engagierten wir die sehenden Jugendlichen aus dem Viertel als Hilfstrainer, die den blinden Altersgenossen die Griffe und Aktionen zeigen sollten. Das taten sie dann auch engagiert und überraschend einfühlsam (nach einigen kleineren Disziplinverhandlungen in den ersten drei Trainingsstunden). Eine wunderbare kleine Szene neben vielen anderen spielte sich ab, als ein älterer Jugendlicher, der im Viertel als rechter Rabauke bekannt war, einem zierlichen Mädchen einen Beinwurf zeigte. Er erklärte ihr genau, wo das Bein zu stehen hatte, wie sie ihren Körper neigen sollte und wo sie genau zu ziehen hätte. Als sie das alles richtig machte, ließ er sich werfen und klatschte einen Tick zu übertrieben auf die Matte,

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es klang sehr beeindruckend. Er lobte seine Trainingspartnerin: Sie habe den Wurf so gut angesetzt, dass er sich nicht habe halten können. Sie war stolz und probierte sofort weiter und lernte den richtigen Bewegungsablauf recht schnell; er war stolz, nachdem ich ihm gesagt habe, er sei als Trainer ein didaktisches Naturtalent. Solche Bilder waren öfters zu sehen und es gab zumindest einige sportbezogene Freundschaften in der Gruppe.

Die Jugendlichen aus dem Viertel erlebten in der Trainingsgruppe wahrscheinlich etwas für sie sehr Seltenes: Statt als Problemproduzenten aufzufallen, waren sie gebeten, Probleme lösen zu helfen, sie konnten sich auf der Trainingsmatte den blinden Gymnasiasten überlegen fühlen, sie wurden gebraucht und erlebten konkrete Erfolgserlebnisse. Die Resilienzforschung zeigt sehr deutlich, dass es genau diese selbstwirksamkeits- und selbstwertsteigernden Aktivitäten sind, die Kindern und Jugendlichen helfen, trotz stärkster Beeinträchtigungen zu gesunden, psychisch und sozial stabilen Menschen heranzuwachsen (Rutter, 2000; Opp et al., 2006). Diese Aktivitäten finden in der Regel in Alltagskontexten statt und sind in der Lage, heilsame Wirkungen für Kinder und Jugendliche zu entfalten, die aus traumatischen und traumatisierenden Familienverhältnissen stammen. Es gibt kaum Forschung, die die Effekte von Psychotherapie und gut angeleiteten Alltagsaktivitäten im Hinblick auf stabile psychosoziale Entwicklung vergleicht. Einer der wenigen Projekte dazu wurden von der Gruppe um Günter Schiepek (Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung, PMU Salzburg) und Reinhold Fartacek (Ärztlicher Direktor der Christian-Doppler-Klinik Salzburg) berichtet (Studienleitung: Josef Sturm). In der Suizidnachsorge erwiesen sich begleitetes Bergwandern mit steigender Schwierigkeit und Ausdauerleistungsfähigkeit (Cross-over-Design) über die parallel dazu weiterlaufenden Psycho- und Pharmakotherapien als sehr wirksam (insbesondere mit Effekten auf Hoffnungslosigkeit und Depression) (Schiepek et al., 2011; Sturm et al., 2012). Aus der systemischen Tradition gibt es gerade in jüngerer Zeit verschiedene Ansätze, die eine ökosystemische Fundierung und Zielrichtung haben (vgl. die Zusammenstellung in von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 395 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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1. In der Multifamilientherapie oder dem Multifamilientraining (Asen u. Scholz, 2009) arbeiten mehrere Familien zusammen, um sich unter fachlicher Begleitung Unterstützung für vielfältige Fragestellungen zu geben. Familienmitglieder aus anderen Familien können helfen und sich als wirksam erleben, besonders wenn sie ähnliche Probleme hatten und schon erste Bewältigungsschritte gegangen sind. Die Wirksamkeit des Verfahrens ist in über 40 gut kontrollierten Studien belegt, bei zahlreichen psychiatrischen Diagnosen wie bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Bulimie, bipolaren Störungen, Depression (siehe Asen, 2009). Auch hier scheint die aus der Resilienzforschung bekannte Modellbildung ein wichtiger Wirkfaktor zu sein: Andere Menschen kennen das Problem und haben schon Bewältigungsideen und -erfolge. Immer wieder, auch in anderen Projekten, zeigt es sich, dass solche Co-Trainer oder -Therapeuten oft größere Akzeptanz für ihre Aussagen erhalten als die professionellen Therapeuten (vgl. auch Wack u. Scharfe, 2012; Eggemann-Dann, 2012). 2. Die Ansätze Multisystemischer Familientherapie arbeiten mit gutem Erfolg bei Jugendlichen mit Delinquenz- und Drogenproblemen. Sie beziehen neben den Familien auch die Nachbarschaft, die Schule, die Cliquen der Jugendlichen oder Vereine mit ein (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 398). 3. Netzwerksitzungen in Gemeinwesenprojekten bringen bei aufgetretenen Problemen große Personengruppen zusammen, die zusammen mit den Klienten ausgewählt und eingeladen werden. Es geht darum, im sozialen Netzwerk Unterstützung zu mobilisieren (z. B. Klefbeck, 1998). 4. Sozialraumorientierte Ansätze gehen weniger von individuellen Problemlagen und Diagnosen aus, sondern versuchen durch eine Vielzahl verschiedenster Interventionsansätze Menschen anzuregen, die Kontexte, in denen sie leben, zu erkunden und positiv zu gestalten (z. B. Daum, 2011; Deinet u. Krisch, 2009). Neben vielen Wirkungsintentionen zieht sich die Netzwerkbildung/aktivierung und Förderung von Selbstwirksamkeit wie ein roter Faden durch die meisten dieser Ansätze.

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In der Recherche zu netzwerkorientierten Handlungsansätzen und Therapie und Beratung fällt auf, wie wenig die verschiedenen Autoren und Denk- und Handlungsrichtungen aufeinander bezogen sind, die Arbeitsgruppen und fachlichen Communities arbeiten voneinander isoliert und nehmen kaum Notiz von den Ergebnissen der anderen. Und doch gibt es in den einzelnen Arbeitsfeldern sehr wertvolle Erfahrungen, die in der Zusammenschau überaus nützliche Lernerfahrungen für die Praxis der jeweiligen Akteure bereithalten könnten. Das verweist darauf, dass die fachlichen Netzwerke der unterschiedlichen Experten zum Thema zuerst einmal gestärkt, angeregt und erweitert werden müssen, um die vielen Schätze, die in den einzelnen Ansätzen versteckt sind, an die Oberfläche gemeinsamer Wahrnehmung und Nutzung zu bringen.

Über den Tellerrand blicken: Was müsste sich verändern, damit Netzwerkansätze mehr Gewicht erhalten? Beginnen wir den Ausblick mit einem sehr persönlichen Rückblick. Meine zweite Arbeitsstelle brachte mich an die Familien- und Jugendberatung (FJB) nach Hanau, einer klassischen Erziehungsberatungsstelle in Trägerschaft der Stadt mit einigen ungewöhnlichen Eigenheiten. Die FJB war ein Teil des Jugendamtes, dessen damaliger Leiter die Kompetenzen der Beratungsstelle gerade auch für die schwächsten und schwierigsten Klienten im Verantwortungsbereich seines Amtes nutzen wollte. Daraus ergab sich eine enge Kooperation der FJB mit den Dienststellen des Jugendamtes: Jeder Mitarbeiter der FJB war einigen Kindertagesstätten der Stadt und weiteren sozialen Einrichtungen zugeordnet. Das bedeutete Zusammenarbeit in einzelnen Fällen, Fallberatung, Diagnostik bis hin zu gelegentlichen Fortbildungen. Es gab institutionalisierte feste Termine, welche die Mitarbeiter/-innen des Jugendamtes für ihre Anliegen nutzen konnten. Um Jugendliche mit Beratungsangeboten besser erreichen zu können, war ein Jugendtreff geschaffen worden, der an drei Nachmittagen sehr gut frequentiert wurde. Dies erleichterte es Jugendlichen, bei Problemen einfach vorbeizukommen und mit einem der anwesenden Beraterinnen ein erstes Gespräch zu führen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Das brachte es mit sich, dass ich als junger, therapeutisch ausgebildeter Psychologe einen beträchtlichen Teil meiner Zeit in Kindertagesstätten, in sozialen Brennpunkteinrichtungen, in Jugendtreffs verbrachte, was eine unendlich wertvolle Lernerfahrung war: Ich lernte die Arbeit der Kolleg/-innen kennen und schätzen und konnte erfahren, dass sich Klienten oft nur schwer zu einem Besuch der FJB bewegen ließen, aber in Gesprächen in der Kita oder vor Ort im sozialen Brennpunkt und bei ihnen zu Hause sehr offen waren und sich auf eine gute und effektive Veränderungsarbeit einließen. Der Psychologe in der FJB war ihnen zum Teil fremd und ungeheuer, der Erzieherin vor Ort vertrauten sie, gemeinsame Gespräche hatten eine vielfach größere Akzeptanz und Wirksamkeit. Diese fachliche Form der Vernetzung wurde von einigen Kollegen aus anderen Erziehungsberatungsstellen durchaus kritisch gesehen und ist auch heute noch keine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig setzte sie unschätzbare gegenseitige Lernprozesse in Gang und schuf für viele Klienten erst den Zugang zu therapeutischen Angeboten, die sie sonst nicht wahrgenommen hätten. Wenn ich heute als Supervisor und Weiterbildungsleiter Einblicke in die pädagogischen und psychosozialen Arbeitsfelder erhalte, so entsteht der Eindruck, dass zu häufig Distanz, gegenseitige Vorurteile, Sprachlosigkeit zwischen den einzelnen Institutionen zu finden sind. Jede Zunft pflegt ihre Traditionen, Rituale und Sprache und grenzt sich von der anderen ab. Das hat auch damit zu tun, dass unsere Kostenerstattungssysteme auf Einzelfallhilfe und nicht auf Netzwerkarbeit ausgelegt sind. Das ist nicht produktiv im Sinne einer guten Unterstützungs- und Entwicklungsarbeit. Dankenswerterweise gibt es viele gute Gegenbeispiele, die zum Teil auf langen Traditionen der Gemeinwesenarbeit gründen, zum Teil in den letzten Jahren entstanden sind. Das sind Projekte im Nahtstellenbereich von psychiatrischen Kliniken und sozialpsychiatrischer Versorgung, oder in der Kooperation von Jugendhilfe und Schule in der Form von Schulsozialarbeit, oder in der Zusammenarbeit von Jugend-, Sozial-, und Gesundheitsämtern in Regionalteams. Klassischerweise entfalten solche Projekte häufig erst nach einiger Zeit, nach Monaten und teils nach Jahren, volle Performanz und Produktivität. Das ist verständlich, denn es bedarf einiger Lern© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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prozesse auf Seiten der Akteure, wenn eine solche Zusammenarbeit installiert wird: Was können wir voneinander erwarten? Wo sind Grenzen? Wie gestalten wir unsere Nahtstellen, Rollen, Zuständigkeiten? Doch genau in diesen Lernprozessen steckt wertvolles Potenzial: Die Fachkräfte verstehen die jeweiligen Bedingungen des Handlungsfeldes gegenseitig besser, sie lernen voneinander und sie entdecken, wie sie sich gegenseitig das Leben leichter machen können (auch wenn sie gelegentlich durch Phasen gehen müssen, in denen sie vom Gegenteil überzeugt sind). Gemeinsame Erfolgserlebnisse festigen die Kooperation und genau wie in Netzwerkprozessen in der Natur, bei Zellverbänden, Einzellern und einfachen Organismen (siehe Abschnitt 1) wächst eine Tradition, in der die einzelnen Akteure wechselseitig füreinander förderliche Kontexte herstellen. Zum Beispiel indem Lehrer dafür sorgen, dass die Sozialarbeiter gute Einstiege in die Klassen erhalten und die Sozialarbeiter in schwierigen Fällen den Lehrern beiseite stehen und sie beide gemeinsam heikle Elterngespräche führen und über das weitere Vorgehen in einzelnen Klassen beraten. Wenn ich also diesen Ausblick als Wunschzettel für einige Entwicklungsrichtungen gestalten würde, so wäre das eine stattliche Liste: 1. Netzwerke setzen gegenseitige Lernprozesse voraus und sie ermöglichen sie. Dafür braucht es Handlungsrahmen, also gemeinsame Projekte, in denen Experten aus den verschiedenen Bereichen an konkreten Fragestellungen arbeiten. Gemeinsame Erfahrung bildet den besten Boden für gegenseitiges Verständnis und Kooperation. Das zeigt die Erfahrung aus vielen Projekten und im Übrigen auch die sozialpsychologische Forschung zu Vorurteilen: Sherif und Kollegen (1961) untersuchten in einem Pfadfindercamp, wie sich gegenseitige Vorurteile und Feindseligkeiten überwinden ließen. Es waren nicht die gemeinsamen Feste oder schönen Ereignisse, die distanzierte Parteien zueinander brachten. Die Bewältigung gemeinsamer herausfordernder Aufgaben schaffte Nähe und ließ Vorurteile schmelzen. Ich wünsche mir also viele solcher Projekte, in denen gegenseitiges Lernen gefordert ist und einen institutionellen Rahmen erhält. 2. Dazu gehören gemeinsame Lernforen von Praktikern. Fortbildungen, Kongresse und Fachtagungen sind noch zu oft zunft© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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mäßig angelegt und dienen da eher der Selbstvergewisserung in den eigenen Traditionen. Wünschenswert sind viele projekt- und handlungsfeldbezogene Fortbildungen, in denen Fachkräfte aus beispielsweise Kinder- und Jugendpsychiatrie, Erziehungshilfe, Psychotherapie und Freizeitarbeit, in denen die Erzieherin und die Psychiaterin gemeinsam lernen und neue Ideen entwickeln. Fachliche Inhouse-Weiterbildungsprogramme oder fachliche projektbezogene Fort- und Weiterbildungen haben nach unserer Erfahrung eine hohe Effizienz in der Entwicklung gemeinsamer Perspektiven, einer gemeinsamen Sprache und einer tragfähigen Kooperation. Ein Beispiel ist die Fortbildung aller Projektbeteiligten zu erfolgskritischen Methoden im Projekt, zum Beispiel Konfliktmoderation, oder methodische Ansätze der Gruppenarbeit, des gewaltlosen Widerstands nach Haim Omer oder einfach Grundlagen der systemischen und lösungsorientierten Gesprächsführung. 3. Auch in der Ausbildung und im grundständigen Studium wären Angebote wünschenswert, die Netzwerkkompetenz schulen. Das könnten Lernkontexte wie Seminare oder Praxisprojekte sein, in denen Studenten aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Sozialarbeit, Pädagogik gemeinsam lernen, ihre Sichtweisen austauschen, ihre fachlichen Kompetenzen zur Problemlösung einbringen und Kooperation einüben. In systemischen Weiterbildungen ist das bisher in hohem Ausmaß gegeben und erzeugt ein gutes gegenseitiges Verständnis. Man erfährt über Möglichkeiten und Grenzen der Kollegen von nebenan und entwickelt eine Menge Ideen, wann und wie Kooperation das eigene Wirken potenziert. Ich sehe die Gefahr, dass mit der wünschenswerten berufsrechtlichen Anerkennung der systemischen Therapie auch hier zwei voneinander isolierte Qualifizierungswege entstehen, dass systemische Therapeuten dann nicht mehr auf gemeinsame Lernerfahrungen blicken, sondern fünf Jahre in der Peergruppe lernen, eine eigene Sprache und Denkweise entwickeln, ohne zu wissen, was die Kolleginnen von nebenan tun, wie sie denken und was sie können. 4. Erfahrungen aus netzwerkorientierten Interventionsformen und Projekten brauchen größeres Forum und sollten gut erforscht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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werden. Es gibt sie zuhauf und sie verdienen ein zahlreiches Publikum. Veranstalter von Kongressen und Fachtagungen sollten neben singulären Methodenvorstellungen auch Raum für die Präsentation von Netzwerkprojekten und ihren Erfolgsfaktoren bieten. Dazu braucht es Ermutigung und mutige Forscher, die sich solchen Projekten interessiert zuwenden (vgl. MFT). 5. Netzwerkorientierte Interventionsformen kranken auch daran, dass die herkömmlichen Bezahlstrukturen auf Einzelfallhilfe ausgelegt sind. Hier braucht es strukturelle Veränderungen: In Form von Modellprojekten sollten andere Bezahlstrukturen ermöglicht und erprobt werden, die netzwerkorientiertes Arbeiten unterstützen. Auch hier gibt es ermutigende Ansätze, beispielsweise in der Sozialpsychiatrie und der Jugendhilfe wie zum Beispiel die Multifamilientherapie (Asen u. Scholz, 2009), die in verschiedenen Projekten deutschlandweit adaptiert und angewandt wird. Die Entwicklung von netzwerkorientiertem und sozialräumlichem Arbeiten wird möglicherweise durch demografische Entwicklungen erzwungen: Die bestehenden und neu entstehenden sozialen Aufgaben der Pflege, Fürsorge und sozialen Unterstützung wachsen und sind nicht mehr voll durch Profis abzudecken. Es braucht soziale Strukturen, die diese Aufgaben übernehmen können. Aufgabe der Profis wird es mehr und mehr sein, solche Strukturbildungen anzuregen, zu begleiten und den Akteuren bei der Entwicklung der nötigen Kompetenzen beizustehen. 6. Diversität und vernetztes Lernen tut auch der eigenen wissenschaftlichen und fachlichen Weiterentwicklung gut. Es gab in den Anfangsjahrzehnten eine schöne Tradition, dass die Referenten auf systemischen, wissenschaftlichen Kongressen aus ganz verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen stammten; systemische Gedankengänge aus der Physik, der Biologie, der Soziologie, der Chemie, der Mathematik, der Organmedizin, der Philosophie etc. regten an und forcierten konzeptuelle und dann auch praktische Neuentwicklungen. Das ist in den Hintergrund geraten, es überwiegt das methodisch orientierte Denken im eigenen Kleinbereich, das Interesse an Forschung und das Lernen von internationalen Experten ist schwächer geworden. Dabei gibt es eine ausgeprägte systemwissenschaftliche Tradition in ande© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ren Disziplinen, die von den systemischen Beratern wenig zur Kenntnis genommen werden. 2009 erschien die »Encyclopedia of Complexity and Systems Science«, die in elf Bänden auf über 10.000 Seiten den Stand der Kunst darstellt (Meyers, 2009). Systemwissenschaftliche Ansätze, die in der Lage sind, auch Verläufe in größeren Systemen abzubilden, wie das synergetische Navigationssystem, finden wenig Beachtung. Sie wären eine wertvolle Grundlage für die Erforschung von Netzwerkprozessen (Schiepek, Eckert u. Kravanja, 2013). Zum Abschluss lohnt noch einmal der Blick auf die Entwicklungen in unserem Innersten, unserem Mikrobiom. Auch die kleinsten unserer inneren Freunde, die Bakterien, bauen auf funktionierende Kooperationsnetze, wenn es ihnen gut geht. In der Abwehr schädlicher Mikroorganismen schließen sie sich zusammen, bilden Gifte und erzeugen Viren, um die Eindringlinge im Zaum zu halten. Und wenn es ganz wild wird, warnen sie unser Immunsystem spezifisch mit Botenstoffen davor, was auf uns zukommt (Duerkop, Clements, Rollins, Rodrigues u. Hooper, 2012; Barr, 2013; Purchiaroni et al., 2013). Auch in unserem Darm ist die Diversität der Besiedlung eine valide Kennzahl für Gesundheit und guter ökosystemischer Balance (Pollen, 2013). Davon könnten wir lernen, was wir schon lange wussten. Wir sollten in der Entwicklung fachlicher Strukturen auf Diversität achten. Gerade systemische Ansätze sind durch ihre grundlegenden Paradigmen wie kaum eine andere Disziplin dafür geeignet, Diversität in sozialen Netzwerken zu begründen, in ihrer Dynamik zu verstehen, sie zu fördern und entsprechende Entwicklungen zu begleiten. Dafür benötigt es Raum, auch in den Weiterbildungen; Netzwerkarbeit sollte die Königsdisziplin im systemischen Arbeiten werden. Damit sie es werden kann, müssen wir viel voneinander und von anderen lernen.

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»Für die anderen die Hoffnung erfinden«: Praxiserfahrungen mit Multifamilientherapie

Vorbemerkungen Bei der Frage, ob ich auch einen Beitrag zum Geburtstagsband für Jochen Schweitzer schreiben würde, kam mir zunächst der Gedanke: Wann bin ich Jochen eigentlich zum ersten Mal bewusst begegnet? Es kostete einiges Nachdenken und dann fiel mir doch eine sehr konkrete Situation wieder ein. Im März 2008 fand in Heidelberg der Kongress »Elterncoaching trifft Multisystemtherapien – With a little help from my friends« statt und über den damaligen DGSFVorstand hatte mich die Anfrage erreicht, ob ich als Vertreter der Praxis am politisch besetzten Abschlusspodium teilnehmen kann, was ich gerne zusagte. Etwas aufgeregt und mit großen Erwartungen bin ich dann nach Heidelberg gefahren und traf gleich im Foyer der Heidelberger Stadthalle Jochen Schweitzer, der sich gerade mit Arist von Schlippe im Gespräch befand. Bei Arist hatte ich in Osnabrück studiert und Jochen kannte ich natürlich namentlich aus diversen Publikationen. Arist begrüßte mich herzlich und stellte mich gleich Jochen vor, der dann feststellte, dass ich ja derjenige sei, der für die DGSF am Abschlusspodium teilnehme. Warum ich diese Szene erinnere und erzähle? Sie ist für mich nicht nur eng verbunden mit Jochen Schweitzer, sondern auch mit dem Beginn meines intensiveren Interesses für die Multifamilientherapie. Während der ganzen Tagung begeisterte mich dieses besondere Verhältnis von scheinbar spielerischer Leichtigkeit und Normalität des Vorgehens bei doch eigentlich so problematischen und gar nicht leichten Fällen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt viel Erfahrung als Therapeut mit einzelnen Familien, bei denen ich immer wieder auch an Grenzen stieß. Häufig solche Grenzen, die in der gefühlten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Hoffnungslosigkeit der Familien ihren Ursprung hatten und auch in deren sozialer Isolation. Mir wurde immer deutlicher, dass ich nur in geringerem Ausmaß anregend und positiv verstörend für das Leben dieser Familien sein kann, aber nicht den gesamten Lebenskontext gleich mit beeinflussen. Genau in dieser Situation kam es dann zum engeren Kontakt mit der Multifamilientherapie, die genau für diese Bedürfnisse und Problemlagen so scheinbar einfache Antworten bereithielt.

Praxis im Kontext Tagesklinik Im März 2008 war ich als Leitender Psychologe an der ElisabethKlinik in Dortmund tätig, einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und leitete dort eine Institutsambulanz und die Tagesklinik. Zuvor hatte es bereits seit etwa einem Jahr erste Gehversuche der Multifamilienarbeit gegeben, durch den Heidelberger Kongress kehrte ich zusätzlich äußerst inspiriert und motiviert nach Dortmund zurück. Mit dem Team der Tagesklinik entwickelte sich dann schnell die Idee, ein regelmäßiges Multifamilientherapie-Angebot im zweibis vierwöchentlichen Abstand zu schaffen. Die Besonderheit der Tagesklinik war, dass diese sehr klein war und gar nicht über einen entsprechenden Raum verfügte, in dem auch nur Gruppentherapien mit ausreichend Platz hätten stattfinden können. Daher stand an einem Nachmittag pro Woche der große Proberaum eines benachbarten Theaters zur Verfügung und konnte somit auch für unsere Multifamilien-Gruppen genutzt werden. Jeweils für zwei Stunden trafen sich dort dann die Familien von insgesamt zehn Kindern im Alter von sieben bis zwölf Jahren, wobei der Familienbegriff weit ausgelegt wurde. Die Regel war, dass jeweils mindestens eine relevante erwachsene Bezugsperson mitkommt, gerne natürlich mehr. So kam es, dass wir oft mit mehr als dreißig Personen waren und das Altersspektrum vom Säugling bis zur deutlich über siebzigjährigen Großmutter reichte. Anfänglich erzeugte dieses Ausmaß von Komplexität beim Team und auch bei mir etwas Unbehagen. Ich hatte Sorge, wie wohl alles ablaufen werde, und das Team hatte Sorge, nicht alles mitzubekommen und auch dokumentie© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ren zu können. Beides ist natürlich Unsinn: Wie alles ablaufen wird, ist nur sehr bedingt zu beeinflussen und auch die Kontrollierbarkeit des Settings eine ziemliche Illusion. Besonders krass erschien dies im Gegensatz zu dem, was Eia Asen mir in einem abendlichen Gespräch in Heidelberg auf meine Frage zu unserem Setting gesagt hatte. Er war der Meinung, dass der schöne Theaterraum doch eigentlich viel zu strukturiert sei und es doch gerade attraktiv sei, alle Familien in die beengte Tagesklinik einzuladen und es einfach mal so laufen zu lassen. Das hat mich zwar durchaus gereizt, wäre dann aber vielleicht doch nicht der günstigste erste Schritt gewesen. Wenn man Eia Asen per Video bei seiner Arbeit erlebt hat, kann man diesen Hinweis natürlich verstehen. An das Maß von Komplexität in unserem strukturierten Setting haben wir uns dann als Team schnell gewöhnt und die Sitzungen wurden immer produktiver und gewinnbringender für alle Beteiligten. In der Regel starteten wir mit einer Eingangsrunde und Eingangsintervention, zum Beispiel mit einer Metapher zur aktuellen Entwicklung in der Familie. Beliebte und besonders nützliche Metaphern waren die »Hausbaumetapher« und die »Reisemetapher«. Im ersten Fall erhielt die Familie den Auftrag, sich vorzustellen, bei ihrem Veränderungsanliegen und dem Weg dahin sei es wie mit dem Bau eines Hauses. Im Bild gehe es nun darum, zu überlegen, was es überhaupt für ein Haus sei und was gerade passiere. Gibt es schon einen Plan? Ist ein Grundstück gefunden? Haben schon erste Arbeiten stattgefunden? Kam es zwischenzeitlich zu Komplikationen, musste gar etwas wieder abgerissen und noch einmal neu gebaut werden? Meist luden wir die Familien ein, sich zunächst intern ihre Bilder zu schildern und zu versuchen, sich auf ein Familienbild zu einigen, um dies dann im Plenum mit den anderen Familien auszutauschen. Beim zweiten Bild verhielt es sich ähnlich, nur dass es diesmal um das Bild einer Reise ging. Auch dies lässt sich metaphorisch wunderbar detailliert beschreiben und ermöglicht es, ganz viel Prozessbeschreibung zu veröffentlichen, ohne wirklich viel Konkretes über sich preisgeben zu müssen, was den Familien gerade am Anfang gut gefiel. Im Zentrum der Sitzungen standen dann häufig konkrete Themen und Aufgabenstellungen, von Erziehungsfragen bis bin zu Familienbildern, die dann kreativ © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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und spielerisch bearbeitet und miteinander in Austausch gebracht wurden (Asen u. Scholz, 2009). Am Schluss standen häufig eine Reflexionsrunde oder auch gemeinsame Vereinbarungen, abgerundet wurde das Gruppentreffen durch ein Kaffeetrinken in der nicht weit entfernten Tagesklinik. Die schönste Situation im Zusammenhang mit Multifamilientherapie habe ich auch genau auf dem Weg zwischen dem Theater und unserer Tagesklinik erlebt. In einer MFT-Sitzung waren sehr viele neue Familien anwesend und nur noch zwei Familien, die das Setting schon kannten. Von den neuen Familien erlebten sich viele sehr belastet und hoffnungslos. Veränderungen erschienen ihnen unwahrscheinlich und etliche hatten bereits zuvor schon viele Hilfen in Anspruch genommen. So kam es, dass die Sitzung sich zäh gestaltete und die Familien immer wieder ihrer geringen Hoffnung auf Veränderung Ausdruck verliehen. Auf der anderen Seite gab es eine türkische Familie, die sich mit ihrem Sohn bereits seit vielen Wochen in der Behandlung der Tagesklinik befand und nach anfänglicher großer Skepsis nun beachtliche Veränderungen erzielt hatte. Dieser – anfänglich so skeptische – türkische Vater warb nun fast über die gesamte Zeit von zwei Stunden für die Möglichkeiten von Veränderungen und dafür doch die Tagesklinik und vor allem auch die Multifamilientherapie zu nutzen. Leider hatte er damit wenig Erfolg und die anderen Familien nahmen in ihrer Hoffnungslosigkeit nur wenig Notiz von seinen Bemühungen. Auf dem Rückweg zur Tagesklinik ging dieser Vater dann neben mir und sagte den unheimlich schönen Satz: »Ach, Herr Hermans, man müsste für die anderen die Hoffnung erfinden.« Bis heute bin ich der Überzeugung, dass man den Kern und die zentrale Wirkung von Multifamilientherapie eigentlich kaum besser formulieren kann und nutze dieses Zitat daher häufig als Überschrift für Vorträge oder Workshops zu diesem Thema.

Praxis im Kontext der teilstationären Jugendhilfe Ein Jahr später habe ich mich dann beruflich verändert und die Geschäftsführung eines größeren Trägers der Jugendhilfe und Gefährdetenhilfe in Essen übernommen. Überzeugt von den beein© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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druckenden positiven Erfahrungen mit Multifamilientherapie in der Klinik, lag es dann nahe, auch im Bereich der Jugendhilfe entsprechende Angebote zu initiieren. Als Ergebnis konnten wir im Jahr 2010 die Multifamilien-Tagesgruppe »MehrFamilienHaus« in Essen eröffnen, in der seitdem zehn Kinder im Alter von sieben bis dreizehn Jahren zusammen mit ihren Familien im Rahmen der Jugendhilfe begleitet und betreut werden. Als Gebäude konnte ein ehemaliger Kindergarten genutzt und umgebaut werden und auch ein interessiertes Team aus systemisch qualifizierten Mitarbeitenden fand sich schnell zusammen. Gemeinsam unternahmen wir dann eine Exkursion zu den bereits bestehenden Familienschulen in Baden-Württemberg, wo wir von Gerlinde Fischer und ihren Teams vom Family-Help e. V. herzlich empfangen wurden und sehr interessante Einblicke gewonnen haben. In der Essener Tagesgruppe werden Kinder mit verschiedenen Auffälligkeiten und einem hohen Erziehungshilfebedarf betreut, deren Eltern zu einer intensiven Mitarbeit bereit sind. Diese besteht darin, dass zumindest ein Elternteil an mindestens einem Tag pro Woche gemeinsam mit dem Kind den Nachmittag in der Tagesgruppe verbringt und zusätzlich einmal im Monat an der Multifamilien-Therapiegruppe mit allen Familien teilnimmt. Somit befinden sich immer ähnliche viele Elternteile wie Mitarbeitende in der Gruppe, was das Zusammenwirken und die Frage, wie man sich wirklich auf Augenhöhe begegnet und Verantwortung verteilt, zu einer großen neuen Herausforderung gemacht hat. Nach drei Jahren Erfahrung mit diesem Konzept in der Praxis lässt sich resümieren, dass hierfür eine wirkliche Haltungsänderung in der Jugendhilfe erforderlich ist, die sich mit dem sprichwörtlichen »Bohren dicker Bretter« beschreiben lässt. Natürlich ist ein solches Angebot nicht für alle Familien in allen Situationen passend. Andererseits wurde es von Partnern, wie zum Beispiel dem Jugendamt schnell als »zu therapeutisch«, »hochschwellig« und für die Familien »überfordernd« wahrgenommen, was mit den Ursprüngen der Multifamilienarbeit überhaupt nicht zusammen passt. Diese hatte ja oft in schwierigsten Milieus und häufig auch im Zwangskontext stattgefunden. Wir begegneten oft eher der Idee einer »kompensatorischen Hilfe«, in der es darum gehen sollte, dass ein © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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gewisses »Bedarfsdelta« des Kindes an Erziehung und emotionaler Zuwendung durch die professionellen Angebote der Jugendhilfe ausgeglichen und kompensiert werden sollte. Dies häufig gepaart mit der resignativen Haltung, dass die Eltern und sonstigen wichtigen Bezugspersonen des Kindes ohnehin nicht in der Lage sein, diesen Bedarf selbst zu decken. Ohne Frage gibt es Familien, die eine solche Veränderung nicht in der gebotenen Zeit erzielen und vielleicht sogar nie – das aber zur Grundannahme der Erziehungshilfe zu machen, hielte ich für fatal im Sinne von Reduktion der Möglichkeiten. Oder anders gesagt: »Warum die Möglichkeiten nicht groß denken, kleiner werden sie schon von alleine«. Damit nicht als überzogen naiv zu erscheinen und mit den Partnern der Jugendhilfe gut zusammen zu wirken, war und ist eine große Aufgabe, die aber durch viele positive Erfahrungen und Dialoge Stück für Stück gelöst werden kann. Bereits die ersten Verhandlungen mit dem örtlichen Jugendamt machten diese Schwierigkeiten und unterschiedlichen Sichtweisen deutlich: Bei unserem Besuch im Süden der Republik hatten wir gelernt und als wichtige Erfahrung mitgenommen, die Kinder und Familien nur an maximal vier Wochentagen in der Gruppe zu betreuen, damit es unbedingt neben dem Wochenende noch einen Tag zu Hause gibt, an dem gemeinsame alltägliche Erfahrungen möglich sind. Hier ließen sich unsere Gegenüber damals aber absolut nicht überzeugen, da sie sich nicht vorstellen konnten, dass Familien dies so nutzen und vor allem schaffen könnten, sondern in jedem Fall eine fünftägige Betreuung des Kindes in der Tagesgruppe gewährleistet sein muss. Dieses Brett erwies sich also als zu hart für jede Bohrung. Schön ist aber, dass nach einigen Jahren gemeinsamer Erfahrungen heute bei weiteren Konzeptverhandlungen für ähnliche Einrichtungen durchaus schon anders gedacht wird und auch ein viertägiges Modell ermöglicht wurde.

Praxis im Kontext Ferienfreizeit Inspiriert durch die Erfahrungen von Family Help e. V., die durch gemeinsame Familienfreizeiten überhaupt erst auf die Idee der Familienschulen gekommen waren, wuchs dann auch bei uns in Essen die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Idee, eine einwöchige Ferienfreizeit mit Elementen der MFT anzubieten. Im Sommer 2011 konnte die erste Freizeit mit über zwanzig Familien und fast hundert Personen für eine Woche in einem Freizeithaus in der Eifel stattfinden. Teilnehmen konnten alle Familien, die zu diesem Zeitpunkt durch unseren Träger im ambulanten, teilstationären oder stationären Bereich der Jugendhilfe betreut wurden. Auch die begleitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kamen aus nahezu allen Arbeitsbereichen und voller Erwartung starteten wir mit zwei voll besetzten Reisebussen. Vorher gab es viele Bedenken, zum Beispiel wie im gegebenen Fall mit übermäßigem Alkoholkonsum oder auch möglichen handgreiflichen Konflikten umzugehen sei. Fast etwas beschämt mussten wir nach der Freizeit feststellen, dass all diese Befürchtungen unnötig waren und nichts von dem auch nur annähernd zum Tragen kam. Im Gegenteil waren wir völlig beeindruckt von der positiven Atmosphäre und der Initiative und den vielen Beiträgen der Familien. Jeden Morgen gab es eine MFT-Einheit unter dem Titel »Tagesschau«. Nachdem also über Punkteskalen die aktuelle Befindlichkeit visualisiert worden war, fanden in Groß- und Kleingruppen verschiedene MFT-Übungen und Interventionen statt. Schnell wurde deutlich, dass auch hier die konsequenten Auftragsorientierung wichtig ist und vor allem die Übergänge zu der Hilfe zu Hause in Essen entsprechend gestaltet und genutzt werden müssen. Das veranlasste auch gleich entsprechende Veränderungen für die Freizeit im Folgejahr. Die betreuende Fachkraft meldet nicht nur die Familie an, sondern begleitet sie auch gleich zu einem Vortreffen mit den anderen Teilnehmenden. Zudem wird durch die betreuende Fachkraft ein Auftrag im Hinblick auf die einwöchige Freizeit vereinbart. Vor allem aber auch im Nachgang der MFT-Freizeit erfolgt gemeinsam mit der jeweiligen Fachkraft und der Familie wieder eine Übergabe, in der auch Verabredungen und Entwicklungen direkt veröffentlicht und besprochen werden, um so die Wirksamkeit der Maßnahme innerhalb der unterschiedlichen Hilfen zu steigern. Was aber wird eigentlich wirksam? Diese Frage können wir in einem ersten Schritt natürlich nur im Rahmen von Hypothesen beantworten, wobei einige praktische Erfahrungen schon sehr beeindruckend sind. Nahezu alle teil© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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nehmenden Familien lebten von Transferleistungen und konnten daher auch nur einen kleinen eigenen Beitrag leisten. Viele Familien waren schon lange nicht mehr, die meisten sogar noch nie im Urlaub. Etliche Kinder im Grundschulalter hatten die Stadt Essen noch nie verlassen. Das sind nur einige Fakten, die erste Effekte einer solchen Familienfreizeit beschreiben. Zum Hintergrund ist zu erwähnen, dass in Essen ein Drittel aller Kinder von Transferleistungen leben, in den Stadtteilen, aus denen die Familien kamen bis zu zwei Drittel. Vor Ort haben sich die Familien schnell solidarisch erlebt und sind sehr offen mit ihren Themen umgegangen, da schnell deutlich wurde, wie ähnlich doch häufig die erlebten Belastungen und Schwierigkeiten sind. Auch die so zentrale Hoffnung auf Veränderung konnte durch positive Erfahrungen der jeweils anderen genährt werden. So fanden ganz nebenbei viele Gespräche über das Leben unter finanziell schwierigen Bedingungen statt und schnell wurden ganz praktisch Tipps ausgetauscht, wo sich bei alltäglichen Einkäufen und Anschaffungen noch etwas sparen lässt und ganz konkret wurde zum Beispiel zwischen zwei Familien der Tausch von Kinderkleidung verabredet. Eine Steigerung des Selbstwirksamkeitserlebens ist eine weitere bedeutsame Beobachtung. Dadurch, dass die Eltern und Jugendlichen das Freizeitprogramm für die Gesamtgruppe von Nachtwanderung bis Familienolympiade mit Unterstützung der Fachkräfte selbst gestaltet haben, wurden ganz neue Erfahrungen möglich, welche Fähigkeiten die jeweiligen Personen einbringen und bei sich selbst erleben konnten. Im Rahmen der zweiten Freizeit im Jahr 2012 konnten wir dann in Zusammenarbeit mit Jochen Schweitzers Sektion der Medizinischen Psychologie der Universität Heidelberg eine erste kleine Evaluation durchführen, die uns erste tendenzielle quantitative Hinweise zur Wirksamkeit liefert. So konnte mit einem standardisierten Inventar zur Erfassung der Familienbeziehungen eine signifikante Verbesserung vom Beginn zum Ende der Freizeit festgestellt werden. Ein letzter absolut nicht zu vernachlässigender Effekt ist der Beitrag zur Personal- und Organisationsentwicklung, den ein solches Vorhaben leistet. Mitarbeitende aus verschiedenen Bereichen haben (auf freiwilliger Basis) teilgenommen, sich ganz konkret in der Arbeit kennen gelernt und viel über Haltungen diskutiert. Mittlerweile ist © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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daher eine Teilnahme so beliebt, dass sich ohne Mühe genug Mitarbeitende finden, die gern teilnehmen möchten.

Praxis im Kontext Schule »Was lange währt wird endlich gut« – so könnte man die Entwicklung des Projektes »Familienklassen« in Essen beschreiben. Schon beim erwähnten Kongress im Jahr 2008 war neben der Multifamilientherapie im tagesklinischen Rahmen auch das Londoner Modell der »Family Classrooms« vorgestellt worden, das sich aus den klinischen Settings entwickelt hatte (Asen, Dawson u. Mc Hugh, 2003). Sofort hatte mich das begeistert und mit der beginnenden Inklusionsdebatte in der kommunalen Schullandschaft war mir klar, dass unbedingt ein solches Modell auch in Essen installiert werden müsste. Schon 2009 gab es dann erste Gespräche mit Schuldezernenten und sogar die Idee, gemeinsam mit dem Ministerium einen entsprechenden Modellversuch zu starten. All diese Bemühungen und Absichten versandeten aber wieder, da im Bereich der Schulen keinerlei Ressourcen zur Umsetzung zur Verfügung standen und auch auf Seiten der Jugendhilfe sich das Ressourcenproblem als hinderlich erwies. Erst mit der Einführung der zusätzlichen Stellen der sogenannten »schulbezogenen Jugendsozialarbeit« im Jahr 2012 wendete sich das Blatt und mit vielfältigen Bemühungen konnten wir bis heute an insgesamt sechs Schulen (davon fünf Grundschulen und eine Förderschule) Familienklassen realisieren. Hierzu war eine Menge Vorbereitung notwendig, die vor allem auch in Hospitationen und Inhouse-Schulungen der Mitarbeitenden bestand. Sehr dankbar bin ich den in Sachen Familienklassen langjährig erfahrenen Kolleginnen und Kollegen des Schlei-Klinikums in Schleswig, die unter der Leitung von Ulrike Brehme-Matthiessen diese Einblicke ermöglichten und die Schulungen durchführten. Wie aber ist die Arbeitsweise und der Ablauf der Familienklassen? In allen beteiligten Schulen steht an einem Vormittag der Woche eine entsprechend vorqualifizierte Lehrkraft (häufig Sonderpädagogin) und ein geeigneter Raum zur Verfügung. Von Seiten des Jugendhilfeträgers ist ein systemisch qualifizierter Sozialarbeiter beteiligt. Der Zeitraum für den Besuch der Familienklasse beträgt ungefähr © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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zwölf Wochen, also die Hälfte eines Schulhalbjahres. Von der Schule werden in Zusammenarbeit mit der Sozialarbeiterin bzw. dem Sozialarbeiter acht Kinder identifiziert, die aufgrund ihres Sozialverhaltens nur schwierig im Klassenverband zu beschulen sind und bei denen ein Förderschulverfahren ansteht. Die Kinder können aus allen Jahrgangsstufen kommen, wobei an einigen Schulen zunächst mit jahrgangsgleichen Kindern gearbeitet wird. An dem jeweiligen Vormittag werden die Kinder von ihren Eltern in die Familienklasse begleitet und verbringen den Vormittag dort gemeinsam. Nach einer Einführungsrunde findet dann Unterricht statt, wobei die Eltern als Beobachter, Reflecting Team oder auch Handelnde agieren, zum Beispiel wenn ihr Kind sich von ihnen Unterstützung wünscht. In einer Pause am Vormittag erfolgt dann eine erste Reflexion mit der gesamten Gruppe, auch zu weiteren Ideen, wie die einzelnen Kinder unterstützt werden können, ihre Ziele zu erreichen. Nach einer weiteren Unterrichtseinheit erfolgt dann die Auswertung des Vormittags mit konkreten Zielabsprachen. Alle Kinder vereinbaren mit ihren Eltern ganz konkrete schulische Verhaltensziele für die bevorstehende Woche. Diese werden verschriftlicht und an den Folgetagen von den Lehrern der Klasse jeweils per Skalierung bewertet. In der Folgewoche werden diese Bewertungen dann gemeinsam besprochen und mit den Teilnehmern ausgewertet (Behme-Matthiessen, Pletsch, Bock u. Nykamp, 2012). In Großbritannien hatte dieses Modell große Erfolge zu verzeichnen, da sehr viele teilnehmende Schüler weiter im Regelschulsystem verbleiben und dort beschult werden konnten. In Dänemark wurde es infolgedessen flächendeckend als Inklusionsmodell an über hundert Standorten eingeführt. In Essen sind wir sehr gespannt auf die Effekte, die wir begleitend erfassen und evaluieren. Gemeinsam mit einer Journalistin konnte ich an einem Vormittag in einer Familienklasse an einer Essener Grundschule teilnehmen. Die Schule zeichnet sich durch ihre Lage am Rande der Innenstadt und die sehr vielfältige Schülerschaft aus über vierzig Nationen aus. An besagtem Vormittag waren nur vier Kinder mit ihren Eltern in der Familienklasse. Am meisten hat mich beeindruckt, wie eine Mutter und ein Vater, die nun schon einige Monate teilgenommen hatten, selbst bei der Journalistin für dieses Konzept geworben haben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Sie berichteten, wie sehr sich ihr eigenes Elterngefühl verändert habe, doch wieder hilfreich für ihr Kind sein zu können. Das hätten sie vor allem durch die ganz konkreten gemeinsamen Übungen in der Familienklasse gelernt. Ein Junge, für den vor einigen Monaten eigentlich bereits feststand, dass er nicht mehr auf einer Regelschule beschult werden könne, fing sofort selbstständig an zu arbeiten, bat bei Schwierigkeiten angemessen um Unterstützung seiner Mutter und störte sich eher daran, dass die anwesenden Erwachsenen die Konzentration im Raum störten. Neben den eher schulbezogenen Themen und Interventionen waren besonders die kleinen Runden wichtig, in denen es spielerisch um die Eltern-Kind-Interaktion ging, sich geradezu trotz des schwierigen Themas Schule durch eine kleine Massage oder eine Spekulationsübung nahe sein zu können.

Praxis in weiteren Kontexten der Jugendhilfe Im Jahr 2010 haben wir eine stationäre Intensiv-Wohngruppe für jugendliche Mädchen eröffnet, die mit ihrem »HomeRun-Modul« in möglichen Fällen innerhalb eines Jahres mit intensiver Familienarbeit eine Rückführung nach Hause ermöglichen soll. Auch im Rahmen dieser Gruppe sind Elemente der Multifamilientherapie integriert. Regelmäßig werden die Eltern der Mädchen zusammen mit den Bewohnerinnen zu einer strukturierten Multifamiliengruppe eingeladen, in der einerseits thematisch gearbeitet wird, aber auch gemeinsame Aktivitäten stattfinden. Das Setting ähnelt hier dem zu Beginn beschriebenen im tagesklinischen Kontext. Seit 2009 existiert die Tagesgruppe »ConneXXion«, eine teilstationäre Einrichtung für Jugendliche an der Schnittstelle »Jugendhilfe – Jugendpsychiatrie«, in der primär systemisch-familientherapeutisch mit den einzelnen Familien gearbeitet wird. In der Weiterentwicklung der Gruppe konnten auch hier multifamilientherapeutische Elemente wie Familiennachmittage und Familientage in den Ferien integriert werden, unter anderem auch deshalb, weil Mitarbeiterinnen der Gruppe an den Multifamilienfreizeiten teilgenommen hatten und begeistert von den Effekten dort dies auch in ihre tägliche Arbeit integrieren wollten. 2013 konnte dann mit dem »elternHaus« eine weitere tagesstruk© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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turierende Einrichtung eröffnet werden, die sich an die Zielgruppe der adoleszenten Eltern richtet. In Weiterentwicklung einer ElternKind-Einrichtung entstand dieses Konzept, das sowohl auf die Verhinderung von vollstationärer Unterbringung, auf die Nachbetreuung und als Alternative zur ambulanten Betreuung im Einzelsetting ausgerichtet ist. Bei einem Besuch der kinder- und jugendpsychiatrischen Dienste im Kanton Thurgau in der Schweiz hatte mir dessen Leiter Bruno Rhiner die besonders positiven Effekte der Multifamilientherapie bei genau dieser Zielgruppe erläutert, so dass es auch in der Essener Situation eine logische Weiterentwicklung darstellte. Ebenfalls 2013 startete eine Familienschule, auch als tagesstrukturierendes Angebot, allerdings deutlich niederschwelliger vor der eigentlichen Hilfe zur Erziehung. Dem Konzept der Familienschulen von Family-Help e. V. im Landkreis Biberach folgend, werden bis zu 8 Kinder und ihre Familien von zwei Familientherapeutinnen an vier Nachmittagen in der Woche betreut, die von der Schule und dem Jugendamt als potenziell unterstützungsbedürftig und davon profitierend eingeschätzt wurden und das Angebot zur freiwilligen Teilnahme erhalten haben. Zusätzlich zu den genannten teilstationären, stationären und schulischen Angeboten konnten auch im ambulanten Kontext Elemente der Multifamilienarbeit umgesetzt werden. So finden wiederkehrend entsprechende Gruppenangebote im Rahmen der ambulanten Erziehungshilfe statt, aber auch im Bereich der Prävention. In einem präventiven Projekt der Gesundheitsförderung mit den Themen »Ernährung und Bewegung« konnten Kinder- und Familientische eingerichtet werden. Hier kochen die Familien gemeinsam und verbringen anschließend Zeit miteinander, in denen weitere MFT-Elemente zum Tragen kommen können.

MFT im Kontext der Weiterbildung (DGSF) Als ich erstmals mit der Multifamilientherapie in Berührung kam, gab es in Deutschland keine entsprechenden Weiterbildungen oder gar ein Curriculum, so dass ich mich im Rahmen verschiedener Seminare, Fortbildungen und Workshops fortbilden konnte. Die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Einrichtungsleitung der Multifamilien-Tagesgruppe konnte dann 2009 schon an einer Weiterbildung des Helm-Stierlin-Instituts teilnehmen, die von Eia Asen und Michael Scholz durchgeführt wurde. Kaum zu übersehen, führt der Weg nun also nach Heidelberg und auch zu Jochen Schweitzer zurück. In der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie wurde dann im Jahr 2011 eine Fachgruppe »Multifamilientherapie« installiert und mit dieser Gründung auch die Einführung eines Curriculums MFT diskutiert. Nach viel Vorarbeit konnte ein solches Curriculum dann 2013 verabschiedet werden, so dass nun die Zertifizierung als Multifamilientherapeut/in (DGSF) möglich ist. Persönlich hatte ich als Lehrender entsprechende Blöcke zur Multifamilienarbeit zuvor bereits in Weiterbildungen in systemischer Kinder- und Jugendlichentherapie integriert und freue mich nun, auch eine eigene Weiterbildung in Multifamilientherapie leiten zu dürfen.

Was noch zu sagen ist Wie wird es wohl weiter gehen mit den Entwicklungen rund um die Multifamilientherapie in Deutschland? Die 5. Jahrestagung des Arbeitskreises Multifamilientherapie 2013 in Wetzlar, die in Zusammenarbeit mit der DGSF stattfand, hatte bereits über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Begonnen hatte es fünf Jahre zuvor mit nur 30 Teilnehmenden. In vielen Feldern der Jugendhilfe, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, zunehmend aber auch der Schule breitet sich dieser Ansatz aus und die Deutschlandkarte füllt sich mit Markierungen entsprechender Standorte vom hohen Norden bis in den Süden und vom äußersten Osten bis an den westlichen Rand. Welche neuen Felder könnte es neben diesem quantitativen Wachstum noch geben? Ich glaube, dass vor allem der Bereich der elementaren Bildung und Erziehung ein weiteres Anwendungsfeld für Multifamilienarbeit auch in Deutschland sein kann. In Dänemark gibt es hierzu erste Ansätze und Versuche und auch in Schleswig beginnen entsprechende Planungen. In Gesprächen mit MFT-Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, aber auch aus dem Malborough Hospital kommen alle zu der Erkenntnis und Idee, dass es in vielen Fällen sehr © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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sinnvoll wäre, früher zu beginnen, als erst nach dem Schuleintritt. Methodisch-konzeptionell könnten solche Konzepte den »Familienklassen« sehr ähneln. Der Teil, der bei Familienklassen durch »Unterrichtsinhalte« geprägt ist, könnte im Kindergarten durch gemeinsame Spiel- und Kreativeinheiten ersetzt werden. Hier erwarte ich ein großes Potenzial für frühere effektive Hilfen für Familien, deren Kinder sich auffällig zeigen. Was auf jeden Fall noch zu sagen ist, ist auch an dieser Stelle ein großer persönlicher Dank an Jochen Schweitzer. Jochen hat mich auf einem wichtigen Teil meines »systemischen Weges« begleitet und sehr gefördert. Es gab auch teils turbulente Diskussionen, immer aber fair und bemüht darum, das jeweils bestmögliche Ziel zu erreichen. Dafür sage ich Danke und wünsche zum 60. Geburtstag alles Gute und vor allem noch viele weitere Jahre mit Engagement für die »systemische Sache«. Literatur Asen, E., Dawson, N., Mc Hugh, B. (2003). Multiple Family Therapy: The Marlborough model and its wider applications. London: Karnac. Asen, E., Scholz, M. (2009). Praxis der Multifamilientherapie Heidelberg: Carl Auer. Behme-Matthiessen, U., Pletsch, T., Bock, K., Nykamp, A. (2012). Handbuch Familienklasse – Multifamiliencoaching im Unterricht. Aachen: Shaker-Verlag.

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Familiäre Beziehungsmuster: Ein Entwurf aus familiendynamischer Perspektive

Einleitung: Beziehungsmuster als grundlegendes Konzept der systemischen Theorie und Therapie Das Konzept der Beziehungsmuster ist von Anfang an ein wichtiger Teil der systemischen Theoriebildung und Praxis der Systembeschreibung gewesen. Letztlich gehen alle Konzepte der Beziehungsmuster auf Bateson zurück, weshalb ich zunächst seine Überlegungen skizziere. Bateson identifizierte im Rahmen seiner anthropologischen Feldforschung bei Stämmen in der Südsee drei grundlegende Beziehungsmuster (Bateson, 1981; Ritscher, 2004): ȤȤ Symmetrie: Beide Seiten zeigen das gleiche bzw. ähnliche Verhalten. ȤȤ Komplementarität: Beide Seiten zeigen ein unterschiedliches bzw. gegensätzliches Verhalten. ȤȤ Reziprozität: Beide Seiten wechseln innerhalb eines komplementären Musters die Positionen oder es entsteht ein Wechsel aus einem symmetrischen in ein komplementäres oder aus einem komplementären in ein symmetrisches Muster. Diese Muster enthalten zunächst keine negativen Implikationen, sondern sind als rein formale Beschreibungen zu verstehen. Sie können in der realen Kommunikation positive und negative, konstruktive und destruktive, konsensuelle oder konflikthafte Konsequenzen haben, je nachdem, ob es sich bei der grundlegenden Konstellation um eine »positive« oder »negative Gegenseitigkeit« (Stierlin, 1975) handelt. Symmetrie und Komplementarität enthalten in konflikthaften Beziehungskonstellationen das Risiko der Eskalation im Sinne eines »positiven Feedbacks«, das heißt, alle Informationen werden von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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den Partnerinnen zur Bestätigung ihrer Ausgangspositionen genutzt (z. B. »der andere mag mich nicht«, »Du bist schuld an der Misere mit unserem Kind«) und nicht zu deren Veränderung. (Letzteres wäre ein »negatives Feedback«.) Solche Eskalationen können durch »unterbrechende Faktoren« gestoppt werden. Dann bietet eine Seite innerhalb eines symmetrischen Musters durch ihren Wechsel in eine komplementäre Position – zum Beispiel statt Gegenattacke ein Angebot zur Verständigung – die Unterbrechung der Eskalation an. So entsteht kurzfristig ein komplementäres Muster, das wieder in ein symmetrisches Muster wechselt, wenn die andere Seite nun ebenfalls von einem attackierenden Verhalten auf ein verständigungsorientiertes umschwenkt. Innerhalb eines konflikterzeugenden bzw. konflikteskalierenden komplementären Musters (z. B. der eine attackiert, der andere bettelt um Nachsicht) kann schon der Wechsel einer der beiden sich bekämpfenden Personen in die entgegengesetzte Position eine kurzfristige Unterbrechung bewirken. Die andere Person kann dann in die vormals durch den Partner besetzte Position wechseln, was neue Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung (»das also kann ich auch«) und der Fremdwahrnehmung (»das kannst du also auch«) – und damit Veränderungseffekte mit sich bringt. Beide können dann auch in ein längerfristiges symmetrisches Muster wechselseitiger Verständigungsbereitschaft übertreten. Diese Perspektive ist von Michael White für die therapeutische Arbeit weiterentwickelt worden (White, 1985) und lässt sich auch in vielen Aufgaben und Verschreibungen anderer systemischer Therapeutinnen wieder finden. Ein Beispiel hierfür ist die Verschreibung des Rituals »Gute Tage – schlechte Tage« der Mailänder Gruppe (Selvini Palazzoli Boscolo, Cecchin u. Prata, 1978). Beispielsweise kann man einem Paar, in dem der Mann darunter leidet, dass er immer aktiv sein muss, die Frau hingegen darunter, dass sie nie zu Wort kommt, folgenden Vorschlag machen: In den nächsten drei Wochen soll er zwei Tage über den Beziehungsalltag bestimmen, dann zwei Tage sie und die restlichen drei Tage der Woche kommunizieren sie im Rahmen des bisherigen (komplementären) Musters. Gelingt keine Deeskalation, lassen sich die entsprechenden Beziehungssituationen nur durch Verlassen (Flucht oder bewusstes © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Negieren der Situation und ihrer Regeln) oder durch einen Kampf bis zur Unterwerfung einer der beiden Seiten oder der Vernichtung beider auflösen. Davon ausgehend entwickelte sich das Konzept des Beziehungsmusters zu einem zentralen theoretischen Konzept der Beschreibung von Systemen und Interaktionskonstellationen (z. B. Reiter, 1988; Schultz von Thun, 1989). Beziehungsmuster entstehen durch eine vielmalige Wiederholung ähnlicher Verhaltensweisen im Familiensystem, zum Beispiel bei den täglichen Mahlzeiten in der Wohnküche, dem sonntäglichen Besuch bei den Großeltern oder den immer wiederkehrenden Diskussionen über das angemessene soziale Verhalten. So entstehen die Familienmitglieder verbindende eingeschliffene Kommunikationswege, durch die bestimmte Botschaften eine immer wiederkehrende Bedeutung erhalten und sich als Muster der Kooperation, der hierarchischen Über- und Unterordnung, des Konflikts, der Über- oder Unterversorgung, der Sündenbockdefinition usw. darstellen lassen.

Metabeziehungsmuster Ich möchte im Folgenden fünf familiäre Metabeziehungsmuster beschreiben: balancierende und integrierende Vernetzung, multizentrische Kooperation, demokratische Kontrolle in Beziehungssituationen, konstruktive Konfliktregulierung und entwicklungsoffene Beziehungsdefinitionen. Ich verbinde mit dieser theoretischen Konstruktion das Interesse, die Dynamik und damit auch konstruktive Entwicklung von Beziehungsmustern zu betonen und sie zugleich mit Konzepten der Familiendynamik zu verknüpfen. Ein Metabeziehungsmuster entsteht durch die Konfrontation und dialektische »Aufhebung« von zwei Beziehungsmustern, die sich anfänglich als zwei gegensätzliche Polaritäten1 gegenüberstehen. Jede dieser Polaritäten kann für sich selbst existieren, ihre Weiterentwicklung aber beginnt, indem beide sich wechselseitig als Bezugs1

In Hegels Sprache der positiv gesetzte Begriff als das eine und seine bestimmte Negation als das andere (zur Bedeutung Hegels für die Familiendynamik siehe Stierlin, 1972).

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punkte füreinander entdecken und dadurch in eine sich gegenseitig befruchtende Austauschbeziehung eintreten. In diesem Prozess bleibt keine der beiden Ausgangsgestalten erhalten. Ihre zueinander passendenden Teile finden sich in einer neuen Gestalt zusammen. Jenseits der Ausgangslage ist dann durch einen qualitativen Sprung das dialektische Dritte entstanden, in dem die progressiven Elemente der beiden anfänglichen Polaritäten »aufgehoben« sind. Hegel hat diesen für die dialektische Methode des Denkens fundamentalen Dreischritt am Beispiel der Pflanze beschrieben: »Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte; und man könnte sagen, dass jene von dieser widerlegt wird, ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus. […] Denn die Sache ist nicht in ihrem Zweck erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden« (Hegel, 1972, S. 14, Herv. W. R.). Jedes Metabeziehungsmuster entsteht im Sinne dieser dialektischen Struktur durch einen Dreischritt als kognitives Konstrukt der Beobachterin. Das Dritte, die dialektische Synthese, ist dabei das Resultat einer Koevolution, welches die Ausgangspolaritäten als Ressourcen hierfür nutzt. Das Konzept der Metabeziehungsmuster lebt also von zwei zentralen Perspektiven: Einerseits geht es um die Entwicklung vorhandener Strukturen durch deren Differenzierung und Integration, andererseits um die Nutzung dieser anfänglichen Situationen und Strukturen als Ressourcen der Entwicklung. Durch die Verwendung beider Perspektiven wird die pathologisierende und defizitorientierte Fokussierung auf entwicklungshemmende Strukturen aufgegeben und deren Veränderungsmöglichkeiten betont. Metabeziehungsmuster rücken immer ein Thema in den Vordergrund. Die Themen der vorauslaufenden Beziehungsmuster verblei-

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ben im Hintergrund. Alle Themen und Beziehungsmuster zusammen bilden den Rahmen für die Entwicklung des Systems. Die Entwicklung von Mustern ist prinzipiell unabgeschlossen. Auch ein Metabeziehungsmuster lässt sich als Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung betrachten, bei der es sich mit einem anderen Metabeziehungsmuster verbindet und dadurch neue Kombinationen, das heißt Meta-Meta-Beziehungsmuster entstehen. Beispielsweise bildet sich das Meta-Meta-Beziehungsmuster kooperative Vernetzung als Aufhebung der Metabeziehungsmuster der balancierenden und integrierenden Vernetzung einerseits, der multizentrischen Kooperation andererseits. Innerhalb eines Metabeziehungsmusters kann immer eine Schwerpunktbildung durch die Fokussierung auf eines der beiden »aufgehobenen« Beziehungsmuster entstehen. Ein Metabeziehungsmuster kann auch in seine beiden Ausgangspolaritäten zerfallen; dann ist eine erneute Integrationsleistung des Familiensystems, vielleicht auch mit professioneller Hilfe notwendig. Dann kann eine nichtlineare Entwicklung entstehen: durch eine zeitweilige Regression werden Erfahrungen möglich, die für eine neue Progression genutzt werden.

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Metabeziehungsmuster 1: Balancierende und integrierende Vernetzung Metamuster: balancierende und integrierende Vernetzung Metaregel: Balance zwischen zentripetalen und zentrifugalen Tendenzen Funktion für die persönliche Entwicklung: bezogene Individuation

Muster a: zentripetale Vernetzung

Muster b: zentrifugale Vernetzung

Zentrale Regel: die anderen als Bezugspunkt des Handelns

Zentrale Regel: das eigene Ich als Bezugspunkt des Handelns

Funktion für die persönliche Entwicklung: bezogene Individuation

Funktion für die persönliche Entwicklung: bezogene Individuation

Abbildung 1: Metabeziehungsmuster 1 – balancierende und integrierende Vernetzung

Das Thema dieses Metabeziehungsmusters ist die Vernetzung der Elemente des Systems zu einer familiären Gestalt. Seine Ausgangskonstellation bildet sich durch die Konfrontation der zentripetalen und zentrifugalen Vernetzung.2 Die zentrifugale Vernetzung – in Hegels Sinn der positiv gesetzte Begriff – hat die Funktion, ein hohes Maß an innerfamiliärer Bindung und Verbundenheit zu sichern. Die Grenzen zur Umwelt sind wenig durchlässig, die Austauschprozesse zwischen Familie und sozialem Umfeld auf das gesellschaftlich geforderte Mindestmaß – den vormittäglichen Schulbesuch der Kinder, Einkäufe für den Haushalt, die Berufsausübung oder seltene Gänge zum Sozialamt – beschränkt. Die Familie präsentiert sich als Burg mit Graben, Wall und Falltor 2 Das Konzept der zentripetalen und zentrifugalen Systemkräfte stammt von Helm Stierlin (1975).

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(vgl. Richter, 1972); letzteres ist meistens geschlossen. Innerhalb dieses Beziehungsmusters kann ein starkes »Wir-Gefühl« (Identität) verbunden mit einer ausgeprägte Loyalität und Solidarität entstehen. Man kennt nur wenige Menschen außerhalb der Mauer, dafür die sich innerhalb bewegenden umso besser. Probleme entstehen, wenn ein Familienmitglied sich aus dieser Bindung zurückziehen und seine eigenen Wege gehen möchte, zum Beispiel ein Kind in der Pubertät. Für diesen Fall konnte die Familie bisher keine Bewältigungsmuster entwickeln, weil solchen Tendenzen durch das meistens geschlossene Tor enge Grenzen gesetzt waren. Die jeweils anderen Familienmitglieder werden als exklusive Bezugspunkte des persönlichen Handelns gesetzt – das verlangt die zentrale Regel dieses Musters. Eigene Interessen und Wünsche sind von den anderen abhängig, Aktivitäten finden eher gemeinsam als getrennt statt. Bei der psychosozialen Entwicklung der einzelnen Familienmitglieder (bezogene Individuation) steht die Familie im Vordergrund; sich konträr zu ihren Normen und Werten zu entwickeln ist schwierig und kann als Ablehnung der Familie verstanden werden. Die zentripetale Vernetzung ist durch einen eher geringen familiären Zusammenhalt gekennzeichnet; die dominanten Elemente des Systems finden sich nicht unter dem Dach eines gemeinsam gelebten Familienalltags zusammen, sondern beziehen sich in erster Linie auf attraktivere Umwelten jenseits der Familiengrenze. Die Familie gewinnt ihre Gestalt weniger durch informelle Akte der persönlichen Verbundenheit, als durch formelle Merkmale, zum Beispiel eine gemeinsame Wohnung, noch minderjährige Kinder oder einen Trauschein. In manchen Fällen müssen familienunterstützende Maßnahmen nach dem KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz) eingesetzt werden, um die zentrifugalen Kräfte zu begrenzen und zentripetale zu stärken. Oft findet sich innerhalb dieses Musters ein Familienmitglied, das gegen andere den Familienzusammenhalt betont, eine diesbezügliche Verantwortung übernimmt und damit eventuell langfristig überfordert ist. Symptome können dann der Ausdruck des Dilemmas sein, einerseits diese Funktion zu übernehmen zu wollen, andererseits aber der damit verbundenen Belastung nicht gewachsen zu sein. Die bestimmende Regel stellt den Einzel© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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nen und seine Interessen in den Vordergrund; familiäre Bindungen und daraus resultierende Verpflichtungen sind zweitrangig. Bei der bezogenen Individuation liegt der Schwerpunkt auf der Individuation3; Beziehungen sind vor allem als Ressource für die eigene Entwicklung, weniger für die Koevolution aller Mitglieder des Systems von Bedeutung. In einem solchen Kontext lernen Menschen, ihre Interessen zu vertreten und durchzusetzen. Die balancierende Vernetzung hebt die Vorzüge beider Positionen in sich auf und minimiert ihre Nachteile. Dadurch entsteht ein breites Spektrum von Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten, die situationsspezifisch aktiviert und weiterentwickelt werden. Wichtig ist dafür das Konzept von Zeit und Raum. Zu bestimmte Zeiten, zum Beispiel während der Kleinkinderphase oder in Krisenzeiten kann die zentripetale Orientierung im Vordergrund stehen. Wird beispielsweise die Familie wegen einer Anzeige zu einem Gespräch in das Jugendamt eingeladen, begünstigt die räumliche Situation eher den Familienzusammenhalt als die Differenzierung in einzelne Individuen. Dann geht es um gegenseitige Hilfe, Unterstützung und Integration. Zu viel Unterschiedlichkeit würde eher verwirren und verunsichern. Dennoch ermöglicht das Muster der balancierenden Vernetzung, dass individuelle Unterschiede hinsichtlich der Einschätzungen von Situationen, der Kompetenzen für ihre Bewältigung und der Belastbarkeit erlaubt sind; dadurch können verschiedene Lösungsoptionen aufgezeigt werden. In Zeiten der Konsolidierung kann sich das System durch zentrifugale Aktivitäten seiner Mitglieder erweitern und neue Entwicklungsziele finden. Es entstehen neue Handlungsspielräume, verbunden mit einem auf Zukunft gerichteten vitalisierenden und optimistischen Gefühl. Die einzelne Person erhält in diesem Muster die Möglichkeit zur Ausgestaltung der »bezogenen Individuation« (Stierlin, 1977). Damit wird deutlich, dass es mit der Konzeption von Beziehungsmustern auch wichtig ist, die Person und die Folgen des Beziehungshandelns für die Person mitzudenken. 3

Stierlin spricht in diesem Zusammenhang von »Überindividuation« (Stierlin, 1977).

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Metabeziehungsmuster 2: Multizentrische Kooperation Metamuster: multizentrische Kooperation Metaregel: Erfolgreich sind wir, wenn wir gemeinsam handeln und Unterschiede nutzen. Funktion für die persönliche Entwicklung: wechselseitige Einfühlung (»Tele«)

Muster a: Egozentrik

Muster b: Alterzentrik

Zentrale Regel: Handle nur für dich selbst.

Zentrale Regel: Handle immer für die anderen.

Funktion für die persönliche Entwicklung: wenig Empathie für andere

Funktion für die persönliche Entwicklung: Überidentifikation mit den anderen

Abbildung 2: Metamuster 2 – multizentrische Kooperation

Im egozentrischen Beziehungsmuster setzen alle Beteiligten sich selbst als ausschließlichen Mittelpunkt des Interesses. Nur ihre jeweiligen Vorlieben, Bedürfnisse und Orientierungen zählen, unabhängig von dem was für die anderen von Bedeutung ist. Man sieht, dass die zentrifugale Vernetzung als Hintergrundthema vorhanden ist. Dieses Muster ist der Kontext einer familiären Spaltung (Lidz, Cornelison, Fleck u. Terry, 1972): Es werden keine gemeinsamen und damit verbindenden Interessen mehr definiert. Hier ist der Kampf als destruktive Form der Konkurrenz angesagt. In der persönlichen Individuation hat die Empathie für andere Menschen keinen bedeutsamen Platz. Andererseits lässt sich hier lernen, eigene Interessen wichtig zu nehmen und auf ihre Durchsetzung zu achten. Im alterzentrischen Beziehungsmuster verliert sich der eine in allen anderen. Er bleibt nicht bei sich und nutzt nicht, was ihn von den anderen unterscheidet. Die Sorge um die anderen ersetzt den Blick auf sich selbst. Konkurrenz als Durchsetzung eigener Interessen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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findet nicht statt. Hinsichtlich der Individuation zeigt sich eine Überidentifikation mit den anderen. Im positiven Sinne kann in diesem Muster Fürsorglichkeit und Aufmerksamkeit für das Wohlergehen der anderen kultiviert werden. Im Metabeziehungsmuster der multizentrischen Kooperation finden sich alle Beteiligten unter dem Dach gemeinsamer Interessen und nutzen ihre Unterschiede als Möglichkeit für vielfältige Erkenntnis- und Lösungswege. Die Beteiligten verhalten sich komplementär und arbeitsteilig zueinander; Konkurrenz hat als freundlicher Vergleich der unterschiedlichen Beiträge für das Erreichen eines gemeinsamen Zieles seinen Platz. In der persönlichen Entwicklung der Familienmitglieder entsteht die Struktur der »Zweifühlung«: Einfühlung ist keine Einbahnstraße, sondern Teil eines zirkulären Prozesses, in den alle an einer sozialen Situation teilnehmenden Familienmitglieder eingebunden sind.4

4 Diese Erweiterung der individuumzentrierten »Einfühlung« zur sozialpsychologischen »Zweifühlung« stammt von Moreno; er nannte sie »Tele« (Moreno, 1974).

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Metabeziehungsmuster 3: Demokratische Kontrolle in Beziehungssituationen Metamuster: Demokratische Kontrolle Metaregel: Alle haben Einfluss auf gemeinsam gestaltete Beziehungssituationen; Einfluss ist mit Verantwortung gekoppelt. Funktion für die persönliche Entwicklung: »Urvertrauen« und Selbstwert

Muster a: zentralistische Kontrolle

Muster b: laisser-faire – laisser passer

Zentrale Regel: Hier bestimmt nur eine(r).

Zentrale Regel: Situationen regeln sich ohne persönliche Einflussnahme und Darstellung der eigenen Wünsche.

Funktion für die persönliche Entwicklung: Allmachtsphantasien vs. »erlernte Hilflosigkeit«

Funktion für die persönliche Entwicklung: Verweigerung der Verantwortungsübernahme in sozialen Situationen

Abbildung 3: Metabeziehungsmuster 3 – demokratische Kontrolle in Beziehungssituationen

Im zentralistischen Muster der Kontrolle versucht ein Mitglied der Familie, manchmal auch ein Mehrpersonensubsystem, alle Entscheidungsprozesse an sich zu ziehen und schon in deren Vorfeld unerwünschte Bestrebungen anderer Mitglieder des Systems zu unterbinden. Die Kontrolle kann in einem Kontext der Vernachlässigung, der Feindschaft, der Misshandlung oder der Liebe stattfinden. Dazu gehört auch eine stete Kontrolle anderer durch die Position der offenen Geberin, ohne von den anderen zu nehmen; man beschneidet die anderen in ihrer Chance des Gebens und damit des fairen Ausgleichs.5 In der Verlängerung dieser Linie lassen sich 5 Jay Haley hat dieses Muster in seinem Essay »Die Jesus-Strategie« beschrieben (Haley, 2002). Auch wenn man seine Polemik nicht teilt, ist doch die

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auch Versuche, um des Heiles oder der Gerechtigkeit willen soziale Beziehungssituationen zu kontrollieren, diesem Muster zuordnen. Das Problem liegt in der Metaregel, dass Macht und Einfluss der dominanten Person(en) weder zeitlich begrenzt noch mit anderen geteilt wird. Für die persönliche Entwicklung der nicht dominanten Personen sind negative Folgen sehr wahrscheinlich: In sozialen Anforderungssituationen erleben sie sich als strukturell macht-, hilfund erfolglos; sie haben nicht gelernt, sich selbst Ziele zu setzen und diese in der Interaktion mit anderen zu realisieren oder zu verändern. Ihre Macht besteht in der Präsentation der Hilflosigkeit. Damit können sie andere Personen zwar binden, das Gefühl des eigenen Unglücks aber bleibt erhalten. Dominante Personen wiegen sich im Phantasma ihrer Allmacht – was aber, wenn sie im Kampf mit anderen unterliegen? Dennoch liegt in ihrer Erfahrung, soziale Situationen im eigenen Interesse beeinflussen zu können eine Entwicklungschance, die im Metabeziehungsmuster der demokratischen Kontrolle realisiert werden kann. Die Chance der nicht dominierenden Personen liegt in der von Hegel herausgearbeiteten Dialektik von Herr und Knecht: Sie haben die Möglichkeit, subversive Strategien der Befreiung zu erproben und die Position der Macht auszuhebeln.6 Das Muster des laisser faire – laisser passer verführt zu einer passiven Haltung, in der die Verantwortung für die eigenen Beiträge zum Systemprozess und dessen Organisation nicht thematisiert wird. Man erlebt sich mehr als Zuschauerin denn als Mitspielerin, mehr als Erleidende denn als Gestalterin. Um dieses Muster zu realisieren, benötigt das System Regeln, durch die eine klare Aussage über eigene Wünsche, Ziele und Interessen vermieden wird. Deshalb bleiben Beziehungsdefinitionen in diesem System unklar und vieldeutig. Idee der Machtausübung durch eine Aushebelung der Balance von Geben und Nehmen und die damit verbundene Schuldgefühlinduktion bemerkenswert. 6 Bert Brecht hat in »Herr Puntila und sein Knecht Matti« diese Möglichkeit des Knechtes dargestellt: Im volltrunkenen Zustand musste Herr Puntila die dominante Position an seinen Knecht abgeben, der ihn dann zu menschenfreundlichen Handlungen animierte, die man sich vom Gutsherrn Puntila gerade im nüchternen Zustand gewünscht hätte (siehe Brecht, 1973).

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Für die persönliche Entwicklung liegt die Gefahr in der Zurückweisung von Verantwortung; die Ressource für weitere Lernprozesse liegt in der Erfahrung, dass ein System sich durch individuelle, mit anderen nicht abgestimmte Handlungen kaum zielorientiert beeinflussen lässt. Man lernt »systemische Demut« – in Anlehnung an den Spruch des schwäbischen Pfarrers Oettinger: »Herr, gib mir die Kraft zu verändern, was sich verändern lässt, anzunehmen, was sich nicht verändern lässt, und die Fähigkeit, zwischen beidem zu unterscheiden.« Das Metamuster der demokratischen Kontrolle basiert auf der Idee, dass soziale Situationen nicht durch individuelle, sondern durch interaktive und kooperative Akte beeinflusst werden. Der Vorteil des demokratischen Einbezugs aller Mitglieder des Systems liegt darin, dass alle Interessen halbwegs gewahrt werden. Der dadurch entstehende Interessenausgleich sichert die Balance und den langfristigen Erhalt des Systems. Dadurch wird auch die Idee des sozialen Zusammenhaltes und der Solidarität bedeutsam. Einflussnahmen einzelner Personen oder Subsysteme sind transparent für die anderen und mit der Verantwortungsübernahme für die Konsequenzen der entsprechenden Handlungen gekoppelt. Transparenz sichert auch die Möglichkeit, sich gegen diese Einflussnahme zu wehren und gegenteilige Interessen zu vertreten. Die Möglichkeiten für die persönliche Entwicklung innerhalb dieses Musters liegen in der Übernahme einer gemeinschaftsbezogenen Perspektive. Darüber hinaus entsteht ein Gefühl, in sozialen Situationen für andere Menschen bedeutsam zu sein und sich diesen gegenüber mit einer eigenen Identität zu präsentieren. Das kommt der Entwicklung von Selbstwertgefühl Urvertrauen (Erikson, 1973) und der bezogenen Individuation (Stierlin, 1977) zugute.

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Metabeziehungsmuster 4: Konstruktive Konfliktregulierung Metamuster: konstruktive Konfliktregulierung Metaregel: Konflikte werden als Wachstumschance genutzt. Funktion für die persönliche Entwicklung: Selbstsicherheit und Selbstgewissheit

Muster a: konfliktvermeidend

Muster b: konflikteskalierend

Zentrale Regel: Konflikte werden nicht thematisiert.

Zentrale Regel: Konflikte werden immer zugespitzt.

Funktion für die persönliche Entwicklung: eine besondere Verantwortungsübernahme für das Gelingen sozialer Situationen

Funktion für die persönliche Entwicklung: Beziehungsintensität wird durch die konflikthafte Fokussierung auf die anderen hergestellt

Abbildung 4: Metabeziehungsmuster 4 – konstruktive Konfliktregulierung

Das Muster der Konfliktvermeidung ist von Beginn der Familientherapie an in vielfältigen Variationen beschrieben und dem Muster der Konflikteskalierung entgegengesetzt worden. Die Gruppe um Lyman Wynne sprach von »Pseudogegenseitigkeit« versus »Pseudofeindlichkeit« (Wynne, Ryckoff, Day u. Hirsch, 1972), Salvador Minuchin von »Konfliktvermeidung« (Minuchin, 1977), Ricarda Müssig von »Harmonie- und Streitfamilien« (Müssig, 1986). Selten wird anerkannt, dass in beiden Mustern Ressourcen für die Progression des Systems enthalten sind. Im Muster der Konfliktvermeidung wird eine besondere Verantwortungsübernahme für das Gelingen sozialer Situationen gelernt, im Muster der Konflikteskalation der Mut sich auseinanderzusetzen und Beziehung in der Streitsituation besonders intensiv leben. Der Entwicklung des Metabeziehungsmusters der konstruktiven Konfliktregulierung kommen diese Fähigkeiten zugute. Sie werden durch ihre Kombination gegenseitig »kultiviert«: Die Verantwortung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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für das Gelingen kommunikativer Situationen wird mit dem Mut, heiße Eisen anzupacken, verbunden. Konflikte werden thematisiert, als Bedingungen zeitweiliger kommunikativer Disharmonie akzeptiert und beziehungsfördernd ausgetragen. Für die bezogene Individuation (Stierlin, 1977) ist dieses Muster unter der Perspektive der Entwicklung von Selbstgewissheit und Selbstsicherheit von Bedeutung. Erfolgreich durchgestandene und beendete Konflikte lassen die Sicherheit wachsen, auch in erneuten Konfliktsituationen bestehen zu können. Das ermöglicht eine Öffnung der Subjektgrenzen in neuen und unerwartet eintretenden Situationen, eine schnelle Beziehungsaufnahme mit bis dahin unbekannten Menschen bzw. Informationen und ein dementsprechend positives Feedback. Metabeziehungsmuster 5: Entwicklungsoffene Beziehungsdefinitionen Metamuster: entwicklungsoffene Beziehungsdefinitionen Metaregel: wechselseitige Offenheit für neue Informationen über sich und die anderen Funktion für die persönliche Entwicklung: Interesse an Kommunikation

Muster a: eineindeutige Beziehungsdefinitionen

Muster b: vieldeutige Beziehungsdefinitionen

Zentrale Regel: Wir wissen immer, was wir voneinander zu erwarten haben.

Zentrale Regel: Wir können uns nicht aufeinander verlassen.

Funktion für die persönliche Entwicklung: Einengung des Wahrnehmungsfeldes

Funktion für die persönliche Entwicklung: Unsicherheit in bekannten und neuen sozialen Situationen

Abbildung 5: Metabeziehungsmuster 5 – entwicklungsoffene Beziehungs­ definitionen

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Verstehen wir Konflikte als Beziehungsverstörungen, dann spielen in diesem Zusammenhang die gegenseitigen Beziehungsdefinitionen der Konfliktpartner/-innen eine wichtige Rolle bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und Lösung von Konflikten. Der erste Schritt für die konstruktive Konfliktlösung ist die Benennung der Unterschiede. Wenn diese dann auch respektiert werden können, dann sind weitere kommunikative Prozesse möglich, durch neue Informationen entstehen, und damit eine Ausweitung der inneren Differenzierung des Systems. Damit wird Entwicklung des Systems möglich. Beziehungsdefinitionen dienen der kommunikativen Sicherheit, indem sie eine Einschätzung der jeweils andere durch deren Botschaften und eigene Antwortmöglichkeiten darauf ermöglichen. So entstehen Bilder, Beschreibungen und Einschätzungen über das eigene Selbst, die anderen und die sie verbindende Beziehung. Diese zirkulieren im System und bieten sich als Orientierungsmarken für die wechselseitigen kommunikativen Botschaften an. Daneben legen die Beziehungsdefinitionen offen oder verdeckt die in diesem System bedeutsamen Beziehungsmuster fest: »wir streiten gern, aber nicht immer«, »wir führen eine offene Ehe«, »bei uns ist jede(r) frei, das zu tun, was sie bzw. er möchte, aber es muss offen benannt sein«, »du bist die Versorgerin und ich bin der Versorgte«. In vielen Fällen sind die diesbezüglichen Absprachen aber verdeckt, eingeschliffen und der bewussten Wahrnehmung entzogen. In diesen Fall spricht Willi von »Kollusionen« (Willi, 1975) – Absprachen, die das Zusammenspiel (»colludere«: lat. zusammenspielen) eines Paares organisieren. Ihre Selbstverständlichkeit verlieren sie erst in Beziehungskrisen, wenn deren Konsequenzen das weitere Wachstum des Systems behindern. Im Muster der eineindeutigen Beziehungsdefinition gibt es keinen Spielraum für individuelle Ausprägungen und Veränderungen. Die zentrale Regel schreibt vor: Was einmal so festgelegt wurde, muss weiterhin bestehen bleiben. Die psychische Belastung, die in der Konsequenz dieses Musters entsteht, kann gleich oder ungleich verteilt sein. Beispielhaft hierfür ist das Muster der Sündenbockzuschreibung und dessen Ausgrenzung. Ein Familienmitglied wird zur Ursache für ein thematisch festgelegtes Problem oder den desolaten Gesamtzustand des Systems erklärt. In den meisten Fällen beugt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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sich auch der Rollenträger unter das Joch dieser Definition. Alle Versuche, sich dagegen zu wehren, eventuell auch durch den Rückzug aus der Familie, hält ihn noch mehr darin gefangen. Der auf die Wertvorstellungen seiner Eltern pfeifende rebellische und sich dem Drogenkonsum hingebende Sohn sorgt weiterhin für Schlaflosigkeit, Depression und die Auseinandersetzungen der Eltern um die richtige Antwort auf sein Verhalten. Je mehr er sich aus der Familie in das Drogenmilieu zurückzieht, desto mehr wird er die »Ursache« für das Unglück der Eltern, die sich seinetwegen immer mehr grämen. Je auffälliger der Rückzug, desto intensiver bleibt er über seine Rolle ein Teil des Systems. Vordergründig werden die Eltern am meisten belastet; langfristig aber wird auch die Bedrückung des Sohnes erfahrbar, wenn er sich dem destruktiven Sog der Droge nicht entziehen kann.7 Am Konzept des Sündenbocks wird auch der Wert psychoanalytischer Theoriebildung für die Familiendynamik deutlich. Ackermann und Richter haben die Zuerkennung der Sündenbockrolle als Folge einer Projektion der ganzen Gruppe gekennzeichnet. Sie und damit jedes einzelne Mitglied verweigert die Annahme der eigenen Verfehlung und der Konsequenzen für das eigene Verhalten. Statt Verantwortung zu übernehmen, wird die Schuld einem Mitglied zugewiesen und in diesem bekämpft. So verbleibt den anderen die weiße Weste. Eine eindrückliche Metapher für dieses Muster wird im Alten Testament beschrieben, als sich das Volk Israel auf Geheiß seines Gottes8 einer rituellen Reinigung von seinen Sünden mit Hilfe eines Ziegenbocks unterzieht: »Da soll denn Aaron seine beiden Hände auf sein Haupt [des Bockes] legen und bekennen auf ihn alle Missetat der Kinder Israel und alle ihre Übertretung in allen ihren 7 Im Gleichnis des verlorenen Sohnes (Lk 15, 11–32) erzählt Jesus, wie eine solche Entwicklung unterbrochen werden kann: Wenn wichtige Mitglieder des Systems, im Gleichnis der Vater und der Sohn, ihre Beziehung nicht aufgegeben haben und sie auch gegen die Interventionen der »Gerechten« – im Gleichnis werden sie durch den zurückgebliebenen Bruder vertreten – aufrechterhalten wird. 8 Der im Sinne Ludwig Feuerbachs, des großen Religionsphilosophen der deutschen Romantik, ebenfalls als eine Projektion aller Sehnsüchte, Hoffnungen und Verwerfungen der Menschen gelten kann (siehe Schmidt, 1973).

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Sünden, und soll sie dem Bock auf das Haupt legen und ihn durch einen Mann, der bereit ist, in die Wüste laufen lassen, dass also der Bock alle ihre Missetat auf sich in die Wildnis trage; und er lasse ihn in der Wüste« (3 Mose 16,21–22). Eine eineindeutige Beziehungsdefinition engt die Wahrnehmung ein; das kann in Zeiten einer Krise durchaus eine erste sinnvolle Antwort sein. Ein Beispiel hierfür ist das von Richter als »Festung« beschriebene familiäre Beziehungsmuster, in der alle Rollen eindeutig festgelegt sind und eine Verunsicherung durch Informationen aus der Welt jenseits des Burggrabens minimiert wird. Durch den Ausschluss der Umwelt aus dem eigenen Wahrnehmungsfeld wird ausgeblendet, was die Verunsicherung noch steigern und den Blick auf die eigenen Möglichkeiten noch mehr behindern könnte. Was zum Beispiel die Nachbarn sagen, wenn der Sohn eine Drogenkarriere beginnt, ist in den meisten Fällen wenig hilfreich für die Bewältigung der Situation. Auch die Anmeldung bei einer Drogenberatungsstelle benötigt ihre Zeit, damit deutlich wird, welche innerfamiliären Problemlösungsversuche erfolglos bleiben. Erst wenn die eigenen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, wird die Hilfe professioneller Dritter annehmbar; das ist die Folge der auch von ihren Mitgliedern akzeptierten gesellschaftlichen Sichtweise, dass die Familie ein sich selbst regulierendes System darstellt. Im Muster der vieldeutigen Beziehungsdefinitionen bleibt unklar, wie die Familienmitglieder sich im Familienraum verorten. Eine Skulptur oder die Arbeit mit dem Familienbrett (siehe Ludewig, Pflieger, Wilken u. Jakobskötter, 1983) zeigt dies zum Beispiel dadurch, dass es kaum möglich ist, den Familienmitgliedern Positionen zuzuweisen, die für die kurze Zeitdauer der Erstellung konstant bleiben. Die zentrale Regel verlangt, dass jede Festlegung sofort wieder aufgeweicht wird. Wenn beispielsweise das Kind einerseits von seinen Eltern aufgefordert wird, den Anordnungen des Lehrers zu folgen, dieser aber im nächsten Moment von ihnen als unfähiger Pädagoge disqualifiziert wird, stehen zwei unvereinbare Beziehungsdefinitionen für das Mesosystem Kind + Familie + Schule (vgl. Ritscher, 2013, S. 77 ff.) im Raum: Folgt das Kind der einen, disqualifiziert es die Eltern und muss von ihnen abrücken; folgt es der anderen, disqualifiziert es den Lehrer und in beiden Fällen wird es selbst als System © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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mit der Möglichkeit, eine eigene Position zu finden, disqualifiziert. Die Folge eines solchen Musters für die persönliche Entwicklung ist zunächst negativ: Es entsteht eine Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Einschätzung von Situationen, Personen und Aufgaben. Ein solches Muster kann aber auch paradox wirken, indem das Kind seinem Eigensinn folgt und die eigene Aufmerksamkeit von der verwirrenden Familienkommunikation auf die Beziehungen in seiner Peergruppe verlagert. Im Metamuster der entwicklungsoffenen Beziehungsdefinitionen ist Platz für Eindeutigkeit und Widersprüchlichkeit. Die zentrale Regel verlangt nur, dass beide Möglichkeiten situations-, kontext- und zielspezifisch festgelegt werden. Wenn ein kleines Kind am Abend nicht ins Bett gehen möchte, durch permanentes Gähnen aber seine Müdigkeit unter Beweis stellt, werden es verantwortungsvolle Eltern freundlich, aber bestimmt ins Bett bringen. Spielt es aber vor dem Mittagessen so intensiv, dass es seinen Hunger vergisst, könnten sich die Eltern vom Kind leiten lassen und das Essen noch hinausschieben. In der einen Situation beanspruchen die Eltern eine dominante Position in der Beziehung zum Kind, in der anderen wird ihm diese zugestanden – um der Entwicklung seiner kreativen Möglichkeiten willen. Darin eingeschlossen liegt auch die Möglichkeit, dass mit der psychischen und sozialen Entwicklung des Kindes seine Selbstwahrnehmungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten zunehmen und dadurch die Beziehungsdefinitionen zwischen ihm und den Eltern verändert werden. Das Ziel ist seine Eigenverantwortung.

Abschließende Bemerkung Mit dieser theoretischen Konstruktion möchte ich anregen, das Konzept der Beziehungsmuster nicht nur formal zu diskutieren, sondern ihm auch Inhalte bzw. Themen zuzuordnen, die in der konkreten systemischen Arbeit mit unseren Auftraggeber/-innen aufgegriffen, benannt und konstruktiv weiterentwickelt werden können. Ich beziehe mich dabei auf die frühen Theoretiker/-innen der Familiendynamik, um zu zeigen, dass sich im Rückgriff auf diese viel Potenzial für die heutige Theorie und Praxis der Familientherapie findet. Natürlich gilt auch für meinen konzeptionellen Vorschlag des Meta© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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beziehungsmusters: Es ist eine Konstruktion, ein Vorschlag für die Hypothesenbildung und kein Abbild einer »wirklichen Wirklichkeit«. Literatur Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bateson, G. et al. (Hrsg.) (1972). Schizophrenie und Familie. Beiträge zu einer neuen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bibel (1923). Nach der deutschen Übersetzung Dr. Martin Luthers. Berlin: Britische und Ausländische Bibelgesellschaft. Brecht, B. (1973). Herr Puntila und sein Knecht Matti. GW Bd. 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Erikson, E. H. (1973). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Haley, J. (2002). Die Jesus-Strategie. Die Macht der Ohnmächtigen. Heidelberg: Carl Auer. Hegel, G. F.W (1972): Grundzüge einer Philosophie des Rechts. Frankfurt a. M. u. a.: Ullstein. Lidz, T., Cornelison, A., Fleck, S., Terry, D. (1972). Spaltung und Strukturverschiebung in der Ehe. In G. Bateson et al. (Hrsg.), Schizophrenie und Familie (S. 108–127). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ludewig, K., Pflieger, K., Wilken, U., Jakobskötter, G. (1983). Entwicklung eines Verfahrens zur Darstellung von Familienbeziehungen: Das Familienbrett. Familiendynamik, 8 (3), 235–251. Minuchin, S. (1977). Familie und Familientherapie. Freiburg: Lambertus. Moreno, J. L. (1974). Die Grundlagen der Soziometrie. Opladen: Westdeutscher Verlag. Müssig, R. (1986). Familien-Selbst-Bilder. München/Basel (Reinhardt) Reiter, L. (1988). Auf der Suche nach einer systemischen Sicht depressiver Störungen. In L. Reiter, E. J. Brunner, S. Reiter-Theil (Hrsg.), Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive (S. 77–96). Berlin u. a.: Springer. Richter, H.-E. (1972). Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie. Reinbek: Rowohlt. Ritscher, W. (2004). Systemisch-Psychodramatische Supervision in der PsychoSozialen Arbeit (3. Aufl.). Eschborn: Klotz. Ritscher, W. (2013). Systemische Modelle für die Soziale Arbeit. Heidelberg: Carl Auer. Schmidt, A. (1973). Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus. München: Hanser. Schultz von Thun, F. (1989). Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differentielle Psychologie der Kommunikation. Reinbek: Rowohlt. Selvini Palazzoli, M., Boscolo, L., Cecchin, G., Prata, G. (1978). Paradoxon und Gegenparadoxon. Ein neues Therapiemodell für die Familie mit schizophrener Störung (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

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Wolf Ritscher

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Eia Asen

Neue Familien – neue Dilemmata? Lernprozesse für Familientherapeuten

Vorbemerkungen In diesem Kapitel möchte ich mich auf Probleme und Dilemmata von Kindern konzentrieren, die in »neue« oder bisher auch ungewöhnliche Familienformen hineingeboren werden und/oder in diesen aufwachsen. Ich rede von Familienformen und -strukturen, die es jetzt im Zuge der enormen Entwicklungen im Bereich der assistierten reproduktiven Medizin durch in vitro Befruchtungen (IVF), Leihmutterschaften und Samenspende gibt. Ich bin mir allerdings bewusst, dass ich es als Kinderpsychiater mit einer sehr exklusiven Auswahl zu tun habe, nämlich grade doch nur mit den Kindern, bei denen es im Rahmen dieser medizinischen Innovationen zu Problemen kommt. Ich muss vorweg betonen, dass die meisten Kinder mit diesen neuen Familienformen gut zurechtkommen, solange ihre Eltern – und es kann sich oft um vier und mehr Elternteile handeln – nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten. Doch in jenen Fällen, in denen Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten als Experten und Gutachter für Gerichte fungieren, gibt es wichtige Fragen für Kinder und zu deren emotionalem und sozialem Wohlergehen – und das ist der Grund für die Arbeit von systemischen Gutachtern für Gerichte. Viele Probleme dieser Familien sind neu für uns Experten, so dass wir einige unserer althergebrachten Familienkonstrukte in Frage stellen, wenn nicht sogar aufgeben müssen. Die Kinder und die Familien, mit denen wir in London arbeiten, befinden sich meist mitten in langwierigen Rechtsstreitigkeiten und die Gerichte verlangen gutachterliche Aussagen darüber, was am besten für das Wohl des jeweiligen Kindes sein könnte. Es handelt sich meist um das Aufenthaltsbestimmungsrecht und umgangsrechtliche Fragen, also wo und mit wem das Kind leben soll und wie viel Kontakt, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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wenn überhaupt, das Kind mit den »anderen« Elternteilen haben soll oder darf. Unsere gutachterliche Aufgabe ist es, die emotionalen und sozialen Bedürfnisse des Kindes zu beschreiben und Empfehlungen zu geben und anschließend zu beurteilen, inwieweit diese von den diversen Eltern erfüllt oder nicht erfüllt werden könnten. Es geht also letztendlich um die Beurteilung der Elternfähigkeit (Asen, 2000).

Alte und neue Familien Bevor ich den Prozess dieser gutachterlichen Arbeit wie auch die Fragen und Dilemmata, die sich für Kinderpsychiater, -psychologen und andere Experten stellen, beschreibe, möchte ich die Verhältnisse vor einigen Jahrzehnten in Erinnerung rufen. Während meiner Ausbildung als Psychiater in London in den 1970er Jahren schien die Definition dessen, was eine Familie ausmachte, relativ einfach. So basierten damals viele unserer Ideen und therapeutischen Praktiken auf unserem Verständnis von der sogenannten Kern- oder Nuklearfamilie. Dabei handelte es sich um ein heterosexuelles Elternpaar, also einem Vater und einer Mutter, vorzugsweise mit zwei Kindern, vielleicht sogar zwei Katzen oder zwei Goldfischen und diskret im Hintergrund helfenden Großeltern. Als wir damals Therapien für Familien anboten, bestanden wir immer darauf, die ganze Familie zu sehen und damit meinten wir vor allem solche Nuklearfamilien. Das war einmal! Allerdings wurden im multikulturellen Londoner Schmelztiegel unsere sehr westlich orientierten Familienkonzepte bei der Arbeit mit Familien aus den verschiedensten Kulturkreisen schnell in Frage gestellt. Diese Familien hatten häufig doch sehr unterschiedliche Begriffe und Erfahrungen davon, was eine Familie ausmachte, oder besser gesagt, was ihre Familie ausmachte. Das eröffnete uns neue Perspektiven und Ideen zu einem Zeitpunkt, als die Fortschritte der reproduktiven Medizin diese neuen Familien ins Leben riefen und wir mit diesen arbeiten sollten. So waren wir einigermaßen darauf vorbereitet, uns offen und ohne Vorurteile dieser Herausforderung zu stellen. Wir stellten auch bald fest, dass einige der Probleme und Dilemmata gar nicht so neu waren, da wir als Familientherapeuten schon seit Jahrzehnten mit Stief- oder Patchworkfamilien gearbeitet hat© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ten, Familien also, bei denen ein Kind oft vier Eltern haben konnte. Unsere klinischen Erfahrungen hatten uns auch gezeigt, dass es keine besonders gute oder »richtige« Familienstruktur gibt, die Kinder psychosozial begünstigt, wie das einmal die mehr normativ eingestellten Familientherapeuten (Minuchin, 1977) behauptet hatten. Inzwischen besteht ein wissenschaftlicher Konsens, dass die psychosoziale Entwicklung von Kindern vor allem von der Art und Qualität der elterlichen Versorgung abhängt. Das nun scheint auch auf die neuen Familienformen, mit denen ich oft zu tun habe, zuzutreffen, wie zum Beispiel bei Leihmutterschaftsfamilien. Bis vor ein paar Jahren war mir nicht bewusst, dass ein Kind gleichzeitig drei verschiedene Mütter haben kann: eine genetische (biologische), eine austragende und eine psychologische (soziale). In der Vergangenheit waren diese drei Aspekte der Mutterschaft meist in einer Person vereint. Tatsächlich arbeite ich in den letzten Jahren mit Kindern, die signifikante Beziehungen zu ihren drei verschiedenen Müttern haben. Wie wirkt sich das aber auf diese Kinder aus und wie kann man ihnen helfen, nicht total konfus zu werden? Und wie können die primären Bindungspersonen die Kinder bei dieser Aufgabe unterstützen?

Leihmutterschaften und Familiendramen In den Fällen von Leihmutterschaft, mit denen ich konfrontiert werde, ist es oft so, dass die Leihmutter das neugeborene Baby nicht den genetischen Eltern übergeben will, selbst wenn es sich um deren befruchtetes genetisches »Material« (so wird das manchmal benannt) handelt. Sie mag argumentieren, dass das Baby in ihr neun Monate lang gereift ist und sie zu dem Baby eine starke Bindung entwickelt hat und das Baby auch zu ihr. Unabhängig von den rechtlichen Rahmenbedingungen – ob zum Beispiel pränatal eine Leihmutterschaftsvereinbarung getroffen wurde und ob diese rechtsverbindlich ist oder nicht – erhebt sich die Frage, was wohl im besten Interesse des Neugeborenen sei. Soll das Baby bei den »leiblichen« Eltern – die man vielleicht in diesen Fällen gar nicht so nennen kann, also vielleicht besser bei den genetischen Eltern leben oder bei der Leihmutter und deren Familie? Das sind die entscheidenden Fragen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Unser offizieller Auftrag ist meist, die Elternfähigkeit aller Betroffenen zu begutachten. Das kann recht herausfordernd und kompliziert sein, wie folgender Fall zeigt. Eine weiße Leihmutter hat einen schwarzen Jungen entbunden. Sie hatte vor dessen Geburt nicht die Absicht, ihn zu behalten. Sobald er aber das Licht der Welt erblickte, verliebte sie sich total in »das süße Baby«, so behauptete sie wenigstens. Ein paar Tage später erfuhren die genetischen Eltern, ein afrikanisches Ehepaar, davon. Der Fall kam mit folgenden Fragen vor Gericht: Wem »gehört« der kleine Junge und mit wem soll er aufwachsen? Und egal, wo er lebt, wäre es nicht in seinem besten Interesse, Kontakt mit allen Eltern zu haben oder auch nicht – und wenn ja, wie oft und wie lange?

In Großbritannien ist es (noch) so, dass diese Kinder rechtlich der austragenden Mutter »gehören«, also in diesem Fall der Leihmutter, es sei denn es kann aufgezeigt werden, dass sie nicht »elternfähig« ist – und damit befasst sich das Gutachten. Oft hat eine solche gutachterliche Tätigkeit auch therapeutische Aspekte. Die systemische Arbeit mit der Leihmutter und ihrem Partner kreiste zu diesem Zeitpunkt um die Exploration von hypothetischen Szenarien. Zum Beispiel beschäftigen wir uns mit den wahrscheinlichen Fragen, die das Kind im Alter von drei, von sieben und von zehn Jahren stellen wird – bezüglich seiner Hautfarbe, seinen »richtigen« Eltern und warum es nicht bei ihnen leben oder regelmäßigen Kontakt mit ihnen haben kann. Im konkreten Fall beinhaltete dies unter anderem folgende Fragen: Therapeut: »Also nehmen wir einmal an, Johnny ist drei Jahre alt. Er fragt Sie, die Mutti, warum sie weiß und er schwarz ist? Wie würden Sie diese Frage beantworten?« Mutter: »So was wird der bestimmt nicht fragen!« Therapeut: »Weil er zu jung ist, es zu merken?« Mutter: »Kleine Kinder machen sich über solche Sachen keine Gedanken.« Therapeut: »Und tun sie es, wenn sie älter sind?« Vater: »Na, irgendwann doch schon, vielleicht wenn sie Teenager sind.«

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Mutter: »Ich glaube schon ein bisschen früher, vielleicht mit sechs oder sieben Jahren«. Therapeut: »Sollten Sie Johnny darauf vorbereiten oder darauf warten, dass er das anspricht? Was wären die Vor- und Nachteile, den Zeitpunkt ihm zu überlassen? Könnte es auch sein, dass Johnny vielleicht auch schon vorher merken könnte, dass das für Sie ein Tabuthema ist? Und wenn das so wäre, wäre das okay für ihn?« […] »Wenn Johnny Ihnen sagte, dass sein Freund ihn im Kindergarten gefragt hat, warum er schwarz und seine Eltern weiß sind, wie würden Sie damit umgehen? Nehmen wir an, er wäre fünf Jahre alt, was würden Sie antworten? Und würden Sie ihm anders antworten, wenn er sieben oder zehn Jahre alt ist? Und darf ich fragen, warum?«

Ich habe auch mit Fällen zu tun, bei denen sich erst nach Jahren herausstellt, dass die Leihmutter keine Fehlgeburt erlitten, sondern das Kind ausgetragen hatte. Eine Leihmutter erzählte den genetischen Eltern, dass sie den Fötus durch eine Fehlgeburt mit zwölf Wochen verloren hätte. Die Geburt der Zwillinge wurde vor den genetischen Eltern verheimlicht und sie erfuhren nur per Zufall, zweieinhalb Jahre später, dass sie Kinder hatten und »ihre« Kinder bei anderen Eltern aufwuchsen. Die genetischen Eltern waren überglücklich und gleichzeitig auch entrüstet: Sie gingen vor Gericht, um für »ihre« Zwillinge zu kämpfen. Wo sollten diese nun in der Zukunft leben? Die Leihmutter und ihr Mann wie auch ihre eigenen schon älteren Kinder, bestanden darauf, dass die Zwillinge bei ihnen bleiben sollten. Sie argumentierten, dass sie auch die psychologischen Eltern wären, und beriefen sich auf die Bindungsforschung und die negativen Konsequenzen für »ihre« Kinder, falls man sie von ihnen und ihren Geschwistern trennen sollte.

Als Gutachter sollte ich beantworten, was nun das Beste für diese Zwillinge aus psychologischer, sozialer, biologischer und kultureller Sicht sei. Können die weißen Eltern die Identität ihrer schwarzen Kinder und deren kulturelle Bedürfnisse adäquat befriedigen? Wie steht es mit dem übergeordneten moralischen Prinzip von Gerechtigkeit, vor allem wenn man sich vor Augen führt, dass die schwarzen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Eltern belogen und um ihre Kinder betrogen wurden? Oft gibt es noch weitere komplizierende Faktoren: In diesem Fall waren die drei Geschwister der Zwillinge in der Leihmutterfamilie aus künstlichen Besamungen von drei verschiedenen anonymen Samenspendern hervorgegangen. Sie hatten dieselbe Mutter, aber verschiedene Väter. Das war augenscheinlich ein wohlgehütetes Geheimnis, von dem außer den Eltern angeblich niemand etwas offiziell wusste. Da sie aber sehr unterschiedlich aussahen und auch verschiedene Hautfarben hatten, wurde in der engeren Verwandtschaft spekuliert, wer nun der Vater – oder die Väter – dieser drei sein mochten.

Hier handelte es sich um eine Familie voller potenziell toxischer Geheimnisse – sollten diese geplant enthüllt werden oder spontan explodieren? Wer von den Kindern sollte was wissen und wann? Viele Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es in der Regel hilfreich für die Identitätsentwicklung von Kindern ist, Kenntnis von den wahren Familienumständen zu haben. Aber wann und wie soll dieses Wissen vermittelt werden, auch gerade in einer Familie, in der die Älteste 15 Jahre und die Jüngste zweieinhalb Jahre alt ist? Wenn die älteren Kinder Informationen haben, die sie vor den Jüngeren geheim halten sollten, könnte das nicht zu unangenehmen Dynamiken führen? Wenn man der Ältesten alles wahrheitsgemäß erklärt, könnte man erwarten, dass sie das nun für sich behielte? Wie kann man Kindern, die sich in verschiedenen Entwicklungsphasen befinden, gleichzeitig helfen, ein kohärentes Familiennarrativ quer über alle Altersstufen hinweg zu entwickeln? Und was wären die Konsequenzen, wenn die Eltern nicht die Wahrheit sagten und die Kinder dann per Zufall herausfänden, dass man sie belogen hätte? Würde das nicht ihr Vertrauen in ihre Eltern negativ beeinflussen? Diese und andere Fragen tauchen häufig bei der Arbeit mit diesen »neuen« Familien auf. Systemisch orientierte Gutachter nehmen hier eine therapeutische Position ein (Asen, 2007). Sie helfen den verschiedenen Familienmitgliedern, über die Bedürfnisse ihrer Kinder zu reflektieren – jetzt und in der Zukunft – und darüber, wie sie selbst als Eltern mit den zu erwartenden Anforderungen fertig werden würden. Der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Fokus ist bewusst auf die emotionalen, kognitiven, kulturellen und sozialen Befindlichkeiten und Bedürfnisse der Kinder gerichtet. Konkret versuchen wir die Eltern dabei zu unterstützen, sich in die Gedanken- und Gefühlswelten ihrer Kinder hineinzuversetzen: »Ihre 15-jährige Tochter weiß, dass ihre vierjährige Schwester biologisch eigentlich nicht mit ihr verwandt ist. Könnte das ein Problem für sie sein? Und wenn, wie würden Sie das herausfinden und ansprechen? Wie soll Ihre Tochter mit ihrem Wissen umgehen? Soll sie es der Kleinen sagen oder soll es ein Geheimnis bleiben? Wenn es ein Geheimnis bleiben soll – für wie lange? Könnte das zu Konflikten für Ihre Tochter und zu irgendwelchen Belastungen führen? Erwartet Ihre Tochter vielleicht, dass Sie die Verantwortung übernehmen?«

Wenn man mit den verschiedenen Elternteilen arbeitet, den psychologischen und den genetischen, sollte es nicht zu einer Art Wettbewerb kommen, wer nun die »besseren« Eltern sind, sondern zu einem Konsensus, ob jeder Elternteil »gut genug« für das betreffende Kind ist, jetzt und in der Zukunft. Falls aber die Elternfähigkeit jedes Elternteils im Prinzip gut genug ist, bestimmt die bestehende Rechtsprechung den Ausgang. In England hinkt sie allerdings den neuen Entwicklungen in der reproduktiven Medizin sehr hinterher: Zurzeit wird der gebärenden Mutter in diesen Fällen das Recht, das Kind zu behalten, zugesprochen. Wenn allerdings per Gutachten aufgezeigt werden kann, dass die psychologischen Eltern weder zu diesem Zeitpunkt noch aller Wahrscheinlichkeit nach in der Zukunft nicht all die wichtigen Bedürfnisse des Kindes adäquat stillen können, kann die Rückführung zu den genetischen Eltern erwogen werden. Im obigen Fall wurden die Zwillinge im Alter von zweieinhalb Jahren ihren afrikanischen Eltern zugesprochen. Die guten Bindungsbeziehungen, die sie mit ihren psychologischen Eltern hatten, halfen ihnen, nach anfänglichen Schwierigkeiten neue sichere Bindungen zu ihren genetischen Eltern zu entwickeln. Ausschlaggebend für meine Empfehlungen an das Hochgericht waren unter anderem die komplexen Dynamiken in der Leihmutterfamilie und die Schwierigkeiten, die die Eltern mit ihren drei ersten Kindern hatten.

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Homonukleare Familie – Familien lesbischer Eltern Hier handelt es sich um vaterlose Familien mit zwei lesbischen Müttern. Die Mütter sagen, dass ihre Kernfamilie vollständig ist, und sie argumentieren, dass sie die primären Bindungspersonen für ihre Kinder sind – und dass es keinen Raum und keine Rolle für einen Vater gibt. Bei vielen dieser Familien läuft alles normal, und vielleicht sogar besser als »normal«, wie verschiedene Untersuchungen zeigen (Tasker u. Golombok, 1997). Die homonuklearen Familien, mit denen ich und andere Kollegen arbeiten, sind eine kleine Minderheit. Sie kommen allerdings zu uns wegen schwerer Probleme, die sich oft daraus ergeben, dass die biologischen Väter die ihnen von den Müttern zugeschriebene Rolle – oder Nichtrolle – im Leben ihrer Kinder nicht akzeptieren. Oft ist es so, dass lesbische Paare bei der Planung der Befruchtung an gute Freunde als Spender denken, nicht selten homosexuelle Männer, die gern »aushelfen« wollen. Zu diesem Zeitpunkt denken sie nicht daran, eine wichtige Rolle in dem Leben des noch ungeborenen Kindes zu spielen. Unzureichende Planung und Missverständnisse, selbst wenn formelle oder informelle Vereinbarungen mit befreundeten Samenspendern getroffen wurden, können zu schweren Konflikten führen, weil gerade die Macht der aufkommenden mütterlichen und väterlichen Gefühle, die man eben nicht im Voraus planen kann, oft unterschätzt wird. Mütter können plötzlich sehr besitzergreifend erscheinen, besonders wenn es stark konkurrierende Gefühle seitens des Samenspenders gibt, der sich nun auch als Vater sieht. Väter mögen sich erst nach der Geburt ihrer eigenen starken Wünsche bezüglich genetischer Nachkommen bewusst werden und ein intensives Bedürfnis entwickeln, eine signifikante Rolle im Leben ihres Kindes zu spielen, egal was die Parteien vorher vereinbart hatten. Mütter befürchten andererseits, dass die Präsenz und Rolle eines Vaters die nichtbiologische Mutter marginalisieren könnte. So sind sie gegen Kontakt zwischen dem Kind und Vater – er soll ja kein psychologischer Elternteil werden, denn das passt nicht in das Konzept ihrer Familie. Obendrein sehen sie auch die Gefahr in zwei getrennten, parallel operierenden Elternhäusern, zwischen denen ihr Kind pendelt, und so, aus der Sicht der Mütter, ihr Konzept der Kernfamilie untergra© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ben wird – mit den entsprechend negativen Auswirkungen auf das Wohlergehen des Kindes. Die biologischen Väter allerdings erheben Einwände und schalten die Gerichte ein, um ein regelmäßiges Umgangsrecht für ihr Kind zu erkämpfen. In der Mitte dieser oft hochstrittigen Konflikte zwischen Müttern und Vätern, die von endlosen gegenseitigen Schuldzuweisungen bestimmt werden, steht das Kind. Und es sollte sich für diejenigen, die diesen Kindern helfen wollen, die Frage stellen: Haben Kinder ein Recht auf einen Vater oder eine Vaterfigur in ihrem Leben? Der Begriff »Vater« hat eine spezifische Bedeutung für die meisten Kinder, auch wenn der oder ein Vater wenig am Familienleben teilnimmt, permanent abwesend oder dem Kind unbekannt ist. Diese Bedeutungen werden von verschiedenen Faktoren bestimmt und beeinflusst, vor allem von gesellschaftlichen und kulturellen Werten und Erwartungen, wie auch von familiären Überzeugungen und persönlichen Erfahrungen. Psychologische Entwicklungstheorien, meist im europäischen Raum entstanden und angesiedelt, reflektieren diese Werte und beziehen sich auf Theorien von dem heterosexuellen Elternpaar, bestehend aus einer Mutter und einem Vater. Es ist schon viel, vielleicht sogar zu viel, über den »abwesenden Vater« und die angebliche Sehnsucht des Kindes nach dem Vater geschrieben und theoretisiert worden. Zunehmend wird auch debattiert, was nun eine vollständige Familie ist. Transkulturelle Arbeit hat uns gezeigt, dass unsere westlichen Ansichten und Theorien doch sehr einge- oder beschränkt sind. Ein Beispiel aus meiner klinischen Praxis mag einige der in diesen Familien möglichen Dilemmata verdeutlichen. Es handelt sich hier um den vierjährigen Paul, der mit seinen Müttern in einer homonuklearen Familie lebt. Der genetische Vater und die leibliche Mutter fungierten nie als Elternpaar, obschon der biologische Vater manchmal zu Besuch kam, mit der gleichen Frequenz wie einige entfernte Onkel und Tanten, also nicht öfter als ein- oder zweimal im Jahr. Die Mütter argumentierten, dass der genetische Vater eine vergleichbare, sehr geringe Bedeutung für das Kind hätte wie die entfernten Verwandten und deutlich weniger als die engeren Freunde der Mütter, die Paul wöchentlich oder sogar öfter sahen. Bei den seltenen

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Besuchen nannte Paul seinen biologischen Vater »Papa«. Macht diese Anrede Pauls genetischen Vater auch zu seinem psychologischen Vater oder handelt es sich hier für das Kind um ein ganz anderes Konzept vom Vater als das, was wir Erwachsene – und unsere Kultur – darunter verstehen? Nun lebte Paul in einer Kleinstadt und im Kindergarten sah und hörte er viel von Vätern. Andere Kinder – und auch zunehmend deren Eltern  – fragten ihn, wo sein Vater sei. Auf diese Weise und ohne bewusste Intentionen kommunizierten diese Kinder, ihre Eltern, Kindergärtner/-innen und auch Nachbarn indirekt, dass in Pauls Familie etwas fehlte, dass sie unvollständig sei, während seine Mütter dies ganz anders sahen. So taten sie ihr Bestes, Paul zu helfen, mit solch unterschiedlichen Familien- und Vaterkonzepten umgehen zu können und sich nicht durch Vorurteile oder traditionelle Überzeugungen anderer verwirren zu lassen. Untersuchungen zeigen inzwischen, dass Kinder in homonuklearen Familien gut mit solchen Dissonanzen umgehen können, wenn ihre Mütter sie unterstützen. Allerdings hatte Paul es noch ein bisschen schwerer, da der Vater seiner genetischen (leiblichen) Mutter deren Homosexualität verurteilte und ihre Partnerin verteufelte. So unterbanden die Mütter jeglichen Kontakt zwischen dem Großvater und Paul, was allerdings bei den gelegentlichen Großfamilienfeiern schwer aufrechtzuerhalten war. Paul wurde immer neugieriger auf den Papa seiner Mutter und stellte die Frage, warum er seinen eigenen Papa so selten sah, auch da er wusste, dass sein Vater ihn viel öfter sehen wollte. Obendrein hatte er mitbekommen, dass ein gerichtliches Verfahren lief und sein Vater und dessen Partner bestrebt waren, eine wichtige Elternrolle in seinem Leben einzunehmen. Sie sagten Paul, dass sie ihn so oft sehen wollten, »wie es bei geschiedenen Eltern üblich ist«. Was die Angelegenheit noch komplizierter machte, war, dass Paul zwei jüngere Geschwister im Alter von einem und zwei Jahren hatte; ein Kind war die Tochter seiner genetischen (leiblichen) Mutter, das zweite der Sohn seiner »anderen« (psychologischen, aber nicht genetischen) Mutter. Beide Kinder wurden über Samenspenden gezeugt und, um ähnliche potenzielle umgangsrechtliche Schwierigkeiten wie die mit Pauls Vater zu vermeiden, hatten die Mütter sich für anonyme Samenspender entschieden. Die Mütter argumentierten, dass, wenn das Gericht dem genetischen Vater und

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seinem Partner soviel Kontakt zusprechen würde, sich das auf Pauls Geschwister und das mütterliche Konzept der Nuklearfamilie sehr negativ auswirken würde. Sie gaben auch zu bedenken, dass Pauls Geschwister dann viel über ihre eigenen Väter fragen würden – ohne dass es Antworten zu diesen Vätern gäbe.

Die Aufgabe systemischer Therapeuten in diesen Situationen ist nicht, Lösungsvorschläge zu machen, sondern für Familien und ihre individuellen Mitglieder neue Perspektiven zu eröffnen und sie anzuregen, über die eigenen Dilemmata und die ihrer Kinder zu reflektieren. Das lässt sich am Besten durch zirkuläre und reflexive Fragen erreichen. Im obigen Falle gingen wir Fragen nach wie: »Was wollen Sie Paul sagen, wenn er nach seinem Vater fragt? Und angenommen er fragt, warum seine Geschwister keinen Vater haben, wie wollen Sie das beantworten?«

Oft wissen die Eltern nicht, wie sie diese Fragen beantworten sollen, und hier ist es die therapeutische Aufgabe, mit den Eltern zusammen ein Drehbuch oder Skript zu kokonstruieren, nach sorgfältiger Evaluierung der Pros and Kontras, das altersentsprechend dem Kind hilft, ein kohärentes Narrativ zu entwickeln. Das ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess, der sich über Wochen und Monate hinziehen kann. Zu einem bestimmten Zeitpunkt fragen eigentlich alle Kinder aus diesen neuen Familien nach ihren Vätern. Wenn der Samenspender nicht anonym ist, können diese Fragen konkret beantwortet werden und das kann Kindern bei der Formation ihrer Identität helfen, gerade wenn sie Jungen sind und ein direkter Kontakt möglich ist. Dies ist nicht der Fall bei Kindern von anonymen Samenspendern, die frühestens mit 18 Jahren Kontakt mit ihrem genetischen Vater haben können. Diese Unterschiede innerhalb einer homonuklearen Familie können spezifische intrafamiliäre Probleme schaffen, mit Rivalitäten und Eifersüchteleien zwischen den Geschwistern. Hier können systemische Therapeuten helfen und beraten. Hilfreich kann beispielsweise sein, die verschiedenen Familienmitglieder anzuregen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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in einem Rollenwechselspiel den »eifersüchtigen Bruder« oder die »vaterlose Tochter« zu spielen – leicht dramatisch überzogen, so dass spezifische Problematiken bildlich dargestellt werden können. Da Kinder von Natur aus wissbegierig und neugierig sind, wollen sie in der Regel Informationen über ihre biologischen und familiären Wurzeln haben. Es gibt inzwischen einen Konsens, dass Kinder über ihre Herkunft, die Umstände ihrer Geburt und ihre frühe Kindheit so bald wie möglich und in altersgerechter Weise informiert werden sollten. Dies geschieht am besten durch die primäre(n) Bindungperson(en) und ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem einige Familien professionelle Unterstützung benötigen. Dabei sind die sich ständig im Fluss befindenden Entwicklungsstadien von Kindern und deren sich unentwegt wandelnden emotionalen und kognitiven Fähigkeiten zu beachten, so dass oft komplexe Informationen altersentsprechend eingebracht und verarbeitet werden können. Vermittlung von derartigen Informationen ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess, der sich über Jahre hinzieht, so dass ein kohärentes und stimmiges Narrativ, mit wachsender Komplexität, entwickelt werden kann. Die Wort- und Begriffswahl reflektiert dieses: Im Alter von drei Jahren macht es wenig Sinn, über Samen und zu befruchtende Eier zu sprechen. Kinder, die mit zwei Müttern und ohne Väter aufwachsen, wollen höchstens Bestätigung dafür, dass ihre Familie »normal« ist – und für sie sollte das ein psychologisches und kein biologisches Konzept sein. Zwei Mütter, mit denen ich arbeitete, einigten sich darauf, ihrem Sohn im Alter von acht Jahren Folgendes zu sagen: »Du weißt, dass du nicht eine, sondern zwei Mütter hast. Man könnte auch sagen, dass du zwei Eltern hast, wie die meisten Kinder. Nur da wir Frauen sind, brauchten wir Samen, um ein Kind zu bekommen, und den bekamen wir. Und dabei hat uns ein Freund geholfen, Onkel Hans, den du manchmal siehst.«

Ob Kinder, wenn sie älter sind, die Samenspender als »Väter« bezeichnen, wird dann ihnen überlassen. Bei der Abgabe von Empfehlungen an das Gericht in Bezug auf Kontakt- und Aufenthaltsrecht in diesen Fällen sollte man sich auch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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an Forschungsdaten und Outcomes orientieren, soweit es diese gibt. Die Bindungsforschung hat uns zum Beispiel viele Ideen geliefert, die unsere Praxis beeinflusst haben und die mittlerweile eine solide Evidenzbasis besitzen. Dennoch erfordert die Vielfalt möglicher Szenarien, dass wir die Besonderheiten jedes einzelnen Falls in Betracht ziehen müssen. Als kindfokussierte Fachkräfte sollten wir in erster Linie am Kindeswohl interessiert sein und weniger an den wirklichen oder vermeintlichen Rechten der Eltern. Als systemische Praktiker sehen wir allerdings das Kindeswohl im familiären und sozialen Kontext. Der Kontakt mit den anderen Eltern soll unterstützend für Kinder sein und nicht das Leben des Kindes in der Primärfamilie unterminieren. Therapeutisch sollten wir allen Parteien helfen, den verschiedenen Müttern und Vätern sowie weiteren primären Beziehungspersonen, Kontexte zu schaffen, in denen sich das Kind wohl fühlen kann und nicht interfamiliären Konflikten ausgesetzt ist.

Zukunftsperspektiven Kinder scheinen mit jeder Familienform und -struktur umgehen zu können (Golombok, 2000), aber am besten dann, wenn ihre Eltern oder andere primäre Bezugspersonen dies auch können und wenn die Kinder nicht in Loyalitätskonflikte geraten oder verwirrende Informationen bekommen. Elterlichen Konflikten ausgesetzt zu sein, ist einer der Hauptgründe für emotionale Probleme und Verhaltensstörungen bei Kindern. Zugegebenermaßen haben die Innovationen in der assistierten reproduktiven Medizin die traditionelle Rollenverteilung in Familien kompliziert, Familienkonzepte in Frage gestellt und auch neue Probleme für Kinder und Eltern geschaffen. Dennoch können die meisten Familien ohne professionelle Hilfestellungen selbst damit umgehen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es oft die Helfer sind – und Kinderpsychiater wie ich sind keine Ausnahme – die Schwierigkeiten haben, die Dynamiken in und zwischen diesen »neuen« Familien zu verstehen, und dass oft wir es sind, die sich Dilemmata einbilden oder gar konstruieren, die diese Kinder und Familien einfach nicht haben oder als solche auch nicht erleben. Wir sollten unsere Theorien und Konzepte deshalb immer kritisch betrachten und der Versuchung widerstehen, Unterschiede und Anderssein zu pathologisieren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Eia Asen

Literatur Asen, E. (2000). Familienbegutachtung und -therapie bei schwerer körperlicher und seelischer Kindesmisshandlung. Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, 3, 95–105. Asen, E. (2007). »Therapeutic assessments«: Assessing the ability to change. In C. Thorpe, J. Trowell (Eds.), Re-rooted lives: Interdisciplinary work with the family justice system (pp. 39–48). Bristol: Jordan Publ. Golombok, S. (2000). Parenting – What really counts. Sussex: Routledge. Minuchin, S. (1977). Familie und Familientherapie. Freiburg: Lambertus. Tasker, F., Golombok, S. (1997). Growing up in a lesbian family. Effects on child development. New York: Guilford Press.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

Rüdiger Retzlaff

Der Umgang mit von körperlichen Krankheiten betroffenen Patienten – eine Herausforderung für die systemische Therapie

Vorbemerkungen Nach meinem Wechsel aus einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus in die Abteilung für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie der Universitätsklinik Heidelberg im Jahr 1995 begann ich zunehmend Familien mit Angehörigen zu sehen, die von Behinderungen, körperlichen Erkrankungen und genetisch bedingten Leiden betroffen waren. Mein Interesse galt insbesondere systemischen Konzepten für die Behandlung von Patienten, die an körperlichen Erkrankungen litten. Bei dem damals vorherrschenden konstruktivistischen Mainstream der systemischen Therapie, der menschliche Probleme allzu einseitig auf kommunikative Probleme reduzierte, fand ich keine befriedigenden Antworten auf die Frage, wie systemische Therapeuten den besonderen Herausforderungen bei der Arbeit mit körperlich kranken Patienten begegnen können. Das systemische Feld erschien mir damals allzu »psychologisch fixiert« und recht blind für somatische Faktoren – Weakland hatte schon 1977 daraufhin hingewiesen, dass die »Familiensomatik« von der Familientherapie vernachlässigt werde. Mein Interesse wurde durch meinen intensiven beruflichen und persönlichen Kontakt zu Menschen genährt, die von chronischen Erkrankungen und Behinderungen betroffen waren und nur sehr bedingt über sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten verfügten. In Jochen Schweitzer, meinem Vorgänger in der Abteilung, der zuvor in die Medizinische Psychologie der Universitätsklinik gewechselt war, fand ich einen Mitstreiter. Angesichts seiner zahlreichen Aktivitäten ist innerhalb der systemischen Szene vielleicht weniger bekannt, dass Jochen Schweitzer lange Zeit intensiv mit nierentransplantier© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ten Patienten und ihren Angehörigen gearbeitet hat und bestens mit familienmedizinischen Fragestellungen vertraut ist. Unsere Zusammenarbeit führte zum ersten einer ganzen Reihe fruchtbarer Kooperationsprojekte und einem ersten gemeinsamen Seminar »Systemische Familienmedizin für Primärärzte«, also Hausärzte, Allgemeinmediziner, Frauenärzte und Kinderärzte, das außerordentlich gut angenommen wurde. Mit der Berücksichtigung der biologischen Prozessebene unterscheidet sich die systemische Familienmedizin von anderen systemischen Modellen. Um zu verstehen, warum sich das systemische Feld mit somatischen Erkrankungen traditionell eher schwer tut, muss man einen Blick auf ihre Entwicklungsgeschichte werfen: Die systemische Familientherapie entstand als Teil eines Paradigmenwechseln in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Anstatt individuelle Merkmale zu betrachten wurden die Auswirkungen von Umweltfaktoren berücksichtigt. Die zentrale Annahme der systemischen Familientherapie besagt, dass Menschen nur innerhalb ihres zwischenmenschlichen Kontextes verstanden werden können. Die meisten »klassischen« systemischen Familientherapeuten vertraten entsprechend die Auffassung, dass ein enger Zusammenhang zwischen den Symptomen von Individuen und spezifischen Interaktionsmustern in der Familie besteht. Symptome werden letztlich als Ausdruck oder als Metapher für ein Beziehungsgeschehen verstanden. Abhängig von der jeweiligen therapeutischen Schule wurden gestörte Kommunikationsprozesse, die Tradierung von problematischen Beziehungserfahrungen über mehrere Generationen oder dysfunktionale Interaktionsmuster in der Gegenwart als pathogen angesehen. Die strukturelle Familientherapie sah beispielsweise einen Zusammenhang zwischen Interaktionsmustern wie Überbesorgtheit, Rigidität, Verstrickung, Konfliktvermeidung und bestimmten Koalitionsmuster in der Familie, die dann im Individuum physiologische Prozesse auslösen und zum Entstehen und Persistieren von psychosomatischen Störungen, wie Asthma oder juvenilem Diabetes führen. Wie genau das Interaktionsgeschehen in physiologische Prozesse umgesetzt wird, blieb allerdings weitgehend offen. Der Therapeut ist bei dieser Form der systemischen Therapie in der klassischen Rolle eines Behandlers, er will mit seinen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Interventionen Verhaltensänderungen bewirken und eine veränderte Beziehungswirklichkeit schaffen. Wegen des ausgeprägten Fokus auf dem Interaktionsgeschehen blieben körperliche Faktoren und Krankheiten letztlich weitgehend unberücksichtigt. Mit der kognitiven Wende der systemischen Therapie Anfang der 1980er Jahre rückten Sprache und Bedeutungsgebungsprozesse stärker in das Zentrum des Interesses. Was als Problem oder als Störung definiert wird, ist immer von der Bedeutungssetzung der Betroffenen abhängig. Der Mensch wird nicht als ein Opfer von inneren Reizen oder als Spielball von externen Systemkräften angesehen, sondern verfügt über Sprache und misst Ereignissen in seinem Leben eine individuelle Bedeutung zu. Während man sich in der pragmatischen systemischen Familientherapie für Verhaltenssequenzen interessierte, die ein Problem perpetuierten, wurde jetzt der Bedeutungsrahmen als primär angesehen, der einen organisierenden Einfluss auf das Erleben hat. Der Fokus der therapeutischen Interventionen ist demnach die Veränderung der von der Familie konsensuell geteilten Prämissen. Aus dieser Sicht ist Therapie ein Konversationsprozess, in dem Bedeutungen neu ausgehandelt werden in der Hoffnung, dass damit neue Lösungen eröffnet werden. Die Therapeut-Klient-Beziehung wird als sehr viel stärker symmetrisch angesehen als in der klassischen systemischen Familientherapie. Wenn Probleme jedoch letztlich nur auf sprachlicher Ebene existieren, werden körperliche Krankheiten und Einschränkungen im Sinne von Behinderungen weitgehend ausgeblendet. Anders bei psychoedukativen »Familieninterventionen« – die bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen häufig zum Einsatz kommen. Hier wird versucht, durch die Vermittlung von allgemeinen Informationen über die Erkrankung und ihre Folgen, über günstige und ungünstige Umgangsweisen mit dem Patienten der Familie zu helfen, besser mit der Erkrankung umzugehen. Ein zentraler Unterschied des psychoedukativen Ansatzes gegenüber der systemischen Therapie ist die Vorstellung, dass der Therapeut als Experte die Patienten und ihre Angehörigen aufklärt und ihnen Wissen vermittelt, das eine therapeutische Wirkung entfalten soll. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass die meisten von uns im Falle der Erkrankung eines Angehörigen sehr wohl von einem Behandler erwarten würden, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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möglichst genaue Informationen zu erhalten. Es ist daher eigentlich verwunderlich, wenn eine derartige Wissensvermittlung an Patienten bei Psychotherapeuten als zu lehrerhaft verpönt ist. Aufklärung und das zur Verfügung stellen von krankheitsspezifischer Information zählt sicherlich zu den allgemeinen Pflichten eines Behandlers. Ob eine rein kognitive Wissensvermittlung eine effektive, verhaltenswirksame Behandlungsstrategie ist, muss allerdings in Kenntnis der einschlägigen sozialpsychologischen Literatur bezweifelt werden.

Die systemische Familienmedizin als integrativer Ansatz Die auf dem biopsychosozialen Modell von Engel basierende systemische Familienmedizin ist ein systemorientierter Psychotherapieansatz für Patienten und Familien, die unter einer somatischen Krankheit leiden (Cierpka, Krebeck u. Retzlaff, 2001; McDaniel, Hepworth u. Doherty, 1997). Dieser Therapieansatz befasst sich mit somatischer Krankheit und deren Auswirkung auf das persönliche Leben der Patienten und das interpersonelle Leben der Familie. Von einer Erkrankung sind immer auch die Angehörigen des Patienten mit betroffen, und sie haben einen wichtigen Einfluss auf den Verlauf und die Behandlung der Krankheit. Familien sind die Quelle vieler gesundheitsbezogener Überzeugungen und Verhaltensweisen. Wenn Familien den normalen Lebenszyklus durchlaufen, kann sich der dabei entstehende Stress als körperliches Symptom zeigen. Somatische Symptome können eine adaptive Funktion in der Familie haben und von familiären Interaktionsmustern aufrechterhalten werden. Ausgehend von der Prämisse, dass kein biomedizinisches Ereignis ohne psychosoziale und kein psychosoziales Ereignis ohne biologische Auswirkungen stattfindet, kommt der Zusammenarbeit zwischen den behandelnden Ärzten, Familientherapeuten, Pflegekräften und anderen psychosozialen Berufen eine zentrale Rolle zu. Entsprechend kritisierte Engel, dass die traditionelle Medizin es versäumt habe, sich mit den psychischen Aspekten von Krankheiten zu befassen, umgekehrt aber auch Familientherapie und Systemtherapie lange wenig Interesse an den biologischen Aspekten von Erkrankungen gezeigt haben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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In Anlehnung an von Bertalanffy begriff Engel Erkrankungen als komplexe Ereignisse, die sich stets auf verschiedenen natürlichen Hierarchieebenen, also etwa einer zellulären, einer individuellen, einer familiären Ebene manifestieren und sich nicht auf eine einzige Ebene reduzieren lassen, Erkrankungen liegen damit nicht ausschließlich in der biologischen Struktur einer Person begründet, sondern müssen auch als eingebettet in die familiäre und psychosoziale Wirklichkeit verstanden werden. Betrachtungsfokus der systemischen Familienmedizin ist deshalb der Patient im Kontext seiner Familie und seines psychosozialen Umfeldes. Das therapeutische System wird nicht als Dyade, sondern als die Triade von Behandler, Patient und seinen Angehörigen definiert, die immer auch einen Einfluss auf die Arzt-Patient-Beziehung haben. Die Angehörigen sind eine mögliche Ressource, aber auch ein potenzieller Störfaktor. Es gibt zahlreiche empirische Belege für den Einfluss von familiären Krisen und Belastungen auf den Verlauf von chronischen Erkrankungen. Umgekehrt ist der günstige Einfluss von »social support« im Sinne familiärer Unterstützung bekannt. Auch die meisten kritischen Lebensereignisse, die oft schweren Erkrankungen vorausgehen, sind familiäre Ereignisse. Neben der Vermittlung von krankheitsbezogenen Informationen werden deshalb mit den Familien zum Teil auch Verhaltenstrainings durchgeführt, um den Angehörigen Strategien zu vermitteln, wie sie mit dem Patienten umgehen können, ohne zum Beispiel Druck auszuüben oder sich zu verstricken (Hahlweg, Kuschel u. Miller, 2002). Besonders im amerikanischen Raum geschieht dies überwiegend mit Hilfe von standardisierten, zu Manualen zusammengefassten Behandlungsprogrammen. Die psychoedukative Therapie ist damit ein nomothetischer Ansatz, der verallgemeinernde Aussagen über Familien macht und konkrete Behandlungsempfehlungen gibt. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede zu traditionellen systemischen Prämissen: Die Krankheit wird nicht als das Resultat eines dysfunktionalen Interaktionsstiles der Familie, nicht als ein sinnhaftes Geschehen verstanden, sondern als eine biologisch fassbare Reaktion des Organismus. Die systemische Familienmedizin verbindet dabei eine biomedizinische Vorgehensweise mit den Sichtweisen und Methoden der Familientherapie und Systemtherapie, beispielsweise © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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der Analyse von Genogrammen, symmetrischen Beziehungsmustern oder systemischen Gesprächsführungstechniken, die unerlässlich sind, wenn man mit mehreren Angehörigen konfrontiert ist, die divergierende Vorstellungen über die Behandlung des Patienten haben. Das Ziel der systemischen Familienmedizin ist nicht primär das Heilen von Krankheiten, sondern sie befasst sich mit problemerhaltenden Interaktionsmustern, die um eine Krankheit, wie beispielsweise Asthma, herum entstanden sind, und will bei der Bewältigung von chronischen Erkrankungen unterstützend wirken. Die Beziehung von Arzt, Patienten und Familie wird als ein partnerschaftliches Verhältnis definiert. Es besteht eine mehr »kundenorientierte« Haltung gegenüber dem Patienten, von dem der Arzt seinen Behandlungsauftrag erhält. Der Arzt sieht sich als einen Teil des Behandlungssystems an und versteht sich nicht als neutraler außenstehender Beobachter, der eine objektivierende Beschreibung des Geschehens geben könnte. Er ist vielmehr Teil der Situation, die er verändern möchte. Krankheiten sind weniger eine Entität als ein soziales Konstrukt; neben biologischen Faktoren, also der Krankheit als einem objektivierbaren Ereignis, und der individuellen und familiären Lebenswelt spielt immer die Bedeutungswelt von Patient und Therapeut eine wichtige Rolle. Die Bedeutungssetzungen bestimmen die Erwartungen und Vorstellungen über den Krankheitsverlauf und über Behandlungsmöglichkeiten mit. Körperliche Erkrankungen und Behinderungen können als organisierender Faktor im Familiensystem verstanden werden, der sich auf die Rollenverteilung, die interpersonellen Grenzen, den sozialen Kontakt zu Außensystemen, und die Adaptabilität und Kohäsion der Familie auswirkt. Geschwisterkinder nehmen oft eine besondere Rolle ein, häufig entstehen krankheitsbezogene Koalitionen und Konfliktmuster, die Qualität der Kommunikation kann beeinträchtigt sein, etwa wenn krankheitsbezogene Geheimnisse entstehen. Es wird nicht erwartet, dass die geforderte, biomedizinische und psychosoziale Faktoren gleichermaßen berücksichtigende »ganzheitliche Betrachtungsweise« allein von einer Person geleistet werden kann, hierfür wird vielmehr die enge Kooperation von verschiedenen Berufsgruppen – Arzt, Familientherapeut, Sozialarbeiter, Pflegekräften und andere – als unerlässlich angesehen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Die besonderen Herausforderungen, die sich in der Arbeit mit Familien ergeben, die von körperlichen Erkrankungen betroffen sind werden im Folgenden an zwei Fallbeispielen erläutert. An unserer familienmedizinischen Ambulanz stellte sich ein Paar vor, der Mann war Anfang sechzig, die Frau Ende fünfzig. Infolge einer fortschreitenden neurogenerativen Erkrankung hatte Herr M. massive Gleichgewichtsprobleme, konnte seine Arbeit im eigenen Betrieb nur mit Mühe leisten. Seine Frau wünschte sich eine offene Kommunikation über seine Beschwerden, die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, und eine größere Initiative bei der Planung von Unternehmungen, therapeutischen Maßnahmen und der erforderlichen Neuorganisation des Betriebes. In der Vergangenheit hatte Herr M. innerhalb der Familie eine klassische, auch nach seiner eigenen Einschätzung patriarchalische Position inne gehabt. Seine Frau und seine beiden erwachsenen Kinder hielten sich mit ihren Erwartungen an den Mann bzw. Vater an dem überkommenen Rollenmuster fest. Bei den dringend erforderlichen Umstrukturierungsmaßnahmen im Familienbetrieb wurde deutlich, dass Herr M. infolge seiner zunehmenden, von ihm und seinen Angehörigen weitgehend ignorierten kognitiven Beeinträchtigungen dringend darauf angewiesen war, dass seine Frau aktiv bestimmte Aufgaben übernahm und nicht länger auf seine Initiative wartete. Die krankheitsbedingte Neudefinition seiner Rolle war für ihn, seine Frau und seine Kinder ein schmerzlicher, aber überfälliger Schritt, der aus einer interaktionellen Sackgasse herausführte und auf einem anderen Niveau ein größeres Ausmaß an Intimität ermöglichte.

In diesem Fall stellte ich der Familie eine Landkarte zur Verfügung, mit der sie sich im unvertrauten Gelände einer chronischen Erkrankung orientieren konnte. In diese Karte gehen die Erfahrungen anderer Familien und das familienmedizinische Modell chronischer Krankheit mit ein (Rolland, 2000). Ausgehend vom Konzept der Resilienz und der Familienkohärenz vertrete ich als Behandler zudem eine grundlegend hoffnungsvolle Position (Retzlaff, 2010, 2012, 2013). Eine besondere Herausforderung für Familien mit chronisch kranken Angehörigen ist häufig das Einfrieren in einer Anpassungsreaktion, die zu der akuten Krankheitsbewältigungsphase passen, in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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der die Erkrankung das Familienleben beherrscht und andere Interessen der Familie vernachlässigt werden. Die Bewältigungsmuster der Familie werden in dieser Phase oft rigide, und die Familie fürchtet, jede Veränderung könnte die Familie und den errungenen Status quo negativ beeinflussen (McDaniel et al., 1990). Über unser Aufnahmesekretariat meldeten Herr und Frau B. sich und ihre zwölfjährige Tochter Jana an, die an einer Retinitis pigmentosa leidet. Im ersten Gespräch, zu dem die Eltern allein kommen wollten, erzählten sie von dem Schock und der Verzweiflung, den die überraschende Diagnose einer fortschreitenden Augenerkrankung ausgelöst hatte, die in den kommenden Jahren zu einem erheblichen Verlust der Sehkraft führen sollte. Aktuell hatte Jana erhebliche Probleme, sich in der dunklen Jahreszeit bei schlechten Lichtverhältnissen zurechtzufinden, und war häufiger gestürzt. Dies hatte sie zusätzlich verunsichert und ängstlich gemacht. Obwohl sie eine gute Schülerin war, hatte sie große Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen, weil verschiedene Lehrer ihre Präsentationen nicht auf die Sehbehinderung abstimmten. Ihre Mutter war sehr bedrückt und fand wenig Trost in der Haltung ihres Mannes, der sich sichtlich bemühte, eine zuversichtliche Stimmung zu bewahren. Jana wusste, dass sie eine Augenkrankheit hatte, war angeblich aber weder von den behandelnden Ärzten noch von den Eltern über die Tragweite aufgeklärt worden. Im Gespräch mit Jana und ihren Eltern wirkte das Mädchen recht patent, war jedoch verständlicherweise stark verunsichert. Für mich als Behandler stellte sich die Frage, wie mit dem vermeintlichen Geheimnis umgegangen werden konnte. Die Eltern machten sich alle möglichen Sorgen, die Mutter hatte sich im Internet breit über mögliche Komplikationen und weitergehende genetisch bedingte progressive Krankheiten kundig gemacht, die es manchmal in Kombination mit einer Retinitis pigmentosa geben kann, was sie zusätzlich beunruhigte. Als intelligentes Mädchen hatte Jana selbstverständlich gemerkt, dass die Mutter immer wieder bedrückt wirkte. Außerdem musste sie an einer enorm aufwändigen alternativen Therapie teilnehmen, bei der sie zum Teil auch auf andere Menschen mit einem ähnlichen Leiden traf. Jana wurde vorgeschlagen, zu einem Einzelgespräch zu kommen, um sie besser kennen zu lernen und ihr Gelegenheit zu geben, über

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ihre Sorgen zu sprechen. Zur Vorbereitung wurde sie gebeten, ein paar Dinge auf kleine Zettel zu notieren, die sie beschäftigten. Einige Tage vor dem verabredeten Gespräch erfolgte ein Anruf der Mutter, die Tochter sei emotional mit dieser Aufgabe überfordert und das Einzelgespräch solle doch lieber zunächst diese belastenden Themen aussparen und eher auf die positiven Seiten fokussieren. Zu diesem Gespräch erschien dann eine aufgeschlossene Jana, die demonstrativ ein Vokabelkästchen auf den Tisch stellte und mich erwartungsvoll anschaute – sie wollte über ihre Sorgen reden! Zunächst bat ich sie, mir von den Stärken ihrer Familie und ihrer eigenen Person zu erzählen. Dabei kam eine ganze Menge zusammen: Auf meinen Vorschlag hin malte Jana ein Körperumrissbild und trug die vielen Stärken ein, die ihr recht leicht einfielen. Sie war gut im Sport, in Mathe und in Sprachen, hatte hilfsbereite Eltern, konnte andere für sich arbeiten lassen, galt als fröhlich usw. Diese Ressourcensammlung dauerte ca. 20 Minuten. Dann erläuterte ich, dass Menschen in der Regel sowohl starke Seiten als auch Schattenseiten hätten, die sie nicht leiden konnten oder nicht gut fänden, woraufhin Jana einräumte, sie habe auch eine zickige Seite und lasse manchmal andere für sich arbeiten. Ich ergänzte dies mit der Bemerkung: »Und es gibt noch eine Seite, die bei dir nicht stark ist, sondern eine schwache Seite – deine Augen.« Nachdenklich ergänzte Jana daraufhin ihr Bild, und wir redeten darüber, wie ihr die vielen Stärken und Ressourcen in der Gegenwart und der Zukunft helfen konnten, ihre Schwächen auszugleichen. Gegen Ende der Sitzung zeigte Jana noch, was sie in ihrem Zettelkasten aufgeschrieben hatte – sie war traurig, nicht zu wissen, wie es mit ihren Augen werden würde. In den folgenden Sitzungen wurden die Eltern beraten, sich Informationen über technische Hilfsmittel aus einer Beratungsstelle einer speziellen Schule für Menschen mit Sehbehinderungen zu holen, was enorm erleichternd wirkte. In einem weiteren Familiengespräch nahm der 17-jährige Bruder teil, der für Jana eine wichtige Trostquelle war und von ihr bewundert wurde. Am Beispiel des sehr konstruktiven Umgangs mit seinem Asthma diskutierten wir dann, wie man trotz gesundheitlicher Schwierigkeiten weiterkommen und aus dieser Erfahrung für die Zukunft profitieren kann. Offengeblieben war noch das zweite Anliegen der Eltern: die Frage, wie sie mit Jana über alle Fragen sprechen konnten, die ihre Krankheit

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betrafen. Verabredet wurde ein ausführliches Aufklärungsgespräch in der Augenklinik. Jana selbst wollte an einem solchen Gespräch lieber nicht teilnehmen, sondern bat ihre Eltern, ihre Fragen weiterzugeben. Offensichtlich wollte sie von ihren Eltern vor allzu heftigen Informationen ein Stück weit geschützt werden. Freundlicherweise nahm sich der behandelnde Oberarzt außerordentlich viel Zeit, die Fragen der Eltern in Ruhe zu beantworten. Die langfristigen Aussichten waren nicht erfreulich, aber weniger gravierend, als die Mutter es befürchtet hatte. Die Verschlechterung der Sehkraft würde eher allmählich einsetzen, sie würde mit großer Sicherheit trotz Sehbehinderung studieren können und durch eine qualifizierte Ausbildung ihre Situation beeinflussen können. In einigen weiteren Gesprächen wurde mit Jana beraten, wie sie mit ihrer Krankheit gegenüber Lehrern und Mitschülern umgehen könne. Wie viele Jugendliche im Teenageralter wollte sie nicht auffallen, hatte aber durch ihre besonderen Bedürfnisse zwangsläufig eine Sonderrolle. Es machte einfach keinen Sinn, so zu tun, als ob dies nicht der Fall sei, und deshalb überlegten wir uns Strategien, wie sie offen mit ihren Einschränkungen umgehen konnte. In einem Nachgespräch ein Jahr nach Abschluss der Konsultationen war Jana aufgeweckt und fröhlich, in der Schule hatte sie einen sehr viel besseren Stand und konnte ihre Lehrer besser auf ihre Bedürfnisse hinweisen, die im Schulalltag allzu oft übersehen wurden. Mutter und Vater wirkten emotional ausgeglichener und berichteten über mehr Zuversicht. Im Winterhalbjahr war Jana zudem besser mit dunklen Lichtverhältnissen zurechtgekommen.

Beide Fälle machen einige Herausforderungen und Prinzipien der systemischen Familienmedizin deutlich: 1. Vielen betroffenen Familien fällt es schwer, über die die Krankheit, deren Folgen, aber auch über eigene Sorgen und Nöte zu sprechen. Tabuisierungen und Geheimnisse schwächen das Familienleben, ein zentrales Behandlungsprinzip ist deshalb, die Kommunikation in Fluss zu bringen. 2. Wer wann wie viel wissen oder nicht wissen sollte, fällt in die Entscheidungshoheit der jeweiligen Personen. Das grundlegende Vorgehen folgt der Idee einer »systems consultation« (Wynne, Weber u. McDaniel, 1986). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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3. Der systemische Therapeut stellt seine Kenntnisse zur Verfügung und regt die Familie an, sich selbst kundig zu machen und Informationen einzuholen. Über eine Krankheit aufgeklärt zu sein und über ein adäquates Wissen zu verfügen wirkt stärkend im Sinne eines Empowerments. 4. Zu Ärzten und anderen Mitbehandlern wird eine kooperative Beziehung angestrebt. Die biologische Dimension von Krankheit wird akzeptiert, aber nicht verabsolutiert – es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie mit einer Krankheit umgegangen werden kann. Neben Bedeutungsgebungen spielen auch die Interaktion, die Rollenverteilung und der kommunikative und affektive Austausch innerhalb der Familie eine Rolle. Die Arbeit mit kleinen und großen Menschen, die von schwerer Krankheit betroffen sind, stellt für Therapeuten eine emotionale Herausforderung dar; hilfreich sind ein achtsamer Umgang mit der eigenen Person, eigene Resilienzerfahrungen und die Bereitschaft, sich innerlich auch mit spirituellen Dimension menschlichen Seins auseinanderzusetzen. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die systemische Therapie erheblich weiterentwickelt. Das 1996 erstmals erschienene Lehrbuch von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer hat eine enorme Verbreitung gefunden (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Die systemische Therapie ist durch die Aktivitäten unserer Expertisegruppe heute ein wissenschaftlich anerkanntes Verfahren und wird in der Facharztweiterbildung von vielen Landesärztekammern akzeptiert (von Sydow, Beher, Schweitzer u. Retzlaff, 2010; Retzlaff, von Sydow, Beher, Haun u. Schweitzer, 2013; von Sydow, Retzlaff, Beher, Haun u. Schweitzer, 2013). Bemerkenswerterweise ist die Befundlage zur systemischen Therapie besonders gut bei schweren und bei körperlichen Erkrankungen, die im Gesundheitssystem hohe Kosten verursachen (Retzlaff, von Sydow, Rotthaus, Beher u. Schweitzer, 2009). Durch die Einbeziehung von Angehörigen verbessert sich die Wirksamkeit von medizinischen Interventionen deutlich (Hartmann, Bäzner, Wild, Eisler u. Herzog, 2010). Durch Veröffentlichungen zu störungsspezifischen systemischen Therapie (Schweitzer u. von Schlippe, 2009), zur Wirksamkeit bei bestimmten Störungsbildern © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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(von Sydow et al., 2010; Retzlaff et al., 2013; von Sydow et al., 2013) – darunter insbesondere auch körperlichen Erkrankungen – und die Rezeption von Erkenntnissen anderer Wissenschaftsdisziplinen wie der Bindungsforschung, der Sozialpsychologie, der Entwicklungspsychologie oder der Theorie des sozialen Lernens hat sich das Feld der systemischen Therapie zumindest partiell gewandelt. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Richtungen der klassischen und der »neueren« systemischen Therapie, der systemischen Familienmedizin erscheint heute weitaus weniger bedeutsam als zu Beginn meiner Zusammenarbeit mit Jochen Schweitzer. Die Bedeutung des Individuums und biologischer Prozesse als relevante Systemfaktoren wird heute viel stärker anerkannt, und unrealistische Heilserwartungen durch systemische Kurzzeittherapien, insbesondere bei gravierenden Störungsbildern, erscheinen obsolet (Lebow, 2005). Begriffe wie Krankheit und diagnostische Labels werden nicht vollständig abgelehnt, sondern in einer offenen, weniger wertenden und reflektiert-kritischen Form eingesetzt (Retzlaff, 2014). Mit Jochen Schweitzer verbindet mich die Hoffnung, dass die systemische Therapie Grundlage für die Entwicklung einer allgemeinen systemisch fundierten Psychotherapie jenseits des alten Schulendenkens werden könnte. Auch wenn sich die Position der systemischen Therapie in den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat, wird angesichts der sehr positiven Befunde zur systemischen Familienmedizin deren Potenzial innerhalb unseres Gesundheitssystems noch viel zu wenig genutzt. Literatur Cierpka, M., Krebeck, S., Retzlaff, R. (2001). Arzt, Patient und Familie. Stuttgart: Klett-Cotta. Hahlweg, K., Kuschel, A., Miller, Y. (2002).Verhaltenstherapeutische Familientherapie. In M. Wirsching, P. Scheib (Hrsg.), Paar und Familientherapie (S. 121–135). Berlin: Springer Verlag.. Hartmann, M., Bäzner, E., Wild, B., Eisler, I., Herzog, W. (2010). Effects of interventions involving the family in the treatment of adult patients with chronic physical diseases: A meta-analysis. Psychotherapy and Psychosomatics, 79, 136–148. Lebow, J. L. (2005). Family therapy at the beginning of the twenty-first century. Handbook of clinical family therapy. In: J. L. Lebow (Ed.), Handbook of Clinical Family Therapy (1–14). New York: Wiley.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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McDaniel, S., Hepworth, J., Doherty, W. J. (1997). Familientherapie in der Medizin. Heidelberg: Carl Auer. Retzlaff, R. (2010). Familien-Stärken. Behinderung, Resilienz und systemische Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Retzlaff, R. (2012). Spiel-Räume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen (5. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Retzlaff, R. (2013). Einführung in die systemische Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Heidelberg: Carl Auer. Retzlaff, R. (2014). Integrative systemische Therapiemodelle. In T. Levold, M. Wirsching (Hrsg.), Lehrbuch der systemischen Therapie (S. 90–95). Heidelberg: Carl Auer. Retzlaff, R., Sydow, K. von, Beher, S., Haun, M., Schweitzer, J. (2013). The efficacy of systemic therapy for internalizing and other disorders of childhood and adolescence: A systematic review of 38 randomized trials. Family Process, 52 (4), 619–652. Retzlaff, R., Sydow, K. von, Rotthaus, W., Beher, S., Schweitzer, J. (2009). Systemische Therapie als evidenzbasiertes Verfahren – aktuelle Fakten, Entscheidungen und Aussichten. Psychotherapeutenjournal, 8, 4–16. Rolland, J. S. (2000). Krankheit und Behinderung in der Familie. Modell für ein integratives Behandlungskonzept. In F. Kröger, A. Hendrischke, S. McDaniel (Hrsg.), Familie, System und Gesundheit (S. 62–104). Heidelberg: Carl Auer. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung: I. Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schweitzer, J., Schlippe, A. von (2009). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Das störungspezifische Wissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Sydow, K. von, Beher, S., Schweitzer, J., Retzlaff, R. (2010). The efficacy of systemic therapy with adult patients: A meta-content analysis of 38 randomized controlled trials. Family Process, 49, 475–485. Sydow, K. von, Retzlaff, R., Beher, S., Haun, M., Schweitzer, J. (2013). The efficacy of systemic therapy for externalizing disorders of childhood and adolescents: A systematic review of 47 randomized trials. Family Process, 52 (4), 576–618. Weakland, J. (1977). »Family somatics«: A neglected edge. Family Process, 16, 263–272. Wynne, L. C., Weber, T. T., McDaniel, S. (1986). The road from family therapy to systems consultation. In L. C. Wynne, S. McDaniel, T. T. Weber (Eds.), Systems consultation: A new perspective in family therapy (pp. 3–14). New York: Guilford.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

Arist von Schlippe

Unternehmensfamilien als Herausforderung für die systemische Beratung

Persönliche Vorbemerkung Im Jahre 2005 trat ich meinen Dienst an der Universität Witten/ Herdecke an, um auf dem Lehrstuhl »Führung und Dynamik von Familienunternehmen« familienpsychologische und familientherapeutische Fragestellungen dieser besonderen Unternehmensform zu untersuchen. Das 1998 gegründete »Wittener Institut für Familienunternehmen« (WIFU) ist das erste und größte Forschungsinstitut für Familienunternehmen. Es versucht, die Vorgänge in Familienunternehmen aus den Perspektiven verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zu rekonstruieren, neben Betriebswirtschaftslehre gehören dazu auch Jura und eben der familienpsychologisch bzw. – soziologisch ausgerichtete Lehrstuhl, den ich besetze. Nach 29 Jahren klinisch-psychologischer Tätigkeit zum einen in der Kinderpsychiatrie, zum anderen in der Lehre mit Schwerpunkt »systemische Therapie«1 an der Universität Osnabrück wurde ich Professor für Betriebswirtschaftslehre in Witten. Bereits wenige Wochen nach meinem Dienstantritt erhielt ich eine erste Anfrage nach einer Beratung. Eine Unternehmensfamilie, nennen wir sie Familie Antons,2 hatte sich im Nachfolgeprozess stark zerstritten und kam mit den Konflikten, in denen sie sich verfangen hatten, nicht mehr klar. Ich lud die Familie ein und erlebte ein angespanntes Familiensystem, die aggressive Spannung war schon 1 Das gemeinsam mit Jochen Schweitzer geschriebene »Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung« ist der am deutlichsten sichtbare Ertrag dieser langjährigen Tätigkeit (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). 2 Die Konfliktgeschichte dieser Familie ist ausführlich und in dramatisch ausgespielten Szenen nachzuverfolgen auf der DVD »Bevor das Kind in den Brunnen fällt!« (von Schlippe, 2014).

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spürbar, ehe sie sich setzten. Eine Intervention, die ich in solchen Fällen gern als anfängliches Mini-Contracting setze und die in vielen Jahren zuvor nie ihre Wirkung verfehlt hatte, sieht so aus: »Herzlich willkommen, ich bekomme mit, dass Sie unter ziemlicher Spannung stehen, alle sind ziemlich ›geladen‹. Manchmal wird dann der Besuch bei einem neutralen Dritten dazu genutzt, um ordentlich ›abzurechnen‹ und sich die Dinge besonders krass um die Ohren zu hauen. Meist bringt das nicht weiter, sondern vertieft die Kränkungen noch. Ich schlage daher vor, dass wir hier gemeinsam darauf achten, dass wir hier auf eine Weise sprechen, die die Verletzungen nicht noch vergrößert. Sind Sie damit einverstanden?« Wie gesagt, noch nie hatte ich auf ein derartiges Angebot einen Korb bekommen und stets war damit eine Markierung gesetzt, die es mir erlaubte, im kritischen Fall daran zu erinnern, die Sprache auf nicht verletzende und grenzüberschreitende Weise zu nutzen. In diesem Fall antwortete der Herr Antons sehr schroff: »Dann kann ich ja gleich wieder gehen!!!« – und auf meine erschrockene Rückfrage dann sehr laut: »Sie wollen mir also verbieten, zu erzählen, wie dieser junge Mann da mich fertig macht, wie er mir den letzten Nerv raubt und mich absolut an meine Grenzen bringt? Nein, wenn ich das nicht sagen darf, hat es alles keinen Zweck!« Der »junge Mann da«, der circa 26-jährige designierte Nachfolger, reagierte durchaus entsprechend: »Ach, das soll hier eine Gerichtsverhandlung gegen mich werden? Dann kann ich ja gleich wieder gehen!« Bereits in den ersten »Eröffnungszügen« gerieten wir so in schwieriges Fahrwasser: Wie konnte dem Vater versichert werden, dass hier Raum für seine Geschichten und Gefühle sei, ohne dass der Sohn in Erwartung neuer Kränkungen seinerseits blockierte? Die Situation ließ sich letztlich argumentativ lösen, doch die Geschichte ist meines Erachtens prototypisch für eine Erfahrung, die ich in Unternehmensfamilien immer wieder machte: die Gefühle von Betroffenheit und Kränkung, die damit verbundene feste Überzeugung, dass jeweils ausschließlich der andere die Quelle für das eigene Unglück sei und damit die Wut aufeinander sind bei den Beteiligten oft extrem hoch.

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Juwel und Businessplan: »Schräge« kommunikative Anschlüsse Mit Unternehmensfamilien hatte ich zuvor zwar auch gearbeitet, doch hatte ich mir nie darüber Gedanken gemacht, was für einen enormen Unterschied es für eine Familie bedeutet, ein Unternehmen in ihrem Umfeld zu haben. Aus der Konstellation ergeben sich immer wieder neue Rätsel, oft schwer oder auch gar nicht nachvollziehbare Phänomene, die immer wieder neu gelöst werden wollen. Ich nutze die Metapher des Rätsels gern, um die Differenz von Bewertung und Neugier zu markieren, die für systemische Praxis essenziell ist (vgl. den nach wie vor aktuellen Text von Cecchin, 1988). Wer auf Phänomene, denen er begegnet, mit Bewertung zugeht, verpasst eine Lernchance. Es empfiehlt sich, gerade dann, wenn man bei sich selbst die Tendenz bemerkt, das Geschehen, dem man sich gegenübersieht, zu werten, die beiden Worte: »Wie interessant!« als »Zauberformel« zu nutzen: Man könnte sich vorstellen, dass man gerade eine Seite zum Beispiel in der neuesten Ausgabe der »Zeit« mit einem schwierigen Rätsel aufgeschlagen hat: Wie ergibt das Geschehen Sinn? Der Konflikt, mit dem Familie Antons in die Beratung kam, eröffnete eine ganze Reihe solcher Rätsel: Warum sind sie so extrem böse aufeinander, obwohl (oder weil?) sie sich doch offenkundig sehr gern hatten und – in meinen Augen – bislang nichts wirklich Dramatisches passiert war? Erkennbar waren beide Seiten kooperationswillig und kooperationsbereit, warum gelang es nicht, dies praktisch umzusetzen? Warum verfingen sich die Familienmitglieder innerhalb kürzester Zeit in heftigen Streitgesprächen und was hatte das mit der Nachfolge zu tun? So, wie die Familie berichtete, hatte die Unmöglichkeit, ein einigermaßen ruhiges Gespräch zu führen, begonnen, nachdem die Eltern ihrem Sohn die Unternehmensnachfolge angeboten hatten. Eine Schlüsselgeschichte für das Verständnis des Konflikts, der sich vor allem zwischen Vater und Sohn manifestierte, drehte sich um die folgende Szene: Im Kontext der Weihnachtsfeiertage hatten die Eltern dem Sohn und seiner Partnerin angeboten, in die Führungsnachfolge des kleinen Hotels einzutreten, das sie aufgebaut hatten. Herr und Frau Antons hatten feierlich erklärt, dass sie das Unter© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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nehmen – ihr »Juwel«, wie sie sagten – gerne in die nächste Generation übergeben wollen. So klar und explizit war das vorher noch nie ausgesprochen worden. Es war ein höchst emotionaler Moment, Tränen flossen bei allen, der Sohn und die zukünftige Schwiegertochter hatten freudig zugesagt.3 Die jungen Leute waren danach heimgefahren und hatten drei Wochen später den Eltern einen Businessplan präsentiert mit »strategischen Optionen«, Vorschlägen für strukturelle Veränderungen und »Milestones« auf dem Weg zur endgültigen Unternehmensübergabe. Zur großen Überraschung der beiden reagierten die Eltern tief gekränkt: »Was bildet ihr euch ein! Was ist für eine unglaubliche Anmaßung! Ihr wollt uns wohl aus dem Unternehmen drängen und euch ins gemachte Nest setzen! Das kommt nicht in Frage!« Wie hatten es die Eltern denn ihrerseits gedacht? Nun, die nächste Generation solle doch erst einmal ins Unternehmen kommen und mitarbeiten, alles andere werde sich schon finden. Die Antwort der jungen Generation darauf war sehr klar: »Ach, ihr sucht billige Praktikanten, die jahrelang die Toiletten sauber machen und bedienen! Ansonsten behaltet ihr alles in der Hand und nach Jahren, irgendwann, vielleicht, seid ihr mal zu Übergabe bereit? Nein, nicht mit uns!« Beide Seiten waren in diesem eskalierenden Streit erkennbar tief getroffen. Wie kann eine solche – doch von außen rein sachlich zu betrachtende – Auseinandersetzung ein so tiefes Zerwürfnis mit sich bringen? Der Beratungsprozess half, die besonderen Zwickmühlen, in denen Unternehmensfamilien sich verfangen können, zu verstehen. Der Kern des Konflikts ließ sich auf diese Schlüsselinteraktion reduzieren: Die Eltern hatten ihrem Sohn ihr »Juwel« angeboten, er und seine Partnerin hatten mit einem Businessplan geantwortet. Irgendwie waren die kommunikativen Anschlüsse »schräg«, sie passten nicht in die Erwartungsschemata der Beteiligten, die die 3

Dieses prägnante Fallbeispiel habe ich verschiedentlich zur Illustration unterschiedlicher theoretischer Überlegungen herangezogen (vgl. von Schlippe u. Groth, 2007; Kriz u. von Schlippe, 2011). Da ich an dieser Stelle mich erstmals auf das Konzept der »schrägen Anschlüsse« konzentriere, hoffe ich auf Nachsicht bei Leser/-innen, denen das Beispiel bekannt ist.

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Kontexte, in denen jeweils die andere Seite kommunizierte, ganz unterschiedlich interpretierten. Doch das war ihnen nicht bewusst, sie erlebten es psychologisch und persönlich so, als sei der andere jeweils »falsch«, »unverschämt«, ja sogar »verrückt«. Im Erstgespräch fiel unter anderem dazu dieser Satz der Eltern: »Gut, dass Sie als Psychologe darauf schauen, Herr von Schlippe, Sie werden schnell sehen, dass mit unserem Sohn etwas nicht in Ordnung ist. Wir haben schon überlegt, ob wir ihn einmal zum Psychiater schicken!« – eine Bemerkung, die der Sohn mit Zeichen von Kränkung und äußerster Wut beantwortete. Inzwischen sind mir diese Beschreibungen vielfach begegnet (so beschrieben zwei zerstrittene Brüder einander in Einzelgesprächen jeweils als »schwer psychisch krank« bzw. als »Verbrecher«). Wenn jemand in einer anderen Logik, also im Rahmen anderer Erwartungs-Erwartungsstrukturen kommuniziert als man selbst und so ein Kommunikationssystem »schräger Anschlüsse« entsteht, kann dies schnell so verarbeitet werden, als sei der jeweils andere entweder »dumm«, »krank« oder »böse«. »Dumm« als Erklärung ist in Unternehmensfamilien oft nicht einfach durchzuhalten (alle Konfliktpartner in der Familie Antons hatten studiert), »böse« ist eine Erklärung, die eigentlich einen Kontaktabbruch nach sich ziehen müsste. So bietet sich »krank« oft als Ausweg an: Man kann sogar noch Mitleid mit dem anderen haben und mit ihm verbunden bleiben, auch wenn er/sie einen so offenkundig zur Weißglut bringt. In der Arbeit mit Familie Antons gelang es, die Beschreibungsmuster zu verdeutlichen, indem wir die auf die Formel »Juwel« und »Businessplan« verdichtete Szene in einer besonderen Weise nachbauten: Für Vater und Sohn wurde jeweils ein Stuhl hingestellt. Daneben wurde dann für die beiden jeweils ein weiterer Stuhl gestellt, nämlich einer für den Unternehmer und einer für den Nachfolger. Potenziell konnte jeder also auf zwei Stühlen sitzen, allerdings natürlich nicht gleichzeitig – und genau das scheint eines der Kernprobleme in Unternehmensfamilien zu sein. Auf die Frage, auf welchem Stuhl er innerlich gesessen habe, als er dem Sohn das Nachfolgeangebot gemacht habe, antwortete Vater Antons sofort, dass er »natürlich« aus dem Vaterstuhl heraus gesprochen habe. Der Sohn hatte das Angebot jedoch ebenso selbstverständlich von dem Nachfolgerstuhl © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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aus, also in Unternehmenslogik gehört. So wurden sie aufgefordert, sich jeweils auf die beiden Stühle zu platzieren, die nicht einander direkt gegenüberstanden, so dass die »Überkreuztransaktion« offensichtlich wurde. Die Aufforderung, den Satz »Wir wollen dir unser Juwel anvertrauen!« einmal zu wiederholen, konterte der Vater mit: »Wozu? Auf dem Stuhl da sitzt ja keiner!« – Genau das war das Problem: der Vater hatte sein Angebot an eine leere »Kommunikationsadresse« gesendet. Da man aber bei einem Menschen, der einem leibhaftig gegenübersitzt, nicht erkennen kann, welche »Person« gerade »aktiviert« ist, kann es zu Verwirrung kommen. Und als dann von gegenüber eine Antwort kam, die seinen Erwartungsstrukturen nicht entsprochen hatte, konnte er die Resonanz nicht anders einordnen als als »Böswilligkeit« oder gar »Verrücktheit«. Beim Sohn war es ähnlich: Er hatte die Worte ja gehört, sie aber im Kontext seiner eigenen Erwartungsstrukturen einem anderen »Ort«, also einer anderen Systemlogik zugeordnet. So war ein Missverständnis entstanden, das darin gründete, dass beide in ihrer Kommunikation als unterschiedliche Personen auftraten bzw. sich als unterschiedliche Personen adressierten. Eine Person wird in der Systemtheorie als »Erwartungskollage« bezeichnet (Luhmann, 1984, S. 178) und damit nicht als »Mensch«4, sondern als »beobachteter Mensch«, also als Adressat von Kommunikation und als Anknüpfungspunkt für weitere Selektionen (S. 178). Da dies auch Selbstbeobachtung mit einschließt, weist man sich sozusagen auch selbst eine »Personhaftigkeit« zu, mit einer dafür passenden Form der Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen. Wenn die Selektionen des Gegenübers nicht passen, weil er oder sie sich selbst oder den Kommunikationspartner als eine andere Person konstruiert, kann es zu Gefühlen von Verwirrung kommen. Dies ist in Familienunternehmen besonders prägnant: Man ist ständig und gleichzeitig Mitglied zweier Sozialsysteme (vielfach wird auch ein drittes benannt, neben Familie und Unternehmen 4

Der Vorwurf an Luhmann, seine Theorie sei eine »ohne Menschen«, lässt sich gerade hier gut entkräften: Ohne Menschen gibt es keine sozialen Systeme, doch innerhalb von diesen gibt es Menschen nur als wechselseitig sozial und damit sinnhaft konstruierte Personen.

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noch der Gesellschafterkreis, vgl. hierzu von Schlippe, 2013). Die ständig gleichzeitig erfahrene Präsenz unterschiedlicher Systemlogiken erschwert die Suche nach Kontextmarkierungen (Bateson, 1981), die helfen könnten, die Erwartungskollagen passend aufeinander abzustimmen. Die Frage, ob man gerade aus der Identität des Unternehmers heraus kommuniziert bzw. angesprochen wird oder aus der des Familienmitglieds, ist oft nicht klar beantwortbar. Die Erwartungsstrukturen der Beteiligten beziehen sich dann auf unterschiedliche »Bedeutungsfelder« (Kriz, 2005). So entsteht ein besonderes Problem doppelter Kontingenz: Es ist ja ein »Mindestmaß an auf Kenntnissen gegründeter Erwartungen« erforderlich, um eine Kommunikation überhaupt in Gang zu bringen (Luhmann, 1984, S. 155). Wenn die Erwartungsstrukturen bestätigt werden, verläuft die Interaktion für die Beteiligten problemlos und vielfach kommunizieren die Familienmitglieder auch in Unternehmensfamilien in passender Weise. Schwierig wird es, wenn die Art, wie die eine Kommunikation an die andere anschließt, für die Beteiligten einen doppelten Bruch in ihren Erwartungsstrukturen bedeutet. Hier kann es helfen, eine künstliche Kontextmarkierung einzuführen, die den Beteiligten verdeutlicht, dass keiner der Beteiligten dumm, krank oder böse sein muss, sondern möglicherweise nur als Person »gerade nicht zu Hause«, wenn er/sie kommunikativ adressiert wird.

Psychologische Kontrakte, Empörung und Konflikt Menschen können sich in verschiedenen kommunikativen Logiken bewegen und auf diese Weise können sich offenbar Missverständnisse ergeben, mit manchmal fatalen Folgen. Doch stellt sich hier ein neues Rätsel, erklärt diese Erkenntnis allein doch noch nicht die Intensität der Empörung übereinander und das Ausmaß der Wut, ein Phänomen, das mir in der Arbeit mit Unternehmerfamilien inzwischen mehrfach begegnete. Ein Aspekt liegt sicher in der Unmöglichkeit, das Feld einfach zu verlassen. Diese Option steht anderen Familien in weitaus größerem Maß zur Verfügung: Man zieht einfach weg. In der Unternehmensfamilie zeigt sich die räumliche Distanzierung spätestens bei der nächsten Gesellschafterversammlung als nicht ausreichende Form der Konfliktregulation: Man bleibt ja als © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Eigentümer des Unternehmens diesem verbunden (Warum sollte man gehen? Wenn es den anderen nicht gefällt, können die ja ihre Anteile verkaufen! Doch ist ein solcher Verkauf für den Käufer oft mit unbezahlbaren Belastungen verbunden, also bleibt man aneinander gefesselt …). Man muss sich abstimmen, gemeinsame Entscheidungen fällen, die Unternehmensgeschicke diskutieren usw. Unternehmensfamilien werden so künstlich zusammengeschweißt, und niemand hat das gern. Doch auch das erklärt die Tiefe der erlebten Kränkungen nur zum Teil. In dem Zusammenhang mit diesem Rätsel ist ein organisationspsychologischer Begriff interessant, das von D. Rousseau vorgeschlagene Konzept der »psychological contracts« (Rousseau, 1989; Robinson u. Rousseau, 1994; Coyle-Shapiro u. Parzefall, 2008, dort werden die theoretischen Wurzeln des Konzepts bis in die 1950er Jahre rückverfolgt). Dieser Begriff wurde in der Familienunternehmensforschung aufgegriffen, um die emotionale Verwirrung (»emotional messiness«) und die Turbulenzen zu verstehen, die sich immer wieder in Unternehmensfamilien ergeben (Brundin u. Sharma, 2012). Psychologische Kontrakte beschreiben die selbstverständlichen Erwartungen an eine Austauschvereinbarung zwischen zwei Parteien, die sich jeweils auf eine Art ausgesprochenes oder (häufiger) unausgesprochenes Versprechen beziehen, das verbal, vielfach aber nonverbal, durch Handlungen, Signale und Symbole gegeben und durch lange andauernde tägliche Praxis bestätigt wird. Dieses Versprechen geht von der Erwartung aus, dass beide Seiten ihren Teil erfüllen werden. Einer beginnt auf der Basis dieser Erwartung sich in Richtung des Versprechens zu verhalten (ein Kind beginnt beispielsweise gegen seine Neigung ein Wirtschaftsstudium, weil es davon ausgeht, irgendwann einmal ins Unternehmen zu kommen). Das Versprechen wird umso mehr als bindend wahrgenommen, je mehr es mit Szenen hoher Affektivität verknüpft ist. Vielfach ist der Hintergrund für ein solches Versprechen eine tief empfundene Loyalität, von der angenommen wird, dass sie vom anderen genauso erlebt wird und vor allem, dass der eigene Einsatz vom anderen als Ausdruck eben dieser Loyalität wahrgenommen wird. Kaye (1996) beschreibt beispielsweise die »successor’s trap«. Das Kind einer Unternehmensfamilie kann in eine Nachfolgefalle geraten: Aus selbstverständlicher © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Erwartung und aus eigener Verpflichtung heraus werden Studium und Karriereplanung auf das Familienunternehmen hin ausgerichtet, ohne dies explizit zu thematisieren. Alternative Angebote werden ausgeschlagen, bis man im mittleren Lebensalter, manchmal erst bei Testamentseröffnung erlebt, dass die eigenen Erwartungen mit den Vorstellungen der Gegenseite nicht zusammenpassen. Eine bewegende Geschichte hierzu: Der Sohn eines Familienunternehmers arbeitete bereits seit vielen Jahren neben dem Vater im Unternehmen, er war bereits Anfang 50. Auf einer Konferenz zum Thema Nachfolge trat der Vater während einer Diskussion ans Rednerpult und verkündete, nebenbei und in einem Diskussionsbeitrag, dass für sein Unternehmen eine familieninterne Nachfolge »selbstverständlich nicht in Frage« komme. Anschließend wollte der Sohn etwas sagen, trat ans Rednerpult – und brach in Tränen aus: Er hatte diese Positionierung des Vaters erstmals vernommen.

Die Verletzung eines solchen Versprechens wird als tiefer Bruch auf der Ebene der persönlichsten Werte empfunden, als Verrat. Wenn man mit jemandem konfrontiert ist, dessen Verhalten den eigenen essenziellen Werten krass widerspricht, reagiert man mit Empörung. Empörung als »Leitindikator für soziale Konflikte« (Montada, 2011, S. 200) ist daher ein wichtiges Gefühl zum Verstehen von Konflikten: es ist ein Hinweis auf einen möglicherweise verletzten psychologischen Kontrakt und zeigt, dass die Werteebene verletzt ist – zugleich verhindert die bestehende familiäre Bindung, dass man nach einem solchen Bruch das Feld verlässt: »Emotional messiness« entsteht genau aus dieser Mischung von tiefen Verratsgefühlen und Ge-/ Verbundenheit (Brundin u. Sharma, 2012). Für Familie Antons ergab sich für die junge Generation ein psychologischer Kontrakt, der seine Wurzeln in der Logik des Unternehmens hatte. Die Intensität der emotional dichten Szene zu Weihnachten hatte diesen Kontrakt zugleich affektiv aufgeladen: »Jetzt sind wir die neue Generation, die das Unternehmen weiterführt!« Auch für die Eltern ergab sich aus dieser Szene ein mit affektiver Energie besetzter Kontrakt, nur verstanden sie ihn im Kontext der Familienlogik. Für sie war klar: Bald würden die beiden jungen Leute © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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zu ihnen ziehen und »es« würde losgehen, eine schöne Zeit des gemeinsamen Arbeitens. Die Frage, wie der Übergang dann vollzogen würde, war ihnen nicht wichtig, das würde sich schon ergeben. Für sie stand im Vordergrund, dass sie ihr Lebenswerk ihrem Sohn schenken wollten, natürlich verbunden mit der Vorstellung, dass dieser das Zeichen von Liebe und Wertschätzung, das sie ihm damit vermitteln wollten, wahrnahm und anerkannte. Aus dieser Erwartung heraus war sein Verhalten für sie absolut nicht nachvollziehbar und zutiefst verletzend. Eine Erwartung wurde nicht erfüllt, die für so selbstverständlich gehalten wurde, dass ihre Hinterfragung die eigene Werteordnung massiv erschüttert. Zugleich war dies wiederum für die jungen Leute völlig unverständlich und erschütterte ebenfalls deren Selbstverständlichkeit: Was war denn mit den Alten los? Die »tickten« doch nicht richtig … Ein zu diesem Punkt passendes weiteres Beispiel: In dieser Unternehmensfamilie führte der Sohn (46) seit über zehn Jahren die Firma, anfangs mit dem Vater zusammen, später mit zwei externen Managern. Es war geplant, ihm 52,5 % der Unternehmensanteile zu vererben, die drei Jahre jüngere Schwester, die in der Personalabteilung tätig war, war mit der Aussicht auf 47,5 % zufrieden: Die Erhaltung der Handlungsfähigkeit der Führung war oberstes Gebot. Vor zehn Jahren waren beiden Geschwistern aus steuerlichen Gründen bereits jeweils 30 % übertragen worden. Bevor es nun um die Übertragung der letzten Geschäftsanteile ging, entschied der Vater, auch die Tochter auf ihren Wunsch zur Geschäftsführerin zu machen. Da Vater und Tochter gemeinsam die Mehrheit der Anteile besaßen, wurde sie in die Position eingesetzt, der Sohn fühlte sich zutiefst verraten: Warum war er in die Überlegungen und schließlich die Entscheidung nicht angemessen eingebunden worden? Er, der schon so lange in der Firma und für diese arbeitete, hatte doch das Recht, der alleinige Leiter der Firma zu sein! Erst als im Gespräch herausgearbeitet werden konnte, dass die Auseinandersetzung mit der Bindung an sehr unterschiedliche Werte zu tun hatte, wurde es entspannter: Für den Vater war die Einsetzung der Tochter eine solche Selbstverständlichkeit, dass er nicht im Entferntesten damit gerechnet hatte, dass der Sohn so gekränkt reagieren würde. Es würde sich ja nichts ändern: Der Sohn bliebe die Nr. 1, nur wäre

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die Tochter eben auch formal Mitglied der Geschäftsführung. Für den Sohn war dagegen diese Aktion eine Verletzung des psychologischen Kontrakts, der für ihn in der Position als alleiniges operativ tätiges Familienmitglied in Führungsverantwortung bestand. Das Verhältnis entspannte sich sichtlich, nachdem beiden bewusst wurde, dass der andere aus jeweils ganz anderen Werten heraus gehandelt hatte, und als klar wurde, dass beide die Werte des jeweils anderen hoch schätzten und anerkannten.

Soziale Systeme haben keinen »Ort« Die bisher gemachten Überlegungen gehen davon aus, dass in Unternehmensfamilien (mindestens) zwei soziale Systeme präsent sind, Familie und Unternehmen. Sie folgen völlig unterschiedlichen Logiken (Simon, 2009) und bringen die Beteiligten damit immer wieder in Situationen paradoxer Kommunikation (von Schlippe u. Frank, 2013). Wie kann es möglich sein, dass man gleichzeitig in zwei Systemen Mitglied ist? Landläufig werden Systeme gern ähnlich wie »Orte« verstanden, in denen man sich befinden kann: Wenn man in der Familie ist, ist man eben »in« dem einen System und wenn man auf der Arbeit tätig ist, ist man »im« anderen. Dies ist vor allem im sogenannten »Dreikreismodell« der Familienunternehmen der Fall: Der Gründer, Vater und Unternehmensführer ist »in« den drei Systemen »Familie«, »Unternehmen« und »Gesellschafterkreis«, seine anteilsmäßig beteiligte Partnerin nur in zweien, da sie nicht im Unternehmen arbeitet, die noch nicht beteiligte Tochter, die aber schon dort tätig ist, ist »in« zwei anderen usw. (vgl. von Schlippe, 2013). Doch soziale Systeme sind unsichtbar, es »gibt« sie nicht als Orte, es »gibt« sie jeweils nur als Erwartungsstrukturen, als jeweils bestimmte Form, wie Sinn so konstruiert wird, dass ein passender kommunikativer Anschluss möglich wird. Erwartungsstrukturen konstituieren Bedeutungsfelder, also übergeordnete »Erwartungspakete« darüber wie der andere sich auf das eigene kommunikative Angebot beziehen wird. Diese Erwartungen beziehen sich nicht auf einen bestimmten Inhalt der Kommunikation: Ein »Ja« oder ein »Nein« wird ein Liebhaber auf seinen

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Heiratsantrag als passend zu seinen Erwartungsschemata empfinden (auch wenn seine Gefühle bei beiden Antworten sehr unterschiedlich sein werden). Wenn die Angebetete in Gelächter ausbricht, wird die Kränkung anders erlebt werden: Sie zeigt damit, dass sie seine und ihre Erwartungsstrukturen als völlig inkompatibel beschreibt. Doch auch hier wird die Ordnungserwartung nicht infrage gestellt, denn immer noch bewegen sich beide in einem gemeinsamen Sinnrahmen. Wenn sie aber antwortet: »Du, da oben auf der Kommode liegt schon wieder so viel Staub!«, dann wird der Abgewiesene angesichts dieses »schrägen Anschlusses« vielleicht auf die Idee kommen, dass sie nicht ganz richtig im Kopf sei.

In Unternehmensfamilien, und das vor allem sollte das Beispiel der Familie Antons zeigen, können sich die Erwartungsstrukturen auf völlig unterschiedliche Logiken beziehen. Dieser Umstand ist jedoch zugleich nicht von außen erkennbar, denn da sitzt ja einer dem anderen gegenüber, schaut ihn an und antwortet (meist) in derselben Sprache. Scheinbar ist also alles in Ordnung, eine Kommunikation schließt an die andere, es geht weiter. Doch der eine kann »in« einem anderen System »sein« als der andere, ohne dass der andere dies bemerkt. Denn Erwartungsstrukturen sind unsichtbar, soziale Systeme kann man nicht sehen. Man kann nur an besonderen Kontextmarkierungen erkennen, dass gerade eine andere Logik aktiv ist. So fällt meistens das »Wunder« gar nicht auf, das sich jeden Tag neu ereignet: Wenn man morgens die Wohnung verlässt und (vielleicht) den Partner/die Partnerin küsst und zur Arbeit fährt, wird man auf dem Weg eine »andere Person« (eine andere Erwartungskollage). Spätestens, wenn man die Arbeitsstelle betritt, ist man ein anderer geworden. Doch wenn dieses Wunder nicht passiert und man zwei (oder mehr) solcher Erwartungskollagen gleichzeitig bleibt, dann sind auch zwei Systeme zugleich »da«, ein Umstand, aus dem sich, und das sollte dieser Text zeigen, zahlreiche Verwicklungen ergeben können. Unternehmensfamilien zu verstehen, ist mithin eine besondere Herausforderung für die systemische Beratung: die Gleichzeitigkeit inkompatibler Bezugssysteme, die die kommunikativen Anschlüsse regeln, wird selten so prägnant erkennbar wie in dieser Unternehmensform. So kann diese Arbeit auch helfen, noch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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besser zu verstehen, was wir eigentlich meinen, wenn wir »systemisch« sagen. Literatur Brundin, E., Sharma, P. (2012). Love, Hate, and Desire: The Role of Emotional Messiness in the Business Family. In A. Carsrud, M. Brännback (Hrsg.), Understanding family business. Undiscovered approaches, unique perspectives, and neglected topics (S. 55–71) (Serie: International Studies in Entrepreneurship 15). New York: Springer. Coyle-Shapiro, J., Parzefall, M. (2008). Psychological contracts. In C. L. Cooper, J. Barling, J. (Hrsg.). The SAGE handbook of organizational behavior (pp. 17–34). SAGE Publications, London: SAGE Publications. Kaye, K. (1996). When the family business is a sickness. Family Business Review, 9 (4), S. 347–368. Kriz, J. (2005). Die Selbstorganisation von Bedeutungsfeldern. In T. Meynhardt, E. J. Brunner (Hrsg.), Beiträge zur Selbstorganisation der Organisation (S. 31–46). Münster: Waxmann. Kriz, J., Schlippe, A. von (2011). Konstruktivismus in Psychologie, Psychotherapie und Coaching. Familiendynamik, 36(2), S. 142–153. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rousseau, D. M. (1989). Psychological and implied contracts in organizations. Employee Responsibilities and Rights Journal, 2, 121–139. Schlippe, A. von (2013). Kein »Mensch-ärgere-dich-nicht«-Spiel: ein kritischer Blick auf das »Drei-Kreise-Modell« zum Verständnis von Familienunternehmen. In T. Schumacher (Hrsg.), Professionalisierung als Passion. Aktualität und Zukunftsperspektiven der systemischen Organisationsberatung (S. 143–164). Heidelberg: Carl Auer. Schlippe, A. von (2014). Bevor das Kind in den Brunnen fällt! Konfliktmanagement als Kernaufgabe in Familienunternehmen. Lehrfilm (DVD). Stuttgart: Concadora. Schlippe, A. von, Frank, H. (2013). The theory of social systems as a framework for understanding family businesses. Family Relations, 62 (3), 384–398. Schlippe, A. von, Rüsen, T., Groth, T. (Hrsg.) (2009). Beiträge zur Theorie des Familienunternehmens. Lohmar: Josef Eul. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Simon, F. (2009). Organisationen und Familien als soziale Systeme unterschiedlichen Typs. In A. von Schlippe, T. Rüsen, T. Groth (Hrsg.), Beiträge zur Theorie des Familienunternehmens (S. 17–46). Lohmar: Eul.

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Fritz B. Simon

Psychotherapeuten als Coaches und Organisationsberater: Was sie lernen sollten

Vorbemerkung Um es vorweg zu sagen: Psychotherapeuten sind meines Erachtens nur begrenzt als Coaches in Organisationen geeignet, für die Organisationsberatung erscheinen sie mir völlig ungeeignet – und das gilt unabhängig von der Schule, in der sie ausgebildet sind, oder der Methode, mit der sie arbeiten. Die Bereiche, in denen ihre Kompetenz liegt, sind persönliche und interpersonelle Probleme, Konflikte und Lösungen. Wo immer sie mit Individuen oder Interaktionssystemen (die hier im Anschluss an Niklas Luhmann (1984, S. 551 ff.) durch die »Kommunikation unter Anwesenden« definiert sein sollen) zu tun haben, können sie wichtige Funktionen übernehmen, denn hier liegt ihre Kompetenz, hier haben sie Erfahrung. Es sind soziale Systeme, die sich aufgrund ihrer personalen Zusammensetzung selbstorganisiert strukturieren. Das gilt sowohl für die Klientensysteme (Paare, Familien, Gruppen) als auch für die therapeutische Dyade, wenn mit Einzelnen gearbeitet wird. Ihre Erklärungsmodelle (Theorien) beziehen sich auf Individuen (psychische Systeme) und Interaktionssysteme, und aus ihnen leiten sie auch ihre Interventionstechniken ab. »Organisationen« sind aber etwas anderes als »organisierte Interaktion«, als »Kommunikationsmuster« oder »Spiele«, die sich im Laufe der Interaktionsgeschichte mehrerer Personen entwickeln. Ihre Strukturen sind eher durch ihren gesellschaftlich-historischen Kontext als durch die beteiligten Akteure zu erklären. Im Rahmen einer funktionell differenzierten Gesellschaft haben die unterschiedlichen Funktionssysteme ihre eigenen Formen von Organisationen entwickelt, innerhalb derer sich zwar auch die bereits beschriebenen, selbstorganisierten Interaktionsmuster zwischen konkreten Perso© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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nen (Mitgliedern der Organisation) entwickeln, aber der Freiraum dafür ist begrenzt, definiert durch die Eigenlogik von Organisationen im Allgemeinen, durch die Logik des jeweiligen gesellschaftlichen Subsystems im Speziellen. Um dies zu illustrieren: Die Wirtschaft (gesellschaftliches Subsystem) hat ihre eigenen Organisationsformen (Unternehmen) hervorgebracht, die sich von denen der Wissenschaft (Subsystem) unterscheiden (Universitäten). Wenn unterschiedliche Systemtypen und ihre Funktionen nicht auseinandergehalten werden und »über einen Kamm geschoren« werden, dann kommt es leicht zu »Lösungs«-Ideen, die nicht nur nicht konstruktiv, sondern destruktiv sind. (Deswegen kommen manche Menschen auf die Idee, die katholische Kirche von McKinsey beraten zu lassen oder die Deutschen Bundesbahn an die Börse zu bringen.) Da Organisationen als soziale Systeme zu betrachten sind, die sich von »organisierter Interaktion« unterscheiden, ist die für Therapeuten nahe liegende Fokussierung auf Personen und/oder Interaktionssysteme kritisch zu betrachten. Denn auf diese Weise wird mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Kausalität organisationsspezifischer Probleme, die sich am besten durch deren Logik und Konstruktionen bzw. die Beziehung zu irgendwelchen Umwelten, die für das Überleben der Organisation (als autonomer Einheit) unverzichtbar sind, erklären lassen, »outgesourct«: Die Ursache und der Veränderungsbedarf wird bei Personen oder ihrer Beziehung zueinander gesehen statt in der Organisationsstruktur oder im Umgang mit ihren Umwelten. Der Leidensdruck von Mitarbeitern oder Führungskräften wird dann im Coaching kompensiert, und durch die Delegation der Lösungssuche an Personen wird die Organisation von Veränderungsdruck entlastet (d. h., ihr wird auch die Veränderungschance genommen). Organisationen und ihre Eigenlogik bilden für die meisten Therapeuten einen blinden Fleck, so dass sie – um Heinz von Foerster (1997) zu zitieren – nicht einmal sehen, dass sie nicht sehen … Das gilt nicht nur für psychotherapeutische Kollegen mit individuumzentrierten Methoden, sondern auch für Systemiker. Denn die schauen zwar auf soziale Systeme, haben ihre Erfahrungen aber in erster Linie mit Familien oder – im professionellen Kontext – mit Teams oder Gruppen sammeln können. Auch sie verfügen im All© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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gemeinen über keine Organisationstheorie, so dass sie ihre Erklärungen für die Entstehung von Problemen oder ihre Lösungsideen (bzw. die damit verbundenen Interventionen) aus den Erfahrungen mit Familien oder Teams übertragen oder »hochrechnen«1. Zum Trost sei angemerkt, dass auch die meisten hauptberuflichen »Organisationsentwickler« nicht besser dran sind; auch sie stellen meist die Personen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und nicht die Organisation, da sie ihre Modelle ebenfalls zu einem guten Teil aus therapeutischen oder klassischen gruppendynamischen Modellen ableiten. Um diese Einschätzung zu illustrieren bzw. dem Leser oder der Leserin eine Möglichkeit der Überprüfung dieser These im Selbstversuch zu geben, ein Fallbeispiel. Es ist nicht spektakulär, sondern ziemlich banal, aber an ihm lassen sich die unterschiedlichen Beobachtungsperspektiven, Erklärungsmodelle und Interventionsformen ganz gut beobachtbar und bewusst machen.

Fallbeispiel Vorgeschichte: Seminarauftrag »Kommunikationstraining« Die Bildungsabteilung eines großen deutschen Unternehmens erhält den Auftrag, ein Kommunikationstraining mit den Pförtnern der Hauptverwaltung durchzuführen. Diese Abteilung ist zuständig für die internen Weiterbildungsprogramme des Unternehmens, versucht aber seit geraumer Zeit, sich auch als interne Beratungsabteilung zu profilieren, um das Image des reinen Seminaranbieters loszuwerden. Deswegen nimmt sie solche scheinbar klaren Aufträge nicht einfach an, sondern macht zunächst eine sorgfältige Auftragsklärung und versucht die Hintergründe und Motivationen dafür zu eruieren, auch um unterscheiden zu können, ob Training oder Beratung indiziert ist. Der Auftrag wird vom zuständigen Abteilungsleiter erteilt, bei 1

Das ist in den letzten Jahren besonders gut an der boomenden Branche der »Organisationsaufsteller« zu beobachten, die nur zu gern – da sie ja meist mit einzelnen Fallbringern arbeiten – bei deren Herkunftsfamilien landen und die aufstellen lassen.

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dem in letzter Zeit viele Beschwerden von Kunden und Mitarbeitern über das unfreundliche Verhalten der Pförtner gelandet waren. Bei den vorbereitenden diagnostischen Gesprächen erweist sich, dass die Pförtner nicht der Meinung sind, dass sie ein Kommunikationstraining brauchen. Sie sind offensichtlich mit ihrer Arbeitssituation sehr unzufrieden: In den letzten Monaten hat es innerbetriebliche Umstrukturierungen gegeben, die für ihren Arbeitsalltag gravierende Folgen haben. Die Pförtner sind formal (Organigramm) der von ihnen missachteten Telefonabteilung zugeordnet worden. Ihr direkter Vorgesetzter ist jetzt ein »Telefonist« (Gruppenleiter). Durch ihn fühlen sie sich nicht verstanden und vertreten. Außerdem wurde ihre frühere Zuordnung zu jeweils einer der sechs Pforten der Hauptverwaltung aufgehoben, das heißt, sie müssen zwischen allen sechs Standorten rotieren. Statt einem Seminar führt die Bildungsabteilung einen Workshop durch, an dem die (meisten) Pförtner, der Gruppenleiter und dessen Vorgesetzter (der Abteilungsleiter, der den ursprünglichen Seminarauftrag gegeben hatte) teilnehmen. Workshop: Neuentscheidung Der Workshop dient de facto dem allgemeinen »Auskotzen«. Wichtigstes und prominentestes Thema ist dabei die Umstrukturierung. Während die Pförtner bislang eine »Heimatpforte« hatten, an der sie die Mitarbeiter, die Struktur des Gebäudes etc. kannten, muss jetzt jeder an allen sechs Pforten Dienst tun. Sie fühlen sich dort nicht zuhause, sie müssen neue Mitarbeiter, Gebäudegeografien etc. kennen lernen. Das bereitet ihnen zusätzliche Mühe, und dazu verspüren sie wenig Lust, zumal sie dafür auch nicht besser honoriert werden. Im Workshop werden vom Abteilungsleiter die Gründe für das Rotationsprinzip plausibel dargestellt: Es ist nicht vertretbar, das zum Beispiel im Krankheitsfall einzelne Pforten vollkommen unbesetzt sind (weil alle Pförtner krank sind), während andere komfortabel mit Personal ausgestattet sind (um nicht zu sagen: überbesetzt). Die Beschwerden der Pförtner erscheinen dem Abteilungsleiter einfühlbar, die Argumente des Abteilungsleiters den Pförtnern plausibel. Daher wird nach einem Modell gesucht, dass den Interessen beider Seiten gerecht wird. Es wird eine neue Entscheidungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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getroffen: Die Pförtner müssen nun nicht mehr zwischen sechs verschiedenen Pforten rotieren, sondern nur noch zwischen drei. Das wird den Anforderungen des Unternehmens gerecht und erleichtert die Arbeit der Pförtner. Am Ende des Workshops scheint ihre Arbeitszufriedenheit wieder hergestellt. Auf jeden Fall gibt es im Laufe des nächsten dreiviertel Jahres keine Beschwerden mehr über ihr Verhalten. Aktuelle Situation: Seminarauftrag »Kundenorientierung« Nach einem Jahr erhält die Bildungs- (und nun auch offiziell) Beratungsabteilung vom alten Auftraggeber (Abteilungsleiter) erneut den Auftrag, ein Seminar mit den Pförtnern durchzuführen. Gewünschtes Thema: »Kundenorientierung«. Es hat erneut Beschwerden über das als »nicht kundenfreundlich« erlebte Verhalten der Pförtner gegeben. Vorgespräche mit ihnen zeigen, dass sie wieder genauso unzufrieden sind wie vor einem Jahr. Im Gegensatz zum letzten Jahr gibt es aber kein spezielles Thema, das Stein des Anstoßes für sie wäre.

Selbstversuch a) Nehmen Sie sich als Leser doch bitte ein paar Minuten Zeit, um zu überlegen, wie dieses »Symptom« (d. h. das »unfreundliche« oder »nicht kundenorientierte« Verhalten der Pförtner) zu erklären ist. Wie ist Ihre Theorie der Problementstehung?2 b) Wenn Sie zu einer oder auch mehreren Hypothesen gelangt sind (sie können ruhig im Widerspruch zueinander liegen), so überlegen Sie doch bitte, welche (»heilenden«) Maßnahmen sich aus den jeweiligen Erklärungen ableiten lassen. Konkret: Wenn Sie der Bildungsabteilung oder dem Abteilungsleiter (Auftraggeber) zu irgendwelchen Maßnahmen/Interventionen zu raten hätten (etwa als Coach), was würden Sie tun, vorschlagen etc.?

2 Ich weiß, dass lösungsorientierte Therapeuten solche Fragen für kontraproduktiv halten und nicht gerne stellen, aber im Kontext der hier diskutierten Fragestellung – siehe Titel – erscheint sie mir relevant.

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Auswertung des Selbstversuchs Der auftraggebende Abteilungsleiter hat sich beide Mal an die Bildungsabteilung gewandt, weil er die Erklärung für das unfreundliche Verhalten der Pförtner in der Umwelt der Organisation sah, genauer gesagt in der individuellen Kompetenz der Pförtner. Er hat die Ursache in einem Defizit der beteiligten Personen (der Pförtner) gesehen. Aus der Verortung der »Ursachen« hat sich für ihn – nur logisch und konsequent – auch der Ort der Suche nach einer Lösung ergeben: das Individuum. Training zielt auf die Veränderung von Einzelnen (wie Coaching). Die meisten Kollegen mit einem psychologischen oder therapeutischen Hintergrund, die mit diesem Fall konfrontiert werden, fokussieren ähnlich wie der Abteilungsleiter ihre Aufmerksamkeit auf die psychische Situation der Pförtner bzw. des Gruppenleiters und deren Bedingungen. Dabei ist der Schwerpunkt in der Regel auf die direkte Interaktion zwischen Pförtnern, Kunden, Gruppenleiter, Abteilungsleiter etc. gerichtet. Hier konstruieren sie Erklärungen: ȤȤ »Die Pförtner werden nicht genug wertgeschätzt.« ȤȤ »Die Zuordnung zu den Telefonisten ist sozial deklassierend.« ȤȤ »Die Pförtner sind wirklich sozial inkompetent.« ȤȤ »Der Gruppenleiter wird seiner Führungsaufgabe nicht gerecht.« usw. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zielen – logische Konsequenz – direkt oder indirekt auf die Beeinflussung von Individuen: der Pförtner oder des Gruppenleiters. Irgendwelche, den Selbstwert der Pförtner stärkenden oder sie incentivierende Maßnahmen (»schicke Uniformen«, »Wahl zum Pförtner des Monats« etc.) und/oder ein Führungscoaching des Gruppenleiters, damit er endlich seine Funktion wahrnehmen kann. Wenn Sie zu solchen, eher psychologischen Erklärungs- und Lösungsideen gelangt sind, dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft, denn da landen die meisten Kollegen, vor allem, wenn sie einen therapeutischen Blick haben. (Sie hätten – etwas böse formuliert – bei solch einer an einzelnen Personen orientierten Sichtweise © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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natürlich auch ganz andere Seminare anbieten können: »Pförtnerfreundliches Verhalten für Kunden«.) Die Intervention, die tatsächlich vorgenommen wurde, ergab sich aus der Konstruktion einer Erklärung, die den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Organisation richtete.

Ein organisationsbezogenes Modell der Problementstehung und -lösung Was gegen alle primär an Individuen orientierten Erklärungen sprach, war die Tatsache, dass es vor der Umstrukturierung keinerlei Beschwerden über die Pförtner gab und nach dem ersten Workshop für ein dreiviertel Jahr auch nicht mehr. Es war einfach unwahrscheinlich, dass Pförtner, die schon lange Jahre ihren Dienst verrichten, ihre Defizite an- und abstellen. Das widerspricht dem Konzept des Defizits. Also erschien es sinnvoller, das unfreundliche Verhalten nicht als Ausdruck einer Inkompetenz, sondern einer Kompetenz zu erklären. Denn im Unterschied zu Defiziten, kann man sich hier entscheiden, ob man sie nutzt oder nicht. So betrachtet verschiebt sich die Perspektive ein wenig: Als sich die Arbeitssituation der Pförtner aufgrund der Umstrukturierung verschlechterte (sechs Pforten/Telefonist als GL) wurde die bis dahin schlummernde, aber doch verfügbare Fähigkeit, sich unfreundlich zu verhalten, genutzt. Wozu? Auch hier kann man psychologisch argumentieren: um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen (was sicher keine Fehlinterpretation ist). Deutet man ihr Verhalten aber im Kontext der Organisation, so war es »Teilnahme an der Kommunikation«, und der Effekt war, dass der Abteilungsleiter über einen Handlungsbedarf informiert wurde. Schauen wir die gesamte Kommunikationssequenz an, so lässt sie sich folgendermaßen schematisch abbilden (Abbildung 1):

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Workshop

Seminarauftrag

Abteilungsleiter

Beschwerden

Bildungsabteilung

Kunden

Gruppenleiter „unfreundliches Verhalten“

Interviews

Pförtner

Abbildung 1: Kommunikationssequenz

Blicken wir auf die Wirkung (= Funktion/gestrichelte Pfeile) des »unfreundlichen Verhaltens« der Pförtner, so zeigt sich, dass sie auf diese Weise in Kommunikation mit ihrem Abteilungsleiter gekommen sind. Sie spielen, ob bewusst oder unbewusst ist ohne Belang, »über die Bande«. Die Kunden, die sich beschweren, fungieren als »Brieftauben« oder »Boten«, mit deren Hilfe die Pförtner ihrem Abteilungsleiter einen Handlungsbedarf mitteilen. Der Abteilungsleiter schickt seinerseits die Bildungsabteilung, die Interviews macht und den Unmut der Pförtner an ihn zurückmeldet. Auch die Bildungsabteilung hat hier die Funktion des »Briefträgers«. Dass die Pförtner diesen Umweg nutzen (müssen?), liegt daran, dass der formal in der Struktur der Organisation vorgesehene, die Hierarchieebenen verbindende Kommunikationsweg (massive Pfeile) über den Gruppenleiter offenbar nicht funktioniert. Hierarchiebildung ist ein probater Weg, um eine große Zahl von Akteuren © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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und/oder Aktionen zu koordinieren. Sie ist deshalb in fast allen Organisationen zu finden. Und sie ist nicht so sehr vom Machtwillen der Beteiligten motiviert (obwohl der sich da gut austoben kann), sondern von der Funktion: Hierarchie macht bei der Koordination mehrerer Akteure Kommunikation überflüssig oder auf ein Minimum begrenzbar (man denke an die wortkarge Kommunikation zwischen dem verantwortlichen Chirurgen und den Assistenten/ Schwestern während einer Operation: »Tupfer«, »Klemme« usw.). Wo ein Hierarch oder eine übergeordnetes Gremium Entscheidungen getroffen hat, wird für die Mitarbeiter, die ihnen unterstellt sind, »Unsicherheit absorbiert« (March u. Olsen, 1976), das heißt, sie können diese Entscheidungen als Grundlage ihrer eigenen Entscheidungen nutzen (»Entscheidungsprämissen«, Simon, 1957/1997, S. 201). Wenn sie mit diesen Entscheidungen nicht einverstanden sind, so haben sie sich den Strukturen der Organisation gemäß mit ihrem jeweiligen direkten Vorgesetzten auseinanderzusetzen, der dann gegebenenfalls die Angelegenheit mit seinem Vorgesetzten auszuhandeln hat usw. Das sind die »normalen« Kommunikationswege in hierarchischen Organisationen, auch im hier betrachteten Unternehmen. Doch diese Kommunikationswege funktionieren offensichtlich nicht, sei es aufgrund der Inkompetenz des Gruppenleiters, der Vorurteile oder Kränkung der Pförtner. Und wenn die Hierarchie nicht funktioniert, entsteht immer ein Kommunikationsbedarf. Durch die Einbeziehung der Bildungsabteilung und den Workshop mit Abteilungsleitern und Gruppenleiter (gestrichelte Linie), wurde dieses Nichtfunktionieren der Hierarchie, das heißt dieses strukturelle Defizit auf der Ebene der Organisation (nicht der Mitarbeiter), kompensiert. Es wurde ein Kommunikationsforum geschaffen, in dem die für die Pförtner relevanten Fragen angesprochen werden konnten. Es kam zu sachbezogenen Auseinandersetzungen, unter anderem über den Interessenkonflikt bei der Pfortenzuteilung. Die Pförtner und der Abteilungsleiter konnten ihre Interessen artikulieren, und es kam zu einer für alle akzeptablen Kompromisslösung. Man ging zufrieden nach Hause. Für ein dreiviertel Jahr blieb es so. Nach einem Jahr tritt das alte »Symptom« (»unfreundliches Verhalten« der Pförtner) wieder auf, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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und der Abteilungsleiter erteilt wieder einen Auftrag, der wieder aus einer Erklärung abgeleitet ist, bei der den Pförtnern ein Defizit zugeschrieben wird. Die Bildungsabteilung widerstand der Versuchung, die Erklärung ihres Auftraggebers zu übernehmen. Sie entwickelte eine Hypothese, die sich an der Funktion des »Problems« (»unfreundliches Verhalten«), die Kommunikation über die Hierarchieebenen hinweg herbei zu führen, orientierte. Dies war im ersten Workshop offenbar gelungen. Nach einem Jahr gab es – dieser Deutung des »Symptoms« entsprechend – wieder einen Kommunikationsbedarf, auch wenn es keine spezifischen, inhaltlichen Punkte gab, über die ein Gesprächsbedarf angemeldet wurde. Das Problem lag – so konnte vermutet werden – nicht auf der Inhaltsebene (Sachdimension) der Kommunikation, sondern der Beziehungsebene (Sozialdimension). Und da mehrere Monate Ruhe herrschte, spielte der Zeitfaktor offenbar auch noch eine gewichtige Rolle. Die Hypothese der Bildungsabteilung lautete: Die formalen Kommunikationswege über den Gruppenleiter funktionieren nicht, und für dieses strukturelle Defizit muss eine Lösung gesucht werden. Die Möglichkeit, die Umstrukturierung rückgängig zu machen oder den Pförtnern wie in den guten alten Zeiten wieder ihren eigenen Gruppenleiter zuzuordnen, überschritten die Kompetenzen aller Beteiligten: Es handelte sich um unternehmensweite und prinzipielle Entscheidungen, die zu dieser Struktur geführt hatten. Den Gruppenleiter zu coachen, erschien nicht attraktiv, da es nicht wirklich in seiner Macht lag/liegt, ob er von den Pförtnern akzeptiert wurde/ wird. Außerdem hätte man auch hier wieder ein Outsourcing des Problems vollzogen. Es hätte die Möglichkeit bestanden, erneut einen Workshop wie im Vorjahr zu organisieren, um so die Kommunikation zwischen Abteilungsleiter und Pförtnern herzustellen. Und das hätte dann »alle Jahre wieder« durchgeführt werden können. Doch das schien der Bildungsabteilung, die ihre Kunden nach innerorganisatorischer Wichtigkeit in A-, B-, und C-Kunden eingeteilt hatte, nicht so attraktiv, da die Pförtner in dieser VIP-Klassifikation ziemlich weit hinten standen. Der Lösungssuche lagen folgende theoretische Überlegungen zugrunde. Es gibt in Organisationen zwei Methoden, um notwen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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dige Kommunikationen sicherzustellen: Entweder es wird (1) eine Rolle mit den dazugehörigen »Berichtswegen« geschaffen, deren Funktion es ist, die Kommunikation zwischen bestimmten Organisationseinheiten oder Personen sicherzustellen; oder es wird (2) ein Ort und eine Zeit festgelegt, wo die Betreffenden aufeinander treffen und – ohne Vermittlung durch Dritte – miteinander reden können. Da hier die erste Methode nicht funktionierte, bot sich an, die zweite zu nutzen: Daher wurde dem Abteilungsleiter geraten, regelmäßig ein dem Workshop analoges Kommunikationsforum zu schaffen, in dem die im Alltag anfallenden Fragestellungen thematisiert werden können – ein »Jour fixe«, in dem er sich alle drei Monate mit Gruppenleiter und Pförtnern für eine Stunde zusammensetzte, um alle im letzten viertel Jahr aufgetauchten Fragen zu besprechen. Solch ein Treffen, so die Überlegung, würde nicht nur die Kommunikation sicherstellen, sondern auch prophylaktisch wirken, da die Pförtner wüssten, dass sie und wann sie gehört würden. Außerdem wäre es eine elegante Möglichkeit, hier eine kompensatorische Struktur zu etablieren, ohne dass dem Gruppenleiter das Gesicht zerkratzt würde. Auch die psychologischen Nebenwirkungen wurden als positiv erachtet, da sich die Pförtner in ihrer »Hausfrauenarbeit« (das sind Tätigkeiten, die nur in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangen, wenn sie nicht oder schlecht vollzogen werden, vgl. Simon u. Conecta-Autorengruppe, 1992/2005, S. 52 ff.) wahrgenommen und anerkannt durch ihren Abteilungsleiter fühlen könnten, ohne dazu die Kunden als »Aufmerksamkeitsfänger« missbrauchen zu müssen. Der Abteilungsleiter folgte diesem Rat, etablierte den »Jour fixe« und seither gibt es – nach allem, was zu hören ist – keine Beschwerden mehr über das »unfreundliche Verhalten« der Pförtner. Es gibt natürlich immer wieder irgendwelche Fragen und Konflikte, die zu entscheiden sind, aber nunmehr gibt es die Sicherheit des Ortes und der Zeit, wo sie thematisiert werden können und innerhalb der Hierarchie Gewicht bekommen können.

Folgerungen Die neuere soziologische Systemtheorie, wie sie von Niklas Luhmann (1984) und seinen Nachfolgern formuliert worden ist, orientiert © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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sich an der System-Umwelt-Unterscheidung. Das ist ein radikaler Bruch mit der systemtheoretischen Tradition, die sich an der Teil-Ganzes-Unterscheidung orientierte. Verbunden damit ist eine Komplexitätsreduktion, die gerade die Arbeit mit und in Organisationen erleichtert. So werden psychische und soziale Systeme als voneinander unterschiedene Systeme betrachtet, die füreinander Umwelten darstellen. Das heißt, die Psyche eines jeden Mitglieds einer Organisation, ist – anders als es unser Alltagsdenken nahe legt – nicht als Teil der Organisation zu betrachten, sondern als eine Umwelt (neben unzähligen anderen Umwelten). Organisationen bestehen nicht aus Menschen, sondern – je nach Theoriemodell anders konzeptualisiert – aus Handlungen (Barnard, 1938) oder aus Kommunikationen (Luhmann, 2000). In jedem Fall ändert dies die Konzeptualisierung der Beziehung zwischen psychischen und organisationalen Ereignissen: Die psychischen Prozesse der Mitglieder einer Organisation determinieren nicht kausal, was in der Organisation passiert, sondern sie limitieren nur die Möglichkeiten dessen, was in der Organisation geschieht. Damit irgendein geplanter oder gewohnter Ablauf in einer Organisation routinemäßig vollzogen wird, braucht die Organisation Menschen, die dazu bereit und fähig sind (psychisch, geistig und körperlich …). Die Prozesse von Organisationen folgen einer eigenen Logik, die mit der Logik der psychischen Prozesse ihrer Mitglieder kompatibel sein muss, die aber von ihr unterschieden ist. Deshalb lassen sich Organisationen auch nicht durch psychologische Theorien angemessen erklären, sondern durch Kommunikationstheorie. Im Einzelcoaching ist der Coach zwar mit dem Individuum, das sich als Mitglied einer Organisation mit deren Funktionslogik auseinandersetzen muss, konfrontiert, aber nicht mit der Organisation direkt. Hier mag die Organisation durchaus als eine verwunderliche Umwelt behandelt werden – wie ein exotisches Land –, auf das der Klient in der für ihn charakteristischen Weise reagiert (obwohl es sicher nicht schlecht wäre, ein wenig darüber zu wissen – wie über andere exotische Länder auch). Und für die Organisationsberatung ist es sicher auch gut, viel von Psychologie zu verstehen, weil es wenig Sinn macht, die Psyche(n) der Mitglieder als unverzichtbare © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Umwelt(en) der Organisation einfach »wegzudenken«. Dennoch sollte jedem Berater klar sein, dass die Funktionalität von Organisationen zu einem guten Teil aus der Austauschbarkeit der Mitglieder resultiert. Daher ist die Psyche eines jeden konkreten Individuums immer nur von (zumindest zeitlich) begrenzter Relevanz für die Organisation (vgl. Luhmann, 2000; Simon, 2004, S. 95 ff.; 2007).

Warum Berater in der Regel aus den falschen Gründen gewählt werden Ganz generell kann meines Erachtens gesagt werden, dass Berater in der Regel ihre Aufträge aus den falschen Gründen bekommen. Ihre Auftraggeber lösen jeden Tag Probleme. Das können sie, weil sie Erklärungen konstruieren und aus ihnen Handlungsanleitungen ableiten. Wenn sie damit scheitern, verstärken sie ihre Bemühungen (»Mehr-desselben«-Muster, vgl. Watzlawick, Weakland u. Fisch, 1974, S. 51 ff.), und wenn das auch nicht hilft, dann suchen sie einen Berater oder Helfer oder Experten, der das professionell (»mehr«/»besser«) macht, womit sie schon gescheitert sind. Das zeigt sich auch im hier skizzierten Fall: Die Berater (wie hier die Bildungsabteilung) bekommen nicht den Auftrag, ein bestimmtes Ziel zu erreichen (»freundliches Verhalten der Pförtner«), sondern einen bestimmten Weg zu gehen (»Kommunikationstraining«/»Seminar Kundenorientierung«). Er ergibt sich aus der Erklärung, die der Abteilungsleiter für das Problem konstruiert hat (Defizit der Pförtner). Wäre die Bildungsabteilung auf die Seminaraufträge eingegangen, hätte sie die Erklärungen des Auftraggebers implizit bestätigt. Und wenn die Pförtner sich weiter unfreundlich verhalten hätten, so hätte er in letzter Konsequenz zu disziplinarischen Maßnahmen greifen können. Das wäre innerhalb einer Organisation, ihrer Strukturen und den mit ihnen verbundenen Machtverhältnissen durchaus möglich gewesen. Ähnliches ist zu beobachten, wenn Psychotherapeuten im organisationalen Kontext Coaching betreiben. Sie erhalten ihre Aufträge von Personen, die individuumzentrierte, psychologische Erklärungen für das jeweilige Problem konstruieren. Und wenn die Coaches die© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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sen Erklärungen folgen, so sind die Auftraggeber zufrieden, dass der von ihnen intendierte Weg beschritten wird. Doch zum Ziel führt er meist nicht. Daher wird dann schließlich doch auf organisationale Lösungsmuster (Abmahnung, Versetzung etc.) zurückgegriffen. Dass die immer die menschlich wie ökonomisch sinnvollsten sind, darf bezweifelt werden. Der Coach hat auf jeden Fall die Organisation moralisch entlastet, denn es ist ja »alles Menschenmögliche getan worden«.

Was sollten Coaches lernen? Da das skizzierte Mehr-desselben-Muster ja durchaus auch langfristig erfolgreich sein kann, stellt sich die Frage, ob sie überhaupt etwas lernen sollten: Solange die Kunden zufrieden sind …? Doch wenn sie einen etwas höheren Anspruch an die eigene Professionalität haben, dann sollten sie sich ein wenig (oder auch ein wenig mehr) mit Organisationstheorie beschäftigen. Literatur Barnard, C. I. (1938). The Functions Of The Executive. Campbridge, MA.: Harvard University Press. Foerster, H. von (1997). Abbau und Aufbau. In F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie (S. 32–51). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. March, J. G., J. P. Olsen (1976). Ambiguity and choice in organizations. Bergen: Universitetsforlaget. Simon, H. A. (1957/1997). Administrative Behavior (4. Aufl.). New York: Free Press. Simon, F. B., Conecta-Autorengruppe (1992/2005). »Radikale« Marktwirtschaft. Die Grundlagen des systemischen Managements (5. Aufl.). Heidelberg: Carl Auer. Simon, F. B. (2004). Gemeinsam sind wir blöd. Die Intelligenz von Unternehmen, Managern und Märkten. Heidelberg: Carl Auer. Simon, F. B (2007). Einführung in die systemische Organisationstheorie. Heidelberg: Carl Auer. Watzlawick, P., Weakland, J. H., Fisch, R. (1974). Lösungen. Bern: Huber.

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Die Perspektive der »ganzen Person« Zur gesellschaftlichen Verantwortung von Psychotherapie1

»Gesellschaftsvergessenheit der Psychotherapieszene«? Im Zuge der technischen und wirtschaftlichen Umwälzungen, die seit Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in Gange sind (vgl. Castells, 2001), steht die globalisierte Weltgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor dramatischen ökologischen, sozialen und geopolitischen Herausforderungen. Während die mit der Einführung der Schrift und des Buchdrucks vergleichbare Durchsetzung neuer Kommunikationsmassenmedien räumliche und zeitliche Distanzen aufhebt und damit den Weg in eine »Next Society« (Baecker, 2007) bahnt, wird das Konfliktpotenzial zwischen sozialen Gewinnern und Verlierern, zwischen Arm und Reich, ideologischen und geopolitischen Stakeholdern immer größer. Die traditionellen Politikprogramme kommen angesichts ihrer Komplexität mit solchen Konflikte nicht mehr zurecht: Nach dem Ende des kalten Krieges hat sich die Zahl der Konfliktthemen sowie der relevanten Akteure vervielfacht, die Dynamik wirtschaftlicher, sozialer, religiöser, politischer und kriegerischer Auseinandersetzungen hat sich extrem beschleunigt und die Auswirkungen von Interventionen in diesen Bereichen sind strategisch kaum zu kontrollieren, da alle Akteure mit ihren relevanten Kommunikationen in Echtzeit aufeinander reagieren. 1

Dieser Text beruht auf einem Diskussionsbeitrag für den Jubiläumskongress der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie und Systemische Studien (ÖAS), der 2006 in Wien stattfand. Thema der Diskussion war: »Blinde Flecke: Helfen wir unseren KlientInnen auch beim Widerstand?« und ist im Internet unter http://www.systemagazin.de/beitraege/blinde_flecke/blinde_flecke_index.php dokumentiert.

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Diese gesellschaftlichen Veränderungen bleiben den Menschen nicht äußerlich, sie greifen in massivem Umfang in die Struktur sowohl der privaten wie beruflichen zwischenmenschlichen Beziehungen ein und verändern zugleich die Identität der Individuen. Die Folgen dieser Veränderungen lassen sich tagaus, tagein in den unterschiedlichsten klinischen Settings beobachten und sind daher ein wichtiger Grund für Psychotherapeutinnen2, sich intensiv mit diesen gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Zudem unterliegen nicht nur die Lebenswelten der Klientinnen den genannten Veränderungen, sondern auch die organisatorischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen Psychotherapeuten ihre Arbeit verrichten. Gerade für systemische Therapeuten, für die die Kontextualisierung von Wahrnehmungen und Verhaltensweisen von grundsätzlicher Bedeutung ist, müsste die Beschäftigung mit diesen Fragen daher selbstverständlich sein. Im gegenwärtigen psychotherapeutischen Diskurs hat die kritische Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen allerdings keinen besonders großen Stellenwert. Das gilt wie für alle anderen psychotherapeutischen Ausrichtungen auch für die Systemische Therapie. Man könnte mit Heiner Keupp auch von einer »weit verbreiteten Gesellschaftsvergessenheit der Psychotherapieszene« sprechen (Keupp, 2005, S. 142). Der Mainstream des therapeutischen Diskurses kreist stattdessen um berufspolitische Themen und Abrechnungsfragen, um Fragen der Evidenzbasierung und Standardisierung, um neurobiologische Konzepte, Tools und Interventionstechniken. Die Thematisierung gesellschaftlicher Problemlagen ist im Vergleich dazu eher marginalisiert oder findet nicht statt. Das war nicht immer so. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds etwa hat sich nie nur als Therapieform verstanden, sondern immer zugleich auch als Kulturtheorie. Dass das Individuum und sein Triebleben nicht frei sei, sondern durch gesellschaftliche Ansprüche und Vorgaben formiert, mitunter auch deformiert werde, war und ist ein klassischer psychoanalytischer Topos – ob man in Fragen des 2 Der Anspruch einer gendersensitiven Schreibweise kommt in diesem Text durch einen freien Wechsel des Genus immer dort zum Ausdruck, wo durch den Text nicht eine eindeutige Verwendung erzwungen wird.

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Anpassungsdrucks auf Seiten der Gesellschaft stand oder eher den emanzipatorischen Aspekt psychoanalytischer Aufklärung betonte, ergab sich hingegen nicht unmittelbar aus dem Theorierahmen, sondern hing in erster Linie von den politischen Präferenzen der jeweiligen Autoren ab. Nach dem Abklingen der gesellschaftskritischen Emphase der 1960er und 1970er Jahre hat ein gewisser Rückzug in behandlungstechnische Fragen stattgefunden. Der emanzipatorische Diskurs ist auch hier mittlerweile weitgehend Vergangenheit. Was die systemtheoretische Reflexion gesellschaftlicher Prozesse betrifft, so stellt sich die Frage, ob sie mehr sein kann als ein reines Beobachtungsinstrument, das heißt, ob und inwiefern sie über die Beobachtung und Beschreibung hinaus auch eine aktive, politisch und moralisch fundierte Haltung begründen kann: »Luhmanns Beobachten hat seinen eigenen, charakteristischen blinden Fleck. Es kann Handlungen beobachten und anderes Beobachten beobachten. Es versagt aber in allen Situationen, in denen selber gehandelt oder entschieden werden muß. Beobachten ist zwar ein tatsächlicher Vorgang, also zweifellos auch eine Handlung. Aber genau hier liegt das Problem. Denn das Beobachtungshandeln ist eine sehr eingeschränkte Form des Handelns. In vielen Situationen ist es geradezu eine unangemessene Form der Aktivität« (ReeseSchäfer, 1997, S. 587). Vor diesem Hintergrund einer politischen Abstinenz der Systemtheorie erscheint es plausibel, dass Gesellschaft als historisch-sozialer Gesamtzusammenhang in der Literatur der systemischen Therapie meist nur als Kontext für das Verständnis der jeweils beobachteten Systeme wahrgenommen wird, selten aber als Feld für eigenes politisches Handeln. In diesem Text soll es daher um die Frage gehen, welchen Stellenwert Psychotherapie im Kontext einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie hat, welche politischen und moralischen Implikationen damit verbunden sind und welche Wertorientierungen Psychotherapeutinnen in den öffentlichen Diskursen der Gegenwart vertreten können und sollten.

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Der gesellschaftliche Standort psychosozialer Hilfen Die aktuellen Diskurse innerhalb der systemischen Sozialarbeitswissenschaft diskutieren diese Fragen etwas intensiver (vgl. z. B. Hafen, 2013; Hosemann u. Geiling, 2013; Kleve, 2003, 2010, 2011; Wirth, 2005). Hier wird nicht nur versucht, den gesellschaftlichen Standort psychosozialer Hilfen mit systemtheoretischen Instrumenten zu ermitteln, sondern auch die damit verbundenen ethischen und normativen Fragen zu rekonstruieren. Wozu Hilfe? Wer ist hilfebedürftig? Wie gestaltet sich die triadische Auftragskonstellation zwischen Klienten, Helfern und gesellschaftlichen Institutionen? Auf wessen Seite stehen Helfer im möglichen Konflikt zwischen Klienteninteressen und Anforderungen seitens anderer gesellschaftlicher Akteure? Auch wenn sich von der historischen Entwicklung, der Auftragslage, Methoden und Haltungen her klare Unterschiede benennen lassen, lassen sich manche Beiträge zum Diskurs der sozialen Arbeit ohne Weiteres in Bezug zur Psychotherapie setzen. Die Gemeinsamkeit beider liegt darin, dass sie als Funktionssysteme der Gesellschaft Hilfen für Personen zur Verfügung stellen, deren Teilhabe (Inklusion) an gesellschaftlicher Kommunikation problematisch erscheint, bedroht ist oder gar nicht mehr existiert. In dem Maße, in dem es Personen nicht gelingt, durch ihre Handlungen und Kommunikationen anschlussfähig für die unterschiedlichen Funktionssysteme zu bleiben (etwa durch Verlust der Zahlungsfähigkeit, abweichendes Verhalten, Lernverweigerung, Krankheit, fehlende Kommunikationsbereitschaft oder -kompetenz usw.), fallen sie aus den entsprechenden Funktionssystemen heraus, sie werden exkludiert. In den vergangenen dreißig Jahren hat weltweit eine radikale, auf neoliberalen Konzepten basierende Umgestaltung der entwickelten Industrieländer stattgefunden, die mit einem Abbau sozialstaatlicher Leistungen einhergeht und seit der Finanzkrise 2008 in ihrer Eigendynamik massiv beschleunigt wurde. Was Exklusion bedeutet, lässt sich gegenwärtig bei den europäischen Mittelmeerstaaten besichtigen. Auch in Deutschland öffnet sich die Schere von wachsendem privaten Reichtum einerseits und zunehmender Verarmung nennenswerter Bevölkerungsteile andererseits immer weiter. Diese Entwicklung geht mit einer ungeheuren Verschuldung und Unter© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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finanzierung öffentlicher Haushalte einher, die den Mangel an Einkommen, bezahlbarem Wohnraum, Bildung und gesundheitlicher Versorgung nicht kompensieren können. Die neoliberalen Diskurse, die diesen Veränderungen zugrunde liegen und sie legitimatorisch unterfüttern, sind keine freischwebenden Konstruktionen, sondern haben ihre Basis in konkreten gesellschaftlichen Verteilungskämpfen, in spezifischen Interessenlagen und Machtverhältnissen, einem Thema, das im systemischen Diskurs bislang zu wenig Bedeutung erhalten hat (vgl. Levold, 1986, 2001, 2011). Während sich die Klientel der Sozialen Arbeit und der Psychiatrie zunehmend aus diesen von Exklusion bedrohten oder schon betroffenen Bevölkerungsgruppen rekrutiert, finden sich in psychotherapeutischen Praxen und Kliniken viele Klienten, die noch nicht aus den Funktionssystemen herausgefallen sind, mit dem zunehmenden Stress spätmoderner Lebenswelten und dem Leistungs- und Erfolgsdruck des gegenwärtigen Arbeitslebens aber nicht mehr zurecht kommen. Die Überlastung durch und das Leiden an der Beschleunigung aller Tätigkeiten hat im Konzept des Burnout eine angemessene Metapher gefunden. Ich bin in meiner eigenen Praxis als Supervisor in zahlreichen psychosozialen und klinischen Einrichtungen der Jugendhilfe und des Gesundheitswesens täglich mit sich verschlechternden Bedingungen konfrontiert, die mich wütend machen und kämpferisch stimmen. Ich werde Zeuge von zunehmender Ressourcenvernichtung und wachsenden Arbeitsbelastungen, die sowohl die Helfer als auch ihre Klienten betreffen. Es verwundert daher nicht, wenn Organisationen und Professionelle aus den unterschiedlichen Hilfesystemen diese Entwicklungen massiv kritisieren. Dabei spielen unterschiedliche Argumentationsstränge eine Rolle. Auch wenn die »sozialen« und »politischen«, das heißt volkswirtschaftlichen Kosten zunehmender Exklusion zentrale Gesichtspunkte des gesellschaftskritischen Diskurses darstellen, ist die Gesellschaftskritik aus den Reihen der professionellen Praktiker meist eine ethisch-moralische: Sie reflektiert und skandalisiert die (schädlichen) Auswirkungen dieser Entwicklungen primär aus der Perspektive der Entwicklungschancen und des Wohlergehens ihrer Klienten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Dafür gibt es viele gute Gründe. Auch wenn – wie wir sehen werden – moralische Argumente gerade aus einer psychotherapeutischen Perspektive von Bedeutung sind, wird die Komplexität und Ambivalenz der gesellschaftlichen Verhältnisse zu wenig in Rechnung gestellt, wenn die geschilderten Entwicklungen vorschnell als ein rein moralisches Problem codiert werden.

Individuum und Gesellschaft Die eingangs erwähnte Darstellung des Verhältnisses von Individuum bzw. Subjekt und Gesellschaft als eines Unterdrückungszusammenhangs und die damit verbundene emanzipatorische Idee der Befreiung des Subjekts von seinen gesellschaftlichen Fesseln ist nicht nur historisch gescheitert, sondern von einer systemischen Perspektive aus betrachtet auch theoretisch wenig tragfähig. Wenn man sich verdeutlicht, dass es sich sowohl beim unterdrückten wie beim befreiten Individuum um soziale Konstruktionen handelt, die immer schon selbst Bestandteil von Gesellschaft sind, kann der Dualismus von Individuum und Gesellschaft nicht aufrechterhalten werden. Da Gesellschaft nichts anderes als der Gesamtzusammenhang sozialer Kommunikation ist (Luhmann, 1997), taugt sie nicht als Gegenbegriff zur individuellen Freiheit. Auch wenn damit nicht die Frage obsolet wird, ob und welche beobachtbaren sozialen Phänomene zu Recht als Unterdrückung bezeichnet werden können, taugt »die Gesellschaft« nicht als dafür zur Rechenschaft zu ziehender Akteur. Selbst Michel Foucault, der einen kritischeren Blick auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse wirft als Luhmann, versteht das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht als Dualismus, sondern als einen unentrinnbaren Gesamtzusammenhang. Sein Konzept der Gouvernementalität (vgl. Foucault, 2005) verdeutlicht die enge Verschränkung von Herrschaft einerseits und einem impliziten wie expliziten Einverständnis der Beherrschten andererseits, die sich innerhalb und mithilfe eines komplexes Netzes aus Diskursen, verkörperlichtem Wissen, Institutionen und Praktiken vollzieht, aus dem sich die Individuen nicht ohne Weiteres verabschieden können. Diese Form des Beherrschtseins geht paradoxerweise einher © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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mit der Tatsache, dass zumindest in der postindustriellen Gesellschaft »die emanzipatorischen Ideale der bürgerlichen Moderne des 20. Jahrhunderts formell eingelöst (sind). Für Foucault gilt das Subjekt deswegen als weitaus freier in seinen Möglichkeiten, als es meint« (Aßmann, 2006, S. 89). Aus dieser Perspektive ist es gerade das Programm der Steigerung von Freiheit, welches soziale Asymmetrien erzeugt. Wir haben es hier mit einer Paradoxie der Freiheit zu tun, die sich nicht mehr ohne Weiteres nach einer Seite hin auflösen lässt. Indem die klassischen kollektiven Sinnsysteme der Vormoderne und Moderne ihre Autorität und ihren Zugriff auf die Lebenspraxis der Menschen immer mehr verlieren, sind diese frei, sich die Rationalität ihrer Lebensentwürfe selbst zurechtzuzimmern. Das ist unter dem Epochenbegriff der Postmoderne zu verstehen. Damit einher geht die Tendenz zur immer weiteren »Vermarktung« der Lebenswelten. »Der ideologische Rahmen ist der Neoliberalismus, bei dem es keine kollektiven, sondern nur Einzelbedürfnisse gibt. Es erfolgt eine Ökonomisierung des Sozialen: […] es zählen nur noch die Zwecke, die sich in Geld berechnen lassen, d. h., es erfolgt eine Monetarisierung der Zwecke« (Pfeifer-Schaupp, 2006, S. 102). Damit wird die vom klassischen Liberalismus unterstellte »natürliche Freiheit« des Menschen von Herrschaft und Unterdrückung zwanglos durch die unternehmerische Freiheit der ökonomisch-rationalen Individuen ersetzt (Bröckling, 2007; Höhne, 2014). Das Programm der Steigerung von Freiheit im Sinne einer Freisetzung des Menschen aus übergeordneten sozialen Bezügen und Sinnzusammenhängen ist eng verknüpft mit den zunehmenden Risiken sozialer Desintegration. Da sich gesellschaftliche Integration nicht mehr über große Gesellschaftsentwürfe, die auch in ihren nichttotalitären Varianten das Maß individueller Freiheit reduzieren, sondern immer mehr über die Teilnahme der Individuen an unterschiedlichen Märkten und Funktionssystemen realisiert, liegt der Sinn des Handelns nurmehr in der freien Erzeugung und Vermehrung des eigenen ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals, das auf den Märkten der Arbeit, des Konsums, des Kapitals und der Aufmerksamkeit eingesetzt werden kann. Wer kein entsprechendes Kapital vorzuweisen hat, fällt schnell aus dem sozialen Zusammenhang heraus. Die individuellen und letztlich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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auch sozialen Kosten dieser zunehmenden Exklusion von Lebenswelten aus der Gesellschaft sind noch nicht wirklich absehbar. Die Risiken der Individuen liegen also weniger in ihrer Unfreiheit als in ihrem individuellen Konkurs als Marktteilnehmer und dem damit verbundenen Ausschluss von sozialen Möglichkeiten. Wir haben es – zugespitzt – mit einem Spannungsfeld von Freiheit und Desintegration auf der einen und Unfreiheit und Integration auf der anderen Seite zu tun, das die Frage nach orientierenden Werten, die uns auch in der psychotherapeutischen Praxis helfen könnten, nicht gerade leicht macht. Eindeutigkeit bei der Beantwortung dieser Frage ist ohnehin nicht mehr zu haben. Wie Heiko Kleve im Anschluss an Zygmund Baumann, Wolfgang Welsch und Jacques Derrida herausarbeitet, ist das Hauptmerkmal des gesellschaftlichen Feldes, auf das sich Sozialarbeit und Psychotherapie als Funktionssysteme mit dem Auftrag psychosozialer Hilfe beziehen, dessen Widersprüchlichkeit und Ambivalenz, die grundsätzlich nicht mehr überwunden werden können: »Mit Ambivalenz wollen wir nun ganz allgemein nicht nur Zwei-, sondern Mehr- bzw. Vieldeutigkeiten, also Uneindeutigkeiten, Unbestimmbarkeiten, Widersprüchlichkeiten oder auch Paradoxien in psychischen, sozialen bzw. kommunikativen Verhältnissen sowie in deren Beobachtung bezeichnen, die, wenn sie konstatiert werden, ein unentscheidbares Oszillieren zwischen mindestens zwei differenzierten, heterogenen, aber gleichermaßen plausiblen Entscheidungsmöglichkeiten herausfordern. Eine ambivalente Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass in der Beobachtung einer Situation, eines Ereignisses, einer Handlung, einer gesellschaftlichen Praxis zwei oder mehr gegensätzliche, sich widersprechende Blickpunkte, Beobachtungen bzw. Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen gleichermaßen plausibel erscheinen« (Kleve, 1999, S. 22 f.). Akzeptiert man diese Prämisse, muss man auf die Festlegung von allgemeinverbindlichen Orientierungspunkten verzichten. An deren Stelle treten das Konzept der Differenz und der praktische Umgang mit Differenzen in den Vordergrund, und zwar als positive Begrifflichkeiten. Ambivalenzen »zwischen Ganzheit und Differenz, Berufsarbeit und Nächstenliebe, Hilfe und Nichthilfe, Hilfe und Kontrolle, […] Integration und Desintegration, […] Problem und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Lösung, […] Ethik und Pragmatik« stellen sich also weniger als aufzulösende Probleme dar, sondern als Ausgangspunkt und Chance einer erfolgreichen Handhabung von Differenzen: »Menschen sind Ambivalenzmanager, Sozialarbeiter (und Psychotherapeuten, TL) unterstützen sie, dies erfolgreich zu sein« (Kühling, 2006, S. 138). Dabei kann auf unterschiedliche Weisen mit Differenzen umgegangen werden. Kühling nennt als mögliche Varianten Differenzbeobachtung, Differenzminimierung, Differenzakzeptanz oder gar Differenzmaximierung als gezielte Hervorbringung von Unterschieden, die Unterschiede machen (S. 139). Freilich löst Differenzhandhabung das Leiden an Konflikten und Differenzen nicht auf. So weist Wolfgang Krieger zu Recht darauf hin, dass sich ein beträchtlicher Teil des Leidens der Subjekte den Konflikten zwischen nach wie vor wirksamen Idealen der Moderne (z. B. das Recht auf wohlfahrtsstaatliche Sicherheitsgarantien usw.) und den sozialen Realitäten postmoderner Gesellschaften verdankt. Er beobachtet »dass die postmoderne gesellschaftliche Realität die Subjekte zum einen zunehmend den Risiken der Lebensführung überlässt und sie zum anderen zugleich immer weniger mit Kompetenzen der Ambivalenzbewältigung ausstattet« (Krieger, 2006, S. 106). Sie schwäche damit nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern gerade auch die Akzeptanz von Pluralität und führe zu fundamentalistischen »Rückbesinnungen« (S. 106): »In dem Maße, in dem flexibilisierte Gesellschaften die Anpassungsfähigkeit ihrer Bürger überfordern […], und zugleich nicht dafür Sorge tragen, dass die Entwicklung von Bewältigungskompetenzen ausreichend gefördert wird, bringen sie eine Ziel-Mittel-Diskrepanz hervor, die nicht nur ihre eigene Leistungsfähigkeit (nach innen und außen) in Frage stellt, sondern auch mehr und mehr Bürger vom gesellschaftlichen Produktionsprozess und von kultureller Teilhabe ausschließt« (Krieger, 2006, S. 107). Aus dieser Perspektive bedeutet Anpassung nicht in erster Linie Unterwerfung unter die Herrschaft vorgegebener Normen und Sinnsysteme, sondern stellt eine Voraussetzung für die Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunikation in den einzelnen Funktionssystemen dar. Dauerhafte Nichtanpassung führt ab einem gewissen Grad mehr oder weniger zwangsläufig zur Exklusion der Nichtangepassten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Das Problem liegt aus dieser Perspektive also weniger in der Tatsache der Anpassungsnotwendigkeit selbst als darin, dass die mangelnde Förderung von Bewältigungskompetenzen im Zusammenhang mit der sich rapide beschleunigenden Eigendynamik der Gesellschaftsentwicklung zu einem Riss in der Gesellschaft führt. Momentan können wir beobachten, dass der Riss größer wird. Die Frage aber, inwiefern dieser Riss behoben werden kann, scheint innerhalb der dominanten Funktionssysteme der Gesellschaft selbst nicht mehr beantwortbar zu sein, alle diesbezüglichen Diskurse sind ebenfalls hoch ambivalent. In der Regel wird daher die Bearbeitung dieser Frage an die Funktionssysteme der Sozialarbeit und Psychotherapie delegiert, was uns zum Thema der Funktion dieser Hilfesysteme führt.

Funktionale Differenzierung und Psychotherapie als ein besonderes Funktionssystem Kernpunkt der Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns ist die Theorie der funktionalen Differenzierung (für die nachfolgenden Ausführungen siehe ausführlich: Luhmann, 1997). Darunter ist die Gliederung der Gesellschaft in verschiedene, weitgehend autonome Teilsysteme gemeint, wie zum Beispiel Wirtschaft, Recht, Politik, Religion oder Wissenschaft. Diese Art der Differenzierung, die das Bild moderner und postmoderner Gesellschaften prägt, unterscheidet sich von vormodernen Formen der Differenzierung nach Clans in Stammesgesellschaften, nach Ständen im Feudalismus oder nach Klassen im aufsteigenden Industrialismus. Die Funktionssysteme sind füreinander Umwelt, so wie auch Menschen nicht Bestandteil dieser Funktionssysteme sind, sondern ihrer Umwelt zugerechnet werden. Für die Funktionssysteme sind also nur spezifizierte Handlungen und Kommunikationen der Menschen von Belang, letztere sind austauschbar und daher nicht als »ganze Personen« relevant. Um die jeweils relevanten kommunikativen Beiträge als Operationen eines bestimmten Funktionssystem identifizieren zu können, postuliert Luhmann für jedes Funktionssystem einen spezifischen »binären Code«, mit dessen Hilfe geregelt wird, welche Operationen im System anschlussfähig werden (z. B. Geldzahlungen in der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Wirtschaft) und welche nicht zum System gehören (z. B. unbezahlte Liebesdienste). Im Wirtschaftssystem geht es also um Zahlung/Nichtzahlung, in der Wissenschaft um Wahrheit/Unwahrheit-Codierungen, im Rechtssystem um Recht/Unrecht-Codierungen usw. Kommunikationen, die nicht über Zahlung oder Nichtzahlung vermittelt sind, sind aus der Perspektive des Wirtschaftssystems zunächst irrelevant. Ein Mensch ohne Geld, ohne Schulden oder ohne Girokonto existiert als Adressat des Funktionssystems Wirtschaft nicht. Komplexe Kommunikationsstrukturen mit einer Vielzahl von Themen (etwa Entscheidungsprozesse mit ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen und ökologischen Implikationen) können daher gleichzeitig anschlussfähig an unterschiedliche Funktionssysteme sein, ohne dass diese jeweils aufeinander direkt zugreifen könnten. Die Zugehörigkeit von Kommunikationen zu Funktionssystemen wird über deren Codes festgelegt, Wertfragen, ethische Prämissen und moralische Prinzipien sind ihnen daher äußerlich. Ob eine ökonomische Transaktion für einen guten oder schlechten Zweck durchgeführt wird, ändert nichts an ihrer Zugehörigkeit zum Wirtschaftssystem. Dennoch reagieren die Funktionssysteme natürlich auf Moral als systemübergreifendes Phänomen, gewissermaßen als Supercode. Da das Leiden an Armut und Exklusion, die Empörung über Ungleichverteilung wirtschaftlichen Reichtums und die Skandalisierung der Ausbeutung von Arbeitskräften aus dieser Perspektive nur in der Umwelt des Funktionssystems Wirtschaft stattfindet, müssen sie durch eine entsprechende Codierung in das System hineingenommen werden, um sie dort handhabbar zu machen – etwa indem die »politischen Kosten« einer solchen Empörung (z. B. von Arbeitsausfällen durch Streik oder Krankheiten) berechnet und in die Kalkulation wirtschaftlichen Handelns einbezogen werden. Die Funktionssysteme sind also ethisch blind, sie erzeugen aus sich heraus keine ethischen Maßstäbe für ihre Operationen. Das gilt selbst für das Rechtssystem, das zwar die Regulierung normativer Erwartungen zur Aufgabe hat, aber selbst keine Wertorientierung hervorbringt, sondern nur die verfahrensgerechte, legalitätsorientierte Abarbeitung normativer Problemlagen und Entscheidungen gewährleistet. Die Politik ist zwar moralsensitiver als andere Funktionssysteme, aber nur insoweit, als moralische Themen über die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Codierung Macht/Nicht-Macht Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen und damit wahlentscheidend sein können (z. B. Kampagnen sozialer Bewegungen, die im Ergebnis zu legislativen Entscheidungen führen). Die operative Bearbeitung moralischer Themen in der Politik folgt dann allerdings strikt den Machtimperativen des politischen Systems. »Kurz: die über binäre Eigencodierungen gesicherte Autonomie der Funktionssysteme schließt eine Metaregulierung durch einen moralischen Supercode aus […]. Die höhere Amoralität der Funktionscodes wird von der Moral selbst anerkannt; aber daraus folgt auch der Verzicht auf die Vorstellung einer moralischen Integration der Gesellschaft« (Luhmann, 1997, S. 1043). Im Unterschied zu früheren Gesellschaftsformen ist die funktional differenzierte Gesellschaft also nicht mehr durch Religion oder Moral zu integrieren. Moral wird vielmehr zur Umwelt aller Funktionssysteme, ihr Code trennt sich vom Rechtscode, vom Wissenschaftscode und auch vom Religionscode, was für Luhmann die Funktionsfähigkeit der Teilsysteme erst sicherstellt. Während dieser Sachverhalt aus der Perspektive einer moralischen Kritik an den bestehenden Verhältnissen selbst schon Anlass für Kritik darstellt, wird die Entkoppelung von Moral und Funktionssystemen von Luhmann positiv eingeschätzt, da moralische Kommunikation für ihn dazu tendiert, zu vermeidende Konflikte zu erzeugen anstatt Konsens herzustellen. Dennoch gesteht er Moral und Ethik die Funktion zu, den Codegebrauch der Funktionssysteme zu begrenzen und gewissermaßen als gesellschaftliches Alarmsystem zu fungieren, welches Probleme über die Grenzen der Funktionssysteme hinweg einer gesamtgesellschaftlichen Kommunikation zugänglich macht. Ein für den Bereich der Psychotherapie ganz wesentlicher Aspekt moralischer Kommunikation wird von Luhmann wie folgt beschrieben: »Moralische Kommunikation zeichnet sich vor anderen Kommunikationsweisen nicht dadurch aus, daß sie auf eine bestimmte Sorte von Regeln oder Maximen oder Prinzipien bezugnimmt, die sich als moralische (oder: sittliche) von anderen, zum Beispiel von rechtlichen unterscheiden. Eine solche, wechselseitig exklusive Abgrenzung ist, gerade auch für das Recht, undurchführbar. Moral ist, anders gesagt, nicht etwa angewandte Ethik. Vielmehr gewinnt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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sie ihr Medium durch Bezugnahme auf Bedingungen, unter denen Menschen sich selbst und andere achten bzw. mißachten. Die Möglichkeit, Achtung bzw. Mißachtung in Anspruch zu nehmen bzw. zum Ausdruck zu bringen, ist hoch diffus verfügbar. Die Form dieses Mediums grenzt sich nur dadurch ab, daß es nicht um Anerkennung von besonderen Fertigkeiten oder Leistungen von Spezialisten geht, sondern um Inklusion von Personen schlechthin in die gesellschaftliche Kommunikation« (Luhmann, 1997, S. 397). Hier kommt der spezifische Beitrag von Psychotherapie und Sozialarbeit ins Spiel! Da die Funktionssysteme als solche nicht die »Personen schlechthin« adressieren, sondern nur als Geldbesitzer, Rechteinhaber etc., können Fragen der Regulierung von sozialer Achtung nicht ihre Aufgabe sein. Entscheidend für sie ist ausschließlich, inwiefern die systemspezifischen Codes von den Personen bedient werden können. Die Schüler werden in erster Linie entlang der Unterscheidung Wissen/Nichtwissen beurteilt, der Staatsbürger entlang der Differenz von Recht/Unrecht, der Kunde nach zahlungsfähig/zahlungsunfähig usw. Wer nichts weiß, muss von der Schule, wer Unrecht begeht, wird bestraft, wer nicht zahlt, kann nicht am Wirtschaftsleben teilnehmen etc. Probleme, die sich daraus für die Betroffenen ergeben, sind für die Funktionssysteme Umweltfaktoren. »Die Gesellschaft exportiert ihre Irritationen auch in ihre personalen Umwelten. Die Folgen dieses Irritationsexports bekommen Psychotherapeuten (und andere Professionen) zu Gesicht. Als Gesellschaftsmitglieder werden Personen gewissermaßen in ihre Funktionssystem-Mitgliedschaften zerlegt; außerhalb der Funktionssysteme aber existieren sie als ›individualisierte Personen‹. Als solche sind sie in die Funktionssysteme deshalb nicht inkludierbar, weil dort die Zumutungen an das, was für vernünftig ausgewiesen wird, sich geändert haben. Was exportiert wird, ist systemdysfunktionale Unvernunft« (Buchholz, 1999, S. 146 f.). In Differenz zu einer ontologisierenden Perspektive auf »den Menschen« verwende ich hier das Konzept der »ganzen Person« als Adressat für psychosoziale Hilfeleistungen. Als soziologische Kategorie ist eine Person als Komplex von Zuschreibungen zu verstehen, welche die Bildung und die Regulierung von Erwartungen in sozialen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Beziehungen ermöglichen. Die Person ist also keine ontologische Kategorie, sondern zunächst eine Adresse für Kommunikation. Sie ist ein Ensemble sozialer Zuschreibungen und Erwartungen, welche nicht nur »von außen« beobachtet und gehandhabt werden, sondern auch im Laufe von familialen, schulischen und berufsbezogenen Sozialisationsprozessen so in die Eigenwahrnehmung aufgenommen und integriert werden, dass sie einen Kern erlebter Identität darstellen. Therapeutische Konversationen als Kommunikationssystem und damit alle Formen der Selbstäußerung, seien sie auch noch so emotional und spontan, sind immer schon sozial formatiert. Wir präsentieren uns in jeder sozialen Situation als Personen mit einer bestimmten Geschichte und einem bestimmten Habitus, der selbst durch unsere Geschichte sozial geformt ist. »Das Bewusstsein, eine Person zu sein, gibt dem psychischen System für den Normalfall das soziale o. k.; und für den abweichenden Fall die Form einer im System noch handhabbaren Irritation« (Luhmann, 1995, S. 154). Die ganze Person stellt für die Funktionssysteme der Gesellschaft eine prinzipielle Irritation dar. Buchholz zeigt, dass »Psychotherapie als Profession eine spezifische Systemleistung universalisiert, also Irritationsbewältigung für die Gesellschaft in einer Weise erbringt, die von keinem anderen Funktionssystem erbracht wird und werden kann« (Buchholz, 1999, S. 125). Der Export der Irrationalität aus den Funktionssystemen betrifft immer die ganze Person »und die soziale Kontrolle von deren Abweichungen ebenfalls« (S. 147), das heißt, man kann sich nur als ganze Person einer Psychotherapie unterziehen, sich in der Psychiatrie oder im Gefängnis aufhalten, nicht aber bloß mit bestimmten funktionsspezifischen Verhaltensweisen. »Die Existenz ›ganzer Personen‹ und deren ›Unvernunft‹, die als solche aus Funktionssystemen exkludiert wurden, sind somit jenes Kernproblem, um das herum sich autokatalytisch« unter anderem die Funktionssysteme der Psychotherapie und Sozialarbeit herausgebildet haben (Luhmann, 1997, S. 1478). Die Systemlogiken dieser Hilfesysteme unterscheiden sich insofern deutlich von der Logik anderer gesellschaftlicher Teilsysteme, als sie die Person nicht in ihre funktionsspezifischen Kommunikationen »zerlegen«, sondern als ganze Personen adressieren. Damit ähnelt die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Kommunikationsstruktur von Psychotherapie und Sozialer Arbeit derjenigen von Intimbeziehungen, in denen die »Höchstrelevanz« der Person ebenfalls das zentrale Strukturmerkmal darstellt (auch wenn diese Struktur im Unterschied zu letzteren radikal asymmetrisch angelegt ist).

Die Perspektive der »ganzen Person« als Bezugspunkt therapeutischer Ethik Als Therapeuten ist uns selbstverständlich, dass Personen gerade in ihrer Individualität sozial anerkannt sein müssen, um überhaupt überleben zu können. Der ganze Bereich der primären Sozialisation, das Familienleben sowie Freundschafts- und Liebesbeziehungen sind auf dieser Anerkennung aufgebaut, der Zugang zu den gesellschaftlichen und mit einer anderen Logik ausgestatteten Funktionssystemen erfolgt erst später und schrittweise. In vormodernen Zeiten gehörten die Menschen als ganze Personen zu ihren sozialen Gemeinschaften und Bezugssystemen, auch die Dummen und Irren, Kranken und Behinderten. Im Zuge der funktionalen Differenzierung sind die Personen als solche immer weniger von Bedeutung. Nimmt man die Orientierung an der ganzen Person als zentrales Merkmal von Psychotherapie und Sozialer Arbeit zum Ausgangspunkt, zeigt sich, dass die Beobachtung der Gesellschaft aus der Perspektive psychosozialer Hilfen eine moralische Perspektive auf die Bedingungen der notwendigen Achtung von Menschen als ganzer Person geradezu erzwingt, für die die Inklusion in die unterschiedlichen sozialen Systeme konstitutiv ist. Erst aus dieser Perspektive kann überhaupt die Parteinahme für das Individuum gegen die Ansprüche der Funktionssysteme evident werden. Der gesellschaftliche Stellenwert von Hilfesystemen ergibt sich also daraus, dass den Funktionssystemen etwas abgenommen wird, was diese nicht zu leisten vermögen. Gleichzeitig wird der Erfolg der Hilfe aber daran gemessen, ob die Person auch wieder in die Lage kommt, ihre gesellschaftlichen Anforderungen zu erfüllen. Mit Wolfgang Krieger lässt sich sagen, dass sich damit in »Identitäts-, Motiv- und Handlungskonflikten der Klientel […] die Ambivalenzkonflikte postmoderner Gesellschaften ebenso [widerspiegeln] wie in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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den Doppelbotschaften des gesellschaftlichen Auftrags« von Sozialer Arbeit und Psychotherapie, nämlich »die Schrecken der Desintegration in Schach zu halten und zugleich dem Menschlichen zu dienen« (Krieger, 2006, S. 109). Moralische Kommunikation, die im Wesentlichen auf wertebezogener Achtung und Missachtung beruht, ist sowohl auf Inklusion wie auf Exklusion angelegt: Moralische Zustimmung sichert Zugehörigkeit, Nicht-Zustimmung führt zum Ausschluss aus der Wertegemeinschaft. Wenn auf die »Vorstellung einer moralischen Integration der Gesellschaft« (Luhmann, 1997, S. 1043) verzichtet werden muss, weil es außerhalb der Gesellschaft nichts gibt, gegen das sich diese moralisch abgrenzen könnte, geraten moralische Diskurse schnell in Schwierigkeiten. Innerhalb der Gesellschaft ist eine Zunahme von Wertekonflikten zu beobachten, die selbst kein Rüstzeug für ihre Lösung beinhalten: »Werte enthalten keine Regel für den Fall des Konfliktes zwischen Werten. Es gibt, wie oft gesagt, keine transitive oder hierarchische Ordnung der Werte« (S. 799). Und: »Je mehr Werte, desto weniger ist ihnen zu entnehmen, wie zu entscheiden ist« (S. 800). Gleichwohl kommen wir nicht ohne Werte aus. Ohne Werte wären wir nicht nur außerstande, unser Handeln konsistent zu orientieren, wir hätten wohl auch Schwierigkeiten, unsere Wahrnehmung zu organisieren. George Spencer Brown formuliert gleich zu Beginn seiner »Gesetze der Form«: »Es kann keine Unterscheidung geben ohne Motiv, und es kann kein Motiv geben, wenn nicht Inhalte als unterschiedlich im Wert angesehen werden« (Spencer Brown, 1997, S. 1). Schon die basalen Operationen einer Unterscheidung setzen bereits eine Wertsetzung voraus. Mit einem Ambivalenzen zulassenden differenztheoretischen Konzept müssen wir akzeptieren, dass die Zahl der Möglichkeiten auch in Bezug auf die Geltendmachung von Werten groß ist und jederzeit gesteigert werden kann. Daraus lässt sich aber andererseits auch nicht – wie man vielleicht vorschnell vermuten könnte – eine Beliebigkeit von Werten ableiten. Das Ergebnis wäre allenfalls eine zynische und keine ethische Haltung. Jedes – insbesondere professionelles – Handeln muss Werte als Orientierungsrahmen zur Verfügung haben. Als systemische Therapeuten müssen wir uns also © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Gedanken machen, welche Werte unsere gesellschaftliche Funktion besonders sinnhaft zum Ausdruck bringen. Ich glaube nicht, dass es der Widerstand gegen die gesellschaftlichen dominanten Diskurse ist, der als Integrationswert für unsere systemische Zunft taugt. Es ist nicht anders als bei der Psychoanalyse: Wer mit dieser Gesellschaft im Reinen ist, wird die Anpassungsseite aus weltanschaulichen oder pragmatischen Gründen vertreten können, wem sie ein Gräuel ist, wird genauso plausibel in der Anpassung ein Instrument der Unterdrückung erblicken können. Stattdessen könnte der Fokus, der uns von anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen unterscheidet, vielleicht einen Hinweis auf eine mögliche gemeinsame Wertorientierung sowohl im Umgang mit Klienten als in Hinblick auf die Beobachtung der Gesellschaft bieten. Der Fokus auf die ganze Person erfordert nämlich eine entsprechende Wertorientierung. Die Unverletzbarkeit der körperlichen Integrität, die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, das Recht auf Entwicklung, Nahrung und Bildung, das Streben nach Liebe und Glück, das Recht auf Teilhabe an Kommunikation und Gesellschaft, all diese Werte erfordern, dass man den Bezug auf die Person, das heißt den Menschen als soziales Wesen und soziale Adresse, herstellt und aufrechterhält. Das Wirtschaftssystem kann als solches mit Menschenrechten solange nichts anfangen, bis es zu teuer wird, sie zu missachten. Das Rechtssystem mag zwar in der Person nach mildernden Umständen suchen, es interessiert sich aber vorrangig für die Unrechtmäßigkeit ihrer Taten. Das Schulsystem erwartet von der Person den motivationalen Input als Gleitmittel für die Realisierung der Systemleistung, die Schulabschluss heißt. In allen diesen Fällen ist die Person Umwelt, die allenfalls in Rechnung gestellt werden muss. Als Psychotherapeuten haben wir es eben nicht bloß mit psychischen Systemen zu tun, in deren Umwelt Person vorkommt, sondern mit ganzen Personen, die sich selbst leiblich, geistig und seelisch als solche erleben und adressieren. Der daraus resultierende Respekt vor der Person kann uns helfen, das »dominante Gerede« in der Gesellschaft daraufhin zu beobachten, wie sich Klienten dazu in Bezug setzen und handelnd orientieren. Sie dabei zu begleiten und ihnen unsere Beobachtungen auf methodisch kontrollierte Weise zur Verfügung zu stellen, ist unsere © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Aufgabe und Möglichkeit als Therapeuten, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Als Beobachter von Gesellschaft können wir aus dieser Perspektive eine Menge in die öffentlichen Diskurse darüber einbringen, welche Folgen es hat, wenn immer mehr Personen aus den relevanten Funktionssystemen herausfallen, wenn die Perspektive der Person immer weniger in den Funktionssystemen reflektiert wird, weil diese gerade hier ihre eigenen blinden Flecke haben. Die enorme Karriere, die das Coaching als personenbezogene Beratungsleistung in den letzten zwei Jahrzehnten durchlaufen hat, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass auch in der Wirtschaft gesehen wird, dass die Person als solche auch innerhalb des Funktionssystems repräsentiert sein muss, um sie als Umweltressource besser nutzen zu können. Die Perspektive auf die Person darf aber nicht auf die Unterstützung von sogenannten Leistungsträgern beschränkt sein. Sie hängt nicht von der Qualität oder dem Wert der Person ab, sondern muss sich selbst Bezugspunkt sein. Darin liegt die implizite Ethik psychotherapeutischen Handelns. Ob es hilfreich ist, sie im Sinne eines Wertekataloges zu explizieren, möchte ich offen lassen. Schließen möchte ich mit einem Zitat von Heinz von Foerster, der zu diesem Thema gesagt hat: »Ich möchte Sprache und Handeln auf einem unterirdischen Fluss der Ethik schwimmen lassen und darauf achten, dass keines der beiden untergeht, so dass Ethik nicht explizit zu Wort kommt und Sprache nicht zur Moralpredigt degeneriert« (von Foerster, 1993, S. 68 f.). Literatur Aßmann, A. (2006). Angenommen, es gäbe keine Unfreiheiten. Über die Bedeutung des Spätwerks von Michel Foucault für die Auslegung moderner Aporien und die Kritik von Interventionsnormen. Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung, 24 (2), 89–97. Baecker, D. (2007). Communication with computers, or how next society calls for an understanding of temporal form. Soziale Systeme, 13 (1+2), 409–420. Bröckling, U. (2007). Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M. Suhrkamp. Buchholz, M. B. (1999). Psychotherapie als Profession. Gießen: Psychosozial. Castells, M. (2001). Das Informationszeitalter. Band III: Jahrtausendwende. Opladen: Leske + Budrich. Foerster, H. von (1993). KybernEthik. Berlin: Merve.

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Die Perspektive der »ganzen Person«211

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Matthias Ochs und Julia Thom

Psychotherapie(-forschung) in postpolitischen Zeiten

Vorbemerkung Dieser Beitrag beschreibt entlang berufs-, fach- und gesundheitspolitischer Diskurse die paradoxe Situation der Psychotherapie und ihrer Beforschung: Während ihre wissenschaftliche Befundlage so komplex und widersprüchlich scheint, dass selbst Grundsatzfragen bisher ungeklärt immer wieder neu verhandelt werden, stellt sich die Situation der Versorgungspraxis als festgelegt und kaum mehr gestaltbar – hier: postpolitisch – dar. Es wird argumentiert, dass die theoretische Reflexion und empirische Analyse eben dieser Besonderheit des Diskurses um Psychotherapie(-forschung) so wertvoll wie notwendig für die Weiterentwicklung des Feldes ist.

Einführung: »What every schoolboy (doesn’t) know …«1 Forschung und Wissenschaft finden, auch im Fall der Psychotherapie, nicht im luftleeren Raum statt – das weiß jeder Schuljunge. Mittelvergaben für diese Veranstaltungen sind immer auch politisch motiviert und vice versa werden Forschung und Wissenschaft für die Lenkung von Ressourcenverteilungen und politischen Meinungsprozessen genutzt. Idealistisch motiviert, wie manche, vor allem älteren, Schuljungen es aus entwicklungspsychologisch gut verstehbaren Gründen sein mögen, will man meinen, dass es hier doch um Wahrheit gehen müsste, denn schließlich besteht der Kernprozess des Wissenschaftssystems (im Sinne eines gesellschaftlichen Funktionssystems nach 1

In Anlehnung an den Titel eines Kapitels in »Mind and Nature« von Gregory Bateson.

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Luhmann, 1977) zum eigenen Fortbestand darin, die Unterscheidung zwischen »wahr« und »nicht wahr« herzustellen (Luhmann, 1990). Im luftleeren Raum wäre dies so, in der Realität liegen Forschungsvorhaben und ihre Institutionen meist im unübersichtlichen Schnittbereich mehrerer Funktionssysteme. Beispielsweise lässt ein Blick auf ein Universitätskrankenhaus, wie das Universitätsklinikum Heidelberg,2 leicht erkennen, dass dieses als Organisation zumindest an drei gesellschaftlichen Funktionssystemen partizipiert: dem Gesundheitssystem (mit dem Kernprozess, Heilung zu produzieren, bzw. zwischen krank/gesund zu unterscheiden), dem Wirtschaftssystem (mit dem Kernprozess, Geld zu verdienen) und eben dem Wissenschaftssystem.3 Entscheidungen dieser Organisation richten sich folglich nach den durchaus schwer vereinbaren Eigenlogiken dieser drei Funktionssysteme. Hinzukommt der verkomplizierende Umstand, dass Forschung von Menschen gemacht wird. Sie fungieren Organisationen als Umwelten, nicht als deren Elemente, wie die Systemtheorie beschreibt (vgl. Simon, 2007). Die Mitarbeitenden (man stelle sich etwa einen Psychotherapieforscher vor) können sich von den Systemlogiken (kontingent) anregen und beeinflussen lassen, können darüber hinaus aber auch eigene Ziele, wie zum Beispiel bestimmte Karrierewege, verfolgen. Daraus resultiert nicht selten, was in der Psychotherapieforschung »Allegiance-Effekt«4 bekannt ist: Der illuminierte Psychotherapieforscher produziert »Wahrheit« (For2 Am Institut für Medizinische Psychologie hatten wir die Freude und Ehre, viele Jahre mit Jochen Schweitzer gemeinsam Systemisches im Kontext von Forschung und Wissenschaft »auszuhecken« und zu realisieren. 3 Ein weiteres für diese Organisation relevantes gesellschaftliches Funktionssystem ist zudem die in den einführenden Sätzen bereits erwähnte Politik (mit dem Kernprozess, Machtverhältnisse zu produzieren). 4 Mit diesem Effekt ist gemeint, »dass die präsentierten Effekte von klinischen Studien durch die ›Überzeugung/Überzeugtheit‹ (Allegiance) der Wissenschaftler hinsichtlich des von ihnen präferierten Psychotherapieverfahrens beeinflusst werden. Sowohl die Untersuchungsmethode als auch Auswertung und Darstellung von Ergebnissen können durch interessengeleitete Erkenntnisse beeinflusst sein« (Fydrich u. Schneider, 2007, S. 63). Zudem haben die Forschenden in »ihrem« Verfahren häufig eine besondere Expertise, was ebenfalls zu den positiven Befunden beiträgt.

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schungsergebnisse), die günstigerweise die Wirksamkeit einer spezifischen Therapiemethode belegt (und die somit der Heilung dient) und deshalb auch publikationswürdig in Fachzeitschriften mit hohen Impact-Faktoren ist (wovon u. a. die finanziellen Mittelzuweisungen abhängig sein können). Zudem verfolgt der Psychotherapieforscher somit persönliche akademische Ziele (z. B. mit den Forschungsergebnissen zu habilitieren) und er ist als Experte ein gern gesehener und gut bezahlter Referent zur beforschten Therapiemethode in privatwirtschaftlich organisierten Psychotherapie-Ausbildungsinstituten.5 Diese hier nur skizzenhaft angedeutete Gemengelage, in der der vorgestellte Psychotherapieforscher zu agieren und zu navigieren versucht, kann einem schnell auch als eine Art Spiel erscheinen – eine Perspektive, die Jochen Schweitzer, Arist von Schlippe und ich, Matthias Ochs, schon in unserer ersten gemeinsamen Publikation 1997 eingenommen haben (Ochs, von Schlippe u. Schweitzer, 1997). Dort sprachen wir vom »Evaluationsspiel« und erstellten, ein wenig (aber nicht nur) ironisch, eine Anleitung dafür, wie man in diesem Spiel erfolgreich sein kann. Es gilt schlicht die Grundregel zu berücksichtigen, dass sich hohe Effektstärken in psychotherapeutischen Wirksamkeitsstudien unter Einhaltung bzw. Modifikation bestimmter statistischer Untersuchungsprozedere erzeugen lassen sich – fast völlig unabhängig vom untersuchten Gegenstandsbereich. In Reminiszenz und einleitend in den weiteren Text findet sich in Abbildung 1 hier nochmals die Anleitung. Welchen weiteren Regeln dieses »Psychotherapieforschungsspiel« folgt und unter welchen Rahmenbedingungen es veranstaltet wird, soll ausgehend von den aktuellen berufs-, fach- und gesundheitspolitischen Diskursen im Folgenden beleuchtet werden.

5

Die Pflege dieses Kontakts zu privatwirtschaftlich organisierten Psychotherapieausbildungsinstituten wäre dem Psychotherapieforscher auch anzuempfehlen, da der akademische Karriereweg alles andere als glatt und sicher ist und mindestens ein Plan B und C zu diesem in der Tasche vorhanden sein sollte.

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Anleitung für Erzeugung hoher Effektstärken in Effizienz-Studien •• den Klienten nicht verbergen, daß ihre Therapie gerade wissenschaftlich untersucht wird, •• nur Meßinstrumente einsetzen, die das konkrete Verhalten der Klienten erfassen, •• Erfolgsmaße verwenden, die durch die Therapie sehr direkt beeinflußt werden, •• den Therapieverlauf möglichst weitgehend standardisieren, •• hinreichen viele Erfolgsmaße einsetzen, aber nicht über zu viele in der Publikation berichten, möglichst nur die beseten Erfolgsmaße veröffentlichen, •• möglichst große Stichproben verwenden, •• die Ausfallrate der Therapien niedrig halten, •• Therapien mit größeren Sitzungszahlen untersuchen. Abbildung 1: Anleitung für die Erzeugung hoher Effektstärken in EffizienzStudien (aus Ochs, von Schlippe u. Schweitzer, 1997, S. 58)

Psychotherapieforschung Ist es denn angemessen, einer so ernsthaften Angelegenheit wie der Psychotherapieforschung allein als »Spiel« zu betrachten? Sicherlich ist dieses nur eine mögliche Perspektive, wenn auch eine nützliche, um die Besonderheiten dieses Feldes durch Einbezug seines Kontextes zu verstehen. Im Kern beschäftigt sich Psychotherapieforschung bekanntlich mit der Wirksamkeit und Wirkweise psychotherapeutischer Verfahren in Form von Ergebnis- und Prozessforschung, Metaanalysen, epidemiologischen und gesundheitsökonomischen Untersuchungen und vielem mehr. Als Eröffnung dieser wissenschaftlichen Stoßrichtung mag die von Eysenck 1952 publizierte Studie »The Effects of Psychotherapy: An Evaluation« zählen. Kam diese noch zu dem vernichtenden Ergebnis, dass Psychotherapie bestenfalls die Spontanremission nicht verhindert, so liegen heute vielfältige Belege ihrer Wirksamkeit vor. Die umfängliche Datenlage wird regelmäßig neu zusammengetragen in der »Bibel« der Psychotherapieforschung, »Bergin and Garfield’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change«, das im Februar 2013 in der 6. Auflage erschien (Lam© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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bert, 2013).6 1970 hat sich die »Society of Psychotherapy Research« (SPR) gegründet. Sie gibt seit 1991 die Fachzeitschrift »Psychotherapy Research« heraus, im Jahr 2010 mit einem vergleichsweise in diesem Feld hohen Impact-Faktor von 1.708. Darüber hinaus publiziert die Scientific Community rege in einer großen und wachsenden Vielfalt sowohl verfahrensübergreifender und als auch verfahrensspezifischer nationaler und internationaler Fachjournals der Grundlagen- und angewandten Forschung. So kann Psychotherapieforschung inzwischen auf eine Ge­schichte von fast einem Dreivierteljahrhundert zurückblicken. Eine ihrer prominentesten Vertreter, Grawe (1997), unterschied vier Phasen ihrer Entwicklung. Während anfangs zu klären galt, ob Psychotherapie überhaupt wirkt (Legitimationsphase), folgte dann eine Phase der Konkurrenz zwischen verschiedenen Verfahren um die überlegene Wirksamkeit (Wettbewerbsphase). Schließlich entwickelte sich Konsens darüber, dass spezifische Verfahren differenziell bei spezifischen Umständen, Störungsbildern, Klientel indiziert sind (Verschreibungsphase). Während diese ersten drei Phasen »konservativ« nach der Wirksamkeit von Psychotherapie fragen, befinden wir uns nach Grawe heute in der progressiven Zeit der »Prozessforschung«, die das Verständnis der Mechanismen von Psychotherapie zum Gegenstand hat und auf deren Weiterentwicklung hin ausgerichtet ist. Während Grawe mittels dieser Phasen die historischen Entwicklung der Forschungstradition als Ganzes beschreibt, scheint darüber hinaus jede Neu- und Weiterentwicklung eines therapeutischen Verfahrens diese für sich zu durchlaufen, weshalb mit Blick auf das Gesamt der Psychotherapieforschung Studien den verschiedenen Zwecken der Legitimation, Wettbewerbsfähigkeit, spezifischen Indikation und Weiterentwicklung dienen mögen bzw. sie vereinbaren zu müssen. 6 Pikanterweise fehlt ein Kapitel zum Stand der Forschung, was systemische Psychotherapie angeht – trotz deren internationalen klinischen Verbreitung und wissenschaftlichen Anerkennung, in Deutschland etwa durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP nach § 11 PsychThG) auf der Grundlage einer Expertise, an der Jochen Schweitzer maßgeblich mitgearbeitet hat (von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2007).

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Angesichts dieser langjährigen und extensiven weltweiten Forschungsaktivitäten könnte man meinen, dass die grundlegendsten Fragen zum Gegenstandsbereich inzwischen geklärt sein sollten. Betrachtet man sich jedoch die berufs-, fach- und gesundheitspolitischen Diskurse im Kontext von Psychotherapie (etwa in den letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland), dann scheint vielmehr das Gegenteil der Fall: Grundsatzdiskussionen werden immer wieder von neuem mit einem scheinbar austauschbaren Arsenal empirischer Argumente geführt. Verantwortlich für diesen Umstand lassen sich vorrangig drei Gründe machen: 1. Der Befundkorpus der Psychotherapieforschung ist komplex, vielfältig und auch widersprüchlich.

Die Bewegungen der Psyche sind multifaktoriell bedingt, was ihre Beforschung und Behandlung erschwert. Auf Basis von empirischen Daten Therapieempfehlungen zu geben ist meist nur bei Berücksichtigung einer großen Zahl spezifizierender Variablen erfolgreich. Ein Beispiel dafür ist die Auswirkung der elterlichen Trennung oder Scheidung auf die Kinder, die im Verlaufe vieler therapeutischer Prozesse mit Blick auf die Biografie der Klient/-innen ätiologisch bedeutsam und auch bei Partnerschaftskonflikten Thema werden kann. Seit vielen Jahren tauchen immer wieder Untersuchungen auf, mit teils entsprechendem medialen Echo, die zeigen, dass elterliche Trennung für betroffene Kinder negative psychische Auswirkungen hat, die teils noch lange bis ins Erwachsenenalter anhalten bzw. dort erst virulent werden können (»Sleeper-Effekte«, z. B. Wallerstein, Lewis u. Blakeslee, 2002; Marquardt, 2007; Mühl, 2011). Genauso regelhaft kann man von Studien lesen, die keine größeren seelischen »Scheidungsschäden« bei betroffenen Kindern ausmachen und gar im Gegenteil die Entwicklung seelischer Resilienz belegen (z. B. Largo u. Czernin, 2003; Sieder, 2008). Dieser Widerspruch, auch wenn er nachvollziehbar sein mag, stellt die Praktiker vor Fragen. Dabei haben wir es hier noch mit einem scheinbar überschaubaren Gegenstand der Grundlagenforschung zu tun. Kommen im Rahmen

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der Interventionsforschung zudem Interessenlagen der beteiligten Akteure hinzu, wird die Lage noch unübersichtlicher.7 2. Die wissenschaftliche Befundlage bildet sich in der Berufspraxis nicht ab (bzw. steht mir ihr im Widerspruch), weil Wissenschaft und Praxis zu eigenständigen Funktionssystemen gehören und praktizierende Psychotherapeuten kaum Forschungsliteratur lesen.

Obiges Beispiel macht durchaus nachvollziehbar, weshalb Berufspraktiker sich kaum die Mühe machen, sich im Dickicht der empirischen Befunde zu orientieren. Padberg (2012) begründet, dass Psychotherapeuten keine Forschungsliteratur lesen, weil diese weder instruiert noch informiert noch inspiriert, weshalb wir wir heute noch weit entfernt von einer »evidenzbasierten Psychotherapie« (Fydrich u. Schneider, 2007) sind. Auch aus systemtheoretischer Sicht ist dies einleuchtend (vgl. Ochs, 2013): Praxis und Forschung gehören zu unterschiedlichen gesellschaftlichen autopoietischen Funktionssystemen, die sich gegenseitig lediglich Intransparenz, Kontingenz und Komplexität zur Verfügung stellen: Das, was in der Praxis passiert, wird zwar irgendwie von Forschung verarbeitet – ohne dass die Praxis allerdings in irgendeiner direkten Art und Weise darauf einwirken könnte, was konkret und wie beforscht wird; gleichzeitig folgt die Praxis ihrer eigenen praxeologischen (System-)Logik, jenseits des direkten Zugriffs der Wissenschaft.8 Die professionelle Praxis im konkreten institutionellen Kontext hat meist nur wenig 7 Eine Assoziation sei in diesem Zusammenhang erlaubt aus einem anderen Politikfeld, in dem Forschungsbefunde ge-/benutzt werden: Wer kann sagen, wie robust die empirischen Beweise für bzw. gegen den Klimawandel sind? 8 Ein weiterer Grund hierfür mag in dem generationalen Übergang eines »klassischen« Wissenschaftlertypus zu einem »neuen« Wissenschaftlertypus liegen, wie ihn Reiter und Steiner (1996) beschreiben: Während die »klassischen« Psychotherapieforscher in der Versorgung tätige Praktiker sind, die ihre klinische Arbeit in Form von Kasuistiken oder theoretischen Schriften reflektieren und damit vor allem in der Aus-, Weiter- und Fortbildung von Psychotherapeuten wirken bzw. in Monographien publizieren, ist der neue Typus der Psychotherapieforscher an universitären Einrichtung tätig, verfügt über wenig praktische Erfahrung und schließt sich der Beforschung von Psychotherapie nach dem jeweiligen akademischen Paradigma und den

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mit ihrer akademischen Repräsentation in der Forschung gemein, sodass die Aussagekraft der Befunde häufig begrenzt ist. Auf diese Weise trägt das Nebeneinander beider Systeme grundlegend zum Eindruck der Uneindeutigkeit der Befundlage bei. 3. Berufs-, fach- und gesundheitspolitische Diskurse werden von praktizierenden Psychotherapeuten (»Praktikern«) geführt. Wenn Forschungsliteratur innerhalb wie außerhalb des Berufsstandes rezipiert wird, dann selektiv so, wie es für die Durchsetzung der eigenen politischen Interessen gerade nützlich erscheint.

Psychotherapie ist auch deshalb keine rein »angewandte Wissenschaft«, weil Wissenschaft bzw. ihre Interpretation nicht frei von ökonomischen Zweckrationalitäten ist und Befunde dahingehend relativiert werden müssen. In den berufs-, fach- und gesundheitspolitischen Diskursen wird sie von den beteiligten Akteuren, die in der Regel Praktiker/-innen und nicht Forscher/-innen sind, nach dem Prinzip »Auch die Wissenschaft hat festgestellt, dass …« eingesetzt: »Die Berufung auf Wissenschaft spielt in diesen Anerkennungskämpfen eine wesentliche Rolle. Jeder Anbieter psychotherapeutischer Dienstleistungen versucht, wissenschaftliche Evidenz für sein Verfahren aufzubieten. Dabei wird die Eindeutigkeit der Befundlage in der Regel überinterpretiert« (Fürstenau, 2000, S. 188). Auch dieses Phänomen mag ein gegenwärtiges Beispiel illustrieren: In einem aktuellen Artikel (Knappe, Müller u. Härtling, 2013) aus dem Psychotherapeutenjournal, der für den Berufsstand der Psychotherapeuten verfahrensübergreifenden Zeitschrift, sind zum Einbezug der Eltern in die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie die Aussagen zu finden, dass es nur »limitierte Wirksamkeitsnachweise bezüglich des Einbezugs von Eltern bei Präventions- und Interventionsmaßnahmen« (S. 246) gebe, bzw. »dass der Einbezug von Eltern in kontrollierten Wirksamkeitsstudien bisher fast ausschließlich im Rahmen von kognitiv-verhaltenstherapeutischen Programmen realisiert wurde« (S. 247). Sehr anschaulich wird hier ein Vorgaben der akademischen Karriereleiter an, publiziert und wirkt damit vor allem innerhalb der Medien der Scientific Community und ohne von den Praktikern in größerem Umfang rezipiert zu werden.

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ganzes Feld an Befunden von kontrollierten Wirksamkeitsstudien zur systemisch-familientherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen (von Sydow et al., 2007; von Sydow, 2012) ausgeblendet. Über die Ursachen lässt sich spekulieren: Sind diese Daten den Autor/innen schlicht nicht bekannt (obwohl Systemische Therapie seit 2008 auch vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) auf Basis kontrollierter Wirksamkeitsstudien sowohl für die Psychotherapie von Erwachsenen als auch von Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich anerkannt ist)? Oder geht es darum, den Einbezug von Bezugspersonen in Psychotherapie als Innovation der Verhaltenstherapie zu deklarieren? Wir wissen es nicht …

Psychotherapieforschung im berufs-, fach- und gesundheitspolitischen Diskurs Unser eingangs fantasierter Psychotherapieforscher bewegt sich also in einem Feld, in dem Wahrheit, Heilung, Macht und Geld verhandelt werden. Die unterschiedlichen Erkenntnisaufträge und Rezeptionsinteressen aus Wissenschaft und Praxis muss er darüber hinaus mit (üblicherweise schwer planbaren) persönlichen Karrierezielen vereinbaren. Aus dem Zusammenspiel all dieser Faktoren bringt die Scientifc Community eine üppige Forschungslandschaft hervor, in der eindeutige Ergebnisse schwer zu finden sind. Dies leistet dem Phänomen Vorschub, dass Grundsatzfragen je nach Interessen der Diskursteilnehmer/-innen immer wieder neu aufs Tablett kommen und scheinbar niemand so recht sagen kann, ob sie bisher nun einigermaßen befriedigend geklärt werden konnten. Hier einige Beispiele dieser »Evergreens«. Wirkt Psychotherapie denn überhaupt? Wirkt Psychotherapie denn überhaupt? In einem Wort gesagt: ja, mit vier Worten gesagt: Es kommt darauf an. Die Evidenzbasis für die allgemeine Wirksamkeit von Psychotherapie ist breit. Auch wenn die Effektstärken schwanken mögen (siehe Anleitung oben), lassen sich unzählige kontrollierte Wirksamkeitsstudien für psychotherapeutische Verfahren finden (für einen internationalen Überblick siehe Lambert, 2013, für die in Deutschland verbreiteten Ansätze siehe © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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zum Beispiel Reimer, Eckert, Hautzinger u. Wilke, 2007). Auch aus ihrem subjektiven Erleben attestieren Nutzer/-innen von Psychotherapie ihrer Behandlung große Wirksamkeit (Stiftung Warentest, 2011). Während den Wirksamkeitsbelegen aus klinischen Studien häufig mangelnde externe Validität vorgeworfen wird, zeigt auch die groß angelegte Untersuchung der Versorgungspraxis durch die Techniker Krankenkasse Wittmann et al., 20119) klare Symptomverbesserungen bei den Teilnehmer/-innen. Trotz dieser empirischen Argumente halten sich Zweifel an den Möglichkeiten psychotherapeutischer Behandlung, vor allem in der Ärzteschaft. Die Kritik stützt sich dabei ihrerseits auf Befunde der Psychotherapieforschung (sic!): »Hausärzte behandeln etwa zwei Drittel der depressiven Patienten – und zwar mit gutem Erfolg. Die Besserung ist mehreren Studien zufolge so deutlich wie nach Therapie beim Psychiater oder Verhaltenstherapeuten. Darauf weist Professor Michael Linden von der Charité Berlin hin« (Ärzte-Zeitung, 2008, S. 1). Nicht selten wird dann, wie auch in einem Leserbrief (info. doc, 2012) eines Facharztes für Allgemeinmedizin10 aus den konvenierenden Befunden (hier Scott u. Freemann, 1992) geschlussfolgert: »Statt 4000 € für Richtlinien-Psychotherapie auszugeben, sollte lieber der Hausarzt […] gestärkt werden. Dort ist das Geld besser angelegt.« Neben Befunden der Psychotherapieforschung werden für solcherlei Argumentationen gerne auch Analyse von Routinedaten der Krankenversicherungen herangezogen, die zum Beispiel zeigen, dass Psychotherapie nicht zu einer Absenkung von Arztbesuchen, Krankenhaus- oder Medikamentenkosten führt (Grobe, Dörning u. Schwartz, 2007). Besonders virulent wird eine solche Haltung der Ärzteschaft dann, wenn sie auch von Mächtigsten im Gesundheitssystem geteilt   9 Diese methodisch elaborierte, aktuelle Studie aus dem Jahr 2011 belegt in beeindruckender Weise die Wirksamkeit und Kosteneffizienz von in der realen Versorgung stattfindender Psychotherapie in Deutschland (Wittmann et al., 2011). 10 Info.doc (2012, S. 41 f.). Hier muss allerdings erwähnt werden, dass die Autorin des Artikels zur TK-Studie, auf den sich der Leserbrief bezieht, umgehend dazu Stellung nahm und die im Leserbrief genannten Argumente kritisch diskutierte.

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wird wie im Fall von Josef Hecken, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Er empfahl während einer öffentlichen Sitzung des Gremiums, »man benötige nicht für jeden Bürger einen Psychotherapeuten, eine Flasche Bier tue es manchmal auch« (Ballwieser u. Teevs, 2013). Angesichts einer solchen Aussage erscheint es unnütz, »spitzfindig« darauf hinzuweisen, dass Psychotherapie im Vergleich der Effektstärken mit Somatotherapie (z. B. Pharmakotherapie oder Operationen somatischer Erkrankungen) zugunsten der Psychotherapie ausfällt.11 »Ist Oma der bessere Psycho-Doktor?« »Oma ist der bessere Psycho-Doktor«, so betitelte die Frankfurter Rundschau einen Artikel, in dem der prominente Arzt und katholische Theologe Manfred Lütz medienwirksam gegen Psychotherapie wettert. Er schließt an die alte Debatte an, Laienratschläge könnten genauso hilfreich oder gar hilfreicher sein als Interventionen, die von etwa approbierten Psychotherapeuten durchgeführt werden: »Therapeuten sind Leute, die gut in der Schule waren, anschließend sehr, sehr viele Bücher gelesen haben und dann in kleinen, hässlichen Räumen mit gestörten Menschen ihre Zeit verbracht haben. […] Ein Therapeut hat nicht mehr Lebenserfahrung als ein guter Freund oder eben ein altes Mütterchen, das schon einige Krisen durchlebt hat. Auch wenn er das vielleicht nie zugeben würde« (Ahlers, 2012). Tatsächlich kann auch diese These mit Resultaten aus dem überreichen Fundus der Psychotherapieforschung bestätigt werden (z. B. Hattie, Sharpley u. Rogers, 1984; Gunzelmann, Schiepek u. Reinecker, 1987)12 – und somit als Steilvorlage genutzt werden von all jenen Diskursteilnehmer/-innen, die Psychotherapie gerne als eine 11 BPtK (2013, S. 9): »Für Psychotherapie ergaben sich […] Effektstärken zwischen .88 und 1.25. Diese liegen deutlich höher als z. B. für Bypass-Operationen bei Angina Pectoris (.70), für medikamentöse Therapie der Arthritis (.61), für den Einsatz von Antikoagulanzien zur Blutverdünnung (.30), für die bei der Chemotherapie von Brustkrebs (.11) oder bezüglich der Einnahme von Aspirin zur Herzinfarktprävention (.07).« 12 Es sei noch angemerkt, dass die Laienfrage im psychoanalytischen Kontext nochmals ganz anders diskutiert wurde; in den USA wurde unter dieser

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Art Wellnessleistung außerhalb der GKV-Finanzierung angesiedelt sehen würden.13 »Weniger ist mehr« oder »viel hilft viel«? Die Frage nach der angemessenen Dauer von Psychotherapien (zwischen einer bis zu 300 Sitzungen) eröffnet eines der neuralgischsten Themenfelder der berufs-, fach- und gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen rund um Psychotherapie aufgrund ihrer gesundheitsökonomischen Sprengkraft: Wenn kurze genauso effektiv wie lange Psychotherapien sind, wieso sollten dann die längeren von der Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten bezahlt werden? Über diese Frage streiten bis heute die prominentesten Köpfe des Faches (z. B. Leichsenring u. Rabung, 2009).14 Beispielsweise zeigen Lutz, Lowry, Kopta, Einstein und Howard (2001; Lutz, 2003), dass bestimmte Parameter sich bereits innerhalb der ersten zehn bis zwanzig Sitzungen bedeutsam verbessern und quasi eine Art Deckeneffekt erzielen. Des Weiteren gibt es eine ganze Palette empirischer Befunde zur Wirksamkeit sogenannter Single-session-Therapie (Talmon, 1990). Demgegenüber zeigen andere Studien, dass längere Behandlungen mit höheren Effektstärken einhergehen (z. B. Leichsenring u. Leibing, 2003). Auch eine große US-amerikanische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass der subjektive Behandlungserfolg mit der Dauer der Behandlung ansteigt. So waren Psychotherapien mit einer Dauer von über zwei Jahren mit den größten Verbesserungen aus Sicht der Patienten verbunden (Seligman, 1995). Kratzen Kurzzeittherapeuten also nur an der Oberfläche, betreiben sie lediglich Symptompfuscherei und gelangen somit niemals an die tiefenstrukturellen Schichten der Persönlichkeit, in denen erst nachhaltige Veränderungsprozesse bewirkt werden können? Verlangen andererseits Langzeittherapeuten ihren Patienten unnötig viel Aufwand und Frage diskutiert, ob gar auch klinische Psychologen (»Laien«) neben Ärzten zur Psychoanalyse-Ausbildung zugelassen werden sollten (vgl. Hardt, 2013). 13 So etwa der Gesundheitswissenschaftler Friedrich-Wilhelm Schwartz, der noch im Jahr 2000 die Psychotherapie zusammen mit Lifestyle-Arzneien aus der GKV verbannen wollte. 14 Diese Auseinandersetzung wurde 2009 in der Fachzeitschrift »Der Nervenarzt« dokumentiert (80. Jahrgang, Heft 11).

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Lebenszeit ab, produzieren somit schädigende Abhängigkeiten vom psychotherapeutischen Versorgungssystem und enthalten so den Heerscharen unbehandelter Patienten eine zeitnahe, ethisch gebotene Behandlung vor? Wie sollen sich Praktiker/-innen wie Laien sich zu diesen Fragen eine begründete Meinung bilden, wenn selbst unter den Expert/-innen des Faches hierzu Uneinigkeit herrscht? Was macht der Dodo-Vogel? Der Dodo-Vogel, ein etwa einen Meter großes, flugunfähiges Tier, das ausschließlich auf den Inseln Mauritius und Réunion im Indischen Ozean vorkam, starb bereits Ende des 17. Jahrhunderts aus. Es hätte sich wahrscheinlich niemand mehr so richtig für dieses zahme Geschöpf interessiert, wenn er nicht plötzlich wieder in dem 1865 erschienen Buch »Alice im Wunderland« von Lewis Carroll aufgetaucht wäre. Darin veranstaltet der Dodo-Vogel ein Rennen um einen See mit dem Ziel, dass die teilnehmenden Tiere nach dem Schwimmen trocken würden. Ein jedes Tier rennt, bis es trocken ist, wobei niemand misst, wie schnell oder weit ein jedes dazu läuft. Als der Dodo-Vogel am Ende gefragt wird, wer denn den Wettlauf gewonnen hätte, denkt er lange und angestrengt nach, um schließlich zu antworten: »Everybody has won and all must have prizes.« Schon 1936 verwendet Rosenzweig dieses Bild für die Hypothese, dass alle Psychotherapie-Verfahren gleich wirksam seien. Die Kontroverse um die differenzielle Effektivität nimmt in den 1970er Jahren mit Luborskys (Luborsky, Singer u. Luborsky, 1975) erster vergleichender Wirksamkeitsstudie Fahrt auf. Diese und weitere sprechen dafür, dass verschiedene Psychotherapieverfahren unabhängig von ihrer Methodik ähnliche Erfolge erzielen (z. B. Smith, Glass u. Miller, 1980; Wampold et al., 1997). Diese Position findet schließlich in der Annahme allgemeiner Wirkfaktoren, von Psychotherapie ihren theoretischen Niederschlag (Grawe, Donati u. Bernauer 1994; Frank, 1961). Damit gemeint sind schulenübergreifende Ingredenzien von Psychotherapie, die für deren Effektivität der Behandlung als relevanter erachtet werden als die Anwendung verfahrensspezifischer Techniken, zum Beispiel die Qualität der therapeutischen Beziehung, die Therapeutenpersönlichkeit, extratherapeutische Veränderungen oder auch Erwartungseffekte © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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(Placebo) (vgl. zum Beispiel Kriz, 2013). Asay und Lambert (2001) beziffern die Varianzaufklärung am therapeutischen Erfolg durch allgemeine Wirkfaktoren auf rund 80 %. Dagegen wird von Seiten der störungsspezifischen Perspektive ähnlich vehement vertreten und empirisch gezeigt, dass einzelne Therapieverfahren anderen bei der Behandlung einer bestimmten Symptomatik überlegen sind. Klassisches Beispiel hierfür ist etwa die Überlegenheit von kognitiver Verhaltenstherapie bei Angststörungen (z. B. Siev, Huppert u.Chambless, 2010) oder von Multisystemischer Therapie bei schwerer juveniler Delinquenz (z. B. Henggeler, Schoenwald, Borduin, Rowland u. Cunningham, 2009). Experimentelle Studien liefern Hinweise, dass mitunter sogar einzelne umgrenzte Techniken (»empirically supportet treatments«) maßgeblich zum Therapieerfolg oder gar -misserfolg beitragen (z. B. Lilienfeld, 2007, Neimeyer, 2000, McNally, Bryant u. Ehlers, 2003). Hermeneutische Diskurszirkel oder RCT-Effektstärken? Während also schon die empirische Datenlage der Psychotherapieforschung widersprüchlich ist, lässt sich die Problematik weiter zuspitzen, wenn man die erkenntnistheoretische Frage nach der angemessenen Methodologie stellt. So äußern (mehr oder weniger explizite) Vertreter/-innen einer qualitativen bzw. sozialwissenschaftlichen Methodologie ihre Zweifel an der Form der Evidenzbasierung psychotherapeutischer Verfahren, die sich schließlich an der pharmakologischen Forschungstradition orientiert. Wenn man davon ausgeht, dass die Seele und ihre Heilung so hochkomplexe Phänomene sind, die sich jeder Quantifizierung verschließen, dann misstraut man tendenziell jeder Tabelle, Effektstärke und statistischen Signifikanzberechnung. Jaeggi (1994) beschreibt diesen Argwohn: »Übliche Designs der Psychotherapieforschung folgen der ›medizinalen Metapher‹. Was daran am verwirrendsten ist: Sehr viele praktische Psychotherapeuten finden diese Metapher eigentlich ganz einleuchtend; allerdings fühlen und handeln sie nicht danach, und daher sind ihnen alle Versuchspläne mit Blindversuch und Doppelblindversuch, Kontrollgruppen und Placebogruppen irgendwie verdächtig, ohne daß sie im eigentlichen Sinn etwas dagegen zu sagen haben« (S. 110). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Dem gegenüber steht die Fraktion der quantitativen Forscher/innen, die mahnen, dass Psychotherapie innerhalb der akademischheilberuflichen und gesundheitsökonomischen Architektur auf nationaler und internationaler Ebene nur dann Bestand hat, wenn mit harten Zahlen und klaren Fakten argumentiert wird. An den Spitzen von Wissenschaft und Versorgungspolitik stehend scheint ihr Status dieser Gruppe Recht zu geben und lässt obige Haltung der geistes- und kulturwissenschaftlich informierten hermeneutische Diskurszirkel als weltfremd und rückschrittlich erscheinen.15 Psychotherapieforschung in postpolitischen Zeiten Wie soll nun über obige Grundsatzfragen entschieden werden? Und wer unter den Diskursteilnehmer/-innen hat Kompetenz, Autorität und Mandat dazu? Professorinnen und Professoren an klinischpsychologischen Fachbereichen der Universitäten (mit ihren fast ausschließlich verhaltenstherapeutischen Ausrichtungen)? Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (der den politischen Willen des Vorstands der BPtK repräsentiert)? Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WBP)?16 Praktiker/-innen mit jahrzehntelanger Berufserfahrung? Man mag meinen, dass unterschiedliche Standpunkte und Interessen nicht nur aufgrund der Komplexität des Sachverhalts inhärent und angebracht, sondern, mehr noch, für demokratische Willensbildungsprozesse geradezu notwendig und unverzichtbar sind. Denn nur so können (auch berufs-, fach- und gesundheits-)politische Entscheidungsprozesse gestaltet werden – zum am aktuellen Stand der Kunst orientierten Wohle von Patient/-innen, Psychotherapeut/innen und der Solidargemeinschaft. Im Pluralismus verschiedener Ansichten, wie ihn die Psychotherapieforschung hervorbringt, scheint 15 Dabei lassen sich selbstredend beide Herangehensweisen, mag man sie als qualitativ und quantitativ, ideografisch oder nomothetisch, subjektivistisch oder objektivistisch dichotomisieren bzw. polarisieren, gerade im Kontext von Psychotherapie ganz wunderbar integrieren, nutzen und weiterentwickeln (was wir bereits an anderen Stellen ausgeführt haben: Ochs, 2009; Ochs u. Schweitzer, 2010; Ochs, 2012). 16 Dessen Neutraliät und Objektivität wurde immer wieder in Frage gestellt (z. B. Kriz u. Sollmann, 2009).

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die Voraussetzung einer klugen Entscheidungsfindung über die weitere Entwicklung Psychotherapie als Fach und Profession zu liegen. Dieser Position diametral entgegen steht eine Perspektive, die als »postpolitisch« bezeichnet wird. Die zunehmende Häufung des Begriffes im öffentlichen und medialen Diskurs gipfelte bisher darin, dass Bundeskanzlerin Merkels beliebteste Begründung politischer Entscheidungen als »alternativlos« zum Unwort des Jahres 2010 (http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=35) gekürt wurde. Es haftet dem Terminus der »Postpolitik/Postdemokratie – ähnlich der Postmoderne, dem Poststrukturalismus – zuallererst etwas Diffuses an: Sie alle markieren ein Paradigma, eine Beschreibung oder ein Konzept als überholt, ohne sich davon gelöst zu haben« (Lehner, 2011, S. 2). Postpolitische Diskurse sind nach Žižek (2001) insofern entpolitisiert, als dass sie keine zum Beispiel von Parteien intonierte Vielstimmigkeit zur politischen Willensbildung mehr enthalten. Entscheidungen über Staat und Gesellschaft werden nicht durch demokratische Aushandlungsprozesse gefällt, sondern durch technokratisch begründete alternativlose Sachzwänge gesetzt und entschieden. Die Zukunft zeigt sich nicht mehr als offener Möglichkeitsraum, sondern ergibt sich als die nurmehr vermeintlich einzige Reaktion auf Fakten und Erkenntnisse. »Politisch« zu handeln bedeutet in diesem Zusammenhang, Zukunft vor einem breiten Horizont an Möglichkeiten gestalten zu wollen, basierend auf Erfahrungen aus der Vergangenheit und in Abhängigkeit von gegenwärtigen Machtverhältnissen. »Postpolitisch« aufzutreten meint dagegen, sich einer durch gegenwärtige Rahmenbedingungen determinierten (meist bedrohlichen) Zukunft gegenüberzusehen und aus ihr den vermeintlich einzig möglichen Schluss zu ziehen und umzusetzen. Um einige Beispiele zu nennen: Ob Eurorettung, Gesundheitsreform oder Stuttgart 21 – alle erlaubten nach Merkel »alternativlos« einzig die getroffenen politischen Entscheidungen (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/sprachkritik-alternativlos-ist-das-unwort-des-jahres-a-740096.html) und auch Obama wird an der »Schwelle zum postpolitischen Zeitalter« verortet angesichts der Limitierungen der Zukunft durch Finanzmarktkollapse, den Klimawandel und das Zur-Neige-Gehen der natürlichen Rohstoffreserven (Gumbrecht, 2012). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Eng verwandt mit dem der Postpolitik ist der Begriff der Postdemokratie (Rancière, 1997): Er beschreibt ebenfalls eine postpolitische Spielart und meint, dass jegliche politische Ideen rechtlich derart kanalisiert werden bis Politik nicht mehr der Debatte zur Klärung von Interessenkonflikten bedarf, sondern zum Verwaltungsakt verkommt, der an einem vermeintlich objektiv bestimmbaren Allgemeinwohl orientiert ist. Wenn politische Kräfte auf diese Weise diszipliniert werden, wird auch von der mit der britischen Premierministerin Thatcher berühmt gewordenen »TINA-Strategie« (Berlinski, 2011) gesprochen: Mit dem Argument »There is no alternative« inszeniert sich in Thatchers Fall ein im Grunde wirtschaftsliberales Kalkül als postpolitisch. Die Zeitdiagnose der Postpolitik muss insofern auch als politisches Stilmittel im klassischen Sinne verstanden werden, das schlicht den Interessen der sie Stellenden dienend das »Ende der Geschichte« (Fukuyama, 1992) verkündet.

Die postpolitische Situation der Psychotherapie Im postpolitischen Szenario sind wir der Zukunft ausgeliefert, und können sie – den Sachzwängen unterworfen – nur mehr oder weniger gut managen, denn die Problem- und Lösungsräume sind fest abgesteckt. Entgegen der scheinbaren Offenheit des Feldes Psychotherapieforschung, wie bereits dargestellt wurde, zeigt sich die Versorgungsrealität in der Praxis in einer Weise, in der dagegen nur mehr postpolitisches Verwalten möglich scheint, wie zum Beispiel folgende drei der hier relevanten Thesen nahelegen. Psychische Störungen sind die neuen Volkskrankheiten Publikationen von Psychotherapiestudien werden häufig mit einer Variation der Aussage eingeleitet, dass psychische Störungen häufig seien und zunehmen würden (und darin nicht zuletzt auch eine große ökonomische Belastung unserer Volkswirtschaft drohe, weshalb die vorliegende Forschung dringend notwendig und auch in Anschlussprojekten förderungswürdig sei). Auch wenn die Hypothese »Psychische und Verhaltensstörungen sind die Epidemie des 21. Jahrhunderts« (nach Weber, Hörmann u. Köllner, 2006) durch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Langzeitstudien als widerlegt gelten darf, müssen die Prävalenzraten der F-Diagnosen nach oben korrigiert werden. Hierfür verantwortlich scheinen Effekte einer veränderten Krankheitswahrnehmung sowohl auf Seiten der Patient/-innen als auch der Behandler/-innen, die eine stärkere Inanspruchnahme von Psychotherapie nach sich ziehen. Gründe dafür liegen unter anderem in der zunehmenden öffentlichen Wahrnehmung des Themas, Aufklärung der Bevölkerung, Entstigmatisierung der Störungen usw. (vgl. z. B. Thom u. Jacobi, 2014). Die aktuelle »Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland« (DEGS) (Wittchen et al., 2012) in der eine repräsentative Stichprobe von ca. 5300 Personen umfassend hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit untersucht wurde, legt nahe, dass in Deutschland jedes Jahr jeder dritte bis vierte Erwachsene im Alter von 18 bis 79 Jahren die Kriterien für mindestens eine Diagnose aus dem Bereich der psychischen und Verhaltensstörungen erfüllt. Das Lebenszeitrisiko, irgendwann im Laufe seines Lebens von einer psychischen Störung betroffen zu sein, wird auf über 50 % geschätzt (Kessler et al., 2005). Im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen wird daher inzwischen von Volkskrankheiten gesprochen, denn sie sind weit verbreitet und mit gravierenden Konsequenzen für die Public Health verbunden, zum Beispiel hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Behandlungskosten und Arbeitsausfällen der Betroffenen (Jacobi, 2012; BptK, 2013; http://www.bptk.de/aktuell/einzelseite/artikel/psychische-k.html). Vor diesem Szenario wird deutlich, dass die präventive und kurative Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen alternativlos ist. Psychotherapie ist laut Behandlungsleitlinien bei psychischen Störungen indiziert Seit 1995 ist die Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich-medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) vom Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen damit beauftragt, die Entwicklung von medizinischen Leitlinien für Diagnostik und Therapie in Deutschland zu koordinieren. Behandlungsleitlinien können als systematisch entwickelte und schriftlich niedergelegte Handlungsempfehlungen verstanden werden. Sie sollen die Qualität der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Versorgung sichern und verbessern, indem sie Heilkundler/-innen und Patient/-innen wissenschaftlich fundierte, praxisorientierte, am aktuellen »state oft the art« orientierte Entscheidungshilfen für spezifische klinische Bedingungen bieten, auch wenn sie (noch) nicht rechtlich bindend für therapeutisches Handeln sind. Tatsächlich finden in den vergangenen Jahren immer stärker psychotherapeutische Behandlungsoptionen Eingang in Behandlungsleitlinien. Ein Beispiel hierfür sind etwa die S3-Versorgungsleitlinien für Depressionen im Erwachsenenalter, wo Psychotherapie bei mittelgradigen und schweren Depressionen als gleichwertig oder in Kombination mit Pharmakotherapie empfohlen wird (Härter, Klesse, Bermejo, Schneider u. Berger, 2010). Aber nicht nur dort: Auch bei vielen anderen Behandlungsleitlinien aus den Fachgebieten der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Erwachsenenpsychiatrie, der Psychosomatik und selbst im Kontext somatischer Erkrankungen (onkologische Erkrankungen, Asthma, Diabetes) werden verstärkt psychotherapeutische Behandlungskonzepte berücksichtigt. Ausschlaggebend hierfür scheinen – aller Komplexität der Studienlage zum Trotz – die Ergebnisse der Psychotherapieforschung zu sein. Tabelle 1 gibt einen aktuellen Überblick zu den NICE-Guidelines-Empfehlungen psychotherapeutischer im Vergleich zu medikamentöser Behandlung bei psychischen Störungen, die das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) in Großbritannien herausgibt (aus BPtK, 2013, S. 9; http://www.nice. org.uk/). Tabelle 1: Empfehlungen aus NICE-Leitlinien zur Therapie psychischer Erkrankungen (BPtK, 2013, S. 9) Psychotherapie

Pharmakotherapie

Generalisierte Angsterkrankung

++

++

Panikstörung/ Agoraphobie

++

+

Posttraumatische Belastungsstörung

++

x

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unipolare Depression, mittelgradig (Erwachsene)

++

++

unipolare Depression, schwer (Erwachsene)

++ Kombination Psycho-/Pharmakotherapie

unipolare Depression (Kinder und Jugendliche)

++



Bipolare Störungen (Erwachsene)

+ (ergänzend/bei Ablehnung von Pharmakotherapie)

++

Bipolare Störungen (Kinder und Jugendliche)

++ Kombination Psycho-/Pharmakotherapie

Schizophrenie

++

++

Anorexie

++

0

Bulimie

++

+

Borderline-Persönlichkeitsstörung

++

– (nur zur Behandlung komorbider Störungen)

Alkohol: schädlicher Gebrauch, leichte Abhängigkeitsformen

++

x

Alkohol: schwere Abhängigkeitsformen

++ Kombination Psycho-/Pharmakotherapie

++ Empfehlung erster Wahl + Empfehlung x Option, wenn explizit gewünscht 0 kann erwogen werden; nicht als alleinige Therapie – keine Empfehlung

Die Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen nimmt zu Auch wenn die Versorgung psychischer Störungen bisher nur als unzureichend bewertet werden kann, verursacht sie schon jetzt hohe Kosten – Tendenz steigend. Die Erkrankungen kommen dabei nicht nur das Gesundheitssystem teuer zu stehen, sondern fordern auch von Betroffenen, Angehörigen, Arbeitgebern und Volkswirtschaft einen hohen Preis. Daten für die direkten Krankheitskosten durch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Behandlung und Pflege von Menschen mit psychischen Störungen liegen für Deutschland momentan erst für das Jahr 2008 vor. Sie liegen hinter Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krankheiten des Verdauungssystems auf Rang drei mit 28,7 Milliarden Euro, was 11,3 % der krankheitsbedingten volkswirtschaftlichen Gesamtkosten entspricht. Von 2002 bis 2006 wurde hier verglichen mit allen anderen Krankheitsarten bei psychischen Störungen der höchste Anstieg beobachtet (Böhm u. Cordes, 2009). Demgegenüber scheinen die Ressourcen im Gesundheitswesen von immerwährender und zunehmender Knappheit gekennzeichnet. Daran ändert es scheinbar auch nichts, dass die Krankenkassen im ersten Halbjahr des Jahres 2013 Überschüsse von rund 1,2 Milliarden Euro erwirtschaftet haben (http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ wirtschaftspolitik/gesetzliche-versicherung-krankenkassen-machenriesigen-ueberschuss-12551732.html). Als Ursachen für den Mangel finanzieller Ressourcen werden vorrangig der demografische Wandel, die steigende Lebenserwartung in der Bevölkerung und der medizinische Fortschritt angeführt, die zu höherem Bedarf an Leistungen, weniger Einnahmen und mehr Ausgaben führen. Mögliche Reaktionen liegen in Beitragssteigerungen, Preisregulierungen, der Umschichtung anderer Ressourcen des Sozialstaates, an erster Stelle allerdings der Rationalisierung im Gesundheitssystem, das heißt dem Abbau von Über- und Fehlversorgung. Beske folgert, in einem Sonderdossier zum Thema »Priorisierung« des Ärzteblatts, die Politik brauche endlich den Mut, drängende Systemfragen anzugehen und müsse dennoch der Bevölkerung mitteilen, dass man sich auf Dauer nicht mehr so viel werde leisten können wie heute (http://www.aerzteblatt.de/down.asp?id=8476). Vor dieser Drohkulisse findet auch die psychotherapeutische Versorgung statt, auch wenn schwer zwischen systemrelevanten Rationalisierungsmaßnahmen und interprofessionellen Verteilungskämpfen zu unterscheiden ist. Beispielhaft hierfür ist, dass aufgrund der neuen Bedarfsplanung psychotherapeutischer Kassensitze durch den G-BA voraussichtlich jede vierte aktuell bestehende Praxis geschlossen wird – trotz der schon aktuell unzumutbar langen Wartezeiten auf eine Behandlung von durchschnittlich 12,5 Wochen (http://www. bptk.de/aktuell/einzelseite/artikel/ab-2013-droh.html9. Der Kritik © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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der Psychotherapeutenschaft begegnet der GKV-Spitzenverband mit den Anregung, statt Quantität zu fordern doch erstmal die Qualität der therapeutischen Angebote zu überprüfen und zu verbessern – allen bereits genannten Wirksamkeits- und Wirtschaftlichkeitsbelegen zum Trotz (http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/52827/NeueBedarfsplanung-fuer-2013-steht). Volkskrankheiten, Behandlungsleitlinien, Ressourcen­ knappheit – die Trias psychotherapeutischer Postpolitik Das Eigentümliche postpolitischer Situationen liegt in einem Paradox. Kuppe (2012) formuliert bezogen auf die aktuellen »enormen sozialen, ökologischen und politischen Krisenerscheinungen«: »Es ist […] eine sich zuspitzende paradoxe Entwicklung zu beobachten: Einerseits scheint sich zunehmend eine Überzeugung durchzusetzen, dass es entscheidender gesellschaftlicher Veränderungen bedarf, allein um die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Existenz und gesellschaftlicher Entwicklung überhaupt aufrecht zu erhalten, andererseits erscheinen tatsächliche soziale und ökologische Alternativen zum gegenwärtigen gesellschaftlichen System kaum denkbar, geschweige denn politisch erreichbar.« Übertragen auf die genannte Trias psychotherapeutischer Postpolitik könnte man formulieren: »Es ist eine zunehmende paradoxe Entwicklung zu beobachten: Einerseits scheint sich die Überzeugung durchzusetzen, dass psychische Erkrankungen Volkskrankheiten sind und ihre leitliniengerechte Behandlung oft psychotherapeutisch sein sollte, andererseits erscheint eine Veränderung der psychotherapeutischen Versorgungsstruktur zur Deckung der tatsächlich vorhanden Bedarfe kaum denkbar, geschweige denn politisch erreichbar.« »In der postpolitischen Demokratie geht es nicht mehr um die mühsame Suche nach dem Guten und Gerechten, nicht mehr um richtige oder falsche Politik«, schlussfolgert Assheuer (2008, S. 37). Auch in Bezug auf Psychotherapie treten die beteiligten Akteure – Patient/-innen, Psychotherapeut/-innen, Kostenträger und Gesundheitspolitiker/-innen – nicht an, um die für alle bestmögliche Zu­ kunft zu gestalten, sondern um den einzig möglichen Fortgang zu verwalten. Es gilt, die mit einer behandlungsbedürftigen Volkskrankheit unter der Bedingung fortschreitender, irreversibler Ressour© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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cenknappheit einhergehenden Risiken und Kollateralschäden zu minimieren, sowie die knappen Ressourcen, auch »Geldtöpfe« oder »Fressnäpfe« genannt, zu verteilen. Man kann diesem Szenario entgegen halten, dass dieses Diskursgeschehen nichts »postpolitisch« Neues ist, weil es von jeher in politischen Auseinandersetzungen darum ging, für die eigene Interessengruppe das Beste herauszuholen. Wenn sich aber der »Run auf die Geldtöpfe« (sowie die immer damit einhergehende Verschleierung desselben) derart verschärft, dass tatsächlich jeder Vorschlag zur weiteren Entwicklung und Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse utopisch erscheint und scheitern muss, dann erfordert diese Situation neue Antworten. Doch wie kann man agieren in einer Lage, die sich eben gerade durch die Alternativlosigkeit ihrer Handlungsoptionen auszeichnet?

Die Einführung von Komplexität und Kontextualität als »aufklärerische« Strategie Das Zwingende der postpolitischen Situation macht den Einzelnen abhängig und einer unausweichlichen und gefahrvollen Zukunft ausgeliefert. Schon einmal in der Geschichte sah sich eine ganze Epoche gezwungen, einer solche Ohnmacht, Fremdwirksamkeit und Passivität gegenüber irrationalen Kräften zu überwinden: Das Projekt der Aufklärung hatte zum Ziel, dass Menschen unter der Leitung der Vernunft aus Unmündigkeit, Unwissen und Selbstverkennung heraustreten und sie sich so eine Welt gestalten, in der es sich besser leben lässt.17 Hardt (2009) schreibt, dass auch die Psychoanalyse das Produkt einer Kultur sei, die sich den Zielen der Aufklärung verpflichtet und diese Verständnis kann von der Psychoanalyse auf weitere psychotherapeutische Verfahren übertragen werden, die im Menschenbild der Aufklärung und des Humanismus wurzeln (Petzold, 2012). An alle wissenschaftlich Engagierten, die sich diesem Kultur17 »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen« (Kant, 1784).

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prozess verpflichtet wissen, richtete Freud ein appellierendes unbestimmtes, aber selbstbewusstes WIR. Wenn WIR dieser Einladung Freuds folgen, gilt es also, sich seines Verstandes zu bedienen und aus der Unmündigkeit postpolitischer Verhältnisse herauszutreten – eben durch ihre Erkenntnis als solche. Komplexität einladen, Kontexte berücksichtigen Man kann es mit Wampold (Wampold, Iel u. Miller, 2009) ganz einfach formulieren: »Given the complexity of the therapeutic endeavor, it is not surprising that interpreting the evidence is complex« (S. 144). Für Komplexität sind Systemiker/-innen Expert/-innen: Sie begründen ihr psychotherapeutisches Handeln unter anderem auf der Basis von Theorien komplexer Systeme und beziehen Komplexität grundsätzlich ins Kalkül desselben (z. B. Rufer, 2012). Deshalb können sie dazu beitragen, auch in Kontexten berufs-, fach- und gesundheitspolitischer Diskurse die Perspektive der Komplexität des Gegenstandsbereichs kompetent einzuführen und zu vertreten – ganz im Sinne Kuhls: »Life becomes simple, when we accept ist complexities« (Kämmerer u. Funke, 2004, S. 64). Das bedeutet konkret: Wir müssen für das Nebeneinander verschiedener Auffassungen und für Multiperspektivität werben. Erst durch deren Verschränkung und Wechselwirkungen ist eine annähernd angemessene Beschreibung von Gegenstandsbereichen in den »soft sciences« möglich.18 Kontradiktionen, Polaritäten, Antagonismen und Paradoxien müssen als konstituierend für soziale Systeme angesehen werden – auch für berufs-, fach- und gesundheitspolitischen Diskurssysteme. Vereinfacht ausgedrückt: Systemiker »laden Komplexität ein« und besitzen einen Sinn für die Ästhetik, vielleicht sogar Erotik des Komplexen. Vermeintliche Alternativlosigkeiten, wie sie für postpolitische Diskurse üblich sind, werden wieder hinterfragbar, wenn wir auf die expliziten und impliziten Kontexte von Aussagen innerhalb der Diskurse hinweisen und mittels des »Verfeinern des Möglichkeitssinns« (Schweitzer u. Ochs, 2008) entgegnen: »There are thousands of alternatives« (George, 2002). 18 Vgl. auch Ochs (2012) zu Fragen des Nutzens von Multiperspektivität in systemischer Forschung.

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So wie Freud den Hinweis auf die unbewussten Motivationslagen menschlichen Handelns und Begehrens als Beitrag zur Aufklärung mit psychoanalytischen Mitteln verstanden hat, so kann das Kalkulieren mit Komplexität und Kontexten als Beitrag der Systemiker zur Aufklärung mittels systemischer Fragetechniken und Reflexionsangeboten begriffen werden. Beispielsweise wäre zu fragen: ȤȤ Ist Geld tatsächlich eine knappe Ressource im Gesundheitssystem? Unter welchen Bedingungen und Vorannahmen erscheint dies so und unter welchen nicht? Wem nützt diese Prämisse, wem nicht? ȤȤ Innerhalb welcher Kontexte macht Verfahrens-/Schulenorientierung in der Psychotherapie Sinn/nicht Sinn? Wem nützt sie unter welchen Bedingungen, wem nicht? ȤȤ Welche berufs-, fach- und gesundheitspolitischen Machtverhältnisse werden durch welche Aussagen zementiert bzw. infrage gestellt? Reflexionsräume schaffen, Ideologiekritik betreiben Kuppe (2012) fordert schlussfolgernd: »Notwendig erscheint es […] einen Raum für das Reflexive zu eröffnen, der die Reflexion über das gesellschaftliche Verhältnis unter Einbeziehung ihrer grundlegenden ideologischen Formierung […] ermöglichen würde«. Auf unseren Gegenstandsbereich gewendet bedeutet dies zu eruieren: An welchen Orten kann über die Beschaffenheit der Diskurse rund um Psychotherapie(-forschung) und deren Kontexte methodologisch und methodisch fundiert reflektiert werden? In Fachzeitschriften, auf Fachkongressen und -veranstaltungen? Welche Fachdisziplinen wären geeignet, einen angemessen Reflexionsrahmen hierfür bereitzustellen – der zudem eine kritische Reflexion über sich selbst ermöglicht? Es geht hierbei weniger darum, dass sich die Gemeinschaft der mit den aktuellen psychotherapeutischen Verhältnissen Unzufriedenen etwa auf Kongressen »zusammenrottet«, um ihrem Unmut Luft zu machen19 – so verständlich dies als psychohygienische Interven19 Ein Beispiel hierfür wäre etwa das Symposium »Das Unbehagen in der (Psychotherapie-)Kultur« (Hein u. Hentze, 2007).

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tion auch sein mag. Es geht vielmehr um eine systematische, wissenschaftlich informierte Annäherung an die ideologischen Kontexte von berufs-, fach- und gesundheitspolitischen Diskursen rund um Psychotherapieforschung – eine Überlegung, die bereits an anderer Stelle mit Beispielen hierfür skizziert wurde (Ochs, 2009, S. 126). Als möglicher theoretischer Rahmen hierfür bieten sich die Konzepte der Professionssoziologie an und es ist aktuell ein zunehmendes Interesse der Sozialwissenschaften für die psychotherapeutische Zunft beobachtbar (z. B. Khamneifar, 2008; Schützeichel, 2012; Flick, 2013). Dabei stellen die Sozialwissenschaften auch die methodischen Werkzeuge zur empirischen Untersuchung von Diskursen zur Verfügung, zum Beispiel die Objektive Hermeneutik (z. B. Wernet, 2009), ethnografische Feldanalysen (z. B. Angrosino, 2007), Experteninterviews (z. B. Bogner, Littig u. Menz, 2009) oder eben die Diskursanalyse als abgrenzbare und etablierte qualitative Forschungsmethode (z. B. Rapley, 2007). Mit dem Instrumentarium der theoretischen Modelle der Soziologie lassen sich Professionen als spezifische Berufsstände mit typischen Merkmalen betrachten und ihre Diskurse problematisieren. Die als postpolitisch beschriebene Situation der Psychotherapie lässt sich hier als Resultat vielfältiger Deprofessionalisierungsprozesse rekonstruieren (Thom u. Ochs, 2013). Manifestieren sich diese im Selbstverständnis des professionellen Praktikers sowohl als Zweifel an der Gültigkeit seines Wissens, der Überlegenheit seiner Lösungsangebote und der alternativlosen Zuständigkeit für den reklamierten Problembereich als auch einer relativistischen, integrativen und selbstreflexiven Arbeitsweise, dann spricht Pfadenhauer vom »Typus des postmodernen Professionellen« (2003). Auch auf diese Weise – durch einen Wandel im Selbstverständnis der Praktiker/-innen – ist ein kultureller Wandel des psychotherapeutischen Feldes denkbar.

Abschließende Anmerkungen Auch wenn die von Jochen Schweitzer geleitete Sektion »Medizinische Organisationspsychologie« keine genuin professionssoziologische Arbeitseinheit darstellt, so wurden in das Forschungsprogramm dieser Sektion ausdrücklich Selbstreflexivität und Ideologiekritik © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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hineingeschrieben (Schweitzer u. Ochs, 2012): »Wir versuchen die Grundannahmen aller Beteiligten (Drittmittelgeber in der Grundlagenforschung; Auftraggeber in der Auftragsforschung; Leitungen, Mitarbeiter und Kunden in Betrieben; Eltern, Kindern, Verwandten in Familien) einschließlich unserer eigenen Vorannahmen als Forscher nicht unreflektiert zu übernehmen, sondern insbesondere bei der Forschungsplanung und bei der Interpretation von Forschungsergebnissen immer wieder in Frage zu stellen. Das erfordert Bemühen um eine kritische Distanz zu jeweils dominierenden Kernbegriffen (z. B. ›Bindung‹, ›Trauma‹, ›Effizienz‹, ›Partizipation‹, ›Kundenorientierung‹, ›lösungsorientiert‹ – auch zum Kernbegriff ›systemisch‹). Das beinhaltet auch ein Interesse am Konflikt zwischen herrschenden und unterdrückten Diskursen in sozialen Systemen (Welche Sprachregelungen setzen sich durch? Welche wären alternativ im Angebot?). Dazu gehört schließlich ein paralleles Interesse an subjektiven Perspektiven der Beteiligten und den, harten Fakten der sozialen Wirklichkeit’ – Letzteres auch dort, wo diese den Beteiligten gar nicht bewusst sein müssen« (S. 27 f.).20 Wenn Akteure der berufs-, fach- und gesundheitspolitischen Diskurse rund um Psychotherapie(-forschung) diese Programmatik auf sich selbst anwenden würden oder gar dazu beitragen würden, dass sie wissenschaftlich umgesetzt würde, dann wäre dies ein bedeutsamer Schritt in Richtung einer Aufklärung bezüglich des Gegenstandsbereichs Psychotherapie und Psychotherapieforschung, der neue und nötige Entwicklungen in diesem so komplexen Feld denk- und erreichbar macht.21

20 Jochen Schweitzer selbst hat diesen eigenen Anspruch aktuell versucht zu verwirklichen in einer Publikation zum sozial- und fachpolitischen Diskurs bezüglich der demografischen Wende (Schweitzer u. Bossmann, 2013). 21 Einen Anlauf in diese Richtung wagte die BPtK mit der Diskussion zu einem möglichen sogenannten »Zeitzeugen-Projekt«, einem professionssoziologischen Forschungsprojekt, das die historischen Umstände rund um die Entstehung des Psychotherapeutengesetzes sozialwissenschaftlich hätte dokumentieren und aufarbeiten sollen – und das aus unerfindlichen Gründen irgendwann von der Tagesordnung verschwand.

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Wilhelm Rotthaus

Warum systemische Therapeutinnen und Therapeuten sich mit Kunst befassen sollten

Kunst als Therapie Wer sich mit dem Thema Kunst und Therapie befassen möchte und eine Literaturrecherche anstellt, stößt sofort auf zahlreiche Veröffentlichungen zur Kunsttherapie. Sie ist eine relativ junge therapeutische Disziplin, die sich Anfang bis Mitte des vorigen Jahrhunderts unter den Bezeichnungen Kunsttherapie und Gestaltungstherapie – zwischen beiden bestehen durchaus Unterschiede – entwickelt hat. Heute spielt Kunsttherapie in Kliniken und Reha-Einrichtungen eine wichtige Rolle; aber auch ambulante Kunsttherapien, sei es im Einzelkontakt oder in der Gruppe, werden angeboten. Die Kunsttherapie ist nicht denkbar ohne die Werke der Künstler, die im Laufe der zwei Jahrhunderte zuvor ihre Fantasien und inneren Bilder in künstlerische Gestaltungen umgesetzt haben. Einer der ersten und bekanntesten ist Francisco de Goya (1746–1828), der unter anderem in seinem berühmten Bild »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« den Dämonen und Fantasiegestalten seiner inneren Welt in einer Lithografie künstlerische Gestalt und Form gegeben hat. Grundlage der Kunsttherapie ist die Polarität zwischen Emotionalität und der dynamischen Welt von Fantasie und Nichtbewusstem einerseits und Rationalität sowie Realität, Struktur und Ordnung andererseits. Dies ist die Spannung, die künstlerischem Schaffen zugrunde liegt. Der Künstler tritt quasi ein Stück aus unserer gemeinsam konstruierten Realität heraus und versucht dem dabei Erlebten und Wahrgenommenen eine Struktur und Gestalt in unserer Realität zu geben. Welche Zerrissenheit er dabei aushalten muss und wie sehr sich manche Künstler in dieser Spannung existenziell bedroht gefühlt haben, weil sie fürchteten, den Halt in unserer Welt zu verlieren, ist von vielen Künstlern eindrucksvoll dargestellt worden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Leon Feuchtwanger (1998, S. 587) beschreibt die Spannung in dem erwähnten Bild von Goya mit den Worten: »Solange die Vernunft schläft, erzeugt die träumende Fantasie Ungeheuer. Vereinigt mit der Vernunft aber, wird die Fantasie zur Mutter der Künste und all ihrer Wunderwerke.« Dieser Prozess der Integration dessen, was in Träumen und in Bildern, die aus dem Nichtbewussten aufsteigen, erlebt und wahrgenommen wird, in unsere gemeinsam konstruierte Welt, dürfte in jeder künstlerischen Produktion eine Rolle spielen. Sehr anschaulich wird dieser Vorgang an den Bildern von psychisch Kranken, die in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die Publikationen von Walter Morgenthaler »Ein Geisteskranker als Künstler« im Jahr 1921 und von Hans Prinzhorn »Bildnerei der Geisteskranken« im Jahr 1922 bekannt wurden. Ihre Veröffentlichungen legten nicht nur einen Grundstein der Kunsttherapie in der Psychiatrie, sondern zeigten auch große Wirkung auf die zeitgenössischen Künstler. Jean Dubuffet schuf 1947 den Begriff der Art Brut und öffnete den Kunstbetrieb für die Kunst solcher Außenseiter ebenso wie für die Kunst sogenannter primitiver Kulturen, indem er die ästhetischen Qualitäten dieser künstlerischen Gestaltungen hervorhob (Brugger, Gorsen u. Schröder, 1997). Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Jackson Pollak das Action Painting und betonte das Unbewusste und den Traum als Quelle bildnerischen Schaffens, wenn er beispielsweise formulierte: »Wenn ich in meinem Bild bin, bin ich mir nicht bewusst, was ich tue« (zit. nach Kammerlohr, 1995). Diese Entwicklung setzte sich fort bis zu Joseph Beuys, der einen »erweiterten Kunstbegriff« proklamierte, hervorhob, dass in seiner Sicht »jeder Mensch ein Künstler« sei und Kunst in die Nähe von Therapie rückte, indem er äußerte, dass der Mensch mit den Mitteln der Kunst zu ändern sei. Über all diese Entwicklungen hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass eigenständiges schöpferisches Gestalten positive Auswirkungen auf die Entwicklung des Menschen hat. Je nach kunsttherapeutischer Ausrichtung spielt dabei allein das schöpferische Gestalten als solches die wesentliche Rolle. In anderen Ausformungen der Kunsttherapie nimmt die Reflexion über das künstlerisch Gestaltete – gegebenenfalls in der Gruppe – zusätzlich einen großen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Raum ein, in der nochmals die anfänglich angesprochene Polarität zwischen dem, was aus innerem Erleben heraus gestaltet wurde, und der kognitiven Auseinandersetzung über das anschließend – gegebenenfalls von mehreren Personen – Wahrgenommene zum Tragen kommt.

Therapie als Kunst Anlässlich der vierten Jahrestagung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie im Oktober 1982 stellte Helm Stierlin in seinem Vortrag und 1983 in seinem Aufsatz in einem der frühen Hefte der Zeitschrift Familiendynamik die Frage: »Familientherapie: Wissenschaft oder Kunst?« Er konfrontierte das traditionelle Wissenschaftsverständnis mit den vor allem durch Gregory Bateson angestoßenen erkenntnistheoretischen Konzepten, die zum damaligen Zeitpunkt – zusammen mit den Arbeiten von Maturana, Varela, von Foerster und anderen – zur kybernetischen Wende, das heißt: von der Familientherapie zur Systemtherapie führten. Das traditionelle Wissenschaftsverständnis, fußend auf den Ideen von Objektivität und wahrer Erkenntnis, wurde infrage gestellt zu Gunsten einer Erkenntnis, die vom Beobachter abhängig und damit zwangsläufig subjektiv ist. Zudem setzte sich damals in immer mehr Wissenschaftsbereichen die Erkenntnis durch, dass die zu erforschenden Phänomene in komplexen wechselwirkenden Prozessen mit zahlreichen anderen Phänomenen interagieren und damit allein schon die Isolierung dieser Phänomene zum Zwecke der Forschung dieselben verändern. Im Hinblick auf Psychotherapie erörterte Stierlin die Komplexität der Beziehungswirklichkeit in Familien, in die die Therapeutin eingebunden wird, sobald sich beide Seiten auf Therapie einlassen. Er wies darauf hin, dass sich innerhalb der so vielfältig und vielschichtig miteinander verschlungenen Lebens- und Beziehungsprozesse kaum jeweils bestimmen lasse, was als Urteil oder Vorurteil, was als Kontext oder Metakontext, was als Beitrag des Interviewers, was als der des Interviewten und was als Folge einer therapeutischen Intervention zu gelten habe. Und er stellte, an diese Überlegungen anschließend, die Frage, »ob das, was ein Familientherapeut betreibt oder betreiben sollte, viel weniger mit Wissenschaft als mit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Kunst – möglicherweise sogar schwarzer Kunst – zu tun hat« (1983, S. 370). Nochmals mit Bezug auf Gregory Bateson führte Stierlin drei Gründe auf, die Familientherapeuten eher als Künstler, denn als Wissenschaftler auswiesen. ȤȤ Da sei einmal die Unvorhersehbarkeit der Entwicklungen in komplexen Beziehungswirklichkeiten sowie die Unmöglichkeit der Kontrolle dieser Beziehungswirklichkeiten, was mehr auf einen Kontext für Kunst als für Wissenschaft verweise. ȤȤ Zum anderen würden die bei der Erkenntnis dieser Wirklichkeit unterlaufenden Irrtümer Konsequenzen haben, die – ästhetisch wie moralisch gesehen – hässlich seien. Schönheit zeige sich somit letztlich als Kriterium auch wissenschaftlicher Wahrheit, was Stierlin zu der Frage veranlasste, ob auch jeder große therapeutische Fortschritt bzw. therapeutische Durchbruch elegant, also gleichsam ein Kunstwerk sei. ȤȤ Drittens müsse »das beherrschende Motiv des Erkennenden nicht der Wunsch nach Kontrolle und Macht, sondern Neugierde sein, eine Neugierde, die zugleich Staunen und Ehrfurcht vor den Geheimnissen des Lebens und des Kosmos einschließt«. Damit entstehe ebenfalls eher ein Kontext von Kunst als von Wissenschaft. Der Therapeut müsse die Macht als eine korrumpierende Metapher, als Ausdruck und Folge eines epistemologischen Irrtums durchschauen, seine Haltung müsse von Neugier im angesprochenen Sinne, von Einsicht in die Unvollkommenheit all unseres Wissens, von Demut als Antidot gegen Hybris, von Empathie und letztlich von Weisheit bestimmt sein. Stierlin erörterte im Übrigen das Problem, dass Therapie mit Komplexität umgehe, die die Therapeutin reduzieren müsse, um sich in verschlungenen Beziehungsrealitäten orientieren und darüber kommunizieren zu können. Dazu sei eine »komplexitätserhaltende Komplexitätsreduktion« (1983, S. 371) erforderlich – eine Aufgabe, die sich typischerweise auch Künstlern stelle. Er äußert seinen Eindruck, dass sich für Familientherapeutinnen daraus die Forderung ergebe, »im Umgang mit der Beziehungswirklichkeit vielleicht noch mehr als bisher unserer künstlerischen Intuition zu vertrauen«. Doch trotz des Vertrauens in die Macht der künstlerischen Intuition bestehe die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Notwendigkeit höchstmöglicher begrifflicher Klarheit für das Durchdenken der Konsequenzen unseres therapeutischen Handelns. Hier scheint wieder die Polarität bzw. das Sowohl-als-auch von Intuition und Emotionalität sowie von Vernunft und kommunikationswilliger Reflexivität auf, auf die bereits im Anfang dieses Beitrags hingewiesen wurde. Diesen Aspekt der Schönheit griff Ludewig 1988 in seinem Aufsatz »Nutzen, Schönheit, Respekt – drei Grundkategorien für die Evaluation von Therapien« auf. Sein Anliegen bestand darin, Psychotherapie nicht allein nach dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit zu bewerten. Vielmehr müsse sie als soziales Handeln zugleich ästhetisch sein und zudem in Übereinstimmung mit gültigen ethischen Maßstäben geschehen. Das Kriterium der Schönheit beschrieb er mit der Forderung an die Therapeutin, selbstverantwortlich zu werden und ihre Interventionen nach dem Gesichtspunkt des »Passens« zu richten, ohne sich auf wie auch immer definierte Vorgaben des normativ »Richtigen« herauszureden, und er forderte: »Psychotherapie sollte zwar als Wissenschaft und Kunst betrachtet werden, jedoch in Übereinstimmung mit für gültig erachteten menschlichen Werten« (Ludewig, 2002, S. 45). Kurz nach Fertigstellung dieses Beitrags fand im November 2013 in Berlin eine Tagung »Behandlung als Kunst – ästhetische Perspektiven auf den therapeutischen Prozess« statt (Business School Berlin Potsdam). In der Kongressankündigung wurde darauf verwiesen, dass das Thema »Behandlung als Kunst« den Gedanken nahe lege, psychotherapeutische Behandlung sei ein Geschehen, das von einem intuitiven Umgang des Behandelnden mit dem psychotherapeutischen Prozess ausgehe. »Kunst« werde dabei zu einer Metapher für die begnadeten Fähigkeiten des Therapeuten, und der Therapeut erscheine als Künstler, der das »Material« des Patienten »kreativ« zu handhaben wisse. Vor diesem Hintergrund lasse sich ein strikter Gegensatz von Behandlungskunst und bloßer Behandlungstechnik vermuten. Einer solchen Auffassung wolle diese Tagung jedoch entgegentreten und eine Analogie zur Kunst herausarbeiten, die zeigen solle, dass das Geschehen zwischen Patient und Psychotherapeut als ein ästhetisch organisierter Erfahrungsraum verstanden werden könne, der sich gemäß eines ästhetischen Prozesses vollziehe. So wie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ein Kunstwerk sich zu einem dynamischen Ganzen füge, so gestalte sich auch ein Behandlungsprozess in jeder Stunde neu als ein künstlerisches Gefüge von Wahrnehmungen, Reflexionen und Praktiken.

Begegnung mit Kunst Die Nähe von Kunst und Psychotherapie wird unter den beiden bisher behandelten Perspektiven deutlich. Es kann kein Zweifel bestehen, dass künstlerisches Gestalten in Form von Zeichnen, Malen, Formen von Skulpturen aus Ton, Holz und Stein, das Nacherzählen von Träumen und das Schreiben von Geschichten, das Aufführen von Theaterstücken und musikalischen Werken heilende Kräfte freisetzt, die Persönlichkeitsentwicklung stimuliert und damit therapeutisch wirkt. Mich persönlich haben diese Berührungsflächen zwischen Kunst und Psychotherapie immer wieder verblüfft und herausgefordert. Potenziell ist das Thema unendlich; denn sowohl in der Kunst als auch in der Psychotherapie geht es um nichts anderes als das Wesen des Menschen, um die Art, wie er sein Leben zusammen mit anderen lebt und wie er es erzählt. Das war auch Thema auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, auf dem alle Christen sozusagen verpflichtet wurden, in die Auseinandersetzung mit der Kultur einzutreten und sich mit Kunst auf der Höhe ihrer Zeit zu beschäftigen. Literatur und Kunst sei – so der Originaltext – »für das Leben der Kirche von großer Bedeutung. Denn sie bemühen sich um das Verständnis des eigentümlichen Wesens des Menschen, seiner Probleme und seiner Erfahrung bei dem Versuch, sich selbst und die Welt zu erkennen und zu vollenden« (GS 62). Nachfolgend sollen unterschiedliche Dimensionen angesprochen werden, unter denen ein aktives künstlerisches Gestalten und eine Begegnung mit Kunst nicht nur generell als die Persönlichkeit bereichernd, sondern gerade für systemische Therapeutinnen als Gewinn bringend angesehen werden können. Das Thema wird aber eingegrenzt auf einige zentrale Aspekte Systemischer Therapie. Einige von ihnen wurden bereits von Stierlin in seinem eindrucksvollen Vortrag aufgeführt, in dem er auch die Frage stellte, »ob wir nicht von einem besseren Verständnis der Kunst und des künstlerischen Prozesses © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Einsichten erwarten dürfen, die uns in der genannten Problematik [dem Umgang mit Komplexität und wirklichen oder anscheinenden Widersprüchlichkeiten in der Therapie] weiterhelfen« (1983, S. 370). Neugierde Die Neugierde, eine der wichtigsten Haltungen einer systemischen Therapeutin, wurde bereits als Gegenpol gegen den Versuch der Kontrolle angesprochen. Sie ist eine Neugierde nicht primär auf Geschichten und alltägliche Ereignisse, sondern ein Interesse an der Art, wie Klienten und wie Familien ihre Wirklichkeit konstruieren, welche Vorannahmen ihr Handeln bestimmen und welche Regeln und Verhaltensmuster daraus abgeleitet werden. Genau diese Neugierde ist auch das, was Künstler antreibt und ihren künstlerischen Produktionen zu Grunde liegt. Wenn sie gelingen, wecken sie wiederum die Neugierde des Betrachters, der – ähnlich einer Therapeutin im Blick auf ihren Klienten – nach der besonderen Perspektive und dem speziellen Ausdruck dieses Kunstwerks forscht. Der Betrachter geht also nicht der Frage nach »Was will der Künstler uns sagen?«, mit der Generationen von Lehrern ihre Schüler gequält und von Kunst abgeschreckt haben (Künstler wollen nichts »sagen«), sondern begibt sich auf eine Forschungsreise letztlich in sich selbst, danach fragend, was das Kunsterleben in ihm anstößt und die Kunsterfahrung an Neuem, die eigene Sicht Erweiterndem in ihm auslöst. Zeitgenössische Kunst ist dabei oft eine besondere Herausforderung; denn sie ist – wie Schmidt (1998) es sehr anschaulich formuliert – »oft so etwas wie eine bewusst herbeigeführte Kommunikationsstörung«, das heißt: Sie erschwert das selbstverständliche Verstehen, das Neugierde überflüssig macht, und ist gerade dadurch Ausdruck des Wunsches nach besserem Verständnis und besserer Kommunikation sowie Anstoß zu einer Erweiterung des Horizontes der Betrachter, Leser oder Zuhörer. Für mich persönlich war es eine der wichtigsten und auch schwierigsten Lernerfahrungen in der Folge von Cecchins berühmten Aufsatz über die Neugierde (1988), meinem Klienten zwar selbstverständlich sehr viel Verständnis für sein Leid zu zeigen, aber ihn nicht zu verstehen, das heißt, seine vorgetragenen Selbstverständlichkeiten nicht verstehend abzunicken, sondern sie sofort durch »aktiv inter© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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venierendes Zuhören« neugierig und interessiert, oftmals erstaunt und verwundert zu hinterfragen und damit bei meinem Gegenüber neue Gedanken und Erlebensweisen anzustoßen. Darüber hinaus geht es in der Kunst genau um das, was in der Psychotherapie zentral ist: um Beziehung und Beziehungsgestaltung, letztlich um Begegnung. Es geht darum, sich vom anderen anrühren zu lassen, ihn in allem, was sichtbar wird, zu respektieren und darauf zu antworten, indem die Therapeutin erforscht, was in ihr selbst angeregt und angestoßen wird und dies in ihrem weiteren therapeutischen Vorgehen nutzt. Schönheit Ästhetik ist die Lehre von den Empfindungen, insbesondere die Wissenschaft vom Schönen, Geschmackvollen, Künstlerischen (von Kienle, o. J.) und damit eine Domäne der Kunst. Wenn es nun aber stimmt, dass Schönheit und Eleganz sich »als Ziel und Maßstab der Wahr- bzw. Echtheit therapeutischen Handelns bestimmen lassen« (Stierlin, 1982, S. 373) bzw. nach Ludewig ein Evaluationskriterium für gelungene Psychotherapie sind, nach Bateson Lohn der Neugier, dann dürfte es naheliegend sein, dass Therapeuten in der Begegnung mit Kunst ihre Sensibilität für dieses Kriterium schulen können. Dieses Sichschulen im Umgang mit fraglich Schönem ist von hoher Bedeutung und eine lebenslange Aufgabe. Denn das zentrale Problem des Merkmals Schönheit liegt auf der Hand: Sie ist nicht objektiv bestimmbar, ist subjektiv und unsicher. Entscheidungen über »schön« oder »hässlich« sind begleitet von vielen Möglichkeiten des Irrtums, wenn man überhaupt von »Irrtum« sprechen kann angesichts des Fehlens sicherer Beurteilungsmaßstäbe. Erst im Dialog mit anderen lassen sich Orientierungspunkte gewinnen, die Verantwortung für die persönliche Entscheidung lässt sich jedoch nicht delegieren. In dieser Hinsicht lässt sich eine große Nähe zu den Dimensionen der Ethik erkennen, wo es auch keine sicheren Maßstäbe gibt, sondern nur den ethischen Dialog, der Orientierung schaffen, aber auch keine Sicherheit bringen kann – ein Weg, der radikal in der individuellen, persönlichen Verantwortung endet (Rotthaus, 2010; 2014). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Das Ertragen von Unsicherheit Eine der größten Herausforderungen für junge Therapeutinnen besteht darin, sich auf die prinzipielle Unkalkulierbarkeit des therapeutischen Prozesses einzulassen. Es geht um die Fähigkeit und Bereitschaft, Unsicherheit zu ertragen, den Entwicklungen des Klienten zu folgen, vorgefasste Hypothesen gegebenenfalls aufzugeben, anderen Wegen als erwartet zu folgen und Geplantes über Bord zu werfen. Das bedeutet aber nicht, sich auf Beliebigkeit einzulassen und als Getriebene den Darstellungen des Klienten zu folgen. Es geht vielmehr um den Umgang mit der Paradoxie: Wie kann man das prinzipiell Nichtplanbare planen? Und: Wie kann man das Nichtzu-Steuernde steuern? Vorbereitungen auf eine Therapiestunde, Konzepte zu Vorgehensweisen und das Aufstellen von Hypothesen sind wichtige Arbeitsschritte; aber der therapeutische Prozess erfordert Offenheit für völlig Unerwartetes und eine größtmögliche Freiheit von allem Vorgedachten und Vorgeplantem. (Rotthaus, 2006). All dies zeichnet künstlerisches Handeln aus: das Vorbereiten, Planen, Befähigen, »Trainieren« (»Kunst kommt etymologisch von Können«) einerseits und das Loslassen und die Zuversicht in das, was sich entwickelt, das Sichöffnen für das Unerwartete andererseits. Dasselbe lässt sich erfahren in der Begegnung mit Kunst, wenn man sich frei macht von den Erwartungen, die durch Tradition und Vorerfahrung geprägt sind. Auch in der rezipierenden Auseinandersetzung geht es um das Ertragen von Unsicherheit, wenn die Bereitschaft besteht, sich auf »Unerhörtes«, bisher nicht Gehörtes oder Gesehenes unter Verzicht auf bisher bewährte Bewertungskriterien einzulassen – Irrtümer eingeschlossen. Kreativität Wenn große Industrieunternehmen Kunst fördern, tun sie das einerseits als PR-Maßnahme, zum anderen aber erklärtermaßen, um ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durch Kunst in ihrer Kreativität zu fördern. Sie investieren also Geld in Kunst, um die Innovationsfähigkeit und Produktivität des Unternehmens zu fördern. Der Begriff Kreativität geht auf das lateinische Wort »creare« zurück, was so viel bedeutet wie »etwas neu schöpfen, etwas erfinden, etwas neu erzeugen oder herstellen«. Es enthält als weitere Wurzel © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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das lateinische »crescere«, das »geschehen und wachsen« bedeutet. Als wichtigste Voraussetzung für Kreativität wird die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Grenzüberschreitung angesehen. Kreativität ist sicherlich das wichtigste Kennzeichen künstlerischen Handelns. Dabei muss der Künstler auf ein Mindestmaß an Anschlussfähigkeit achten, da sonst seine künstlerischen Produktionen schlicht nicht wahrgenommen werden. Kreativität ist aber sicherlich auch ein wichtiges Merkmal psychotherapeutischen Handelns. Die Therapeutin gibt ihren Klienten neuartige, überraschende, »angemessen ungewöhnliche« Impulse mit dem Ziel, neue Sichtweisen, neue Perspektiven und neue Lebensideen anzuregen. Systemische Therapeutinnen können dazu auf einen reichen Schatz an kreativen Methoden zurückgreifen, die nicht zuletzt auch dafür Sorge tragen, dass ernste Dinge mit der hinreichenden Leichtigkeit behandelt werden. Dabei muss die Therapeutin mit großer Sensibilität auf die Anschlussfähigkeit ihres Tuns achten, da ohne diese ihr Handeln als irrelevant, wenn nicht als aversiv erlebt wird. Aber auch die doppelte Bedeutung des Begriffes Kreativität ist für Therapie äußerst signifikant. Denn es geht um das Erschaffen von Neuem einerseits, gleichzeitig aber auch darum, den Entwicklungsprozess des Klienten geschehen und wachsen zu lassen, ohne ihn durch übergroße Aktivität oder eine selbst entwickelte Zielsetzung zu stören. Erweiterung der Möglichkeiten Heinz von Foersters Maxime »Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst« (1993, S. 49) ist eine mit Recht oft zitierte Devise systemtherapeutischen Arbeitens. Dazu nutzt die Therapeutin Visionen einer problemfreien Zukunft ebenso wie hypothetische Fragen. Sie gebraucht immer wieder den Konjunktiv. Denn die Möglichkeitsform ist das, was Zuversicht weckt, was hoffen und träumen lässt. Der Konjunktiv ist der Weg, mit dem Therapeutin und Klient im Gespräch die Wirklichkeit überschreiten. »Im Konjunktiv liegt« – was Carolin Emke in einer Analyse der Reden von Angela Merkel vermisst (2013, S. 22) – »eine Einladung zur Partizipation, eine Aufforderung, das, was noch nicht ist, gemeinsam werden zu © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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lassen, in der Möglichkeitsform liegt das Utopische, dass Kreative, das Lebendige, das, was für Europa eine gemeinsame Erzählung sein könnte« – für den Klienten eine wunderbare Erzählung ohne das bisherige Leid. Eine solche Beschreibung therapeutischen Handelns lässt sich wortwörtlich als Darstellung dessen nutzen, was Bilder, Skulpturen, Gedichte, Romane, Sinfonien, Opern und Kammerkonzerte anstoßen und anregen können. Es geht um Neues, bislang so nicht Gesehenes und Gehörtes, Gefühltes und Erlebtes. Es geht immer um eine Erweiterung des Möglichen, um Visionen, Träume, um noch nicht Fassbares und vielleicht Unerreichbares, es geht darum, Dinge hinter sich zu lassen und dem vielleicht nur Geahnten nachzugehen. Es geht um Werden und Vergehen. Was sollte es geben, dass unmittelbarer die Person und das Handeln der Therapeutin anregen und bereichern könnte?

Narrative Therapie In der Narrativen Therapie werden die Überschneidungsebenen von Kunst und Therapie unmittelbar evident. In Romanen, Theaterstücken und Gedichten werden Geschichten über Menschen erzählt und in klassischen Mythen die zentralen Themen des Lebens – Liebe und Hass, Schuld und Verstrickung – behandelt. Entsprechendes geschieht in der Musik, und hier nicht nur in der Oper, und in der Bildenden Kunst. Wir Menschen leben in Geschichten und organisieren in ihnen die Sinnzusammenhänge unseres Lebens ebenso wie unsere Erinnerungen. Wenn die Menschen sich im Laufe ihres Lebens ändern, passen sie auch ihre Erinnerungen diesen Änderungen an, um ihre Vergangenheit mit der aktuellen Erzählung über sich selbst stimmig zu halten. Deshalb formuliert der Schriftsteller Max Frisch: »Nichts ist so schwer vorherzusagen wie die Vergangenheit.« Auf therapeutischer Seite formulieren Efran und Kollegen (Efran, Lukens u. Lukens, 1992, S. 127): »Menschen sind unverbesserliche und geschickte Geschichtenerzähler, und sie haben die Angewohnheit, zu den Geschichten zu werden, die sie erzählen. Durch Wiederholung verfestigen sich die Geschichten zu Wirklichkeiten, und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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manchmal halten sie die Geschichtenerzähler innerhalb der Grenzen gefangen, die sie selbst erzeugen halfen.« Und die Protagonisten der Narrativen Therapie Michael White und David Epston fragen 1990: »Welchen Geschichten erlaubst du, dein Leben zu regieren – und wer könntest du sein, wenn du manchen Geschichten weniger Macht einräumen würdest und anderen mehr?« Das heißt: Zuweilen werden in Familien und anderen sozialen Bezugssystemen Geschichten über eine Person erzählt, die Leid erzeugen. Diese Erzählungen stehen im Zusammenhang mit Erzählmotiven des Versagens oder von Schuld. Sie geben negative Darstellungen über den Charakter oder den Wert dieser Personen. Narrative Therapie beschäftigt sich dann mit der Art und Weise, wie solche Geschichten »geschrieben« werden und wie sie »neu geschrieben« werden können, so dass sie weniger leidvoll sind. Die Leid-Geschichte wird also dekonstruiert, und gemeinsam mit dem Klienten und seinen Zugehörigen wird eine neue, weniger oder nicht mehr leidvolle Geschichte entwickelt. Ist es völlig abwegig zu sagen, dass in diesem Prozess Klientin und Therapeutin gemeinsam künstlerisch tätig werden?

Abschließende Anmerkung Ein Blick in Gegenwart und Geschichte zeigt sehr anschaulich, in welchem Maße totalitäre Regime das revolutionäre Potenzial von Kunst scheuen und welche Ängste sie vor der Kraft der Kunst haben, die Menschen in ihrer Autonomie und in ihrem kritischen Denken zu fördern, die sich mit ihr auseinandersetzen. Sie fürchten die Öffnung für unterschiedliche Betrachtungsweisen und Perspektiven und die Anregung, neue, unkonventionelle, Weiterentwicklung fördernde Ideen zu entwickeln. Sie versuchen, dem eine staatlich verordnete Pseudo-Kunst statischer Art entgegenzustellen, mit der sie die Menschen einzuschläfern und damit jegliche innovativen Ideen zu verhindern suchen. Dabei bekommt natürlich neueren, das Bisherige in Frage stellenden künstlerischen Entwicklungen besondere Bedeutung zu, weil in ihnen die Grenzerweiterung, die Vielfalt des Möglichen und das Erleben der Freiheit, bisher Ungesehenes und Unerhörtes sichtbar und hörbar zu machen, besonders eindrucksvoll ist. Aber das gilt in subtilerem Maße selbstverständlich auch bei der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Betrachtung der Kunst, die dem traditionellen Kanon zugerechnet wird, oder beim Hören neuer künstlerischer Interpretationen altbekannter Werke. Das Gemeinsame von Kunst und Psychotherapie: Sie können gleichermaßen Veränderungen anstoßen. Der Gestalter von Kunst und der Betrachter, Leser oder Hörer entscheiden dabei selbst, wie viel Verstörung sie sich zumuten wollen. Der Psychotherapieklient bittet um Anregungen zur Entwicklung in Richtung einer wahrscheinlich weniger leidvollen Zukunft. Aber auch seine Entscheidung, den Vorhang der Angst vor dieser noch unbekannten Zukunft (noch) nicht zu durchschreiten, verdient, respektiert zu werden. Das fällt Psychotherapeutinnen oft schwer. Sie können vielleicht in ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit Kunst erfahren, wie bereitwillig sie sich selbst verstören und dazu anregen lassen, neue Erlebens- und Handlungsfelder zu betreten. Literatur Bateson, G. (1983). Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brugger, I., Gorsen, P., Schröder, K. A. (Hrsg.) (1997). Kunst und Wahn. Köln: DuMont. Cecchin, G. (1988). Zum gegenwärtigen Stand von Hypothetisieren, Zirkularität und Neutralität. Eine Einladung zur Neugier. Familiendynamik, 190–203. Efran, J., Lukens, M., Lukens, R. (1992). Sprache, Struktur und Wandel. Dortmund: modernes lernen. Emke, C. (2013). Emckes Expeditionen: Auf der Suche nach der Demokratie. Was hat sie gesagt? Zeitmagazin Nr. 35 vom 22. 08. 2013, S. 22. Foerster, H. von (1993). Wissen und Gewissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kienle, R. von (o. J.). Fremdwörterlexikon. München: Keysersche Verlagsbuchhandlung. Ludewig, K. (1988). Nutzen, Schönheit, Respekt – drei Grundkategorien für die Evaluation von Therapien. System Familie, 1, 103–114. Ludewig, K. (2002) Leitmotive systemischer Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Rotthaus, W. (2006). Erziehung – Auf der Suche nach orientierenden Konzepten im Nicht-Planbaren. In C. Tsirigotis, A. von Schlippe, J. Schweitzer (Hrsg.), Coaching für Eltern (S. 36–43). Heidelberg: Carl Auer. Rotthaus, W. (2010). Wozu erziehen? Entwurf einer systemischen Erziehung (7. Aufl.). Heidelberg: Carl Auer. Rotthaus, W. (2014). Ethik und Recht. In T. Levold, M. Wirsching (Hrsg.), Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch (S. 497–509). Heidelberg: Carl Auer. Schmidt, P. F. (1998). Kunst als Ausdruck und Begegnung. Ein Erfahrungsbe-

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richt und eine Schlussfolgerung aus personaler Sicht. Lebendige Seelsorge, 6, 316–319. Stierlin, H. (1983). Familientherapie: Wissenschaft oder Kunst. Familiendynamik, 6 (4), 364–377. White, M., Epston, D. (1990). Die Zähmung der Monster. Heidelberg: Carl Auer.

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Christina Hunger-Schoppe

Betrachtungen einer interkulturell systemischethnologischen Haltung: Ergänzungen für eine interkulturelle systemische Therapie

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Drum nähme ich den Stock und Hut und tät das Reisen wählen. Matthias Claudius (1740–1815)

Einige Gründe, diesen Beitrag nicht zu schreiben, und einige Gründe, es doch zu tun Es gibt viele Gründe, keinen Beitrag über mögliche Betrachtungen von interkulturellem systemischem und ethnologischem Tun und dessen möglichem Mehrwert für eine interkulturelle systemische Therapie zu schreiben. Allen voran ist klar, dass es bereits mindestens zwei aus meiner Sicht sehr gute Publikationen zu interkultureller systemischer Therapie und Praxis gibt (von Schlippe, El Hachimi u. Jürgens, 2004; Pirmoradi, 2012). Gleichfalls gibt es Publikationen, die ethnologisches und systemisches Gedankengut sehr gut miteinander in Beziehung setzen, ohne jedoch eine interkulturelle systemische Therapie explizit in den Fokus zu nehmen (Krause, 2003, 2012). Doch gibt es ähnlich viele Gründe, dieses Kapitel doch zu schrei­ ben. Besonders zu betonen ist, dass es keine Veröffentlichung gibt, die sich explizit den Parallelen zwischen systemtherapeutischen und ethnologischen Grundhaltungen widmet. Bisherige Betrachtungen beschäftigten sich mit den Ähnlichkeiten zwischen Psychotherapie und Ethnologie im Allgemeinen (z. B. Mead, 1972/1995). Ein weiterer Grund ist, dass dieser Beitrag an die Inhalte der zuvor genannten Publikationen anschließt und diese in seiner Konkretheit ergänzt. So ist die systemische Therapie bekannt für ihr Potenzial, Brücken zwischen verschiedenen (Teilen von) Systemen zu bauen. Dieses © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Potenzial hat seinen Ursprung in systemischen Prinzipien wie jenen des Joinings, der Erzeugung neuer Informationen, der Neugierde und Neutralität und nicht zuletzt der wechselseitigen Verflochtenheit. Ähnliche Prinzipien liegen der ethnologischen Arbeit zugrunde. Eine gemeinsame Betrachtung beider Disziplinen erschien mir daher interessant und bereichernd. In diesem Sinne stimme ich Gregory Bateson (1936) zu, dass Interessantes vor allem dann entsteht, wenn mindestens zwei Muster, oder im vorliegenden Fall zwei wissenschaftliche Disziplinen, miteinander in Beziehung treten und zur Entstehung eines neuen gemeinsam geteilten Dritten beitragen. So hoffe ich, mit diesem Beitrag einen Beitrag zum Diskurs des »Zwischen-uns« gerade in der interkulturellen systemischen Therapie zu leisten. Dabei ist mir klar, dass die Auswahl der folgenden Betrachtungen rein subjektiv ist. Ich hätte auch anderes wählen können. Auch geht es mir um eine Einführung in interkulturell systemisch-ethnologisches Gedankengut mit Blick auf dessen Nützlichkeit für eine interkulturelle systemische Therapie, vielmehr als um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung im Schnittpunkt beider Disziplinen. Zur Orientierung dienten mir die für mich prägnantesten Erfahrungen als klinische Psychologin und psychiatrische Ethnologin während meiner systemtherapeutischen Tätigkeit. Insofern stellt dieses Kapitel keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ganz im Gegenteil möchte ich dazu einladen, in einer ersten Begegnung die Luft der Gemeinsamkeiten von systemischen Therapeuten und Ethnologen vor dem Hintergrund einer interkulturellen systemischen Therapie zu schnuppern. Im Folgenden möchte ich zunächst ethnologisches und systemisches Sein mit einem für beide Disziplinen bekannten Gesicht, Gregory Bateson, verbinden. Sodann möchte ich auf die Frage eingehen, was das Tun systemischer Therapeuten, Ethnologen und in aller Kürze skizziert, interkultureller systemischer Therapeuten kennzeichnet. In Kernteil dieses Kapitels stelle ich fünf Betrach­ tungen aus systemischer Therapie und Ethnologie vor. Diese mögen zusammengenommen einen Beitrag zu einer, wie ich es formulieren mag, interkulturell systemisch-ethnologischen Haltung leisten und für die Ausbildung einer interkulturell kompetenten und sensiblen Haltung von grundlegender Bedeutung sein. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Es sei angemerkt, dass die Fallbeispiele in diesem Kapitel an meine sowie die interkulturell systemische Praxis befreundeter Kollegen angelehnt oder der Literatur entnommen sind. Einzelne Details sind fiktiv und im Dienste der Pseudonymisierung verändert dargestellt.

Ethnologischem und systemischem Sein ein Gesicht geben: Gregory Bateson Gregory Bateson ist Ethnologe und Mitgründer des systemtherapeutischen Ansatzes. In dieser Kombination verkörpert Gregory Bateson für mich die Idee einer aus beiden Disziplinen gespeisten und innerhalb eines Menschen lebendigen Haltung gegenüber der Welt und der in ihr lebenden Menschen. Die im Zentrum dieses Kapitels stehenden fünf Betrachtungen sollen diese systemisch-ethnologische Haltung konkretisieren. Doch zunächst sei die Person Gregory Batesons kurz vorgestellt. Gregory Bateson wurde 1904 in England geboren. Er studierte zunächst Zoologie und wurde später als Anthropologe und Systemtheoretiker weltbekannt. Während des zweiten Weltkrieges betrieb er ethnologische Forschungen bei den Iatmul in Neu-Guinea. Bekannt wurden seine ethnologischen Studien vor allem durch seine Beschreibungen des Naven-Ritual, einer Arbeit, die stark durch den Strukturfunktionalismus und die »Väter« der Ethnologie, des Bronisław Mali­ nowski und speziell des Alfred Radcliffe-Brown, geprägt war. Dabei interessierten ihn weniger die Handlungen einzelner Individuen als vielmehr die Funktion der kulturellen und sozialen Strukturen innerhalb eines Gesellschaftskollektivs, die dazu dienen, die Bedürfnisse ganzer Gruppen von Individuen zu befriedigen. Bateson vertritt einen stark ausgeprägten Kulturrelativismus, in dem jede Kultur für sich ihren einzigartigen Wert hat und Vergleiche zwischen Kulturen unzulässig erscheinen. Über die kulturelle Einbindung hinaus spielt für ihn die genetische Disposition in der Prägung eines Menschen eine ebenso wichtige Rolle. Nach seiner Rückkehr nach Amerika in den 1940er Jahren wurde Bateson Professor, unter anderem in Harvard und am Veterans Administration Hospital, wo er ethnographische Interviews mit Psychiatern © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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führte. Ebenfalls in dieser Zeit beteiligte er sich vor allem mit Norbert Wiener an den Entwicklungen der Kybernetik, die später für die systemische Therapie so wichtig werden sollte. Dabei konnte er auf seine umfassenden Erfahrungen im Umgang mit Mitgliedern außeramerikanischer und außereuropäischer Kulturen zurückgreifen. In der von ihm in den 1950er Jahren mitbegründeten Palo-Alto-Gruppe richtete er sodann sein Augenmerk auf die Paradoxien in der Kommunikation psychischer Erkrankungen. Hier entwarf er seine Doppelbindungstheorie und übersetzte Begriffe der symmetrischen und komplementären Kommunikation in die Psychiatrie. Insofern übte er vor allem in seinen frühen Jahren einen starken Einfluss auf die Ethnologie und in seinen späteren Jahren auf die systemische Therapie aus. Im Folgenden sei das Tun innerhalb dieser beiden Disziplinen sowie im Rahmen der interkulturellen systemischen Therapie kurz vorgestellt.

Was tun systemische Therapeuten? Systemische Therapeuten haben über die Jahre hinweg auf viele verschiedene Arten und Weisen versucht, soziale Systeme darin zu unterstützen, sich zu verändern. Die unterschiedlichen Richtungen, denen systemische Therapeuten dabei folgen, beziehen sich auf einen hinreichend ähnlichen metatheoretischen Überbau: die Systemtheorie und den radikalen Konstruktivismus (Klein u. Kannnicht, 2007; von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Gemeinsam ist ihnen einerseits, dass Veränderung neuer, bedeutsamer Informationen bedarf, und andererseits eine der Informationserzeugung dienliche therapeutische Haltung, die sich durch Neugierde und Neutralität auszeichnet (Cecchin, Lane u. Ray, 1993; Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1981). Im Zentrum ihres Tuns steht die Prozesssteuerung in der Kommunikation der verschiedenen Sichtweisen der Mitglieder eines Systems hinsichtlich der Dynamiken, die dieses System auszeichnen, und der Stabilisierung erwünschter sowie der Veränderung unerwünschter Systembewegungen. Ziel ist, dass die Mitglieder ein neues und nützlicheres Verständnis ihres eigenen Platzes und ihrer Funktion innerhalb des Systems erlangen und so verstehen, wie sie zum Zusammenhalt bzw. zur Auflösung des Systems beitragen (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Insofern arbeiten systemische Therapeuten mit einem Kollektiv und den Beziehungen, die dieses Kollektiv ausmachen. Sie streben Veränderung nicht durch Einsicht in persönliche Eigenschaften der Systemmitglieder noch durch die Eigenarten der therapeutischen Beziehung innerhalb des Hilfesystems an. Gleichfalls schließen sie diese jedoch nicht aus. Als grundständige Voraussetzung für Erfolg wird hingegen die Art und Weise des miteinander Seins der Klienten und der systemischen Therapeuten beschrieben. Indem Klient und Therapeut zueinander rückbezogen sind, haben sie gleichermaßen an den Bewegungen des Systems Anteil, so wie diese im therapeutischen Raum entstehen oder auch nicht entstehen (Krause, 2012). Systemische Therapeuten zeichnen sich dadurch aus, dass sie dieses Verhältnis und seine Auswirkungen reflektieren. Insofern nimmt der Therapeut als teilnehmender Beobachter an den verbalen und nonverbalen Interaktionen der Systemmitglieder teil und gleichzeitig beobachtet er die sich ihm zeigenden Kommunikations- und Interaktionsmuster dieses Systems einschließlich seiner selbst.

Was tun Ethnologen? Ähnlich den systemischen Therapeuten haben auch die Ethnologen während der letzten hundert Jahre in unterschiedlicher Art und Weise vor allem außereuropäische Ethnien zum Beispiel in Melanesien, im Himalaya oder im Amazonasgebiet untersucht und in ihren Ethnografien beschrieben. Aktuell steigt die Zahl ethnologischer Forschungen auch innerhalb Europas sowie mit Blick auf Darstellungen zu medialen Gesellschaften (Bierschenk, Krings u. Lentz, 2013; Hahn, 2013). Dabei sind es die Strukturfunktionalisten, die sich am stärksten an systemtheoretischen Überlegungen orientierten (Hahn, 2013). Gleichfalls übten sie einen bedeutsamen Einfluss auf die Systemtheorie selbst aus, so wie diese in der aktuellen systemischen Therapie zum Beispiel anhand der Schriften von Gregory Bateson und Niklas Luhmann rezipiert wird. Gemeinsam ist den strukturfunktionalistischen Ethnologen, dass sie Gesellschaften als komplexe Systeme verstehen und neue bedeutsame Informationen darüber zu gewinnen versuchen, welchen Nutzen (»Funktion«) soziale Institutionen für die Aufrechterhaltung (»Struktur«) eines Gesellschaftssystems (»Kultur«) haben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Diese Informationen sehen Ethnologen in den alltäglichen Selbstverständlichkeiten des Denkens, Fühlens und Handelns der Gesellschaftsmitglieder. Der heutige Königsweg der ethnologischen Forschung, die teilnehmende Beobachtung, dient dazu, durch aktive Involvierung und reges miteinander Sein den Alltag der interessierenden Menschengruppe so eingehend wie möglich zu verstehen (Malinowski, 1922/2001). Dazu nutzen Ethnologen ihre wissenschaftliche Haltung der Neugierde und Neutralität. Neugierde im ethnologischen Sinne schließt auch die Berührung mit sogenannten Fettnäpfchen als Hüter des impliziten Wissens eines sozialen Systems ein (Bernard, 2006). Neutralität im ethnologischen Sinne beschreibt einen Standpunkt, von dem aus der Forscher weder zu stark im untersuchten Gesellschaftssystem aufzugehen noch zu sehr den eigenen kulturellen Heimatkontexten verhaftet zu bleiben droht (Bernard, 2006). So wird der Ethnologe Teil des untersuchten Systems und gleichzeitig beeinflusst er dieses durch seine Teilhabe in dessen sozialen Dynamiken. Zentral für jede Feldforschung ist, diese durch gegenseitige Rückbezogenheiten entstehenden Bewegungen zu reflektieren und mit den persönlichen wie auch forschungsleitenden Interessen der eigenen Person wie auch mit den Interessen der anderen Gesellschaftsmitglieder in Zusammenhang zu bringen (z. B. Bateson, 1936; Krause, 2012).

Was tun interkulturelle systemische Therapeuten? Interkulturelle systemische Therapeuten haben zunächst eine Fortbildung in systemischer Therapie absolviert. Jedoch gibt es noch kein feststehendes Curriculum, das interkulturelle Aspekte in diese Fortbildung integriert. Insofern können die Teilnehmer der systemischen Fortbildung mehr oder weniger mit kulturellen Aspekten von sozialen Strukturen, von Gesundheit und Krankheit vertraut sein. Interkulturelle systemische Therapeuten arbeiten entlang der Hypothese, dass nicht der einzelne Mensch, der Symptome zeigt, hilfebedürftig ist, sondern ein soziokulturelles Umfeld (z. B. Familie, Team) und die zu diesem gehörenden Individuen einschließlich ihrer verschiedenkultureller Herkunft (von Schlippe et al., 2004; Pirmoradi, 2012). Dyadische Interaktionen sind eher ein Spezialfall © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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(Kleinman, 1980). Im Zentrum der interkulturellen systemischen Therapie steht die Erfragung kulturspezifischer Bedeutungen von Gesundheit und Krankheit, den ihnen zugrunde liegenden Erklärungsmustern und Behandlungsmaßnahmen (von Schlippe et al., 2004; Pirmoradi, 2012). Insofern kann die Berücksichtigung ethnologischer Theorien und Arbeitstechniken eine Bereicherung für jeden interkulturellen systemischen Therapeuten sein. Dabei verdient die innere Haltung während der Begegnung mit Menschen, sei es im ethnologischen Feld oder gleichwohl im interkulturell systemtherapeutischen Gespräch, Aufmerksamkeit. Um diese interkulturelle systemtherapeutische und ethnologische Haltung soll es im Kern dieses Beitrags und somit im folgenden Abschnitt gehen.

Fünf Betrachtungen in der Zusammenschau einer interkulturellen systemtherapeutischen und ethnologischen Haltung Teilnehmende Beobachtung und kontinuierliches Joining durch berufliches Abhängen in hochkonzentrierter Haltung Wie bereits erwähnt ist die Feldforschung der Königsweg der Ethnologen. Keine andere Disziplin beherrscht diese so wie sie. Ziel der Arbeit und des Lebens im Feld ist es, den Ethnologen »mit einer geistigen Landkarte auszurüsten« (Malinowski, 1922/2001, S. 35). Dazu bedarf es der Entwicklung einer emischen Sichtweise, das heißt eines Verständnisses aus der Innenperspektive des Systems zu diesem System. Dieses Verständnis gilt es sodann stets erneut auf seine Realität zu prüfen. Dazu dient in besonderem Maße die teilnehmende Beobachtung, die die sie betreibende Person direkt an den Ort des Geschehens bringt (»it puts you where the action is«; Bernard, 2006, S. 324). Es gilt, vor Ort und im Feld an einigen Teilen des Lebens teilzuhaben, an anderen nicht. Ziel ist es, das interessierende Phänomen so nah und gleichzeitig distanziert wie möglich zu begleiten, zu beschreiben und zu reflektieren. So studierte Russel Bernard (Bernard u. Pelto, 1987) das Leben von Tauchern, ließ sich aber nicht selbst als Taucher ausbilden und nahm daher nicht an den Tauchgängen teil. Gleichfalls studierte Nancy Scheper-Hughes (1978/2001) das Leben schizophrener junger Männer in Nordirland, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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sie wurde jedoch nicht selbst schizophren. Interessanterweise ist eines der wesentlichen Merkmale der ethnologischen Feldforschung, dass wissenschaftliches Arbeiten und Privatleben untrennbar sind (Fischer, 2002). Die Besuche in einer anderen Gesellschaft sind stationär, das heißt, es gilt nicht nur dort zu wohnen, sondern zu leben (Fischer, 2002). Daraus ergibt sich notwendigerweise das sogenannte Nähe-Distanz-Problem, wenn es gilt, die Nähe des Native zu leben und dennoch die Distanz des Wissenschaftlers zu bewahren, um das Erlebte bestmöglich vor seinem Entstehungskontext und dem professionellen Hintergrundkontext des Forschenden zu reflektieren. Auch wenn interkulturelle systemische Therapeuten nicht physisch in andere Gesellschaften reisen, so begegnen sie doch in ihrem Sitzungszimmer einem System, dessen Kultur es zunächst kennenzulernen gilt, bevor Interventionen gewinnbringend genutzt werden können. Darüber hinaus suchen interkulturelle systemische Therapeuten nicht selten die Mitglieder des Systems in ihrem natürlichen Umfeld auf, zum Beispiel zu Hause, in der Schule, im Jugendtreff, in einer klinischen Einrichtung, in einem Betrieb. Auch für sie kann es daher als zutreffend gelten, dass sie in einer für ihre Disziplin eigenen Art Feldforschung betreibt. Auch interkulturelle systemische Therapeuten müssen zunächst eine geistige Landkarte mit Blick auf das Klientensystem entwickeln. Dabei sollten sie ihre eigene Person als Teil dieser Landkarte einschließen. Sodann gilt es durch Überprüfung dieser geistigen Karte in realen Kontexten zu einer emischen Sichtweise aus dem jeweiligen interkulturellen therapeutischen System heraus zu diesem System zu gelangen. Gleichzeitig haben interkulturelle systemische Therapeuten mit der später erwähnten Neutralität eine gute Orientierungsmöglichkeit, um das in der Ethnologie beschriebene Nähe-Distanz-Problem erfolgreich zu überwinden, oder zumindest zu reflektieren, wenn es einen anfängt, in seinen Bann zu ziehen. Ein solches Verständnis interkultureller systemischer Therapie dient insbesondere dem Joining (Minuchin u. Fishman, 1981; Selvini Palazzoli et al., 1981). »To join a system« bedeutet, sich einem System anzuschließen. Dazu braucht es ein emisches Verständnis, das heißt eine therapeutische Aktivität, die zu einem Verständnis des Systems aus seiner Innenperspektive heraus beiträgt. Es geht darum, Mitglied © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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des betroffenen Systems im Therapiesetting zu werden und darin die Prozesssteuerung zu übernehmen (von Schlippe et al., 2004). Dabei ist Joining nicht ein einmaliges Tun, sondern ein Prozess, der die gesamte interkulturelle systemische Therapie durchzieht. Erst auf der Basis eines stets erneut gelungenen Joinings ist Veränderungsarbeit möglich. Oder wie von Schlippe, El Hachimi und Jürgens (2004) es mit einem ägyptischen Sprichwort ausdrücken: »Betritt nicht das Haus eines anderen, bevor er dich nicht dazu auffordert und dich begrüßt!« (S. 75). Dabei bedarf das Joining in interkulturellen Kontexten einer verstärkten Feinabstimmung auf mehreren Ebenen, nicht nur der verbalen Ebene. Die genannten Autoren fragen in diesem Sinne beispielhaft: »Wann passt es, die Kommunikation durch Körperkontakt zu unterstreichen, wie es – unter Männern! – in vielen arabischen Kulturen geschieht, und wann wäre das ein eklatanter Fauxpax?« (von Schlippe et al., 2004, S. 76). Informationsgenerierung: Es bedarf zweier Etwasse, um einen Unterschied hervorzubringen In diesem von Gregory Bateson stammenden Zitat liegt der Sinn jeder ethnologischen wie systemtherapeutischen Handlung: der Entdeckung bedeutsamer Informationen durch Bildung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Bedeutsamkeit definierte Bateson dabei durch die Eigenschaft der Neuartigkeit des Beschriebenen. In der Ethnologie geht es darum, eine zuvor unbekannte Sicht auf die alltäglichen und selbstverständlichen Handlungsweisen eines Gesellschaftssystems anzubieten. Gleichfalls gilt es, vermeintlich festgelegte und als selbstverständlich wahrgenommene Sachverhalte innerhalb des Heimatsystems des Feldforschers durch Reflexion des Fremden zu erlangen. Diese neuen Perspektiven stellen die zuvor als kohärent und in sich als geschlossen wahrgenommene Verbindung von dem, was ich glaube, was ist, und dem, wie ich daraufhin reagiere, in Frage (Bateson, 1936). Ähnlich gilt auch in der interkulturellen systemischen Therapie als grundlegender Mechanismus der Informationserzeugung die Wahrnehmung einer neuen, paradox erscheinenden Sichtweise auf eine wie auch immer geartete Beziehungsgestaltung innerhalb eines oftmals als konflikthaft erlebten Systems. Veränderung geschieht, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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wenn Alterativen im Fühlen, Denken und Handeln möglich werden (vgl. Becvar u. Becvar, 2007). Die interkulturelle systemische Therapie hat dabei den Vorteil, dass interkulturelle systemische Therapeuten nicht mit allen kulturellen Kontexten, mit denen sie arbeiten, auch stark vertraut sind. Dies ermöglicht breite Spielräume für die im nächsten Abschnitt beschriebene Neugierde, die wiederum der Bildung vielfältiger Hypothesen über das, was innerhalb des Systems und zwischen den Systemmitgliedern verhandelt wird, dienlich ist. Gleichzeitig birgt dieser Umstand jedoch auch die Gefahr an der Oberfläche der strukturbedingten Dynamik des Systems zu bleiben, wenn der Anschluss an das Klientensystem nicht gelingt. Die interkulturelle systemische Therapie und Ethnologie unterscheiden sich jedoch grundlegend in der Verwendung neuer bedeutsamer Informationen. So ist das Ziel der Veränderung in der interkulturellen systemischen Therapie das Klientensystem und in der Ethnologie wenn überhaupt das Heimatsystem des Ethnologen ist. Für beide gilt aber auch, dass wenn am Ende einer therapeutischen Sitzung die Klienten oder bei Publikation einer Ethnografie die Leser nichts erfahren haben, was neu für sie ist, sondern nur das bereits Bekannte besprochen wurde, dies ein Indikator für eine nicht gute Therapie beziehungsweise Ethnografie sein kann. Ein geschiedenes Elternpaar kommt mit einem stark zu Verhaltensauffälligkeiten motivierten Jugendlichen zum Gespräch. Der Vater ist in Tunesien, die Mutter und der Sohn in Deutschland aufgewachsen. Alle besitzen die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes. Der Sohn lebt zeitweise beim Vater, jedoch nimmt er Reißaus, sobald ihm die vom Vater gesetzten Regeln zu einengend erscheinen. Mutter und Sohn erzählen, dass der Vater in der Kindheit des Sohnes deutlich weniger streng gewesen sei. Im Verlauf der Gespräche entdecken die Klienten als erste neue Information, dass die Strenge des Vaters circa zu Beginn der Pubertät des Jungen eingesetzt habe. Als zweite neue Information entdecken sie, dass mit Eintritt in das 14. Lebensjahr der Vater seinen Sohn als gleichwertig erwachsen zu ihm selbst erlebt habe. Diese Sicht auf seinen Sohn gehöre in der Wahrnehmung des Vaters zu seinem tunesischen Kulturerbe. Als dritte neue Information entdecken Vater, Mutter und Sohn, dass der Vater sich in seiner Erziehung auch immer an

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deutschen Normen orientiert hätte, die aus seiner Sicht eine wesentlich strengere Erziehung einfordern würden als in dem Gebiet Tunesiens, in dem er selbst aufgewachsen sei. Umso mehr hätte er mit Eintritt seines Sohnes in das »Mannesalter« alles richtig machen wollen und hätte zur Tilgung seines möglicherweise zu nachlässigen tunesischen Erziehungsstils besonders auf die vom Großvater mütterlicherseits seines Sohnes betonten »deutsch-preußischen Erziehungsmöglichkeiten« gesetzt. Im Unterschied zu den Vater-Sohn-Interaktionen in Deutschland entdeckten die Klienten als vierte neue Information, dass es keine Erziehungskonflikte bei Reisen nach Tunesien gebe. Als Grund hierfür erklärt der Vater, dass er dort auch nicht hätte deutsch erziehen wollte, sondern zu seiner tunesischen »heimatlichen Haltung als Vater« stehen könne.

Neugierde: Beiseite treten und mit Achtsamkeit das Fettnäpfchen suchen Zur Erzeugung neuer Informationen kann Neugierde als eine der treibenden Kräfte angesehen werden: eine Person versucht, Neues zu entdecken, indem sie einen Sachverhalt aus einem anderen Blickwinkel anschaut, das heißt in Beziehung zu diesem Sachverhalt beiseite tritt. Wichtig ist, dass das Ziel einer neugierigen Haltung ist, mit diesem Neuen vertraut zu werden, vielmehr als es als etwas Fremdes zu exotisieren. Den Ethnologen ist diese Haltung als mittleres Maß zwischen einer ethnozentristischen versus die Einzigartigkeit des Fremden verherrlichenden Haltung bekannt. Ethnozentrismus steht für die Grundüberzeugung, dass der eigene Lebensstil der beste Bezugspunkt ist und an diesem sich jeder andere Lebensstile zu messen, im Extremfall auch zu unterwerfen hat. Beispiele hierfür sind die koloniale Gewalt der Kreuzzüge im Mittelalter wie auch jede faschistische Bewegung. Beispiele für die Verherrlichung anderer Lebensstile sind der »edle Wilde« zurzeit der Eroberung Lateinamerikas und das »Zurück zur Natur!« des Jean-Jacques Rousseau als Ausdruck der Abscheu gegenüber seiner eigenen kulturellen Zivilisation. Für Ethnologen und interkulturelle systemische Therapeuten gilt gleichermaßen, dass Neugierde eine aktive Haltung im Verantwortungsbereich des Professionellen ist. Neugierde leitet Suchprozesse und ist sowohl in der systemischen Therapie als auch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Ethnologie zentraler Bestandteil jeder Hypothesenbildung, ihrer Überprüfungen und der Ableitung neuer Hypothesen aus einem so veränderten Systemerleben (von Schlippe et al., 2004). Wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, kommen interkulturelle Kontexte, sei es in ethnologischen wie auch systemtherapeutischen Zusammenhängen, einer neugierigen Haltung entgegen. Durch das Aufeinandertreffen sich nicht oder nur wenig bekannter Systeme ergibt sich ein Maximum an offenen Fragen. Gleichfalls steigt mit dem Reichtum an Unwissenheit auch die Anzahl und Vielfältigkeit der möglichen Fettnäpfchen. Wer nicht weiß, dass die Hausfrau neben dem Ofen das Stiefelfett stehen hat, der läuft Gefahr, in dieses hineinzutreten (Schwedt, 2012). Ähnlich wie dem Ethnologen sind dabei dem interkulturellen systemischen Therapeuten die Schnittstellen der verschiedenen Systeme, in denen er sich bewegt (z. B. therapeutisches Setting, Ausländerbehörde, Schule, Betrieb, Arzt) nicht immer umfassend deutlich. Eine neugierige und gleichzeitig achtsame Haltung mag jedoch die größtmögliche Gewähr zum Gelingen einer Kooperation verschiedener und damit vor allem interkultureller Arbeitsfelder bieten (vgl. von Schlippe et al., 2004). Eine deutsche Psychologin lebt seit drei Monaten in einem wohlhabenden Stadtviertel in Lima, Peru. An ihrem ersten Arbeitstag als systemische Therapeutin kommt ein peruanisches Ehepaar zum Gespräch. Wie üblich begrüßt die Therapeutin sowohl den Mann als auch die Frau per Küsschen in landesüblicher Sitte. Ohne es konkret benennen zu können, verspürt sie dabei eine leichte Irritation auf beiden Seiten. Das Gefühl wiederholt sich bei der Begrüßung zu den zwei folgenden Gesprächen. Auch beschleicht die Therapeutin der Eindruck, dass der Paarkonflikt in den Schilderungen der Klienten nicht greifbar wird. Im vierten Gespräch fasst sich die Therapeutin ein Herz und meldet ihre Wahrnehmung den Klienten zurück. Das peruanische Ehepaar wirkt erleichtert. Beide beschreiben, dass auch sie bei der Begrüßung irritiert gewesen seien. Zwar erscheint in Peru die Kussgeste obligatorisch, jedoch umfasst diese Regelung nicht notwendigerweise professionelle Kontexte, vor allem nicht, wenn es um intime Beziehungen geht. Die Klienten schildern, sie hätten sich wesentlich wohler gefühlt, hätte die Therapeutin wie in Deutschland und zum Teil auch in peruanischen

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Klinikkontexten inzwischen gewohnt, den Klienten zur Begrüßung einfach die Hand gereicht. Vor allem der Mann betont, dass sich ihm der Kontext der Gespräche durch die Kussgeste, noch dazu durch eine Therapeutin, von der er ja wusste, dass sie Deutsche sei, zu wenig professionell, ja gar zu intim erschien.

Neutralität: Verhandlung von Nähe und Distanz und dabei über das konventionell Vertraute hinausschauen In der interkulturellen systemischen Therapie steht Neutralität dafür, dass der Therapeut das Klientensystem dabei unterstützt, Informationen herauszuarbeiten, ohne zu sehr einer bestimmten Sichtweise anzuhaften. Neutralität in diesem Sinne bedeutet, dass der Therapeut durchaus eine eigene Meinung haben darf. Er darf sich nur nicht in eine bestimmte Hypothese verlieben, sei diese zugunsten der kulturellen Kontexte der Klienten wie auch zugunsten seiner heimatlichen Kontexte. In der Ethnologie ist dieser Spagat als NäheDistanz-Problem bekannt. Die Innerperspektive der Alltagssituation zu erschließen und vom Fremden zum Vertrauten werden bedeutet, sich über nahe Interaktionen einem Familien-, Gesellschafts- oder Krankheitssystem anzuschließen. »Kinship« im Sinne von Verwandtschaft wird klassischerweise als Blutsangelegenheit eines langen und intimen alltäglichen Lebens verstanden. Gleichzeitig gilt es die professionelle Rolle des ethnologischen Forschungsreisenden inne zu behalten. Neutralität in diesem Verständnis ist die Balance zwischen einem zu starken Werden wie das untersuchte soziale System (»going native«) und der vollständige Beobachtung ohne Interaktion (»complete observer«; Bernard, 2006). Insofern ermöglichen interkulturelle systemtherapeutische Kontexte, an innerer Reife und Bereitschaft in der Begegnung mit zuvor unbekannten Menschen zu wachsen. Sie fordern per se alle Beteiligten heraus, über das konventionell Vertraute hinauszuschauen und entsprechend zu handeln. Für den interkulturellen systemischen Therapeuten bedeutet dies zu sehen, dass andere anders denken, fühlen und handeln mögen als ich, und dass sie in dieser ihnen eigenen Art möglicherweise besser aufgehoben sind, als wenn sie in meiner Art denken, fühlen und handeln würden. Es gilt, sich gegenüber anderen Erklärungs-, Handlungs- und Lösungsmodellen zu öffnen und sich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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für diese zu interessieren (u. a. Pirmoradi, 2012). In monokulturellen Kontexten sind die Unterschiede oft weniger explizit wahrnehmbar. In ihnen werden die Mitglieder eines Systems eher als »gleich-wertig« wahrgenommen und somit die »Realität« dieser Gleichwertigkeit nicht unbedingt auch explizit erfragt. Jedoch kann Neutralität in interkulturellen Kontexten auch zu Nachteilen führen. So gilt es zu unterscheiden zwischen fremdbestimmt-erzwungener und freiwillig-ungezwungener Migration. In der ersten Möglichkeit zählen Gewaltkontexte oftmals zu vergangenen Erfahrungswelten. Gleichfalls bestimmen sie nicht selten auch gegenwärtige Wahrnehmungen und Erlebnisse. Ebenfalls kann es dazu kommen, dass Eltern keine Orientierungsfunktion mehr übernehmen können, zum Beispiel weil sie durch eigene Traumatisierung in der Migrationsphase selbst den Boden unter den Füßen verloren haben oder der Jugendliche unbegleitet nach Deutschland kam. Dann kann, beziehungsweise in manchen Fällen muss, die Therapeutin die Orientierungsfunktion übernehmen. Da in diesem Fall die therapeutische Neutralität gefährdet ist, sollte eine solche Funktion nur kurzfristig übernommen und externe Hilfe über Erziehungsberatungsstellen gesucht werden (vgl. Pirmoradi, 2012) Die Psychiater Roland Littlewood und Maurice Lipsedge beschäftigen sich in ihren Publikationen mit den »Verwirrungen«, die aus dem Versuch von Psychiatern entspringen, psychische Anomalitäten in religiösen Minderheitengruppen zu sehen. Sie beschreiben den Fall einer in Jamaika geborenen, gut integrierten und schon lange in London lebenden Migrantin, die Mitglied einer Pfingstgemeinde ist. Bald nach ihrem Eintritt begann sie, in Zungen zu sprechen. Sie arbeitete weiterhin im Krankenhaus, lebte allein und scheinbar ohne größere Sorgen in einer gemieteten Wohnung, die sie ausschließlich zur Arbeit oder zum Kirchgang verließ. Doch obwohl sie so gefestigt in ihrem Glauben war, unternahm sie keine Aktivität, organisatorische Arbeiten der Kirche zu übernehmen. Die Jamaikanerin wurde aufgrund »exzessiver Religiosität« und »Zuständen der Ekstase« in der Psychiatrie vorstellig. Bereits in der ersten Begegnung gab sie einen Aufschrei von sich, rollte sich auf den Boden und schrie Dinge, die die behandelnden Psychiater nicht ver-

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standen, deren Sprache jedoch einen kohärenten Rhythmus ähnlich der eines evangelischen Priesters hatte. Die Psychiater fragten sich, ob die Klientin in Zungen sprach. Daher suchten sie nach Mitgliedern ihrer Kirche, um diese zu fragen, was zu tun sei. Ungefähr zehn Kirchenfreunde kamen der Einladung der Psychiater nach. Jedoch berichteten sie zu ihrer Verblüffung, dass die Jamaikanerin nicht in Zungen sprach, sondern im Kopf krank sei (»sick in the head«) und dass die Psychiater sie behandeln sollten. Mit dieser Information kamen die Psychiater zu der Überzeugung, dass ihre Klientin in der Tat ein psychisches Problem hätte. Sie erhielt in der Folge eine psychiatrische Behandlung, gleichzeitig besuchte sie jedoch auch weiterhin ihre Pfingstgemeinde, in die sie sich zunehmend besser integrierte. Im Rahmen der kirchlichen Kontexte verfiel sie wie früher in den Zustand des in Zungensprechens.

Rückbezogenheit: Alles, was gesagt wird, wird von und zu einem Beobachter gesagt Rückbezogenheit ist eine Form der Ehrerbietung gegenüber einem anderen Lebewesen im Sinne des auf etwas »zurücksehen«, etwas »beachten«. Rückbezogenheit kann nur aktiv betrieben werden. In der Beachtung anderer geht es dabei sowohl um das Ansprechen von Gemeinsamkeiten als auch Unterschieden, die das Verhältnis zwischenmenschlicher Interaktionen ausmachen. Gleichzeitig geht es um die Verdeutlichung der Relativität verschiedener Standorte der involvierten Personen. So sagt für jeden Ethnologen die Wahl seiner Feldforschung, seines Themas, der Informanten und die Art seiner Kommunikation im Feld immer etwas über ihn selbst, seine Historie und Neigungen aus (Krause, 2003). Einer der ersten Ethnologen, der explizit über seine Position gegenüber dem von ihm Beobachteten nachzudenken und in seinen ethnografischen Beschreibungen zu reflektieren begann, war Gregory Bateson. Während seiner Feldforschungen bei den Iatmul (Papua Neuguinea) galt seine größte Sorge der »richtigen« Interpretation seiner Daten. Er befürchtete, dass die Art und Weise, wie er seine Beobachtungen interpretierte und für westliche Wissenschaftler offenlegte, nicht mit der Interpretation dieser Daten durch die Iatmul selbst übereinstimmen könne. Damit legte Bateson den Grundstein für das heutige Verständnis ethnologischer Betrachtungen als Beschreibungen nicht nur eines © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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beobachteten Systems, sondern gleichfalls als Beschreibungen des Beobachters, der als Teil und damit Einflussgröße innerhalb dieses Systems verstanden wird (Krause, 2012). Die Relativität der Beziehungen zwischen Arzt und Patient sowie der Einfluss von familiären und professionellen Aspekten auf diese zwischenmenschliche Interaktion machte in den 1980er Jahren Arthur Kleinman erstmals deutlich. Er beschreibt idiosynkratische und veränderbare Erklärungsmodelle als Grundlage subjektiver Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen. Das Erklärungsmodell des Patienten speist sich aus den »Wahrheiten« des familiären Umfeldes und, wie ich Kleinman ergänzen mag, auch um eine Ahnung des professionellen Rollenverständnisses des aufgesuchten Arztes. Ähnlich gilt für das Erklärungsmodell des interkulturell arbeitenden systemischen Therapeuten dessen Beeinflussung durch die Theorien und Praxis seiner Profession, wobei sein familiärer Hintergrund eine ebenfalls beeinflussende Funktion hat. Beide Erklärungsmodelle nähren sich aus einem für sie spezifischen kulturellen Hintergrund, der gerade in interkulturellen Begegnungen die Komplexität zwischenmenschlicher Interaktionen zu erhöhen vermag. Umso wichtiger wird die Bildung wirksamer Rückkopplungen zwischen dem Arzt- und Patientensystem durch Einbezug dieser Komplexität und der ihr inhärenten Reichhaltigkeit an Information. In der systemischen Therapie wird die Rückkoppelungsdynamik von Beobachter und Beobachtetem in dem zusammengenommenen Zitat von Humberto Maturana (2012) und Heinz von Foerster (2011) deutlich, dass alles, was gesagt wird, von und zu einem Beobachter gesagt wird. »Das Gesagte lässt sich unter keinen Umständen von demjenigen trennen, der etwas sagt; es gibt keine überprüfbare Möglichkeit, die eigenen Behauptungen mit einem Bezug zu einer beobachterunabhängigen Realität zu versehen, deren Vorhandensein man womöglich als gegeben voraussetzt. Niemand vermag einen privilegierten Zugang zu einer externen Wirklichkeit oder Wahrheit zu beanspruchen.« Insofern gelten Unberechenbarkeiten und Ungleichgewichte in der Wahrnehmung der Mitglieder des therapeutischen Systems und seiner Subsysteme eher als normal und weniger als anormal. Das Ziel interkultureller systemischer Therapie ist dabei, diese Instabilitäten und Unterschiede zu nutzen und gleichzeitig zu © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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reflektieren, welches Mitglied des Systems, inklusive des Therapeuten, welchen Einfluss auf dieselben hat. Es geht darum, »im Geiste des gegenseitigen Respekts aus Unterschiedlichkeiten gemeinsame Zwischenräume schaffen« (Pirmoradi, 2012, S. 21). Als Mitglied eines kulturell vielfältigen Klienten- wie auch Therapeutensystems ist es sicherlich erfolgversprechender, wenn der eigene Standpunkt klar gefunden ist und von diesem aus andere in wertschätzender Weise anerkannt werden können, ohne den Anspruch zu haben, sie der eigenen Person in ihrem Denken, Fühlen und Handeln ähnlich zu machen. Erneut werden Rückkoppelungsprozesse zwischen den Systemmitgliedern als auch jedes einzelnen Mitglieds zu sich selbst deutlich. Dies gilt gleichermaßen für Klienten wie Therapeuten. Jedoch ist gerade in interkulturellen Kontexten gleichfalls darauf zu achten, dass Rückkoppelungen in Schamkontexten und bei extrem verstrickten familiären Strukturen, wo »die Partner Angst haben, durch die freie Selbstartikulation oder durch die Offenlegung der Verhaltens- und Gedankenweisen des Anderen bestraft zu werden« (Pirmoradi, 2012, S. 220) eher kontraindiziert sind. Ein deutsch-nepalesisches Paar kommt zum Gespräch. Angeregt wurde das Gespräch durch den deutschen Mann. In der ersten Sitzung berichten beide Klienten, dass sie einander sehr zugewandt seien. Jedoch käme es stets erneut zu Konflikten. So fordere der deutsche Mann aus Sicht seiner nepalesischen Freundin zu häufige Liebesbeweise, zum Beispiel »dass ich ihm sage, dass ich ihn liebe«. Hingegen fühle sie die Nepalesin aus Sicht des deutschen Mannes durch dessen ständige Liebesbezeugungen eingeengt, zum Beispiel »wenn ich ihr sage, dass ich sie liebe«. Beide Partner bestätigen, dass diese Dynamik von ihnen zu Beginn ihrer Beziehung nicht als konflikthaft erlebt worden sei. Erst seit »der Alltag in die Partnerschaft« eingezogen sei, käme es diesbezüglich zu immer häufigeren Auseinandersetzungen. Die Streits würden beide zunehmend unsicherer machen, wie eine gemeinsame Zukunft aussehen könne. Nichtsdestotrotz hätten sie das Gefühl, grundständig in Liebe miteinander verbunden zu sein. Im Verlauf der Gespräche entdecken die Klienten zunehmend, wie in ihrer Heimatkultur miteinander kommuniziert wird. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf Möglichkeiten einer angemessenen Befriedigung

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des Bedürfnisses nach Struktur und Sicherheit in zwischenmenschlichen Interaktionen. Dabei stellt die Nepalesin fest, dass sie sich in ihrer Liebe zu ihrem deutschen Partner sicher ist. Für sich genommen braucht sie ihm das aber weniger häufig explizit zu machen, da er es an ihrem zugewandten Verhalten wahrnehmen könne, auch wenn sie es nicht zusätzlich verbal betone. Der Deutsche stellt fest, dass ihm die weniger verbale Betonung der Liebe seiner Partnerin ein Gefühl der Unsicherheit bereite. Er frage sich, ob sie ihn liebe und brauche »das gesprochene Wort«. Unter Rückbezug auf die kulturelle Dimension der Unsicherheitsvermeidung (Hofstede, 1980/2001) stellen beide Partner fest, dass die Nepalesin ein geringeres Bedürfnis nach kommunikativer Struktur hat als der Deutsche und gleichzeitig weniger unsicher wird, wenn ihre gegenseitige Liebe nicht explizit kommuniziert wird. Der Deutsche erlebt diese Situationen als Bedrohung und erhofft sich eine schnelle Beendigung solcher Situationen, indem er bei seiner Freundin nachfragt. Die entscheidende Wendung hin zu einer Lösung des Paarkonflikts ergab sich in der Frage, ob das verbal weniger expressive Liebeskommitment subjektiv wahrgenommen für die Nepalesin nicht das gleiche Kommitment wie die verbale Expressivität des Deutschen sei, die dieser zum Ausdruck seines Kommitments benötigt.

Abschließende Betrachtungen Das Anliegen dieses Kapitels war es, einen spezifischen Blick auf Parallelen zwischen interkulturell systemischen und ethnologischen Grundhaltungen zu ermöglichen und so zum Diskurs des »Zwischen-uns« in der interkulturellen systemischen Therapie beizutragen. Dabei erfolgte die Auswahl der Betrachtungen, das heißt der teilnehmenden Beobachtung und des Joinings, der Erzeugung neuer Informationen, der Neugierde, Neutralität und Rückbezogenheit, rein subjektiv und auf Grundlage meiner Erfahrungen als klinische Psychologin und psychiatrische Ethnologin während meiner systemtherapeutischen Tätigkeit. Ich habe in jedem Abschnitt kurz den systemtherapeutischen beziehungsweise ethnologischen Hintergrund jeder der Grundhaltungen beschrieben. Für die Arbeit innerhalb der interkulturellen systemischen Therapie diente jeder Grundhaltung ein Fallbeispiel zur Veranschaulichung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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So bleibt abschließend zu fragen, wozu interkulturell systemische Therapeuten eine vertiefte Auseinandersetzung mit ethnologischem Gedankengut und ethnologischer Feldforschung nutzen könnte. Angenommen, ein interkultureller systemischer Therapeut würde ein ethnologisches Praktikum inklusive Feldaufenthaltes machen: Wovon könnte er profitieren? Aus meiner Sicht zeigen sich die Vorteile in mindestens dreifacher Weise. Erstens, wenn interkulturelle systemische Therapeuten ihre Klienten in der Umsetzung von Veränderungswünschen begleiten, ist eine erfahrene Reflexion der eigenen Person und deren Wirkkraft im Spiegelbild des Kontakterlebens mit Dritten fortwährend wünschenswert. Für Ethnologen ist die Idee des sich Erkennens in der Begegnung mit anderskulturellen Menschen handlungsleitend und sie sind geübt darin, in ihren Beobachtungen die eigene Position und deren Einfluss auf die Interaktionen im Feld zu reflektieren. Zweitens, wenn interkulturelle systemische Therapeuten an den Erfahrungen ihrer Klienten teilhaben und diese gleichzeitig beobachten wollen, dann kann Erfahrungswissen rund um die ethnologische Art der teilnehmenden Beobachtung unterstützend sein. So wäre es aus meiner Sicht für interkulturell systemische Therapeuten wünschenswert, im Gesprächsraum an den Aktionen der Klienten teilzunehmen, zu sprechen, zu gestikulieren, sich zu ihnen zu verhalten und gleichzeitig die gemachten Beobachtungen zu dem Klienten- und Therapeutensystem einschließlich der Person des Feldforschers bzw. Therapeuten selbst auf einem imaginären Notizblock im Hinterkopf festzuhalten. Auch darin sind Ethnologen sehr geübt. Sie erfassen bei gleichzeitigem Verhalten im Feld bedeutsame Informationen, bereiten sie nachträglich auf und nehmen sie zur nächsten Begegnung mit Angehörigen des untersuchten sozialen Feldes wieder mit. Ein Training von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfähigkeiten gehört meiner Meinung nach zu den wichtigsten Vorbereitungen ethnologischer Feldaufenthalte. Gleichfalls können Übungen von Russel Bernard (2006), zum Beispiel die von mir als »Uhr-UmweltBeobachtung« betitelte Übung, für interkulturelle systemische Therapeuten wertvoll sein.

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Übung: Uhr-Umwelt-Beobachtung Sequenz 1 (ca. 5 min): Person A stellt sich an einen mehr oder weniger belebten Platz und schaut für ein bis fünf Minuten auf die Uhr (je nach Schwierigkeitsgrad und Belebtheit des ausgewählten Ortes). Während sie auf die Uhr schaut, versucht sie gleichfalls die Umwelt um sich herum wahrzunehmen (z. B. vorbeigehende Menschen, vorbeifahrende Fahrräder und Autos; Flora und Fauna; das Geräusch des Windes, die Wärme der Sonne auf der Haut; körperliche Veränderungen der eigenen Person und der Menschen um einen herum bei unerwarteten Reizen aus der Umwelt wie das Angesprochenwerden durch eine fremde Person). Wichtig ist, sich dabei auch zu merken, was zu welcher Uhrzeit (z. B. in der ersten Minute, während der vierten Minute, innerhalb der gesamten fünf Minuten) geschieht. Person B beobachtet ebenfalls, jedoch frei und ohne auf die Uhr zu sehen. Gern kann sie auch oder nur Person A beobachten. Sequenz 2 (ca. 5 min): Anschließend schreiben beide Person auf, was ihnen im Gedächtnis geblieben ist. Sequenz 3 (ca. 5 min): Es folgt ein gemeinsamer Austausch über das, was und wann dieses von beiden Personen beobachtet wurde und was jeweils nur von einer Person beobachtet wurde. Dabei wurde die »objektive Zeit« nur durch Person A auf ihrer Uhr beobachtet, falls sie überhaupt erfassen konnte, wie die Zeit verstrich und wo sie zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Aufmerksamkeit war. Sequenz 4 (ca. 5 min): In der abschließenden Reflexion der Übung geht es um folgende Fragen: –– Wie ging es mir/uns mit dieser Übung? –– Wie ging es mir/uns mit der gleichzeitigen Zeit- und Umweltbeobachtung? –– Wie ging es mir/uns mit der (nicht) Beobachtung durch mindestens eine andere Person? –– Was nehmen wir als kondensierte Erfahrung mit in vergleichbare Situationen in unserem Alltag?

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Drittens ist es wichtig, um kulturspezifische Erklärungsmuster von Gesundheit und Krankheit sowie deren Behandlungsmöglichkeiten zu wissen, wenn interkulturelle systemische Therapeuten Menschen aus anderen Heimatkontexten helfen möchten. Ethnologen verfügen über ein diesbezüglich breites und je nach Sachverhalt detailliertes Erfahrungswissen, welches sie uns in ihren Ethnografien zur Verfügung stellen. Am Ende dieser Reise hoffe ich, dass für den einen oder anderen Leser dieser Beitrag etwas Neues bereithalten konnte. In diesem Fall würde ich mir wünschen, er möge von diesem Neuen erzählen und mit anderen interessierten Personen darüber in Diskurs gehen. Ich ende mit dem eingangs zitierten Ausschnitt aus dem Gedicht über Urians Reise rund um die Welt: »Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Drum nähme ich den Stock und Hut und tät das Reisen wählen.« Literatur Bateson, G. (1936). Naven: A survey of the problems suggested by a composite picture of the culture of a New Guinea drawn from three points of view. Cambridge, UK: University Press. Becvar, D. S., Becvar, R. J. (2007). Family therapy: A systemic integration. London, UK: Pearson. Bernard, H. R. (2006). Research methods in anthropology. Qualitative and quantitative methods. New York: Altamira. Bernard, H. R., Pelto, P. J. (1987). Technology and social change. Prospect Heights, Ilinois: Waveland Press. Bierschenk, T., Krings, M., Lentz, C. (2013). Ethnologie im 21. Jahrhundert. Berlin: Reimer. Cecchin, G., Lane, G., Ray, W. (1993). Respektlosigkeit – Eine Überlebensstrategie für Therapeuten. Heidelberg: Carl Auer. Fischer, H. (2002). Feldforschungen. Erfahrungsberichte zur Einführung. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. Foerster, H. von (2011). Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche für Skeptiker. Heidelberg: Carl Auer. Hahn, H. P. (2013). Ethnologie: Eine Einführung. Berlin: Suhrkamp. Hofstede, G. (1980/2001). Culture’s consequences: Comparing values, behaviors, institutions and organizations across nations. Thousand Oaks: Sage. Klein, R., Kannnicht, A. (2007). Einführung in die Praxis der systemischen Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl Auer. Kleinman, A. (1980). Patients and healers in the context of culture. An explo-

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ration of the borderland between anthropology, medicine, and psychiatry. California, CA: University of California Press. Krause, I.-B. (2003). Learning how to ask in ethnography and psychotherapy. Anthropology & Medicine, 10 (1), 3–21. Krause, I.-B. (2012). Culture and reflexivity in systemic psychotherapy: Mutual Perspectives. London: Karnac. Malinowski, M. (1922/2001). Argonauten des westlichen Pazifik: Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea. Magdeburg: Klotz. Maturana, H. (2012). Vom Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Frankfurt a. M.: Fischer. Mead, M. (1972/1995). Blackberry winter. My earlier years. New York: Kodansha Globe. Minuchin, S., Fishman, H. C. (1981). Family therapy techniques. Cambridge: Harvard University Press. Pirmoradi, S. (2012). Interkulturelle Familientherapie und -beratung: Eine systemische Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Scheper-Hughes (1978/2001). Saints, scholars and schizophrenics. Mental illness in rural Ireland. California: University of California Press. Schlippe, A. von, El Hachimi, M., Jürgens, G. (2004). Multikulturelle systemische Praxis. Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision. Heidelberg: Carl Auer. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I: Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schwedt, G. (2012). Wenn das Gelbe vom Ei blau macht. Sprüche mit versteckter Chemie. Weinheim: Wiley-VCH. Selvini Palazzoli, M., Boscolo, L., Cecchin, G., Prata, G. (1981). Hypothetisieren, Zirkularität, Neutralität: drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung. Familiendynamik, 6 (2), 123–139.

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Mechthild Reinhard

2 x 2 = Grün: Vertrauen ins Vertrauen als hypnosystemische Kernkraft für menschenwürdige (Selbst-)Organisationen

Es muß etwas ins Blickfeld kommen, bevor es da ist. Das nenne ich: aus der Zukunft heraus bewegt sich etwas. Da gibt’s auch eine Ursache, aber die Ursache liegt in der Zukunft, und logischerweise ist die Wirkung in der Gegenwart eher da, als die Ursache in der Zukunft zu finden ist. Joseph Beuys

Schreibe ich »über« oder »in« Vertrauen? »Je nachdem, wie ich in die Welt hineinschaue, so kommt sie zu mir zurück.« An diesen weisen Spruch haben wir uns schon irgendwie gewöhnt. Und ich kann seinen Wahrheitsgehalt nur bezeugen. Er stimmt: Schon lange wartete ich auf ein Buch, von dem ich nicht wusste, wie es sein würde. Nur so viel – dass ich es dann wüsste, wenn ich es in der Hand hielte, weil es etwas zum Ausdruck brächte, für das mir selbst (noch) die Sprache fehlte. Nun halte ich es seit ein paar Wochen in den Händen; bin erstens froh, dass es gerade in diesem Jahr neu aufgelegt wurde und zweitens, dass ich nicht aufgegeben hatte, darauf zu hoffen. (Wäre es denn sonst erschienen?) Ich meine das Buch von Rabbi Nilton Bonder: »Der Rabbi hat immer recht. Die Kunst, Probleme zu lösen« (2013). Es hat bei mir viel Resonanz erzeugt und den Wunsch provoziert, das Thema »Vertrauen« vertrauensvoll im uns verbindenden systemischen Kontext ins Gespräch bringen zu wollen. Denn Vertrauensfragen beschäftigen mich schon des längeren: Wenn der Baum kein Vertrauen hätte, dass die Erde ihn hält, würde es ihn geben bzw. könnte er wachsen? Wenn der Vogel kein Vertrauen hätte, dass die Luft ihn trägt, würde er überhaupt fliegen? Wenn das Herz kein Vertrauen hätte, dass sein Rhythmus weiter© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

2 x 2 = Grün: Vertrauen ins Vertrauen283

geleitet wird, würde es schlagen? Wenn der Raum kein Vertrauen hätte, dass die Zeit ihn schützt, würde er sich im Hier und Jetzt entfalten? Wenn die Körper kein Vertrauen hätten, dass Geist sie durchweht, würden sie dann zerfallen? Wenn du und ich nicht aus dem Vertrauen heraus handelten, dass wir verbundene Wesen sind, würden wir Wärme spüren? Wenn es kein Vertrauen darin gäbe, dass wir gemeinsam mit unserem Tun Welt(en) gestalten, gäbe es Sprache? Wenn ich kein Vertrauen darin hätte, dass du mich meinst, wenn du mich ansprichst, würde ich dich dann überhaupt verstehen (können)? Wenn das Kranksein kein Vertrauen ins Gesünderwerden kennen würde, gäbe es so etwas wie Hoffnung? Wenn Sinn kein Vertrauen darin hätte, dass wir ihn erkennen wollen, könnten wir ihn dann dennoch (er-)finden? Wenn es kein kollektives Vertrauen der Menschheit gäbe, dass wir auf Kommunikation angelegt sind, würde sich das welt(en)verbindende Internet dennoch entwickeln? Wenn Wasser kein Vertrauen in sich trüge, dass es vom Land seine Kontur erhält, würde es in flüssiger Form existieren können? Wenn der Atomkern kein Vertrauen in seine Anziehungskraft hätte, gäbe es dann Atome? Wenn das Vertrauen kein Vertrauen ins Vertrauen hätte, was wäre dann überhaupt da? Und zwei persönliche Vertrauensantworten will ich im Vorfeld wie folgt formulieren: Wenn etwas in mir kein Vertrauen signalisieren würde, dass du, lieber Jochen, und Sie, liebe Leser/-innen, das im Weiteren von mir Gedachte und Geschriebene wohlwollend zur Kenntnis nehmen werdet und es als meine Konstruktion auf euch wirken ließet (oder euch vertrauensvoll gegen das Weiterlesen entscheiden würdet, ohne in Sorge zu sein, dass ihr es aus Loyalität zu mir lesen müsstet), würde ich jetzt den Computer zuklappen und nicht mehr weiterschreiben. Wenn ich kein Vertrauen hätte, dass sich beim Schreiben die Gedanken in mir und bestimmt auch mit euren irgendwie vernetzen werden, würde es die Bedeutung eines Abenteuers für mich einbüßen – das wäre schade … Folgende Aspekte sollen für diese Abenteuerreise als sicherheitsspendende, zum Diskurs einladende und möglichst vertrauensstiftende Orientierungspunkte für dich, lieber Jochen, für Sie, die Sie vielleicht weiterlesen (im Weiteren werde ich der Einfachheit halber häufiger von dir, ihr, euch bzw. uns reden) sowie für mich selbst gelten: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ

Mechthild Reinhard

Vom Erkennen des Erkennens – im »rechten« Moment Vom Verstehen des Verstehens – es geht nur als Dialog Vom Entscheiden für die Entscheidung – »umgekehrt« zu denken Vom Glauben des Glaubens – eine Ermöglichungsdidaktik pur? Vom Vertrauen ins Vertrauen – als menschenwürdige Kernkraftnutzung

Ausgangspunkt der Reise ist für mich der Moment, als ich das Buch von Rabbi Bonder in der Hand halte und gleich auf einer der ersten Seiten diese Geschichte (ich muss sie unbedingt in voller Länge zitieren!) lese: Ein Kind wurde in einem Dorf tot aufgefunden. Sofort bezichtigte man einen Juden des Verbrechens und unterstellte ihm, er habe das Opfer in einem makabren Ritual umgebracht. Der Mann wurde ins Gefängnis geworfen. Er wusste, dass er als Sündenbock herhalten sollte, und so räumte er sich in dem bevorstehenden Prozess keine Chance ein. Er bat, einen Rabbi sehen zu dürfen, und es wurde ihm gewährt. Der Rabbi fand einen vollkommen verzweifelten Mann vor, der fest davon ausging, dass ihn die Todesstrafe erwartete. Aber der Rabbi sprach ihm Mut zu: »Du darfst nie glauben, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Der Teufel persönlich – Gott behüte! – führt dich mit diesen Gedanken in Versuchung.« – »Aber was soll ich denn tun?«, fragte der Verzweifelte. »Du darfst dich nur nicht aufgeben, dann wird sich schon irgendein Weg finden.« Als der Tag des Gerichts kam, wollte der Richter den Eindruck erwecken, als würde der Angeklagte einen fairen Prozess bekommen. Er sagte also zu dem Gefangenen: »Ihr Juden seid doch gläubige Leute. Ich will deshalb ein Gottesurteil herbeiführen. Siehe diese zwei Zettel. Auf den einen schreibe ich ›unschuldig‹, auf den anderen ›schuldig‹. Du wirst dann einen auswählen; auf diese Weise möge Gott über dein Schicksal bestimmen.« Wie der Jude richtig erahnte, schrieb nun der Richter auf beide Zettel das Wort ›schuldig‹. Normalerweise würden wir jetzt sagen, dass der Jude wegen dieser Manipulation keine Chance mehr hatte. Wie sollte er denn jetzt noch einen Zettel mit dem Wort ›unschuldig‹ ziehen können? Doch dann dachte der Angeklagte an die Worte des Rabbis und überlegte eine Weile. Plötzlich ging ein Leuchten durch seine Augen.

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2 x 2 = Grün: Vertrauen ins Vertrauen285

Er schnappte sich einen der beiden Zettel und verschluckte ihn. Die Zeugen dieser Szene waren verstört und fragten: »Warum hast du das getan? Wie sollen wir jetzt das Gottesurteil erfahren?« – »Ganz einfach«, antwortete der Jude. »Lest, was auf dem anderen Papier steht, und ihr wisst, wofür sich Gott nicht entschieden hat. Das Gegenteil soll mein Schicksal sein« (Bonder, 2013, S. 11 ff.).

Diese mittelalterliche Geschichte finde ich wunderbar passend, um sie als eine Art narratives Basisgewebe für unsere Gedankenreise zum Thema Vertrauen zu nutzen. Und die eingangs gestellten Fragen, aufsteigende Ideen, die sich in den Orientierungsüberschriften vorsichtig »vorsammeln«, sowie diese Geschichte sind auch so gut wie alles, was ich als Ausstattung mitnehme. Noch kurz etwas zum Kontext der momentanen Reisebedingungen, die mir gerade zur Verfügung stehen: Mein Laptop steht auf einem Holztisch, um ihn herum sind Notizheftchen sowie diverse Bücher geschart; solche, in denen ich schon lange immer wieder lese; jene, die noch auf das Lesen warten, und diese, die wie das Bonder-Buch im Moment meine absoluten Favoriten sind. Mein Blick ruht auf dem Lago Maggiore. Ich kann bei guten Wetterverhältnissen eine Insel in ihm ohne Fernglas klar erkennen, sehe ihn von Bergen umgeben und vom Sonnenlicht durchflutet. Außerdem steht der Tisch auf einer herrlich großen Terrasse, die zum Teil sogar überdacht ist. Ich kann mich also auf ihr bewegen, bin wetterunabhängig und trinke bzw. esse, was gerade da ist, soviel und wann ich möchte. Davon abgesehen bin ich mit meinen Fragen allein und höre nur das Rauschen des Sees. So reist es sich doch gut. Was meint ihr: Ist das zu komfortabel für eine Abenteuerreise? Oder bin ich einfach zur rechten Zeit am rechten Ort?

Vom Erkennen des Erkennens – im »rechten Moment« (1) Was hat der Jude konkret getan, als er seine ausweglose Situation realisierte? Er war verzweifelt und bat im rechten Moment einen Rabbi zu sich. Der Rabbi erkannte, dass der Jude nicht nur in dem äußeren, sondern auch seinem inneren Kontext gefangen war und sprach ihm im rechten Moment den Satz zu: »Du darfst dich nur nicht aufgeben, dann

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wird sich schon irgendein Weg finden.« Als der Jude in der konkreten Gerichtssituation erneut seine aussichtslose Lage erkannte, erinnerte er sich im rechten Moment an die Worte des Rabbis, sich selbst nicht aufgeben zu dürfen – sondern vertraute im rechten Moment auf sein Erkenntnisvermögen und kam tatsächlich im rechten Moment auf den genial erlösenden Einfall, einen der Zettel im rechten Moment einfach zu verschlucken.

Wie unschwer bei dieser Art der Auslegung zu merken sein soll: Mich fasziniert die Idee des »rechten Moments«. Die Griechen unterschieden in Bezug auf das Erfassen von Zeit zwischen zwei Erscheinungsweisen: Chronos (langer Zeitabschnitt) und Kairos (rechter Zeitpunkt). Somit zielt mein Erkenntnisinteresse eher auf den Kairos – auf das Phänomen, dass ich im rechten Moment »die Gelegenheit am Schopf fasse«. Wenn ich erkenne, dass etwas vermeintlich Aussichtsloses doch gelingt, sich das Blatt wendet, ich einen Einfall bekomme bzw. intuitiv das »Richtige« mache – und ich entdecke, dass es dabei im raumzeitlichen Kontextgeschehen den rechten Moment »gibt«, was weiß ich dann? Wie weiß ich es, dass ich weiß? Wie kann ich erkennen, dass ich ihn – den rechten Moment – gerade im rechten Moment als rechten Moment erkenne? Wenn ich diese Momente als Muster des Gelingens systematisiert systemisch erforschen täte, würde es sie noch geben? Wenn ich erkenne, dass es auf die Art meines Erkennens ankommt, wie ich mir die Welt erzeuge, werde ich dann mehr oder eher weniger auf meine erkenntnisleitenden Impulse achten? Was hätte es für Auswirkungen? Wer oder was würde diese dann woran »erkennen«? Rabbi Bonder schlägt in Anlehnung an die jüdisch-kabbalistische Tradition eine Art Bezugsrahmen vor, den ich im Kontext dieser Abenteuerreise selbst als Passepartout für das »Erkennen des Erkennens« nutzen möchte. Auch das ist wieder nur eine Möglichkeit, niemals Wahrheit – doch für mich kam dieses Rahmenangebot (wie kann es anders sein) im rechten Moment. Er benennt vier Dimensionen – wir könnten sie auch in unserem Sprachspiel »Weisen der Welterzeugung« nennen: ȤȤ Wissen: die Welt, in der Erkennbares erkennbar ist; © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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ȤȤ Verstehen: die Welt, in der Erkennbares verborgen ist; ȤȤ Weisheit: die Welt, in der Verborgenes erkennbar ist; ȤȤ Glaube: die Welt, in der Verborgenes verborgen ist.

Abbildung 1: Arten der Welterzeugung (eigene Zuordnung)

Wieso finde ich gerade im Moment dieses Ordnungsschema (vgl. Bonder, 2013, S. 14) für mich so anziehend? Welcher Dimension könnte das Erkennen des »rechten Moments« – wenn überhaupt – zugeordnet werden? Für welche »Ziele« wäre ein solcher Ordnungsversuch nützlich, sinnvoll? Wo wäre das Phänomen Vertrauen anzusiedeln? Wofür könnten diese Fragen, wenn ja für wen interessant sein? Was interessiert mich selbst an ihnen? Wer sollte sie (mir) beantworten? Beim Versuch des Erkennens meines eigenen Erkennensweges kann ich als Zwischenbilanz sagen: Fragen fallen mir deutlich leichter (ein). Die Dimensionen, die sich dem »Verborgenen« stellen, ziehen mich deutlich mehr an. Ich merke, dass so etwas wie Ahnungen von Zwischenantworten in mir lauern, die ich vorerst (nur) mit Hilfe einiger Zitate zu fassen versuchen will. In dem kleinen Büchlein »Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang« (die Metapher geht auf den Architekten R. Buckminster Fuller zurück) verfolgt Peter Sloterdijk unter der Überschrift »Wie groß ist ›groß‹?« einen meines Erachtens wichtigen Gedanken: »Es gibt eine prognostische Intelligenz, die sich genau in der Lücke zwischen ›spät‹ und ›zu spät‹ geltend macht. Diese Intelligenz ist es, die sich hier und heute energisch artikulieren soll. Während bisher für einen Großteil des menschlichen Lernens das Gesetz galt, dass man allein ›aus Schaden klug wird‹, muss die prognostische Intelligenz klug genug werden wollen, bevor der Schaden eingetreten ist – ein Novum in der Geschichte des Lernens« (Sloterdijk, 2011, S. 96). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Und eben dieser Buckminster Fuller meinte in seinem – für mich immer wieder neu erstaunlich vorausschauenden – Buch »Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde«, dass wir Menschen eigentlich alle Astronauten seien, wobei wir die Bedienungsanleitung für das Raumschiff nicht mitgeliefert bekommen hätten. Wir müssten sie uns selbst erfinden! Wir seien Erfinder! Genau diese Erkenntnis sei wichtig, um zu erkennen. Das Spezialistentum, das angehäufte Wissen etc. könnten wir getrost zunehmend an die Computer delegieren. Dieser sei ein »evolutionärer Antikörper gegen die Vernichtung der Menschheit durch Spezialisierung« (Buckminster Fuller, 1998, S. 40). Wir Menschen sollten unsere »komprehensiven Neigungen«, allgemeine Prinzipien und Muster erkennen zu wollen, unsere Fähigkeiten zur Zusammenschau und Kooperation endlich erkennen, und sie mehr und mehr prognostisch nutzen lernen. Mit diesen Ideen begann er schon ab 1927 systematisiert globale Muster zu erforschen, entwarf das erste World Game und benannte bereits in den 1950er Jahren die »allgemeine Systemtheorie« als »ein modernes Werkzeug von großen intellektuellen Vorteilen«, um »ganzheitlich denken« zu können (S. 54). Mit seinem inzwischen häufig genutzten Slogan »Think global, act local« war er seiner Zeit weit voraus. Und er schlug vor, möglichst gleich so »groß zu denken«, dass wir als Bezugssystem das gesamte »Raumschiff Erde« und zugleich damit unser (er-)forschendes menschliches Beobachtersystem – das des Astronauten – in den erkenntnistheoretischen Blick nehmen und aus und in ihm handeln sollten. Und für solche Art Handeln liefert er meines Erachtens eine interessante Vertrauensbotschaft gleich mit: »Ich halte es für sehr aufschlussreich, dass es kein Anleitungsbuch für die richtige Bedienung unseres Schiffes gibt. Wenn man sich vorstellt, mit welcher Sorgfalt alle anderen Details von unserem Schiff vor uns ausgebreitet sind, dann muß man es als absichtlich und planvoll ansehen, wenn ein Anleitungsbuch fehlt. […] Also gerade weil die Bedienungsanleitung bisher fehlt, lernen wir zu antizipieren, welche Konsequenzen sich aus einer steigenden Anzahl von Alternativen ergeben, um unser Überleben und Wachstum befriedigend zu erweitern – physisch und metaphysisch. […] Ich würde sagen, dass in der Anlage des totalen Reichtums dieses Raumschiffs Erde ein enormer Sicher-

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heitsfaktor eingeplant wurde. Dadurch wurde dem Menschen über lange Zeit hinweg sehr viel Ignoranz zugestanden, und zwar so lange, bis er genügend Erfahrungen gesammelt hatte, um mit dem daraus abgeleiteten System generalisierter Grundsätze das Wachstum des fortschreitenden Energie-Managements der Umwelt zu beherrschen. Das eingeplante Fehlen einer Bedienungsanleitung […] hat den Menschen dazu gezwungen, im Rückblick zu entdecken, was sich als seine wichtigste Vorschaufähigkeit erwiesen hat. Sein Intellekt musste sich selber entdecken« (Buckminster Fuller, 1998, S. 48 ff.).

Für mich sind das tolle Erkenntnisse. Doch wenn ich mir überlege, wie wir 60 Jahre später mit den Hochwasserfluten, weltumspannend mit der Computernutzung, mit der globalen Rohstoffverteilung, unserem Verständnis von Gesundheit und Krankheit usw. umgehen, welchen Prämissen wir dabei gewöhnlicher Weise folgen, wird mein Vertrauenserleben in Bezug auf uns Menschen, in die Menschheit und ihre Lernfähigkeit nicht unbedingt gestärkt. Oder besser: Ich finde es einerseits beeindruckend, wie viele der Prognosen Buckminster Fullers inzwischen eingetreten sind, welche Möglichkeitsräume sich zum Beispiel durch das Internet eröffnen, tatsächlich »global player« zu werden bzw. es inzwischen mehr oder weniger zu sein. Wie wir allerdings erkenntnistheoretisch damit umgehen, finde ich im Durchschnitt sehr unbefriedigend. Sloterdijk meint in dem schon benannten Artikel: »Wer an Bord des Raumschiffs den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, legt sich früher oder später Rechenschaft ab über die Tatsache, dass wir Autodidakten der Raumfahrt sind. Der wahre Begriff für die conditio humana heißt darum: Autodidaktik auf Leben und Tod. Autodidakt ist, wer die entscheidenden Lektionen ohne Lehrer lernen muß« (Sloterdijk, 2011, S. 96). Interessanterweise werde ich jedes Mal beim Lesen dieser Aussagen etwas ruhiger. Ja – ich stimme ihm zu. Und was nun? Wie geht es, ausgestattet mit dieser Erkenntnis, an dieser Stelle weiter? Die eigene Autodidaktik in Bezug auf meine Vertrauensfrage und die des »rechten Moments« treibt mich voran und lässt mich fragen, wofür denn in unserem menschlichen Werdegang evolutionär gerade der rechte Moment sein könnte? Und ob unsere Art von gelebter Systemik das © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Erkennen des Erkennens solcher Momente im Moment befördert, behindert oder sich einfach nur systemisch gelassen und – wie es sich bei uns so gehört – veränderungsneutral verhält? Und diese Autodidaktik in mir will wissen: Wie lange können rechte Momente dauern? Könnten wir sie verpassen? Gibt es wohlmöglich »teuflische Überlistungskräfte«, die unser Erkennen be- bzw. verhindern wollen? Da will ich etwas mehr verstehen. Vielleicht ist das gar keine so gute Idee. Vielleicht geht es bei mir nur darum, meine Überlebenssorge zu utilisieren, um endlich im rechten Moment auf die Idee zu kommen, so wie der Jude den einen »Schuldig«- oder anderen »Schuldig«-Zettel zu verschlucken, um legitimiert »unschuldig« weiter leben zu können? Wenn es tatsächlich so einfach sein sollte, wollte ich doch zuvor noch die »teuflischen« Überlistungsversuche verstehen, falls ich »etwas« solcherart verdinglicht diagnostizieren könnte. Nur falls … Ich gestehe, dass sich in mir erneut weitere Ahnungen melden.

Vom Verstehen des Verstehens – es geht nur im Dialog (2) Was hat der Jude in unserer Geschichte konkret getan, als er verstand: Hier komme ich (allein) aus meiner Perspektive nicht mehr lebend raus? Er bat um einen Rabbi, einen anderen Menschen, er brauchte Dialog und im Dialog entstand für ihn eine neue Wirklichkeit. Was hat der Rabbi dabei getan? Er verstand es, mit seiner Aussage »Du darfst nie glauben, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Der Teufel persönlich – Gott behüte! – führt dich mit diesen Gedanken in Versuchung« den inneren Dialog des Juden aufzugreifen. Zugleich bot er ihm damit Wahlmöglichkeiten, seine innere Welt so dialogisch umzustrukturieren, zu bahnen, dass das Unmögliche möglich werden konnte.

Diese Bedeutungsgebung meinerseits fokussiert auf den Gedanken des dialogischen Charakters vom Verstehen des Verstehens. Es braucht den anderen, die anderen Perspektiven, den Beobachterabstand, den Unterschied, der – wird er als Unterschied erlebt – Verstehensprozesse anregen kann. Klare Grundannahme: Die Wirklichkeit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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entsteht im Dialog! Und die Themen, die menschheitsgeschichtlich anstehen sind meines Erachtens nicht mehr monologisch zu lösen. Es braucht immer die Multiperspektivität. Doch ein Phänomen beobachte ich seit geraumer Zeit intensiver und finde es immer erstaunlicher: Manchmal tauchen Verstehensaussagen wie Aha-Effekte plötzlich in mir auf, für die ich förmlich erst hinterher die Prozesse dahin, die dazu passenden Fragen konstruiere. Bin ich dabei im Dialog? Wenn ja mit wem, wie, wofür? Sind das »innere Anteile«, die sich in mir unterhalten? Sind sie unwillkürlich am Werke, ohne dass ich es bewusst willkürlich merke? »Gehören« diese Aha-Effekte dann eigentlich mir bzw. darf ich das Verstehenspotenzial, was ich darin erkenne, für mich behalten? Geht das überhaupt? Wird solch ein Denken sofort als binäre bzw. lineare Logik zu entlarven sein? Schon jetzt, wenn ich überhaupt nur diese Fragen stelle? Drei Ideen melden sich in mir: 1. Martin Bubers Buch »Das dialogische Prinzip« ist eines der für mich zeitlos grundlegenden Bücher, die ich seit meinem 17. Lebensjahr regelmäßig wieder lese. Seine Wirklichkeitssicht auf unsere menschliche Verfasstheit finde ich besonders sinnvoll in Bezug auf meine Vertrauens-Frage im Allgemeinen und auf das Verstehensthema im Speziellen. Hier seine Kernaussagen in kurzen Zitaten: »Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundwortes Ich-Du und das Ich des Grundwortes Ich-Es. […] Wer Du spricht, hat kein Etwas zum Gegenstand. Denn wo Etwas ist, ist anderes Etwas, jedes Es grenzt andere Es. Es ist nur dadurch, dass Es an andere grenzt. Wo aber Du gesprochen wird, ist kein Etwas. Du grenzt nicht. Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung« (Buber, 2012, S. 8). »Der Erfahrende hat kein Anteil an der Welt. Die Erfahrung ist ja ›in ihm‹ und nicht zwischen ihm und der Welt. […] Die Welt der Erfahrung gehört dem Grundwort Ich-Es zu. Das Grundwort Ich-Du stiftet die Welt der Beziehung« (S. 9 f.). »Die Welt ist dem Menschen zweifältig nach seiner zwiefältigen Haltung« (S. 35). Beide Akteure in unserer Rabbi-Geschichte sind sich also im Grundwort Ich-Du begegnet – Buber nennt das den Modus der »naturhaften Verbundenheit«. In ihm scheinen sich »rechte © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Momente« eher häufiger zu ereignen. Verstehen ist hier kein technischer, verdinglichter Vorgang – kein Akt, der aus der Haltung der »naturhaften Abgehobenheit« (Ich-Es) erwächst und der monologisch in dem einen oder anderen Akteur stattfindet, sondern im Zwischen, im Dialograum selbst. Der äußere spiegelt sich im inneren Dialograum und umgedreht. Die dialogische Haltung des Rabbi wirkte im Beziehungsraum zwischen beiden und dann im gefangenen Juden selbst fort. Im Dialograum ereignet sich Vertrauen, ohne dass es als solches explizit benannt werden müsste. Alle lebenden Organismen – so auch unsere »Körper« – merken das sofort. Dann sind sie in ihrem Element, fühlen sich irgendwie zuhause, erleben sich systemisch verbunden, dennoch frei und antworten wie von selbst mit kreativen Impulsen. 2. Das nächste Puzzlestück stammt aus Rabbi Bonders Buch. In ihm wimmelt es nur so von lösungsorientierten Geschichten, basierend auf jüdischem Humor bzw. zeitloser Menschlichkeit. In dem Abschnitt »Weisheit – die Welt in der Verborgenes erkennbar ist« hat mich eine Geschichte so existenziell erfasst, dass ich sie regelrecht zentral für meine Fragestellung(en) halte: »Ein Jäger fand im Wald mehrere Zielscheiben, die auf Bäume aufgemalt waren. Beeindruckt stellte er fest, dass mitten im Schwarzen einer jeden Scheibe ein Pfeil steckte. Er wollte unbedingt wissen, wer dieser Meisterschütze sei. Nach einer längeren Suche fand er ihn und befragte ihn zu seinen tollen Taten: ›Was ist das Geheimnis dieser außerordentlichen Treffsicherheit? Wie erlangt man so eine Perfektion?‹ – ›Ganz einfach‹, erwiderte der Schütze, ›zuerst schieße ich den Pfeil ab, und dann male ich die Zielscheibe‹« (Bonder, 2013, S. 96). Vom Autor wird dies als eine Art »umgekehrter« Verstehensprozess gedeutet. Was tragen wir aktiv – mehr oder weniger bewusst – dazu bei, dass sich dieser Prozess ereignet? Bonder meint dazu: »In der Welt, in der Verborgenes erkennbar ist, ist das wahre Ziel dasjenige, das sich erst formiert, wenn der Pfeil bereits von der Sehne geschnellt ist. In einer anscheinend absurden Inversion sucht sich jetzt das Ziel den Pfeil, nicht umgekehrt. In der Welt des Unterbewusstseins ist es per definitionem belanglos, wo eine Frage

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herrührt. Dort existiert der Gedanke schon vor der Frage, und die Neugier kommt nach der Erkenntnis. So gesehen hat man es mit einem umgekehrten ›Denkprozess‹ zu tun« (S. 97). Und etwas weiter: »Der Schütze, der in diesem Medium, das durch seine Dichte alles Spezifische verhüllt, ein Ziel erreichen will, darf sich keinesfalls auf seine Treffsicherheit verlassen. Jeder, der die Dinge unter Kontrolle hat, weiß, auf welche Ziele es ankommt, und macht sich natürlich über einen Jäger lustig, der seine Zielscheibe nach dem Schuss malt. […] Prozesse sind Antworten in einem dynamischen Zustand« (S. 98).

Ich finde mich selbst in meinem Tun darin ziemlich wieder. Vielleicht tragen auch folgende Fragen zu dem Gesamterleben bei; mit ihnen befrage ich mich selbst eigentlich ständig: »Für welche Welt willst du eigentlich einen Beitrag leisten? Wie wäre sie – so, dass du gut atmen kannst, Lust zum Aufstehen verspürst und Vertrauen ins Leben erlebst? Wie würde in ihr gehandelt? Welches zwischenmenschliche Verstehen des Verstehens würde da gelebt?« Und dann tue ich häufig so, als ob es diese Welt schon gäbe und manchmal gibt es sie dann auch. Kennt ihr das Phänomen ebenfalls? 3. Die rabbinische Jägerlogik könnte mit den Worten Heinz von Foersters auch akzentuiert kommunikationstheoretischer gefasst werden. In seinem Artikel »Zukunft der Wahrnehmung: Wahrnehmung der Zukunft« führt er unter der Überschrift »Prozeß-Substanz« folgende Gedanken aus: »Die ursprünglichsten und zutiefst persönlichen Prozesse in jedem Menschen und in der Tat in jedem Organismus, nämlich ›Information‹ und ›Erkenntnis‹ werden gegenwärtig durchwegs als Dinge bzw. Güter aufgefasst, also als Substanzen. Information ist natürlich der Prozeß, durch den wir Erkenntnis gewinnen und Erkenntnisse sind die Prozesse, die vergangene und gegenwärtige Erfahrungen integrieren, um neue Tätigkeiten auszubilden […]. Keiner dieser Prozesse kann ›weitergegeben werden‹, wie man uns immer wieder sagt […]. Es ist kein Wunder, dass ein Bildungssystem, welches den Prozeß der Erzeugung neuer Prozesse mit der Verteilung von Gütern, genannt ›Wissen‹ verwechselt, in den dafür bestimmten Empfängern große Enttäuschung hervor© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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rufen muß, denn die Güter kommen nie an: es gibt sie nicht! […] Gibt es ein Heilmittel? Natürlich gibt es eins! Wir müssen Vorträge, Bücher, Diapositive, Filme usw. nicht als Information, sondern als Träger potenzieller Information ansehen. Dann wird uns nämlich klar, dass das Halten von Vorträgen, das Schreiben von Büchern, die Vorführung von Diapositiven und Filmen usw. kein Problem löst, sondern ein Problem erzeugt: nämlich zu ermitteln, in welchen Zusammenhängen diese Dinge so wirken, dass sie in den Menschen, die sie wahrnehmen, neue Einsichten, Gedanken und Handlungen erzeugen« (von Foerster, 1999, S. 4 f.). Das sagte Heinz von Foerster bereits 1971 (übrigens – auf ihn geht auch die Gleichung 2 x 2 = Grün zurück; vgl. von Foerster, 1998, S. 55). Doch an dem durch ihn markierten Grundproblem, dass wir trivialisiert grundsätzlich bei 2 x 2 an 4 denken, hat sich aus meiner Sicht so gut wie nichts geändert. Nur, dass ich auf der bewussten Verstehensebene gar nicht so viel Enttäuschung bei den Bildungsadressaten erkenne – die unwillkürlichen Prozesse der Organismen reagieren vielleicht mehr und mehr erschöpft. Oft wird von den Lernwilligen selbst genau diese Art von trivialisierendem Wissenstransfer regelrecht eingefordert – sie haben das Lernen halt inzwischen so und zumeist nicht anders gelernt. Leider! Da ist wenig Autodidaktik und Erfindungsgeist im Spiel. Und – ich gestehe eine ernsthafte Sorge: Auch die Lehre der Systemik gießt den anderen, neuen, nichtlinearen, zirkulären Wein oft in die alten Schläuche und steht somit in der Gefahr, eine verdinglichte Methodenlehre zu werden, in der eben auch versucht wird, Wissen als »Gut« weiterzugeben. Wenn ich diese Gedanken der drei Denker auf meine Art verwebe, dann verstehe ich ihre Beträge zum Verstehensthema wie folgt: Buber’s Menschenbild verweist mich mit tiefer Weisheit auf unsere menschlichen Wahlmöglichkeiten, aus welcher Grundhaltung heraus wir Verstehensprozesse vollziehen können und wollen. Je nachdem, welchen Modus wir wählen, so kommt uns die Welt anders entgegen und allein durch unsere Wahl gestalten wir sie bereits mit. Für die Welt, in der es um lebende Systeme geht, wird die Wahl mit großer Wahrscheinlichkeit immer weniger zu einer wirklichen Wahl, wenn wir unseren Planeten, das Raumschiff Erde, erhalten wollen. Wir © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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brauchen mehr Verstehensprozesse, die sich aus dem Ich-Du-Modus, dem Dialog-Modus ableiten, nicht nur proklamiert, sondern sich ganz real auf der erlebbaren Handlungsebene zeigen und bewähren. Die Auswirkungen wären, dass wir in unserem menschlichen Miteinander mehr und mehr dialogisch erforschen könnten, wie es sich anfühlt und wie es gestaltbarer gelingt, »umgedrehte Denkprozesse« zu vollziehen, sie systematisiert handlungsleitend zu nutzen, um die Chance zu erhöhen, weniger aus Kontrolle Sicherheit beziehen zu müssen. Dafür brauchte es gezielte unterschiedsbildende Verstehensprozesse, die sich mehr am Wie und Wofür orientieren – am Prozess selbst also – und weniger am Was in der üblichen Güterverteilungsmanier. Natürlich lauern da überall die »Teufelchen«: Im vermehrten IchDu-Modus sind wir stets in unserem eigenen Menschsein gefragt – stehen im »Wort«, würde Buber sagen. Wir können uns nicht mehr so einfach beklagen. Wo denn? Bei wem denn? Wir sind doch stets selbst Beteiligte! Das verdinglichte Wissen, was uns sonst Sicherheit und Berechenbarkeit ermöglichte, uns klare Ziele formulieren ließ, wäre nicht mehr in dieser Weise nutzbar. Antworten würden uns überraschen, bevor wir überhaupt zum Fragen gekommen wären. Und zu alledem bzw. in all das bräuchten wir Vertrauen, was wir jedoch nicht unbedingt affektiv spüren – für das wir uns demnach eher regelrecht kognitiv entscheiden müssten.

Vom Entscheiden für die Entscheidung – »umgekehrt« zu denken (3) In unserer Geschichte vom gefangenen Juden hat der Rabbi aus einer klaren eigenen Gewissheit heraus zum Juden gesprochen: »Du darfst nie glauben, dass es keinen Ausweg mehr gibt.« Mit großer Sicherheit konnte diese Aussage so nachhaltig im Juden weiterwirken, weil der Rabbi selbst aus dieser entschiedenen Haltung heraus sprach und lebte. Die Auswirkungen waren beachtlich: Der Jude dachte im Moment der größten Not an die Worte des Rabbis. Zudem traf er in sich die Entscheidung für die Entscheidung, sich selbst nicht aufzugeben. Der trickreiche Richter dagegen hatte sich auch entschieden: Er wollte besonders klug die Situation unter Kontrolle halten. Doch dann

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»dachte« der Jude so kreativ »umgedreht«, dass ein Möglichkeitsraum betreten wurde, den zuvor niemand für möglich gehalten hatte – bei dem das Lebensziel, am Leben bleiben zu wollen, vom Hoffnungspfeil intuitiv gesucht und so ins Schwarze getroffen wurde.

Auf das häufigere Betreten dieses Möglichkeitsraumes hoffe ich für unser kollektives Weiterleben. Gestern Abend sah ich zufällig – oder vielleicht im rechten Moment – auf Arte den Dokumentarfilm »Good Food – Bad Food. Anleitung für eine bessere Landwirtschaft«. Er sitzt mir noch in den Gliedern! Wenn wir Menschen ernsthaft überlegen, eckige Eier zu züchten, damit sie besser zu verpacken sind, na gut. Wenn wir Schweinen die Schwänze wegzüchten, auf dass sie sich in der Massentierhaltung daran nicht mehr festbeißen können, die klugen Schweine sich dann für ihre ebenfalls abstehenden Ohren entscheiden, wir auch diese wegzüchten, bis sie sich schließlich wechselseitig in die geheiligten Schinkenteile beißen und die lieben Züchter dann endlich, aus Sorge um ihr Fleisch, das eigene Tun in Frage stellen – das lässt doch hoffen! Besonders für die weise Verteilung von wissenschaftlichen Forschungsmitteln! Angesichts dieser Einschätzung der Lage müssen wir leider gemeinsam feststellen: Bewusst willkürlich ist uns Vertrauen abhanden gekommen – in uns selbst und unseren Leib, in die Natur. Vor schädlichen Bakterien haben wir Angst und züchten geradezu deren unerwünschte Resistenz und mit ihr unerwünschte Auswirkungen. Unwillkürlich ist jedoch »Vertrauen« immer weiter da. Es bleibt und bleibt und bleibt. Wir könnten es, wenn wir uns für diese Art des Sehens entscheiden würden, an seinen Auswirkungen sogar beobachten: Die Vögel lassen sich von der Luft weiterhin tragen, die Bäume wachsen (noch) zahlreich genug in/auf der Erde. Die Atomkerne leben ununterbrochen ihre erotische Anziehungskraft, sonst wäre schon alles in Schwarzen Löchern verschwunden. Unsere menschlichen Herzen schlagen immer noch in der Regel weiterhin links in unserer Brust und sind somit etwas mehr dem analog denkenden rechtshirnigen Versorgungsgebiet zuordenbar. Würden wir keinen unterschiedsbildenden analogen Maßstab in uns zwischen einem erlebten Ist-Zustand und gewünschtem Soll-Zustand zu konstruieren vermögen, könnten wir zwischen »eher krank« und »eher gesund« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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nicht unterscheiden. Die Herzen schlagen somit auf der »richtigen« Seite, voll von vertrauensvoller »Schlagkraft«. Diese stets in uns wirksame Vertrauenskraft sehnt sich endlich nach kognitiver Anerkennung durch uns handelnde menschlichen Akteure! Wollen wir einzeln und kollektiv also gesunden, müssen wir uns fürs Vertrauen entscheiden. Vertrauen ist somit derzeit für mich keine erlebte emotionale Kategorie mehr, sondern – so meine These – ein an unsere Menschheitstür klopfendes Entscheidungsphänomen. Buckminster Fuller betonte schon vor Jahrzehnten, bisher sei es uns Menschen zwar mehr und mehr »gelungen, das physische Universum mit Erfolg zu definieren, nicht allerdings das metaphysische Universum« (1998, S. 55) Und er formulierte die nicht minder einleuchtenden Aussage: »Wenn wir unsere potentielle Fähigkeit zur fortwährenden Erhaltung allen Lebens nicht umfassend begreifen und Gebrauch von ihr machen, sind wir kosmisch bankrott« (S. 78). Wenn wir unsere bisherigen Erkenntnis- und Verstehenswege anschauen und sie aus systemisch-lösungs- und kompetenzorientierter Perspektive deuten, könnten wir – der eigenen These folgend – dieser Art des skeptischen Prozessierens sogar vertrauensvoll gute Gründe zuschreiben: Das Überleben im physischen Universum galt es vorrangig zu sichern. Es gab das innere Wollen, »die Welt, in der Erkennbares erkennbar ist« zu verstehen, mit zu gestalten, um dort, wo es sich verborgen hält, es dennoch ins Erkennbare zu locken. Dort waren und sind Vorsicht, Misstrauen, Kontrollverhalten, Kausalitätsdenken etc. sowohl angesagt als auch nützlich und die deutliche Basis für unseren digitalen technischen Erfolg – dafür, dass wir uns mehr oder weniger vertrauensvoll in ein Flugobjekt setzen, stellen oder legen und zumeist lebend wieder die Erdoberfläche erreichen. Doch ich meine, dass es jetzt zunehmend menschheitsgeschichtlich »um eine andere Wurst geht«: Für die Prozesse des Lebens selbst sind diese erkenntnistheoretischen Zugänge nicht die geeignete Ausstattung. In seinem Buch »Sicht und Einsicht« verfasst Heinz von Foerster unter der Überschrift »Die Verantwortung des Experten« zwei Theoreme: »Je tiefer das Problem, das ignoriert wird, desto größer sind die Chancen Ruhm und Erfolg einzuheimsen.« […] »Die ›hard sciences‹ sind

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erfolgreich, weil sie sich mit den ›soft problems‹ beschäftigen; die ›soft sciences‹ haben zu kämpfen, denn sie haben es mit den ›hard problems‹ zu tun.« […] Er beschreibt den Lösungsweg, den die ›hardsciences‹ bislang beschreiten wie folgt: »Ist ein System zu komplex, um verstanden zu werden, dann wird es in kleinere Stücke zerlegt. Sind diese immer noch zu komplex, werden auch sie zerkleinert, und so geht es weiter, bis die Stücke schließlich so klein sind, dass zumindest eines davon verständlich ist. Das Wunderbare an diesem Prozess, an der Methode der Reduktion, am ›Reduktionismus‹, ist, dass sie unweigerlich zum Erfolg führen« (von Foerster, 1999, S. 17).

Allerdings versuche ich dieser Art von Reduktionismus ebenfalls gute Gründe zu zugestehen. Es könnte ja sein, dass solches Vorgehen latent einer Annahme folgt, die Welt wäre ein Mangelwesen, was es mit aller gebotenen Präzision zu erkennen bzw. zu verstehen gelte und man es daher unter die Lupe nehmen müsste. Doch »wäre der Mensch im Gesamtplan der Natur als Spezialist gefragt, dann hätte sie ihn dazu gemacht, sie hätte ihn mit einem Auge zur Welt gebracht und mit einem daran befestigten Mikroskop versehen« (Buckminster Fuller 1998, S. 14). So entscheide ich mich dazu, dass in meiner Logik die folgende Entscheidungsfrage jetzt zur Entscheidung ansteht: Deuten wir die Welt und uns selbst in ihr aus der impliziten Metapher des Mangels heraus, werden Reduktionismus, darwinistischer Konkurrenzkampf, Kriege, Sicherheit aus/ in Kontrolle, Angst vor der Unberechenbarkeit der Dynamik des Lebens… unser Handeln weiter überwiegend bestimmen. Oder – deuten wir die Welt und uns in ihr aus der expliziten Metapher der Fülle, werden das Denken in komplexen Zusammenhängen, Koevolution, Sicherheit aus/ in Kooperation, Vertrauen, Freude und Lust am stets neuen »Aufbruch ins Ungeahnte« – am Leben eben – handlungsleitend sein können. Wäre das eine Basis für einen menschenwürdigen »metaphysischen« Erkenntnisweg? Dieser würde um das Thema Vertrauen nicht herumkommen und er wäre ohne den Versuch des »umgekehrten Denkens« nicht zu beschreiten. Doch dort, wo das Verborgene vorsichtig erkennbar wird bzw. sogar verborgen bleibt, dort können wir nur in Analogien denken, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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in Gleichnissen sprechen, Geschichten erzählen … In dieser Art von Weltgestaltung brauchen wir auch eine völlig andere Art von Transparenz. Um meine Vorstellungen diesbezüglich zu erläutern, verwende ich in den von mir moderierten Seminarangeboten oft eine – sozusagen vordigitale – Geheimdienststrategie, die ich mir von den alten Römern abgeguckt habe. Diese schickten geheime Mitteilungen über die Alpen hin wie her, und zwar wie folgt: Sie nahmen ein Rundholz, wickelten einen beschreibbaren Stoffstreifen herum, beschrieben ihn in diesem Zustand mit ihrer Geheimbotschaft, wickelten den Streifen ab und sendeten ihn zu dem vorgesehenen Empfänger. Was musste dieser wissen, um eben diese Botschaft dechiffrieren zu können? Den Durchmesser des Rundholzes, um den Botschaftsstreifen um das »gleiche« Holz wickeln zu können. Diese Art der Transparenz wird in unserem Globalisierungszeitalter mehr und mehr auf allen Kommunikationswegen erzwungen: dem anderen mitzuteilen, »worum ich gewickelt bin«! (Die Internetaufklärer sind gerade jüngst aus meiner Sicht am Werke und fordern diese Transparenz ein; das Internet zwingt uns auch förmlich dazu. Die versuchte Überlistungsstrategie des weltlichen Richters in unserer Rabbigeschichte wird in Zukunft immer weniger möglich und nützlich sein.) Wenn wir uns für diesen Transparenzweg nicht entscheiden wollen, weil die affektive Basis dazu angezweifelt wird bzw. die kognitive Jäger-Logik sich nicht erschließen will, wäre auch das verständlich und zu respektieren bzw. in guter systemischer Aushandlung gälte es stets neu sinnvolle Balancen für gute Zwischenlösungen zu finden. Wir könnten ja einfach so tun, als ob … … oder könnten uns auch für den Glauben an den Glauben entscheiden, dass das komplexitätsreduzierende Vermögen von Vertrauen sowieso ständig unwillkürlich problemlösend wirkt und uns langsam, aber sicher auch willkürlich auf der kognitiv geleiteten Handlungsebene für sich einnehmen wird.

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Vom Glauben des Glaubens – eine Ermöglichungsdidaktik pur? (4) Unser Jude, dessen Leben nun sogar per »Gottesurteils«-Entscheidung weitergehen sollte, hatte vom Rabbi den Satz zugesprochen bekommen: »Du darfst nie glauben, dass es keinen Ausweg mehr gibt.« Trotz der doppelten Verneinung bzw. der Fokussierung auf die Abwesenheit von Unglauben kann für ihn der eine Satz so gelautet haben: »Du bist mir wichtig! Und du kannst (mir und meiner Lebenserfahrung) glauben: Es gibt immer einen Ausweg!« Sicherheitsspendende wärmende Sätze aus berufenem rabbinischem Munde. Und sie könnten vom angstgebeutelten Juden so gehört worden sein: »Ich bin gemeint! Wenn ich ihm jetzt glaube und zugleich glaube, dass der Glaube (an einen Ausweg) mich beruhigt bzw. mich sicherer fühlen lässt, dann wird vielleicht meine Chance auf intuitiv passende Handlungen, die tatsächlich einen Ausweg ermöglichen, vergrößert. Angst dagegen blockiert mich. Also glaube ich lieber an die Wirksamkeit des Glaubens und überlasse mich der Unvorhersehbarkeit des Augenblicks.«

Was glaubt ihr, welche Art von Glauben bei dem Juden gewirkt hat? Ein verdinglichter Glaube an einen konkreten Ausweg (Was) oder eher der Glaube als sozusagen »gläubige Prozessgestaltung« (Wie)? Welchen Modus nutzt ihr am ehesten selbst (falls ihr es überhaupt bei euch als beobachtbares Verhalten beobachten und so benennen wollt)? Welchem Glaubensmodus räumt ihr – auch jenseits unserer Rabbigeschichte – in aller Regel mehr Wirkchancen ein? Ist der Vorgang »Des-für-möglich-Haltens« als Glaube anzusehen? Auch das Sprachspiel »Ich tue mal so, als ob …?« bzw.: »Mein Bauch sagt mir …?« Welche Gehirnregionen prozessieren da in der Regel bei uns Menschen? Und unwillkürlich fängt ein Buchrücken meinen Blick ein. Ich denke, dass es gute Gründe für dieses Resonanzphänomen gibt. Schon überfliege ich das im Buch Unterstrichene und bleibe an einer Stelle hängen: »Als strukturdeterminierte Systeme sind wir von außen prinzipiell nicht gezielt beeinflußbar, sondern reagieren immer im Sinne der

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eigenen Struktur. So kann ich nicht steuern, wie meine Worte wirken: Jeder liest, was er oder sie liest, dafür trage ich keine Verantwortung! Nicht dieser Text legt fest, was Sie lesen, sondern Ihre Struktur, Ihre jeweilige Befindlichkeit. Dabei obliegt es jedoch allein mir, keinen Unsinn zu verzapfen, denn ich bin selbst verantwortlich für das, was ich schreibe – bloß bin ich nicht verantwortlich für das, was Sie lesen« (Maturana, 1996, S. 36).

In seiner bekannten Schrift »Was ist Erkennen?« sagt Humberto Maturana über sich selbst: »Dann ging mir plötzlich ein Licht auf, und mir wurde klar, das ich wusste, aber noch nie so plastisch demonstriert gefunden hatte: ›Man sieht nur, was man glaubt.‹« Mit diesem einfachen Satz brachte er seine fundamentale Erkenntnis, die er bei den bekannten Netzhaut-Experimenten gewonnen hatte, auf den Punkt und leitete zugleich »eine tiefgreifende Umwälzung in der neurophysiologischen Wahrnehmungsforschung, ja im gesamten neurophysiologischen Denken ein« (1996, S. 31 f.). Allerdings könnte das von ihm in diesem Kontext genutzte Tätigkeitswort »glauben« in Bezug auf meine Orientierungsüberschrift und Fragestellung: »Vom Glauben des Glaubens – eine Ermöglichungsdidaktik pur?« zwischen uns zu Missverständnissen führen, weil es dort an das Wort »was« gekoppelt wird: »Man sieht nur, was man glaubt.« Ich möchte mit meiner Frage eher den Gedanken verfolgen, inWie-fern der Prozess des Glaubens als implizite Handlungsbasis für das Verständnis von Selbstorganisationsphänomenen bzw. Autopoiesis-Konzepten angesehen werden könnte bzw. vielleicht sogar müsste. Denn ich frage mich: Unter welchen Bedingungen können diese Konzepte lebendig genutzt bzw. nützlich gelebt werden? Was tun wir als gestaltende Akteure, wenn wir die ständig wirkenden Selbstorganisationskräfte systematisiert (an)erkennen und mit und durch sie situationsflexibel leben lernen? Wie kommen wir dahin, diese Denkweisen nicht nur theoretisch zu verstehen und an ihnen interessiert zu sein, sondern aus und in ihrem Möglichkeitsraum zu handeln? Maturana formuliert unter der Überschrift »Fast unbegrenzte Möglichkeiten« das Grundmuster »lebender Systeme« wie folgt: »So © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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trägt die Lebensweise selbst mit zur Erhaltung der Lebensweise bei – und genau das habe ich […] als ›systemisch‹ bezeichnet« (2000, S. 87). Ein Systemiker dieser sich selbst verstehenden und erzeugenden Art, der sich selbst sicher nicht so bezeichnet hätte, der allerdings mit den Beschreibungen »Beziehungs-Denker«, »Dialog-SprachenKünstler«, »Zwischenraum-Benenner«, »Glaubens-Erforscher« vielleicht im Kontext dieses kleinen Aufsatzes einverstanden wäre, wenn ich ihn jetzt fragen könnte – ist für mich der bereits zitierte jüdische Philosoph Martin Buber. Er ist einer meiner wichtigsten Geh-Fährten und ich höre förmlich, wie er mich in diesem Moment aus seinem Regal anspricht: »Nichts kann sich weigern, dem Wort Gefäß zu sein. Die Möglichkeitsgrenzen des Dialogischen sind die des Innewerdens« (Buber, 2012, S. 153). Ich vermute eines »Innewerdens« im Sinne dessen, dass ich merke, dass ich angesprochen bin, dass ich in meinem Menschsein gemeint bin, dass es dafür keine Nachschlagwerke und Patentrezepte gibt, dass ich meine Antworten selbst (er-) finden werde, dass ich spüre, wie dieses Erlebensnetzwerk mich hält. Denn »der wirkliche Glaube – wenn ich denn das Sichstellen und Vernehmen so nennen darf – fängt da an, wo das Nachschlagen aufhört, wo es einem vergeht. Was mir widerfährt, sagt mir etwas, aber was das ist, das es mir sagt, kann mir durch keine geheime Kunde eröffnet werden, denn es ist noch nie zuvor gesagt worden und es setzt sich nicht aus Lauten zusammen, die je gesagt worden sind. Es ist undeutbar, wie es unübersetzbar ist, ich kanns nicht erklärt bekommen und ich kanns nicht darlegen, es ist ja mir in mein Leben hinein gesagt, es ist keine Erfahrung, die sich unabhängig von ihrer Situation erinnern lässt, es bleibt immer die Anrede jenes Augenblicks, unisolierbar, es bleibt die Frage eines Fragenden, die ihre Antwort will. […] Der Glaube steht in der Flut der Einmaligkeit, die vom Wissen überspannt wird. Unentbehrlich für die Arbeit des Menschengeistes sind all die Notbauten der Analogik, der Typologik, aber Flucht wärs, sie zu betreten, wenn dich, mich die Frage des Fragenden antritt. In der Flut allein erprobt und erfüllt sich das gelebte Leben« (Buber, 2012, S. 155 f.).

Die implizite Logik eines solchen Lebens wäre zugleich seine impli© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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zite Ethik, die nirgendwo steht. Diese müsste nicht ausgesprochen und erklärt werden, sondern würde sich durch den und in dem Prozess des Überlassens selbst ereignen. Es wäre aus meiner Sicht ein Glaube an den Glauben als ein sich selbst rückbezügliches wärmendes Handlungssystem, was als Geborgenheit in der Unsicherheit er- bzw. gelebt werden könnte. Ein Handlungssystem, welches ich in Anlehnung an Rolf Arnolds Begriff der »Ermöglichungsdidaktik« (Arnold, 2007) eher als ein System der »Ermöglichungs-Autodidaktik« beschreiben würde, sich auf das lebende System Leben tatsächlich autopoietisch einzulassen. Mit »Autopoiesis« (griech. »autos« – selbst; »poiesis« – machen) hatten Maturana, Varela und Uribe bereits vor vierzig Jahren Organisationsformen bezeichnet, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich in jeder ihrer Handlungen bzw. Operationen selbst rekonstruieren und damit dynamisch konstituieren (vgl. Simon, 1997). Meldet sich Skepsis? Nutzt sie gern für eigene Fragen. Ich bin selbst immer wieder neu davon überrascht, wie sich Sprache im Hier und Jetzt dialogisch ereignet. Ich möchte erneut auf Gedanken von Martin Buber zurückgreifen, die mich schon des Längeren beschäftigen, deren Inhalt mich tief bewegt und die ich geradezu notwendig passend finde. »Jeder von uns steckt in einem Panzer, dessen Aufgabe es ist, die Zeichen abzuwehren. Zeichen geschehen uns unablässig, leben heißt angeredet werden, wir brauchten uns nur zu stellen, nur zu vernehmen. Aber das Wagnis ist uns zu gefährlich, die lautlosen Donner scheinen uns mit Vernichtung zu bedrohen, und wir vervollkommnen von Geschlecht zu Geschlecht den Schutzapparat. […] Jeder von uns steckt in einem Panzer, den wir bald vor Gewöhnung nicht mehr spüren. Nur Augenblicke gibt es, die ihn durchdringen und die Seele zur Empfänglichkeit aufrühren. Und wenn sich dergleichen uns angetan hat und wir dann aufmerksam uns fragen: ›Was hat sich denn da Besonderes ereignet? Wars nicht von der Art, wie es mir alle Tage begegnet?‹, so dürfen wir uns erwidern: ›Freilich nichts Besonderes, so ist es alle Tage, nur wir sind alle Tage nicht da.‹ Die Zeichen der Anrede sind nicht etwas Außerordentliches, etwas was aus der Ordnung der Dinge tritt, sie sind eben das, was sich je und je begibt, eben das, was sich ohne-

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hin begibt, durch die Anrede kommt nichts hinzu. […] Was mir widerfährt ist Anrede an mich. […] Nur indem ich es sterilisiere, es von der Anrede entkeime, kann ich das, was mir widerfährt, als einen Teil des mich nicht meinenden Weltgeschehens fassen. Das zusammenhängende, sterilisierte System, in das sich all dies nur einzufügen braucht, ist das Titanenwerk der Menschheit. Auch die Sprache ist ihm dienstbar gemacht worden« (Buber, 2012, S. 153 f.). »Es wird also dem Aufmerkenden zugemutet, dass er der geschehenden Schöpfung standhalte. Sie geschieht als Rede, und nicht als eine über die Köpfe hinbrausende, sondern als die eben an ihn gerichtete; und wenn einer einen anderen fragte, ob auch er höre, und der bejahte, hätten sie sich nur über ein Erfahren und nicht über ein Erfahrnes verständigt« (S. 162).

Diesen letzten Gedanken finde ich entscheidend. Es ist für mich ein fundamentaler Unterschied, ob ich mich im Prozess des »Erfahrens« als ähnlich bzw. verbunden erlebe – oder ob ich erwarte, erhoffe, dass es eine inhaltliche Bejahung, Gleichschaltung in Bezug auf das »Erfahrene« selbst, den Gegenstand also geben soll. Ersteres macht in meinem Erleben den Raum dafür frei, mich tatsächlich in Bezogenheit, in Verbundenheit erleben zu können und mich dennoch inhaltlich unterschiedsbildend individuieren zu können. Es ist ein gemeinsames Prozessieren sozusagen als koevolutionäres Geschehen. Und genau das haben wir meines Erachtens in unseren eigenen Biografien nur selten erlebt. Stattdessen wurden und werden wir noch heute zumeist mit dem Verdinglichten, Objektivierenden, dem Inhalt angesprochen. Daher könnte die von Buber beschriebene »Verpanzerung« durchaus als eine kluge – allerdings suboptimale – SchutzLösung der menschlichen Organismen hypothetisiert werden: sich nämlich nur dann für die von ihm benannte »Ansprache« vertrauensvoll zu öffnen, wenn die ersehnte wärmende Verbundenheit nicht mittels einer unterwerfenden Inhaltsebene erzwungen würde (wobei die sich hier entwickelnde Reibungswärme auch wärmen kann), sondern wenn sie sich durch dieses koevolutionäre Prozessieren im Dialograum selbst wie von selbst ereignen würde. Eine solche »thermodynamische Wende« halte ich für angesagt, ja fundamental und deute sie als eine wesentliche Spielwiese, auf der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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sich die Systemik tummeln sollte und könnte. Denn das so gelebte Leben aus und in dieser koevolutionären Ansprache ereignet sich meiner Erfahrung nach als ein sich selbst erzeugender Prozess, wenn ich mich dafür entscheide, sozusagen dem Glauben zu glauben, dass ich ständig angesprochen werde. »Es« spricht in und mit mir ständig etwas! Besser kann ich es mit meinen Worten nicht ausdrücken. Dann wird es in mir und um mich herum warm, ich lebe häufiger im Ich-Du-Modus der naturhaften Verbundenheit und merke einen Vertrauenszuwachs, der mich trägt und beglückt, was wiederum genau dieses Prozessieren stärkt und mir eine gelebte Ahnung ermöglicht, mit dem gesamtem Organismus zu erfahren, was mit Autopoiesis gemeint sein könnte. Joseph Beuys hat mit seinen Fettkissen auf Stühlen und Schlitten bereits vor 50 Jahren ziemlich irritiert. Mit dem folgenden Zitat aus dem Buch zu bzw. über ihn »Die Revolution sind wir« möchte ich meine Idee der »thermodynamischen Wende« in künstlerischer Freiheit kurz plausibilisieren: »Wenn du den Geist im Ziel hast, hast du auch ein anderes Konzept der Zeit … Du siehst, die Zeit auf der Erde ist eine physikalische Wirklichkeit. Sie findet statt im Raum. So ist es die Raum-ZeitRelation, über welche Einstein spricht. Dies gibt bereits eine Art Hinweis auf eine andere Dimension, aber ich denke, diese andere Dimension ist etwas, was wir noch zu entdecken haben. Wenn ich sage, dass wir es noch zu entdecken haben, dann ist es bereits entdeckt. […] Dies ist die Wärmequalität. […] Die Qualität von Wärme. Diese Dimension ist tatsächlich eine andere Dimension, welche nichts zu tun hat mit der Raum- und Zeit-Relation. Es ist eine andere Dimension, die kommt, um an einem Ort zu existieren und welche wieder fortgeht. Das ist ein interessanter Aspekt der Physik, da bis jetzt die meisten Physiker nicht vorbereitet sind, mit der Wärmetheorie sich zu befassen. Thermodynamik war immer ein sehr komplizierter Stoff« (zit. in Blume u. Nichols, 2008, S. 313).

Wenn Maturana meinte »Man sieht nur, was man glaubt«, dann gipfelt die in diesem Abschnitt skizzierte Ermöglichungsdidaktik für mich in dem folgenden Satz: »Man lebt nur, wie man glaubt.« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Kommen wir jetzt zu den Ideen für eine friedliche, nicht spaltende Kernkraftnutzung.

Vom Vertrauen ins Vertrauen – als menschenwürdige Kernkraftnutzung (5) Der Jude hat in seiner existenziell lebensbedrohlichen Situation dem Rabbi vertraut; der Rabbi dem Juden und beide vielleicht auch ihrem Gott … Mit diesem Sich-überlassen-Können bestand für beide zugleich die menschenwürdige Freiheit bzw. Chance darin, dem Vertrauen zu vertrauen. Hat der Rabbi mit seinen schlichten Sätzen ein dem Juden vertrautes Erlebensnetzwerk aktiviert, aus dem heraus dieser die Grenzsituation als eine Art unwillkürliche Lösungstrance nutzen konnte? »Erzeugte« der Jude mit seiner Bitte um ein letztes Gespräch beim Rabbi den vertrauensvollen Ich-Du-Modus, der ihn diese ermutigenden, wärmenden Sätze sprechen ließ? Ihr Gespräch hatte eine Vertrauenskontur, die dem Leben diente. Wie eine Art beziehungsstiftende Kernkraft wirkte es als komplexitätsreduzierende Intuitionshilfe, um den Weg zu erfinden, das Leben erhalten und weiterführen zu können…

Na, na, na – woher weiß ich denn das … Ohne viel Zutun fällt mein Blick auf Batesons Buch »Ökologie des Geistes« und ich erinnere mich an einen wunderbaren Metalog, den er mit seiner Tochter imaginativ führt. Dessen Anfang lautet: Tochter: Pappi, warum haben Dinge Konturen? Vater: Haben sie? Ich weiß nicht. An was für Dinge denkst du? Tochter: Ich meine, wenn ich Dinge zeichne, warum haben sie Konturen? Vater: Gut, was ist mit anderen Dingen – etwa mit einer Schafherde? Oder einem Gespräch? Haben die Konturen? Tochter: Sei nicht albern. Ich kann doch kein Gespräch zeichnen. Ich meine Dinge. Vater: Ja – ich wollte nur genau wissen, was du meinst. Meinst du, ›Warum geben wir Dingen Konturen, wenn wir sie zeichnen?‹, oder meinst du, dass die Dinge Konturen haben, ob wir sie nun zeichnen oder nicht? Tochter: Ich weiß nicht, Pappi. Sag’ du es mir. Was meine ich? (Bateson, 1985, S. 60).

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Wenn ich euch jetzt fragen könnte: »Sagt ihr mir, sag du mir – lieber Jochen – was meine ich?« Das wäre wunderbar. Ich versuche stattdessen mir selbst zu antworten: Was ich mit dem bis hierhin Geschriebenen zu meinen meine, habe ich durch vielfältige Metakommentare während meiner Abenteuerreise kundgetan. Dabei bin ich nur im Medium der Sprache geblieben, habe keine Bildchen gemalt bzw. keine Experimente mit Mikadostäben von euch verlangt. Mich nur auf die Worte zu verlassen – das war und ist für mich eine große Herausforderung, der ich mich noch nie so gestellt habe! Was ihr als kluge Leser und Dialogpartner daraus macht, ist für mich in diesem Geh-Schreib-Denk-Prozess, auf den ihr euch mit mir eingelassen habt, weniger schnell im wechselseitigen Wirkraum erfahrbar, als wenn wir direkt in einem physiologisch spürbaren Raum miteinander wandern, sprechen und uns über Feedbackschleifen abgleichen würden. Daher bin ich eher auf Spekulationen angewiesen und glaube, dass selbst ihr, die ihr bis hierhin durchgehalten habt, vielleicht mehr Fragen als Antworten erlebt in Bezug auf das, was wohl mein Anliegen für diese Abenteuerreise sei. Dennoch: Erlebt ihr in dem bisherigen Wortgeflecht irgendeinen durchscheinenden Kontur-Bildungs-Versuch? Wenn ja, wie würdet ihr ihn beschreiben? Bevor ich dazu etwas sage, zitiere ich zuerst noch das Ende des Metalogs: Tochter: Was meinst du damit, dass ein Gespräch eine Kontur hat? Hatte dieses Gespräch eine Kontur? Vater: Oh, sicher, ja. Aber wir erkennen sie noch nicht, weil das Gespräch noch nicht zu Ende ist. Man sieht sie nie, wenn man mitten drin steckt. Würdest du sie nämlich sehen, dann wärest du kalkulierbar – wie die Maschine. Und ich wäre kalkulierbar – und wir beide zusammen wären auch kalkulierbar – Tochter: Das verstehe ich aber nicht. Du hast doch gesagt, daß es wichtig ist, sich über Dinge klarzuwerden. Und du wirst wütend über Leute, die alle Konturen verwischen. Und doch denken wir, daß es besser ist, unkalkulierbar und nicht wie eine Maschine zu sein. Und du sagst, daß wir die Konturen unseres Gesprächs erst sehen können, wenn es vorüber ist. Dann ist es doch egal, ob wir uns klar sind oder nicht. Weil wir ja ohnehin nichts daran ändern können.

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Vater: Ja, ich weiß – und ich versteh es auch selbst nicht … Aber wer möchte schon etwas daran ändern? (Bateson, 1985, S. 66).

Ich will tatsächlich daran etwas ändern. (Ob es mir gerade gelingt, sei dahingestellt.) Nämlich unser Verständnis davon, dass – wenn wir von Kontur reden – zumeist ein geschlossenes Etwas vor uns sehen, was vielleicht auch Offenes, Durchlässiges erkennen lässt, wenn wir in Zeit bzw. Raum genügend Beobachterabstand einnehmen. Selbst systemische Denker und Handler definieren Systemgrenzen meiner Erfahrung nach oft aus diesem Verständnis heraus. Stattdessen interessiert mich eine gelebte Konturbildung, die durch ihre zieldienliche Geschlossenheit gleichzeitig sinnvolle Offenheit geradezu mitprovoziert bzw. mitproduziert. Wobei ich als handelnde Prozessbeteiligte durch meine mehr oder weniger bewussten Entscheidungen den Prozess ständig lebendig mit-konturiere, ohne dabei eine (versteckte) triviale Kalkulierbarkeit bzw. Berechenbarkeit anzustreben. Wenn ich so denke, sehe ich keine konkrete Kontur vor meinem Auge. Doch wenn Vorträge, Aufsätze, Gespräche im Sinne Heinz von Foersters nie Informationen an sich, sondern höchstens Träger potenzieller Informationen sind, wie sollte denn eine Konturbildung sein, die dem von mir eben skizzierten Anspruch gerecht würde? Führen wir eigentlich aus eurer Sicht auf meiner/unserer Abenteuerreise ein solches Gespräch miteinander, das eine derart angestrebte Kontur auch schon vor dessen Abschluss erkennbar werden lässt? An welchen Kriterien könnten wir es bemessen? Und da lande ich direkt beim zentralen Thema dieses Aufsatzes und auch der letzten meiner Orientierungsüberschriften. Ich habe sie sozusagen als vorausahnende begrenzende Konturbahnung in die Worte »Vertrauen ins Vertrauen als menschenwürdige Kernkraftnutzung« gefasst, ohne genau zu wissen und kalkuliert zu haben, was ich an dieser Stelle dazu zu sagen hätte. Ich habe die Pfeile abgeschossen mit der vertrauensvollen Verrücktheit, dass sie von passenden Zielen förmlich angezogen werden oder – wenn das nicht passieren würde – ich einfach die Zielscheibe nachträglich herummalen könnte. Ist das glaubhaft für euch? Kennt ihr so etwas auch? Wenn ja, dann wären wir schon jetzt Prozessgefährten im ähnlichen Erfahren, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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wenn nein – wäre das auch nicht schlimm. Im Gegenteil, ich könnte euren »Unglauben« vielleicht geradezu sinnhaft für die weiteren Ausführungen nutzen. Mal sehen, ob es gelingt! Niklas Luhmann hat sich mit dem Thema Vertrauen aus systemtheoretischer Sicht vielfältig befasst und unter anderem »spontanes« und »durchschauendes Vertrauen« unterschieden. Während spontanes Vertrauen am meisten komplexitätsreduzierende und sicherheitsspendende Wirkung zeigt, ist das durchschauende Vertrauen reflexiver und dient seiner Meinung nach zugleich der stetigen weiterführenden prozessualen Vertrauensbildung. »Durchschauendes Vertrauen hat allerdings gegenüber spontanem Vertrauen einen erheblichen Nachteil: Es fordert vom Vertrauenden mehr Umsicht, mehr Überlegung. Er vertraut nicht direkt dem anderen Menschen, sondern er vertraut den Gründen, aus denen das Vertrauen ›trotzdem funktioniert‹. Andere Möglichkeiten sind dabei ständig mitbewusst. Was das bedeutet, können wir uns klar machen im Hinblick auf die Funktion des Vertrauens, Komplexität zu reduzieren. Durchschauendes Vertrauen erfüllt diese Funktion weniger gut als spontanes Vertrauen. Es belastet den Handelnden stärker mit Komplexität und ist daher psychologisch schwieriger. Man wird es daher nur als Spitzenleistung unter besonders gesicherten, laufend sich bewährenden Umständen erwarten können.« […] »Eine Ausbreitung des durchschauenden Vertrauens als allgemeine gesellschaftliche Attitüde wäre nur möglich, wenn und soweit es gelingt, personale und soziale Handlungssysteme zunehmend zu stabilisieren und in ihren Funktionsbedingungen durchsichtig zu machen« (Luhmann, 2009, S. 89 f.).

Dieses durchschauende Vertrauen wirkt in mir inzwischen konstitutiv in beinahe allen Prozessen, auf die ich moderierenden Einfluss nehmen kann: Im Umgang mit meinem eigenen Körper, in Beratungs- und Supervisionskonstellationen, bei der Organisationsentwicklung der SysTelios-Klinik, in meinen Seminaren und jetzt auch beim Geh-Schreib-Denken dieses gedanklichen Abenteuerweges. Natürlich – mal mehr, mal weniger, mal gelingender, mal weniger gelingend! Es speist sich aus meiner Einschätzung und dem sich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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daraus ableitenden Erleben, dass genau diese vertrauensbildende Kontur selbstverständlich mit der systematisierten Förderung und Nutzung von Selbstorganisationsprozessen korrespondiert. Und wenn ich innerhalb dieser Konturierung handle, bin ich sowohl Beobachter als auch Akteur und zugleich Regulator – in dem mir möglichen unvorhersehbaren Maße natürlich. Heinz von Foerster hat in Ergänzung zu Erwin Schrödinger zwei Grundprinzipien benannt, die lebende Systeme mit Selbstorganistionscharakter kennzeichnen: Die verfügen über die Fähigkeit »Ordnung aus Ordnung« und »Ordnung durch Störung« zu generieren. Er meint ganz poetisch: »In meinem Gasthaus ernähren sich daher selbst-organisierende Systeme nicht nur von Ordnung, für sie stehen auch Störungen auf der Speisekarte« (von Foerster, 1994, S. 225). In dem Zusammenspiel mit dem Vertrauensthema wäre das Vertrauen das ordnende Kriterium und das ebenfalls immer auftauchende Misstrauen, die Skepsis würde der Störung entsprechen. Damit also das Systemvertrauen wachsen kann, braucht es rekursive Rituale, die sowohl die direkt vertrauensbildenden Phänomene erkennt und transparent nutzen lernt – als auch die skeptischen, misstrauischen, störenden Aspekte so offen anerkennend einbindet, dass sie der weiteren Stabilisierung des Systemvertrauens dienen. Um diese Utilisation zu leben, braucht es die bewusste Vereinbarung, dass gerade die Störungen dem Lernen bzw. der Flexibilisierung und Weiterentfaltung des Systems dienen könnten, wenn sie vertrauensvoll kommuniziert würden. Es braucht also den Konsens im Wofür, nämlich darüber, dass das System der Weiterentfaltung eben dieses Systemvertrauens dienen möge. »Während beim personalen Vertrauen Reflexivität Ausnahmeerscheinung ist, baut das Systemvertrauen darauf, dass andere auch vertrauen und dass diese Gemeinsamkeit des Vertrauens bewusst wird. […] Gleichwohl liegt die rationale Basis des Systemvertrauens im Vertrauen in das Vertrauen anderer« (Luhmann, 2009, S. 92). »Systeme können […] Vertrauen und Misstrauen nebeneinander vorsehen, ja auf vielfältige Weise miteinander verzahnen und dadurch steigern.« Es »kann nur in Systemen, denen vertraut wird, Misstrauen so institutionalisiert und begrenzt werden, dass es

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nicht persönlich zugerechnet und zurückgegeben wird, also vor Ausuferung in Konflikte bewahrt bleibt« (S. 124).

Doch genau dafür braucht es meines Erachtens eine Entscheidung: Nämlich die Entscheidung für die Entscheidung, dass ich das Vertrauen ins Vertrauen als konturbildende Kraft aktivisch leben und nicht nur darüber theoretisieren will. Wenn ich es leben will, ist das eine Art kognitiver Glaubensakt, der – wenn ich ihn vollziehe – sich selbst immer mehr erzeugt. Mit ihm wächst zugleich das Erleben, dass Dialog, Fülle, Glauben, Vertrauen keine leeren Worte bleiben, sondern dass es Worte sind, die mich direkt ansprechen. Immer mehr, immer intensiver, immer kompromissloser, immer selbstverständlicher, immer erlebbarer – sie sehnen sich nach sich selbst (wie ich gern sage!) und erzeugen sich somit selbst, wenn wir uns ihrer Wirkkraft hingeben. Und sie erzählen etwas vom rechten Moment – und das immer häufiger im rechten Moment. Und die Panzer werden dünner, bis sie schließlich nur noch selten angezogen werden (müssen) – wenn doch, dann zunehmend als bewusste Gestaltung von sinnvollen Schutz- bzw. Balanceprozessen –, im Sinne davon, dass wir kontextuelle Wesen sind; dass »wer immer offen ist, nicht ganz dicht ist«, dass es noch viel zu tun gibt, weil fast überall noch der Slogan gilt – Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist doch besser. Ich kann das wahrscheinlich nur deshalb so schreiben, weil ich es tatsächlich inzwischen immer mehr so erlebe – allerdings nur begrenzt und manchmal geradezu scheu davon sprechen mag. Die hypnosystemischen Ideen (vgl. Schmidt, 2005), aus denen wir in der SysTelios-Klinik seit inzwischen mehreren Jahren sowohl therapeutisch als auch institutionell auf allen Ebenen mit allen Sinnen handeln, liefern ständige Beweise für die Möglichkeit, solche Wirkkräfte systematisch zu nutzen und sie zugleich auch irgendwie selbst geradezu (mit)erzeugen zu lernen. Nicht als einzelne Personen – sondern in einem einzigartigen Zusammenspiel der auf Vertrauen gebahnten und damit konturierten Systemkräfte. Und genau das habe ich auch innerhalb des Geh-Schreib-DenkProzesses dieses Aufsatzes systematisiert versucht: Ich bin ständig in einen vertrauensbildenden metakommunikativen transparenten Austauschprozess mit euch gegangen, habe nachgefragt »wo ihr © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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gerade seid; ob ihr dabeibleiben könnt«, bin mit euch auf die skeptische Seite gegangen, habe euch ermuntert, sie ernst zu nehmen und sogar die störenden Impulse als kreativen Umformulierungsprozess für den weiteren »ordentlichen« Dialog zu nutzen. Das mag euch auch wiederum auf die Nerven gegangen sein. Ja – und das habe ich euch zugemutet. Weil ich die Bewusstheit für die Bewusstheit, die Entscheidung für die Entscheidung anregen und ein klein wenig ganz konkret fühlbar »machen« wollte. Die hypnosystemische Formel »Dort, wo und wie die Aufmerksamkeit hingeht, dort entsteht Wirklichkeit« sollte bahnende Anwendung finden. Ob mir das gelungen ist, hängt nicht allein von mir ab. Für ein sich entwickelndes Systemvertrauen müssen beide Seiten etwas tun. Es lebt ja eigentlich in jedem lebenden Wechselwirkungsprozess – muss allerdings bewusst als Schatz gehoben und als konturbildende Kraft im gemeinsamen Zwischenraum bejaht, geglaubt und gefüttert werden. Und ich habe noch eine weitere verrückte Idee. Sie ist in mir entstanden, als ich das Abschlusszitat von Batesons Metalog für euch abgetippt habe. Meine These: Wenn die Kontur flächig erlebt bzw. »gesehen« wird, kann es keine Kernkraftnutzung geben! Weil eine solche Nutzung nur im Raum möglich wird. Daher der folgende weitere Gedankengang: Buckminster Fuller beschrieb drei Komponenten, die zusammen ein Dreieck bilden und damit zugleich die kleinste denkbare Fläche (vgl. Buckminster Fuller, 1983, S. 32 ff.). Ich assoziiere sie mit den drei Aspekten, die Aaron Antonovsky in seinem Salutogenese-Ansatz als grundlegend ansieht (Antonovsky u. Franke, 1997). Ihr Zusammenwirken würde das Erleben von Kohärenz bei uns Menschen ermöglichen: Kontur flächig:

ȤȤ Beobachter, das zu Beobachtende, die Einbeziehung des Kontextes (Buckminster Fuller); ȤȤ Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit, Gestaltbarkeit (Antonovsky), Kontur entspricht Dreieck.

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Abbildung 2: Kontur flächig

Und genau da denke ich noch (an) eine Ergänzung. Buckminster Fuller erkannte im Tetraeder das kleinste räumliche System (s. o.). Der vierte Eckpunkt würde sich – in meinen Worten formuliert – dadurch bilden, wenn wir die Metaperspektive der Wechselwirkung zwischen dem Beobachter, dem zu Beobachtenden sowie des Kontextes ständig mit einbezögen. Erst dann würde das System räumlich. Und – ich füge hinzu – kann es sich in Bezug auf das gewünschte Ziel (selbst)organisieren. Diese sich selbstorganisierende Kernkraft werde ich als Mensch nur dann spüren und aus ihr leben, wenn ich mich diesem Wirkprozess im wahrsten Sinnen des Wortes hingebe. Daher führe ich als Ergänzung zu Antonovsky an, dass wir neben Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit, Gestaltbarkeit – wo wir letzten Endes noch Pfeile absenden, die ganz bestimmte Ziele treffen sollen, wo wir letztendlich die Macher, die Akteure bleiben wollen – eine bewusste vertrauensvolle Hingabe an die sich selbstorganisierenden Prozesskräfte brauchen, um als räumliche Wesen eine menschenwürdige Kernkraftnutzung praktizieren zu können. Deren Energie würde nicht aus der Spaltung freigesetzt, sondern aus der Erkenntnis und Praxis einer thermodynamisch wirksamen »Vertrauenswende« der Hingabe an den Prozess des Geschehens selbst: Kontur räumlich:

ȤȤ Beobachter, das zu Beobachtende, die Einbeziehung des Kontextes, die ständige Einbeziehung der Wechselwirkungen zwischen allen (Buckmister Fuller); ȤȤ Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit, Gestaltbarkeit, vertrauensvolle © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Hingabe an den Prozess (Antonovsky u. Franke, 1997; Reinhard, 2003, 2011), Kontur entspricht Tetraeder.

Abbildung 3: Kontur räumlich

Was haltet ihr davon? Ist mein Geh-Danken-Gang sehr verrückt? Ist er verstehbar verrückt? Ist er sinnvoll verrückt? Ist er überhaupt verrückt? Oder was denkt ihr: Sind wir inzwischen so ver-rückt, dass wir diese Dimension des Lebens erst (wieder) lernen müssen? Bzw. dass wir uns gezielt reorientieren »müssen« im Sinne von »wenn ihr nicht werdet wie die Kinder«, denn diese sind auf das Sich-überLassen angelegt? Dass wir diesen Aspekt unseres Menschseins dem Verstehen, Gestalten, Sinnerfinden noch raumbildend bewusst hinzufügen sollten zur weiteren Vervollständigung der Bedienungsanleitung für uns selbst? Manchmal kommt es mir so vor. Daher wage ich folgende Hypothese: Erst in dieser wahrgenommenen räumlichen Kontur – die uns besser gesagt eigentlich ständig »wahrgegeben« wird (vgl. Schmidt, 2000), kann es zu einem »hynosystemischen« Erleben kommen, welches wir mit allen Sinnen merken, fühlen und wie folgt beschreiben könnten: »Ja, wow – das System trägt, die Kommunikation kommuniziert mit der Kommunikation. Das Wesentliche ereignet sich im Zwischen! Ich bin ein Astronaut im Raumschiff Erde. Die Bedienungsanleitung zeigt sich mir. Der Prozess ist ja Antwort in dynamischer Gestalt! © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Ich kann sowohl meine eigene unverwechselbare Freiheit leben und dennoch die Anrede spüren, die mich zugleich in meine eigene unverwechselbare Verantwortung nimmt. Es geht sogar beides zusammen. Mein Körper ist dafür Vertragspartner! Meine innere Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit wird ständig in mir verbunden bzw. überbrückt. Ich bin ja noch nicht auseinandergefallen. Es gibt eine alles verbindende Kernkraft!« Diese implizite Ethik erfüllt dann meiner Erfahrung nach den so konturierten menschlichen Wechselwirkungsraum und wirkt wie eine erotische Kernkraft, die sich ständig selbst mit erzeugt und somit auch erneuert – und das zunehmend auf allen erlebbaren Ebenen des Lebens –, im biopsychosozialen Raum sozusagen. Und dafür ich kann durchaus aktivisch etwas tun: Wenn ich mich mehr für das Handeln im Dialog statt im Monolog, aus der Fülle statt aus dem Mangel und im Vertrauen statt im Misstrauen entscheide, vermehrt sich meiner Erfahrung nach zugleich die Offenheit für diesen lebendigen Prozess – sowohl für seine Unvorhersagbarkeit als auch die Zeichen am Wegesrand. Ein solches kollektives Zeichen sehe ich und will es abschließend so benennen: »Vor dem Anbruch des 20. Jahrhunderts wurde – ohne dass die Menschen vorgewarnt gewesen wäre – die physikalische Technologie umgeschaltet von einer Realität der Sinneswahrnehmung auf eine Realität der Instrumenten-Wahrnehmung«, meint Buckminster Fuller (1998, S. 244). Ich möchte ergänzen: Über hundert Jahre später – mit erkennbaren Warnzeichen – deutet sich eine menschenwürdige und den Menschen würdigende nächste Wende an, eine thermodynamische Wende nämlich, die sich schon jetzt durch mehr und mehr Vertrauenswahrgebung von Selbstorganisationsprozessen artikuliert, wenn wir uns für diese Zeichen öffnen: ȤȤ beim Erkennen des Erkennens – im rechten Moment, ȤȤ das Verstehen des Verstehens – gibt es ja nur im Dialog, und ȤȤ mit ihm das Entscheiden für die Entscheidung – umgekehrt zu denken, ȤȤ und Glauben des Glaubens – dafür ist er »Ermöglichungs-Autodidaktik«, ȤȤ »lebt« Vertrauen ins Vertrauen – als menschenwürdige Kernkraft. ȤȤ Wir brauchen sie nur noch zu nutzen! © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Wie, das könnte der Jude uns ganz konkret mit auf den weiteren Weg geben: Was hat der Jude konkret getan, als er seine ausweglose Situation realisierte? Er war verzweifelt und bat im rechten Moment einen Rabbi zu sich. Der Rabbi erkannte, dass der Jude nicht nur in dem äußeren, sondern auch seinem inneren Kontext gefangen war, und sprach ihm im rechten Moment den Satz zu: »Du darfst dich nur nicht aufgeben, dann wird sich schon irgendein Weg finden.« Als der Jude in der konkreten Gerichtssituation erneut seine aussichtslose Lage erkannte, erinnerte er sich im rechten Moment an die Worte des Rabbis, sich selbst nicht aufgeben zu dürfen – sondern vertraute im rechten Moment auf sein Erkenntnisvermögen und kam tatsächlich im rechten Moment auf den genial erlösenden Einfall, einen der Zettel im rechten Moment einfach zu verschlucken. Was hat der Jude in unserer Geschichte konkret getan, als er verstand: Hier komme ich (allein) aus meiner Perspektive nicht mehr lebend raus? Er bat um einen Rabbi, einen anderen Menschen, er brauchte Dialog und im Dialog entstand für ihn eine neue Wirklichkeit. Was hat der Rabbi dabei getan? Er verstand es, mit seiner Aussage »Du darfst nie glauben, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Der Teufel persönlich – Gott behüte! – führt dich mit diesen Gedanken in Versuchung.« den inneren Dialog des Juden aufzugreifen. Zugleich bot er ihm damit Wahlmöglichkeiten, seine innere Welt so dialogisch umzustrukturieren, zu bahnen, dass das Unmögliche möglich werden konnte. Mit großer Sicherheit konnte diese Aussage so nachhaltig im Juden weiterwirken, weil der Rabbi selbst aus dieser entschiedenen Haltung heraus sprach und lebte. Die Auswirkungen waren beachtlich: Der Jude dachte im Moment der größten Not an die Worte des Rabbi und traf in sich die Entscheidung für die Entscheidung, sich selbst nicht aufzugeben. Der trickreiche Richter hatte sich auch entschieden: Er wollte besonders klug die Situation unter Kontrolle halten. Doch er konnte in seiner Logik nicht ahnen, dass der Verurteilte so kreativ »umgedreht zu denken« vermochte und damit ein Möglichkeitsraum betreten würde, den zuvor niemand für möglich gehalten hatte – bei dem das Lebensziel, am Leben bleiben zu wollen, vom Hoffnungspfeil intuitiv gesucht und so ins Schwarze getroffen wurde.

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Unser Jude, dessen Leben nun sogar per »Gottesurteils«-Entscheidung weitergehen sollte, hatte vom Rabbi den Satz zugesprochen bekommen: »Du darfst nie glauben, dass es keinen Ausweg mehr gibt.« Trotz der doppelten Verneinung bzw. der Fokussierung auf die Abwesenheit von Unglauben kann für ihn der eine Satz so gelautet zu haben: »Du bist mir wichtig! Und du kannst (mir und meiner Lebenserfahrung) glauben: Es gibt immer einen Ausweg!« Sicherheitsspendende wärmende Sätze aus berufenem rabbinischem Munde. Und sie könnten vom angstgebeutelten Juden so von ihm gehört und interpretiert worden sein: »Ich bin gemeint! Wenn ich ihm jetzt glaube und zugleich glaube, dass der Glaube (an einen Ausweg) mich beruhigt bzw. mich sicherer fühlen lässt, wird vielleicht meine Chance auf intuitiv passende Handlungen, die tatsächlich einen Ausweg ermöglichen, vergrößert, Angst dagegen blockiert mich. Also glaube ich lieber an die Wirksamkeit des Glaubens und überlasse mich der Unvorhersehbarkeit des Augenblicks.« Der Jude hat in seiner existenziell lebensbedrohlichen Situation dem Rabbi vertraut; der Rabbi dem Juden und beide vielleicht auch ihrem Gott … Mit diesem Sich-überlassen-Können bestand für beide zugleich die menschenwürdige Freiheit bzw. Chance darin, dem Vertrauen zu vertrauen. Hat der Rabbi mit seinen schlichten Sätzen ein dem Juden vertrautes Erlebensnetzwerk aktiviert, aus dem heraus dieser die Grenzsituation als eine Art unwillkürliche Lösungstrance nutzen konnte? »Erzeugte« der Jude mit seiner Bitte um ein letztes Gespräch beim Rabbi den vertrauensvollen Ich-Du-Modus, der ihn diese ermutigenden Sätze sprechen ließ? Ihr Gespräch hatte eine Vertrauenskontur, die dem Leben diente. Wie eine Art beziehungsstiftende Kernkraft wirkte es als komplexitätsreduzierende Intuitionshilfe, um den Weg zu erfinden, das Leben erhalten und weiterführen zu können …

Das wollte ich euch sagen und hoffe, dass du – lieber Jochen – für dein nächstes Lebensjahrzehnt genügend frisches Systemvertrauen für dich und uns herauslesen konntest. Etwas, für das du dich ja seit Jahrzehnten selbst so engagiert in Verbänden, in der Wissenschaft, im schnöden Alltag einsetzt. Großen Dank dafür an dieser Stelle! Und danke auch dafür, dass du und ihr bis hierher mit mir bei meinem gedanklichen Abenteuer zusammen unterwegs wart. Ihr könnt entscheiden, ob das nun ein eher wissenschaftlicher oder eher © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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poetischer Text – oder beides, keins von beidem oder das alles nicht und das auch wieder nicht. P. S.: In meinem dialogischen Erkenntnisweg mit euch habe ich nachträglich eine Kontur erkannt, die ich abschließend transparent machen möchte. Unwillkürlich bin ich in dem Ordnungsschema, was ich in Ergänzung zu Rabbi Bonder anfangs entwickelt habe, während des gesamten Prozesses unterwegs gewesen; bzw. so könnte ich den Geh-Schreib-Denk-Weg rückwirkend konstruieren. Probiert es einfach einmal selbst aus: Fangt am »Ausgangspunkt« an und verfolgt die Pfeile, die ich nacheinander »abgeschossen« habe. Die Nummern entsprechen den Orientierungsüberschriften. Prüft für euch, ob ihr den Weg genauso mit mir mitgegangen seid oder ob ihr euren Weg vielleicht völlig anders beschreiben und damit konturieren würdet. Das wäre spannend!

Abbildung 4: Dialogischer Erkenntnisweg

Auf der kommenden und letzten Seite faltet sich dann dieser Weg aus der Fläche um die Zeitachse herum räumlich »zusammen« und – wie kann es anders sein – ein Tetraeder entsteht. Ich bin selbst davon © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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total fasziniert. Es ist für mich die Logik des Prozesses selbst und kein vorher geplantes Konzept, was ich umsetzen wollte. Na ja – und dann seht ihr (für alle Ungläubigen extra verdinglicht dargestellt) im Tetraeder tatsächlich die vertrauensvoll in Raum und Zeit wirkende Kernkraft. Deren Formel lautet ganz natürlich: 2 x 2 = Grün.

Abbildung 5: Kernkraft

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Literatur Arnold, R. (2007). Ich lerne, also bin ich. Eine systemisch-konstruktivistische Didaktik. Heidelberg: Carl Auer. Antonovsky, A., Franke, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt. Bateson, G. (1985). Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blume, E., Nichols, C. (Hrsg.) (2008). Beuys. Die Revolution sind wir. Göttingen: Steidl. Bonder, N. (2013). Der Rabbi hat immer Recht. Die Kunst, Probleme zu lösen. Heidelberg: Carl Auer. Buber, M. (2012). Das dialogische Prinzip (12. Aufl.). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Buckminster Fuller, R. (1983). Goldlöckchen und die drei Bären. Ein Märchen erklärt die moderne Weltsicht im Raumzeitalter. Tetrascoll. Köln: DuMont Buchverlag. Buckminster Fuller, R. (1998). Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde. Dresden: Verlag der Kunst. Foerster, H. von (1994). Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foerster, H. von (1998). Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Heidelberg: Carl Auer. Foerster, H. von (1999). Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Heidelberg: Carl Auer. Luhmann, N. (2009). Vertrauen (4. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius. Maturana, H. R. (1996). Was ist Erkennen? München: Piper. Maturana, H. R. (2000). Biologie der Realität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Reinhard, M. (2003). »Mama, wo ist denn eigentlich deine Insel?« Lernstörungen als kreativer Ausdruck kultureller Wandlung. In R. Balgo, R. Werning (Hrsg.), Lernen und Lernstörungen im systemischen Diskurs. Dortmund: Borgmann. Reinhard, M. (2011). Wo geht es hin? Systemische Pädagogik und ihre Entwicklungstendenzen. In B. Jäpelt, H. Schildberg (Hrsg.), Wi(e)der die Erfahrung. Dortmund: Borgmann. Schmidt, G. (2000). »Wahrgebungen« aus der »inneren« und »äußeren Welt« des Therapeuten und ihre Nutzung für zieldienliche therapeutische Kooperation. Familiendynamik, 25 (2), 177–205. Schmidt, G. (2005). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl Auer. Simon, F. B. (1997). Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sloterdijk, P. (2011).: Wie groß ist »groß«? In Crutzen, P. J., Davis, M., Mastrandrea, M., Schneider, S. H., Sloterdijk, P., Utz, I. (Hrsg.), Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang (S. 93–112). Berlin: Suhrkamp.

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How to develop a systemic organization: Die Anwendung der generischen Prinzipien auf die Vorstandsarbeit in einem systemischen Verband Vorbemerkung Wenn der Leiter einer universitären Sektion für Systemische Forschung in Therapie und Organisationsentwicklung die Aufgabe übernimmt, eine große systemische Organisation (weiter) zu entwickeln, dann entsteht die seltene Gelegenheit, die Anwendung der Theorie auf die Praxis zu erleben und ihre Nützlichkeit zu überprüfen. Jochen Schweitzer hat im Oktober 2007 eine solche Aufgabe mit der Wahl zum Vorstandsvorsitzenden der DGSF, damals noch das Kürzel für den Namen »Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie« übernommen und bis September 2013 ausgefüllt – und wir waren dabei! Michaela von 2007 bis 2012, ich, Susanne, von 2007 bis 2013 und Enno von 2010 an. Wir haben uns, um das Ganze nicht zu einfach zu machen, vorgenommen, als Theorie, die wir zur Untersuchung des Projektes »How to develop a systemic organization« nutzen, eine ausgesucht, die zwar eine typisch systemische Theorie ist, die Jochen selbst aber ob ihrer Komplexität mit einer »milden Skepsis« betrachtet: das Forschungsgebiet der Synergetik, das von dem Physiker Hermann Haken entwickelt und von Günter Schiepek seit vielen Jahren als synergetisches Prozessmanagement angewendet und beforscht wird. Ich habe mit Günter Schiepek einige Jahre am Universitätsklinikum Aachen in der Klinik für Psychosomatik gearbeitet und dort das synergetische Prozessmanagement mit angewendet. Von der Sinnhaftigkeit und dem praktischen Nutzen dieser Anwendungen bin ich überzeugt und erfahre jeden Tag in meiner therapeutischen Arbeit, dass das Wissen um und die Ausrichtung ihrer Arbeit auf die unten genannten generischen Prinzipien eine sehr hilfreiche und sinnhafte Basis meiner psychotherapeutischen Tätigkeit darstellt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Zum theoretischen Hintergrund Die Synergetik als »moderne Wissenschaft komplexer, dynamischer Systeme« befasst sich mit der Entstehung und dem Wandel von Strukturen und Dynamiken aus der Wechselwirkung von Teilen in komplexen Systemen, also mit der Frage, wie das Neue in die Welt kommt und wie Veränderung möglich ist. Die Entstehung neuer Eigenschaften aus der Wechselwirkung von Teilen, die diese Eigenschaften noch nicht besitzen, bezeichnet man als Emergenz. Emergenz kann Ordnung bewirken, ohne dass diese Ordnung von außen aufgezwungen wird, sie geschieht sozusagen in einem Prozess der Selbstorganisation. Hierzu müssen die Teile eines Systems in nichtlinearer Weise miteinander interagieren, so dass Feedbackprozesse entstehen. Dazu sind allerdings jeweils bestimmte Rahmenbedingungen erforderlich. Im Bereich von Psychotherapie, Coaching, Teamentwicklung und Change Managment kann die professionelle Unterstützung menschlicher Entwicklungs- und Veränderungsprozesse als Schaffen von Bedingungen für Selbstorganisationsprozesse in komplexen biopsychosozialen Systemen verstanden werden. Professionelles Handeln ist somit Synergetisches Prozessmanagement (SPM), das heißt Management von Selbstorganisationsprozessen in komplexen Systemen. Günter Schiepek hat acht Prinzipien zusammen gestellt, die seiner Meinung nach Bedingungen für die Realisierbarkeit von Selbstorganisationsprozessen in Humansystemen sind, die sogenannten oben schon benannten generischen Prinzipien, die sowohl auf therapeutische Prozesse als auch für den Bereich Management und Organisationsentwicklung anwendbar sind. Diese sind im Einzelnen: 1. Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse: Beinhaltet sämtliche Maßnahmen zur Erzeugung struktureller und emotionaler Sicherheit. Herstellung von Vertrauen und Selbstwertunterstützung durch die Change-Verantwortlichen im Umgang mit den Menschen, die sich auf eine Veränderung einlassen (müssen). 2. Identifikation von Mustern des relevanten Systems: Hierzu gehört die Identifikation von Ordnungsparametern und Systemgrenzen sowie die Erfassung und Analyse von dynamischen Mustern/ Systemprozessen/Attraktoren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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3. Sinnbezug: Persönliche Entwicklungen und Entwicklungen des Unternehmens sollten von den Mitarbeitern und Führungskräften als sinnvoll erlebt werden und mit ihren eigenen Zielvorstellungen und »Lebenskonzepten« in Korrespondenz stehen. 4. Kontrollparameter identifizieren, Energetisierungen ermöglichen: Selbstorganisation setzt im weitesten Sinne eine energetische Aktivierung von Systemen voraus. Kontrollparameter sind im Verständnis der Synergetik jene Größen, welche die inneren Wechselwirkungen der Prozesse und Elemente modulieren und das System aktivieren. 5. Destabilisierung, Fluktuationsverstärkung: Unternehmerische Veränderungsprozesse, die nicht aus einer Liquiditätskrise re­ sultieren, brauchen als treibende Kraft Interventionen, die das Unternehmen aus der Balance ihres bisherigen komfortablen Prozessierens bringen (Kontrollparameter erhöhen). Das erfordert auf Seiten des Managements herausfordernde Zukunftsbilder oder auch die Antizipation von Krisen. 6. Resonanz, Synchronisation, Kairos: Veränderungsprozesse sollten auf unterschiedlichen Ebenen koordiniert ablaufen. Dies betrifft beispielsweise die Abstimmung zwischen technischen, organisatorischen und psychologischen Dynamiken. Interventionen (Ziele, Aufgaben und Botschaften) und Managementmethoden, die zum kognitiv-emotionalen Zustand der Mitarbeiter passen, werden leichter aufgegriffen und verstanden. 7. Gezielte Symmetriebrechung ermöglichen: Symmetrie bedeutet, dass zwei oder mehrere Ordner eines Systems im Zustand kritischer Instabilität potenziell mit gleicher Wahrscheinlichkeit realisiert werden können. 8. Restabilisierung: Die am Veränderungsprozess beteiligten Personen sollten sich idealerweise mit der neuen Ordnung und ihren Rahmenbedingungen identifizieren. Im Sinne einer Ergebnissicherung gilt es, alle positiven Muster, die erreicht wurden, zu stabilisieren, zu automatisieren und zugänglich zu machen. Wir wollen jetzt den Versuch starten, die Vorstandsarbeit in der DGSF, die wir mit Jochen erlebt haben, anhand dieser generischen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Prinzipien zu untersuchen und Beispiele dafür zu finden, wie wir sie umgesetzt haben oder auch nicht.

Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse (1) Susanne: Ich erinnere mich, dass Jochen mit uns in dem neuen Vorstand, in dem jetzt fünf Menschen waren, die zu unterschiedlichen Zeiten eingestiegen waren – Heliane Schnelle drei Jahre zuvor, du, Michaela und Rainer Schwing vor einem Jahr und Jochen und ich als die neuen Vorstandsmitglieder gerade erst – ein Teamentwicklungsexperiment unternahm: jede(r) sollte sich anhand der belbinschen Teamrollen einskalieren. Außerdem nahmen wir uns Zeit, unsere Lieblingsideen zu formulieren und eine Strategielandschaft zu gestalten, um uns über unsere Ziele und die des Verbandes klarer zu werden. Neben diesem »Woraufhin arbeiten wir?« und »Wie möchten wir arbeiten?« besprachen wir auch die Verteilung der Aufgaben und begannen, die nächsten drei Jahrestagungen zu planen. Das sorgte im Vorstand unter uns Mitgliedern für ein ziemlich ausgeprägtes Sicherheitsgefühl, auch in Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle. Bezüglich des Verbandes und der Mitglieder versuchten wir von Anfang an ein hohes Maß an Transparenz möglich werden zu lassen. Der Dialog mit den Mitgliedern war vor allem Jochen und auch uns anderen sehr wichtig, weshalb zum Beispiel ein zusätzlicher Mitgliedertag im Frühjahr eingeführt wurde und unter Federführung von Michaela die Fach- und Regionalgruppensprecher im Rahmen der ab 2008 etablierten Frühjahrstagung sich einmal jährlich mit den Vorstandsmitgliedern trafen. Michaela: Es gab eine sehr wertschätzende, gut vorbereitete Übergabe vom alten zum neuen Vorsitzenden und Vorstand. Der neue Vorsitzende hatte sich für den Arbeitsstil des alten Vorstandes interessiert und hatte ihn bei mehreren Vorabbesuchen kennen gelernt. Dies war für die drei verbleibenden Vorstände ein starkes sicherndes Element – wir wussten: Es kommt viel Neues und es bleibt auch vieles von bisher Bewährtem. Man hat sich gekannt und geschätzt – freundschaftliche und akzeptierende Beziehungen waren schon vor der Veränderung vor© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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handen. Jochen Schweitzer war der am meisten gewünschte zukünftige Vorsitzende und mit Susanne als ärztliche Vertreterin und neue Frau waren ebenfalls alle sehr einverstanden. Nach den Neuwahlen fand sich ein Vorstandsteam zusammen, das sich sympathisch war und mit großer Freude die gemeinsame neue Zusammenarbeit begann. Dies war gerade am Anfang tragend für unser Zusammenfinden in all unseren beruflichen und persönlichen Unterschiedlichkeiten. Jochen trug mit seiner transparenten, offenen und doch positionierten Haltung und Arbeitsweise dazu bei, Entscheidungen zu Zielen und Vorgehensweisen manchmal auch kontrovers auf einer gemeinsamen, nicht hierarchisch bestimmten Ebene zu treffen. Jochen startete mit einem Top-down-Versuch (er wollte von uns anderen Vorständlern schriftliche Eingaben zu unseren Zielsetzungen verbunden mit einer Deadline), der klar und wertschätzend von uns anderen abgelehnt wurde, und trotz seiner sicher hierarchisch geprägten Praxis an der Universität konnte er sich gut auf ausbalancierte Verhandlungsprozesse einlassen. Im Vorstand waren uns ausreichend Face-to-face-Kontakte wichtig. Auch für die Mitglieder wollten wir als gemeinsames Team sichtbar sein und achteten bei unseren öffentlichen Auftritten im Verband darauf, vieles in Zweierteams oder gemeinsam zu planen und durchzuführen. Ein Vorstand zum Anfassen, der innerverbandlich immer wieder zum Dialog einlädt – so wollten wir arbeiten. Enno: Ganz persönlich erinnere ich hier den Anruf von Jochen Schweitzer, in dem er mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, für den Vorstand der DGSF zu kandidieren. Es war nicht nur eine große Wertschätzung, die so vermittelt wurde, sondern auch Sicherheit. Ich zweifelte, ob ich der Aufgabe wirklich gewachsen sei, und Jochen hat diese Zweifel durch seine sehr persönliche Ansprache und Überzeugung gleich relativiert. Auch in der weiteren Vorstandsarbeit habe ich diese Unterstützung an vielen Stellen in kleinem und großem Maße erleben dürfen. Zuletzt sicher, als Jochen Schweitzer mich als seinen Nachfolger vorgeschlagen hat und sich die eingangs beschriebene Situation fast zu wiederholen schien. Auf Ebene des Verbandes hat ein hohes Maß © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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kommunikativer Transparenz sehr klar zu Sicherheit beigetragen, die für die vielen Veränderungsprozesse in den letzten Jahren nötig war. Auch die Veränderungsimpulse gingen dabei häufig von Jochen aus, verbunden mit hoher Geschwindigkeit, aber auch dem Augenmaß, was in der jeweiligen Situation für eine komplexe Organisation dieser Grüße verarbeitbar erscheint.

Identifikation von Mustern des relevanten Systems (2) Michaela: Die Mitglieder suchen in diesem Verband hauptsächlich Kontakt, Austausch und Vernetzung. Dies wurde in der Vorstandsarbeit im Dialog und im Austausch mit Geschäftsstelle, Gremienvertreter/-innen und Fach- und Regionalgruppen exemplarisch vorgelebt. Es wurden Räume und Foren zu diesem Zwecke ritualisiert, beispielsweise die Frühjahrstagung, Fachgruppen- und Regionalgruppensprecher bei den Vorstandstreffen, Einladungen von weiteren Personen in die Vorstandssitzungen etc. Ausbalancierungs- und Entscheidungsprozesse im Gesamtverband wurden bei neuen Anforderungen von außen gestartet, zu denen wir und der Verband sich genügend Zeit nahmen. Vorgehensweisen, zum Beispiel der Expertengruppe um die berufsrechtliche Anerkennung, wurden immer wieder in Schleifen in Vorstand und Mitgliederversammlung transparent eingebracht und in diesen Gremien die jeweils weitere Zielsetzung festgelegt (Kontakt zum Gemeinsamen Bundesausschuss Psychotherapie – GB-A, familienpolitische Einmischung, DGSF-empfohlene Einrichtungen, Richtlinienveränderung etc.). Der Einbezug der Mitglieder und der Gremien geschah auf unterschiedlichen passenden Ebenen. Für mich ist hier ein klares Arbeits- und Prozessmuster zu erkennen: Wir starteten eine Thematik (ob von außen oder von innen) und gaben diese ergebnisoffen mit vorstellbaren Zielhypothesen in den Verband – in die Fach- oder Regionalgruppen, in die Instituteversammlung und ihre Ausschüsse, in den Fort- und Weiterbildungsausschuss, in die Mitgliederversammlung – und entwarfen dann eine Umsetzungsstrategie mit jeweiligen Expert/-innen, die außen oder innen engagiert waren und vom Vorstand einen Arbeitsauftrag bekamen. Die nachfolgenden Erkenntnisse und Ergebnisse wurden immer wieder © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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in die Mitgliederversammlung rückgefüttert, um zu informieren und den Arbeitsprozess weiterhin zu legitimieren. Wir haben sehr darauf geachtet, die Mitgliederversammlung transparent als Dialograum zu nutzen – die Arbeitsteams aber nicht durch Bedingungen und Vorschriften einzuengen. Für mich ein zutiefst vertrauensvolles, systemisches, prozessorientiertes und effektives Muster, das in meiner Vorstandszeit sehr gut funktioniert hat. Enno: Auch hier fällt mir zuerst Kommunikation ein – Kommunikation als ein rekursiver Prozess. Es hat mich immer wieder erstaunt, wie vielfältig Jochen Schweitzer bei sämtlichen verbandlichen Veranstaltungen und Gelegenheiten kommuniziert hat. Häufig war der Eindruck zu gewinnen, er habe nahezu mit jedem Besucher des Mitgliedertages, mit jedem Teilnehmer der Jahrestagung persönlich gesprochen. Dabei ging es nicht um Smalltalk, sondern um wesentliche inhaltliche Punkte. Sehr systemisch hat Jochen gemeinsam mit dem Vorstand eine Kultur des Fragens und des »Hinhörens« entwickelt und gelebt, die viele verschiedene Informationen erzeugt hat, die dann wieder bewertet werden konnten und so zu neuen Initiativen und konkretem Vorgehen führten. Susanne: Kommunikation, aber auch über andere Medien als den Dialog: Jochen legte großen Wert darauf, die Auswertung der Rückmeldungen nach der Mitgliederversammlung zu erfahren, sie mit denen der Vorjahre zu vergleichen und zu überlegen, wie die Kritik der Mitglieder berücksichtigt werden kann. Außerdem führten wir auf seine Initiative hin eine Mitgliederbefragung durch, die in regelmäßigen Abständen wiederholt werden sollte und auch wird. Mit strukturellen Ordnungsparametern beschäftigten wir uns im Vorstand immer wieder – Jochen regte immer wieder an, darüber nachzudenken, welche Attraktoren die Bildung von Fach- und Regionalgruppen bestimmten und bestimmen sollten. Ich erinnere mich, dass ich in diesem Punkt eine andere Meinung hatte als er – Jochen ist mehr der Vorgeber und ich bin mehr Abwarterin, was von selbst entsteht – und es entstand ein spannender Dialog. Dialog war und ist in diesem Fall auch die Lösung: Indem wir Vorstandsmitglieder dann begannen, mindestens einmal jährlich telefonisch das Gespräch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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mit den Fachgruppensprechern zu suchen, um uns mit ihnen über die Pläne und Ziele der Fachgruppen zu unterhalten, wird die dynamische Weiterentwicklung um die individuellen Fachgruppenattraktoren herum begleitet und gefördert. Die Beschäftigung mit den Systemgrenzen und unseren relevanten Umwelten fand zum einen dadurch statt, dass wir in einer der ersten Vorstandssitzungen eine Mindmap über benachbarte, befreundete, konkurrierende und sonstige Verbände anfertigten. Jochen legte großen Wert darauf, mit ihnen auch in Kontakt zu sein – durch Weiterführung der bewährten jährlichen Treffen mit dem Vorstand der Systemischen Gesellschaft, aber auch durch Treffen mit Menschen aus anderen systemischen Verbänden.

Sinnbezug (3) Susanne: Michaela hat damit angefangen und Jochen und wir anderen haben es ebenfalls getan: darauf achten, dass wir im Vorstand regelmäßig darüber geredet haben, wie es uns mit unserer Aktivität für die DGSF geht, wie diese im Moment zu unseren hauptamtlichen Tätigkeiten im Leben passt und ob es nötig und möglich ist, etwas zu ändern. Das ermöglichte eine flexible Gestaltung, immer in Absprache mit den anderen, so dass Jochen einmal mehrere Monate im Ausland sein konnte, Rainer ein paar Monate aus familiären Gründen pausierte und die anderen das ausglichen. Zielvorstellungen kommunizierten wir innerhalb und auf Verbandsebene zum Beispiel durch die Festlegung der Mottos der Mitgliedertage: 2008 beim ersten Mitgliedertag in Vlotho und 2009 beim zweiten in Nürnberg gab es zwar noch keine, aber allein die Tatsache, dass sie eingeführt wurden, machte deutlich, dass die größere Nähe zu den Mitgliedern von uns gewünscht war, um zu erfahren, was sie bewegt. 2010 in Herbstein wählten wir das Motto »Aktiv in der DGSF«, 2011 in Berlin »Wirksam in der DGSF«, 2012 in Königswinter »Querdenken in der DGSF« und 2013 in Frankfurt »Gesellschaftspolitik in der DGSF«, was die gedanklichen Strömungen in Vorstand und Verband gut widerspiegelt.

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Enno: Die schon beschriebene Kommunikation mit der Mitgliedschaft und die gewonnenen Informationen und Erkenntnisse haben die Möglichkeit geschaffen, sich so direkt wie möglich an Interessen und aktuell bedeutsamen Themen zu orientieren. Zudem haben die großen »Freiheitsgrade« in der Ausgestaltung der Verbandsarbeit, zum Beispiel die große Offenheit bezüglich neuer thematischer Fachgruppen, dazu geführt, dass die DGSF für viele ein attraktives inhaltliches »zu Hause« werden konnte. Der Zuwachs an solchen Fachgruppen und allgemein an Mitgliedern sind ein Indikator, an dem sich die Entwicklung widerspiegelt. Jochen hat besonders auch die Frage nach einem stärkeren allgemein politischen Mandat und Engagement der DGSF in gesellschaftspolitischen Themenfeldern interessiert. Hier gab und gibt es einen spannenden Diskurs, der auch immer wieder die Möglichkeiten und Grenzen eines Fachverbandes bzw. einer Fachgesellschaft aufzeigt. Michaela: Unsere Verbandsthemen waren orientiert an den gesellschaftlichen und politischen Diskursen und an der Berufs- und Lebenspraxis der Mitglieder und deren Klient/-innen. Wir trafen innerverbandlich eine klare Entscheidung zur wachstumsorientierten Entwicklung. Hier fanden einige »heiße« Diskussion statt. Groß und vielschichtig oder klein und fein? Der Verband entschied für Innovation und gleichzeitiger Bewahrung wichtiger Traditionen – es wurde mehrmals eine Ausdehnung der Funktionsträger vom Vorstand initiiert und von der MV beschlossen. Freudige Prozessorientierung, immer wieder Anpassung der Organisationsstrukturen, angemessene Zielorientierung und oftmals leidenschaftlicher Arbeitseinsatz – dies entstand immer dann, wenn die Themen Herz und Verstand gleichermaßen energetisiert hatten und neben durchdachter Planung der Spaß an der Umsetzung dazu kam.

Kontrollparameter identifizieren, Energetisierungen ermöglichen (4) Michaela: Wir Aktiven in der DGSF haben uns durch vielfältige kreative Ideengenerierung hervorgetan. Dabei wurde vieles von Jochen schnell und präzise (bis hin zu Uhrzeiten!) in die praktische © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Umsetzung geführt, beispielsweise bei Mitgliedertagen, bei Konzepten zur gesellschaftlichen Einmischung, bei den DGSF-empfohlenen Einrichtungen. Dies machte zwar immer wieder Stress und doch war es dadurch aus dem Ideenhimmel irdisch geworden und konnte real angegangen werden. Hier hat Jochen immens angetrieben und beflügelt. Manchmal hat er auch dazu angeregt (vielleicht ohne es zu wollen!), im »Noch-mehr« auch Grenzen zu finden. Es war immer etwas Neues da, über das wir trefflich diskutieren und streiten konnten. Weniges davon hat gehindert – das Meiste uns in Bewegung gebracht. Die von Frau Keuser initiierte Verbandszeitschrift  – DGSF intern, mit Beteiligung aller Aktiven mit Schrift, Bild und Kreativität – ermöglichte, die umfassende Arbeit der DGSF in ästhetisch aufbereiteter Form darzustellen und allen Interessierten als Infojournal zur Verfügung zu stellen. Hier arbeiten alle DGSF-Aktiven mit und erstellen jedes Jahr etwas Gemeinsames, was gezeigt, verteilt, gelesen, diskutiert und archiviert werden kann! Attraktiv war für uns als Vorstand auch, den Mitgliedern und den aktiven Mitarbeiter/-innen Schönes zu bieten. Wir haben sorgfältig das Ambiente für unsere Frühjahrstagungen gewählt, haben die Mitglieder eingeladen (Weiterbildungstag des Fort- und Weiterbildungsausschusses, Politwerkstatt) und eine wunderschöne und mit vielen Attraktionen ausgestattete Jahrestagung in Potsdam veranstaltet. Wir achteten darauf, kein Geld zu verschwenden, ohne in Kleinkrämerei zu verfallen. Viel Humor und fröhliche Selbstzweifel gepaart mit freundlicher Ernsthaftigkeit und Verlässlichkeit – manchmal auch bereichert durch inhaltliche Konflikte – haben für mich die Vorstandsarbeit so attraktiv gemacht. Enno: Die Energetisierung sehe ich hier in der starken Beziehungsorientierung im System der DGSF. Durch die enge Betreuung und Kommunikation durch und mit dem Vorstand sind wesentliche Akteure in Gremien und Gruppen aktiv ein- und angebunden. Ich kann das auch aus meiner eigenen Geschichte mit der DGSF nur genau so bestätigen. Durch die aktive »Hereinnahme« in das System durch ein schon stärker im System verhaftetes Mitglied war schnell Anschluss möglich. Durch die persönliche und beziehungsorientierte © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Ansprache war es attraktiv, dabei zu sein und sich als ein Teil des Ganzen zu erleben und zu begreifen. Susanne: Ich glaube, wir haben durch mehrere Dinge energetisiert. Zum Beispiel die Fach- und Regionalgruppen durch persönliche Betreuung, Zur-Verfügung-Stellung von Zeiträumen auf den Tagungen, durch finanzielle Mittel. Die anderen Funktionsträger im Verband durch regelmäßige Einladung in die Vorstandssitzungen. Die Mitarbeiter der Geschäftsstelle durch das nette Miteinander und unsere Freude über ihre tolle Arbeit und die grandiose Einsatzbereitschaft. Uns selbst durch den lebhaften Mailwechsel, häufige Sitzungen, gemeinsames Musizieren, Wandern oder Schwimmen an den Klausurtagen, die Freude an der gemeinsamen Arbeit und viele persönliche Kontakte und Hilfe in schwierigeren Zeiten. Die Mitglieder dadurch, dass wir unsere Freude am Miteinander und mit ihnen vorgelebt haben und Musik und andere kreative Darbietungen in die Mitgliederversammlungen integriert haben. So haben wir Vorstandsmitglieder in Essen 2008 zu Beginn des Kassenberichtes für alle völlig überraschend »Wir wärn so gerne Millionär« von den Prinzen gesungen – der Saal tobte und der Aufmerksamkeitsspiegel stieg deutlich. Wenn ich überlege, welche die wirksamen Energetisierungselemente waren, so fallen mir folgende ein: einmal, dass wir uns Gedanken gemacht hatten, wie wir die anstrengende Mitgliederversammlungen auflockern können, etwas passendes kurzes (drei Minuten) gefunden und einstudiert hatten, damit den Mitgliedern gegenüber Wertschätzung gezeigt hatten – auf eine Art, die uns selbst viel Spaß machte und damit unsere Motivation gesteigert hatte. Außerdem hatte uns selbst das Risiko energetisiert, ob es wohl gelingt, weil natürlich auch Mut notwendig war.

Destabilisierung, Fluktuationsverstärkung (5) Susanne: Vorstandsklausur 2009 in Heigenbrücken – wir haben quasi zwei Tage durchgearbeitet, unterbrochen nur von einem Fußballspiel (Argentinien : Deutschland) und einem Schwimmbadbesuch: Jochen entwickelt die revolutionäre Idee, die Lehrenden-Richtlinien zu verändern, so dass es neben der verbandsintern sogenannten »Ochsen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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tour« auch andere Wege zum Lehrenden geben sollte! Da wir wussten, dass es viele skeptische Stimmen geben würde, stellte das eine Art von Destabilisierung dar, die mit vielen Ängsten verbunden war. Als weitere »Fluktuationsverstärkungen« können die Ermöglichung von kontroversen Diskussionsforen auf der Mitgliederversammlung und ein Namenswechsel verstanden werden – 2010 in Heidelberg erfolgte dieser unter Aufnahme von »Beratung«, originellerweise unter Beibehaltung des Akronyms DGSF, so dass Jochen jetzt der erste Präsident der »neuen« DGSF ist. Michaela: Die Beschäftigung zu frühen Zeiten mit DQR/EQR (Deutsche und Europäische Qualitätsrichtlinien), die uns zu einer neuen Betrachtung unserer Weiterbildungscurricula anregten, haben über einen nicht nervös machenden Zeitrahmen zu eigenen Idee für Veränderungen in unseren Weiterbildungsrichtlinien geführt. Engagiert geführte Diskussionen über curricular oder/und modular aufgebaute Weiterbildungen brachten Perspektivenvielfalt und konstruktive Ideen für den Umgang mit dem DQR/EQR. Etwas Neues war auch, dass wir uns an politischen Initiativen beteiligten – Kindergrundsicherung und Nationales Zentrum frühe Hilfen – und damit Positionierung statt Neutralität wagten. Wir unterstützen mit unserem Know-how etablierte Familienpolitik zum Kinderschutz und Förderung von Kindern. Wir begannen, Diskussionen über veränderte Zielsetzungen des Verbandes (Fachverband oder Berufsverband?) zu führen, angeregt durch die Arbeits- und Lohnbedingungen der systemischen Praktiker, vor allem in der Kinder- und Jugendhilfe. Enno: Das herausforderndste Zukunftsbild war aus meiner Sicht die mögliche Fusion mit der systemischen Gesellschaft (SG), die auch Jochen Schweitzer sehr beschäftigt hat. Er war mit dieser (inneren) Idee als Vorsitzender der DGSF angetreten und hat sie zunächst auch so verfolgt, allerdings auf der anderen Seite eher Widerstand und geringes Interesse zu spüren bekommen. Letztlich hat er dann »unterwegs« seine Strategie radikal verändert und sämtliche diesbezügliche Bemühungen eingestellt. Mir als Vorstandsmitglied fiel das schwer, da ich bis heute sehr davon überzeugt bin, dass ein gemein© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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samer Verband viele Vorteile hätte. Strategisch aber ergab sich so die interessante Dynamik, dass die Thematik nicht etwa abgeschlossen ist, sondern von anderer Seite mit neuer Energie wieder aufgegriffen wird. Auf den Ausgang bin ich weiterhin sehr gespannt.

Resonanz, Synchronisation, Kairos (6) Susanne: Kairos ist eines meiner Lieblingswörter, auch weil dieses Phänomen so vielschichtig und rätselhaft ist. Ich verstehe darunter den »richtigen Zeitpunkt«, den Moment, in dem alles von selbst geht und leicht ist. Mir fallen in Bezug auf unsere Vorstandsarbeit mindestens zwei Beispiele ein: Der erste Kairos begegnete mir, als Jochen, Michaela, Heliane, Rainer und ich in einer der ersten Vorstandssitzungen zusammensaßen und verzagt waren, weil wir nicht wussten, wer die Jahrestagung 2009 ausrichten könnte. Es hatte sich nicht, wie sonst bisher üblich, ein Institut gefunden, das dazu bereit war, Verhandlungen mit einem engagierten Einzelmitglied waren gescheitert, die Idee, die Jahrestagung selbst auszutragen, flößte uns allen Furcht vor dem großen Arbeitsaufwand ein. Dann fiel der Name »Potsdam«, Heliane erzählte von einer Havelinsel dort, das Bild eines tuckernden Dampfers tauchte zwischen uns auf … wir gerieten in Fluss, in Resonanz, und die Idee der »DGSF am Fluss«Tagung war geboren. Mithilfe der Geschäftsstelle organisierten wir sie selbst und es wurde ein wunderbares Event – kleiner zwar als sonstige Tagungen, dafür wurden die darauffolgenden umso größer. Im Nachhinein war es für mich genau der richtige Zeitpunkt, sozusagen »bei uns« zu sein – danach kam es zu einer Explosion in vielen Richtungen: Steigerung der Mitgliederzahl, der Fach- und Regionalgruppen, der Größe der Jahrestagungen usw. Der zweite Kairos ereignete sich für mich, als Rainer aus familiären Gründen ein Jahr früher als geplant aus dem Vorstand ausscheiden musste. Unsere Wunsch-Nachfolgekandidatin konnte noch nicht einsteigen, jemand anderes meldete sich nicht, so dass wir schließlich beschlossen, zu viert weiterzumachen. Diese Entscheidung stellte sich im Nachhinein als sehr gut heraus: In emotionaler Hinsicht konnten wir das Ausscheiden von Rainer Schwing angemessen verarbeiten, von unserem Arbeitstempo her liefen wir zur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Hochform auf, weil wir vier uns inzwischen schon gut kannten und weil jeweils ein Mitglied des Instituterates statt Rainer bei den Vorstandssitzungen dabei war, was die Zusammenarbeit mit diesem Organ noch intensivierte. Enno: In meiner Vorstandszeit habe ich erlebt, dass im Leben der Vorstandsmitglieder außerhalb der DGSF zum Teil große und radikale Veränderungen eingetreten sind und gewichtige Ereignisse stattfanden. Durch eine große persönliche Offenheit, Transparenz und Nähe der Vorstandsmitglieder untereinander wurde es möglich, solche Veränderungen und Belastungen zu thematisieren und sie zu würdigen bzw. angemessen darauf zu reagieren. Durch dann veränderte Arbeitsweisen, Zuständigkeiten oder auch Zusammensetzungen wurde eine Synchronisation zwischen diesen kognitiv-emotionalen Zuständen der Vorstandsmitglieder und den eher technisch-organisatorischen Erfordernissen in der Steuerung und Leitung eines Verbandes möglich. Michaela: Hier passt für mich der Prozess um unsere Bemühungen um die Anerkennung als Richtlinienverfahren. Wir haben uns, um die organisatorischen und psychologischen Dynamiken besser verstehen zu können, das Wissen und die Beratung von erfahrenen Lobbyisten eingekauft. Das erste Mal bewegten wir uns in einer Szene, die uns bisher sehr fremd war, gestalteten hier diese Zusammenarbeit selbstbewusst nach unseren Bedingungen und waren/sind damit erfolgreich. Mithilfe der Berater haben wir besser die günstigsten Zeitpunkte identifiziert und unsere Interventionen platziert und die systemische Therapie wird vier Jahre nach der berufspolitischen Anerkennung seit Frühjahr 2013 endlich auf die sozialrechtliche Anerkennung hin geprüft.

Gezielte Symmetriebrechung ermöglichen (7) Susanne: Für mich gehört die nicht vorgenommene Fusion mit der Systemischen Gesellschaft (SG), die du, Enno, unter Punkt 5, Destabilisierung, Fluktuationsverstärkung, erwähnt hast, hierhin (wobei ich zugegebenerweise Knoten in mein Hirn denke, wenn ich es © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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genau zu verstehen versuche!). Der Grund ist, dass ich in den ersten vier Jahren ein regelmäßiges Hin- und Herschwingen zwischen den beiden Ordnungszuständen Fusion und Nichtfusion erlebt habe, sowohl im Vorstand der SG als auch im unserem Vorstand als auch in mir, und als die Symmetrie dann endlich brach und wir uns auf der Nichtfusionsstraße auf den weiteren Weg machten, war das sehr wohltuend. Gelungen ist uns das vor allem deshalb, weil Jochen von seiner Lieblingsidee Fusion Abschied nehmen konnte – er hat seine Gedanken tatsächlich die Richtung wechseln lassen, wonach es dann zu dem kam, was Enno unter Punkt 5 beschreibt. Enno: Den Diskurs, ob sich die DGSF für eine sozialrechtliche Anerkennung der systemischen Therapie einsetzen soll oder nicht, habe ich als einen so offenen Prozess erlebt, dass beide Richtungen potenziell möglich gewesen wären. Jochen Schweitzer hat sehr angeregt, eine Veranstaltung bewusst mit großen Befürwortern und Kritikern eines aktiven Vorgehens der DGSF in Richtung sozialrechtlicher Anerkennung zu initiieren. In Frankfurt traf diese Gruppe zusammen und diskutierte kontrovers, damals mit wirklich offenem Ausgang, und sehr gegensätzliche Argumente erhielten ihren Raum. Schlussendlich haben dann die Gremien des Verbandes und zentral mehrfach die Mitgliederversammlung entschieden, dass die DGSF aktiv den Prozess der sozialrechtlichen Anerkennung mit personellen und auch finanziellen Ressourcen unterstützt. Und um Jochen Schweitzer zu zitieren: »Es ist gut, wie es ist, aber es hätte auch ganz anders kommen können …« Michaela: Wir haben uns in der Regel wenig zu Beginn eines Arbeitsprozesses festlegen lassen. Auch bei Entscheidungen, die Dilemmata in sich trugen, waren wir oft fähig, nicht nur das Eine oder das Andere zu sehen, sondern ein Sowohl-als-auch oder gar ein Dies-alles-nicht zu reflektieren und zu entscheiden. Hierfür ist die Zusammenarbeit mit der Systemischen Gesellschaft ein praktisches Beispiel – je nach Thema gab es hier ein Sowohl-als-auch und damit gemeinsame Projekte und auch ein Dies-alles-nicht, was zu eigenen und mit der SG nicht koordinierten Aktivitäten (Ethikrichtlinien, empfohlene Einrichtungen etc.) führte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Restabilisierung (8) Susanne: Für mich geschieht die Restabilisierung durch das jährliche Verfassen und Verteilen unseres Verband-Journals DGSF Intern und außerdem die Verbandstermine der Jahrestagung. Im DGSF-Intern berichten die Vorstandsmitglieder, Geschäftsstelle, FWA, Instituterat, Ethikbeirat, Vermittlungsausschuss, EFTA-Vertretung, berufspolitische Sprecher, Fach- und Regionalgruppensprecher und andere mehr von ihren Tätigkeiten seit der letzten MV, illustriert durch wunderbare Fotos der Beteiligten. Im Rahmen der Jahrestagung finden Treffen der Gremien untereinander, der Institute, der Fach- und Regionalgruppen und als Hauptveranstaltung die Mitgliederversammlung statt, bei der Funktionsträger verabschiedet und neu gewählt werden. Die Mitgliederversammlung als der Souverän stimmt ab über Satzungsänderungen, Richtlinienveränderungen, Anträge anderer Art – die viele Monate vorbereiteten, durchdiskutierten, teils umstrittenen Themen werden zu neuer Struktur im Verband. Enno: Spontan kommt mir hier zunächst der frühere Vorstandskollege Rainer Schwing in den Sinn: Marke DGSF – ein Begriff, der in unserem Verband untrennbar mit Rainers Person verbunden ist und auch von Jochen für wichtig erachtet und priorisiert wurde. Marke bedeutet ja Identifikationsmöglichkeit. Die DGSF steht für etwas, für Themen, für Personen, für Angebote und als Mitglied kann ich mich entscheiden, dazuzugehören und Teil dieses Systems zu sein. Über die interne Kommunikation, zum Beispiel über die Website, Mitgliederbriefe, Newsletter, Kontext, die DGSF Intern, Facebook usw. haben Mitglieder ständig Zugriff auf die Informationen aus dem Verband, die immer mit der Marke verknüpft werden. Letztlich ergibt sich ein Bild der DGSF, ein Image, dass mit darüber entscheidet, wie erfolgreich ein Verband sein und sich auch in Zukunft entwickeln kann. Michaela: Mich persönlich hat das wunderbare Abschiedsritual am Ende meiner Vorstandsarbeit sehr berührt und für den Verband und seine Mitglieder noch mehr »entflammt«! Die damit verbundene große Wertschätzung hat mich zu weiterem Engagement in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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diesem Verband entschließen lassen. Ich denke, dass diese Formen von liebevollen und wertschätzenden Ritualen bei innerverbandlichen »Wendezeiten« eine wirksame und angenehme Beziehungsdynamik erzeugt – man gehört fühlbar dazu und hat eine angenehme Vorstellung von persönlichem Wichtigsein im Verband. Auch hier hat Jochen eine wichtige Rolle ausgefüllt – seine persönlichen und authentischen Worte zu vielen Verabschiedungen oder zur Einführung der Ehrenmitgliedschaft zeigten einen an der Basis beteiligten und wissenden Vorsitzenden. Restabilisierend waren für mich als Vorstandsmitglied auch unsere »Leidenschaft«, vieles musikalisch und in Sketchform zu umrahmen. Sie boten Erholung von der vielen Arbeit und sind wunderbare Erinnerungen. Jochen hat dazu als Saxophonist und Akkordeonspieler vieles beigetragen – und diese großen Instrumente auf Rücken und Fahrrad überall, wo sie gebraucht wurden, mitgenommen! Meine Empfehlung am Ende: Nicht aufgeben beim Versuch, den Verband doch zu küssen und dann trotz Nichtgelingen weiter in verbandlicher Zuneigung zu schwelgen!

Conclusio Piscis primum a capite foetet: Wenn der Volksmund recht hat und der Fisch zuerst vom Kopf stinkt, so ist es umgekehrt wohl auch so, dass die Fische, die vom Kopf her gut riechen, die insgesamt duftenden sind. Wir Vorstandsmitglieder konnten uns sehr gut riechen und hatten auch den Eindruck, dass das nach außen wirkte: in der Vorstandszeit von Jochen Schweitzer ist die Mitgliederzahl von 2700 Menschen auf ca. 5400 und damit das Doppelte gewachsen, anteilmäßig noch stärker gestiegen ist die Anzahl der Fach- und Regionalgruppen, der Zertifizierungen und der Weiterbildungsfelder. Der Gesamtverband ist jetzt breit in vielen Bereichen aufgestellt. Der Vorgänger-Vorstand hat dafür die Basis gelegt: Sie haben das DGSF-Fischlein, nachdem es von vielen Fachmenschen der systemischen Szene aus den Vorgängerverbänden DAF und DFS sorgfältig gekreuzt worden war, aufgezogen und zu Wachstum und Vermehrung gebracht. Unter Jochen Schweitzers Präsidentschaft konnte die DGSF dann zu einem großen und bunten Fischschwarm werden. Ob ein oder der Grund © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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dafür war, dass wir als Vorstand die generischen Prinzipien beachtet haben, ist letztlich schwer zu beweisen, allerdings wurde durch unseren Trialog, wie wir finden, deutlich, dass wir bewusst oder unbewusst eine Menge dafür getan haben, sie zur Anwendung zu bringen. Eine Bedingung sicherlich war, dass unser Fisch vom Kopf gut roch, und diesen Satz möchten wir Jochen Schweitzer zu seinem 60. Geburtstag schenken: Piscis primum a capite fragrat! Herzliche Glückwünsche, lieber Jochen, und danke für eine dufte(nde) Zeit mit dir im Vorstand!

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

Die Autorinnen und Autoren

Susanne Altmeyer, Dr. med., Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Neurologie, Lehrende für Systemische Therapie und Lehrende für Systemische Beratung (DGSF), Leiterin des Systemischen Instituts Euregio und Leitende Ärztin der Ambulanz der Röher Parkklink für Psychotherapeutische Medizin Eschweiler, war von 2007 bis 2013 unter Jochen Schweitzers Vorsitz Vorstandsmitglied der DGSF. Eia Asen, Prof. Dr. med., Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie, Systemischer Therapeut. Studium der Medizin in Berlin, seit 1973 in London psychiatrisch tätig. Bis 2013 war er Ärztlicher Direktor des Marlborough Family Service in London, jetzt ist er am Anna Freud Centre tätig und Gastprofessor am University College London. Ulrike Borst, Dr. rer. nat., Diplom-Psychologin, Paar- und Familientherapeutin, Lehrtherapeutin (SG), Lehrende Supervisorin (SG), war 1989 bis 2008 in verschiedenen Funktionen in den Psychiatrischen Diensten Thurgau (CH) tätig. Seit 1998 ist sie Mitglied des Teams am Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung Meilen/ Zürich, seit 2006 Leiterin des Ausbildungsinstituts und in eigener Praxis in Zürich und Konstanz tätig. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Familiendynamik. Andrea Ebbecke-Nohlen, Diplom-Psychologin, Studium der Sprachen und der Politischen Wissenschaft, Psychologische Psychotherapeutin für systemische Einzel-, Paar- und Familientherapie, ist Lehrtherapeutin des Helm Stierlin Instituts (hsi) und der Systemischen Gesellschaft (SG), Lehrende Supervisorin und Lehrender Coach (hsi) (SG) sowie Gründungsvorsitzende des Helm Stierlin Instituts. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Die Autorinnen und Autoren

Angelika Eck, Dr., Diplom-Psychologin, systemische Therapeutin und Beraterin (SG), Paar- und Sexualtherapeutin, ist in eigener Praxis in Karlsruhe tätig. Björn Enno Hermans, Dr., Diplom-Psychologe, Systemischer Therapeut/Familientherapeut, systemischer Kinder- und Jugendlichentherapeut, Supervisor und Organisationsentwickler, Lehrtherapeut/ Lehrsupervisor (DGSF), ist Geschäftsführer eines Trägerverbundes der Jugend-, Familien- und Gefährdetenhilfe in Essen sowie Systemischer Supervisor und Therapeut in eigener Praxis. Er ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF). Michaela Herchenhan, Diplom-Pädagogin, Praxis für Familie und System, ist Leiterin des WMC Bayerns. Sie ist familienpolitische Sprecherin der DGSF und Mitglied des Beirats des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH). Sie war stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF). Christina Hunger-Schoppe, Dr., Diplom-Psychologin, Psychologische und Psychiatrische Anthropologin, Systemische Therapeutin (DGSF, SG), klinische Verhaltenstherapeutin (i. A.), ist Lehrtherapeutin am Wieslocher Institut für Systemische Lösungen (i. A.) und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Tom Levold, Diplom-Sozialwissenschaftler, Lehrtherapeut, Lehrender Supervisor und Lehrender Coach (SG), ist in freier Praxis als Paartherapeut, Supervisor, Coach, Organisationsberater und Publizist in Köln tätig. Er ist Mitherausgeber von Kontext und Gründer und Herausgeber des systemagazin – Online-Journal für systemische Entwicklungen. Elisabeth Nicolai, Dr. sc. hum., Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin, ist Professorin für Beratungsmethoden in der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

Die Autorinnen und Autoren341

Sie ist lehrende Supervisorin und Lehrtherapeutin für systemische Therapie am Helm Stierlin Institut e. V. Matthias Ochs, Prof. Dr., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut für Systemische Therapie und Beratung (www.ochsundorban.de), lehrt an der Hochschule Fulda im Fachgebiet »Psychologie und Beratung«. Mechthild Reinhard, Diplom-Pädagogin, Systemische Familientherapeutin und Supervisorin, ist Lehrtherapeutin am Helm Stierlin Institut Heidelberg (hsi), Mitgründerin und Geschäftsführende Gesellschafterin des SysTelios-Gesundheitszentrums GmbH & Co. KG Siedelsbrunn sowie Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für systemische Pädagogik e. V., DGsP. Rüdiger Retzlaff, Dr. sc. hum., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendpsychotherapeut, ist Leiter der Ambulanz für Paar- und Familientherapie am Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie an der Uniklinik Heidelberg und in eigener Praxis tätig. Er ist Lehrtherapeut für Systemische Therapie, Hypnotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Therapie. Wolf Ritscher, Dr., M. A., Diplom-Psychologe, em. Professor an der Hochschule Esslingen, ist Familien-/Paartherapeut und Supervisor sowie Lehrtherapeut am »Bodensee-Institut für systemische Therapie und Beratung«. Er ist Mitherausgeber des »Kontext«, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Carl-Auer-Verlages und im Stiftungsrat Internationale Jugendbegegnungsstätte Auschwitz/Oświęcim sowie Autor zahlreicher Veröffentlichungen. Wilhelm Rotthaus, Dr., Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Studium der Medizin in Freiburg, Paris und Bonn, Studium der Musik in Köln, Weiterbildung in Verhaltenstherapie, Klientenzentrierter Psychotherapie und Klientenzentrierter Spieltherapie, ist Systemischer Familientherapeut (DGSF), Lehrender für Systemische Beratung und Systemische Therapie (DGSF) sowie Super© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403631 — ISBN E-Book: 9783647403632

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Die Autorinnen und Autoren

visor (DGSF). Er war Erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF) von 2000 bis 2007. Arist von Schlippe, Prof. Dr. phil. habil., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut für Familientherapie/ systemische Therapie, Lehrender Supervisor und Coach (SG), ist Professor am Lehrstuhl »Führung und Dynamik von Familienunternehmen« an der Universität Witten/Herdecke und akademischer Direktor des Wittener Instituts für Familienunternehmen (WIFU). Rainer Schwing, Diplom-Psychologe, approbierter Psychotherapeut, Lehrender für systemische Therapie, Beratung, Supervision (DGSF), ist Geschäftsführer von praxis – institut für systemische beratung in Hanau. Er hat Lehraufträge an mehreren Hochschulen und war 2006 bis 2011 Zweiter Vorsitzender der DGSF. Fritz B. Simon, Prof. Dr. med., Studium der Medizin und Soziologie, Psychiater, Psychoanalytiker, systemischer Familientherapeut und Organisationsberater, ist Gründungsprofessor (für Führung und Organisation) des Instituts für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Fachartikel und Bücher. Julia Thom, Diplom-Psychologin, Stipendiatin des Evangelischen Studienwerkes, ist Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung und Studentin des Masterstudienganges Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin. Julika Zwack, Dr., Diplom-Psychologin, ist als Psychologische Psychotherapeutin, systemischer Coach und Trainerin in eigener Praxis sowie am Institut für Medizinische Psychologie an der Universität Heidelberg tätig.

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