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German Pages [245] Year 2015
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Jörn Borke / Eva-Maria Schiller / Angelika Schöllhorn / Joscha Kärtner
Kultur – Entwicklung – Beratung Kultursensitive Therapie und Beratung für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern
Mit einem Vorwort von Ute Ziegenhain
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 7 Abbildungen und 4 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40252-9 Umschlagabbildung: Oleg Golovnev/shutterstock.com © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Teil I Kultursensitive Beratung und Therapie: Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Herausforderungen . . . . . . 17 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1 Frühkindliche Entwicklung aus kulturvergleichender Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.1 Die frühkindliche Entwicklung – von der Ko-Regulation zur Selbstregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.1.1 Das Rahmenmodell von Papoušek und Papoušek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.1.2 Die Bindungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.1.3 Berührungspunkte beider Theorien . . . . . . . . . . . . 28 1.2 Was hat Entwicklung mit Kultur zu tun? . . . . . . . . . . . . . 30 1.3 Was ist Kultur und wie viele Kulturen gibt es? . . . . . . . . 34 1.3.1 Der Prototyp der psychologischen Autonomie . 36 1.3.2 Der Prototyp der hierarchischen Relationalität . 38 1.3.3 Die Bandbreite kultureller Modelle jenseits der Prototypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.4 Die Normativität systemischer Entwicklungstheorien – notwendige Erweiterungen aus der Perspektive der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie . . . . . . 43 1.4.1 Ökologische und funktionalistisch-adaptive Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.4.2 Kulturspezifische Entwicklungspfade . . . . . . . . . . 44 1.4.3 Bewertungsmaßstäbe für Elternverhalten und kindliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
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Inhalt
2 Entwicklungspsychopathologie in der frühen Kindheit . . . . 46 2.1 Bindungstheorie: Optimales Elternverhalten und optimale Bindungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2 Die Gefahr des normativen Blicks – Erkenntnisse der kulturvergleichenden Bindungsforschung . . . . . . . . . . . 51 2.3 Das Konzept der Regulationsstörungen: Die Bedeutung ko-regulativer Interaktionsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.3.1 Diagnostik und Interventionsgrundlagen . . . . . . 61 2.3.2 Eine Konzeptbeschreibung aus kultursensitiver Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.3.3 Kulturspezifische Regulationsherausforderungen 65 2.4 Orientierungspunkte für ein kultursensitives Vorgehen im Diagnoseprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3 Kommunikation und Beziehungsgestaltung aus kulturvergleichender Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Unterschiedlicher Umgang mit Direktivität und Non-Direktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ansprechen von Gefühlen und persönlichen Themen 3.3 Erwartungen an Beratungs- bzw. Therapieinhalte . . . . .
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4 Unterschiedliche Beratungs- und Therapieansätze und Kultursensitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.1 Psychodynamisch-tiefenpsychologisch orientierte Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.1.1 Geschichte und Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.1.2 Anwendung bezogen auf die Arbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern . . . . . . . . . . . . . 88 4.1.3 Chancen und Grenzen des Ansatzes in einer kultursensitiven Beratung und Therapie . . . . . . . . 95 4.2 Verhaltensorientierte Beratungs- und Therapieansätze 97 4.2.1 Geschichte und Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.2.2 Anwendung bezogen auf die Arbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern . . . . . . . . . . . . . 102 4.2.3 Chancen und Grenzen des Ansatzes in einer kultursensitiven Beratung und Therapie . . . . . . . . 105 4.3 Humanistische Beratungs- und Therapieansätze . . . . . . 107
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4.3.1 Geschichte und Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.3.2 Anwendung bezogen auf die Arbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern . . . . . . . . . . . . . 111 4.3.3 Chancen und Grenzen des Ansatzes in einer kultursensitiven Beratung und Therapie . . . . . . . . 112 4.4 Systemisch-familientherapeutische Ansätze . . . . . . . . . . 116 4.4.1 Geschichte und Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.4.2 Anwendung bezogen auf die Arbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern . . . . . . . . . . . . . 119 4.4.3 Chancen und Grenzen des Ansatzes in einer kultursensitiven Beratung und Therapie . . . . . . . . 123 Teil II Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5 Die professionelle Haltung in der interkulturellen Beratung und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Dimensionen einer professionellen beraterischen bzw. therapeutischen Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Selbstreflexive Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Haltung der Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Haltung der aktiv bejahten Vielfalt . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Haltung der Bereitschaft, sich in bisherigen Überzeugungen irritieren zu lassen . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Haltung der inneren Toleranz gegenüber Unsicherheiten, Ungewissheiten und Wider sprüchlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6 Multiperspektivische Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7 Respektvolle Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8 Kommunikative und konfliktbereite Haltung . . .
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6 Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie – Struktur und Ablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 6.1 Schritt I: Klärung des Anliegens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 6.2 Schritt II: Fit-Misfit-Analyse und Zieldefinition . . . . . . 150
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6.2.1 Abgleich des (kultur)spezifischen Ideals mit der aktuellen Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Abgleich des (kultur)spezifischen Ideals mit normativen Perspektiven und Angeboten . . . . . . . 6.2.3 Positionierung der Familie und der Beraterin bzw. des Therapeuten in diesem Spannungsfeld . 6.2.4 Zieldefinition: Kulturell unterschiedliche Veränderungswünsche bzw. Beratungs- und Therapieziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Schritt III: Beratungsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Kulturangemessene Kontaktgestaltung mit Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Berücksichtigung von Migrationsprozessen im Bedarfsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Schritt IV: Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Übermäßiges Schreien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Ein- und Durchschlafschwierigkeiten . . . . . . . . . . 6.4.3 Trotz und Grenzsetzungsprobleme . . . . . . . . . . . . 6.4.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Regulationsprobleme: Ausblick auf das spätere Lebensalter 7.1 Übermäßiges Schreien und Ein- und Durchschlaf schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Entwicklungsverläufe und Langzeitfolgen . . . . . . 7.1.2 Implikationen für Familien aus verbundenheits orientierten Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Trotz und Grenzsetzungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Entwicklungsverläufe und Langzeitfolgen . . . . . . 7.2.2 Implikationen für Familien aus verbundenheits orientierten Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Evaluation von Beratung und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Evaluation: Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Evaluationsmodell für den Beratungsund Therapiekontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Anwendung des Evaluationsmodells auf die Beratung und Therapie mit Familien . . . . . . . . . . .
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8.2.2 Herausforderungen in der Evaluation kultursensitiver Beratung und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 8.3 Selbstevaluation: Reflexion, Bewertung und Verbesserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Abschluss und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Vorwort
Seitdem Mechthild Papoušek 1990 die Münchner Schreisprechstunde und Renate Barth die Beratungsstelle Menschenskind in Hamburg gründeten, hat sich die frühe Eltern-Säuglingsberatung und -therapie in Deutschland zunehmend etabliert. Durch die Entwicklungen im Kinderschutz und in den sogenannten Frühen Hilfen, die nun seit fast zehn Jahren systematisch und erstaunlich nachhaltig verlaufen, wurde der Auf- und Ausbau der Eltern-Säuglingsberatung und -therapie weiter vorangetrieben. Tatsächlich war die frühe Kindheit lange Zeit in der beraterischen und therapeutischen Praxis bzw. in der Kinder- und Jugendhilfe nicht wirklich ein Thema. Die Besonderheiten in der Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern, wie etwa die Dynamik von rasch ablaufenden Reifungs-, Lern- und Anpassungsprozessen, ihre hohe Angewiesenheit auf die Unterstützung und Fürsorge durch die Eltern oder andere Betreuungspersonen oder ihre spezifischen Ausdrucks-, Regulations- und Belastungsverhaltensweisen, waren nicht systematisch für die Praxis aufbereitet und in Konzepte umgesetzt. Im Übrigen war die frühe Kindheit auch in der deutschsprachigen Forschung über mehrere Jahrzehnte hinweg wenig vertreten bzw. auf wenige und zum Teil primär pädiatrische Initiativen beschränkt. In der Entwicklungspsychologie wurde Säuglings- und Kleinkindforschung, beginnend in den 1970er Jahren, etwa von Klaus und Karin Grossmann mit ihrer ersten bindungstheoretischen Längsschnittstudie, von Hellgard Rauh, Berlin und Potsdam, oder Heidi Keller, Osnabrück, betrieben. Mit der Jahrtausendwende wurde dann vermehrt insbesondere experimentelle Säuglingsforschung angestoßen (z. B. Gisa Aschersleben, München bzw. Saarbrücken; Sabina Pauen, Heidelberg; Beate Sodian, München). Heute finden Eltern in Deutschland weitgehend Beratungs- und Therapieangebote, die auf die (alters)spezifischen Entwicklungsherausforderungen und Probleme von Säuglingen und Kleinkindern
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Vorwort
spezialisiert sind. Es handelt sich dabei überwiegend um Regulationsprobleme und -störungen, wie exzessives Schreien, Schlafprobleme und -störungen oder Fütterprobleme und -störungen, aber auch um Probleme in der Bindungs- und Autonomieentwicklung, wie sie etwa um das erste Lebensjahr auftreten können. Sie können sich insbesondere dann, wenn kleine Kinder in psychosozial hoch belasteten Familien aufwachsen, auch in klinisch relevanten Bindungsstörungen manifestieren. Insbesondere im Bereich der frühen Kindheit aber fehlen weitgehend Beratungs- und Therapieangebote, die spezifisch die unterschiedlichen kulturellen Kontexte berücksichtigen, in denen kleine Kinder groß werden. Es fehlen sogenannte kultursensitive Beratungsangebote. Kinder wachsen in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften auf. In die jeweiligen kulturellen Kontexte eingebunden sind Erziehungsvorstellungen bzw. Erziehungsziele, die – explizit oder implizit – das Verhalten von Eltern im alltäglichen Umgang mit ihren Kindern beeinflussen. Die Einstellungen und das Verhalten von Eltern können sich über verschiedene Kulturen hinweg bzw. auch in sogenannten Subkulturen innerhalb einer Gesellschaft beträchtlich unterscheiden. Die Entscheidung etwa, ob ein Säugling möglichst lange im elterlichen Bett schläft oder aber im eigenen Bett und im eigenen Zimmer, hängt maßgeblich von den jeweiligen elterlichen Erziehungsvorstellungen ab. Eltern, die die Vorstellung haben, das Kind damit zu verwöhnen, werden es eher in seinem eigenen Bett schlafen lassen. Eltern, die dagegen die Vorstellung haben, dass das Kind viel körperliche Nähe braucht, werden es eher im elterlichen Bett schlafen lassen. Hinter solchen Erziehungsvorstellungen stehen, bewusst oder unbewusst, Erziehungsziele, die wiederum mit kulturell tradierten Entwicklungsvorstellungen verknüpft sind. Kinder wachsen von Geburt an selbstverständlich in die jeweilige Kultur ihrer Eltern und ihrer Familie hinein bzw. werden über kulturspezifische (Erziehungs-)Vorstellungen und darauf basierendes Verhalten der Eltern in deren Kultur sozialisiert. Diese kulturspezifische Sozialisation wird durch die hohe soziale Ansprechbarkeit von Neugeborenen und Säuglingen unterstützt. Sie ist biologisch »programmiert« und sensibilisiert sie für soziale
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Reize und Anregungen (menschliche Gesichter und die menschliche Stimme, prosodische Aspekte der Sprache, für die Verknüpfung von Sprache und Mimik oder für den spezifischen Rhythmus und die Kontingenzen in der sozialen Interaktion). Diese »biologische (Lern-)Bereitschaft«, insbesondere in sozial bedeutsamen Situationen und Zusammenhängen, ist tief in der Evolution verankert. Vermutlich hat sie sich etabliert, weil Säuglinge und Kleinkinder fundamental auf emotionale Fürsorge und Unterstützung, Schutz und (emotionale) Sicherheit angewiesen sind. Dies entspricht der Sichtweise der ethologischen Bindungstheorie und -forschung. Tatsächlich reduziert Bindung bzw. Nähe zur Bindungsperson Angst, insbesondere in unvertrauten Situationen. Dieser psychobiologische Mechanismus ist auch mit physiologischen bzw. hormonellen Korrelaten belegt. Insofern lassen sich hier universell gültige Annahmen ableiten, die die Funktion der Bindungsperson als die einer externen Regulationshilfe bei der Regulation von physiologischen und emotionalen Erregungszuständen sowie Verhalten beschreiben. Diese beziehungsbezogene regulative Unterstützung manifestiert sich in alltäglichen Interaktionen. Wie aber Eltern diese Funktion einer externen Regulationshilfe ausfüllen und gestalten, ist kulturell überaus unterschiedlich akzentuiert und facettenreich. »Universelle Entwicklungsaufgaben – kulturspezifische Lösungen«, so hat Heidi Keller diese Verwobenheit zwischen Biologie und Kultur sehr pointiert umschrieben. Dabei entwickeln sich die meisten Kinder gut und wachsen erfolgreich in unterschiedlichste kulturelle Kontexte hinein. Allerdings ist gelingende Entwicklung von Kindern in allen Kulturen dann gefährdet, wenn Eltern ihrer »Entwicklungsaufgabe« nicht nachkommen können, die biologischen Grundbedürfnisse ihres Kindes nach verlässlicher Fürsorge und emotionaler Sicherheit zu erfüllen. Schlimmstenfalls versagen Eltern dann auch in ihrer grundlegend biologisch angelegten Aufgabe, nämlich der, das Kind zu schützen. In extremer Ausprägung handelt es sich um (emotionale und/oder körperliche) Misshandlung oder Vernachlässigung. Es geht dann häufig um gravierende Bindungsprobleme. Es ist das Verdienst dieses Buchs, die Vielfalt gelingender Entwicklung und gegebenenfalls auch von Entwicklungsproblemen in
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Vorwort
unterschiedlichen kulturellen Kontexten für die Praxis einer kultursensitiven Beratung und Therapie von Säuglingen und Kleinkindern zu »übersetzen«. Dabei beziehen sich die Autorinnen und Autoren auf die Konzepte von »Autonomie und Verbundenheit« als übergreifenden Rahmen, wie sie von Heidi Keller und ihrer Arbeitsgruppe entwickelt wurden. Sie beschreiben menschliche Grundbedürfnisse, die sich prototypisch in den Werten und Normen westlicher Mittelschichtfamilien bzw. traditioneller Bauernfamilien manifestieren. Damit lässt sich die große Vielfalt und Variabilität kultureller Ausprägung von Erziehung und Sozialisation verdichten. Es lassen sich »überschaubare« Kriterien ableiten, die jeweils unterschiedliche elterliche Einstellungen, unterschiedliches Verhalten und unterschiedliche Erziehungsstile begründen und anleiten. Wenn die Fachkräfte in Beratung und Therapie über den »Tellerrand« ihrer eigenen (meist durch die westliche Mittelschicht geprägten) kulturellen Sozialisation blicken können und die Einstellungen und das alltägliche Verhalten von Eltern aus den Normen und Werten eines anderen kulturellen Konzeptes heraus verstehen lernen, entwickeln sie Verständnis und Respekt. Die impliziten Normen und Werte der eigenen Kultur werden reflektiert und gelegentlich auch hinterfragt, potenzielle Bewertungen und Zuschreibungen werden seltener. Dies sind zentrale Voraussetzungen für gelingende Beratung und Therapie. Wie kultursensitive Beratung und Therapie bei Säuglingen und Kleinkindern konkret in die Praxis übersetzt werden kann, ist wesentlicher Bestandteil des Buchs. Ich habe gerne dieses Vorwort geschrieben, denn dieses Buch über kultursensitive Beratung und Therapie in der frühen Kindheit ist längst überfällig. Die Autorinnen und Autoren haben in der Arbeitsgruppe um Heidi Keller kulturvergleichende Säuglings- und Kleinkindforschung mit vorangetrieben bzw. entwickeln diesen Bereich weiter. Sie haben zudem systematische Erfahrungen in der Entwicklung und Anwendung kultursensitiver Beratung und Therapie bei Säuglingen und Kleinkindern und im Wissenschaft-Praxis-Transfer, zum Beispiel im Rahmen des Münsteraner Beratungslabors. Natürlich freue ich mich, dass neben den Praxiserfahrungen in der Babysprechstunde Osnabrück des Fachgebiets Entwicklung und Kultur an der Universität Osnabrück auch bei uns in Ulm im
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Rahmen unseres bindungsbasierten Programms der entwicklungspsychologischen Beratung kultursensitive Beratung etabliert ist. Ich hoffe, dass das Buch viele interessierte Leserinnen und Leser findet und dass kultursensitive Beratung und Therapie bald breit in der Praxis umgesetzt wird. Ute Ziegenhain Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm
Teil I Kultursensitive Beratung und Therapie: Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Herausforderungen
Einleitung
Beratungs- und Therapieangebote für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern gewinnen in der psychosozialen Versorgungslandschaft zunehmend an Bedeutung. Viele Familien sind durch exzessives Schreien und Schlafschwierigkeiten ihrer Säuglinge oder durch als übermäßig erlebtes Trotzverhalten ihrer Kleinkinder belastet und nehmen aus diesem Grund Beratung oder Therapie in Anspruch. Die Anzahl und Nachfrage von spezialisierten Beratungsangeboten ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen (Warschburger, 2009). Beispielsweise hat sich die Anzahl von Familien mit Kindern unter drei Jahren, die Erziehungsberatung aufsuchen, im Zeitraum von 1993 bis 2012 verdoppelt (Bundesverband für Erziehungsberatung, 2014). Parallel dazu ist eine stetige Zunahme und Weiterentwicklung bei Beratungs- und Therapieansätzen zu verzeichnen, die diesen Alters- und Familienbereich betreffen (z. B. Borke u. Eickhorst, 2008; Cierpka, 2012; Papoušek, Schieche u. Wurmser, 2004; Ziegenhain, Fries, Bütow u. Derksen, 2004). Bisherige Ansätze und Methoden der Beratung und Therapie beziehen in der Regel Einflussfaktoren aufseiten des Kindes, aufseiten der Eltern und aufseiten des sozialen Umfeldes sowie Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen mit ein. Eine Ebene, die bisher wenig oder nur unsystematisch Beachtung gefunden hat, ist der kulturelle Kontext, in dem die Familie lebt bzw. sozialisiert worden ist. Ebenfalls vernachlässigt wurden die daraus entstehenden Anforderungen an eine kultursensitive Beratung und Therapie. Die Berücksichtigung des kulturellen Hintergrundes ist aus unserer Sicht jedoch zentral, um anschlussfähige und hilfreiche Beratung und Therapie für unterschiedliche Familien anbieten zu können. Der kulturelle Kontext, in dem eine Familie sozialisiert wurde, ist elementar für ihr Erleben und Verhalten und hat zudem maßgeblichen Einfluss auf alle Ebenen, die klassischerweise im Fokus von Beratungs- und Therapieprozessen bei Familien mit Säuglingen und Kleinkindern stehen. Aufgrund von Globalisierungs-, Migrati-
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
ons- und Individualisierungsprozessen wird die Notwendigkeit einer kultursensitiven Beratung und Therapie zudem augenfälliger und dringlicher. Zwar gibt es mittlerweile Konzepte und Ansätze, bei denen kulturelle Unterschiede hinsichtlich ihrer Bedeutung für Beratungs- und Therapieprozesse in unterschiedlichen Settings beleuchtet werden (z. B. Erim, 2009; Pirmoradi, 2012; Wogau, Eimmermacher u. Lanfranchi, 2004, Wohlfart u. Zaumseil, 2006), es fehlt aber bisher ein Bezug zur Arbeit mit Familien von Kindern in den ersten Lebensjahren. Das Buch schließt diese Lücke und entwickelt die Grundzüge einer kultursensitiven beraterischen und therapeutischen Arbeit mit Eltern von Säuglingen und Kleinkindern. In diesem Buch werden zunächst zentrale Theorien und Modelle der Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie beschrieben und hinsichtlich ihrer Passung für Familien mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen diskutiert (Kapitel 1 und 2). Dies geschieht vor allem unter Heranziehung von Befunden aus der kulturvergleichenden Säuglings- und Kleinkindforschung (z. B. Borke u. Keller, 2012; Keller, 2007, 2011). Sie verdeutlichen, wie variantenreich adaptives Elternverhalten, wie verschieden kindliche Entwicklungsprozesse und wie unterschiedlich elterliche Vorstellungen und gesellschaftliche Konventionen von Erziehung und Entwicklung sein können, je nach kulturellem Umfeld, in dem die Familie lebt und in welches das Kind erfolgreich hineinwachsen soll. Daraus leiten sich unterschiedliche Entwicklungskonzepte und -pfade von Kindern, aber auch variierende Kommunikationsmuster und Erwartungen von Eltern an Beratung und Therapie ab, die im Buch ausgeführt werden. In einem zweiten Schritt werden kultursensitive Pathologiekonzepte abgeleitet und damit korrespondierende diagnostische Kategorien für Familien mit Kindern in den ersten Lebensjahren beschrieben (Kapitel 2). Inhaltlich werden die Aussagen vor allem auf die Konzepte der Bindungstheorie und der Regulationsstörungen bezogen. Zudem sind bei einer kultursensitiven Beratungs- und Therapiegestaltung kulturbedingte Unterschiede hinsichtlich der Gestaltung von sozialen Beziehungen und Kommunikationsprozessen speziell im Kontakt mit Helfersystemen von Bedeutung. Diese werden mit einem Fokus auf den Umgang mit Direktivität und Non-Di-
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rektivität, auf das Ansprechen persönlicher Themen und Gefühle sowie beratungs- und therapiebezogene Erwartungen beschrieben (Kapitel 3). Der hier dargestellte Ansatz einer kultursensitiven Herangehensweise ist beratungs- und therapieschulenübergreifend gedacht. Dennoch zeigen sich bezogen auf die unterschiedlichen Therapierichtungen unterschiedliche Chancen und Grenzen für einen systematischen Einbezug. Um dies zu verdeutlichen, werden vier zentrale Ansätze skizziert und im Sinne einer kultursensitiven Arbeit eingeordnet (Kapitel 4). Neben dem Wissen über kulturell variierende Verläufe und Kommunikationsformen und dem Hinterfragen von vermeintlich universellen Konzepten und Modellen wird eine professionelle kultursensitive Haltung ausführlich thematisiert (Kapitel 5). Als Synthese aus den theoretischen und empirischen Darstellungen wird im Folgenden anhand eines Beratungsprozessmodells das konkrete, praktische Vorgehen in einer kultursensitiven Beratung und Therapie mit Familien von Säuglingen und Kleinkindern formuliert (Kapitel 6). Dabei wird konkret auf die Kommunikation und die Planung und Durchführung von Interventionen, bezogen auf drei ausgewählte Anlässe (übermäßiges Schreien, Ein- und Durchschlafschwierigkeiten, Trotz und Grenzsetzungsprobleme), eingegangen. Weiterhin wird ein Ausblick auf mögliche Folgeproblematiken und Entwicklungsverläufe im Zusammenhang mit Regulationsproblemen im Säuglings- und Kleinkindalter gegeben. In dem Zusammenhang werden auch mögliche Implikationen von Studien aus autonomieorientierten Kontexten für die Arbeit mit verbundenheitsorientierten Familien diskutiert (Kapitel 7). In einem abschließenden Kapitel wird die Rolle von Evaluation im Beratungs- und Therapiekontext kritisch diskutiert sowie die Besonderheiten und praktischen Möglichkeiten einer Evaluation kultursensitiver Beratung und Therapie skizziert (Kapitel 8). An mehreren Stellen werden die Ausführungen durch Fallbeispiele ergänzt, die die Notwendigkeit bzw. die konkrete Umsetzung einer kultursensitiven Beratungs- und Therapiearbeit verdeutlichen. Die beschriebenen Beratungs- und Therapieverläufe mit Familien sind fiktiv und die verwendeten Namen frei gewählt. Die Fallbei-
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
spiele beziehen sich aber auf konkrete Erfahrungen aus der Beratungsarbeit der Autoren. Am Zustandekommen dieses Buches waren viele Personen beteiligt. Unser besonderer Dank gilt Hannah Jäckel, die zahlreiche Aufgaben in Zusammenhang mit der Formatierung des Manuskriptes übernommen hat. Prof. Dr. Ute Ziegenhain danken wir für ihren Beitrag durch das Erstellen eines Vorworts. Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Heidi Keller für ihre Unterstützung und Inspiration. Auch danken wir Dr. Imke Heuer und Sandra Englisch M. A. vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die kompetente und freundliche Unterstützung während des gesamten Prozesses der Entstehung dieses Buches. Und vor allem danken wir den vielen Familien, denen wir in unseren beraterischen Tätigkeiten begegnet sind, die wir begleiten durften und die uns auf diese Weise an ihrem Leben teilhaben ließen. Ohne diese Begegnungen wäre ein Buch in dieser Form nicht möglich.
1 Frühkindliche Entwicklung aus kulturvergleichender Perspektive
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, was eigentlich »optimale« Entwicklung und »optimales« Elternverhalten ist. Da Entwicklung ein weites Feld ist und viele unterschiedliche Entwicklungsbereiche von der motorischen über die emotionale und soziale bis hin zur kognitiven Entwicklung umfasst, ist unser Blick in diesem Kapitel notwendigerweise selektiv. Bei der Auswahl der Themen und Theorien haben wir uns von dem Gedanken leiten lassen, den Schwerpunkt auf Themen zu legen, die direkte Relevanz für die frühkindliche Entwicklungsberatung haben. Sie decken typische Beratungsanlässe ab und treffen Aussagen über ungünstige oder pathologische Entwicklungsverläufe, deren Ursachen und zentrale Ansatzpunkte im Beratungsprozess. Ausgehend von zentralen Theorien zur frühkindlichen Entwicklung und deren Antworten auf diese Frage im ersten Abschnitt (Die frühkindliche Entwicklung – von der Ko-Regulation zur Selbstregulation), werden wir uns im zweiten Abschnitt (Was hat Entwicklung mit Kultur zu tun?) mit der Frage beschäftigen, welche Rolle Kultur für die kindliche Entwicklung spielt und wie dieser Zusammenhang theoretisch gefasst werden kann. Im dritten Abschnitt (Was ist Kultur und wie viele Kulturen gibt es?) werden wir Befunde der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie vorstellen, die deutlich machen, wie unterschiedlich »optimale« Entwicklung und »optimales« Elternverhalten aussehen kann, je nach den herrschenden Vorstellungen, was den kompetenten Erwachsenen auszeichnet, zu dem das eigene Kind sich entwickeln soll. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen wollen wir im vierten Abschnitt (Die Normativität systemischer Entwicklungstheorien – notwendige Erweiterungen aus der Perspektive der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie) diskutieren, welche Implikationen diese Vielfalt an kulturellen Modellen für prominente Theorien und Modelle der Entwicklungspsychologie
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
und Entwicklungspsychopathologie und damit direkt für die frühkindliche Entwicklungsberatung hat.
1.1 Die frühkindliche Entwicklung – von der Ko-Regulation zur Selbstregulation Im Laufe der ersten Lebensjahre vollziehen sich bei Kindern tief greifende Veränderungen in den unterschiedlichsten Entwicklungsbereichen. Zur Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben ist der kindliche Organismus mit einer Fülle von biologisch angelegten Prädispositionen und Verhaltensneigungen ausgestattet. Nicht zuletzt aufgrund seiner »Unreife« bei der Geburt ist der Säugling lange Zeit auf die Fürsorge seiner primären Bezugspersonen angewiesen. Sie begleiten in den ersten Lebensmonaten alles, was vom Säugling kommt bzw. was dem Säugling widerfährt. Entwicklung vollzieht sich demgemäß in den Beziehungen zu den relevanten Bezugspersonen und wird entscheidend von den Erfahrungen geprägt, die der Säugling bzw. das Kleinkind in diesem Beziehungsnetz macht. Anders als Entwicklungstheorien, die davon ausgehen, dass es vor allem die aktive Auseinandersetzung des Kindes mit seiner nicht sozialen Umwelt ist, die die kindliche Entwicklung entlang vorgezeichneter Stufen vorantreibt (z. B. Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung), wird hier der sozialen Umwelt des Kindes ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Je nach den Interaktionserfahrungen, die der Säugling bzw. das Kleinkind im sozialen Kontext macht, kann die Entwicklung unterschiedliche Richtungen nehmen, sodass das direkte soziale Umfeld als konstitutiv für die Entwicklung des Kindes angesehen wird. 1.1.1 Das Rahmenmodell von Papoušek und Papoušek Vor allem im Säuglingsalter greifen die biologisch angelegten Verhaltensprogramme von Kind und primären Bezugspersonen perfekt ineinander. Mit ihrem System der basalen adaptiven Verhaltensregulation und dem Konzept des intuitiven Elternverhaltens haben Papoušek und Papoušek (1979, 1987) in den 1970er Jahren ein wegweisendes Rahmenmodell vorgelegt, das den Prozess der Ko-Regulation im sozialen Miteinander beschreibt. Der Grundge-
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danke dabei ist, dass der Säugling zunächst nur über rudimentäre Kompetenzen zur Selbstregulation verfügt und erst durch die Ko-Regulation durch die Bezugspersonen ein optimales Funktionsniveau aufrechterhalten werden kann. Aber was wird eigentlich ko-reguliert? Nach Papoušek und Papoušek geht es bei der frühkindlichen Verhaltensregulation zentral darum, eine angemessene Balance aus Aktivierung und Hemmung der sogenannten vier A’s herzustellen: arousal (Erregung), activity (motorische Aktivität), affect (emotionale Erregung) und attention (Aufmerksamkeit). Diese Prozesse sind zentral an der Auseinandersetzung des Organismus mit seiner sozialen und nicht sozialen Umwelt beteiligt und müssen ständig in ein dynamisches Gleichgewicht gebracht werden. Gelingt das nicht, kommt es zur Dysregulation, entweder in Form von Übererregung oder in Form von übersteigerter Hemmung. Unter anderem in diesen Situationen greift das intuitive Elternverhalten: Bezugspersonen sind sensibel für dysregulierte Verhaltenszustände und regulieren entweder vorbeugend – bei kleinen Anzeichen einer misslingenden Selbstregulation – oder bringen dysregulierte Verhaltenszustände wieder ins Gleichgewicht. Im Laufe der Entwicklung bewältigt das Kind verschiedene phasentypische Entwicklungsaufgaben, die insgesamt dazu führen, dass sich die Verhaltensregulation zunehmend von der Ko-Regulation durch die Bezugspersonen zur Selbstregulation verlagert. Die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben geht üblicherweise mit phasentypischen Problemen einher, z. B. bei der Schlaf-Wach-Organisation oder im Bereich des Fütterns. Genau hier setzt das Konzept der Regulationsstörung (siehe auch Kapitel 2) an, die im Wesentlichen als Extremvariante eines normalen phasentypischen Entwicklungsphänomens verstanden werden kann. Das bedeutet zum einen, dass Regulationsstörungen in Bereichen auftreten, die in der entsprechenden Entwicklungsphase potenziell problembehaftet sind (z. B. bei exzessivem Schreien oder Ein- und Durchschlafstörungen). Zum anderen bedeutet es, dass die Ursache der Störung nicht nur im Kind selbst zu suchen, sondern eine systemische Betrachtungsweise notwendig ist, bei der neben Regulationsschwierigkeiten beim Kind und Belastungen aufseiten der Eltern vor allem die Dynamik der Interaktion zwischen Kind und Bezugspersonen in den Blick
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
genommen wird (Papoušek et al., 2004). Auf der Grundlage dieses Rahmenmodells wurden verschiedene Programme entwickelt, die die frühkindliche Entwicklungsberatung nachhaltig geprägt haben und prägen (Borke u. Eickhorst, 2008; Cierpka, 2012; Papoušek et al., 2004; Ziegenhain et al., 2004). 1.1.2 Die Bindungstheorie Eine andere Theorie, die nicht nur die Entwicklungspsychologie nachhaltig beeinflusst hat, sondern ähnlich wie die Konzepte des Unbewussten oder des Über-Ichs von Sigmund Freud Teil des Allgemeinwissens geworden ist, ist die Bindungstheorie. Diese Theorie, die im Wesentlichen von John Bowlby in den 1950er und 1960er Jahren formuliert wurde, hat im Bereich der frühkindlichen Entwicklung, insbesondere bezogen auf die emotionale und soziale Entwicklung, zu einem Umdenken geführt (Bowlby, 1969). Der grundlegende und damals wegweisend neue Gedanke, der eine Synthese aus ethologischen, evolutionären und systemtheoretischen Annahmen darstellt, kann folgendermaßen beschrieben werden: Der Säugling hat ein eigenständiges und überlebensnotwendiges Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit, das sogenannte Bindungsmotiv. Zur Befriedigung dieses Bedürfnisses ist der Säugling auf die Ko-Regulation durch die primäre Bezugsperson angewiesen. In der Bindungstheorie werden die primäre Bezugsperson und der Säugling als gemeinsames System konzipiert. Ziel dieses Systems ist es, einen gewissen Sollwert – nämlich das Gefühl der emotionalen Sicherheit beim Säugling – aufrechtzuerhalten. Dazu sind beide – primäre Bezugsperson und Kind – mit Verhaltenssystemen ausgestattet, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben. Aufseiten des Kindes hat sich das Bindungsverhaltenssystem entwickelt: Wird der Sollwert unterschritten, zeigt der Säugling Verhaltensweisen, um den Sollwert entweder direkt (z. B. indem er zur primären Bezugsperson krabbelt) oder indirekt (z. B. indem er anfängt zu weinen) wieder herzustellen. Die primäre Bezugsperson ist mit einem komplementären Verhaltenssystem, dem Fürsorgesystem, ausgestattet. Es wird durch das Bindungsverhalten des Säuglings aktiviert und löst entsprechendes Fürsorgeverhalten aus, durch das der Sollwert wieder hergestellt wird: Die Bezugsperson zeigt Beruhigungsverhalten, und
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der Säugling fühlt sich wieder sicher und geborgen. Dieses Gefühl der Sicherheit ist gemäß der Bindungstheorie die Voraussetzung dafür, dass das Kind aktiv seine Umwelt entdecken und explorieren kann, bis es wieder an einen Punkt kommt, an dem das Sicherheitsbedürfnis und damit das Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird (die sogenannte Bindungs-Explorations-Balance). In diesem Sinne ist die Bezugsperson-Kind-Dyade ein dynamisches System, das sich flexibel an sich ändernde Umweltbedingungen anpasst. Auch in der Bindungstheorie wird angenommen, dass sich die frühkindliche Verhaltensregulation zunehmend von der Ko-Regulation durch die primäre Bezugsperson hin zur Selbstregulation verschiebt. Sie geht davon aus, dass das Verhalten bei emotionaler Belastung zunehmend auf Grundlage der bisherigen Interaktionserfahrungen, die im sogenannten internalen Arbeitsmodell repräsentiert werden, gesteuert wird. Dieses internale Arbeitsmodell bildet sich gegen Ende des ersten Lebensjahres aus und umfasst unter anderem die kindlichen Erwartungen darüber, wie die Bezugsperson auf das vom Kind gezeigte Bindungsverhalten reagieren wird. Eine weitere zentrale Annahme der Bindungstheorie ist, dass sich je nach Interaktionserfahrungen unterschiedliche Bindungstypen oder -qualitäten herausbilden. Innerhalb dieser Bindungsmuster wird die sichere Bindung als besonders vorteilhaft angesehen, da hier eine effektive soziale Emotionsregulation zwischen Kind und Bindungsperson gelingt und das Kind rasch wieder zur Exploration übergehen kann. Darüber hinaus erweist sich die sichere Bindung als günstige Voraussetzung für die weitere soziale, emotionale und auch kognitive Entwicklung und als Schutzfaktor gegenüber einer Reihe von Risikofaktoren (Zimmermann u. Spangler, 2008). Das unsicher-vermeidende und das unsicher-ambivalente Bindungsmuster werden zwar als adaptiv (z. B. als Schutz vor Zurückweisung bei unsicher-vermeidendem Bindungsverhalten), jedoch als weniger optimale Bindungsorganisationsformen interpretiert, da entweder die Explorationsbereitschaft oder die emotionsregulatorische Kompetenz beeinträchtigt sind. Als optimales Elternverhalten wird im Rahmen der Bindungstheorie die Feinfühligkeit (Sensitivität) der Bindungspersonen in den Mittelpunkt gestellt (Ainsworth, Blehar, Waters u. Wall, 1978). Sensi-
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tive Mütter sind der Definition entsprechend in der Lage, die kindlichen Signale und Bedürfnisse wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und prompt und angemessen darauf zu reagieren. In den letzten Jahren hat sich das Konzept zunehmend dahin entwickelt, dass es vor allem die Fähigkeit zum »Lesen« der kindlichen Intentionen und anderer psychischer Zustände ist, die als zentral für eine optimale Entwicklung angesehen wird (siehe z. B. Meins, Fernyhough, Wainwright, Das Gupta, Fradley u. Tuckey, 2002: mind-mindedness oder Slade, 2005: parental reflective functioning). In diesem Sinne nehmen bei den meisten Beratungskonzepten sowie bei den prominenten Präventions- und Interventionsprogrammen verhaltensbasierte Feinfühligkeitstrainings (z. B. Brisch, 2010; Cohen, Muir u. Lojkasek, 2003; Erickson u. Egeland, 2006), teilweise ergänzt um die Bearbeitung der Bindungsrepräsentation der primären Bezugspersonen, einen zentralen Stellenwert ein. Generell wird dem Aufbau einer sicheren Bindung in diesem Sinne innerhalb der klassischen Bindungstheorie ein hoher Stellenwert für die gesamte Entwicklung – auch jenseits des frühkindlichen Alters – zugeschrieben. 1.1.3 Berührungspunkte beider Theorien Beide Entwicklungstheorien, sowohl die Theorie der basalen adaptiven Verhaltensregulation und des intuitiven Elternverhaltens von Hanuš und Mechthild Papoušek als auch die Bindungstheorie von John Bowlby, prägen das Bild der frühkindlichen Beratungslandschaft in Deutschland. Im Folgenden möchten wir einige Gemeinsamkeiten genauer in den Blick nehmen. Erstens gehen beide Theorien davon aus, dass sich Entwicklung – egal ob optimal oder im Bereich des Optimierbaren bis Pathologischen – nicht isoliert im Kind, sondern in der sozialen Beziehung vollzieht. In diesem Sinne sind die Theorien nicht kindzentriert, sondern nehmen zentral die Dyade und das Interaktionsgeschehen in den Blick. Sie gehen von einem systemischen Grundgedanken aus und schreiben den sozialen Einflüssen eine konstitutive Rolle für die frühkindliche Entwicklung zu. Zweitens gehen beide Theorien über den dyadischen Kontext hinaus, indem das weitere soziale Umfeld im Sinne von Risiko- und Belastungsfaktoren oder im Sinne von Resilienz- und Schutzfaktoren berücksichtigt wird (Papoušek et al., 2004; Zimmermann u. Spangler, 2008). Drit-
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tens gehen beide Theorien von universellen biologischen Prädispositionen aufseiten des Säuglings und der primären Bezugsperson(en) aus, die die effektive Ko-Regulation eines optimalen Systemzustandes erst möglich machen bzw. dieser zugrunde liegen (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Zentrale Elemente systemischer Theorien zur frühkindlichen Entwicklung Papoušek u. Papoušek
Bindungstheorie
Optimaler Systemzustand
Optimales Erregungsniveau
Gefühl emotionaler Sicherheit
Verhaltenssystem Säugling
Basale adaptive Verhaltensregulation
Bindungsverhaltenssystem
Verhaltenssystem Bezugsperson
Intuitives Elternverhalten
Fürsorgesystem
Die dritte Annahme ist hochkomplex, da sie sich sowohl auf die Spezifikation optimaler Systemzustände als auch auf die Beiträge von Bezugsperson und Kind zur Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Systemzustände bezieht. In beiden Theorien ist diese Annahme mit dem Gedanken verbunden, dass sich die dynamische Regulation des Systemzustandes auf Grundlage universell gültiger Verhaltensprogramme vollzieht. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist, dass die Universalität dieser Verhaltensprogramme – vor allem aufseiten der Bezugspersonen – als Uniformität gedacht wird: Es wird von einem festen, im Wesentlichen weltweit gleich aussehenden und ablaufenden Verhaltensmuster ausgegangen, das die optimale Antwort auf das eindeutig feststellbare Regulationsbedürfnis des Säuglings darstellt, um den überall gleichen optimalen Systemzustand (wieder) herzustellen. In diesem Sinne legen beide Theorien absolute, das heißt in gleicher Weise für alle Menschen geltende Kriterien für die optimale Entwicklung und das optimale Elternverhalten fest. Dieses Argument lässt sich auf den Großteil entwicklungspsychologischer Theorien übertragen. Als Konsequenz daraus scheint sich ein eindeutiger Maßstab zu ergeben, auf dessen Grundlage der Entwicklungsstand eines Kindes und die Angemessenheit des elterlichen Verhaltens bewertet werden kann. Es wird eine eindeutige Antwort auf die Frage, was optimale Entwicklung, optimales Elternverhalten und der optimale Zustand des Kindes ist, gegeben.
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
Ein zentraler Aspekt, den die Bezugspersonen neben ihrer biologischen Grundausstattung mitbringen, wird dabei übersehen: Das ist ihre Kultur. Wie wir im Folgenden ausführen, können die Vorstellungen davon, was gute Entwicklung und optimales Elternverhalten ist, je nach kulturellem Modell sehr unterschiedlich aussehen. Auch die Überzeugungen, was ein optimales kindliches Funktionsniveau ausmacht und wie es aufrechterhalten und stabilisiert wird, können sich unterscheiden. Bevor wir anhand zentraler Befunde ausführen, worin zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Vorstellungen und Elternverhalten zu sehen sind, wollen wir zunächst ein Rahmenmodell vorstellen, in dem geklärt wird, in welcher Wechselbeziehung die drei zentralen Konzepte der Kultur, der biologischen Prädispositionen und der kindlichen Entwicklung stehen.
1.2 Was hat Entwicklung mit Kultur zu tun? Aus der Perspektive der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie sind Säuglinge und Kinder nicht nur optimal darauf vorbereitet, in der Interaktion mit ihren Bezugspersonen ihre existenziellen Bedürfnisse zu befriedigen und ihr Verhalten zu regulieren, sondern sie sind auch optimal darauf vorbereitet, sich auf die Kultur, die sie umgibt, einzustellen. Unter Kultur verstehen wir dabei nicht nur abstrakte Zeichen- und Symbolsysteme wie beispielsweise die Sprache, sondern ganz allgemein geteilte Bedeutungssysteme, Verhaltensmuster und Alltagsroutinen, wobei im Bereich der frühkindlichen Entwicklung vor allem die beiden letzten Aspekte relevant sind. Der Säugling eignet sich im Prozess der Ko-Regulation durch die Bezugsperson seine Kultur an, indem er auf eine bestimmte, kulturspezifische Weise in der Regulation seiner Verhaltenszustände unterstützt wird. Wie wir im Folgenden ausführlicher beschreiben werden, unterscheiden sich Bezugspersonen in Abhängigkeit ihres kulturellen Modells darin, welchen Zustand sie in der Interaktion mit dem Säugling anstreben (z. B. der aufgeweckte, emotional positiv getönte Säugling oder der ruhige, emotional neutrale Säugling) und in Abhängigkeit davon in der Einschätzung, wann Regulationsbedarf besteht und wie diese Regulation idealerweise aussieht. Durch diese kulturspezifische Form der Ko-Regulation wird das
Frühkindliche Entwicklung aus kulturvergleichender Perspektive31
Erleben des Säuglings in eine bestimmte Richtung gelenkt. Je nachdem, welche Schwerpunkte die Bezugsperson in der Interaktion legt, wird der Säugling für unterschiedliche Facetten seiner Erlebensmöglichkeiten sensibilisiert. Hier stellt sich also zum Beispiel die Frage, welche Emotionen in der Interaktion ausgelöst, gehalten und verstärkt werden oder worauf die Aufmerksamkeit des Kindes (bezogen auf sein inneres Erleben und bezogen auf die es umgebende soziale und nicht soziale Umwelt) gelenkt wird. Die zentrale Idee an dieser Stelle ist, dass Kultur in der sozialen Interaktion auf Grundlage der biologischen Verhaltensmuster wirksam wird: Im Kind sind verschiedene Erlebensmöglichkeiten angelegt, die je nach Interaktionserfahrungen unterschiedlich stark akzentuiert werden und dadurch in den Erlebensvordergrund oder eher in den Erlebenshintergrund – im Sinne eines Hintergrundrauschens – treten. Zwei Erfahrungs- und Erlebensmöglichkeiten spielen dabei eine zentrale Rolle, da sie allgemein als unterschiedliche Bezugssysteme angesehen werden, an denen Menschen ihr Erleben und Verhalten ausrichten können (Kärtner, im Druck; Kärtner, Holodynski u. Wörmann, 2013; Keller u. Kärtner, 2013). Einerseits besteht die Möglichkeit, sein Verhalten am eigenen subjektiven psychischen Erleben auszurichten bzw. das Verhalten anderer auf deren subjektives psychisches Erleben zurückzuführen (das sogenannte internale Referenzsystem). Diese Sicht wird den gängigen entwicklungspsychologischen Theorien zugrunde gelegt. Andererseits besteht die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten an der sozialen Situation auszurichten, also daran, was erwartet wird und mit der eigenen sozialen Rolle einhergeht (das sogenannte externale Referenzsystem). Diese beiden Referenzsysteme stehen nicht notwendigerweise im Widerspruch zueinander. Zentral ist der Gedanke, dass Verhalten unterschiedlich akzentuiert wird: entweder als etwas, das aus der Person selbst kommt und im Wesentlichen durch autonome und subjektive psychische Zustände motiviert ist, oder als etwas, das im Wesentlichen durch den sozialen Kontext hervorgerufen wird. Das jeweils andere Referenzsystem wird nicht in demselben Maße in der Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind in den Blick genommen und beeinflusst damit weniger stark das innere Erleben des Kindes (Worauf richtet es seine Aufmerksam-
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keit? Was ist in einer Situation wichtig?) und in der Folge dessen Verhalten (Welche Emotionen und Handlungstendenzen ergeben sich daraus?) weniger stark. Daraus wird deutlich, wie eng biologische Prädispositionen und Kultur bei der Entwicklung ineinandergreifen. Entwicklung vollzieht sich auf Grundlage universeller Prädispositionen und entlang universeller Interaktionskontexte, die kulturspezifisch gefärbt sind. Je nach kulturellem Modell der Bezugspersonen sind Entwicklungskontexte daher unterschiedlich strukturiert bzw. werden von den Bezugspersonen aktiv so gestaltet, dass Eigenheiten der Kultur von Geburt an das Erleben und Verhalten des Kindes beeinflussen. In der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie geht es also zentral darum, zu klären, welche sozial vermittelten Erfahrungen im frühkindlichen Bereich dazu führen, dass das Erleben und Verhalten des Kindes sich dem annähert, was das Erleben und Verhalten der Bezugspersonen in seiner Kultur auszeichnet (siehe auch Keller, 2007; Rogoff, 2003; Rothbaum u. Trommsdorff, 2007). Die hier beschriebenen Ansätze, die der Kultur eine konstitutive Rolle für die menschliche Entwicklung zuschreiben, betreffen nicht nur die in den systemischen Entwicklungstheorien im Mittelpunkt stehende emotionale und soziale Entwicklung. Sie können gleichermaßen auf alle Entwicklungsbereiche übertragen werden. Diese Grundhaltung teilt die Kulturpsychologie (Shweder u. Sullivan, 1993; Cole, 1998), die ihre Wurzeln in den Arbeiten von Lew Vygotsky und der kulturhistorischen Schule der 1930er Jahre hat. Vygotsky (1931/1997) ging von der Annahme aus, dass der Mensch über eine Fülle von biologisch angelegten Verhaltensmustern und Kompetenzen verfügt, die sich erst in der sozialen und in vielerlei Hinsicht kulturspezifischen Interaktion voll entfalten. Dieser Gedanke ist dem der Ko-Regulation recht ähnlich und kommt in Vygotskys Konzept der Interiorisierung deutlich zum Ausdruck: Vygotsky ging davon aus, dass jede höhere geistige Funktion zwar eine biologische Grundlage hat, allerdings erst in der sozialen Interaktion mit einem kompetenteren Gegenüber die nötigen spezifischen Erfahrungen gemacht werden, die die Funktion in eine bestimmte Richtung ausdifferenziert. So erlangt ein Kind zunächst in der interpersonellen Verhaltensregulation seine volle Funktionsfähigkeit (kultu-
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relle Mediation). Später wird diese interpersonelle Regulation zunehmend nach innen verlagert (internalisiert), sodass alle psychischen Prozesse kulturell durchdrungen sind. Diese Grundannahme, dass Kultur und Psyche sich wechselseitig determinieren, dass also das »Innen« zumindest zum Teil ein Spiegel des »Außen« ist, ist eine der Grundannahmen der Kulturpsychologie und liegt auch diesen Ausführungen zugrunde. Dieser Gedanke hat nicht nur Konsequenzen für die soziale und emotionale Entwicklung (siehe z. B. Kärtner et al., 2013 oder Kärtner u. Keller, 2014), bei denen intuitiv von einem kulturellen Einfluss ausgegangen wird, sondern auch für Bereiche wie beispielsweise Wahrnehmung (Nisbett u. Masuda, 2003), Gedächtnis (Cole, 1998) und Kognition (Haun, Rapold, Janzen u. Levinson, 2011). Lange Zeit wurde angenommen, dass diese Entwicklungen kulturunabhängig seien, da sie grundlegende Bereiche der Psyche betreffen. Allerdings hat sich gezeigt, dass auch hier teilweise große Unterschiede zwischen Kulturen erkennbar sind (Henrich, Heine u. Norenzayan, 2010). Wie kommt es zu diesen kulturellen Unterschieden? Was führt dazu, dass die kindliche Entwicklung einen kulturspezifischen Verlauf nimmt? Die Idee hierzu ist, dass die soziale Vermittlung der kindlichen Erfahrungen eine entscheidende Rolle spielt: Worauf wird die Aufmerksamkeit gelenkt? Welchen Aspekten wird Beachtung geschenkt, welche werden übergangen? Was wird als bedeutsam markiert? Welche Bedeutung wird bestimmten Aspekten im Erfahrungsfeld zugeschrieben? Es sind diese Gewohnheiten und Routinen, die sich in der Interaktion ausbilden und die zunehmend internalisiert werden. Bis hierhin haben wir uns vor allem darauf konzentriert, wie der Säugling und das Kleinkind im Laufe seiner Entwicklung die ihn umgebende Kultur aufnimmt. Im weiteren Verlauf wollen wir darauf eingehen, welche Konsequenzen die Kultur für das Erleben und Verhalten der Bezugsperson hat. Die Kultur wird bildlich gesprochen mit der Muttermilch aufgenommen. Langfristig werden die sozial vermittelten Interaktionserfahrungen im frühkindlichen Alter jedoch um eine weitere zentrale Komponente erweitert: Die von früh auf geteilten Erlebens- und Verhaltensweisen werden mit dem einsetzenden Sprach- und Symbolgebrauch in ein komplexes
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
Netz an Bedeutungen eingewoben. Dadurch wird unter anderem ein komplexes System an Vorstellungen bezüglich guter Entwicklung und optimalen Elternverhaltens erworben, das mit dem Übergang zur Elternschaft zum Tragen kommt und verhaltenswirksam wird.
1.3 Was ist Kultur und wie viele Kulturen gibt es? Wenn wir den Begriff Kultur benutzen, beziehen wir uns damit nicht auf ein bestimmtes Land oder eine bestimmte ethnische Gruppe, denn sowohl innerhalb von Ländern als auch innerhalb von ethnischen Gruppen gibt es große Unterschiede zwischen den Lebensweisen von Familien. Zu diesen Unterschieden gehört auch, was Eltern in der Erziehung ihrer Kinder wichtig ist und wie sie im (Erziehungs-)Alltag mit den Kindern umgehen. Viel mehr verstehen wir unter Kulturen oder kulturellen Kontexten Lebenswelten, in denen Menschen leben, die Werte, Normen und Einstellungen teilen und sich ähnlich verhalten (Keller, 2011; Keller u. Kärtner, 2013; Borke, Döge u. Kärtner, 2011). Im Laufe der Entwicklung werden diese geteilten Bedeutungs- und Verhaltensmuster vom Kind durch die Beobachtung und Teilhabe an verschiedenen Alltagsroutinen aktiv erworben und zunehmend verinnerlicht (Rogoff, 2003). Schon in den ersten Lebensjahren bezieht sich das auf sehr unterschiedliche Bereiche: Wer beschäftigt sich wann und auf welche Weise mit dem Säugling bzw. Kleinkind? Wie werden Still-, Fütter- und Essensszenen gestaltet? Wann, wo und auf welche Weise wird das Kind zum Schlafen gebracht? Wer spielt mit dem Kind? Das sind nur einige von vielen Bereichen, in denen die Kinder eine Fülle von Erfahrungen sammeln, die sich zwischen verschiedenen Kulturen stark unterscheiden können. Wenn man die Unterschiede zwischen den Kulturen systematisiert, bieten sich zwei Konzepte an, entlang derer sich die kulturspezifischen Erfahrungen anordnen lassen. Das sind die Konzepte Autonomie und Relationalität (bzw. Verbundenheit) (Keller, 2011; Keller u. Kärtner, 2013). Beide bezeichnen grundlegende menschliche Bedürfnisse, die jedoch in Abhängigkeit vom kulturellen Kontext unterschiedlich stark betont bzw. unterschiedlich umgesetzt werden und die sich unterschiedlich auf die Erfahrungsbereiche des Säug-
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lings und Kleinkindes auswirken. Aber wie entscheidet sich nun, ob in einem spezifischen kulturellen Kontext eher autonome, relationale oder beide Organisationsprinzipien wirksam werden? Folgt man den Grundannahmen der ökokulturellen Entwicklungsmodelle (siehe z. B. Keller u. Kärtner, 2013), dann sind die geteilten Bedeutungs- und Verhaltenssysteme innerhalb eines kulturellen Kontextes als Anpassungsleistung an bestehende Umwelt- und Kontextbedingungen zu verstehen. Dabei ist der Grundgedanke, dass verschiedene makrostrukturelle Kontextbedingungen, wie beispielsweise die Ökologie oder Ökonomie, Einfluss auf die Sozialstruktur nehmen. Diese Einflüsse prägen entscheidend die Familienstruktur und damit den Alltag der Familie und der dort aufwachsenden Kinder. Je nachdem, ob eine Familie in einer »westlichen« (post)modernen Dienstleistungs- bzw. Informationsgesellschaft oder in einer »nicht westlichen« bäuerlichen Gemeinschaft auf subsistenzwirtschaftlicher Grundlage lebt, werden unterschiedliche Vorstellungen vorherrschen, worin die Autonomie des Individuums zu sehen ist und wie zwischenmenschliche Beziehungen aufgebaut und gestaltet werden. Dabei ist die zentrale Annahme der ökokulturellen Entwicklungsmodelle, dass die beiden universell angelegten Grundbedürfnisse der Autonomie und Relationalität sich in einer Form entwickeln, die es den Menschen erlaubt, sich innerhalb eines gegebenen Kontextes möglichst kompetent zu verhalten. Die Vorstellungen davon, was ein »gesundes« Maß an Autonomie oder die »richtige« Art der Relationalität ist, sind in hohem Maße kulturspezifisch und ein zentraler Bestandteil des sogenannten kulturellen Modells, das viele Entwicklungs- und Lebensbereiche nachhaltig beeinflusst. Bezogen auf die bedeutsamen soziostrukturellen Variablen, die mit darüber bestimmen, welcher Stellenwert und welche Bedeutung der Autonomie und der Relationalität zugeschrieben werden, haben vor allem das Niveau der formalen Bildung, das Alter bei der Geburt des ersten Kindes und die Anzahl der Nachkommen bzw. die Familiengröße einen nachweislichen Einfluss darauf, durch welche kulturelle Brille Menschen ihre Welt sehen (Keller, 2007). Das bedeutet, dass Menschen aus ökosozialen Kontexten, die sich hinsichtlich des Bildungsgrades, des durchschnittlichen Erstgeburtsalters und der Kinderzahl ähneln, in der Regel auch in Bezug auf autonome und
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relationale Erziehungsziele und das entsprechende Erziehungsverhalten recht ähnlich sind. Im Folgenden wollen wir in einem ersten Schritt prototypisch unterschiedliche kulturelle Kontexte einander gegenüberstellen und den Prototyp der psychologischen Autonomie mit dem Prototyp der hierarchischen Verbundenheit kontrastieren. Wir beschreiben die jeweiligen Lebenswelten und die dazugehörigen Vorstellungen über das Wesen des Kindes, über optimales Eltern- bzw. Erziehungsverhalten und Ideen über den optimalen Entwicklungsverlauf. In einem zweiten Schritt wollen wir diese Gegenüberstellung, die nicht als Dichotomisierung missverstanden werden darf, differenzieren und diskutieren, welche Implikationen die Perspektive der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie für den Bereich der frühkindlichen Entwicklungsberatung und Therapie mit sich bringt. 1.3.1 Der Prototyp der psychologischen Autonomie Ein prototypischer ökosozialer Kontext, der das wissenschaftliche Bild der Entwicklungspsychologie maßgeblich beeinflusst und häufig als normativ im Sinne eines universell vorbildlichen Entwicklungskontextes betrachtet wird, ist der der westlichen Mittelschichtfamilie: Vater und Mutter sind formal recht hoch gebildet und die Mutter bekommt relativ spät, zumeist erst nach abgeschlossener Ausbildung und Berufseinstieg, ihr erstes Kind. Die Familie lebt als Kernfamilie mit vergleichsweise wenigen Kindern, der Kontakt zur weiteren Familie ist in der Regel zeitlich begrenzt und nicht alltäglich. Die Erziehung der Kinder wird als Privatangelegenheit der Eltern betrachtet. Das Elternverhalten wird beständig reflektiert und entwickelt sich unter enger Begleitung von Ratgeberliteratur und wissenschaftlicher Expertise. Verhalten und Erleben, die durch psychologische Autonomie gekennzeichnet sind, zeichnen sich durch das Primat des Individuellen aus. Allgemein ist damit die Selbstständigkeit des Individuums in Bezug auf zentrale psychische Prozesse wie Emotion, Bedürfnisse, Willensbildung, Motivation und Kognition gemeint. Dem unabhängigen und eigenständigen Funktionieren wird eine hohe Bedeutung zugeschrieben: Es wird als wichtig erachtet, Zugang zu den eigenen Gedanken und Gefühlen zu haben, sich selbstständig eine Meinung zu bilden, Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen.
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Demgemäß sind zentrale Erziehungsziele in diesem kulturellen Modell die Selbstständigkeit und Autonomie des Kindes und der Wunsch, dass das Kind sich seiner eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Fähigkeiten bewusst wird und diese sozial verträglich verwirklicht. Die Sozialisationsstrategie, die für diesen Kontext typisch ist, stellt den Säugling ins Zentrum. Beschäftigt sich die Mutter mit dem Kind, versucht sie, ihre Aufmerksamkeit auf das Kind zu konzentrieren und sensitiv auf die kommunikativen Signale des Kindes zu reagieren (Ainsworth et al., 1978). In der Interaktion greift die Mutter die »Äußerungen« des Kindes auf, imitiert Gesichtsausdruck und stimmliche Laute. Das Kind wird als quasi gleicher Partner behandelt, und die Mutter gibt ihm Raum für eigene Äußerungen. Die Sprache spielt bereits hier eine wichtige Rolle. Während dieser frühen ProtoKonversationen wird dem Kind gespiegelt, dass es einzigartig ist, es wird viel gelobt und in seinen Verhaltensäußerungen bestärkt. Die Bezugspersonen führen mentalistische Diskurse mit dem Säugling, indem sie auf seine inneren Zustände (»Findest du das schön?«), auf Wünsche (»Willst du das haben?«) und auf Präferenzen (»Willst du lieber das Gelbe oder das Rote?«) eingehen. Durch diese intuitiv gesteuerten Elternverhaltensweisen wird sich das Kind zunehmend seines inneren Erlebens bewusst und richtet sein Verhalten danach aus. Wird das Kind älter, setzt sich diese Tendenz fort: Die Bezugsperson erfragt und folgt den Spielideen des Kindes, Formate wie das Symbol- und Freispiel, Vorlesen, Malen, Basteln etc. nehmen einen großen Teil der gemeinsamen Freizeit ein. Bezogen auf Erziehungsvorstellungen und optimales Elternverhalten handelt es sich demnach um einen kindzentrierten Ansatz, bei dem sich die Bezugsperson während der Interaktion in Inhalt und Form stark an den Entwicklungsstand und die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes anpasst (vgl. dazu Keller, 2011). In diesem Prototyp, im Folgenden auch als Autonomieorientierung bezeichnet, wird Autonomie als psychologische Autonomie verstanden. Zentral ist, dass das Kind sich seiner eigenen Bedürfnisse, Ideen, Neigungen etc. bewusst wird und sein Verhalten danach ausrichtet. Auch das Bedürfnis nach Relationalität wird unter dieser Prämisse betrachtet: »Richtige« Beziehungen können nicht aufgezwungen, sondern nur selbstbestimmt und nach Interesse, Neigung und Sympathie eingegangen (und auch wieder gelöst) werden.
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1.3.2 Der Prototyp der hierarchischen Relationalität Ein entgegengesetzter ökosozialer Kontext ist der der hierarchischen Relationalität. Die Eltern leben in ländlichen Regionen eines »nicht westlichen« Landes und verfügen über einen relativ niedrigen Grad an formaler Bildung. Die Familie lebt im Wesentlichen von der Landwirtschaft in einem subsistenzwirtschaftlich geprägten System. Frauen heiraten in der Regel sehr früh und es wird erwartet, dass sie möglichst schnell Kinder bekommen, die als helfende Hände in der Familie gebraucht werden. Mit jedem Kind, besonders jedoch mit Söhnen, gewinnen sie an Ansehen und Status. Alle Generationen sind an den alltäglichen Abläufen beteiligt und führen diese zusammen aus. Kinder aller Altersgruppen sind selbstverständlicher Teil dieses Alltagshandelns und immer mit dabei. Die Erziehung der Kinder ist öffentlich, das heißt, nicht nur die Familie betreut und erzieht ihre Kinder, sondern die ganze Gemeinschaft wacht über die physische Gesundheit und die moralischen Werte, die die gemeinsame kulturelle Identität ausmachen. Verhalten und Erleben, die durch hierarchische Relationalität gekennzeichnet sind, orientieren sich stark an sozialen Rollenmodellen und den daran geknüpften Erwartungen, Verantwortlichkeiten und Rechten. Im Vordergrund steht hier die Sensibilität für den sozialen Kontext und das Reagieren auf Erfordernisse, die in der sozialen Situation begründet sind. Demgemäß sind zentrale Erziehungsziele in diesem kulturellen Modell, dass das Kind den für es vorgesehenen Platz in einem hierarchisch strukturierten sozialen System einnimmt und die daran gebundenen Rollenverpflichtungen und -erwartungen verantwortungsvoll übernimmt bzw. erfüllt. Das Kind soll sich in sozialen Situationen angemessen verhalten, sich der Erwartungen anderer bewusst werden und diesen nachkommen. Die für diesen Kontext typische Sozialisationsstrategie ist erwachsenenzentriert (Keller, 2007). Meist ist die Mutter mit mehreren Dingen zeitgleich beschäftigt, sodass von Geburt an geteilte Aufmerksamkeitsmuster und viele Interaktionspartner die Norm sind. Das Kind hat viele Bezugspersonen, oft ältere Geschwister und andere Mitglieder der weiteren Verwandtschaft. In der Interaktion mit dem Säugling dominieren Körperkontakt und Körperstimulation. Häufig synchronisieren die
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Bezugspersonen diese rhythmischen Interaktionsmuster mit ihren sprachlichen Äußerungen. Die Synchronisierung motorischer und vokaler Stimulation unterstützt die Entwicklung der Wahrnehmung von sich selbst als Teil eines sozialen Systems (Demuth, 2008). Ein weiteres zentrales Konzept guten elterlichen Verhaltens ist die responsive Kontrolle, die Yovsi, Kärtner, Keller und Lohaus (2009) beschreiben: Gute Mütter wissen demnach, was das Beste für ihr Baby ist, und tun es. Diese Konzeption basiert auf der Hierarchie zwischen Eltern und Kind, die als Experte-Novize-Beziehung beschreibbar ist. Entsprechend müssen gute Eltern nicht die Signale und dahinterliegenden psychischen Zustände des Babys explorieren, um herauszufinden, was angemessenes elterliches Verhalten ist. Sie wissen, was in bestimmten Situationen getan werden muss, um die Entwicklung des Kindes zu fördern. Wenn das Kind älter wird, ist eine zentrale Erwartung, dass es an den alltäglichen Routinen der Erwachsenen teilhat und aufmerksam das Verhalten der Erwachsenen beobachtet. Dadurch wird es zunehmend an die Welt der Erwachsenen herangeführt (Rogoff, 2003). Im zweiten und dritten Lebensjahr spielen auch angemessenes Sozialverhalten und die Erziehung zu Folgsamkeit und Gehorsam eine zunehmend wichtige Rolle. In diesem Prototyp, im Folgenden auch als Verbundenheitsorientierung bezeichnet, wird Autonomie als Handlungsautonomie gedacht. Zentral ist, dass das Kind die ihm zugedachten Rollenerwartungen eigenverantwortlich und selbstständig erfüllt. Die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Neigungen sind sekundär und treten in den Erlebenshintergrund. Zwischenmenschliche Beziehungen nehmen einen bedeutsamen Stellenwert ein: Beziehungen sind aufgrund der relativen Position im hierarchischen sozialen Gefüge vorgegeben und bringen spezifische Rollen mit sich, die Verantwortlichkeiten gegenüber anderen klar festlegen. 1.3.3 Die Bandbreite kultureller Modelle jenseits der Prototypen Die beiden Prototypen der psychologischen Autonomie (Autonomieorientierung) und der hierarchischen Relationalität (Verbundenheitsorientierung) sind kulturelle Modelle, die als Anpassungen an spezifische Lebenswelten verstanden werden. Sie implizieren Lebens-
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formen, die extrem unterschiedlich sind und in zentralen Punkten unvereinbar erscheinen. Betrachtet man jedoch die Bevölkerung in verschiedenen Ländern, entsprechen viele Familien keinem dieser Prototypen. Werden diese Eltern zu ihren Erziehungsvorstellungen befragt oder wird ihr Elternverhalten beobachtet, handelt es sich eher um ein Nebeneinander einzelner Facetten von Autonomie und Relationalität. Familien, die sich von der typischen westlichen Mittelschichtfamilie zum Beispiel dadurch unterscheiden, dass die Eltern über einen geringen Grad an formaler Bildung verfügen oder dass sie in einem stark ländlich geprägten Umfeld leben, betonen relationale Aspekte häufig stärker als die gebildete, urbane, westliche Mittelschichtfamilie, z. B. indem Themen wie Respekt und angemessenes Verhalten einen größeren Stellenwert einnehmen. Aus der Sicht der ökokulturellen Entwicklungsmodelle macht es wenig Sinn oder ist es sogar irreführend, Kultur mit Herkunftsland, Religion oder ethnischer Gruppe gleichzusetzen. Viel eher wird das kulturelle Modell von Menschen, insbesondere die Bedeutung von Autonomie und Relationalität, durch spezifische Kontextbedingungen wie den sozioökonomischen Status, den Bildungsgrad und die Familienform geprägt. Zudem sind kulturelle Modelle nicht statisch, sondern sie verändern sich unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise bei Migration oder durch historische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse. In diesem Zusammenhang sind Forschungsarbeiten interessant, die zeigen, dass sich die zentralen Sozialisationsziele in Abhängigkeit vom Migrationsstatus und Bildungsgrad unterscheiden (Citlak, Leyendecker, Harwood u. Schoelmerich, 2008; siehe auch Durgel, Leyendecker, Yagmurlu u. Harwood, 2009). Im Vergleich zu deutschen Müttern ohne Migrationshintergrund, die über einen vergleichbaren Bildungsgrad verfügen, war türkischen Müttern der ersten Generation Respekt als Sozialisationsziel deutlich wichtiger. Psychologische Autonomie, ein positives Selbstbild, Selbstkontrolle und emotionale Nähe waren den türkischstämmigen Müttern hingegen deutlich weniger wichtig. Interessanterweise verschwanden einige der Unterschiede, wenn man die deutschen Mütter ohne Migrationshintergrund mit türkischen Müttern der zweiten Generation verglich. Die Unterschiede bezüglich der Sozialisationsziele Selbstkontrolle (Fähigkeit, negative Emotio-
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nen und Impulse wie z. B. Aggression kontrollieren zu können) und emotionale Nähe blieben stabil. Bezüglich der übrigen Sozialisationsziele (psychologische Autonomie, positives Selbstbild und Respekt) unterschieden sich die Gruppen jedoch nicht mehr. Es scheint also so zu sein, dass sich manche, jedoch nicht alle Sozialisationsziele mit der Zeit in Richtung der Aufenthaltskultur verschieben. Entsprechend den Erwartungen des ökokulturellen Entwicklungsmodells hing neben dem Migrationsstatus auch der formale Bildungsgrad mit den Sozialisationszielen zusammen: Je höher die formale Bildung, desto stärker wurden psychologische Autonomie und ein positives Selbstbild betont und desto seltener wurden Respekt und Familienverpflichtungen genannt. Folglich ist eine Beziehung zwischen ökosozialen Aspekten und zentralen Werten und Normen zu vermuten. Ändert sich unter Migrationsbedingungen der ökosoziale Kontext und damit das dominante kulturelle Modell der weiteren sozialen Umwelt, hat das nach einiger Zeit auch Konsequenzen für die Sozialisationsziele der Mütter. Die Heterogenität der Migrantenmilieus in Deutschland zeigt sich auch in Studien der Sozialstrukturanalyse, die in den Sozialwissenschaften zur Einordnung innergesellschaftlicher Gruppen verbreitet sind. Dabei kommt vor allem der Milieuforschung eine wichtige Rolle zu und hier im Besonderen den Sinus-Milieustudien. Der Begriff Sinus-Milieu stammt aus der Markt- und Sozialforschung und beschreibt einen Ansatz zur Unterscheidung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Seit den 1980ern wurden in diesem Rahmen Modelle beschrieben, die sogenannte Lebenswelten (bezogen auf Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen) von Milieugruppen in Deutschland unterschieden. Im Jahr 2008 wurde vom Sinus-Institut erstmals eine Einordnung von Migranten-Milieus in Deutschland vorgenommen (Sinus Sociovision, 2008). Auf Grundlage einer repräsentativen Stichprobe ergaben sich vier Migranten-Milieus (mit jeweils zwei Untergruppen), die sich auf den beiden Dimensionen »soziale Lage« (Bildung, Einkommen, Status der Berufsgruppe) und »Grundorientierung« (traditionell, modern oder postmodern) beschreiben lassen. Interessant dabei ist, dass die soziale Lage – wie in den ökokulturellen Entwicklungsmodellen – eine wichtige Rolle spielt, wenn es um Lebensziele, Wertebilder und Lebens-
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stile geht. »Traditionsverwurzelte« Migranten-Milieus, die etwa 23 % der Migranten ausmachen und für die – ähnlich wie im Prototyp der hierarchischen Relationalität – patriarchalische und religiöse Traditionen oder Pflichtbewusstsein und das Streben nach materieller Sicherheit im Vordergrund stehen, entstammen fast ausschließlich der niedrigen soziale Lage. Demgegenüber gehören »bürgerliche« (28 %) und »ambitionierte« (24 %) Migranten-Milieus, die autonome Werte und Normen stärker betonen, durchgehend einer gehobenen sozialen Lage an. Ähnlich wie die ökokulturellen Entwicklungsmodelle zeigt die Sinus-Milieustudie, dass sich Menschen aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen und Lebensstile ähnlicher sein können als Vertreter derselben ethnischen Gruppe. So unterscheidet sich die Migrantenpopulation nicht entlang ethnischer, religiöser oder sprachgebundener Linien, sondern es ergibt sich eine differenzierte Milieulandschaft, die anhand der zwei Dimensionen gut beschrieben werden kann und die über die Differenzierung in den ökokulturellen Entwicklungsmodellen hinausgeht. Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, wie heterogen sich die Situation von Familien mit Migrationshintergrund in Deutschland darstellt. Bezüglich der Vorstellungen zu optimalem Elternverhalten und dem idealen Kind lässt sich an dieser Stelle nur mutmaßen, dass es von den traditionsverwurzelten über die bürgerlichen hin zu den ambitionierten Migranten-Milieus zu einer relativen Abnahme relationaler und zu einer relativen Zunahme autonomer Sozialisationsziele und -praktiken kommt (Pirmoradi, 2012). Im Folgenden wollen wir darauf eingehen, welche Konsequenzen sich aus der Perspektive der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie für die oben skizzierten systemischen Entwicklungstheorien ergeben. Im Wesentlichen schlagen wir eine Reihe von Erweiterungen vor, die Implikationen für die Theoriebildung und Ansätze der Beratung und Therapie mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern haben.
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1.4 Die Normativität systemischer Entwicklungstheorien – notwendige Erweiterungen aus der Perspektive der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie Denkt man im theoretischen Rahmen der systemischen Entwicklungstheorien Universalität nicht als Uniformität, sondern als Kontextsensitivität von Entwicklung und bezieht die Kultur (geteilte Bedeutungs- und Handlungssysteme) als kritische Determinante von Entwicklung mit ein, ergeben sich hinsichtlich des optimalen Systemzustands (In welcher Stimmung befindet sich das Kind gerade?) und – in der Konsequenz – hinsichtlich des Regulationsbedarfs und der optimalen Regulation Freiheitsgrade, die wir im Folgenden spezifizieren wollen. 1.4.1 Ökologische und funktionalistisch-adaptive Perspektive Wir teilen die Annahme der systemischen Entwicklungstheorien, dass Entwicklung durch die sozialen Interaktionserfahrungen entscheidend beeinflusst wird. Insofern ist der Blick auf die MutterKind-Dyade von zentraler Bedeutung, da in diesem Kontext prägende Erfahrungen gemacht werden. Allerdings sollte der Blick über die Dyade hinaus erweitert werden. Was sich im dyadischen Kontext abspielt, ist nicht nur auf Grundlage determinierter Verhaltensprogramme im Zusammenspiel mit individuellen Resilienz- und Risikofaktoren erklärbar, sondern darüber hinaus muss der kulturelle Kontext mit einbezogen werden. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den systemischen Entwicklungstheorien und unserem Ansatz besteht darin, dass beide Ansätze davon ausgehen, dass Bezugsperson und Säugling über biologisch angelegte Verhaltensprogramme verfügen, die perfekt aufeinander abgestimmt sind und im Zusammenspiel die frühkindliche Verhaltensregulation ermöglichen. Darüber hinaus gehen wir davon aus, dass die kulturellen Modelle, also die geteilten Bedeutungsmuster und Alltagspraktiken, einen entscheidenden Einfluss auf diesen Prozess haben. Erstens hat das kulturelle Modell Auswirkungen darauf, was als optimales Funktionsniveau angesehen wird. Ist es der aufmerksame und emotional positiv getönte Säugling oder ist es das ruhige, emotional neutrale und aus-
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geglichene Kind? Je nachdem, was als idealer Zustand gesehen wird, beeinflusst das kulturelle Modell zweitens (auf Grundlage einer universellen Sensitivität für die Regulationszustände des Säuglings) die Bewertung davon, in welchen Situationen Regulationsbedarf besteht. Drittens ergeben sich Konsequenzen (auf Grundlage eines universellen intuitiven Elternverhaltens und Fürsorgesystems) für die Regulationsstrategie, die die Bezugsperson des Kindes in der entsprechenden Situation zeigt. Das kulturelle Modell setzt also bei den universellen Verhaltensdispositionen an und selegiert, verstärkt oder schwächt ab. 1.4.2 Kulturspezifische Entwicklungspfade Gemeinsamer Ausgangspunkt der systemischen Entwicklungstheorien und unseres Ansatzes ist die Grundannahme, dass es im Laufe der Entwicklung zu einer Verschiebung von der Ko-Regulation durch die Bezugspersonen hin zur Selbstregulation aufseiten des Kindes kommt. Wir nehmen weiterhin an, dass die Ko-Regulation durch die Bezugsperson stark von ihrem kulturellen Modell beeinflusst wird und das mit entsprechenden Konsequenzen für die kindliche Entwicklung verbunden ist. Im Laufe der ersten Monate stabilisiert sich das Bezugsperson-Kind-System zunehmend. Es gibt stabile Systemzustände – sogenannte Attraktoren –, die von der Bezugsperson angestrebt und in der Interaktion aktiv hergestellt werden. Diese Attraktoren sind jedoch nicht universell vorgegeben, sondern sie sind Teil des kulturellen Modells. Im Prozess der Verlagerung von der KoRegulation zur Selbstregulation internalisiert der Säugling zunehmend das kulturelle Modell seiner direkten sozialen Umgebung. 1.4.3 Bewertungsmaßstäbe für Elternverhalten und kindliche Entwicklung Öffnet man sich der bisher skizzierten Perspektive, stellt sich die folgende Frage: Welches Elternverhalten und welches Entwicklungsmuster sind eigentlich »optimal«, was ist gut genug (good enough) und was ist korrekturbedürftig? Von einer kultursensitiven Perspektive aus ergeben sich weitreichende Konsequenzen dafür, wie interindividuelle Unterschiede und der Entwicklungsstand eines Kindes eingeordnet und bewertet werden. In den meisten Theorien und den daraus entwickelten aktuellen Beratungsansätzen gibt es klare
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Bezugsgrößen: Die optimale Entwicklung ist die sichere Bindung, die sich in effektiver Emotionsregulation – einschließlich des Ausdrucks negativer Emotionen und Protest in Trennungssituationen – sowie neugieriger Exploration zeigt. Das optimale Elternverhalten ist durch Sensitivität und das Lesen mentaler Zustände gekennzeichnet. Was nicht diesem Ideal entspricht, ist optimierbar und ab einem gewissen Grad der Abweichung korrekturbedürftig. Betrachtet man die Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen hinsichtlich ihrer Vorstellungen zu optimaler Entwicklung und dem besten Elternverhalten, zu Bindung und dem optimalen Umgang mit dem Säugling oder Kleinkind, hat man im Wesentlichen zwei Möglichkeiten. Entweder man misst diese Kulturen am Maßstab der klassischen entwicklungspsychologischen Theorien und kommt zu dem Schluss, dass manche Kulturen besser, andere schlechter mit ihren Kindern umgehen. Bei dieser Orientierung an absoluten Theorien und daraus abgeleiteten Standards und Kriterien besteht die Gefahr, dass Verhalten pathologisiert wird, das innerhalb des kulturellen Modells als mustergültig zu bezeichnen wäre. Die zweite Möglichkeit besteht darin, sich für eine kontextsensitive und kulturspezifische Betrachtungsweise zu öffnen und die normativen Anteile in Theorie und Praxis zu erkennen. Diese Betrachtungsweise ist unserer Meinung nach dringend notwendig, allerdings bringt sie eine Reihe von Herausforderungen mit sich. Erstens gibt man die Sicherheit auf, die diese Theorien bieten, indem sie klar definieren, was das Beste für die Bezugsperson und das Kind ist. Es gibt dann nicht mehr nur das eine Beste, sondern auch eine Reihe anderer Ideale optimalen Elternverhaltens. Zweitens kann Diagnostik nicht entlang vorgegebener Standards erfolgen, sondern muss mit Blick auf das Kind und seinen individuellen Entwicklungskontext gemacht werden. Wenn man in Betracht zieht, dass Vorstellungen und Praktiken bezüglich optimaler Entwicklung und optimalen Elternverhaltens zentrale Bestandteile des kulturellen Modells sind, gibt es, drittens, auch keine absoluten Kriterien für fehlangepasste und korrekturbedürftige Entwicklung. In diesem Sinne muss auch die Entwicklungspsychopathologie kontextualisiert werden, indem die kulturellen Modelle der Ratsuchenden und Betroffenen in den Klärungsprozess mit einbezogen werden.
2 Entwicklungspsychopathologie in der frühen Kindheit
Dieses Kapitel befasst sich mit der Fragestellung, wie man im Beratungs- und Therapieprozess zu einer angemessenen Einschätzung darüber kommt, wie das Verhalten der Eltern und des Kindes sowie die Interaktion zwischen Eltern und Kind zu bewerten sind. Insbesondere geht es darum, kritisch zu reflektieren, wie im Beratungsoder Therapieprozess die Einschätzung entsteht, das Verhalten der Eltern oder die Entwicklung des Kindes seien korrekturbedürftig oder gar pathologisch. Je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird, kommt man dabei zu unterschiedlichen Schlüssen. Aufbauend auf Kapitel 1 wird im Folgenden eine enge, normative Lesart zentraler Entwicklungstheorien, die universell gültige Maßstäbe zur Beurteilung voraussetzt, mit einer kultursensitiven Betrachtungsweise kontrastiert. Weiterhin wird herausgearbeitet, welche Konsequenzen diese beiden Blickwinkel für die Einschätzung der Beratungs- bzw. Behandlungsbedürftigkeit der Eltern und des Kindes haben. Dabei beschäftigt sich der erste Teil mit der zurzeit dominanten Lesart der Bindungstheorie, um einige Kernaussagen herzuleiten, die dann vor dem Hintergrund kulturvergleichender Befunde diskutiert werden (siehe auch Kapitel 1). Der zweite Teil befasst sich mit dem Konzept der Regulationsstörungen und konkretisiert, wie sich die diagnostischen Zugänge und damit die Bewertung der Interaktionsdynamik zwischen Eltern und Kindern je nach Perspektive unterscheiden können. Abschließend werden die verschiedenen Orientierungspunkte, die für einen kultursensitiven Zugang genutzt werden können, zusammenfassend dargestellt und diskutiert.
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2.1 Bindungstheorie: Optimales Elternverhalten und optimale Bindungsentwicklung In der aktuellen Diskussion der Bindungstheorie werden in der Regel universelle, das heißt in gleicher Weise für alle Menschen geltende Kriterien für das optimale Elternverhalten und die optimale Entwicklung von Kindern formuliert. Daraus ergibt sich ein scheinbar eindeutiger Maßstab, auf dessen Grundlage der Entwicklungsstand eines Kindes und die Angemessenheit des elterlichen Verhaltens bewertet werden können. Nach dieser Lesart gibt die Theorie eine klare Antwort auf die Frage, was optimale Entwicklung, optimales Elternverhalten und der optimale Zustand des Kindes ist (DeWolff u. van IJzendoorn, 1997; Zimmermann u. Spangler, 2008). Im Folgenden möchten wir diese Aussagen thesenartig zusammenfassen. Die erste These besagt, dass sich optimales Elternverhalten durch Sensitivität (auch Feinfühligkeit) gegenüber den Signalen des Kindes und das richtige Lesen der psychischen Zustände des Kindes auszeichnet (siehe z. B. Meins et al., 2002: mind-mindedness oder Slade, 2005: parental reflective functioning). Die feinfühlige Mutter nimmt die Signale des Kindes wahr, interpretiert sie richtig und reagiert prompt und angemessen darauf. Sie erkennt, benennt und spiegelt die inneren Zustände des Säuglings, insbesondere dessen Emotionen, Absichten und Wünsche. Sie schätzt das Kind als eigenständige Person und folgt den Initiativen und Bedürfnissen des Kindes (Ainsworth et al., 1978; Hédervári-Heller, 2012; Meins et al., 2002; Slade, 2005). Die zweite These besagt, dass die optimale Entwicklung unter geeigneten sicheren Umgebungsbedingungen in der sicheren Bindung zur primären Bezugsperson zu sehen ist. Die sichere Bindung zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass das Kind in der Lage ist, seine negativen Emotionen unter Einbezug der primären Bezugsperson effektiv zu regulieren. Sobald das Kind sich wieder in einem ruhigen und ausgeglichenen Zustand befindet, fährt es damit fort, seine Umwelt zu erkunden. Sicher gebundene Kinder zeigen ihre negativen und positiven Emotionen deutlich, beruhigen sich schnell und nutzen die Anwesenheit der Mutter als sichere Basis (secure base, Ainsworth et al., 1978), von der aus sie die Umgebung explorieren.
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Diese Dynamik wird als optimale Balance zwischen effektiver Emotionsregulation und Exploration bezeichnet. Neben der sicheren Bindung werden zwei weitere Klassen von organisierten Bindungsqualitäten beschrieben, die unsicher-ambivalente und die unsicher-vermeidende Bindung. Diese Bindungsqualitäten gelten als funktional, weil sie eine gelungene Anpassung des Kindes an seine soziale Umwelt darstellen. Allerdings werden sie darüber hinaus als weniger optimal bewertet, da – jeweils auf unterschiedliche Weise – der effektive Umgang mit emotional belastenden Situationen – die Emotionsregulation – und damit auch die Balance zwischen Emotionsregulation und Exploration beeinträchtigt ist. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder maskieren belastende Emotionen und ignorieren oder meiden in diesen Situationen die primäre Bezugsperson. Stattdessen fahren sie damit fort, ihre Umwelt zu explorieren. Das gehobene Niveau des Stresshormons Cortisol deutet darauf hin, dass diese Situationen trotz Explorationsverhalten als belastend empfunden werden. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder zeigen gegenüber der Bezugsperson ein widersprüchliches Verhaltensmuster, in dem sowohl Elemente der Annäherung und des Nähe-Suchens als auch Elemente missbilligenden und aggressiven Verhaltens vorkommen. Das führt insgesamt zu einer beeinträchtigten Emotionsregulation und gehemmtem Explorationsverhalten. Für diese beiden Formen der organisierten Bindung ist charakteristisch, dass die Kinder die Bezugsperson nicht effektiv zur Stressregulation nutzen können und dadurch in ihrem Explorationsverhalten beeinträchtigt sind. Neben diesen drei Formen der organisierten Bindung wird weiterhin eine dysfunktionale Form der Bindungsentwicklung beschrieben, der sogenannte desorganisierte Bindungstyp (Main u. Solomon, 1986; Zimmermann u. Spangler, 2008). Bei der Desorganisation ist das Kind nicht in der Lage, seine negativen Emotionen zu regulieren, sein Verhalten effektiv zu organisieren oder die Bezugsperson als Regulationshilfe zu nutzen. Häufig lassen sich Verhaltensstereotypien oder nicht zu Ende geführte bzw. bizarr anmutende Verhaltensmuster beobachten. Der desorganisierte Bindungstyp, dessen Beschreibung sich aus der Tradition der Bindungstheorie entwickelt hat, wird nicht als pathologisch klassifiziert, aber als Risikofaktor für die kindliche Entwicklung angesehen (Hédervári-Heller, 2012).
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Im Rahmen der kinderpsychiatrischen Nosologie hat sich der Begriff der Bindungsstörung entwickelt. Das Konzept hat demnach eine andere Entwicklungsgeschichte und ist aus der Beschreibung von schwer vernachlässigten oder misshandelten Kindern in der kinderpsychiatrischen Praxis entstanden. Bei der Bindungsstörung scheint die Beziehung zur primären Bezugsperson nachhaltig gestört zu sein, was häufig in Zusammenhang mit schwerwiegender Vernachlässigung, Missbrauch und Deprivationserfahrungen gebracht wird. Nach der ICD-10 werden die reaktive Bindungsstörung und die Bindungsstörung mit Enthemmung unterschieden. Boris und Zeanah (1999) schlagen eine weitergehende Differenzierung vor, die sich grob dahingehend beschreiben lässt, dass unterschieden werden sollte, inwiefern das Kind entweder von Geburt an keine Bindung zu einer Bezugsperson aufbauen konnte, ein relativ normaler Entwicklungsprozess abrupt unterbrochen wurde oder sich von Beginn an ein sehr ungünstiges Bindungsmuster entwickelt hat. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass im Bereich der Bindungsstörung momentan eine lebhafte Debatte bezüglich der Störungsbilder geführt wird und noch kein Konsens bezüglich des Vorgehens in der Diagnostik und der Intervention besteht. Allerdings gibt es einige vielversprechende Entwicklungen, zum Beispiel hinsichtlich der Formulierung von Standards bezüglich der Verhaltensbeobachtung (siehe hierzu das Eckpunktepapier der American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, AACAP Practice Parameter, 2005). Im Beratungs- und Therapieprozess gibt die Lesart der Bindungstheorie mit universellem Anspruch Sicherheit und eine klare Orientierung. Es gibt ein klares Ziel, auf das hin sowohl das Verhalten der Mutter als auch die Entwicklung des Kindes gefördert werden kann. Zur Diagnose der Bindungsqualität steht eine Vielzahl von Verfahren zur Verfügung. Dabei wird die verhaltensnahe Erfassung implizit prozeduraler Repräsentation der Bindung – beispielsweise durch den klassischen Fremde-Situation-Test (Ainsworth et al., 1978), der üblicherweise gegen Ende des ersten Lebensjahres durchgeführt wird – von der expliziten Repräsentation der Bindung unterschieden. Diese wird entweder über Interviews, wie beispielsweise das Adult Attachment Interview (AAI; Main, Kaplan u. Cassidy, 1985), über Fragebogenverfahren oder durch sogenannte Geschichtenergänzungsver-
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fahren (Attachment Story Completion Task; Bretherton, Ridgeway u. Cassidy, 1990; Gloger-Tippelt u. König, 2009) erfasst. Zur Einschätzung des Verhaltens der Bezugsperson gibt es neben den klassischen Beurteilungsskalen von Mary Ainsworth eine Reihe von Weiterentwicklungen, die unter anderem auch die Beurteilung des Elternverhaltens gegenüber älteren Kindern ermöglichen, so zum Beispiel der CARE-Index (Crittenden, 2005). Hinsichtlich der Prävention und Intervention gibt es eine Vielzahl an Programmen, die sich eng an den beiden oben ausgeführten Kernthesen orientieren, beispielsweise die Baby Lesestunden (Barth, 2000), Watch, Wait and Wonder (Cohen et al., 2003), aber auch modularisierte Mehrebenen-Programme wie STEEP™ – Steps toward effective, enjoyable parenting (Erickson u. Egeland, 2006), der Kreis der Sicherheit (Marvin, Cooper, Hoffman u. Powell, 2003) oder SAFE™ – Sichere Ausbildung für Eltern (Brisch, 2010). Wie in Kapitel 1 ausgeführt, teilen wir die Annahme der Theorien, dass Bezugsperson und Säugling über biologisch angelegte Verhaltensprogramme verfügen, die gut aufeinander abgestimmt sind und im Zusammenspiel die frühkindliche Verhaltensregulation ermöglichen. Allerdings gehen wir darüber hinaus davon aus, dass die Kultur einen entscheidenden Einfluss auf diesen Prozess hat. Betrachtet man die großen Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen hinsichtlich ihrer Vorstellungen zu optimaler Entwicklung und zum besten Umgang mit dem Kind, steht man vor einem Problem: Legt man an die Überzeugungen und Erziehungspraktiken aller Kulturen den Maßstab der engen Lesart der Bindungstheorie an, kommt man zu dem Schluss, dass manche Kulturen besser, andere schlechter mit ihren Kindern umgehen. Orientiert man sich ausschließlich an den daraus abgeleiteten Standards und Kriterien, läuft man Gefahr, Verhalten zu pathologisieren, das innerhalb des kulturellen Modells als mustergültig zu bezeichnen wäre. Diese heute sehr verbreitete Interpretation der Bindungstheorie gibt demnach einen klaren Rahmen vor, innerhalb dessen Bewertungsmaßstäbe für elterliches Verhalten und die kindliche Entwicklung formuliert werden, und schafft damit Sicherheit. Andererseits birgt sie auch die Gefahr, Verhalten von Eltern und Kindern aus anderen Kulturen unangemessen zu beurteilen.
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2.2 Die Gefahr des normativen Blicks – Erkenntnisse der kulturvergleichenden Bindungsforschung Unserer Meinung nach ist es dringend geboten, sich für eine kontextsensitive und kulturspezifische Betrachtungsweise zu öffnen und die normativen Anteile in Theorie und Praxis anzuerkennen. Entschließt man sich zu diesem Schritt, hat das zwei wichtige Konsequenzen: Zum einen ist damit die Anerkennung der Kontextsensitivität von Entwicklung und Elternverhalten verbunden, was bedeutsame Folgen für die Diagnostik und den Beratungs- und Therapieprozess hat. Zum anderen kann damit Verunsicherung und Orientierungslosigkeit einhergehen, da man in mehrerlei Hinsicht Orientierung und Halt aufgibt und sich einen neuen Referenzrahmen erarbeiten muss. Erstens gibt man die Sicherheit auf, die die weit verbreitete Lesart der Bindungstheorie bietet, indem klar definiert wird, was das Beste für Bezugsperson und Kind ist. Öffnet man sich für alternative Vorstellungen guten Elternverhaltens, gibt es nicht das eine Beste, sondern auch das andere Beste bzw. viele andere. Zweitens kann Diagnostik nicht entlang vorgegebener Standards erfolgen, sondern muss mit Blick auf das Kind und seinen Entwicklungskontext konzipiert werden. Bezieht man den Gedanken ein, dass Vorstellungen und Praktiken bezüglich optimaler Entwicklung und optimalen Elternverhaltens zentraler Bestandteil des kulturellen Modells sind, gibt es, drittens, auch keine universell gültigen Kriterien für fehlangepasste und korrekturbedürftige Entwicklungen. In der Konsequenz bedeutet das, dass auch für die Bestimmung pathologischer Entwicklungen die kulturellen Modelle der Ratsuchenden und Betroffenen in den Prozess mit einbezogen werden müssen. Aus dem Bereich der kulturvergleichenden Bindungsforschung (Otto u. Keller, 2014) gibt es Kritik an den beiden oben ausgeführten Grundannahmen der Bindungstheorie, die im Folgenden aufgegriffen und kurz ausgeführt wird, um den Blick für die Notwendigkeit einer kontext- und kultursensitiven Perspektive auf die frühkindliche Entwicklungsberatung zu schärfen. Eine Reihe von Forschungsarbeiten deutet darauf hin, dass in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Vorstellungen davon vorherrschen, wodurch sich optimales Elternverhalten und optima-
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les Kindverhalten auszeichnen. Aus dem in Kapitel 1 beschriebenen Muster optimalen Elternverhaltens in verbundenheitsorientierten Kontexten soll an dieser Stelle zunächst noch einmal das Konzept der responsiven Kontrolle herausgegriffen werden, da hier der Bezug zur Bindungstheorie besonders deutlich wird. Auf der Grundlage von Interviews, Fokusgruppen und systematischen Verhaltensbeobachtungen beschreiben Keller und Yovsi und Kollegen (Keller, 2007; Yovsi et al., 2009) responsive Kontrolle als das Herzstück optimalen Elternverhaltens bei den auf dem Land lebenden Nso im Nordwesten Kameruns. Zentrale Eigenschaft dieses Ideals ist das kontrollierende, lenkende Verhalten der Bezugspersonen im engen (Körper-)Kontakt mit dem Kind und auf einer warmherzigen Grundlage (siehe auch Carlson u. Harwood, 2003, und Harwood, Schoelmerich, Schulze u. Gonzalez, 1999, für ähnliche Konzepte in anderen Kulturen). Die Interaktion ist erwachsenenzentriert, das heißt, die Initiativen kommen überwiegend von der Mutter bzw. Bezugsperson. Dabei läuft die Kommunikation und Interaktion in einem stärkeren Maße über nonverbale Kanäle; die Strukturierung der Interaktion, das Führen und Positionieren des Körpers über Körperkontakt und Körperstimulation spielen eine herausragende Rolle. Vergleicht man das Ideal der responsiven Kontrolle mit dem Sensitivitätsideal der Bindungstheorie, besteht eine Parallele darin, dass in beiden Fällen die emotionale Involviertheit ein wichtiger Teil optimalen Elternverhaltens ist. Der größte Unterschied zwischen den beiden Konzepten ist darin zu sehen, dass die Qualität der Interaktion in Abhängigkeit davon, wer die Interaktion strukturiert, gegenläufig bewertet wird: Gutes Elternverhalten zeichnet sich laut den Ethnotheorien der Nso dadurch aus, dass die Bezugsperson die Interaktion in einem hohen Maß kontrolliert und strukturiert. Aus dieser elternzentrierten Perspektive sollten die Initiativen von der Bezugsperson ausgehen, dem Kind kommt in der Interaktion die Rolle zu, auf diese Initiativen zu reagieren und ihnen zu folgen. Dieses Verhaltensmuster wird in der klassischen Bindungsforschung als nicht sensitiv interpretiert und häufig als intrusiv-kontrollierend problematisiert oder gar pathologisiert. Intrusiv-kontrollierendes Verhalten ist negativ konnotiert, da die Mutter den kindlichen Verhaltensfluss unterbricht oder gar nicht erst zulässt und das Verhalten der Bezugs-
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person sich nicht an Zustand, Stimmung und gegenwärtiger Interessenlage des Kindes orientiert. Eine entscheidende Dimension, entlang deren man zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich der Angemessenheit von Elternverhalten kommen kann, ist demnach die der Eltern- versus Kind-Zentriertheit der Interaktion. Ein weiterer wichtiger Aspekt, hinsichtlich dessen sich Kulturen stark unterscheiden können, sind die Vorstellungen bezüglich des optimalen Erregungsniveaus des Kindes und des emotionalen Ausdrucksverhaltens von Kind und Bezugsperson. Das in westlichen Kontexten gängige Ideal besteht darin, dass Mutter und Kind sich gegenseitig anblicken, Zwiesprache halten, Freude aneinander haben und diese auch klar zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz dazu ist das Ideal der Nso in dem ruhigen und ausgeglichenen Säugling zu sehen. Negative Emotionen werden häufig schon im Entstehen durch antizipatorisches Stillen ko-reguliert, und auch starke positive Emotionen werden eher als Anzeichen von Überspanntheit und Übererregung gesehen und durch Blickvermeidung und andere erregungshemmende Interaktionsmechanismen gedämpft (Keller, 2007; Kärtner et al., 2013). Was also aus dem normativen Blickwinkel möglicherweise als Desinteresse, als flacher oder fehlender Affekt in der Interaktion oder als das Auslassen guter Gelegenheiten für optimales Elternverhalten wahrgenommen werden könnte, kann aus einer kultursensitiven Perspektive als Ausdruck eines anders gelagerten Ideals optimalen Elternverhaltens und optimalen Erregungszustandes des Kindes betrachtet werden. Das Ideal des neutral gestimmten Säuglings zeigt seine Wirkung auch in einer anderen für die Bindungstheorie wichtigen Situation, der Trennung von der primären Bezugsperson. So konnte Hiltrud Otto (2008, 2011) für die kamerunischen Nso zeigen, dass ein klar formuliertes Entwicklungsziel darin besteht, dass der Säugling neben der Mutter eine Reihe von weiteren zentralen Bezugspersonen hat und sich darüber hinaus auch von weniger vertrauten Personen versorgen lässt, ohne mit starkem negativem Affekt auf die Trennung von der Mutter und die Kontaktaufnahme der anderen Person zu reagieren. Des Weiteren zeigen die Verhaltensbeobachtungen von Otto, dass dieses Ideal schon früh entwicklungswirksam wird. Das häufigste Reaktionsmuster bei einjährigen Nso-Kindern zeichnete
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sich dadurch aus, dass die Kinder sich passiv und emotionslos verhielten und sich ohne Protest von einer ihnen unbekannten Person auf den Arm nehmen ließen. Ähnliche Befunde wie bei den Nso fanden sich auch in anderen ländlichen Bevölkerungsgruppen in Indonesien, Mexiko sowie im Iran (Broch, 1990; Friedl, 1997; Howrigan, 1988). Blendet man bei der Interpretation dieser Reaktionsmuster den spezifischen kulturellen Kontext und das kulturelle Modell der Bezugspersonen aus, würde man das beschriebene Verhaltensmuster nach klassischen bindungstheoretischen Standards als auffällig einstufen. Den unterschiedlichen kulturellen Modellen und Idealen bezüglich guten Elternverhaltens und der erwünschten und geförderten Bindungsorganisation des Kindes kommt bei einer kontext- und kultursensitiven Diagnostik folglich auch eine besondere Bedeutung zu. So muss personenunspezifisches und unmoduliertes Bindungsverhalten, bei dem Kinder sich in ähnlicher Form an Bezugspersonen wie an ihnen unbekannte Personen wenden, nicht notwendigerweise als Hinweis auf eine Pathologie interpretiert werden. Es kann gleichermaßen Ausdruck eines anders gelagerten kulturellen Modells sein, in dem dasselbe Verhaltensmuster Ausdruck einer adaptiven Bindungsstrategie ist. Durch den frühen Kontakt mit mehreren Bezugspersonen und eine entsprechende Interaktionsunterstützung hin zu einem eher emotionsfreien und ruhigen kindlichen Ausdrucksverhalten in Bindungssituationen kann folglich nicht von einem Hinweis auf eine Störung ausgegangen werden, sondern vielmehr von einem anderen Hintergrundkonzept von guter Bindung, das hier verhaltenswirksam ist. Auch sehr enge Gestaltungen von Bindungsbeziehungen, die möglicherweise symbiotisch erscheinen und zentrale Kriterien dessen erfüllen, was Brisch (2009) oder Hédervári-Heller (2012) als Bindungsstörung mit Anklammern und gehemmter Exploration beschreiben, können in anderen kulturellen Kontexten, zumindest bezogen auf die ersten Lebensjahre der Kinder, als adaptiv und förderlich gelten. Sie können im Einklang mit dem höheren Wert, der familiärer Nähe und körperlichem Kontakt in verbundenheitsorientierten Kontexten zukommt, gesehen werden. Zudem entspricht es auch der Unterstützung eines interdependenten Selbstkonzeptes,
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bei dem das Selbst als nicht getrennt von anderen erlebt wird und der Einbezug von Wünschen und Vorstellungen anderer üblich ist (Markus u. Kitayama, 1991). Ein anderer häufig genannter Kritikpunkt bezieht sich auf die Funktionsweise einer (sicheren) Bindungsbeziehung. Wir teilen die Grundannahme, dass ein wesentlicher Aspekt guter bzw. optimaler Entwicklung darin besteht, dass das Kind in der Interaktion mit zentralen Bezugspersonen negative Emotionen regulieren kann und sich in der Beziehung zu den zentralen Bezugspersonen sicher und geborgen fühlt. Laut Bindungstheorie wird dieses Ideal der optimalen Entwicklung an ehesten in einer sicheren Bindung erreicht. Die Kritik richtet sich an dieser Stelle an darüber hinausgehende Annahmen, wie beispielsweise die Annahme der Bindungs-ExplorationsBalance, die davon ausgeht, dass das Kind zur aktiven Exploration der Umwelt übergeht, sobald und solange das Gefühl der Sicherheit besteht. Manche Autoren kritisieren daran, dass die Exploration eine von mehreren Handlungsmöglichkeiten darstellt, die in unserer Kultur stark angeregt und unterstützt wird. In anderen Kulturen wird demgegenüber eine Balance mit alternativen Handlungsformen angestrebt, so zum Beispiel eine Balance zwischen der Aktivierung des Bindungsverhaltenssystems, um das Gefühl von Sicherheit herzustellen, und der ruhigen, beobachtenden Teilhabe an der sozialen Interaktion, wie sie für Familien aus Puerto Rico (Harwood, Miller u. Irizarry, 1995), Japan und anderen Kulturen (Morelli u. Rothbaum, 2007) beschrieben wird. Diese Befunde implizieren, dass reduziertes Explorationsverhalten nicht notwendigerweise auf eine beeinträchtigte Bindungs-Explorations-Balance und damit auf eine suboptimale Bindungsqualität schließen lässt, da möglicherweise andere Verhaltensweisen als das Explorationsverhalten in den Blick genommen werden müssen. Des Weiteren gehen einige Autoren der kulturvergleichenden Bindungsforschung davon aus, dass Bindung, Sicherheit und Vertrauen eine zentrale Rolle in allen kulturellen Kontexten spielen, jedoch sehr unterschiedliche Erfahrungen und Bedeutungen damit verbunden werden (Otto u. Keller, 2014). Die in unserem Kulturraum typischen Erfahrungen zeichnen sich, wie im Vorangegangenen ausführlicher beschrieben, durch die exklusive Aufmerk-
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samkeit im dyadischen Kontext mit einem Fokus auf dem inneren Erleben des Kindes und dem mimischen und sprachlich reflexiven Spiegeln des subjektiven Erlebens des Kindes aus (siehe auch Kapitel 1). Dieses Verhaltensmuster führt auf längere Sicht zu einer individualisierten und psychologisch reflexiven Bindungsrepräsentation, dem Ideal des autonomen kulturellen Modells. Bindung, Sicherheit und Vertrauen können aber auch anders erfahrbar gemacht werden: durch die ständige körperliche Nähe und Verfügbarkeit verschiedener Bezugspersonen und das Hineingeführtwerden in ein soziales Gefüge mit verbindlichen sozialen Beziehungen, auf die man sich verlassen kann, und klaren Rollenzuweisungen, die Sicherheit schaffen. Je nach kulturellem Kontext können demnach sehr unterschiedliche Vorstellung und Empfindungen darüber vorliegen, wie Bindung, Sicherheit und Vertrauen hergestellt werden können (Keller, 2013). Das daraus resultierende Elternverhalten hat direkte Konsequenzen für die Interaktionserfahrungen der Säuglinge und Kleinkinder, die von Geburt an entwicklungswirksam werden. Anhand dieser Beispiele (weitere Ausführungen hierzu finden sich z. B. bei Otto u. Keller, 2014) wird deutlich, dass ein normativer Blick zu Fehleinschätzungen des elterlichen und kindlichen Verhaltens führen kann. Es werden dann Annahmen getroffen, die unter Umständen weit an den kulturellen Modellen der Eltern und den Alltagserfahrungen der Kinder vorbeigehen. Es steht außer Frage, dass nicht alle alternativen Vorstellungen und Handlungsroutinen gleichermaßen angemessen sind. Allerdings bewahrt die Berücksichtigung des kulturellen Modells im Diagnoseprozess den Berater und die Therapeutin davor, Desinteresse, Vernachlässigung, Inkompetenz oder Fehlentwicklungen zu diagnostizieren, wo eigentlich andere kulturelle Lösungen für die universelle Entwicklungsaufgabe des Aufbaus erster sozialer Beziehungen handlungsleitend sind. Vergleichbare Ansätze finden sich in allgemeinerer Form in der transkulturellen Psychiatrie (Wohlfahrt u. Zaumseil, 2006), häufig verbunden mit Kritik an dem Universalitätsanspruch der internationalen Klassifikationssysteme zur Diagnose psychischer Erkrankungen (de Jong, 2010). Im Folgenden soll nun mit dem Konzept der Regulationsstörungen der zweite wichtige Ansatz zur entwicklungspsychopathologi-
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schen Beschreibung von Phänomen in der frühen Kindheit dargestellt und aus kultursensitiver Sicht eingeordnet werden.
2.3 Das Konzept der Regulationsstörungen: Die Bedeutung ko-regulativer Interaktionsprozesse Wie bereits beschrieben, ist der Fokus auf Regulationsprozesse zentral für entwicklungspsychologische Erklärungsmodelle zur Beschreibung von Interaktionen zwischen Bezugspersonen und Kindern. Neben der Bedeutung als Entwicklungstheorie wird mit dem Konzept der Regulationsstörung eine der bedeutenden Theorien für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Problemen und Störungen in der frühen Kindheit bereitgestellt (Borke, 2011; Papoušek et al., 2004). Der im Folgenden dargestellte Ansatz fußt in zentralen Teilen auf den in Kapitel 1 dargestellten Theorien zur basalen adaptiven Verhaltensregulation und zum intuitiven Elternverhalten und wurde vor allem durch Mechthild Papoušek und ihre Arbeitsgruppe formuliert und beforscht (z. B. Papoušek et al., 2004). Demnach kann von einer Regulationsstörung gesprochen werden, wenn sich dauerhaft negative und sich aufschaukelnde Feedbackschleifen zwischen dem Säugling bzw. Kleinkind und der Bezugsperson manifestieren, bei denen der Säugling hinsichtlich seiner Regulationsherausforderungen die benötigte abgestimmte regulatorische Unterstützung entbehren muss (z. B. eine ko-regulierende Beruhigung durch die Bezugsperson, um so zur inneren Ruhe gelangen zu können) und bei den Bezugspersonen eine Stärkung des Vertrauens in die eigenen Kompetenzen ausbleibt.1 Den Regulationsstörungen liegt eine Symptomtrias zugrunde, bei der der Fokus auf dem Kind und seinen Regulationsfähigkeiten bzw. Ko-Regulationsbedürfnissen, auf
1 Eine ältere, klassische sowie nach wie vor verbreitete Definition des Begriffs der Regulationsstörungen im Zusammenhang mit Schwierigkeiten von Säuglingen und Kleinkindern legt den Fokus ausschließlich auf innere Prozesse beim Säugling oder Kleinkind. Es stehen dabei Auffälligkeiten, bei denen die Kinder von Geburt an leicht irritierbar sind und Schwierigkeiten haben, Erfahrungen und/oder Reize zu verarbeiten, im Mittelpunkt (Greenspan, 1992; Greenspan u. Weider, 1993).
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
dem aktuellen Erleben und Befinden der Bezugsperson sowie auf der zwischen beiden stattfindenden Interaktion liegt. In diesem Abschnitt sollen das Pathologiekonzept sowie die damit zusammenhängenden diagnostischen Möglichkeiten näher dargestellt und im Sinne von Kultursensitivität auf ihre universelle Gültigkeit hin überprüft werden. In Kapitel 1 wurde bereits ausgeführt, dass bei der Theorie der basalen adaptiven Verhaltensregulation von universellen biologischen Prädispositionen aufseiten von Kind und Bezugsperson ausgegangen wird. Dabei werden normative ko-regulatorische Kompetenzen der Bezugspersonen vorausgesetzt, die zu einer guten und gesunden Entwicklung beitragen und vor Störungen schützen können. Was heißt das nun konkret für entwicklungspsychopathologische und diagnostische Prozesse bezogen auf eine beratende bzw. therapeutische Arbeit mit Eltern von Säuglingen und Kleinkindern? Störungen entstehen durch eine unzureichend abgestimmte Interaktion zwischen Bezugspersonen und Kind. Neben der gemeinsamen Interaktion werden die Befindlichkeiten der Bezugspersonen und des Kindes mit einbezogen. So können Säuglinge beispielsweise über mehr oder weniger ausgeprägte Selbstregulationsmöglichkeiten verfügen, die die ko-regulatorische Unterstützung der Eltern in sehr unterschiedlichem Maß fordern. Als Ursachen können beispielsweise post-, peri- oder pränatale Komplikationen (z. B. Frühgeburt oder Geburtskomplikationen) oder sensorische Integrationsprobleme (Schwierigkeiten und Überforderungen bei der Reizverarbeitung) angesehen werden. Aufseiten der Bezugspersonen können unterschiedliche Faktoren dazu führen, dass ihr Zugang zu ihren intuitiven elterlichen Kompetenzen verstellt ist. Dies kann beispielsweise durch ausgeprägte elterliche Sorgen (z. B. Geldnöte), Überforderungssituationen, Paarkonflikte oder auch psychische Erkrankungen bedingt sein. Dadurch können die Bezugspersonen einen Mangel an kindbezogenen und entsprechend abgestimmten koregulatorischen Unterstützungen zeigen, weil sie vielleicht nicht die Ruhe und Kapazität haben, die Signale des Säuglings bzw. Kleinkindes abwartend wahrzunehmen und intuitiv zu reagieren. Auch eine ausgeprägte Intellektualisierung, ein starker Perfektionismus oder Zweifel und die Sorge vor elterlichem Versagen können den Zugang zum intuitiven Verhalten behindern und den Interaktionsfluss beeinträchtigen.
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Ein Säugling, der einen erhöhten ko-regulatorischen Bedarf hat, kann durch Eltern, die einen guten Zugang zu ihren intuitiven Kompetenzen haben, unter Umständen so unterstützt werden, dass sich keine problematischen Verhaltensweisen etablieren. Ebenso können Säuglinge, die über ausreichende Selbstregulationskompetenzen verfügen, eine Beeinträchtigung bei den intuitiven Kompetenzen der Eltern so kompensieren, dass es nicht zu Schwierigkeiten und Störungen kommt. Eine Gefahr für einen pathologischen Verlauf ist vorhanden, wenn auf beiden Seiten Belastungen oder besondere Bedürfnisse vorliegen. Dann kann es zu sogenannten Teufelskreisen kommen. Ein solcher ist vereinfacht in Abbildung 1 dargestellt. Bei diesem Modell kann (und soll) nicht festgelegt werden, was oder wer der vermeintliche Ausgangspunkt einer Problematik ist. Es wird von einem sich wechselseitig beeinflussenden Verhalten der beteiligten Personen ausgegangen, zu dem Vorläuferentwicklungen bestehen. Das Beispiel in Abbildung 1 bezieht sich auf Schreiproblematiken, ist jedoch auf andere Regulationsproblematiken übertragbar. Für
Bezugsperson: Frust- und Ohnmachterleben
Kind weint verstärkt
Kind weint
Bezugsperson: Erschwerter Zugang zu intuitiven Kompetenzen
Mögliche Einflussfaktoren Umfeld Vergangenheit Aktuelle Belastungen Temperament Gesundheit Hunger Langeweile Überreizung
Mögliche Einflussfaktoren Paarbeziehung Umfeld Vergangenheit Aktuelle Belastungen Gesundheit
Abbildung 1: Darstellung eines Teufelskreises (negatives Feedback, Dysregulation) im Rahmen einer Regulationsstörung (nach Papoušek et al., 2004)
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den willkürlich gewählten Ausgangspunkt (Kind weint) sind mehrere Einflussfaktoren möglich, von denen einige im oberen Kasten angedeutet sind. Die mit dem Säugling interagierende Bezugsperson kann nur bedingt oder erschwert auf ihre intuitiven elterlichen Kompetenzen zurückgreifen. Auch dies kann unterschiedliche Ursachen haben, wie im unteren Kasten der Abbildung skizziert wird. Es kommt in der Folge zu einem negativen Feedback bzw. einer Dysregulation zwischen den Signalen des Kindes und den Interaktionsangeboten der Bezugsperson. Dies führt zu einer zunehmenden Frustration des Säuglings, weil er keine (ausreichende) ko-regulatorische Unterstützung erfährt. In der Folge kommt es zur Frustration der Bezugsperson, weil positive Feedbacksignale des Säuglings ausbleiben, die eine Bestätigung für die elterliche Kompetenz geben und somit zu Selbstvertrauen und Sicherheit führen. Einer solchermaßen verunsicherten Bezugsperson fällt es wiederum noch schwerer, einen guten Zugang zu ihren intuitiven Kompetenzen zu erlangen. So können zunehmend aufschaukelnde Prozesse der gegenseitigen Enttäuschung entstehen, die den Kern der Regulationsstörung nach Papoušek (2004) ausmachen. Aufseiten des Kindes manifestieren sich diese in einer pathologischen Ausprägung jeweils altersangemessener Regulationsherausforderungen, wie z. B. der Koordination innerer Zustände von Ruhe und Unruhe, von Wachsein, Müdewerden und In-den-Schlaf-Finden sowie der Auseinandersetzung mit Begrenzungen im Kleinkindalter. Entsprechend kann es unter anderem zu übermäßigem Schreien, Schlafproblemen oder exzessivem Trotzverhalten und Schwierigkeiten in Grenzsetzungssituationen kommen. Auf diese Themen wird in Kapitel 6 vertiefend eingegangen, weil sie zentrale Anliegen einer Beratungs- bzw. Therapiearbeit mit Eltern von Säuglingen und Kleinkindern darstellen. Das grundlegende Pathologiekonzept kann als kulturübergreifend angesehen werden, da davon ausgegangen wird, dass eine dauerhafte Interaktionsbeeinträchtigung zwischen Bezugspersonen und Kind generell zu Schwierigkeiten und kindlichen Symptomen führt. Allerdings ist es stark kulturabhängig, was als problematische Interaktion oder KoRegulation angesehen wird und wie elterliche oder kindliche Verhaltensweisen definiert werden, die dazu beitragen. Im Folgenden sollen
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zunächst die allgemeine Diagnostik von Regulationsstörungen sowie daraus ableitbare Interventionsgrundlagen im Mittelpunkt stehen. 2.3.1 Diagnostik und Interventionsgrundlagen Ebenso wie das Pathologiekonzept der Regulationsstörungen unterschiedliche Ebenen und deren Zusammenspiel in den Blick nimmt, sollte auch beim Prozess der Diagnostik auf die angesprochenen Bereiche eingegangen werden, also auf das Kind, die Bezugspersonen und die Interaktion zwischen den beiden. Dabei kommt auch der persönlichen Begegnung im Beratungs- bzw. Therapiegespräch eine zentrale Bedeutung zu. Hier können die jeweiligen Familienmitglieder vom Berater bzw. von der Therapeutin jeweils einzeln sowie in der gemeinsamen Interaktion erlebt werden. Durch explorierende Fragen zur aktuellen Situation, zu möglichen prä-, perioder postnatalen Schwierigkeiten sowie zu elterlichen Belastungen können diagnostische Einblicke gewonnen werden. Neben der direkten Beobachtung stellt das Videografieren von Eltern-Kind-Interaktionen mit anschließender Analyse von Videoausschnitten ein wichtiges diagnostisches Instrument dar (Bünder, Sirringhaus-Bünder u. Helfer, 2009; Hawellek, 2012). Ergänzend können Fragebögen (z. B. zum Wohlbefinden und zur Belastung der Eltern, zur Depressivität, zur Partnerschaftszufriedenheit und zum kindlichen Temperament) eingesetzt werden. Aus den so gewonnenen diagnostischen Erkenntnissen leitet sich der weitere Beratungs- bzw. Therapieverlauf ab, bei dem Schwerpunkte hinsichtlich der verschiedenen Ebenen (Kind, Eltern, Interaktion) gelegt werden können (zur Darstellung eines detaillierten Prozessmodells der Beratung siehe Kapitel 6). Grundanliegen der Interventionen bei Regulationsstörung ist, dass aus den dysregulativen »Teufelskreisen« mehr und mehr sogenannte ko-regulative »Engelskreise« mit positiven Feedbackschleifen werden. Wie in Abbildung 2 beispielhaft dargestellt, ist ein Engelskreis dadurch gekennzeichnet, dass das Verhalten des Kindes und das der Bezugsperson so aufeinander abgestimmt sind, dass im Zusammenspiel beidseitige Entspannung entstehen kann. Im Beispiel kann die Bezugsperson das weinende Kind etwas beruhigen (z. B. durch Körperkontakt, eine entspannende Ansprache oder durch die Übertragung der eigenen inneren Ruhe). Die Bezugs-
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Kind beruhigt sich (vollständig)
Bezugsperson: Vertrauen in Kompetenz wächst
Kind wird ruhiger
Kind weint
Bezugsperson beruhigt
Mögliche Einflussfaktoren Umfeld Vergangenheit Aktuelle Belastungen Temperament Gesundheit Hunger Langeweile Überreizung
Mögliche Einflussfaktoren Paarbeziehung Umfeld Vergangenheit Aktuelle Belastungen Gesundheit
Abbildung 2: Darstellung eines Engelskreises (positives Feedback, Ko-Regulation) im Rahmen einer Regulationsstörung (nach Papoušek et al., 2004)
person bekommt so eine positive Rückmeldung über ihre elterlichen Kompetenzen, durch welche sich ihr Vertrauen und ihre Ruhe weiter steigern. Das gewonnene Selbstvertrauen und die innere Ruhe übertragen sich auf den Säugling, sodass dieser sich weiter beruhigen kann und schließlich so weit ko-reguliert ist, dass er aufhört zu schreien (zu konkreten Interventionsmöglichkeiten bezogen auf zentrale Anliegen von Eltern mit Kindern von null bis drei Jahren siehe Kapitel 6). 2.3.2 Eine Konzeptbeschreibung aus kultursensitiver Sicht In Kapitel 1 wurde bereits ausgeführt, dass es aus unserer Sicht bei der basalen adaptiven Verhaltensregulation und beim intuitiven Elternverhalten keine universell gültigen Definitionen davon geben kann, wann ein optimaler Erregungszustand des Säuglings oder Kleinkindes vorliegt, was optimales Elternverhalten ausmacht oder wie eine optimale Eltern-Kind-Interaktion gestaltet ist. Was bedeutet es nun für entsprechende Pathologiekonzepte und diagnostische Möglichkeiten, wenn davon auszugehen ist, dass sich je nach
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kulturellem Kontext unterschiedliche Konzepte von Erziehung, von Elternverhalten und Eltern-Kind-Interaktionen als adaptiv erwiesen haben? Aufgrund der in diesem Buch vertretenen Perspektive einer Öffnung von normativen Konzepten hin zu einer kultursensitiven Betrachtungsweise erscheint es für eine entwicklungspsychopathologische Einordnung sinnvoll, das Wohlbefinden der Bezugspersonen und des Kindes als zentrale Grundlage heranzuziehen. Das bedeutet auch, vermeintlich allgemeingültige Kriterien, die oftmals eine starke Zentrierung auf westliche Konzepte aufweisen, zu hinterfragen und unter kulturellen Gesichtspunkten zu prüfen. So wurden beispielsweise in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (2007, S. 357 ff.) bezogen auf das Säuglingsalter für Ein- und Durchschlafstörungen unter anderem die folgenden Kriterien angegeben: »Einschlafen nur mit Einschlafhilfe der Eltern und Einschlafdauer im Durchschnitt mehr als 30 Minuten sowie für eine Durchschlafstörung: durchschnittlich mehr als 3-maliges nächtliches Aufwachen in mindestens 4 Nächten der Woche verbunden mit der Unfähigkeit, ohne elterliche Hilfen allein wieder einzuschlafen, und nächtliche Aufwachperioden im Durchschnitt länger als 20 Minuten.« Auf dieser Grundlage könnte eine Konstellation, bei der Säuglinge ohne den Körperkontakt anderer Familienmitglieder nicht einschlafen, problematisiert werden. In verbundenheitsorientierten Kontexten ist dies jedoch die kulturelle Regel. Wenn Familien bei Problemen Unterstützung in Beratungs- oder Therapieeinrichtungen suchen, stellt sich die Frage, wie im Rahmen des Bezugsmodells der Regulationsstörungen eine Problembeschreibung und -diagnostik auf nicht normative Weise gestaltet werden kann. Im Gegensatz zur klassisch verstandenen Bindungstheorie gibt es beim Konzept der Regulationsstörungen weniger normative Vorstellungen über optimales Elternverhalten und optimale Entwicklungsverläufe. Entscheidend ist das Konzept von Fit bzw. Misfit zwischen den Regulationsbedürfnissen des Kindes und dem Grad der Ko-Regulation durch die primäre Bezugsperson (Largo u. Benz-
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Castellano, 2004; Papoušek, 2004). Die grundlegenden Annahmen des Modells lassen sich also auch nicht normativ und damit in unserem Sinne kultursensitiv anwenden, wenn bei der Definition von gut abgestimmter Regulation zwischen Eltern und Kind das jeweilige kulturelle Modell bzw. das beschriebene kulturelle Ideal der Familie zugrunde gelegt wird (es also verschiedene Formen gut abgestimmter Regulation gibt). Wie eine Annäherung an das kulturelle Modell im Allgemeinen und das kulturelle Ideal von Eltern im Einzelfall aussehen kann, wird in Kapitel 2 sowie in Kapitel 6 näher ausgeführt. Wie bereits dargestellt, teilen wir die Annahme, dass die Bezugsperson und der Säugling über biologisch angelegte universelle Verhaltensprogramme verfügen, die aufeinander abgestimmt sind und im Zusammenspiel die frühkindliche Verhaltensregulation ermöglichen. Allerdings gehen wir zudem davon aus, dass das kulturelle Umfeld einen entscheidenden Einfluss auf diesen Prozess hat. Zum einen hat das kulturelle Modell einen Einfluss darauf, was als optimales Funktionsniveau des Kindes angesehen wird. Zum anderen beeinflusst das kulturelle Modell in Abhängigkeit davon auch die Einschätzung, in welchen Situationen Regulationsbedarf durch die Bezugspersonen besteht. Zudem lenkt das kulturelle Modell die Regulationsstrategie, die die Person in der entsprechenden Situation zeigt. Ein kultursensitives Pathologie- und Diagnostikkonzept bedarf hier einer Erweiterung der klassischen Theorien, die durch einen starken Fokus auf der prototypischen Autonomieorientierung gekennzeichnet sind. So lässt sich die in vielen nicht westlichen ländlichen Kontexten beobachtbare Elternzentrierung in der Interaktion nur schwer mit den autonomieorientierten Vorstellungen einer auf die geäußerten Bedürfnisse des Kindes hin ausgerichteten Interaktionsweise in Einklang bringen. Beispielsweise zeigt sich, dass Eltern die kindlichen Signale und Initiativen nicht abwarten, um dann angemessen auf diese einzugehen, sondern die Interaktion durch von ihnen initiierte Kommunikations- oder Beruhigungsangebote lenken und leiten. Ein autonomieorientiert sozialisierter Berater bzw. Therapeut ordnet die Eltern-Kind-Interaktionen einer verbundenheitsorientierten Familie aufgrund der mangelnden Kindzentriertheit dann möglicherweise als problematisch und regulationsgestört ein, obwohl diese im elterlichen kulturellen System durchaus passend sein können.
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Die Herausforderung besteht darin, die jeweiligen kulturellen Konzepte der Eltern mit zu erheben und in die Diagnostik der Familiensituation mit einzubeziehen (zur konkreten Umsetzung siehe Kapitel 6). So kann es bei einer autonomieorientierten Familie Teil der Problematik sein, dass die Eltern sich nicht genügend Zeit nehmen, um die Initiativen des Kindes abzuwarten und auf diese einzugehen. Bei einer Familie mit einem verbundenheitsorientierten Hintergrund besteht eine Regulationsproblematik eher darin, dass die Eltern nicht angemessen in der Lage sind, Lenkungs- und Leitungsmomente in der Interaktion so zu gestalten, dass sie dem Kind Sicherheit und Halt geben können. Letztlich ist beides bedeutsam und auch Bestandteil jeder Eltern-Kind-Beziehung, genauso wie immer auch autonomie- und verbundenheitsorientierte Elemente vorhanden sind. Dennoch zeigen sich deutliche kulturell bedingte Schwerpunktsetzungen, die eine variable Herangehensweise in der Diagnostik erfordern. 2.3.3 Kulturspezifische Regulationsherausforderungen Für eine entwicklungspsychopathologische und diagnostische Betrachtung und Einordnung von Interaktions- bzw. Regulationsprozessen ist es zusätzlich zu den bisher genannten Punkten bedeutsam, mit einzubeziehen, dass sich unterschiedliche kulturgebundene Regulationsherausforderungen für Säuglinge und Kleinkinder beschreiben lassen. Es geht dabei um »Regulationszumutungen«, mit denen Kinder konfrontiert werden und die die Funktion haben, kulturell bedeutsame Fähigkeiten zu unterstützen. Sie sind folglich für das jeweilige kulturelle Modell adaptiv, werden jedoch von Personen mit anderen kulturellen Hintergründen unter Umständen als unangemessen, komisch oder sogar schädlich erlebt. Zudem kann es zu Übersteigerungen von kulturgebundenen Regulationsherausforderungen kommen, die Regulationsproblematiken nach sich ziehen können. Dies soll im Folgenden anhand von Beispielen verdeutlicht werden. Es ist in Kontexten der westlichen Mittelschicht nicht unüblich und wird auch von verbreiteten Ratgebern empfohlen, dass Kinder früh in einem eigenen Bett und unter Umständen auch in einem eigenen Zimmer schlafen (Kast-Zahn u. Morgenroth, 2007). Zudem
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ist es für viele Eltern ein Ziel, dass ihre Kinder lernen, auch mit sich allein zufrieden zu sein, was beispielsweise dadurch unterstützt wird, dass bereits Säuglinge angehalten werden, sich mit Spielobjekten für eine gewisse Zeit allein zu beschäftigen. Dies alles stellt große Herausforderungen an die kindlichen Selbstregulationsfähigkeiten und ist ein Elternverhalten, das in verbundenheitsorientierten Kontexten äußerst unüblich ist (LeVine et al., 1994; Harkness u. Super, 1992) und Befremden darüber auslöst, dass ein Säugling so lange ohne Körperkontakt und die Anwesenheit anderer Menschen auskommen soll. Übersteigerungen dieses Elternverhaltens können darin gesehen werden, dass Eltern ihre Kinder einem kaum zu bewältigenden Ausmaß an Selbstregulationsherausforderungen aussetzen und zudem die Stresssignale des Kindes missachten sowie keine ausreichenden Kompensationsmöglichkeiten anbieten. Beispielhaft zeigen sich solche Überforderungen der kindlichen Anpassungsfähigkeit, wenn von einem Säugling erwartet wird, dass er sich über längere Zeit allein beschäftigt, und die Eltern dabei kaum oder erst spät und dann verständnislos und genervt auf sein Quengeln eingehen oder wenn Kinder früh lernen sollen, allein zu schlafen, und auch tagsüber wenig Zuwendung und Körperkontakt angeboten wird. Auch in verbundenheitsorientierten Kontexten finden sich Regulationsherausforderungen im Umgang mit Kindern, die in autonomieorientierten Kontexten Befremden und Irritationen auslösen. In diesen Zusammenhang lassen sich beispielsweise Trainings in Form von ausgeprägten Körperstimulationen einordnen, wie sie in vielen nicht westlichen ländlichen Kontexten üblich sind (Keller et al., 2009). Durch diese körperliche Stimulation werden die Kinder bereits früh motorisch (z. B. bezogen auf das Sitzen und das freie Gehen) trainiert, um schon in jungen Jahren bei der Arbeit im Haushalt unterstützen zu können. Den Kindern stellt sich hier die Herausforderung, die mit den Stimulationen zusammenhängenden intensiven Körperempfindungen zu integrieren und zu regulieren. In autonomieorientierten Kontexten erscheinen diese Formen der zum Teil recht ausgeprägten Körperstimulation möglicherweise als intrusiv oder auch gefährdend (im Sinne eines körperlichen Überforderns oder sogar Schüttelns von Säuglingen). Hier ist bei der diagnosti-
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schen Einschätzung zu unterscheiden zwischen intensiven körperlichen Stimulationen, die aufgrund von Unwissenheit und Aggression ausgeführt werden (keine kulturell adaptive Strategie), und einer von den Eltern durchgeführten und begründeten Trainingsmaßnahme, die in ihrem kulturellen Kontext Teil eines guten Elternverhaltens ist (kulturell adaptive Strategie). Übersteigerungen, die Ausdruck bzw. Ursache von pathologischen Regulationsprozessen sind, können hier beispielsweise in zu starken körperlichen Regulationsherausforderungen verbunden mit einer körperlichen Züchtigung bei vermeintlichem Fehlverhalten der Kinder gesehen werden. Im folgenden Abschnitt werden nun Orientierungsmöglichkeiten für eine kultursensitive Diagnostik näher ausgeführt.
2.4 Orientierungspunkte für ein kultursensitives Vorgehen im Diagnoseprozess Löst man sich von den normativen Interpretationen der Theorien und den daraus abgeleiteten Diagnose- und Interventionsverfahren, um der Kultur- und Kontextsensitivität von Entwicklung gerecht zu werden, geht damit gleichzeitig die Orientierung verloren, die diese Sicht- und Verfahrensweisen bieten. Wie in den vorangegangen Abschnitten dargestellt, gibt es eine Vielzahl von Studien, die verdeutlichen, dass Elternverhalten und kindliche Entwicklungsmuster, die aus normativer Sicht defizitär erscheinen, im Lichte alternativer kultureller Modelle und damit verbundener Erziehungsideale durchaus angemessen sein können. Im Folgenden sollen verschiedene Zugänge und Orientierungspunkte für kultursensitive Diagnoseprozesse dargestellt und kritisch bewertet werden. Beispielhaft werden die beraterische bzw. therapeutische Intuition, Verfahren objektiver Verhaltensbeobachtungen und die Analyse des kulturellen Modells der Ratsuchenden und Klienten besprochen. Die beraterische bzw. therapeutische Intuition spielt in vielen Fällen eine wichtige Rolle im Beratungs- und Therapieprozess. Geht es allerdings darum, bei Familien aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu beurteilen, ob elterliches und kindliches Verhalten »angemessen« und vor allem »entwicklungsangemessen« sind, ist der Zugang über die Intuition nicht ausreichend. Intuitionen sind, gerade
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was die Erziehung betrifft, stark vom jeweiligen Zeitgeist und den vorherrschenden Werten und Normen geprägt. Überwiegend sind sie nicht biologisch vorgegeben, sondern Ausdruck unserer verinnerlichten kulturellen Überzeugungen und Praktiken. So geht es also gerade darum, sich von den »natürlich« erscheinenden Intuitionen frei zu machen und einen offenen Blick für das zu gewinnen, was uns an Neuem begegnet (siehe dazu auch Kapitel 5). Durch die Öffnung für und Auseinandersetzung mit alternativen kulturellen Konzepten und Umgangsweisen werden bedeutsame Erfahrungen gemacht, die zur Grundlage einer neuen und erweiterten Form der Intuition werden können. In diesem Prozess können erfahrene Berater und Therapeutinnen von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern ein Gefühl dafür bekommen, ob sich eine Interaktion in einem stimmigen Fluss befindet und für die Beteiligten passend und angemessen wirkt, ohne diese zwangsläufig an normativen Kriterien zu messen. Daneben bieten objektive Beobachtungsverfahren eine weitere Herangehensweise, die Angemessenheit von Elternverhalten zu klären. Der Grundgedanke dabei ist, objektive und klar zu identifizierende Ausdruckszeichen aufseiten des Säuglings oder Kleinkindes zu nutzen, um den Zustand des Kindes und damit die Angemessenheit des Ko-Regulationsverhaltens der Bezugsperson zu beurteilen. Die objektive Verhaltensbeobachtung wird hierbei in Abgrenzung zur subjektiven Beurteilung von Verhalten verstanden, wie sie in den verschiedenen Skalen zur Beurteilung der Sensitivität zum Ausdruck kommt (z. B. bei Ainsworth et al., 1978, oder auch im CARE-Index von Crittenden, 2005). In den Verfahren zur subjektiven Beurteilung geht es unter anderem darum, die Angemessenheit des mütterlichen Verhaltens einzuschätzen. Wie aus den bisherigen Ausführungen ersichtlich ist, ist die Beurteilung der Angemessenheit, sofern es sich nicht um extreme Verhaltensweisen handelt, in hohem Grade normativ und kulturspezifisch. Objektive Beobachtungsverfahren wählen einen anderen Zugang: An erster Stelle steht der Versuch, das beobachtete Verhalten zunächst zu beschreiben und noch nicht zu bewerten (siehe auch Ziegenhain et al., 2004). Manche Verfahren versuchen darüber hinaus, eindeutige Ausdruckszeichen zu identifizieren, die gut beobachtet und eindeutig interpretiert werden können.
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Ein vielversprechendes Verfahren, das sich zur kulturunabhängigen Einschätzung des kindlichen Zustandes eignet und das in manchen Präventions- und Interventionsansätzen genutzt wird, geht auf die sogenannten Feinzeichen von Offenheit und Belastetheit zurück, wie sie von Als (1984) und Brazelton (1984) beschrieben wurden. Diese Feinzeichen sind verhaltensnah für vier verschiedene Verhaltenssysteme definiert, die hierarchisch aufeinander aufbauen und im Entwicklungsverlauf auseinander hervorgehen. Nach dem theoretischen Modell organisiert und stabilisiert sich zunächst das autonome System (zentral sind Körpertemperatur, Atmung, Kreislauf, Verdauung), darauf aufbauend das motorische System (Körperspannung und -haltung), danach das System der Schlaf- und Wachzustände (Schlafarten, verschiedene Erregungsniveaus im Wachsein) und zuletzt das System der kognitiven Aufmerksamkeit und sozialen Aufgeschlossenheit. In dem dazugehörigen Stressmodell definieren Als und Brazelton (z. B. Brazelton, 1984) Feinzeichen für drei Zustände der psychophysischen Systeme bei Säuglingen: Zeichen von Offenheit, wenn sich der Säugling in einem ausgeglichenen Zustand befindet (z. B. rosige Haut, weiche, gut modulierte Bewegungen, wacher und aufmerksamer Zustand, lautieren, Kopf zuwenden, Blickkontakt herstellen); Zeichen von Selbstregulation, wenn der Säugling damit beschäftigt ist, Belastetheit aktiv zu regulieren bzw. zu verarbeiten (z. B. Hände und Füße zusammenlegen, Hand in den Mund stecken, sich an sich selbst festhalten, Fäustchen ballen, Blick abwenden); Zeichen von Belastetheit (z. B. Blick abwenden oder Durchstarren, quengeln bzw. schreien, unkoordinierte und ausfahrende Bewegungen, sich von der Bezugsperson wegdrücken, marmorierte Haut), wenn der Säugling starken Stress empfindet und auf die Ko-Regulation von Bezugspersonen angewiesen ist. Eine Orientierung, um die Angemessenheit des mütterlichen Verhaltens einzuschätzen, bestünde demnach darin, zu beobachten, inwiefern das mütterliche Verhalten dazu führt, das Kind in einen balancierteren Systemzustand zu bringen, also von der Belastetheit in die Selbstregulation oder von der Selbstregulation in die Offenheit. Auf diese Weise bezieht sich die Beurteilung der Angemessenheit mütterlichen Regulationsverhaltens direkt auf das Verhalten des
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Kindes und nicht auf die Aussagen normativer Theorien oder der eigenen kulturell geprägten Intuition. Neben der professionellen Intuition und den objektiven Verfahren zur Verhaltensbeobachtung ist die zentrale Bezugsgröße im Diagnoseprozess das kulturelle Modell der Rat suchenden Person selbst. Es ist einer unserer Leitgedanken, dass darin der Schlüssel zum Verständnis und zur Beurteilung der Angemessenheit der elterlichen Haltung und der elterlichen und kindlichen Verhaltensmuster liegt. Wie jedoch erschließt sich das kulturelle Modell der Klientinnen und Klienten? In der Tat ist dieser Schritt mit einer Reihe nicht unerheblicher konzeptioneller und pragmatischer Schwierigkeiten verbunden. In der Praxis bieten sich verschiedene Zugangsmöglichkeiten, die im Folgenden ausgeführt und kritisch diskutiert werden. Als eine erste Möglichkeit liegt nahe, sich an den in Kapitel 1 eingeführten Prototypen von Kultur zu orientieren. Allerdings wird dieser Versuch in den meisten Fällen scheitern: Die Reduktion auf zwei Prototypen vereinfacht die Lebenswelt von Menschen und Familien auf eine derartig drastische Weise, dass damit mehr verloren als gewonnen wird. Statt eines Beratungs- und Therapieprozesses, der sich an dem hier als einseitig kritisierten Prototypen der psychologischen Autonomie orientiert, hätte man dann einen gleichermaßen einseitigen Zugang, der sich an dem diametral entgegengesetzten Prototypen der hierarchischen Relationalität orientiert. Dieser polarisierende Zugang birgt die Gefahr der Kulturalisierung (oder auch Ethnisierung), da Personen aufgrund bestimmter Merkmale (in diesem Falle der Herkunft) ungeprüft einer vermeintlich homogenen sozialen Gruppe zugeordnet werden. Der große Wert der Prototypen liegt vielmehr darin, für alternative kulturelle Modelle zu sensibilisieren und die eigenen Gewissheiten und Intuitionen infrage zu stellen. Die beiden Prototypen spannen demnach einen Raum kultureller Modelle auf und geben eine Suchrichtung vor, liefern darüber hinaus jedoch keine direkt umsetzbaren Rezepte für das angemessene Vorgehen im Beratungs- und Therapieprozess. In Kapitel 1 wurde neben den beiden prototypischen kulturellen Modellen die Vielzahl alternativer kultureller Modelle angesprochen, die in den meisten Gesellschaften nebeneinander bestehen und verhaltens- und entwicklungswirksam werden. Der Grundgedanke
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einer kultursensitiven Diagnostik besteht demzufolge darin, sich dem kulturellen Modell der Klienten über die zur Verfügung stehenden Informationsquellen anzunähern. Dabei können sozialstrukturelle Rahmenbedingungen (Region, sozioökonomischer Status, Familienform und Alltagswelt) im Herkunftsland und im Aufnahmeland erste Anhaltspunkte liefern. Die wichtigste Informationsquelle in diesem Prozess sind sicherlich die Klienten selbst. Im Beratungs- und Therapieprozess spielt es eine entscheidende Rolle, das kulturelle Modell der Klienten zu explorieren und in Bezug zu dem klientenspezifischen Ideal zu setzen, das die zentralen Überzeugungen, Wünsche, Ziele, Vorstellungen, Erwartungen, Werte und Normen bezüglich guten Elternverhaltens und optimaler Entwicklung umfasst. Vor diesem Hintergrund kann das Beobachtete in Bezug zu den Bedeutungssystemen gesetzt werden, die für die Klienten definieren, was optimales Elternverhalten ist und welche Entwicklung sie sich für ihre Kinder erhoffen (siehe auch Kapitel 6). Es geht im Diagnoseprozess demnach zentral darum, das elterliche Verhalten und den kindlichen Entwicklungsstand stärker zu kontextualisieren und unter Bezug auf kulturspezifische Anteile des Ideals der jeweiligen Klientinnen und Klienten zu deuten. Darüber kann der Berater bzw. die Therapeutin sich einen Bezugsrahmen erschließen, der eine angemessenere Beurteilung der kindlichen Entwicklung und der elterlichen Einstellungen und Verhaltensweisen ermöglicht. Darüber hinaus lohnt sich die Recherche von Literatur über die Erziehungsideale und -praktiken in der Herkunftskultur, um konkretere Vorstellungen über spezifische Sozialisationsziele und -praktiken und die zugrunde liegenden Bedeutungssysteme zu bekommen. Abschließend soll auf eine oben bereits angedeutete Unterscheidung eingegangen werden, die für eine diagnostische Beurteilung von Relevanz ist. Es ist für die Wahrnehmung und Einordnung von als auffällig oder problematisch erscheinenden familiären Verhaltensweisen durch den Berater bzw. die Therapeutin sehr bedeutsam, ob die jeweiligen Familienmitglieder sich so verhalten, weil sie offensichtliche Wissensdefizite, großen Stress oder psychische Probleme haben oder ob sie ihr Verhalten mit einem Erziehungs- und Entwicklungsmodell erklären, das sie für angemessen und richtig halten. Im ersten Fall ist nicht von kulturellen Phänomenen auszugehen, son-
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dern von problematischen Familienstrukturen, Fehlentwicklungen und Regulationsschwierigkeiten, also von einer mehr oder weniger ausgeprägten pathologischen (Familien-)Entwicklung. Hier kann von einem klaren Veränderungs- bzw. Korrekturbedarf ausgegangen werden, um die familiären Defizite auszugleichen oder überwinden zu können. Im zweiten Fall verfolgen die Eltern eine (von den Überzeugungen und kulturellen Hintergründen des Berater bzw. der Therapeutin) abweichende Entwicklungs- und Erziehungsstrategie, die als anderes kulturelles Konzept zu betrachten und einzuordnen ist. Hier bedarf es aus unserer Sicht einer Beschreibung und Diagnostik, die den kulturellen Hintergrund der Familie als zentrale Grundlage einbezieht. Diese verschiedenen Orientierungspunkte können im Beratungsund Therapieprozess eine wichtige Rolle spielen, um zu einer kultursensitiven und angemessenen Beurteilung des kindlichen Entwicklungsstandes und der elterlichen Verhaltensmuster zu kommen, die sich stärker am Ideal der Klientin oder des Klienten orientieren. Dabei ist es entscheidend, die kulturspezifischen Anteile dieses Ideals zu identifizieren und bei der Interpretation und Bewertung des kindlichen Verhaltens und der Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind zu berücksichtigen.
3 Kommunikation und Beziehungsgestaltung aus kulturvergleichender Sicht
Beratungs- und Therapieprozesse sind kommunikative Prozesse, in denen Menschen miteinander in verbale und nonverbale Interaktion und somit in Beziehungen treten. Neben den kulturellen Unterschieden bezogen auf entwicklungspsychologische und entwicklungspsychopathologische Ansätze bedarf es für die Konzeption einer kultursensitiven Beratung und Therapie für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern daher auch der Berücksichtigung von kulturvergleichenden Erkenntnissen über die Gestaltung von sozialen Beziehungen und Kommunikationsprozessen. Es lässt sich zeigen, dass auch in den kommunikativen Regeln und Normen deutliche kulturelle Unterschiede auftreten. Treffen hier unterschiedliche Modelle aufeinander, kann es zu Missverständnissen kommen und damit zu Erschwernissen bei der Kontaktgestaltung und im Beratungs- und Therapieprozess. In diesem Kapitel soll auf kulturelle Unterschiede bezogen auf die Kommunikation mit Eltern und die Beziehungsgestaltung in Beratungs- und Therapieprozessen eingegangen werden. Dabei beziehen wir uns auf Aspekte, die, ausgehend von unseren praktischen Beratungs- und Therapieerfahrungen, eine besondere Relevanz für die Arbeit mit Familien haben. Thematisiert werden der unterschiedliche Umgang mit Direktivität sowie der Umgang mit Emotionen und persönlichen Themen. Beides spielt für den Beziehungsaufbau und die Gestaltung von Beratungsprozessen eine bedeutsame Rolle. Nicht zuletzt ergeben sich aus diesen Aspekten unterschiedliche Erwartungen an Beratungs- und Therapieprozesse, die im letzten Abschnitt dieses Kapitels thematisiert werden.
3.1 Unterschiedlicher Umgang mit Direktivität und Non-Direktivität Die Machtdistanz ist ein klassisches Unterscheidungskriterium zwischen verschiedenen Kulturen, das heißt inwiefern hierarchische
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Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen vorhanden sind, toleriert werden und welche Bedeutung ihnen beigemessen wird (z. B. Hofstede, 1983; Triandis, 1995). In autonomieorientierten Kontexten bestehen in vielen Zusammenhängen Kommunikations- und Interaktionsmuster, die von einer Gleichberechtigung der Partner ausgehen. Dies lässt sich bezüglich des Verhältnisses der Geschlechter, bei der Gestaltung von Interaktionen zwischen Eltern und Kindern und auch hinsichtlich des Kontakts mit Helfersystemen beobachten. Zwar gibt es zwischen den einzelnen Therapieschulen durchaus Varianzen, inwiefern verstärkt klientenzentriert oder vermehrt mit Erklärungen und manualunterstützten Angeboten des Beraters bzw. der Therapeutin gearbeitet wird (siehe hierzu Kapitel 4). Dennoch kann bei Beratungs- und Therapiebeziehungen in autonomieorientierten westlichen Kontexten meist davon ausgegangen werden, dass eine gleichberechtigte Begegnung zwischen Beraterin bzw. Therapeut und Klient als angemessene Gestaltungsform gilt. In der Regel werden keine direktiven Verschreibungen vorgenommen, sondern die Klienten werden bei der Suche nach Lösungsmöglichkeiten einbezogen. Teilweise wird Beratung auch als moderierter Rahmen verstanden, in dem die Eltern selbst Lösungen und Veränderungsmöglichkeiten entwickeln. Dem Individuum und seiner Verantwortlichkeit wird hier eine zentrale Bedeutung beigemessen (van Quekelberghe, 2007). Für Familien aus autonomieorientierten Kontexten ist ein solches Angebot oftmals passend, da sie nicht vorrangig erwarten, dass die Beratungspersonen schnell eine Lösung für ihre Schwierigkeiten anbieten können. Der Wunsch, an der Suche nach einer individuellen Lösung aktiv beteiligt zu sein, steht gegenüber einer von den Beratungspersonen präsentierten Lösung oftmals im Vordergrund. So konnte Kantrowitsch (2006) an einer Stichprobe mit 24 Familien, die sich überwiegend aus deutschen Mittelschichtfamilien zusammensetzte, zeigen, dass Erstgespräche in der Babysprechstunde Osnabrück sowohl von den Familien als auch von den Beratenden als erfolgreicher erlebt wurden, wenn die Beratenden erst gegen Ende der Beratung den Eltern Expertenwissen (Informationen zu Entwicklungsverläufen und konkreten Änderungsmöglichkeiten) vermittelten. Wo dies bereits zu Beginn geschah, zeigte sich eine größere Unzufriedenheit bei Eltern und Beratungspersonen (Kantrowitsch, 2006, 2008).
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Aufgrund der Zusammensetzung der Stichprobe kann davon ausgegangen werden, dass es für diese mutmaßlich autonomieorientierten Familien wichtig war, in den ersten Abschnitten des Gespräches genügend Zeit zu haben, um die Situation zu beschreiben und mit den Beratenden gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Für Familien mit einem stärker verbundenheitsorientierten Hintergrund kann diese Herangehensweise irritierend sein. Hier sind vermehrt Beratungsangebote üblich, bei denen Beraterinnen oder Therapeuten deutlich als Experten auftreten und klare Lösungs- bzw. Handlungsvorschläge direktiv vermitteln (Borke u. Stommel, 2013; Stommel, 2013). Die Mitbestimmung und Einbeziehung der Eltern ist unüblich. Für verbundenheitsorientierte Familien ist non-direktives Vorgehen daher potenziell ungewohnt und kann von ihnen als Inkompetenz wahrgenommen werden (»Der Berater hat ja offensichtlich nicht viel Ahnung, da er alles von mir wissen möchte und mir nicht klar sagen kann, was ich nun tun soll«). Für einen kultursensitiven Beratungsansatz sollte daher die Möglichkeit bestehen, den Kontakt je nach Hintergrund der Familie mit einem direktiven oder non-direktiven Schwerpunkt zu gestalten und somit eine Varianz bei der Kontaktgestaltung zu ermöglichen (Wohlfahrt, Hodzic u. Özbek, 2006; zu Möglichkeiten der praktischen Umsetzung siehe Kapitel 6).
3.2 Ansprechen von Gefühlen und persönlichen Themen Die Auseinandersetzung mit introspektiven, selbstbezogenen, persönlichen Fragen und psychologischen Kategorien ist Familien kulturell bedingt unterschiedlich vertraut (Mullen u. Yi, 1995). Allgemein kann es für verbundenheitsorientierte Familien schwierig sein, Beratungs- und Therapieinhalte über Fragen zu erarbeiten, wenn es um persönliche und gefühlsbezogene Themen geht. Auch sind Reflexionen zur eigenen Person oder zur Familie unüblich. Für den Beratungsprozess ist es bedeutsam, diese Unterschiede zu erkennen, einzuordnen und wertzuschätzen sowie angemessen darauf zu reagieren. In verbundenheitsorientierten Kontexten wird vom Lebensbeginn an das Bewusstsein, Teil einer Gruppe zu sein, mehr unter-
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stützt als jenes, sich als einzigartiges Individuum zu erleben (Konradt, Trommsdorff u. Kobayashi, 1994; Markus u. Kitayama, 1991). Daher ist es hier eher unüblich, sich mit den eigenen Gefühlen und Gedanken auseinanderzusetzen. In autonomieorientierten Kontexten ist dieses Verhalten adaptiv und wird dementsprechend auch in beraterischen und therapeutischen Ansätzen vertreten und forciert (siehe Kapitel 4). In verbundenheitsorientierten Kontexten liegt die Betonung stärker auf sozialen Normen als auf individuellen psychischen Prozessen. Die kulturell angemessene Umgangsweise wird Kindern bereits früh in der Interaktion vermittelt. So konnten Mullen und Yi (1995) zeigen, dass amerikanische Mütter Gedanken, Gefühle und Eigenschaften der Kinder in der direkten Interaktion in viel höherem Ausmaß verbalisierten, als dies koreanische Mütter taten. Diese thematisierten demgegenüber viel häufiger soziale Normen. Neben dem Aspekt, dass es für Familien aus verbundenheitsorientierten Kontexten ungewohnt und nicht üblich ist, innere Prozesse zu thematisieren, bestehen kulturelle Unterschiede auch bezogen auf den Rahmen und die Form, in dem bzw. in der es üblich ist, über emotionale und intime Themen zu sprechen. Beispielhaft sei hier ein Fall dargestellt, den Schernewski (2009) beschreibt: Eine Familie mit türkischem Migrationshintergrund kommt wegen der Schulprobleme ihres Sohnes in eine Erziehungsberatungsstelle. In den ersten Gesprächen mit den Eltern fällt dem Berater auf, dass der Vater sich eher distanziert verhält und sich mit seinen Antworten und Gesprächsbeteiligungen oberflächlich und kurz angebunden zeigt. Daraufhin nimmt sich der Berater vor, den Vater in besonderer Weise anzusprechen und ihm viel Raum zu geben, um ihn besser in die Beratung integrieren zu können. Dies gelingt, der Vater öffnet sich nach einiger Zeit und berichtet über die Beziehung zu seinem eigenen Vater. Dabei treten ihm Tränen in die Augen. Nach dem Gespräch ist der Berater sehr zufrieden und hat den Eindruck, die Beratung habe eine neue Tiefe erreicht und nun könne mit dem Vater auf anderen Ebenen gearbeitet werden. Zu seiner Überraschung bricht die Familie die Beratung ab und kommt nicht mehr in die Beratungseinrichtung zurück.
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Das Aussprechen von privaten Empfindungen und vor allem das Weinen vor den Augen eines anderen Mannes wurden vom Vater als beschämend erlebt, sodass ein weiterer Kontakt als nicht mehr möglich angesehen wurde. Der Berater hat aus guter Absicht den Vater animiert, in die eigene Gefühlswelt einzutauchen und sich zu öffnen. Die angestrebte Intensivierung und Weiterentwicklung des Beratungsprozesses wurde damit jedoch nicht erreicht. Es kam zu einem Abbruch, bevor sich Verbesserungen der familiären Situation entwickeln konnten. In vielen verbundenheitsorientierten kulturellen Kontexten ist es üblich, Gedanken, Gefühle und auch familiäre Themen (zumindest außerhalb des engen Familienkreises) nicht direkt und explizit anzusprechen. Sie werden umschrieben, angedeutet oder auch in Form von Geschichten oder Gleichnissen kommuniziert (Rezapour u. Zapp, 2011). Psychische Leiden werden stärker als körperliche Beschwerden erlebt bzw. als Somatisierungen ausgedrückt. So gelten zum Beispiel in manchen Teilen der Türkei Beschreibungen von Leberschmerzen (»Meine Leber brennt«) als Ausdruck von seelischem Schmerz (Rezapour u. Zapp, 2011, S. 10). Auch Depressionen werden vermehrt oder ausschließlich körperlich ausgedrückt (Assion, 2007). Während also bei autonomieorientierten Familien davon ausgegangen werden kann, dass sie auf psychologisierenden und introspektiven Ebenen gut angesprochen werden können und eine solche Art der Herangehensweise meist auch erwarten, reagieren Familien aus verbundenheitsorientierten Kontexten vielfach eher positiv auf indirekte Herangehensweisen. Ein weiterer Aspekt kultureller Unterschiede sind Verschiedenheiten bezogen auf den Umgang mit vermeintlich unangebrachtem Verhalten. In diesem Zusammenhang soll eine Kategorisierung, welche auf die US-amerikanische Ethnologin Ruth Benedict (1946) zurückgeht, dargestellt werden. Sie unterscheidet zwischen Schamund Schuldkulturen. Schamkulturen sind dadurch gekennzeichnet, dass es einen Bezug zu äußeren Instanzen gibt, gegenüber denen eine Rechtfertigung notwendig ist bzw. die Fehlverhalten sanktioniert. Das Gefühl der Scham ist hier zentral und entsteht als Reaktion auf Kritik, Bewertung oder Bloßstellung von außen. In Schuldkulturen
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wird demgegenüber die Autorität als verinnerlicht angesehen. Fehlverhalten erfordert daher eher eine Rechtfertigung gegenüber sich selbst als gegenüber anderen. Schuld ist die daraus resultierende vorrangige Emotion. Zumeist werden Kontexte des nahen und fernen Ostens den Schamkulturen und westliche Kontexte den Schuldkulturen zugeordnet. Problematisch an dieser Einteilung ist die grobe Kategorisierung ganzer Erdteile. Zudem kann diese Einteilung in dem Sinne missverstanden werden, dass Menschen aus Schamkulturen kein inneres Wertesystem besitzen, sondern außengesteuert handeln und erleben. Damit weicht diese Unterteilung in zentralen Aspekten von der in diesem Buch vertretenen Perspektive auf kulturelle Unterschiede ab. Dennoch lassen sich Parallelen zu autonomieorientierten und verbundenheitsorientierten Kommunikationsstrategien beschreiben. In autonomieorientierten Kontexten geht die Betonung des Individuums mit einer ausgeprägten Eigenverantwortlichkeit einher und somit durchaus auch mit einem Konzept von Schuld. Dies korrespondiert mit der oben dargestellten Bereitschaft einer Kontaktgestaltung auf Augenhöhe. In verbundenheitsorientierten Kontexten hat die Meinung von Autoritäten eine deutlich stärkere Bedeutung, und damit einhergehend sind die »Wahrung des eigenen Gesichtes« und der »Ehre der Familie« häufig zentrale Konzepte; die Angst vor Beschämung ist stärker ausgeprägt (siehe Beispiel). In der Arbeit mit Familien mit verbundenheitsorientiertem Hintergrund ist es daher wichtig, den Blick auch auf die erweiterte Familie, das soziale Umfeld und darüber hinausgehende Autoritätspersonen (z. B. aus kirchlichen Kontexten) zu richten, die mit diesen Beziehungen zusammenhängenden Konventionen und Verpflichtungen ernst zu nehmen und mögliche Beschämungen zu vermeiden.
3.3 Erwartungen an Beratungs- bzw. Therapieinhalte Zusätzlich zu den besprochenen kommunikativen und emotionsbezogenen Aspekten kann es auch hinsichtlich der inhaltlichen Schwerpunktsetzungen in Beratungs- und Therapieprozessen zu kulturbedingten Irritationen durch unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen kommen. Beispielsweise können sehr unterschied-
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liche Vorstellungen darüber aufeinandertreffen, wie Erziehungs- und Entwicklungsprozesse gestaltet werden sollten und auf welche Weise Eltern Kinder dabei gut unterstützen können (Keller, 2011). So ist es in verbundenheitsorientierten Kontexten meist üblich, dass die Kinder in den ersten Jahren (und teilweise auch weit darüber hinaus) in einem Bett mit anderen Familienmitgliedern schlafen, nach Bedarf (und lange) gestillt werden sowie ein hohes Ausmaß an Körperkontakt und ein vergleichsweise kleines Ausmaß an Blickkontakt erleben (Keller et al, 2009). Auch dominieren Interaktionsformen, die durch die Strukturierung und Anleitung der Eltern gekennzeichnet sind (Keller, Borke, Chaudhary, Lamm u. Kleis, 2010). Bei Familien mit einem autonomieorientierten Hintergrund zeigt sich häufig ein deutlich anderes Bild. Beispielsweise sind hier Ratgeber populär, die ein frühes Schlafen des Kindes im eigenen Bett und auch im eigenen Zimmer befürworten (z. B. Kast-Zahn u. Morgenroth, 2007). Die Kinder sollen vergleichsweise früh lernen, sich selbst zu regulieren und Zeit allein gut zu verbringen. Auf der anderen Seite gibt es viele Situationen, in denen die Kinder die exklusive Aufmerksamkeit der Bezugsperson erleben. Auch wird dem Beachten der kindlichen Initiativen und dem Folgen selbiger ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Dadurch wird das Bewusstsein, ein unabhängiges Individuum zu sein, unterstützt. Dem Blickkontakt kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu, da durch diesen besonders gut kontingente Selbstwirksamkeitserlebnisse vermittelt werden können (Kärtner, 2007). Diese autonomieorientierten Strategien bilden auch die Grundlage für viele Interventions- und Unterstützungsprogramme (z. B. Watch, Wait and Wonder, Cohen et al., 2003). Werden solche Programme in der Beratung und Therapie empfohlen oder eingesetzt, sollte zuvor geprüft werden, ob diese anschlussfähig an die Konzepte von Familien aus eher verbundenheitsorientierten Kontexten sind. Neben diesen kindbezogenen Erziehungs- und Entwicklungsaspekten können im Kontext einer Beratung oder Therapie mit Familien von Säuglingen und Kleinkindern Irritationen bezogen auf die Gestaltung familiärer Beziehungen und Rollen auftreten. So bestehen in verbundenheitsorientierten Kontexten oftmals klar differenzierte Vorstellungen über Rollen und Aufgaben, die Jungen und Mädchen, Männern und Frauen bzw. Vätern und Müttern zukommen.
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Dies kann für Beratungspersonen mit einem autonomieorientierten Hintergrund, die von Gleichbehandlung und Gleichstellung der Geschlechter ausgehen, ungewohnt sein. Damit zusammenhängend können sich unterschiedliche Erwartungen und Lösungsvorstellungen ergeben. Während beispielsweise die Beratenden die Idee entwickeln, den Vater stärker zur Entlastung der familiären Situation einzubeziehen, kann dies von den Eltern (und hier durchaus häufig auch von der Mutter) als nicht angemessene Form der familiären Aufgabenverteilung angesehen werden. In verbundenheitsorientierten Kontexten sind es zumeist Frauengruppen (neben der Mutter andere weibliche Familienmitglieder, aber auch andere Frauen des Dorfes) sowie andere Kinder, die die Betreuung und Pflege der Säuglinge und Kleinkinder übernehmen. Den Vätern kommen in dieser Zeit andere familienunterstützende Aufgaben zu (Martini u. Kirkpatrick, 1992; Rogoff, 2003; Whiting u. Edwards, 1988). Entsprechend werden bereits Jungen und Mädchen früh (oftmals zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr) auf diese unterschiedlichen Rollen vorbereitet (Draper, 1975; Nerlove, Roberts, Klein, Yarbrough u. Habicht, 1974). Allerdings ist bei der Migration von Familien aus verbundenheitsorientierten Kontexten in autonomieorientierte Kontexte häufig die vertraute großfamiliäre Struktur nicht mehr verfügbar. Daraus kann sich, zusätzlich zu anderen migrationsbedingten Stressoren, ein Erleben von Überforderung und Isolierung einstellen. Die familiären Praktiken und Traditionen sind auf ein Umfeld ausgerichtet, das unter Umständen deutlich von dem des neuen Aufenthaltsortes abweicht. Hier kann es durchaus sinnvoll, angemessen oder auch einfach notwendig sein, dass der Vater sich in die Betreuung und Pflege des Säuglings oder Kleinkindes einbringt. Nach einem gelungenen Vertrauens- und Beziehungsaufbau können solche Anpassungen im Rahmen von kultursensitiven Beratungs- und Therapieprozessen durchaus besprochen und erarbeitet werden. Aus den beschriebenen Themenfeldern wird deutlich, dass die Beratung und Therapie mit Familien aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen Anpassungen und Veränderungen von Konzepten erfordern. Bleiben die Berater und Therapeutinnen im Prozess auf die Sicht- und Vorgehensweisen ihres eigenen kulturellen Umfeldes beschränkt, sind diese nicht immer gut anschlussfähig an
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die kulturellen Hintergründe der Familie. Dies kann die elterliche Bereitschaft zur Mitarbeit und ihr Vertrauen in den Prozess beeinträchtigen und damit die Chancen für den Aufbau einer hilfreichen Beziehung senken.
4 Unterschiedliche Beratungs- und Therapieansätze und Kultursensitivität
Beratungs- und Therapieprozesse gestalten sich nach bestimmten Regeln und aufgrund bestimmter theoretischer Überzeugungen, Menschenbilder und Entwicklungsvorstellungen. Es existieren unterschiedliche Schulen mit zum Teil deutlich voneinander abweichenden Herangehensweisen, aber auch mit Ergänzungspotenzial zwischen den einzelnen Ansätzen. Gerade im Kontext von Beratung ist es häufig üblich, Elemente aus verschiedenen Ansätzen zu kombinieren. Im Folgenden sollen vier psychologische Ansätze zur Beratung und Therapie dargestellt und im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen für eine kultursensitive Arbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern eingeordnet werden. Dabei werden die zentralen Ansätze, die sich in der westlichen Psychologie im 20. Jahrhundert entwickelt und etabliert haben, in ihrer historischen Reihenfolge dargestellt und anhand einer einheitlichen Vorgehensweise beschrieben. In einem ersten Schritt werden die Entstehungsgeschichte und die zentralen Grundlagen der jeweiligen Ansätze ausgeführt und erläutert. Dabei wird lediglich verkürzt auf zentrale Hintergründe und Entwicklungslinien der einzelnen Beratungs- und Therapieformen eingegangen. Ein großer Teil der für alle Ansätze zu beobachtenden Vielfalt an Ausrichtungen und Weiterentwicklungen bleibt aufgrund der Schwerpunktsetzung des Buches notwendigerweise unberücksichtigt (zur Vertiefung siehe z. B. Kriz, 2014; Reimer, Eckert, Hautzinger u. Wilke, 2007). In einem zweiten Schritt wird auf die Anwendung der Beratungs- und Therapieansätze für die Arbeit mit Familien von Säuglingen und Kleinkindern eingegangen, und in einem dritten Schritt werden dann die Möglichkeiten hinsichtlich einer kultursensitiven Beratungs- und Therapiearbeit beleuchtet. Zur praktischen Illustration soll in diesem Kapitel das im Folgenden skizzierte Fallbeispiel einer Familie mit einem Säugling, die sich bei einer Beratungseinrichtung meldet, dienen.
Unterschiedliche Beratungs- und Therapieansätze83
Seit der Geburt ihres ersten Kindes erleben Monika und Tarek K. ihren nun fünf Monate alten Sohn Daniel als sehr unruhig. Er hat von Anfang an viel geschrien und war schwer zu beruhigen. Zudem nehmen die Phasen, in denen das Kind scheinbar nicht zu beruhigen ist, zu. Diese treten vor allem in den Abendstunden sowie in der Nacht auf. Daniel schläft in einem Beistellbett im Schlafzimmer der Eltern. Er wird mehrmals in der Nacht wach und fängt an zu quengeln, was sich dann meist schnell zu einem Schreien steigert. Die Eltern versuchen abwechselnd, ihren Sohn zu beruhigen, zum Beispiel durch Herumtragen und Singen. Es dauert aber meist eine Viertel- bis zu einer Dreiviertelstunde, bis er wieder in den Schlaf gefunden hat, und es kommt nicht selten vor, dass er nach ein bis zwei Stunden wieder wach wird. Die Eltern haben sich sehr auf ihr erstes Kind gefreut. Die Mutter ist als Einzelkind aufgewachsen. Sie hat keinen guten Kontakt zu ihren Eltern und möchte ihrem Kind eine ganz andere Art des Aufwachsens ermöglichen, als sie es erlebt hat. Sie hat daher schon während der Schwangerschaft viel gelesen und sich intensiv auf die Zeit mit dem Kind vorbereitet. Zudem hatte sie geplant, in ihrem Beruf auszusetzen, um erst einmal ganz für das Kind da sein zu können. Der Vater ist als Kind mit seinen Eltern und drei Geschwistern aus Albanien nach Deutschland gezogen und wünscht sich auch das Leben in einer größeren Familie mit mehreren Kindern. Er geht weiter seiner Arbeit nach, versucht aber, an Abenden, in der Nacht und am Wochenende sich so weit wie möglich an der Betreuung und Begleitung von Daniel zu beteiligen und seine Frau zu entlasten. Beide Eltern sind zunehmend erschöpft und gestresst von der Situation und durch den Schlafmangel entkräftet. In diesem Zusammenhang kommt es immer häufiger zu Streit zwischen den Eltern. Auch erleben die Eltern Momente, in denen sie von Daniels Verhalten genervt sind, was sich vor allem die Mutter sehr vorwirft. Die Eltern haben den Eindruck, kaum noch positive Interaktionsmomente innerhalb der Familie zu erleben. Sie sind zunehmend hilf- und ratlos. In dieser Situation und auf Rat ihres Kinderarztes entschließen sie sich, sich bei einer Beratungsstelle zu melden.
Auf die Situation wird in den Ausführungen zu den unterschiedlichen Beratungs- und Therapieansätzen Bezug genommen, um die unterschiedlichen Herangehensweisen zu verdeutlichen.
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4.1 Psychodynamisch-tiefenpsychologisch orientierte Ansätze 4.1.1 Geschichte und Hintergrund Die Geschichte der psychodynamischen therapeutischen Ansätze – und damit der Psychotherapie entsprechend unserem heutigen westlichen Verständnis überhaupt – beginnt vor mehr als 100 Jahren in Wien. Josef Breuer (1842–1925), Internist, behandelte die schwer erkrankte Bertha Pappenheim mit einer innovativen therapeutischen Technik und erörterte den Fall ab 1882 eingehend mit seinem jungen Freund, dem Nervenarzt Sigmund Freud (1856–1939). Ihre unter dem Pseudonym Anna O. 1895 in den »Studien über Hysterie« veröffentlichte Fallgeschichte bildete den Ausgangspunkt der von den beiden begründeten Psychoanalyse. Neben Techniken zur Behandlung hysterischer und psychoneurotischer Symptome bei Patienten entwickelte vor allem Freud Theorien zur Struktur der Psyche und zur Entwicklung und Dynamik der Persönlichkeit. Damit verortete er das Feld der Psychoanalyse zwischen Entwicklungs-, Persönlichkeits-, Krankheits- und Behandlungstheorie (siehe z. B. Wöller u. Kruse, 2010). Einige Ergebnisse der von Freud selbst mehrfach überarbeiteten Theoriebildungen stellen bis heute die Basis aller psychodynamischen Verfahren dar. Zentrale Bedeutung kommt dabei der von ihm erarbeiteten Struktur der Psyche zu. In seiner Strukturtheorie von 1923 beschreibt Freud im Sinne einer Metapher drei psychische Instanzen mit jeweils eigenen, einander in Einzelfällen widersprechenden Aufgaben und Zielen: Es, Ich und Über-Ich. Dieses Wechselspiel der Kräfte wird als Psychodynamik bezeichnet (Davison, Neale u. Hautzinger, 2007). Das Es sei als biologischer Mechanismus von Geburt an vorhanden und beinhalte die grundlegenden Bedürfnisse, beispielsweise nach Nahrung, Zuwendung oder Sexualität. Die angestrebte Befriedigung dieser Bedürfnisse folge dem sogenannten Lustprinzip. Ergänzend entstehe die psychische Struktur des Ich in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres aus dem Es. Die Aufgabe dieser Struktur bestehe darin, zwischen den Ansprüchen des Es, der moralischen Verträglichkeit entsprechend den Erwartungen des Über-Ich (siehe im Folgenden) und
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den Anforderungen der Realität zu vermitteln. Als Schutzfunktion gegen die Angst, die aus Konflikten zwischen den Instanzen entstehen kann, werden auf dieser Ebene sogenannte Abwehrmechanismen (z. B. Verdrängung, Verleugnung oder Verschiebung) entwickelt. Mithilfe der Ich-Struktur plane und entscheide der Mensch und folge dabei dem sogenannten Realitätsprinzip. Dem Bewusstsein weitgehend zugänglich, verfolgen diese Prozesse das Ziel, das Leben zu erhalten. Als dritte psychische Struktur beschreibt Freud das Über-Ich, in dessen Struktur er die moralischen Normen der Gesellschaft verankert sieht. Er nimmt an, dass das Über-Ich sich aus den soziokulturell, insbesondere von den Eltern an das Kind vermittelten Normen und Werten entwickelt. Kinder machen sich diese Werte zu eigen, um sich Liebe und Anerkennung zu erhalten. Freuds Werk wird sowohl hoch geehrt als auch scharf kritisiert. Auch mussten Teile davon im Zuge weiterer Forschungen und Erkenntnisse revidiert werden. Sein nichtsdestotrotz fortdauernder Einfluss auf unser Bild des Menschen zeigt sich in zentralen und allgemein anerkannten Annahmen (Davison et al., 2007), die sich in unserem Alltagserleben, aber auch in Forschung und Intervention wiederfinden. Dass Kindheitserfahrungen entscheidend zur Persönlichkeitsbildung des Erwachsenen beitragen, findet unter anderem Ausdruck in der Bedeutung, die präventiver Arbeit in der ElternKind-Interaktion beigemessen wird. Die Forschung zu Copingstrategien setzt den Gedanken fort, dass Menschen – bewusst oder unbewusst – Abwehrmechanismen einsetzen, um unangenehme Gefühle, Angst oder Stress zu bewältigen. Methoden der Werbung etwa wie auch der Selbsterfahrung setzen an dem Gedanken an, dass Menschen sich der Ursachen ihres Verhaltens nicht immer bewusst sind, sondern ihr Verhalten durch unbewusste Prozesse beeinflusst wird. Und nicht zuletzt erleben wir täglich in der Begegnung und in der Arbeit mit Menschen, dass Ursachen und Zweck menschlichen Handelns nicht immer offenkundig sind. Psychodynamische Gedanken und Theorien sind damit Teil insbesondere der westlichen Geistesgeschichte und Zivilisation geworden (Davison et al., 2007; Thomä u. Kächele, 1996). Im Rahmen lebhafter weiterer Entwicklungen wurden innerhalb und aus der Psychoanalyse heraus unterschiedliche theoretische und
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beraterisch-therapeutische Richtungen entwickelt, die als psychodynamische Theorien bzw. Psychotherapien zusammengefasst werden (siehe z. B. Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie, 2004). Wöller und Kruse (2010) unterscheiden vier Paradigmen, die unterschiedliche Blickrichtungen und unterschiedliche Grundlagen für das Verständnis von psychischen Prozessen und daraus folgend von psychischen Störungen anbieten: 1) Das triebpsychologische Paradigma sieht den Sexualtrieb und den Aggressionstrieb als motivierende Kräfte des psychischen Lebens. Als Basis des dreiteiligen Strukturmodells von Es, Ich und ÜberIch ist dieses Paradigma am engsten mit Sigmund Freud verbunden. Trotz seiner Relativierung durch neuere Forschungen lassen sich mit ihm intrapsychische Konflikte und Konfliktpathologien gut verstehen und konzeptualisieren. 2) Im Rahmen des Ich-psychologischen Paradigmas wurden die Abwehrmechanismen und die Anpassungs- und Bewältigungsfunktionen der Ich-Funktionen (wie Wahrnehmen, Denken, Urteilen oder Vermitteln) erforscht. Es erlaubt eine systematische Erfassung von Defiziten der Ich-Funktionen und begründet eine therapeutische Arbeit mit dem Ziel der Nachentwicklung defizitärer Ich-Funktionen. Grundgelegt und entwickelt wurde dieses Paradigma insbesondere von Anna Freud, Heinz Hartmann sowie Gertrude und Rubin Blanck. 3) Das selbstpsychologische Paradigma ist vor allem mit dem Namen Heinz Kohut und seinen Überlegungen zu den Empathie- und Spiegelungsprozessen in der frühen Mutter-Kind-Dyade verbunden. Mit seiner Schwerpunktsetzung auf diesen Prozessen, die er mit dem »Glanz im Auge der Mutter« umschrieb, hat er wesentliche Erkenntnisse der neuen Säuglings- und Kleinkindforschung vorweggenommen. Das daraus abgeleitete lebenslange Bedürfnis nach spiegelnder Responsivität durch sogenannte empathische Selbstobjekte begründete den Akzent auf einem empathisch-introspektiven Zugang auch in der Beratung und Therapie. Obwohl das selbstpsychologische Paradigma theoretisch als Teil des objektbeziehungspsychologischen Paradigmas (siehe im Folgenden) betrachtet werden kann, wird ihm aufgrund seiner praktischtherapeutischen Bedeutung von uns ein eigener Platz eingeräumt.
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4) Im objektbeziehungspsychologischen Paradigma werden alle seelischen Strukturen als Niederschlag frühester Erfahrungen mit Personen betrachtet, die für die emotionalen Bedürfnisse des Kindes wichtig waren. Als Objekte werden damit interaktionell und emotional auf das Kind reagierende Personen verstanden. Ebenso bilden diese »Objektbeziehungen« die Grundlage für alle nachfolgende Beziehungsgestaltungen. Mit dieser Betrachtung öffnete sich der Blick auf die Welt der Repräsentanzen als innere Vorstellungen, die mit Erinnerungen, Affekten oder Fantasien gefüllt sind. Sie bilden damit eine anhaltende Art, sich selbst und andere wichtige Menschen wahrzunehmen sowie mit sich selbst und mit ihnen in Beziehung zu treten. Dieses für die moderne Psychoanalyse wichtigste Paradigma wurde unter anderen von Melanie Klein, William Fairbairn, Donald Winnicott und Wilfred Bion auf den Weg gebracht. Die Frage, ob psychische Störungen ihren Ursprung im Menschen und seinen Fantasien oder in realen Beziehungserfahrungen haben, hatte entscheidende Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der Psychoanalyse und aller psychodynamischen Theorien. Die Ein-Personen-Psychologie des trieb- und ich-psychologischen Paradigmas wurde zunehmend durch eine Zwei- oder Mehr-Personen-Psychologie erweitert und ergänzt, wobei die unterschiedlichen Strömungen nebeneinander weiterbestehen und je nach Fragestellung und Ausgangssituation variierend eingesetzt werden. Neuere Theorieentwicklungen wie durch Otto Kernberg oder Peter Fonagy verbinden das objektbeziehungspsychologische mit dem ich-psychologischen Paradigma. Für die Entwicklung der Arbeit mit Säuglingen, Kleinkindern und deren Eltern haben sich vor allem das selbstpsychologische und das objektbeziehungspsychologische Paradigma sowie die daran anknüpfenden neueren Theorieentwicklungen als grundlegend und fruchtbar erwiesen. Erst mit dem Blick auf die realen Beziehungserfahrungen und die sich daraus ergebenden Implikationen rückten das Wechselspiel zwischen Mutter (Vater) und Kind in den Interaktionen der ersten Lebenszeit in den Mittelpunkt der Praxis und der Forschung (siehe hierzu auch Kapitel 2).
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Allen psychodynamischen Beratungs- und Psychotherapieformen gemeinsam ist die Annahme, dass psychische Störungen Ausdruck lebensgeschichtlich begründeter, unbewusster und ungelöster Konflikte sind, die unter bestimmten Bedingungen reaktiviert werden. Die Bearbeitung in einer beraterischen oder therapeutischen Beziehung berücksichtigt die Phänomene von Übertragung (unbewusster Prozess, bei dem Gefühle des Klienten nicht in der aktuellen und realen Begegnung begründet sind, sondern aus früherem Beziehungserleben stammen), Gegenübertragung (Reaktionen des Beraters bzw. Therapeuten auf die Übertragungen des Klienten, die als therapeutisches Instrument genutzt werden können), Abwehr und Widerstand. Je nach Verfahren wird stärker auf die Vergangenheit oder die Gegenwart fokussiert, je nach Technik strukturiert oder unstrukturiert vorgegangen, der Berater bzw. die Therapeutin interveniert zurückhaltend oder aktiv (Strenge, 2007; Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie, 2004). 4.1.2 Anwendung bezogen auf die Arbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern Die Beziehungsdynamik zwischen Eltern und ihren Kindern mit frühkindlichen Auffälligkeiten oder Störungen kann neben anderen Faktoren von ungelösten Konflikten, unbewussten Elternbildern und Repräsentanzen sowie unverarbeiteten Traumata und deren Abwehr beeinflusst sein. Oft liegen ihre Wurzeln in einer transgenerationalen Problematik. Innerhalb der Säuglings-/Kleinkind-Elternbeziehung können sie, zum Beispiel durch unbewusste Übertragungen und Projektionen, Störungen sowohl verursachen als auch aufrechterhalten (Bolten, Möhler u. von Gontard, 2013). Der psychodynamische Ansatz greift solche unbewussten Aspekte auf. Das Interesse der psychodynamischen Forschung und Theoriebildung galt schon früh der Säuglings- und Kleinkindzeit und der Interaktion von Mutter und Kind. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen einige Pioniere und Meilensteine der Theorieentwicklung benannt werden, die zum Verständnis der Interaktion zwischen Eltern und Kind noch immer bedeutsam sind: Anna Freud mit ihren Gedanken zur Bedeutung der realen Beziehungserfahrungen in der frühen Kindheit und der direkten Beobachtung von Kindern; Heinz
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Kohut mit seinen Arbeiten zu Empathie und Spiegelungsprozessen in der frühen Mutter-Kind-Dyade; Donald Winnicott, der die Bedeutung der mütterlichen Stützung und Stärkung für die Entwicklung des kindlichen Ichs und das Konzept des Übergangsobjektes beschrieb; John Bowlby, der die Bindungstheorie konzipierte, in der das Bindungsverhalten des Kindes und die Mutter-Kind-Beziehung als Angelpunkte der ersten Lebenszeit identifiziert werden (siehe hierzu auch Kapitel 2); Wilfred R. Bion mit seinem Container-Contained-Modell, in dem er die »haltende« und »verdauende« Aufgabe der Eltern gegenüber dem jungen Kind beschrieb; Peter Fonagy, der mit seiner Theorie zur Mentalisierung den Anschluss an den aktuellen Stand der Bindungstheorie und der empirischen Entwicklungspsychologie geschaffen hat (Windaus, 2012; Wöller u. Kruse, 2010). Die mit den jeweiligen Theorieentwicklungen eng verknüpft entstehende Praxis der Beratung und Psychotherapie für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern beginnt bereits in den 1930er Jahren. Neben der Entwicklung einer spezifischen psychoanalytischen Therapieform für Kinder durch Melanie Klein entstanden Ansätze, die die Eltern und die Eltern-Kind-Interaktion in den Mittelpunkt stellten. Die klinisch-therapeutischen Arbeiten von Anna Freud (London), Margaret E. Fries (New York) und Selma Fraiberg (Michigan) sind eng mit dieser Entwicklung verbunden (eine ausführlichere Darstellung findet sich beispielsweise bei Windaus, 2012). Gleichzeitig spiegelt die von ihnen praktizierte Verbindung zwischen prophylaktisch verstandener Arbeit und Therapie die bis heute gültigen Ansätze der Säuglings-/Kleinkind-Eltern-Psychotherapie. Ungeachtet der jeweils angenommenen Ursachen zeigen Störungen sich diesen Ansätzen zufolge in der Interaktion zwischen Mutter/Vater und Kind. Sie sind das »Gefäß«, in dem nach psychodynamischem Denken die Repräsentationen der Mutter in erfahrbare Handlungen umgesetzt und so für das Baby erlebbar werden. Stern (2006) stellt die Interaktion zwischen »Mutter«, verstanden als Kürzel für die primäre Bezugsperson des Kindes, und Kind in einem Modell dar (siehe Abbildung 3).
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Abbildung 3: Die Mutter-Kind-Interaktion (modifiziert nach Stern, 2006, S. 21)
Die Interaktion zwischen Mutter (M) und Baby (B) steht im Zentrum des Modells. Damit sind die beobachtbaren Verhaltensweisen, die beide in Reaktion aufeinander und gemeinsam zeigen, gemeint. Darüber hinaus sind Repräsentationen in der Interaktion wirksam (durch das tiefer gestellte »Rep« gekennzeichnet), die sich aus Erinnerungen früherer Interaktionen und aus »erinnerter Geschichte und persönlicher Interpretation« (Stern, 2006, S. 20) zusammensetzen. Sie umfassen aufseiten der Mutter Hoffnungen, Ängste, Familientraditionen oder -mythen, wichtige persönliche Erfahrungen, aktuelle Zwänge und vieles mehr. Die Repräsentationen des Säuglings helfen ihm, sich zu orientieren, und verleihen der aktuellen Interaktion Bedeutung. Aufgrund seiner kurzen Lebensgeschichte sind sie weniger umfangreich als die Repräsentationen der Mutter. Nun steuern die Repräsentationen der »Mutter« die Interaktionen mit dem Kind, und diese wirken wiederum auf die elterliche Fantasie zurück. Das ist zunächst unproblematisch, wie Beispiel 1 zeigt. Beispiel 1 Das Baby liegt auf der Wickelkommode, lacht die Mutter an und strampelt dabei freudig mit den Beinen, die den Bauch der Mutter treffen. Die Mutter erinnert sich dadurch an den Vater des Babys und dessen Brüder, die viel Spaß beim Fußballspiel haben. Sie lächelt das Baby an, unterstützt das Strampeln sanft und sagt zu ihm, dass es wohl auch einmal ein guter Fußballspieler werden wird und dann mit dem Vater gemeinsam spielen könne. Das Baby hält den Blickkontakt zur Mutter und verstärkt das Lächeln.
Kommt es jedoch aufgrund biografischer Belastungen zu groben Verzerrungen in Zuschreibungen zum Kind und in der Wahrneh-
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mung des Kindes, entwickelt sich aus diesen Fantasien pathologisches Potenzial. Beispiel 2 Wie im ersten Beispiel liegt das Baby auf der Wickelkommode, lacht die Mutter an und strampelt. Die Mutter hat in ihrer Kindheit Misshandlung durch ihre Eltern erlebt, in deren Verlauf sie auch getreten wurde. Ihr Gesicht verfinstert sich, mit bedrohlichem Gesicht geht sie nahe an das Baby heran. Sie äußert: »Willst mich wohl jetzt schon treten, was?«, und kneift das Baby leicht in den Oberschenkel. Das Baby blinzelt, sein Lächeln erlischt, es wendet den Blick von der Mutter ab und schaut zur Seite.
Aus der verzerrten Wahrnehmung folgt ein entgleister Kontakt mit »imaginären Interaktionen« (Brazelton u. Cramer, 1994). Das Baby kann dabei einen Menschen aus der Vergangenheit eines Elternteils repräsentieren, oder die Beziehung zwischen Elternteil und Kind kann ein Beziehungsmuster aus der Vergangenheit der Eltern wiederholen, oder das Baby kann einen Aspekt des Unbewussten eines Elternteils repräsentieren (Windaus, 2012). Das symptomatische Verhalten des Säuglings oder Kleinkindes ist dabei im Wesentlichen »das Ergebnis einer für ihn aversiven Stimulierung in der Interaktion« (Dornes, 1993, S. 209). Aus dem beschriebenen Zusammenhang und der Dynamik zwischen den Repräsentationen und der Interaktion ergeben sich unterschiedliche mögliche Schwerpunktsetzungen für die Beratung und Therapie. Wie in Abbildung 4 dargestellt, unterscheidet Stern (2006) zwischen Verfahren, die primär auf eine Veränderung der Repräsentationen der Mutter zielen, und Verfahren, die eine Veränderung des Interaktionsverhaltens erreichen wollen.
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie Therapeutisches Ziel
Veränderungen der Repräsentationen der Eltern
Methodische Ansatzpunkte
Repräsentationen der Eltern
Veränderungen des Interaktionsverhaltens der Eltern Korrigierende Bindungserfahrung
Beobachtbares Verhalten der Eltern
Direkte Deutung
Netzwerk der Familieninteraktionen
Verhalten des Säuglings Mentalisierung der Eltern Mutter-/Vater-KindInteraktion Gegenübertragung des Therapeuten Repräsentationen des Säuglings PSYCHODYNAMISCHE VERFAHREN
Abbildung 4: Ziele und methodische Ansatzpunkte für Beratung und Therapie (nach Stern, 2006, und Cierpka, 2012)
Das psychodynamische Modell für das Säuglings- und Kleinkindalter fokussiert auf die Veränderung der Repräsentationen, also der bewussten oder unbewussten Bedeutungszuschreibungen durch die Eltern auf das Kind (in der Abbildung links dargestellt). Der konkrete Weg zu diesem Ziel kann unterschiedlich gewählt werden. Stern (2006) benennt innerhalb der psychodynamischen Verfahren zwei methodische Ansatzpunkte, die direkt an den elterlichen Repräsentationen ansetzen. Als verändernder Faktor wird hier entweder die korrigierende Bindungserfahrung in der therapeutischen Beziehung gesehen (z. B. im Therapieansatz von Liebermann und Pawl in der Nachfolge Selma Fraibergs; Liebermann u. Pawl, 1993) oder die direkte Deutung des thematischen Zusammenhangs zwischen der Repräsentation der Mutter und der gegenwärtigen Mutter-KindInteraktion (z. B. im Therapieansatz von Cramer und Palacio-Espasa, 2009). Darüber hinaus kommen das Verhalten des Säuglings, die Mentalisierung der Eltern, die Mutter-/Vater-Kind-Interaktion, die Gegenübertragung des Therapeuten und die (mutmaßlichen) Reprä-
Unterschiedliche Beratungs- und Therapieansätze93
sentationen des Säuglings als Ansatzpunkte der Intervention infrage (Cierpka, 2012; Stern, 2006). Letztlich können nach den Ergebnissen von Sterns vergleichender Erfolgsstudie all diese Wege vielversprechend sein und verändern sowohl die mütterlichen Repräsentationen als auch das mütterliche Verhalten. Demnach scheint eine integrierte Sichtweise aller wirkenden Kräfte sinnvoll und bietet Möglichkeiten, das Setting an die jeweiligen Bedürfnisse anzupassen. Bezogen auf das Fallbeispiel von Monika und Tarek K. mit ihrem fünf Monate alten Sohn Daniel könnte sich eine psychodynamische Beratung wie folgt gestalten: Die Eltern von Daniel werden zu einem Erstgespräch in die Beratungsstelle eingeladen. Nach einem kurzen Austausch zur Begrüßung bittet der Berater sie, vom Grund ihrer Kontaktaufnahme zu berichten. Um eine sichere Beratungsbeziehung herzustellen, nimmt der Berater die Erzählung der Eltern empathisch auf und spiegelt die Gefühle der Eltern. Er bittet die Eltern dann, von ihrer eigenen Herkunftsgeschichte zu berichten. Die Mutter erzählt, dass sie als Einzelkind aufgewachsen sei. Solange sie sich erinnern könne, seien beide Eltern berufstätig gewesen. Sie selbst sei im Ganztagskindergarten und später in Schule und Hort betreut worden. Sie habe erlebt, dass auf ihre Bedürfnisse wenig Rücksicht genommen wurde und habe sich oft einsam gefühlt. Sie habe sich sogar als störend erlebt. Ihrem Kind wollte sie dieses Gefühl nie geben. Der Vater berichtet, dass er sich an die Zeit in Albanien nicht mehr erinnern könne. Hier in Deutschland habe der Vater sehr viel gearbeitet, die Mutter sei zu Hause gewesen. Er habe erlebt, dass sie immer für die Kinder da gewesen sei. Streit oder Geschrei habe es nicht gegeben. In seiner Familie gebe es einen engen Zusammenhalt, auch heute noch. Er wünsche sich, dass es auch in seiner eigenen Familie so sein könne. Während des Gespräches erlebt der Berater, dass der Gesprächsfluss immer wieder ins Stocken kommt, weil die Aufmerksamkeit der Eltern auf das Kind gerichtet ist. Die Eltern halten Daniel abwechselnd auf dem Arm und reagieren auf alle Äußerungen des Kindes. Wendet das Kind den Kopf ab, intensivieren die Eltern das eigene Verhalten. Daniel wird zunehmend unruhig. Die Eltern bemerken, dass es jetzt wieder anfange. Später steigere die Unruhe sich bis zum unstillbaren
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
Schreien, obwohl sie alles daran setzten, seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Auf Nachfragen des Beraters erläutert die Mutter, dass Daniel so verloren schaue, wenn er den Kopf abwende, und dass sie den Eindruck habe, er fühle sich dann einsam. Dann mache sie ihn auf sich aufmerksam und zeige ihm deutlich, dass sie für ihn da sei. Der Vater bestätigt dies. Der Berater beobachtet daraufhin mit den Eltern gemeinsam das Verhalten des Kindes und überlegt mit ihnen, was das Kopfabwenden von Daniel noch bedeuten könnte. Die Idee der Eltern, dass das auch »Jetzt ist es genug« heißen kann, greift er auf und vertieft sie durch entwicklungspsychologische Informationen. Ziel der gemeinsamen Beobachtung und der entwicklungspsychologischen Information ist die Veränderung der elterlichen Repräsentationen. Zum Abschluss des ersten Treffens bittet er die Eltern, zu beobachten, wie Daniel reagiert, wenn sie sein Kopfabwenden als »Bitte um Pause« verstehen, und wie er deutlich macht, dass er ihre Zuwendung oder Unterstützung braucht. Im Verlauf der nächsten Beratungssitzungen berichten die Eltern von einer sich deutlich entspannenden Situation. Sie hätten festgestellt, dass Daniel oft nach einer solchen Pause von selbst wieder den Kontakt zu ihnen suche, anscheinend also wisse, dass sie für ihn da seien. Nachts habe er sich oft durchgestreckt, wenn sie ihn hochgenommen hätten. Sie hätten überlegt, ob das ähnlich sei wie Kopfabwenden, und würden ihn jetzt im Bett berühren und ansprechen. Seither schlafe er schneller wieder ein und die Eltern müssten das eigene Bett nicht verlassen. Dennoch sei vor allem die Mutter unsicher, ob es ihr gelinge, eine gute Mutter zu sein. Der Berater erforscht mit den Eltern ihre mentalen Modelle von »guten Eltern«, und sie stellen gemeinsam Verbindungen zur Herkunftsgeschichte der Eltern her. Für Frau K. wird deutlich, dass ihre bisherige Vorstellung »Eine gute Mutter ist immer im Kontakt mit ihrem Kind« mit ihrem Gefühl der Einsamkeit als Kind zusammenhängt. In der weiteren Arbeit kann dieses Modell verändert werden zu »Eine gute Mutter ist für ihr Kind da, wenn es sie braucht«. Herr K. entdeckt, dass er unbewusst dachte: »Das Kind guter Eltern schreit nicht«, weil er das im Kreis seiner Herkunftsfamilie so erlebte. Durch intensive Kontakte mit dem Kind versuchte er, Quengeln und Schreien des Kindes zu beenden. Sein verändertes Modell beschreibt er so: »Gute Eltern überlegen sich,
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warum ihr Kind schreit, und helfen ihm dann.« Zusätzlich beobachten Eltern und Berater weiterhin gemeinsam Daniels Signale und sprechen über deren Bedeutung.
4.1.3 Chancen und Grenzen des Ansatzes in einer kultursensitiven Beratung und Therapie Psychodynamisches und insbesondere psychoanalytisches Denken ist sowohl in der Entstehung als auch in der weiteren Entwicklung eng mit der euro-amerikanischen westlichen Denk-, Geistes- und Ideengeschichte verbunden. Dennoch gibt es innerhalb der psychodynamischen Tradition Anknüpfungspunkte, die den Blick auf andere Kulturen öffnen. C. G. Jung entwickelte neben dem individuellen Unbewussten die Idee des kollektiven Unbewussten, das die über lange Zeiträume gesammelten Erlebnisse der Menschen eines kulturellen Kontextes umfasst. Darüber hinaus sieht er auch die auf die Zukunft gerichteten Fantasien und Ziele der Menschen als kulturell geprägt an. Stern (2006) führt an, dass über die Repräsentationen kulturelle oder historische Ereignisse Geltung erlangen können, die von den Betreffenden selbst nicht erlebt wurden. In Bezug auf Familien mit anderem kulturellen Hintergrund bleibt die Herkunftskultur in den Repräsentationen der Eltern präsent und prägt auch die Repräsentationen der folgenden Generationen mit. Die potenziell blinden Flecke der psychodynamischen Beratung und Therapie (wie aller anderen Formen, die in vergleichbaren kulturellen Kontexten entwickelt wurden) liegen in der Berücksichtigung verbundenheitsorientierter Kulturen und Entscheidungswege. Zum einen wirken sich die kulturell geprägten Repräsentationen von Beraterinnen oder Therapeuten auf deren Wahrnehmung von Eltern-Kind-Interaktionen aus. Elemente in der Mutter-/Vater-KindInteraktion, die dem eigenen repräsentierten Wert- und Weltbild entsprechen, werden leichter wahrgenommen und gleichzeitig oftmals höher bewertet. Dem Blickkontakt als einer Form der distalen Beziehungsgestaltung zwischen Mutter/Vater und Kind wird beispielsweise ein höherer Stellenwert eingeräumt gegenüber einem proximalen Elternverhalten mit ausgeprägter Körperstimulation, die häufig rasch als intrusiv wahrgenommen wird. Entsprechend der eigenen autonomiebetonten Repräsentation wird es als förder-
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
lich angesehen, Kinder früh mit entscheiden zu lassen. Elterliche Vorgaben ohne Begründung werden dagegen als einschränkend für die Entwicklung betrachtet. Zum anderen machen sich die Repräsentationen der Fachpersonen in der distanz- und autonomiebetonten Gestaltung des beraterischen bzw. therapeutischen Settings bemerkbar: Zuweisungen zu und Übergänge zwischen Institutionen und Fachpersonen finden üblicherweise ohne persönlichen Kontakt statt, die Einhaltung der professionellen Distanz gilt als zentrales Qualitätskriterium der Arbeit, Eltern sollen Entscheidungen autonom treffen. Wenn verbundenheitsorientierte Kulturen und Entscheidungswege berücksichtigt werden, entstehen daraus neue Anforderungen. Wie oben dargestellt, bietet die psychodynamische Beratung und Therapie eine Vielzahl von methodischen Ansatzpunkten, um das therapeutische Ziel, die Veränderung der elterlichen Repräsentationen, zu erreichen. Die Wahl des Ansatzpunktes hat entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der beraterischen bzw. therapeutischen Beziehung. Stern (2006) betont, dass die therapeutische Beziehung den kulturell sensibelsten Aspekt eines jeden Behandlungsansatzes darstellt. Die Wahl des Ansatzes hat somit direkte Folgen für die Gestaltung des Settings, angefangen von den Zuweisungsmodalitäten über die Räumlichkeiten bis zur beraterischen bzw. therapeutischen Beziehung. Beispielhaft sollen Elemente der Arbeit Selma Fraibergs (2011) und ihres Teams vorgestellt werden, die sie im Rahmen des Child Development Project zur klinischen Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern von null bis drei Jahren in den 1970er Jahren entwickelt haben. Die gesamte Arbeit mit den Familien und ihren Babys mit schweren Störungen war von einer stützenden Haltung getragen, die sich von den elterlichen Kompetenzen in Bezug auf das Kind bis zur emotionalen Unterstützung der Eltern in für sie bedrohlichen Bereichen erstreckte. Hausbesuche (»therapy in the kitchen«) stellten ein wesentliches Element dar, um einen entspannten Zugang zu den Familien zu gestalten. In der Entwicklungsberatung wurden die Eltern über die Bedürfnisse des Kleinkindes informiert und erhielten gegebenenfalls Anleitung. Zusammenfassend betont Fraiberg, dass Wege und Beratungsmethoden dem jeweiligen Baby und seinen
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Bezugspersonen angepasst sein müssen und die Hilfe wohlwollend und diskret erfolgen müsse. Zudem betont sie die oftmals großen Wirkungen von kleinen Deutungen. Übertragen auf die Arbeit mit Familien aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten können die beraterische bzw. therapeutische Beziehung und das Setting grundsätzlich mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auf die jeweilige Kultur der Klientinnen und Klienten zugeschnitten werden. Der Fokus auf der Veränderung der elterlichen Repräsentationen wird dadurch nicht verändert. In Bezug auf die Beziehungsgestaltung können beispielsweise GehStrukturen (wie Hausbesuche oder Termine im räumlichen Umfeld der Familie) und persönliche Kontakte (im Rahmen der Zuweisung oder beim Tee im Rahmen des Hausbesuchs) Nähe vermitteln. Verbundenheitsorientierten Erwartungen kann durch eine aktiver und direktiver gestaltete Rolle der Fachperson begegnet werden, wie sie beispielsweise über die Entwicklungsberatung und Anleitung ermöglicht wird. Durch den (direkten oder indirekten) Einbezug relevanter Familienangehöriger und des Netzwerkes der Familie können deren Haltung und Ansicht mit einbezogen werden. Das skizzierte Vorgehen fordert viel von Beraterinnen bzw. Therapeuten. Aus einem breiten Methodenrepertoire zu schöpfen und sich flexibel auf die jeweilige Situation einzustellen, entspricht meist weder der Ausbildungs- noch der Alltagsrealität in Einrichtungen und Praxen. Ein solches Vorgehen ist aus der Sicht des in diesem Buch vertretenen Ansatzes notwendig, um der kulturellen Vielfalt von Familien systematisch, angemessen und erfolgreich begegnen zu können.
4.2 Verhaltensorientierte Beratungs- und Therapieansätze 4.2.1 Geschichte und Hintergrund Die Grundannahme des verhaltensorientierten Ansatzes besteht darin, dass Verhalten gelernt ist. Lernen wird definiert als »derjenige Prozess, der einer relativ überdauernden Verhaltensänderung zugrunde liegt und als Ergebnis von Übungen oder Erfahrungen zustande gekommen ist« (Steinebach, 2006, S. 175). Das Erlernen
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
von Verhaltensweisen und Verhaltensänderungen wird beeinflusst von Umweltreizen, die diesen vorausgehen, sie begleiten oder als Konsequenz darauf erfolgen. Diese Umweltreize betreffen entweder die eigene Person oder werden an einer anderen Person (Modell) beobachtet. Die Genese bestimmten Verhaltens ist demnach Resultat direkter Verstärkung durch die Umwelt oder Resultat stellvertretender Verstärkung durch Modell-Lernen (Steinebach, 2006; Thompson, 2003). Diese Position des verhaltensorientierten Ansatzes impliziert auch, dass Problemverhalten aufgrund von Lernprozessen entsteht (Steinebach, 2006). Andere Faktoren, wie beispielsweise das Temperament, spielen eine untergeordnete Rolle, wodurch dem verhaltensorientierten Ansatz ein hohes Ausmaß an »pädagogischem Optimismus« attestiert wird (Boeger, 2009, S. 150). Der verhaltensorientierte Ansatz hat, ähnlich wie der psychodynamisch-tiefenpsychologische Ansatz, eine lange Tradition in der psychologischen Beratung und Therapie. Ein wesentlicher Unterschied zu den psychodynamisch-tiefenpsychologischen Ansätzen besteht in der theoretischen Verankerung des verhaltensorientierten Ansatzes in der empirischen Psychologie. Die empirischen Arbeiten zu den behavioralen Lerntheorien konstituieren das ursprüngliche theoretische Rahmenmodell des verhaltensorientierten Ansatzes. Hier sind die richtungsweisenden Forschungsarbeiten zu Reiz-Reaktions-Modellen von Ivan Petrovič Pavlov (1849–1936), Burrhus Frederic Skinner (1904–1990), John Broadus Watson (1878–1958) und Edward Lee Thorndike (1874–1949) zu nennen. Zu den behavioralen Lerntheorien zählen die Theorie zur klassischen Konditionierung und die Theorie zur operanten Konditionierung. Die Theorie der klassischen Konditionierung begründet sich auf den Arbeiten Pavlovs zum Speichelflussreflex bei Hunden, der durch einen – üblicherweise nicht reflexauslösenden – neutralen Reiz (Glockenton) hervorgerufen wurde, indem er zuvor mit einem reflexauslösenden Reiz (Futter) gekoppelt wurde. Mit den Arbeiten Watsons und Rayners (1920) zur Konditionierung einer Angstreaktion vor einer Ratte bei einem kleinen Jungen (»Little Albert«; 9.–11. Lebensmonat) erfolgte eine Übertragung auf menschliches Verhalten. Die Theorie liefert ein Erklärungsmodell, wie Verhalten (bzw. auch Emotionen) durch einen auslösenden Reiz bestimmt wird. Damit
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kann diese Theorie dem Assoziationslernen zugerechnet werden. Ein anfangs neutraler Reiz A (z. B. Ratte) wird aufgrund einer zeitlichen und/oder räumlichen Nähe mit einem anderen Reiz B (z. B. starker, schreckauslösender Lärm) verbunden. Dieser wiederum löst eine bestimmte Reaktion aus (z. B. Angst). Durch diese Verbindung wird der anfangs neutrale Reiz A allein eine bestimmte Reaktion auslösen. Bleibt die Kopplung zwischen den beiden Reizen A und B wiederholt und dauerhaft aus, dann verliert der anfangs neutrale Reiz A seine reaktionsauslösende Wirkung wieder (siehe auch Boeger, 2009; Perrez u. Zbinden, 1996). Erklärungsansätze dafür, wie Verhalten durch Konsequenzen in der Umwelt aufrechterhalten, verändert und erworben werden kann, bietet die Theorie der operanten Konditionierung. Für diese Theorie lieferten Thorndike (1929) und Skinner (1938) mit Tier-Experimenten die empirische Basis. Demnach wird die Auftretenshäufigkeit bestimmter Verhaltensweisen davon bestimmt, inwieweit Verhalten verstärkt oder bestraft wird. Verstärkung besteht in positiven Konsequenzen (positive Verstärkung; z. B. Kind quengelt, Mutter nimmt es auf den Arm) oder im Wegfall negativer Konsequenzen (negative Verstärkung; z. B. Kind quengelt beim Essen von Brokkoli, Mutter räumt den Brokkoli weg). Diese ist umso wirksamer, je höher die Kontingenz (im Sinne eines geringeren zeitlichen Abstands) zwischen Verhalten und Verstärkung ist. Je jünger Kinder sind, umso kürzer muss der Abstand zwischen Verhalten und Verstärkung sein (Millar, 1990). Als Bestrafung wird die Konfrontation mit einem aversiven Reiz (positive Bestrafung; z. B. Kind wird angeschrien) oder der Wegfall einer positiven Konsequenz (negative Bestrafung; z. B. Kind bekommt eine Auszeit und damit keine Aufmerksamkeit mehr) bezeichnet. Bestrafung ist aber weniger verhaltenswirksam als Verstärkung. Negative Verstärkung, das heißt der Entzug positiver Verstärker, erweist sich als effektiver. Bei der Entstehung von psychischen Störungen spielen klassische Konditionierungsprozesse eine wichtige Rolle, während operante Konditionierungsprozesse einen bedeutenden Beitrag zur Aufrechterhaltung von psychischen Störungen leisten (siehe auch Zwei-Faktoren-Modell nach Mowrer, 1960). Auch in der Beratung und Therapie von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern haben
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
die Grundideen der klassischen und operanten Konditionierung Anwendung gefunden, da diese bei den elterlichen Fütter-, Schlaf-, Spiel- und Beruhigungsroutinen eine bedeutende Rolle spielen. So lernen beispielsweise Babys bereits im Alter von zwei Monaten, ihr Verhalten zu wiederholen, wenn eine positive Verstärkung eintritt (Hartshorn u. Rovee-Collier, 1997). Lernprozesse erfolgen aber nicht nur durch eigene Verhaltenserfahrungen, sondern auch durch stellvertretendes Lernen durch Beobachtung (Modell-Lernen). Die soziale Lerntheorie, die Lernen durch Beobachtung beschreibt, wird mit dem Namen des kanadischen Psychologen Albert Bandura (geb. 1925) verbunden. Bandura nimmt eine aktive Interaktion eines Menschen mit seiner Umwelt an. Der Mensch beeinflusst die Umwelt und wird von der Umwelt beeinflusst, was auch als reziproker Determinismus bezeichnet wird. Das Ausmaß, durch das ein Mensch durch die Umwelt bestimmt wird, ist durch zugrunde liegende Aufmerksamkeitsprozesse und Kognitionen determiniert (Boeger, 2009). Die ursprünglichen rigiden Annahmen des Behaviorismus, dass Verhalten allein durch Lernerfahrungen in der Umwelt bestimmt wird und innere, psychische Prozesse wenig bedeutsam sind, wurden im Rahmen der »kognitiven Wende« erweitert (in diesem Zusammenhang waren weitere bekannte Persönlichkeiten: Albert Ellis, Aaron Beck, Martin Seligman und Arnold Lazarus). Die Grundannahmen des verhaltensorientierten Ansatzes wurden vielfach in die Psychotherapie- und Beratungspraxis übertragen, was sich in einem umfangreichen und heterogenen Methodenspektrum abbildet. Diese Methoden basieren trotz ihrer Vielfalt auf bestimmten Grundprinzipien (für eine detaillierte Übersicht siehe Margraf, 2000). Nach Margraf (2000) sind verhaltensorientierte Methoden problemorientiert und fokussieren konkretes, aktuelles Verhalten und dessen »prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Problembedingungen« (Margraf, 2000, S. 4). Damit einhergehend sind verhaltensorientierte Methoden zielorientiert, das bedeutet, es wird genau operationalisiert, welches Verhalten korrekturbedürftig ist. Für eine Verhaltensänderung ist es nicht ausreichend, Einsicht darin zu gewinnen, was geändert werden soll, sondern neues oder modifiziertes Verhalten muss aktiv erprobt
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und geübt werden. Hier betont der verhaltensorientierte Ansatz die Wichtigkeit des Transfers neuer und modifizierter Verhaltensweisen in Alltagssituationen. Ein weiteres, zentrales Charakteristikum besteht in der Transparenz verhaltensorientierter Methoden. Der Klient wird dabei unterstützt, Prozesse zu verstehen, wie Verhalten ausgelöst sowie durch Lernprozesse verändert oder aufgebaut werden kann. Darin ist auch die »Hilfe zur Selbsthilfe« zu sehen. Aufgrund der Verankerung in der empirischen Psychologie unterliegen verhaltensorientierte Methoden kontinuierlicher Weiterentwicklung und der Forderung nach evidenzbasierten Wirksamkeitsnachweisen. Die Rolle der Beraterin bzw. des Therapeuten ist als aktiv, beratend, verstärkend und belehrend zu beschreiben (Gladding, 2009). Seine/ihre Funktion besteht darin, eine Verhaltensänderung oder einen Verhaltenserwerb zu unterstützen. Das gelingt, indem die Beraterin oder der Therapeut Fachwissen vermittelt und die Klientin dazu anregt, sich mit dem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen und neue Verhaltensweisen im Alltag zu erproben, was häufig als »Hausaufgaben« bezeichnet wird. Ein gelingender Beratungs- bzw. Therapieprozess ist folglich von einer aktiven Mitarbeit der Klientin abhängig. In diesem Sinne begegnen sich Berater bzw. Therapeut und Klientin als gleichberechtigte Partner. Der Ablauf einer verhaltensorientierten Beratung oder Therapie ist strukturiert. Üblicherweise findet zuerst eine detaillierte Erörterung der Problemstellung statt. Das Ziel der Beraterin bzw. des Therapeuten ist es, mit gezielten Fragen eine möglichst konkrete Beschreibung des Problems und dessen vorausgehenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren zu bekommen (z. B. »Wann haben die Wutanfälle Ihres Kindes begonnen?«, »Können Sie sich noch erinnern, was es für Auslöser für die Wutanfälle gab?«, »Wie sind Sie bisher damit umgangen?«). In einer Zielanalyse wird dann geklärt, welche Verhaltensänderung erreicht werden soll. Die Besprechung des Problems und des gewünschten Zielzustandes erlaubt einen Abgleich zwischen aktuellen und gewünschten Zuständen und ermöglicht damit Einsicht in tatsächliche oder wahrgenommene dazwischenliegende Hindernisse, die Thema der Beratung werden können (Fiedler, 2000). Der Fokus einer verhaltensorientierten Beratung liegt auf dem Problem und dem »Problemträger«, darüber hinaus
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muss aber auch in einer verhaltensorientierten Beratung der soziale Kontext einbezogen werden, weil Verhaltensänderungen nicht kontextunabhängig möglich sind. Fiedler (2000, S. 588) betont hierbei unter anderem Beziehungen zur Familie, zu Freunden, zu Nachbarn und zu »berufliche[n] und gesellschaftliche[n] Einbindungen sowie den dort stattfindenden Normierungen und Wertungen«. Durch die Berücksichtigung des sozialen Kontexts bekommt die Beraterin bzw. der Therapeut ein Bild davon, welche Änderungsspielräume für den Klienten überhaupt gegeben sind. Werden andere Familienmitglieder direkt in die verhaltensorientierte Beratung oder Therapie einbezogen, dann haben diese eine unterstützende Aufgabe. Auch vorhandene genutzte und (noch) nicht genutzte Ressourcen werden thematisiert. Basierend darauf erfolgt eine transparente Planung des weiteren Beratungs- oder Therapieprozesses. In der Regel klärt die Beraterin bzw. der Therapeut auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse den Klienten über die Entstehung und Aufrechterhaltung des betreffenden Problemverhaltens auf (Psychoedukation). In einem weiteren Schritt werden verhaltensorientierte Methoden vermittelt, die im Umgang mit dem Problemverhalten helfen sollen. Dabei werden verhaltensaufbauende Methoden (z. B. selbst Modellverhalten zeigen, loben) von verhaltensabbauenden Methoden (z. B. Ignorieren) abgegrenzt. Diese werden angewandt und mithilfe der Beraterin oder des Therapeuten in den Alltag übertragen. Ziel ist es, den Klienten dabei anzuleiten, das Problemverhalten bzw. -erleben abzubauen und vor allem dabei, sich künftig selbst helfen zu können, was auch als ein Endpunkt des Beratungs- oder Therapieprozesses angesehen werden kann. 4.2.2 Anwendung bezogen auf die Arbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern Eine verhaltensorientierte Herangehensweise bei der Beratung und Therapie von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern sensibilisiert besonders für die Betrachtung des konkreten, als problematisch eingeschätzten Verhaltens (z. B. Kind schreit sehr viel, Kind testet Grenzen aus und verhält sich unkontrollierbar, Kind schläft nicht ein, Kind schläft nicht durch). In der Problemerörterung werden vor
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allem gegenwärtige Ursachen des Verhaltens auf Elternseite gesucht, nachdem organische Ursachen beim Kind vom Kinderarzt ausgeschlossen wurden. Zur Behebung der Verhaltensursachen existiert ein umfangreiches Repertoire an verhaltensorientierten Methoden, die lerntheoretisch verortet sind und darauf abzielen, kindliches Verhalten indirekt über das Elternverhalten zu verändern. So wurde beispielsweise für kindliche Ein- und Durchschlafschwierigkeiten die Methode des Checking (z. B. Ferber, 1985; Kast-Zahn u. Morgenroth, 2007) entwickelt, zur Intervention bei übermäßigem Schreien die Reduktion von Stimulation und die Einhaltung einer regelmäßigen Tagesstruktur, für den Umgang mit Wutanfällen Verfahren wie Ignorieren oder Auszeit-Techniken. Hier lassen sich auch Interventionen einordnen, bei denen Belohnungen für erwünschtes oder für das Unterlassen von unerwünschtem Verhalten eingesetzt werden (beispielsweise wenn mit dem Kind vereinbart wird, dass es für jedes Einschlafen im eigenen Bett einen Sternchenaufkleber bekommt und für jeweils dreißig Sternchen ein kleines Spielzeug oder eine Süßigkeit erhält). Auch Interventionen sind verhaltensorientierten Methoden zuzurechnen, bei denen dem Kind erläutert wird, dass eine Fortführung bestimmter kindlicher Verhaltensweisen gewisse Konsequenzen nach sich zieht (z. B. »Wenn wir das Anziehen jetzt nicht hinbekommen, dann haben wir später auch keine Zeit mehr, um auf den Spielplatz zu gehen«, »Wenn du die anderen Kinder beißt und schlägst, dann wollen die nicht mehr mit dir spielen und wir müssen dann nach Hause gehen«). Auch finden verhaltensorientierte Methoden Eingang in komplexere Interventionsprogramme für Eltern (z. B. Triple P, Markie-Dadds, Turner u. Sanders, 2009). Ein wesentliches Ziel der verhaltensorientierten Arbeit mit Eltern besteht darin, aufzuzeigen, dass sie Einfluss auf das Verhalten ihres Kindes haben. Durch die Vermittlung von Wissen zu Entstehungsbedingungen von Verhalten, durch Anregungen zum Umgang mit dem kindlichen Verhalten und durch aktives Umsetzen dieser Anregungen kann ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet werden, die Selbstwirksamkeit der Eltern zu stärken. Bezogen auf das Fallbeispiel von Monika und Tarek K. mit ihrem Sohn Daniel könnte sich eine verhaltensorientierte Beratung oder Therapie folgendermaßen gestalten:
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Die Eltern füllen vor der ersten Sitzung ein 7-Tagesprotokoll aus, in dem alle Zeitfenster vermerkt werden, in denen das Kind schreit, unruhig ist, schläft, isst, spielt und beruhigt wird. Auch notieren die Eltern, welche Beruhigungshilfen sie einsetzen und welche Einschlafhilfen notwendig sind. In der ersten Sitzung stellt die Beraterin gezielt weitere Fragen, um ein klares Bild des Problems zu bekommen und das Ziel der Beratung oder Therapie festzulegen. Bei der Frage nach dem erwünschten Zielzustand geben die Eltern an, ihr Kind schneller beruhigen zu können, weniger Schreizeiten am Tag zu haben und die Einschlafsituationen weniger aufwendig zu gestalten. Sie erleben sich inzwischen schon als hilflos, da alle von ihnen eigentlich als wirksam eingeschätzten Beruhigungsmaßnahmen wirkungslos erscheinen. Sie haben Unsicherheiten darüber, ob sie gute Eltern sind. Ein Blick auf das 7-Tagesprotokoll weist auf ein kulminierendes Schreiverhalten besonders in den Abendstunden hin, das auch schon von den Eltern angesprochen wurde. Auch bildet sich eine eher unregelmäßige Tagesstruktur ab, was Essens- und Tagschlafphasen betrifft. Um zu erörtern, welcher Änderungsspielraum für die Eltern gegeben ist, interessiert sich die Beraterin im Gespräch für mögliche Gründe für diese Struktur. Die Mutter gibt an, fast jeden Tag unter der Woche Angebote mit ihrem Sohn wahrzunehmen, die genügend Anregungen für ihn bieten sollen und nach Ansicht der Mutter seiner Entwicklung zuträglich sind (z. B. eine Mutter-Kind-Gruppe, ein Babyschwimmkurs, ein Babymassagekurs). Diese Angebote finden zu unterschiedlichen Tageszeiten statt, was immer etwas Unruhe in die Tagesstruktur bringt. Der Vater befürwortet dieses Engagement seiner Frau und sieht darin auch Kontaktmöglichkeiten für sie, weil ihre Familien weit entfernt wohnen und Frau K. deshalb viel mit Daniel allein ist. In einem nächsten Schritt geht die Beraterin psychoedukativ vor, indem sie den Eltern Wissen zur kindlichen Entwicklung vermittelt, insbesondere zum Schlaf-Wach-Rhythmus und zu kindlichen Zeichen, die Müdigkeit und Überreizung ausdrücken. Dabei versucht sie, günstige elterliche Verhaltensweisen, die sie bereits beobachtet hat, zu verstärken. Damit möchte sie erreichen, dass sich die Eltern wieder selbstwirksamer im Umgang mit ihrem Kind fühlen. Den Eltern wird auch empfohlen, eine regelmäßige Tagesstruktur mit festen Essensund Schlafenszeiten einzuhalten. Kindzentrierte Aktivitäten außer Haus
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sollten mittelfristig auf ähnliche Tageszeiten verlegt und Reize in der Umgebung des Kindes reduziert werden (z. B. vor und nach Besuch der Mutter-Kind-Gruppe mit dem Kind länger spazieren gehen, um Tagschlafphasen zu ermöglichen; bei Müdigkeitszeichen das Radio ausstellen, den Raum etwas abdunkeln, das Spielzeug reduzieren). Da die Beraterin in den Sitzungen das Verhalten des Kindes beobachtet, kann sie den Eltern auch konkrete Hinweise zu Müdigkeitszeichen geben und mit ihnen (möglichst rechtzeitig zu erfolgende) Reaktionsmöglichkeiten darauf besprechen. Als Hausaufgabe sollten die Eltern versuchen, bis zur nächsten Sitzung die Anregungen der Beraterin zu berücksichtigen, und gleichzeitig das 7-Tagesprotokoll weiterführen.
4.2.3 Chancen und Grenzen des Ansatzes in einer kultursensitiven Beratung und Therapie Der verhaltensorientierte Ansatz ist von autonomieorientiert-westlichen Denkweisen geprägt, basiert aber auf universellen Lernmechanismen, was folglich Potenziale für die Unterstützung von autonomie- und verbundenheitsorientierten Familien bietet. Es ergeben sich aber auch in einer verhaltensorientierten Beratung oder Therapie Grenzen. Der Fokus der verhaltensorientierten Beratung oder Therapie liegt auf dem konkreten Problemverhalten. Das Problem wird dabei explizit angesprochen. Das setzt bei den Familien eine Problemwahrnehmung und die Bereitschaft, sich bei einer fremden Person offen darüber mitzuteilen, voraus. Eher autonomieorientierten Familien, die gewohnt sind, ihr Elternverhalten und damit einhergehende Probleme mit anderen zu besprechen und zu reflektieren, ermöglicht das eine vertraute Art der Auseinandersetzung. Allerdings könnte der enge Bezug auf das Problemverhalten in einem professionellen Beratungs- oder Therapiesetting auch als zu reduktionistisch und wenig ganzheitlich erlebt werden. Für verbundenheitsorientierte Familien, die die Darlegung persönlicher Gefühle im Beratungs- und Therapiekontext als eher unüblich empfinden, kann ein verhaltensorientierter Ansatz mit einem abstraktionsfähigen Problemfokus von Vorteil sein. Kritisch ist aber, dass die Beratung oder Therapie darauf abzielt, Verhalten zu verändern. Damit assoziiert sein könnte auch die Botschaft, dass das betreffende Verhalten in Referenz zum »normalen«
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Kind- und Elternverhalten als korrekturbedürftig bewertet wird. Das ist sinnvoll, wenn aufseiten der Familien eine tatsächliche Problemwahrnehmung, ein Leidensdruck und ein Änderungswunsch gegeben sind. Wenn Familien die Beratung oder Therapie aber aufgrund anderer Beweggründe in Anspruch nehmen (z. B. Empfehlung des Kinderarztes oder pädagogischer Fachkräfte in Kindertagesstätten), besteht die Gefahr, kindliches Verhalten und Erziehungspraktiken von Eltern zu pathologisieren. Die Klärung der Motive für die Inanspruchnahme der Beratung oder Therapie ist daher für eine kultursensitive Ausrichtung zentral. Auch die Rolle des Beraters könnte bei Familien mit vielfältigen kulturellen Hintergründen unterschiedlich angenommen werden. Im verhaltensorientierten Ansatz hat die Beraterin bzw. der Therapeut eine Expertenrolle, die sie/er ausübt, indem sie/er die Rat suchenden Familien über wissenschaftlich fundierte Erklärungs- und Entstehungsmodelle zu Problemverhalten aufklärt und auf das Problemverhalten passende, evidenzbasierte Interventionsmethoden und Techniken anbietet. Obwohl der verhaltensorientierte Beratungsansatz auf die aktive Mitarbeit der Rat suchenden Familien angewiesen ist und gleichberechtigte Interaktionspartner im Beratungs- oder Therapieprozess annimmt, beinhaltet er eher direktive Verschreibungen und klare Handlungsvorschläge, die schnelle Lösungsansätze für ein Problem bereitstellen. Damit erfüllt die Beraterin bzw. der Therapeut die Rolle des kompetenten Experten, der weiß, was zu tun ist. Familien, die sich diesen kompetenten Experten wünschen, können sich in einem solchen Beratungs- oder Therapieprozess wohlfühlen. So könnten beispielsweise die autonomieorientierten Familien, die sich klare Empfehlungen zu ihrem Elternverhalten bereits über die Lektüre von Ratgeberliteratur einholen, von direktiven Verschreibungen profitieren. Auch ist es denkbar, dass diese anschlussfähig an die eher direktiven Expertensysteme sind, die Familien mit einem verbundenheitsorientierten Hintergrund möglicherweise gewohnt sind. Wünschen sich Familien jedoch eher individuelle Lösungsvorschläge, die sie selbst im Beratungsprozess entwickelt haben (wovon bei nicht wenigen autonomieorientierten Familien zumindest in Teilen ausgegangen werden kann), könnten diese durch direktive Verschreibungen den Eindruck gewinnen, in ihrer Individualität nicht
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wertgeschätzt zu werden. Auch könnten (eher verbundenheitsorientierte) Familien, die für sich das Konzept der responsiven Kontrolle (Yovsi et al., 2009) verinnerlicht haben, das heißt, die davon ausgehen, dass eine gute Mutter weiß, was das Beste für ihr Kind ist, Bevormundung und Abwertung erleben, wenn sie Anweisungen zu angemessenem elterlichen Verhalten bekommen. Da der verhaltensorientierte Ansatz das Elternverhalten als zentralen Umwelteinfluss auf das kindliche Verhalten betont, können Hinweise zu problematischem Elternverhalten als Bewertung oder Bloßstellung empfunden werden, die Scham- oder Schuldgefühle erzeugen. Auch ist der soziale Kontext nur insofern relevant, wie er den Prozess unterstützt und Änderungsspielraum erlaubt. So könnte diesem im Beratungsoder Therapieprozess weit weniger Beachtung geschenkt werden, als es beispielsweise in verbundenheitsorientierten Familien üblich und in der Arbeit mit ihnen sinnvoll und notwendig ist. Die psychoedukativen Anteile der Beratung oder Therapie haben dann Chancen für eine kultursensitive Ausrichtung verhaltensorientierter Beratung oder Therapie, wenn aktuelle Erkenntnisse aus kulturvergleichenden Forschungsarbeiten berücksichtigt werden. Diese erlauben Offenheit in Hinblick darauf, welche Formen des Elternverhaltens in einem bestimmten sozialen Kontext funktional sind und mit positiven Entwicklungsverläufen einhergehen und welche nicht. Der Anspruch an den verhaltensorientierten Ansatz besteht auch in einer kontinuierlichen Weiterentwicklung. Die Verortung dieses Ansatzes in der empirischen Psychologie bietet viel Potenzial, kulturvergleichende Befunde für eine kultursensitive Ausgestaltung der Beratungs- und Therapiearbeit nutzbar zu machen. Die Herausforderung besteht darin, die jeweilige kulturelle Orientierung im Beratungs- oder Therapieprozess adäquat zu erfassen.
4.3 Humanistische Beratungs- und Therapieansätze 4.3.1 Geschichte und Hintergrund In den 1950er Jahren etablierte sich als Gegenbewegung zur Psychoanalyse und zum Behaviorismus die Humanistische Psychologie als weitere wichtige Strömung in der amerikanischen Psychologie. Diese wird vor allem mit den Namen Carl R. Rogers (1902–1987), Abra-
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ham Maslow (1908–1970), Rollo May (1909–1994), Gordon Allport (1897–1967) und James F. Bugental (1915–2008) verbunden. Kurze Zeit später verbreitete sich die Humanistische Psychologie auch in Europa. Bekannte Vertreter waren in diesem Zusammenhang beispielsweise Charlotte Bühler (1893–1974) und Viktor Frankl (1905– 1997). Unter der Humanistischen Psychologie wird eine Werteorientierung verstanden, die eine erwartungsvolle, konstruktive Sicht des Menschen und seiner grundlegenden Kompetenz, selbstbestimmt zu sein, vertritt sowie wesentliche Einflussfaktoren menschlichen Verhaltens in Absichten und ethischen Werten sieht (Association for Humanistic Psychology, 2014). Im Artikel »The Third Force in Psychology« (»Die dritte Kraft in der Psychologie«) formulierte James F. Bugental (1964) fünf grundlegende Postulate der Humanistischen Psychologie, die seitdem von der Abteilung für Humanistische Psychologie der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie vertreten werden: 1) Menschen sind mehr als die Summe ihrer Teile. Sie sind nicht auf einzelne Elemente oder Funktionen zu reduzieren (Ganzheitspostulat), 2) Menschen existieren in einem einzigartigen Kontext und in einer kosmischen Ökologie. Das heißt, vom Kindesalter angefangen erlebt sich der Mensch in Beziehungen in seinem Kontext (Individualitäts- und Eingebundenheitspostulat), 3) Menschen sind sich ihrer selbst bewusst und sind sich dessen gewahr, dass sie ein Bewusstsein haben. Das menschliche Bewusstsein beinhaltet das Bewusstsein von sich selbst in Beziehungen zu anderen Menschen und in Beziehung zum Kosmos (Bewusstheitspostulat), 4) Menschen haben Möglichkeiten, sich frei zu entscheiden, und tragen für diese Entscheidungen die Verantwortung (Freiheits- und Verantwortungspostulat), und 5) Menschen sind intentional, sie streben nach Zielerreichung und sind sich bewusst, künftige Ereignisse hervorrufen zu können. Sie suchen nach Bedeutungen, Werten und Kreativität (Intentionalitätspostulat; übernommen und übersetzt aus dem Englischen nach Aanstoos, Serlin u. Greening, 2000, S. 7; Roth, 2006). Somit vertritt die Humanistische Psychologie die Ansicht, dass jeder Mensch einzigartig ist, und diese Einzigartigkeit wird frei von Vorurteilen angenommen. Es wird auch davon ausgegangen, dass der Mensch im Grunde gut ist und ein großes Potenzial besitzt, sich zu entwickeln (Boeger, 2009). Das Störungskonzept der Humanisti-
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schen Psychologie beinhaltet die Idee von Auffälligkeiten und Blockierungen, die dem Klienten als Problem bewusst sind. Eine Orientierung an Normen, Defiziten oder konkretem Problemverhalten erfolgt nicht (Roth, 2006). Unter der Perspektive der Humanistischen Psychologie entstanden zahlreiche Therapieansätze, wie beispielsweise die Logotherapie (Viktor Frankl), die Gestalttherapie (Fritz Perls) und das Focusing (Eugene Gendlin). Die wohl bekannteste Entwicklung der Humanistischen Psychologie ist die klientenzentrierte Psychotherapie, welche maßgeblich vom US-Amerikaner Carl R. Rogers über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten entwickelt wurde. Er formulierte für seine klientenzentrierte Theorie als essenzielle Grundannahme, dass »dem Menschen eine Tendenz zur Entwicklung aller seiner Fähigkeiten innewohnt, die der Erhaltung oder Förderung seines Organismus – seiner Geist und Körper umfassenden Gesamtperson dienen« (Rogers, 2013, S. 136). Diese Entwicklung bedingt ein konstruktives, individualisiertes und sozialisiertes (im Sinne eines Zusammenwirkens mit anderen und sich selbst) Verhalten (Rogers, 1961, 2013). Die Grundprinzipien der klientenzentrierten Theorie stellen einen bedeutsamen Teil vieler Psychotherapie- und Beratungsansätze dar, obgleich Rogers kritisierte, dass diese häufig zu oberflächlich thematisiert würden (Rogers u. Wood, 2013). Rogers’ Ansatz wird zunächst als non-direktiver, später als klientenzentrierter und zuletzt als personenzentrierter Ansatz bezeichnet, welcher nicht nur im therapeutischen oder beraterischen Kontext anwendbar ist, sondern auch »einen Zugang zu allen Formen zwischenmenschlicher Beziehung« bietet (Rogers, 2013, S. 19). Die Psychotherapie stellt für Rogers nur einen Sonderfall zwischenmenschlicher Beziehung dar (Rogers u. Wood, 2013). Er nimmt auch an, dass die Prinzipien im psychotherapeutischen Prozess universell gültig sind (Rogers u. Wood, 2013). Im Mittelpunkt der klientenzentrierten Beratung oder Therapie steht die real stattfindende Beziehung zwischen Klient und Berater bzw. Therapeutin, die für den Klienten hilfreich ist, weil sie einen Kontext schafft, der sich durch einfühlendes Verstehen bzw. Empathie, bedingungsfreie Akzeptanz bzw. Wertschätzung und Echtheit
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bzw. Kongruenz aufseiten des Beraters bzw. der Therapeutin auszeichnet (Rogers, 2013). Dieser Haltung des Beraters bzw. der Therapeutin kommt mehr Bedeutung zu als den konkreten Techniken und Methoden. Die Beraterin bzw. Therapeutin nimmt eine offene, nicht bewertende Rolle ein. Sie stellt einen Resonanzraum für den Klienten dar (Arnold, 2014). Sie versucht durch einfühlendes Verstehen, den inneren Bezugsrahmen des Klienten zu verstehen, vor allem die Sicht des Klienten auf das Problem (Arnold, 2014). In der Beziehung versucht die Beraterin bzw. Therapeutin, dem Klienten durch bedingungslose Akzeptanz und Wertschätzung zu begegnen, ohne ihn in seinen Werten, Idealen oder Vorstellungen in Bezugnahme auf ihre eigenen zu bewerten (Rogers, 2013). Als Echtheit oder Kongruenz bezeichnet Rogers die Haltung eines Beraters oder Therapeuten, der sich »dessen, was er erlebt oder leibhaft empfindet, deutlich gewahr wird und dass ihm diese Empfindungen verfügbar sind, sodass er sie dem Klienten mitzuteilen vermag, wenn es angemessen ist« (Rogers, 2013, S. 31). Diese hilfreiche Beziehung ermöglicht dem Klienten, sich selbst zu öffnen, zu erkennen und Möglichkeiten zu entdecken, sich selbst zu entfalten und weiterzuentwickeln (Selbstaktualisierung). Dem liegt ein Menschenbild zugrunde, das von nach Selbstverwirklichung strebenden, wachstumsorientierten Individuen ausgeht. Die Vorstellung, dass Menschen einen bewussten Zugang zu ihren Erlebnisinhalten haben bzw. durch Unterstützung zu einem solchen gebracht werden können, ist zentral im klientenzentrierten Ansatz. Ein direktives Vorgehen wird abgelehnt, da dadurch der Klient in seiner Problemlösung vom Berater bzw. von der Therapeutin abhängig wird und eingeschränkt wird, sich auszudrücken (Arnold, 2014). Der klientenzentrierte Ansatz betont die Wichtigkeit der empirischen Forschung in Hinblick auf therapeutische Prozesse und orientiert sich an der empirischen Psychologie. Mit Rogers wurde auch die Methode ins Leben gerufen, Tonbandaufzeichnungen von Beratungs- und Therapiegesprächen aufzunehmen und für wissenschaftliche Auswertungen zu nutzen.
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4.3.2 Anwendung bezogen auf die Arbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern In der Arbeit mit Kindern im Vor- und Grundschulalter kommt der klientenzentrierte Ansatz im Rahmen der nicht direktiven Spieltherapie bzw. personenzentrierten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und in der Erziehungsberatung zur Anwendung (Weinberger, 2013). Die Literatur zur Relevanz dieses Ansatzes für die Arbeit mit Kindern unter drei Jahren ist eher spärlich, wobei die Konzepte der bedingungsfreien Wertschätzung und Akzeptanz, der Empathie und Kongruenz in der beraterischen und therapeutischen Fachwelt vielfach geschätzt und aufgegriffen wurden. Bezogen auf das Fallbeispiel von Monika und Tarek K. mit ihrem Sohn Daniel könnte sich eine Beratung folgendermaßen gestalten: Zu Beginn klärt der Berater bzw. Therapeut die gegenseitigen Erwartungen und verdeutlicht, dass er den Gesprächen zuhörend und verstehend beiwohnt, um dann der Familie begleitend zur Seite zu stehen, wenn sie Lösungsansätze zu Daniels Schrei- und Schlafverhalten entwickeln und ausprobieren möchte. Verfahren psychologischer Diagnostik verwendet der Berater nicht, sondern konzentriert sich darauf, was ihm Herr und Frau K. mitteilen. Der Fokus liegt auf dem Gespräch, direkte Verschreibungen für Erziehungsverhalten werden nicht vermittelt, auch nicht auf Wunsch der Eltern. Die Eltern schildern dem Berater die Schwierigkeiten mit ihrem Sohn Daniel und erleben dabei durch das beraterische Beziehungsangebot die Möglichkeit, sich zu öffnen. Die Kommunikation des Beraters ist geprägt durch nonverbale Verhaltensweisen (z. B. nicken, nach vorn lehnen) und Quasi-Sprache (z. B. hm …) als Ausdruck seiner affirmativen Aufmerksamkeit. Der Berater erschließt sich die Thematik, indem er das Erzählte paraphrasiert (z. B. »Sie fühlen sich also durch das Schreien ihres Sohnes hilflos«) und das, was er wahrgenommen hat, auf Verständnis prüft (z. B. »Habe ich das richtig verstanden, Sie ….«, »Ist es so, dass Sie …«). Frau K. spricht in den Beratungssitzungen am meisten, ihr gelingt es immer mehr, sich zu öffnen. Sie sieht sich selbst als liebevolle, fürsorgliche und kompetente Mutter, empfindet aber in Phasen des übermäßigen Schreiens von Daniel nicht nur Gefühle der Hilflosigkeit, sondern auch Gefühle der Ablehnung ihm gegenüber, die sich teilweise
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auch dahin steigern, dass sie den Wunsch verspürt, Daniel zu schütteln. Sie fühlt sich selbst fremd in solchen Situationen, schämt sich sehr und fühlt sich als Versagerin. Diese Gefühle sind inkongruent mit ihrem Selbstkonzept als Mutter. Sie versucht, durch viele Aktivitäten mit ihrem Kind, diese Gefühle »wieder gutzumachen«. In der Beratung gelingt Frau K. schließlich eine Neubewertung der zahlreichen Aktivitäten mit ihrem Kind als »zu viel Anregung« und »Überreizung«. Sie gesteht sich selbst den Wunsch zu, mehr Ruhe im Alltag zu wollen, um auch mehr Ruhe für den Umgang mit ihrem Kind zu haben. Diese Einsicht ermöglicht Frau K. die Entscheidung, ihren Alltag etwas zu ruhiger zu gestalten. Wenige Wochen später haben sich Daniels Schwierigkeiten deutlich gebessert.
4.3.3 Chancen und Grenzen des Ansatzes in einer kultursensitiven Beratung und Therapie Beim klientenzentrierten Ansatz kann von einem hohen Potenzial in Hinblick auf die Passung für die Beratung und Therapie mit autonomieorientierten Familien ausgegangen werden. Auch beinhaltet er nützliche Elemente für die Beratung und Therapie von verbundenheitsorientierten Familien. Es gibt aber auch einige Elemente, die Risiken und Grenzen aufzeigen. In diesem Zusammenhang bedürfen vor allem folgende Aspekte der Diskussion: 1) die Ziele des klientenzentrierten Ansatzes, 2) die Vorgehensweise im Beratungs- oder Therapieprozess und damit einhergehende Voraussetzungen beim Klienten sowie 3) die Haltung des Beraters bzw. der Therapeutin. 1) Der klientenzentrierte Ansatz ist aufgrund seiner Entstehungsgeschichte von autonomieorientiert-westlichen Denkweisen geprägt. Zunächst wurde er vorwiegend im Rahmen der professionellen Zusammenarbeit mit Klientinnen und Klienten aus der amerikanischen Mittelschicht entwickelt. Rogers wurde oftmals dafür kritisiert, dass er »vor dem Wertehintergrund der amerikanischen Kultur« arbeite (McLeod, 2004, S. 48) und amerikanische kulturelle Nomen hervorhebe, wie beispielsweise die Achtung von Unabhängigkeit und Autonomie, die Akzentuierung individueller Bedürfnisse anstelle gemeinsamer gesellschaftlicher Ziele (McLeod, 2004). Der klientenzentrierte Ansatz ist stark individualistisch orientiert und zielt darauf ab, dass sich Menschen autonom und selbstbestimmt entwi-
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ckeln. Familiären Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen wird hingegen weniger Aufmerksamkeit geschenkt. In der Verbundenheit mit der Familie wird sogar eine mögliche entwicklungshinderliche Blockade gesehen (Usher, 1989). Der individualistische Zugang des klientenzentrierten Ansatzes könnte für verbundenheitsorientierte Familien wenig anschlussfähig sein, weil ein Beratungs- und Therapieziel angestrebt wird, das möglicherweise vorherrschenden Normen, Werten und Idealen widerspricht. 2) Das klientenzentrierte Vorgehen im Beratungsprozess ist nicht direktiv. Direktive Verschreibungen und klare Handlungsvorschläge werden abgelehnt, da sie als von außen kommend als nicht hilfreich für die individuelle Selbstaktualisierung gesehen werden. Der Berater bzw. Therapeut tritt weder als Experte oder als Autorität auf, noch lenkt oder strukturiert er die Sitzung inhaltlich nach seinen Vorstellungen. Der Klient ist somit in besonderem Maße gefordert: Neben der Erwartung, dass er über ein Problembewusstsein verfügt, ist er auch damit konfrontiert, selbst zu entscheiden, was er in diesem Zusammenhang für erzählenswert und wichtig hält. Das heißt, es ist auch ein gewisses Ausmaß an vorangegangener Reflexion über den als problematisch erachteten Sachverhalt zentral. Die nicht direktive Herangehensweise könnte von Familien, die im Kontext einer Beratung oder Therapie einen Experten oder eine Autorität erwarten, als wenig angemessen wahrgenommen werden (Poyrazli, 2003). MacDougall (2002, S. 60) nimmt auch an, dass die Non-Direktivität als »frustrierend, kontraproduktiv, […] passiv und Ausdruck mangelnder Teilhabe oder Hilfsbereitschaft« (miss)verstanden werden könnte. Besonders problematisch könnte sich eine Beratung oder Therapie nach diesem Ansatz darstellen, wenn Klienten aufgrund von externem Druck vorstellig werden. Für Klientinnen und Klienten, die sich ihres Problems bewusst sind und bereits selbst darüber reflektiert haben, könnte ein Rahmen, in dem sie ihr Problem selbstbestimmt erörtern und ihre Handlungsoptionen und Entwicklungsmöglichkeiten entdecken können, dagegen passend sein. Für die Darstellung der problembehafteten Sachverhalte sind zudem sehr gute sprachliche Fähigkeiten notwendig, um zum einen inhaltliche Informationen zu vermitteln und zum anderen das Erzählte sinnvoll und nachvollziehbar für einen fremden Gesprächs-
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partner zu strukturieren. Der Anspruch an das sprachliche Ausdrucksvermögen könnte für manche Klienten überfordernd sein (z. B. weil die Beratungs- bzw. Therapiesprache nicht die Muttersprache ist). Auch könnte das Berichten persönlicher, emotional gefärbter Inhalte in dieser Form der asymmetrischen Kommunikation mit einer fremden Person für manche Klientinnen und Klienten ungewohnt sein und zu einer zurückhaltenden Beteiligung führen (siehe hierzu auch Kapitel 3). Ein weiterer erwähnenswerter Aspekt, der häufig in Zusammenhang mit dem klientenzentrierten Ansatz angesprochen wird, ist das Ansprechen und Zulassen von (negativen) Gefühlen aufseiten des Klienten im Beratungs- oder Therapiekontext bzw. das Thematisieren von wahrgenommenen Gefühlen aufseiten des Beraters bzw. Therapeuten. Der Ausdruck von Gefühlen gegenüber einem fremden Berater bzw. einer Therapeutin könnte von manchen Klienten als unpassend bzw. irritierend erlebt werden und folglich vermieden oder umschrieben werden. Dazu muss erwähnt werden, dass gerade frühere Arbeiten zum klientenzentrierten Ansatz das Thematisieren von Gefühlen des Klienten als bedeutsame Technik stark betonen (Rogers, 1942). Einstellungen, die über Gefühle Ausdruck finden, sollten dem Klienten dargestellt werden, da dieser sich dadurch seiner Gefühle gewahr werden und sie als zu sich selbst gehörig empfinden kann (Arnold, 2014). In späteren Arbeiten ist das Wiedergeben von Gefühlen weit weniger zentral. Rogers betrachtet darin zunächst ein Mittel, das dazu verhilft, die Empathie des Beraters bzw. Therapeuten auszudrücken (Rogers, 1957). Schließlich beschreibt er, dass das Ziel in der Reaktion auf den Klienten nicht mehr darin bestehe, Gefühle wiederzugeben, sondern zu klären, ob er die vom Klienten berichtete Erlebenswelt richtig verstanden hat (»testing understandings« bzw. »checking perceptions«, siehe Rogers, 1986). Folglich stehen zwei zentrale Fragen im Raum: Ist das, was der Berater bzw. Therapeut dem Klienten zu seinen Berichten rückmeldet, akkurat, das heißt, hat er den Klienten richtig verstanden? Und wenn nicht, was muss in der Wahrnehmung des Beraters bzw. Therapeuten verändert werden, damit diese näher an der Wahrnehmung des Klienten ist (Arnold, 2014)? Genau hier ist großes Potenzial für eine kultursensitive Beratungs- und Therapiearbeit zu sehen. Der Erle-
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benswelt der Klientin wird nicht nur mit Offenheit begegnet, sondern auch mit der Bereitschaft, diese differenziert wahrzunehmen und zu verstehen. Der klientenzentrierte Ansatz bietet hier einen Lösungsansatz, wie mit Unsicherheit und Unwissenheit über die (Er-)Lebenswelt des anderen umgegangen werden kann (siehe auch Kapitel 5). 3) In der Haltung des Beraters bzw. der Therapeutin ist ein Bereich zu sehen, der in Zusammenhang mit Kultursensitivität diskutiert werden sollte. Rogers liefert einen wichtigen Beitrag für die kultursensitive Beratungs- und Therapiearbeit mit seinem Konzept der bedingungsfreien Wertschätzung und Akzeptanz. Es ist losgelöst von Beurteilungen und Bewertungen des Klienten und anschlussfähig an eine wertschätzende, akzeptierende Haltung kultursensitiver Beratungs- und Therapiearbeit (siehe Kapitel 5). Das Konzept der Empathie ist für eine kultursensitive Arbeit ebenfalls zentral. Nach Rogers’ Verständnis von Empathie muss ein Berater oder Therapeut sich von seinem eigenen und auch von jedem anderen Bezugssystem distanzieren, das außerhalb des Bezugssystems der Klientin befindlich ist. Es ist erforderlich, dass der Berater bzw. Therapeut die Perspektive der Klientin auf ein Problem einnimmt (Rogers, 1951, 1977). Diese Haltung ist eng mit der multiperspektivischen Haltung einer kultursensitiven Beratungs- und Therapiearbeit (siehe Kapitel 5) verbunden. Rogers führt in seinen Schriften auch eine Position zum Umgang mit verschiedenen Kulturen an: »We fail to see that we are evaluating the person from our own, or from some fairly general, frame of reference, but that the only way to understand his behavior meaningfully is to understand it as he perceives it himself, just as the only way to understand another culture is to assume the frame of reference of that culture. When that is done, the various meaninglessness and strange behaviors are seen to be part of a meaningful and goal directed behavior« (Rogers 1951, S. 494). Den Wert des klientenzentrierten Ansatzes haben zahlreiche Beraterinnen und Therapeuten für ihre professionelle Arbeit erkannt, was zu einer weltweiten Verbreitung und Anwendung bei Klientinnen und Klienten mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen beigetragen hat (z. B. bei Klienten in Brasilien, siehe Freire, Koller, Piason u. da Silva, 2005; in der Türkei, siehe Poyrazli, 2003; Südafrika, siehe Spangenberg, 2003; in Syrien, siehe Hett, 2013).
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4.4 Systemisch-familientherapeutische Ansätze 4.4.1 Geschichte und Hintergrund Die Anfänge der systemischen Beratung und Therapie liegen etwa um das Jahr 1950, als mehrere US-amerikanische und europäische Therapeuten begannen, bei ihrer Arbeit mit Klienten den Fokus auf deren Familienmitglieder auszuweiten. Als Pioniere gelten hier unter anderem Virginia Satir (1916–1988), Carl Whitaker (1912–1995) und Ivan Boszormenyi-Nagy (1920–2007) (siehe z. B. von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Dabei gibt es sowohl Wurzeln, die in psychoanalytischen Traditionen liegen, als auch solche in den humanistischen Ansätzen. Diesen unterschiedlichen Ursprüngen ist gemein, dass hier zunehmend eine Sichtweise entwickelt wurde, bei der das psychische Leid als nicht auf einzelne Personen reduzierbar betrachtet wird, sondern als Ausdruck von dysfunktionalen Strukturen innerhalb von zentralen Bezugssystemen (z. B. Familie, Berufsumfeld) zu verstehen ist. Innerhalb der aus diesen Wurzeln entstandenen systemisch-familientherapeutischen Ansätzen lassen sich wiederum verschiedene Schulen, Ausrichtungen und Weiterentwicklungen beschreiben. Dabei kommt der Unterscheidung zwischen Verfahren der Kybernetik erster und der Kybernetik zweiter Ordnung eine zentrale Bedeutung zu. Bei den historisch älteren Ansätzen der Kybernetik erster Ordnung (z. B. Minuchin, 1977; Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1977) wird davon ausgegangen, dass zu beratende Systeme (z. B. Familien mit Säuglingen und Kleinkindern) von den Therapeuten bzw. Beraterinnen analysiert und in ihren Abläufen und Problematiken verstanden werden können. Aus diesen Erkenntnissen leiten sich Interventionen ab, die durch die Beraterinnen bzw. Therapeuten in Form von zum Teil recht direktiven Vorschlägen oder Verschreibungen festgelegt werden. Auf diese Weise soll es ermöglicht werden, die eingefahrenen Kommunikations- und Interaktionsmuster innerhalb des Systems in andere, heilsamere Richtungen zu führen, um so eine Symptomreduktion zu erreichen. Bei den Ansätzen der Kybernetik zweiter Ordnung (z. B. Andersen, 1987; Anderson u. Goolishian, 1992) wird davon Abstand genommen, dass ein System in seinen Funktionsweisen von außen verstanden und klar gedeutet werden kann. Zudem besteht hier die
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Annahme, dass die Therapeutinnen bzw. Berater selbst zu einem Teil des gemeinsamen Systems mit den Rat suchenden Klientinnen und Klienten werden, also folglich keine neutrale Außenperspektive einnehmen können. Dies steht im Einklang mit der weiter unten dargestellten konstruktivistischen Erkenntnistheorie, die der modernen systemischen Familientherapie zugrunde liegt. Folglich ist es nicht möglich, eindeutige Erklärungen für Symptome oder Probleme etwa innerhalb einer Familie zu finden, genauso wie es nicht möglich ist, eindeutige Interventionswege und -verläufe zu bestimmen bzw. vorherzusagen. Hier bestehen unterschiedliche Möglichkeiten, und der genaue Lösungsweg für Schwierigkeiten ist nicht objektiv erkenn- und festlegbar, sondern wird im Wesentlichen durch innersystemische Selbstorganisationsmechanismen bestimmt, die nicht kontrollier- und steuerbar sind. Entsprechend geht es bei den Interventionen vielfach darum, für Systeme, die in dysfunktionalen Mustern festgefahren sind und dadurch Leid erzeugen, alternative Handlungs- und Interaktionsweisen aufzuzeigen und anzustoßen. Durch diese können neue Sichtweisen ermöglicht werden, und das System kann aus seinem (stabilen, aber dysfunktionalen) Gleichgewicht gebracht werden. Auf diese Weise entstehen Möglichkeiten der Veränderung, und das System kann sich auf einer anderen (heilsameren) Ebene stabilisieren und ein neues Gleichgewicht entwickeln. Wie dieses Gleichgewicht dann am Ende aussehen könnte oder wird, ist für die Beraterin bzw. Therapeutin nicht vorhersehbar oder klar planbar. Ihr kommt vor allem die Aufgabe zu, einen guten und sicheren Rahmen zu gestalten, in dem sich die Klienten darauf einlassen können, die gewohnte (aber Leid erzeugende) Ordnung aufzubrechen und neue Wege zu beschreiten. Ziel der Therapeutin bzw. Beraterin ist, die Handlungsoptionen zu vergrößern (z. B. durch das Einbringen von neuen Ideen und das Hinterfragen der derzeitigen Situation). Es wird davon ausgegangen, dass bei entsprechend guter Rahmung die passenden Handlungsalternativen vom System selbstgesteuert angenommen werden. Der genaue Weg ist dabei, wie oben dargestellt, nicht vorhersagbar. Den aktuellen systemisch-familientherapeutischen Ansätzen liegt zumeist eine konstruktivistische Erkenntnistheorie zugrunde. Demnach sehen und bewerten wir das, was wir als Realität bezeichnen
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und wahrnehmen, stets durch unseren ganz eigenen und spezifischen Filter (von Foerster, 1981; von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Es kann also nur von subjektiven Realitäten ausgegangen werden, die untrennbar mit den wahrnehmenden Personen verbunden sind. Diese Erkenntnis ist im Alltag meist nicht präsent, das heißt, die subjektiven Wahrnehmungen werden als objektive Wirklichkeitsbeschreibungen empfunden und eingeordnet: »Bei der Wahrnehmung der Welt vergessen wir alles, was wir dazu beigetragen haben, sie in dieser Weise wahrzunehmen« (Varela, 1981, S. 306). Die Wahrnehmung entsteht also im menschlichen Gehirn, welches zwar permanent unterschiedliche Reize von außen empfängt, einordnet und verarbeitet, dies aber eben im Gehirn selbst macht und dabei sowohl das Lesen der jeweiligen Informationen als auch deren Weiterverarbeitung und Bewertung aufgrund unterschiedlicher Abgleichungsprozesse konstruiert. Dieser subjektiven Informationsverarbeitung kommt eine große Bedeutung zu, welche aus der Notwendigkeit erwächst, die Fülle der Reize, welche permanent auf uns einströmen, zu selektieren, zu ordnen und damit auf mögliche Muster hin zu untersuchen. Diese Muster und Ordnungen sind wichtig, um sich im Leben orientieren zu können und ein gewisses Maß an wiederkehrenden Regelmäßigkeiten zu entwickeln (Kriz, 2011). Der Mensch ist also bestrebt, Komplexität zu reduzieren, da ein großes Ausmaß an Chaos und Unvertrautheit als beängstigend erlebt wird. Dies wird beispielsweise auch in vielen Konventionen oder Ritualen deutlich. Eine zu umfassende oder zu starre Reduktion von Komplexität kann dazu führen, dass Alternativen und Unterschiede nicht mehr wahrgenommen werden. Dies kann zu dem Eindruck führen, dass es keine Auswege aus der gegenwärtigen (Leid erzeugenden) Situation gibt, wie auch dazu, die Kommunikations- und Interaktionsmomente mit anderen Menschen aufgrund fester Muster einzuordnen und nicht mehr auf das individuelle (und immer wieder einzigartige Geschehen) zu achten. Hier sollen die Ansätze der systemischen Familientherapie helfen, Muster zu unterbrechen und starre Ordnungen aufzuheben, um neue Möglichkeiten zu eröffnen (Kriz, 2011).
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4.4.2 Anwendung bezogen auf die Arbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern Eine systemische Herangehensweise bei der Beratungsarbeit mit Familien von Säuglingen und Kleinkindern sensibilisiert besonders für eine ganzheitliche Herangehensweise, bei der die unterschiedlichsten Bezugsebenen im Blick behalten werden können, ohne einfache (monokausale) Ursachen für die Problematik anzunehmen (Borke u. Eickhorst, 2008). In Abbildung 5 sind unterschiedliche Bereiche dargestellt, die alle sinnvoll einzubeziehen sind und die wechselseitig aufeinander bezogen wirken. Dabei lassen sich Richtungen im Sinne eines klaren Ursache-Wirkung-Zusammenhangs nicht festlegen, da es immer auch andersherum sein könnte und da viele weitere Einflussfaktoren beteiligt sind (Kriz, 2008). Folglich ist davon auszugehen, dass sich Fragen wie »Ist die Mutter derzeit so depressiv, weil das Kind so viel schreit und nachts so oft aufwacht, oder schreit das Kind so viel und schläft so unruhig, weil die Mutter depressiv ist?« nicht beantworten lassen bzw. so zu beantworten sind, dass beides stimmt, aber auch vieles andere mehr. Auf eine kurze Formel gebracht, kann diese Perspektive mit Jeder ist beteiligt, aber keiner hat Schuld zusammengefasst werden. So ist es also bei der Beratung oder Therapie von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern aus systemischer Sicht nicht bedeutsam, Ursachen zu definieren (da dies ohnehin nur im Sinne von Teilursachen möglich wäre). Ebenso kommt der Bestimmung von Diagnosen kein zentraler Stellenwert zu, die immer auch eine Vereinfachung und Komplexitätsreduktion darstellen. Ein zentraler Stellenwert wird dem individuellen Beratungssystem beigemessen. Dementsprechend ist es bei einer systemischen Beratung von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern wichtig, einen Eindruck von den in Abbildung 5 dargestellten Bereichen zu bekommen (durch Fragen an sowie Beobachten und Erleben der gesamten Familie), um dann in Abstimmung mit der Familie Interventionen, Entlastungen und Unterstützungen auf den unterschiedlichsten Ebenen anzubieten bzw. durchzuführen. Hierfür bieten die systemisch-familientherapeutischen Ansätze eine Fülle von Interventionsmöglichkeiten (siehe hierzu z. B. von Schlippe u. Schweitzer, 2012).
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Abbildung 5: Unterschiedliche Bezugsfokusse der Beratungsarbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern
Dabei ist es durchaus von Bedeutung, an welchen Punkten angesetzt wird (z. B. bei der Entlastung der Mutter, der Moderation auf der Paarebene, der Strukturierung des Tagesablaufs, der Interaktion mit dem Kind), da unterschiedliche Bedürftigkeiten vorliegen können sowie unterschiedliche Zugangsweisen zu den elterlichen Wünschen an die Beratung denkbar sind. Dennoch kann aus einer systemischen Perspektive davon ausgegangen werden, dass Interventionen auf einer Ebene auch Auswirkungen auf die anderen haben. So kann beispielsweise die Entlastung der Mutter durch eine vermehrte Beteiligung des Vaters und das Engagieren einer Putzfrau dazu führen, dass es zu einer entspannteren Interaktion mit dem Säugling kommt und er sich in der Folge auch besser beruhigen lässt, da sich die mütterliche Entspannung auf ihn überträgt. Es ist jedoch auch denkbar, dass mithilfe einer Videointeraktionsberatung erarbeitet wird, inwiefern der Säugling eine besondere Hilfe bei der Beruhigung benötigt und in welcher Weise die Eltern hier unterstützend auf ihr Kind eingehen können. Durch diese Intervention kann sich das Schreien vermindern und es kann zu einer Entspannung und Entlastung der Mutter kommen. In diesem Sinne ließen
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sich weitere Interventionswege und deren Wechselwirkungen mit anderen Bereichen beschreiben, und meist werden bei der Beratung bzw. Therapie von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern auch mehrere Ebenen direkt einbezogen. Im Folgenden sollen nun ein paar konkrete systemische Interventionen näher dargestellt werden. Eine bedeutsame Interventionsgruppe sind hier unterschiedliche Fragetechniken, durch welche Handlungsoptionen und neue Sichtweisen aufgezeigt sowie Systemveränderungen erzeugt werden. Hierzu zählen beispielsweise zirkuläre Fragen, bei denen eine Person nicht direkt nach ihren Empfindungen oder Gedanken gefragt wird, sondern nach ihrer Einschätzung, was in einer anderen Person vor sich geht. Durch diese Fragen kann zum einen das Verständnis für andere Personen ermöglicht und vertieft werden (z. B. »Was denken Sie, was Ihre Frau jetzt gerade von Ihnen erwartet?«, »Was denken Sie, wie fühlt sich Ihr Mann jetzt?«). Zum anderen können Personen, die in der Beratungs- bzw. Therapiesituation nicht anwesend sind, auch einbezogen werden (z. B. »Was würde Ihr Mann denken, wenn er gehört hätte, was Sie über die Situation mit dem Kind gesagt haben?«, »Wie vermuten Sie, wird Ihre Frau reagieren, wenn Sie ihr sagen, wie Sie sich fühlen?«). Eine weitere wichtige Frage ist die nach Ausnahmen (z. B. »Gab es Nächte, die deutlich besser waren oder zumindest weniger schlecht? Was war da anders?«). Durch den Fokus auf positive Ausnahmen kann im Sinne einer Ressourcenorientierung die Perspektive von dem Betrachten problematischer und belastender Aspekte auf gute Momente und Stärken wechseln. Auch kann dadurch ein Blick auf Problemlösungen entstehen, die sich in diesem Familiensystem bereits bewährt haben und die im Rahmen der weiteren Beratung oder Therapie systematisch genutzt und ausgebaut werden können. Eine weitere systemische Methodik ist die Genogrammarbeit, bei der ein Strukturbild der Familie aufgezeichnet wird. Auf diese Weise können beispielsweise Familienthemen, die sich über Generationen weitertragen (z. B. abwesende Väter oder Mütter oder Eltern, die schwer um Hilfe bitten können und diese indirekt über das Schaffen von Überforderungssituationen erreichen) sichtbar gemacht und mögliche Leid erzeugende oder verstärkende Strukturen aufgedeckt
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
werden. Ebenso können stärkende und stützende familiäre Strukturen erkennbar gemacht werden. Bezogen auf die bereits beschriebene Situation von Monika und Tarek K. und ihrem Sohn Daniel können systemische Herangehensweisen in einer Beratung bzw. Therapie wie folgt aussehen: In der Beratung wird nicht versucht, herauszufinden, ob mit Daniel »etwas nicht stimmt« oder ob die Eltern etwas falsch machen. Es wird vielmehr der Schwerpunkt darauf gelegt, die familiäre Dynamik kennenzulernen und mit den Eltern gemeinsam zu verdeutlichen, was sich jeder wünscht und benötigt, damit es allen wieder besser geht. Monika und Tarek sind erleichtert zu hören, dass es nicht darum geht, dass sie als Eltern etwas falsch machen. Vor allem für die Mutter, die einen sehr hohen Anspruch an sich hat und sich selbst eher kritisch betrachtet, ist es eine große Erleichterung, zu hören, dass die Beraterin sie als engagierte und kompetente Mutter wahrnimmt (die Beraterin greift dabei auch auf ihre Beobachtungen der Interaktion zwischen Eltern und Kind während der Beratung zurück). Auch finden die Eltern es gut, dass die Beraterin ihnen sagt, dass ihr Sohn weder krank noch unnormal ist. Dennoch möchten sie wissen, was sie unternehmen können, um die Situation zu verbessern. Die Beraterin erkundigt sich nach Nächten, in denen Daniel besser schläft, sowie nach Tagen, an denen das Schreien weniger stark auftritt. Es wird deutlich, dass diese Ausnahmezeiten doch öfter vorkommen, als es die Eltern subjektiv wahrnehmen, was ihnen eine etwas positivere Sicht auf die derzeitige Situation und damit Hoffnung vermittelt. Auch zeigt sich, dass es an den Wochenenden meist etwas entspannter ist, wenn beide Eltern zu Hause sind und sich besser unterstützen können. Allein die Möglichkeit, Hilfe zu bekommen, scheint zu einer Entlastung der Eltern zu führen, die sich teilweise direkt in einer ausgeprägteren Ruhe bei Daniel niederschlägt, sodass dieser weniger schreit und sich schneller beruhigen lässt. Es wird in der Beratung überlegt, wie diese Ressourcen genutzt und ausgebaut werden können. In der Folge werden in der Woche zwei Abende geplant, an denen der Vater die Betreuung übernimmt und die Mutter Zeit für sich hat. Der Vater wiederum geht einmal in der Woche mit seinen Freunden zum Sport, was er in letzter Zeit oftmals vernachlässigt und wenn, dann mit einem schlechten Gewissen durchgeführt
Unterschiedliche Beratungs- und Therapieansätze123
hat. Im weiteren Verlauf der Beratung kommt es zu einer zunehmenden Entspannung der Eltern sowie zu weniger Schreiphasen und längeren Schlafepisoden bei Daniel.
4.4.3 Chancen und Grenzen des Ansatzes in einer kultursensitiven Beratung und Therapie Wie dargestellt, fußen die Ansätze zur systemisch-familientherapeutischen Beratung bzw. Therapie im Wesentlichen auf westlichen Ideen und Konzepten. Folglich kann davon ausgegangen werden, dass sie auch für Familien aus diesem Kontext passend sind. Dabei ist allerdings zu beachten, dass einige Interventionen der systemischen Ansätze ein hohes Maß an Selbstreflexions- und Abstraktionsvermögen voraussetzen (z. B. zirkuläre Fragen, bei denen Personen nicht direkt befragt werden, sondern jeweils über Empfindungen und Gedanken anderer sprechen sollen, um so die kommunikativen und Beziehungsaspekte von Gedanken, Gefühlen und auch Symptomen sicht- und veränderbar machen zu können; z. B. »Was denken Sie, was Ihre Frau empfindet, wenn Sie sich so verhalten?«). Es kann daher kritisch diskutiert werden, inwiefern diese Ansätze vor allem an Kommunikationsmustern der Mittel- und Oberschicht ansetzen und daher für Familien mit anderen Hintergründen schwerer zugänglich und möglicherweise auch weniger wirksam sind. Das würde bedeuten, dass hier von einer Passung vor allem für Familien mit einem autonomieorientierten Hintergrund ausgegangen werden kann, nicht aber unbedingt von einer Passung für alle Familien aus westlichen Kulturkreisen. Darüber hinaus ist es diskussionswürdig, ob bzw. in welchen Teilen und unter welchen Umständen systemische Ansätze für Menschen aus anderen kulturellen Kontexten passend sind. Bei genauerer Betrachtung scheint sich hier vor allem ein Aspekt der systemisch-familientherapeutischen Ansätze besonders zu eignen, um für Familien aus verbundenheitsorientierten Kontexten anschlussfähig zu sein. Durch den zentralen Stellenwert, der den Beziehungen und Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern zukommt, wird hier eine Perspektive vertreten, bei der nicht das Individuum, sondern das System (die Gruppe, die Familie) im Mittelpunkt steht (Pirmoradi, 2012). Dieser Fokus auf der Familie kann
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Teil I: Kultursensitive Beratung und Therapie
helfen, ein auch für eher verbundenheitsorientierte Familien ansprechendes Beratungssetting zu schaffen, zum Beispiel durch die Wahrnehmung und Wertschätzung der jeweiligen familiären Rollen und Zuständigkeiten sowie durch eine Achtung und Einbeziehung aller Personen, die zur Familie gehören bzw. für diese von großer Bedeutung sind. Mögliche Grenzen können zum einen darin gesehen werden, dass viele der systemischen Fragetechniken ein hohes Maß an Selbstreflexion erfordern sowie die Auseinandersetzung mit der eigenen Gefühlslage verlangen. Dies kann für Familien aus verbundenheitsorientierten Kontexten ungewohnt sein, weil diese Form der Introspektion meist nicht in dem Maße üblich ist wie in autonomieorientierten Kontexten, wo die Auseinandersetzung mit der eigenen Befindlichkeit eher vertraut ist. Wenn schon, dann ist es in verbundenheitsorientierten Kontexten eher üblich, bei Fragen nach Gefühlen, Wünschen und Gedanken die erweiterte Familie mit einzubeziehen und keine klare Trennung zwischen der eigenen Person und den Familienmitgliedern vorzunehmen (Markus u. Kitayama, 1991). Hier bietet eine systemische Herangehensweise durchaus Möglichkeiten, indem zum Beispiel bei der Beratung von Eltern erfragt wird, inwiefern die Sichtweise der Großeltern eine Rolle spielt und mit einbezogen werden sollte bzw. ob diese mit an der Beratung teilnehmen sollten, wenn sie eine wichtige Entscheidungs- und Meinungsinstanz im Familiensystem sind. Weiterhin können die vor allem in den Ansätzen der Kybernetik zweiter Ordnung vorherrschende Non-Direktivität und Offenheit für den Beratungs- bzw. Therapieverlauf für Familien mit einem verbundenheitsorientierten Hintergrund irritierend sein, da sie aus ihren Herkunftskontexten oftmals eher direktive Beratungspersonen gewohnt sind, die klare Interventionen verordnen. So kann es sein, dass eine verbundenheitsorientierte Familie, die aufgrund von exzessivem Schreien ihres Säuglings zur Beratung kommt, eine eindeutige Erklärung der Problematik sowie einen klaren Expertentipp erwartet. Eine non-direktive Herangehensweise kann von dieser Familie als Inkompetenz empfunden werden, da bei ihr der (fälschliche) Eindruck entstehen könnte, dass die Beratungsperson über kein Konzept darüber verfügt, wie der Familie bei ihrem Anliegen geholfen wer-
Unterschiedliche Beratungs- und Therapieansätze125
den kann. Hier können Elemente aus den Ansätzen der Kybernetik erster Ordnung sinnvoll sein, bei denen eine klarere Lenkung und ein direktiveres Auftreten der Beratenden üblich sind. Dies könnte zum Beispiel so aussehen, dass sich die Beratenden nach einer Explorationsphase überlegen, an welchen Stellen und auf welchen Ebenen des Familiensystems eine Intervention am sinnvollsten erscheint. Diese kann dann mit einer entsprechenden Begründung dargestellt und für bzw. mit den Eltern in ihrer Umsetzung geplant werden. Denkbar ist auch eine Kombination von Elementen der Kybernetik erster und zweiter Ordnung, bei der sich beispielsweise direktive mit non-direktiveren Aspekten verbinden (Borke, 2013). Für eine kultursensitive Ausrichtung kann es hilfreich sein, wenn Berater bzw. Therapeutinnen zwischen Anteilen aus beiden Ausrichtungen wählen können bzw. je nach Hintergrund der Familie auf unterschiedliche Herangehensweisen und Kombinationen zwischen verschiedenen Ansätzen zurückgreifen.
Teil II Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
5 Die professionelle Haltung in der interkulturellen Beratung und Therapie
Die Haltung, mit der wir Fremden und Fremdem begegnen, ist wohl eine der zentralen Dimensionen in der Begegnung mit Menschen aus anderen kulturellen Hintergründen. Sie ist damit auch der Prüfstein der beraterischen und therapeutischen Begegnung. Fühlen wir uns angezogen von der Neuartigkeit? Idealisieren wie sie? Fühlen wir uns überfordert? Ziehen wir uns deshalb zurück oder entwerten das, was uns begegnet? Wenn wir uns mit dem Anderssein auseinandersetzen, wird der Kern unseres Selbstverständnisses, unsere Werte, Überzeugungen und unser Sinnerleben berührt, die uns Orientierung und Halt geben. Sie liegen unseren Zielsetzungen, Handlungen, Aussagen und Urteilen zugrunde. Es ist alles andere als einfach, wenn das, was wir als wichtig erleben, für andere bedeutungslos ist, oder das, was wir als richtig empfinden, für andere falsch erscheint: wenn beispielsweise der Blickkontakt im Gespräch einmal als zugewandt, einmal als respektlos erlebt wird oder wenn der erwünschte Gehorsam von Kindern (oder Frauen) auf unsere Vorstellung von Autonomie trifft. So zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit Fremden und Fremdem auch Potenzial für Auseinandersetzungen birgt, Auseinandersetzungen mit sich und den eigenen Werten, manchmal auch mit anderen. Letztlich geht es darum, ob es uns gelingt, unsere Verunsicherung und Unwissenheit zu akzeptieren, unsere und die fremde Lebenswelt nebeneinander stehen zu lassen, sich auseinanderzusetzen und genau hinzusehen, ohne das Eigene oder das Fremde zu hoch oder zu gering zu bewerten. In diesem Kapitel wird zunächst der Begriff der professionellen Haltung in der interkulturellen Beratung und Therapie näher bestimmt. Anschließend findet eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Dimensionen einer interkulturellen Haltung statt.
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
5.1 Begriffsbestimmungen Die Begriffe Haltung und professionelle Haltung liegen eng zusammen und meinen doch nicht das Gleiche. Zu Beginn wollen wir kurz klären, wie wir sie einordnen und verstehen. In der allgemeinen Psychologie wird Haltung in engem Zusammenhang mit Einstellungen dargestellt. Entstanden über frühere Erfahrungen und Einflüsse der Kultur, des Milieus und der Erziehung (Meyers Großes Taschenlexikon, 2003), haben sie in aktuellen Situationen einen richtunggebenden Einfluss auf Reaktionen einer Person auf alle Objekte und Situationen (Six, 2013). Damit liegen jeder Haltung Verallgemeinerungen zugrunde, aus denen bewährte Verhaltensmuster für verschiedene Situationen abgeleitet werden. Sie helfen uns, uns in einer komplexen Welt zu orientieren und handlungsfähig zu bleiben (vgl. AFET, 2010). Insofern entsteht die wichtige und notwendige Fähigkeit zur Komplexitätsreduktion. Haltung in diesem Sinne kann jedoch auch Quelle für zu starke Vereinfachungen sowie für Schubladendenken und Rigidität werden. Sie birgt damit Gefahren für jede beraterische bzw. psychotherapeutische Arbeit, erst recht für eine kultursensitive Herangehensweise. In Abgrenzung zum allgemeinen Verständnis von Haltung sprechen wir daher von einer professionellen Haltung. Diese Form der Haltung entsteht vor allem über Selbstreflexion und wird in der achtsamen Auseinandersetzung mit dem eigenen Berufsfeld erarbeitet, erlernt und immer wieder weiterentwickelt. Die Dimensionen einer professionellen Haltung sollen im Folgenden unter der besonderen Perspektive der Interkulturalität näher dargestellt werden.
5.2 Dimensionen einer professionellen beraterischen bzw. therapeutischen Haltung Die Beschreibungen einer professionellen interkulturellen Haltung bzw. der eng damit verbundenen interkulturellen Kompetenz umfassen ein breites Spektrum. Die Zusammenstellung der folgenden Haltungsdimensionen wurde nach einer Literatursichtung zu den Themen »interkulturelle Haltung« und »interkulturelle Kompetenz« vorgenommen. Die in den Quellen (z. B. BMFSFJ, 2009;
Die professionelle Haltung in der interkulturellen Beratung131
Straßburger, 2009; AFET, 2010) genannten Dimensionen wurden zusammengefasst, strukturiert und ergänzt. Selbstreflexivität, Offenheit, aktive Bejahung von Vielfalt, Bereitschaft, sich in bisherigen Überzeugungen irritieren zu lassen, Ambiguitätstoleranz, Multiperspektivität, Respekt sowie Kommunikations- und Konfliktfähigkeit sind die zentralen Stichworte, mit denen eine professionelle interkulturelle Haltung beschrieben wird. Das stellt hohe Anforderungen an Fachpersonen. Vor allem, da die benannten professionellen Haltungsdimensionen der Funktion einer Haltung im allgemeinen Sinne (also Sicherheit und Orientierung in vielfältigen und komplexen Situationen zu schaffen) scheinbar zuwiderläuft. Im Folgenden wollen wir die zentralen Haltungsthemen genauer betrachten, Spannungsfelder darstellen und Wege aufzeigen, wie die genannten Haltungsdimensionen unterstützt werden können. Dabei wird auch deutlich, dass keine der genannten Haltungsdimensionen für sich allein stehen kann. Sie greifen ineinander und bedingen sich gegenseitig. 5.2.1 Selbstreflexive Haltung Eine reflexive und selbstreflexive Haltung ist die Basis für viele weitere der aufgeführten Dimensionen von Haltung. So wird Reflexion als Kernkompetenz professioneller Praxis, als »Schlüsselkategorie professionellen Handelns« eingeordnet (Ebert, 2012). Vor allem als Selbstreflexion nimmt sie im Rahmen der von uns beschriebenen Haltungsdimensionen in der interkulturellen Arbeit eine zentrale Stellung ein und soll aus diesem Grund hier zuerst beschrieben werden. Nachdenken, Überlegung, prüfende Betrachtung sind die Stichworte, mit denen Reflexion umrissen wird (Duden, 2013). Bei der Selbstreflexion richtet sich die Denktätigkeit auf die eigene Person (Duden, 2013). Die prüfende und auch vergleichende Betrachtung des eigenen Selbst, wie es wahrnimmt, wie es Wahrnehmungen verarbeitet, welche Ideen und Vorstellungen sich daraus ergeben, welche Werte es bewegen, wie es handelt und wie es geworden ist, sind zentrale Inhalte der Selbstreflexion. Als selbstreflexive Haltung beschreiben wir auf dieser Grundlage die Bereitschaft, das eigene Sein und Gewordensein zu reflektieren.
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
Im Zusammentreffen mit Menschen aus anderen kulturellen Kontexten stellt die Selbstreflexion eine Basis für gelingende interkulturelle Begegnungen dar. Begegnungen, in denen die Verständigung nicht an den unterschiedlichen Erfahrungshintergründen und Bedeutungszuschreibungen scheitern soll, erfordern die Wahrnehmung von sich selbst und anderen. Nur wer sich selbst kennt, kann Unterschiede wahrnehmen und thematisieren. Nur so kann ein Verständnis für Sein und Gewordensein von anderen entwickelt werden. Letztlich kann eine »selbstbewusste Weltoffenheit« (Natsch, 2006) nur über den Weg entstehen, Irritationen nachzugehen, kulturelle Hintergründe zu explorieren und Unterschiede zu benennen. In der Alltagspraxis kann eine selbstreflexive Haltung unterstützt werden, indem Räume für Selbstreflexion geschaffen werden. Zeiten zur Vor- und Nachbereitung von Begegnungen mit Menschen aus anderen Kulturen und Zeiten für die kollegiale oder professionell unterstützte Selbstreflexion (z. B. Supervision) sind Beispiele dafür. Gegenstand der Überlegungen können unter anderem eigene Gefühle, Erfahrungen, Werte und eigene Grenzen sein. Über die individuelle Selbstreflexion (allein oder in Gruppen) hinaus zeichnet sich hier ab, dass Selbstreflexion sich auch auf das »Selbst« von Teams oder Arbeitsgruppen beziehen kann. Sie wird dann zur »sozialen Selbstreflexion« im sozialen Zusammenhang der Institution (Giesecke, 1996). Hier kann eine fruchtbare Auseinandersetzung mit sozialen, institutionellen und gesellschaftlichen Aspekten interkultureller Arbeit entstehen, die sich beispielsweise mit der Empfangskultur, der Kommunikations- und Beratungskultur und den gemeinsamen Zielen befasst. Aus der Selbstreflexion wird es dann möglich, die eigene Institution und die Beratungskultur aus den Augen der Familien zu betrachten, die Perspektive zu wechseln. 5.2.2 Haltung der Offenheit Offenheit bedeutet, ansprechbar und aufgeschlossen für neue Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen zu sein, sich unvoreingenommen und vorurteilslos mit Neuem auseinanderzusetzen und interessiert und wissbegierig gegenüber Fremdem zu sein. In unserem Zusammenhang meint Fremdes beispielsweise fremde Personen, fremdes Verhalten, fremde Ideen, fremde Normen und fremde Werthaltungen.
Die professionelle Haltung in der interkulturellen Beratung133
Dem gegenüber steht die Notwendigkeit, in einer komplexen Welt mit einer nahezu endlosen Menge an neuen Informationen, Personen, Situationen und Anforderungen handlungsfähig zu bleiben. Informationen müssen rasch verarbeitet, Personen und Situationen schnell beurteilt werden und die Reaktion muss prompt erfolgen können. Stereotype, Vorurteile und »Bauchreaktionen« ermöglichen uns, diesen Anforderungen standzuhalten, schränken jedoch unsere Offenheit und Differenziertheit gegenüber Neuem und Fremdem ein. Fehlende oder lückenhafte Informationen werden auf der Basis allgemeiner Annahmen über die Welt und Menschen ergänzt (vgl. AFET, 2010). Es wäre vermessen zu glauben, dass Menschen, auch Fachpersonen, ohne diese vereinfachenden Strukturierungen auskommen könnten. Insbesondere in Zeiten von Stress, Konflikten, Überforderungs-, Ohnmachts- und Angstgefühlen greifen wir, häufig genug unbemerkt, auf sie zurück (Stahlmann, 2010). Die für Offenheit erforderlichen Ressourcen wie Energie, Zeit und Wachheit stehen uns dann nicht ausreichend zur Verfügung (AFET, 2010). Hinzu kommt, dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe wesentlich für unser Sicherheitserleben und unsere Identität ist. Gruppengrenzen zugunsten einer unbeschränkten Offenheit aufzulösen, sich nicht abzugrenzen, widerspricht dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer erlebbaren Gemeinschaft. Wie kann in diesen Spannungsfeldern eine professionelle Haltung der Offenheit beschrieben werden und wie kann sie erreicht werden? Den zentralen Schlüssel bietet die Reflexion. Sich darüber Rechenschaft abzulegen, wann welche Stereotype auftreten, welche Hintergründe sie haben und unter welchen Bedingungen sie wirksam werden, bietet die Chance, kulturelle Abgeschlossenheit und kulturelle Verzerrungen zu vermeiden. Über die bewusste Differenzierung der Wahrnehmung von Gleichheiten und Unterschiedlichkeiten, die Differenzierung zwischen Phänomenen von Kultur, Migration und sozioökonomischem Status, wird das Bewusstsein für Individualität und damit die Offenheit, genau hinzusehen, gestärkt. Als Folge können sinnvolle Anpassungen und Erweiterungen von Einstellungen, Werten und Überzeugungen auf den Weg gebracht werden, die mehr Offenheit ermöglichen. Aus der stereotypen Einschätzung »Frauen mit Kopftuch sind …« kann »Manche Frauen mit Kopftuch
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
sind …, andere sind …« werden und letztlich: »Ich bin gespannt, wie Frau Y., die ein Kopftuch trägt, ist«. Gruppengrenzen können verändert und durchlässiger gestaltet werden. Ist zum Beispiel jemand »deutsch«, dessen Großeltern auch schon in Deutschland geboren sind, oder ist »deutsch«, wer einen deutschen Pass hat? Nicht zuletzt soll daran erinnert werden, dass ausreichende Ressourcen beispielsweise an Zeit, Reflexions- und Austauschmöglichkeiten Offenheit begünstigen. Im Ergebnis geht es um eine fruchtbare Balance zwischen Offenheit und komplexitätsreduzierenden Stereotypen. Wir kommen nicht umhin, mit individuell und kulturell entwickelten Stereotypen und Vorurteilen zu leben und zu arbeiten, sie dürfen jedoch nicht zum Hindernis für eine wirkliche Begegnung und den Austausch zwischen Menschen werden. Offenheit kann nicht generell erreicht werden, sonst wird sie zur Überforderung. Wenn es gelingt, Begegnungen in Beratung und Therapie mit einer Haltung des Nichtwissens und der Bereitschaft, zu fragen, hinzuhören und hinzusehen, zu gestalten, ist Raum für Offenheit geschaffen. 5.2.3 Haltung der aktiv bejahten Vielfalt Die Vielfalt von Menschen im eigenen und beruflichen Umfeld kann als notwendig in Kauf genommen oder als positives Merkmal der eigenen Kultur und damit als eine aktiv zu gestaltende Aufgabe betrachtet werden. Vielfalt aktiv zu bejahen ist dann mehr als eine Frage des Bewusstseins und des Umdenkens. Sie wird zur Aufgabe, die sich in konkreten Fragestellungen und darauf antwortenden Maßnahmen äußert (Terkessidis, 2011). Wird die Vielfalt aktiv bejaht, bedeutet das, dezidiert anzuerkennen, dass Migranten selbstverständlich zum eigenen Adressatenkreis und Zuständigkeitsbereich gehören (Straßburger, 2009), auch zum eigenen Kollegenkreis. Aktiv bejahte Vielfalt bedeutet auch, dass andere Wahrnehmungs-, Deutungs- und Verhaltensmuster nicht nur passiv toleriert, sondern als gleichwertig und bereichernd anerkannt werden. Unterschiede in Ideen, Normen und Werten werden nicht als defizitär und reformbedürftig aufseiten von Migrantinnen und Migranten angesehen, sondern fließen in einen kreativ neu erfundenen und neu organisierten Raum der Begegnung ein. Jede Person und jede Institution verfügt im Sinne der Reduzierung von Komplexität über eine Reihe von impliziten Annah-
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men über »normale« Werte und Verhaltensweisen sowie über einen bestimmten Adressatentypus, der diese in besonderer Weise verkörpert (Terkessidis, 2011). Nicht selten wird eine Veränderung hin zu größerer Vielfalt als Abkehr von bisherigen Klienten- oder Patientenkreisen und bewährten Vorgehensweisen erlebt. Hinzu kommt, dass alle Veränderungen des Bisherigen einen erhöhten Aufwand an Zeit, Energie und weiteren Ressourcen bedeuten. Bei knappen Ressourcen sprechen scheinbar ökonomische Gründe dafür, bisherige Umgangsweisen beizubehalten. Die Diversität unserer Gesellschaft ist jedoch Realität und gleichzeitig eine Chance für unsere Gesellschaft. Eine Auseinandersetzung damit sichert die Basis für ein Zusammenleben in einer geteilten Zukunft. Für eine Haltung aktiv bejahter Vielfalt geht es zunächst darum, eigene Normalitätsvorstellungen zu erkennen, zu überprüfen und gegebenenfalls zu erweitern. Die Bandbreite von Normalitätsvorstellungen erstreckt sich dabei von der Beschreibung des Klientenkreises (Welche Klientinnen und Klienten sehe ich als meinen »Normalfall«? Finden sich darin Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen entsprechend der gesellschaftlichen Zusammensetzung wider?) über Zugänge zum eigenen Angebot (Erreiche ich mit den von mir angebotenen Strukturen – z. B. Komm-Struktur – auch Personen und Familien aus verschiedenen kulturellen Kontexten?) bis zu Mustern in der Wahrnehmung, in der Deutung und im Verhalten (Was bedeutet es, wenn eine Mutter ihr sehr junges Kind an einem Arm hochhält und leicht schüttelt?) sowie Herangehen und Prozess in der Beratung oder Therapie (Welche Formen von Beratung oder Therapie biete ich an? Erreiche ich damit unterschiedliche Gruppen von Klienten und Patienten, auch mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen? Was erwarte ich, wie Personen oder Familien auf Beratung oder Therapie reagieren?). Eine aktiv bejahende Haltung entsteht jedoch erst, wenn über die Auseinandersetzung mit Normalitätsvorstellungen hinaus eine klare und nachprüfbare Vorstellung davon besteht, was erreicht und wie vorgegangen werden soll und auf welche spezifische Weise die Vielfalt gestaltet werden soll (Terkessidis, 2011). Die Auseinandersetzung auf der kognitiven und der affektiven Ebene wird dann als Haltung auf der Verhaltensebene sichtbar, das »Reagieren auf Familien mit anderen kulturel-
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
len Modellen« wird zu einem »Zugehen auf Familien mit anderen kulturellen Modellen«. 5.2.4 Haltung der Bereitschaft, sich in bisherigen Überzeugungen irritieren zu lassen Laut Duden ist Überzeugung »die feste, unerschütterliche (durch Nachprüfen eines Sachverhalts, durch Erfahrung gewonnene) Meinung« oder ein »fester Glaube« (Duden, 2013). Sie beinhaltet das Vertrauen in die grundlegende Richtigkeit der eigenen Ideen und Anschauungen, in das, was jemand für wahr hält und dessen er sich gewiss ist. Überzeugungen sind daher relativ stabil gegenüber Veränderungen. Irritieren bedeutet demgegenüber, jemanden »in seinem Verhalten, Handeln unsicher machen, verwirren« (Duden, 2013). Aus dem Genannten wird deutlich, dass die Bereitschaft, sich in bisherigen Überzeugungen irritieren zu lassen, alles andere als einfach ist. Menschen sind darauf angelegt, ihre Umgebung zu deuten und zu interpretieren, um sich zu orientieren und um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Diese Konstruktion von Bedeutung findet in Wechselwirkung mit der kulturellen Umgebung statt (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Neue Ereignisse werden dann auf der Grundlage dieser subjektiven Bedeutungskonstruktion »gefiltert« wahrgenommen und scheinen die subjektive Sicht zu bestätigen, werden »für wahr« gehalten. Aktuelles Beispiel aus der Forschung ist die Auseinandersetzung um den Zusammenhang zwischen Bindung und Kultur. Sind die Annahmen der Bindungstheorie, entsprechend der Überzeugung vieler Forscher aus dem westlichen Kulturkreis, tatsächlich universell oder in Teilen auch kulturell geprägt? (vgl. Otto, 2011, und Kapitel 2). Um bereit zu sein, sich in bisherigen Überzeugungen irritieren zu lassen, braucht es zunächst ein Bewusstsein der eigenen kulturellen Bedingtheit. Ein Bewusstsein, in welchem Kontext und wie die eigenen Überzeugungen entstanden sind und dass sie subjektive Sichtweisen auf der Basis von Erfahrungen und Informationen in einem bestimmten kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext sind. Der viel zitierte Satz des deutsch-schwedischen Biologen Jakob von Uexküll »Die Wissenschaft von heute ist der Irrtum von morgen« kann uns Hilfestellung sein, die Relativität unserer Überzeugun-
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gen auf einer Zeitachse wahrzunehmen. Ebenso mögen die Frage »Könnte alles auch ganz anders sein?« oder ein Blick zurück in die Geschichte der eigenen Kultur hier hilfreich sein. In einem nächsten Schritt bedarf es der geistigen Flexibilität, um eine fremde Perspektive einnehmen und vom eigenen Bezugssystem Abstand nehmen zu können. Die Bereitschaft, sich auf Fremde einzulassen, Neues zu lernen und sich neu zu orientieren (Straßburger, 2009), ist eng damit verbunden. Auch hier ist es erforderlich, eigene Normalitätsvorstellungen zu erkennen und zu erweitern (BMFSFJ, 2009), sich der Muster und Schematisierungen bewusst zu werden und diese handlungsorientiert weiterzuentwickeln. Zu gewinnen ist dabei eine neue, umfassendere und vertiefte Überzeugung für die eigene Orientierung und Sicherheit. Und vielleicht auch ein Modell für Familien, wie Veränderungen von Überzeugungen stattfinden und wie neue Überzeugungen gewonnen werden können. 5.2.5 Haltung der inneren Toleranz gegenüber Unsicher heiten, Ungewissheiten und Widersprüchlichkeiten In der Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturen kommen wir manchmal in mehrdeutige, verunsichernde, ungewisse und widersprüchliche Situationen, die Widersprüche im persönlichen Erleben auslösen und widersprüchliche Rollen und Rollenbedürfnisse deutlich machen. Das Verständnis von Höflichkeit (z. B. der Umgang mit Blickkontakt, Hände reichen zur Begrüßung und zum Abschied, Nachfragen) und die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen sind prototypisch dafür. Ambiguitätstoleranz beschreibt die Fähigkeit, Überzeugungen, Normen und Wertesysteme anderer und die ihnen entsprechenden Handlungen gelten zu lassen (Kobelt Neuhaus, 2002), »Widersprüche und Kontrollverlust auszuhalten, ohne die Handlungsfähigkeit zu verlieren« (Gaitanides, 2011, S. 331). Handlungsfähigkeit bedeutet hier, die soziale Interaktion in der Situation aufrechtzuerhalten, indem Verschiedenheit anerkannt und dennoch eine Koalition eingegangen wird. Das setzt voraus, dass Beziehungen als interpretationsbedürftiges, kooperatives Aushandeln von Situationen mit Diskrepanzen erlebt und wechselweise Kompromisse geschlossen
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
werden (Kobelt Neuhaus, 2002). Soziologisch betrachtet stellt die Ambiguitätstoleranz in einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Bedürfnissen und verschiedenen geltenden Werten eine notwendige Entwicklung in der Sozialisierung dar (Wirtz, 2013). Innerhalb der Persönlichkeit setzt Ambiguitätstoleranz voraus, dass Abweichungen von gewohnten und vertrauten Mustern nicht als bedrohlich empfunden und unreflektiert negativ oder vorbehaltlos positiv bewertet werden. Die Differenziertheit der Wahrnehmung, des Denkens und Fühlens kann dann aufrechterhalten und genutzt werden (vgl. Lückmann, 2010). Auf der Handlungsebene zeigt sie sich darin, auf unterschiedliche Erwartungen anderer eingehen zu können, sie als Bereicherung für den eigenen Handlungsspielraum zu sehen und die eigene Persönlichkeit trotzdem zu entwickeln bzw. zu erhalten. Aus dem Gesagten wird deutlich, dass eine Haltung der inneren Toleranz gegenüber Unsicherheiten, Ungewissheiten und Widersprüchlichkeiten im professionellen Kontext eng mit der eigenen Identität und sozialem Lernen verbunden ist. Ganz bei sich und gleichzeitig ganz beim anderen zu sein ist die Kunst, die dabei gefragt ist. Unterstützt werden kann diese Haltung zunächst durch Wissen um kulturelle Verschiedenheiten und deren Hintergründe. Wenn ich weiß, warum jemand im Gespräch keinen Blickkontakt mit mir aufnimmt, kann ich dieses Verhalten leichter tolerieren, auch wenn es mich irritiert. Weiterhin unterstützt die reflexive Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis in Bezug auf sich selbst und in Bezug auf die Beziehung zu anderen diese Haltung. Die Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Werten erleichtert es, in der Bewertung differenziert und nicht schwarz-weiß zu reagieren. Die emotionale Identifikation mit übergeordneten Zielen kann die Koalitionsbildung mit Familien mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen erleichtern. Die Bitte einer Frau um die Erlaubnis ihres Mannes kann, wenn sie als Ausdruck des Bedürfnisses nach Schutz und Sicherheit verstanden wird, die Basis für ein Bündnis schaffen. Nicht zuletzt sollte nicht vergessen werden, dass Ambiguitätstoleranz mit Lernprozessen verbunden ist. Jede Lerngelegenheit schafft damit die Möglichkeit, diese Haltung zu üben.
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5.2.6 Multiperspektivische Haltung Die soziale Realität kann nicht als objektive Realität erfasst werden. Wir konstruieren sie in einem Zusammenspiel aus der Interpretation der Wirklichkeit durch unser Gehirn (individuelle Konstruktion) und einem fortwährenden gesellschaftlichen Abgleich (soziale Konstruktion). Damit ist die soziale Wirklichkeit, wie wir sie erleben, in hohem Maße durch individuelle und gesellschaftliche Interpretationsmuster sowie soziale Übereinkünfte geprägt (BMFSFJ, ohne Jahr). Multiperspektivität bedeutet vor diesem Hintergrund, die Konstruktion der sozialen Realität und damit verschiedenartige Betrachtungsweisen anzuerkennen. Handlungen und Situationen können dann aus mehreren Perspektiven betrachtet werden. Die Perspektive der anderen Kultur muss dabei sicherlich differenziert werden in die Perspektive von Frauen, Männern, Kindern, unterschiedlichen Schichten usw. Eine multiperspektivische Haltung erfordert demnach die Fähigkeit und Bereitschaft, sich von der eigenen Sichtweise zu lösen und sich in die Gedanken, Emotionen, Motive und Konstrukte von anderen einzufühlen. Diese Dimension einer beraterischen bzw. therapeutischen Haltung in der Begegnung mit Familien aus anderen Kulturen ist eng mit der Fähigkeit zur Empathie verbunden. Die über Perspektivwechsel entstandenen Bewertungen und Deutungen dürfen jedoch nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden. Sie sind Hypothesen über die Gedanken, Emotionen, Motive und Konstrukte von anderen Menschen oder Gruppen von Menschen. In einem weiteren Schritt geht es sicherlich darum, die Bedeutungszuschreibungen der Klientinnen und Klienten zu erfragen. Die Übernahme von Perspektiven ersetzt nicht das Gespräch. Im Rahmen von Teams kann es hilfreich sein, die unterschiedlichen Blickwinkel und Betrachtungsweisen auf unterschiedliche Personen zu verteilen, um konventionelle Betrachtungs- und Lösungsmuster zu erweitern. In der Handreichung des BMFSFJ (2009) zu muslimischen Familien in Familienbildung und -beratung wird ein Team beschrieben, das durch den Blick wechselnder Teammitglieder durch die »religiöse« oder die »Soziales Milieu«-Brille zu kreativen Sichtweisen und Lösungen kam. In der Reflexion einzelner Fachpersonen können die verschiedenen Perspektiven beispielsweise mit-
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hilfe von Stühlen sichtbar gemacht werden. Die Perspektive kann dann, verbunden mit einem Platzwechsel, leichter verändert werden. 5.2.7 Respektvolle Haltung Bei der Suche nach der Bedeutung des Wortes »Respekt« stößt man auf Synonyme wie Wertschätzung, Achtung, Anerkennung, Berücksichtigung und Aufmerksamkeit. Geht man diesen in ihrer Bedeutung weiter nach, zeichnet sich eine respektvolle Haltung dadurch aus, dass der Mensch in seiner Ganzheit als Mensch positiv bewertet wird (Wertschätzung und Achtung), dass er die Erlaubnis und den Raum erhält, sich am gemeinsamen Prozess zu beteiligen (Anerkennung und Berücksichtigung), und dass eine Zu- und Hinwendung des Bewusstseins zu ihm stattfindet (Aufmerksamkeit). Dasselbe gilt für Gruppen von Menschen. Das klingt grundsätzlich selbstverständlich, ist aber nicht immer einfach. Insbesondere wenn Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen stark voneinander abweichen, kann es zu inneren und äußeren Spannungen kommen. Kommunikationsformen, Familienkulturen, Geschlechterrollen, Erziehungsziele, Erziehungsstile usw., die stark kontrastieren, rufen eventuell inneren Widerstand hervor. Dies kann zu Situationen führen, in denen das Gegenüber innerlich abgewertet wird, nicht mehr am gemeinsamen Prozess beteiligt, sondern belehrt wird und die Achtsamkeit und Aufmerksamkeit vom Gegenüber abgezogen wird, schematische Vorgehensweisen in den Vordergrund treten. Kurz formuliert: Der Respekt leidet. Zur Relativierung der eigenen Sichtweise auf Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen mag ein Zitat von Jesper Juul (2012, S. 167) hilfreich sein: »Es gibt keinen Beweis, dass bestimmte Werte für das Wohlergehen der Familie wichtiger sind als andere. Überall auf der Welt finden sich fröhliche, zufriedene, harmonische und lebendige Familien, deren Richtlinien und Wertvorstellungen vollkommen verschieden sein können.« Es kann also auch keine gesellschaftliche Gruppe von einer anderen erwarten, die eigenen kulturell entstandenen Werte zu missachten (vgl. BMFSFJ, 2009). Vielmehr geht es in einem ersten Schritt darum, Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen als mögliche Lösungen für persönliche und gesellschaftliche Themen in einem
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bestimmten räumlichen und historischen Kontext zu betrachten, wertzuschätzen und zu achten. Eine respektvolle Haltung in Form von Anerkennung, Berücksichtigung und Aufmerksamkeit drückt sich in einem weiteren Schritt darin aus, sich über Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen, die von den eigenen abweichen, im Gespräch mit der Familie informieren zu lassen (vgl. Keller, 2011). Als Folge kann ein Gespräch über unterschiedliche kulturelle Inhalte, Normen und Werte entstehen, in dem die Lebensweltexpertise beiderseits anerkannt wird. Anerkennung und Berücksichtigung zeigen sich auch darin aus, Unterstützung in einer kulturell angemessenen Form anzubieten. Der Schlüssel zu einer respektvollen Haltung liegt damit im Austausch mit Familien aus anderen Kulturen und in einer wertschätzenden, auch kritischen Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen. Hier zeichnet sich die Verbindung zum nächsten und letzten Aspekt einer professionellen beraterischen bzw. therapeutischen Haltung ab: Eine respektvolle Haltung beinhaltet auch die Bereitschaft zur Kommunikation und Auseinandersetzung. 5.2.8 Kommunikative und konfliktbereite Haltung Kommunikation wird als Verständigung zwischen Menschen, besonders mithilfe von Sprache und Zeichen, beschrieben (Duden, 2013). Eine kommunikative Haltung umfasst in unserem Zusammenhang vor allem die Bereitschaft, sich über Erleben und Erfahrungen sowie die dahinterliegenden Werte und Einstellungen, Sicht- und Verhaltensweisen auszutauschen. Interessiert zuzuhören, nachzufragen und auch Eigenes gegenüberzustellen, sind Möglichkeiten, ins Gespräch zu kommen. Dabei können Übereinstimmungen und natürlich auch Differenzen sichtbar werden. Wie wir in den vorhergehenden Abschnitten beschrieben haben, begegnen wir im Zusammentreffen mit Familien aus anderen Kulturen auch Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen, die sich deutlich von den eigenen unterscheiden. Aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen kann es zu Missverständnissen oder auch Konflikten kommen. Neben all den bisher benannten Dimensionen einer professionellen Haltung wie Offenheit,
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Bereitschaft, sich in bisherigen Überzeugungen irritieren zu lassen, Ambiguitätstoleranz, Respekt usw. zeigt sich, dass es unerlässlich ist, in manchen Situationen auch konfliktbereit und konfliktfähig zu sein. Der Umgang mit gesellschaftlich nicht akzeptierten Wertvorstellungen von Menschen aus anderen Kulturen erfordert, sich den daraus resultierenden Konflikten zu stellen (vgl. AFET, 2010). Beispielsweise ist die Erziehung ohne Gewaltanwendung in Deutschland nicht verhandelbar (Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung, § 1631 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Für Fachpersonen heißt das, die gesellschaftlich vereinbarten und gesetzlich verankerten Werte zu vertreten und stellvertretend Konflikte auszutragen. Inakzeptable Verhaltensweisen können nicht kritiklos als »kulturell bedingt« akzeptiert werden. Zu einer respektvollen und wertschätzenden Haltung gehört auch die Bereitschaft, sich und den anderen ernst zu nehmen und sich konstruktiv auseinanderzusetzen. Das bedeutet keinesfalls, dass Eltern, für die beispielsweise körperliche Züchtigung zur Erziehung gehört, abgewertet und ausgegrenzt werden. Vielmehr beinhaltet eine konfliktbereite und konfliktfähige Haltung, dass auf der Basis einer guten Beziehung und einer fairen Streitkultur nach angemessenen Lösungen gesucht wird. Nachdem die betreffenden gültigen und gesellschaftlich verankerten Werte erklärt wurden, geht es darum, mit der Familie gemeinsam Wege zu suchen, wie deren Werte (z. B. Respekt vor den Eltern) auf alternativen Wegen erreicht werden können. Sicherlich ist es an dieser Stelle hilfreich, sich bei der Suche nach Lösungen an den Ressourcen der Familie oder einzelner Familienmitglieder zu orientieren. In einer kommunikativen und konfliktbereiten Haltung in der Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen fließen viele der bereits besprochenen Dimensionen einer beraterischen bzw. therapeutischen Haltung zusammen. Selbstreflexion, Offenheit, die aktive Bejahung von Vielfalt, die Bereitschaft, sich in bisherigen Überzeugungen irritieren zu lassen, Ambiguitätstoleranz, eine multiperspektivische und respektvolle Haltung unterstützen die Kommunikation und auch die Konfliktbereitschaft und Konfliktfähigkeit. Darüber hinaus kann bei Konflikten die Rückbindung im Kollegen- oder im Teamkreis, eventuell mit professioneller Unterstützung, hilfreich sein. Hier können eigene Haltungen erarbeitet oder präzisiert, Konfliktfelder erkundet und Lösungswege angedacht werden.
Die professionelle Haltung in der interkulturellen Beratung143
Die beschriebenen Haltungsdimensionen sind nicht allein für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen bedeutsam, sie gelten selbstverständlich für alle Begegnungen in der Beratung oder Therapie. Im Kontakt mit Klientinnen und Klienten aus anderen Kulturen werden sie oft in besonderem Maße herausgefordert. Daraus ergeben sich der Anreiz und die Aufforderung, sich selbst und die professionelle Haltung weiterzuentwickeln.
6 Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie – Struktur und Ablauf
In diesem Kapitel soll zunächst ein allgemeines Prozessmodell für die kultursensitive Beratung und Therapie vorgestellt werden, bevor anhand verschiedener Beratungsanlässe kultursensitive Vorgehensweisen exemplarisch dargestellt werden. Weiterhin wird im Rahmen eines Exkurses die Bedeutung und Einordnung von Migrationsprozessen reflektiert. Das Prozessmodell, das im Folgenden erläutert wird, umfasst vier Schritte: die Klärung des Beratungsanliegens, die Zieldefinition einschließlich einer kulturellen Fit-Misfit-Analyse, die Planung eines kulturell passgenauen Vorgehens inklusive der Planung der Kontaktgestaltung mit der Familie und zuletzt die Intervention. Das Prozessmodell orientiert sich damit an den üblichen Schritten eines lösungsorientierten Beratungs- und Therapieprozesses (siehe z. B. Warschburger, 2009). Im Unterschied zu den gängigen Modellen wird dabei auf jeder Ebene konsequent die Rolle des familiären kulturellen Modells und bei Bedarf der Migrationsgeschichte der Klienten berücksichtigt. Das Vorgehen spiegelt sich zentral darin, dass der Berater oder die Therapeutin in jedem Prozessschritt die (kultur)spezifischen Werte, Normen, Wünsche und Ideale der Klienten exploriert und berücksichtigt, um das Anliegen in einen erweiterten kulturellen Bedeutungskontext einzubetten. Wie in Abbildung 6 dargestellt, können die Klientinnen und Klienten sich durch die Klärung des familiären Beratungsanliegens, der kulturspezifischen Vorstellungen und Erwartungen sowie möglicher Konsequenzen für den weiteren Entwicklungsverlauf zunehmend im Spannungsfeld zwischen der eigenen Kultur und der Normativität der Aufenthaltskultur positionieren. In Wechselwirkung mit der Positionierung des Beraters bzw. der Therapeutin kann daraus eine passgenaue Zieldefinition entwickelt und die Beratung bzw. Therapie sowie die Kontaktgestaltung mit der Familie geplant und umgesetzt werden.
Intervention
• Psychoedukation • Erarbeiten von Lösungsansätzen • Klärung der Passung
• Kontaktgestaltung mit den Eltern • Bei Bedarf, Berücksichtigung von Migrationsprozessen
• Abgleich des (kultur)spezifischen Ideals - mit der aktuellen Lebenswelt - mit normativen Perspektiven und Angeboten • Positionierung im Spannungsfeld zwischen Normativität – Kultursensitivität
Fit-Misfit-Analyse und Zieldefinition
Beratungsgestaltung
Klärung kulturspezifischer Vorstellungen und Erwartungen bezüglich • des idealen Kindes und optimalen Elternverhaltens • des beschriebenen Problemverhaltens und dessen Korrekturbedürftigkeit • (sozialer) Unterstützungs- und Entlastungsstrukturen
Klärung des Beratungsanliegens
Beratungsprozess
Methodenkompetenz • Flexibilität in der direktiven/non-direktiven Ausgestaltung von Beratungsprozessen • Bereitschaft zu Einbezug unterschiedlicher Informationsquellen (Familienmitglieder, Beobachtungsdaten ...)
Wissen • Entwicklungspsychologisches Grundlagenwissen zu Beratungsanlässen (normative Modelle) • Wissen um kulturelle Modelle und deren Konsequenzen für die kindliche Entwicklung - Kulturspezifische Entwicklungspfade - Entwicklungspsychopathologie
Professionelle Haltung • Selbstreflexivität • Offenheit und aktive Bejahung von Vielfalt • Bereitschaft, sich irritieren zu lassen • Ambiguitätstoleranz und Multiperspektivität • Respekt, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit
Querschnittskompetenzen
Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie145
Abbildung 6: Prozessmodell für die kultursensitive Beratung und Therapie
146
Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
Um den skizzierten Beratungsprozess kultursensitiv gestalten zu können, muss der Berater bzw. die Therapeutin zusätzlich über Kompetenzen im interkulturellen Kontext verfügen. Eine professionelle Haltung (vgl. Kapitel 5), das Wissen um entwicklungspsychologische Grundlagen und kulturelle Modelle (vgl. Kapitel 1) sowie eine spezifische Methodenkompetenz werden vor diesem Hintergrund als Querschnittskompetenzen in das Prozessmodell mit aufgenommen. Im Folgenden werden die Schritte des Beratungs- bzw. Therapieprozesses näher erläutert und mit den benannten Querschnittskompetenzen in Verbindung gebracht. Um das Vorgehen ganzheitlich und nachvollziehbar darzustellen, wird dabei sowohl auf spezifische kultursensitive Schritte als auch auf die allgemeinen Vorgehensweisen eingegangen.
6.1 Schritt I: Klärung des Anliegens Klärung des Beratungsanliegens
Fit-Misfit-Analyse und Zieldefinition
Beratungsgestaltung
Intervention
Die Klärung Exploration des Beratungs- bzw. Therapieanliegens ist der des Fit-Misfit-Analyse Beratungsgestaltung Intervention Beratungsanliegens und Zieldefinition Beginn aller beraterischen bzw. therapeutischen Arbeit mit Familien von Säuglingen und Kleinkindern. Erstes Thema ist dabei der Klärung des Beratungsgestaltung Zugangsweg, der zurFit-Misfit-Analyse Inanspruchnahme der Beratung bzw.Intervention Therapie Beratungsanliegens und Zieldefinition geführt hat (siehe auch Saunders, 1993). Hat die Familie die Beratungsstelle bzw. Therapieeinrichtung aus eigener Initiative aufgeKlärung des Fit-Misfit-Analyse Beratungsgestaltung Beratungsanliegens und Zieldefinition sucht, weil eine Schwierigkeit wahrgenommen wird, einIntervention gewisser Leidensdruck vorliegt, eigene Lösungsansätze vielleicht gescheitert sind und die Familie damit ein Beratungs- bzw. Therapieangebot als nützliche Hilfestellung ansieht? Oder wurde der Familie von Dritten, zum Beispiel dem Kinderarzt, pädagogischen Fachkräften in der Kindertagesstätte, privaten Kontakten, nahegelegt, ein Beratungs- bzw. Therapieangebot wahrzunehmen, sodass eine durch externen Rat oder möglicherweise auch durch Druck motivierte Inanspruchnahme der Beratung oder Therapie vorliegt? Weiterhin werden die familiäre und vor allem die kindbezogene Vorgeschichte (z. B. Schwangerschafts- und Geburtsverlauf, Erkrankungen) und Lebenssituation, (z. B. Wohnverhältnisse, familiäre Konstellationen)
Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie147
sowie die aktuell als belastend erlebte Problematik und die vorangegangenen Lösungsversuche anamnestisch erfragt (für detaillierte Anamneseleitfäden für die Erziehungsberatung siehe auch Kemmler, 1980; Kubinger u. Deegener, 2001). Im Folgenden wird über die allgemeine Klärung des Anliegens der Klientinnen und Klienten hinaus auf die Besonderheiten im Zusammenhang mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen von Familien eingegangen. Klärung kulturspezifischer Vorstellungen und Erwartungen Bei einer kultursensitiven Beratung bzw. Therapie ist es im Rahmen der Klärung des Anliegens über die oben beschriebenen Schritte hinaus zentral, das kulturelle Modell der Klienten von Entwicklung und Erziehung mit in den Blick zu nehmen. Zu beachten ist hierbei, dass das (kultur)spezifische Ideal der Klienten und das in der Herkunftskultur (z. B. ländliches Anatolien, großstädtisches Berlin) dominante Modell sich deutlich unterscheiden können. Damit für Beratung und Therapie passgenaue Anknüpfungspunkte entwickelt werden können, steht das spezifische Modell der Klienten gegenüber dem dominanten Modell der Herkunftskultur im Vordergrund. Der Fokus liegt also auf der Exploration des individuellen ( kultur)spezifischen Ideals der Klienten, das die zentralen Überzeugungen, Wünsche, Ziele, Vorstellungen, Erwartungen, Werte und Normen bezüglich guten Elternverhaltens und optimaler Entwicklung der jeweiligen Familie umfasst. In diesem Sinne wird, um Missverständnisse zu vermeiden, im Folgenden nicht vom kulturellen Modell der Klienten, sondern vom (kultur)spezifischen Ideal der Klienten gesprochen. Die Annäherung an das (kultur)spezifische Ideal der Klientinnen und Klienten kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Aufbauend auf dem Wissen um kulturspezifische Entwicklungspfade (vgl. Kapitel 1) als Querschnittskompetenz, ermöglichen beispielsweise sozialstrukturelle Parameter eine erste Orientierung. Zentrale Bezugsgrößen sind hier die Familienstruktur (z. B. Wie viele Kinder hat die Familie? Wie alt waren die Eltern bei der Geburt des ersten Kindes? Wie viele Geschwister haben die Eltern? Wohnen die Geschwister oder die Eltern der Eltern im selben Haushalt oder in
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
der direkten Umgebung?), die Lebensumwelt (z. B. Lebt die Familie im Moment in einem dörflichen oder städtischen Kontext? Ist die Mutter/der Vater in einem dörflichen oder städtischen Kontext aufgewachsen? Gibt es eine Migrationsvorgeschichte, die aktuelle Relevanz für das Beratungs- und Therapieanliegen hat?), der Bildungsgrad und die aktuelle Berufstätigkeit der Eltern. Hieraus können erste Ableitungen über eine Orientierung der Familie an eher autonomie- oder eher verbundenheitsbezogenen Erziehungszielen, -vorstellungen und -praktiken vorgenommen werden. An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass es sich dabei um Annäherungskriterien an das (kultur)spezifische Ideal der Klienten handelt, die sich als theoretisch und empirisch gut untermauerte Einordnungselemente für die Beschreibung unterschiedlicher kultureller Kontexte erwiesen haben. Durch diese Kategorien kann und soll eine individuelle Herangehensweise an jede einzelne Familie mit ihrer jeweils spezifischen Ausrichtung auf keinen Fall ersetzt werden. Vielmehr kann so eine erste Orientierung bezüglich des kulturellen Hintergrundes vorgenommen werden, die dann auf ihre Stimmigund Nützlichkeit für den individuellen Beratungs- bzw. Therapieprozess überprüft werden muss. Im nächsten Schritt erfolgt die Klärung verschiedener Bereiche des (kultur)spezifischen Ideals der Familie im direkten Kontakt und Austausch mit ihnen. Die professionelle Haltung des Beraters bzw. der Therapeutin (vgl. Kapitel 5) bildet als weitere Querschnittskompetenz dazu die Grundlage. Konkret geht es darum, zentrale Sozialisationsziele der Familie und deren Vorstellungen von »optimaler« Entwicklung und Erziehung sowie vom idealen kindlichen Verhalten, das heißt ihr kulturelles Bild vom Kind, zu erfragen. Auf der Ebene der Sozialisationsziele und Ethnotheorien können Themen wie der Stellenwert von Werten wie Selbstverwirklichung, Selbstbestimmtheit, Folgsamkeit und Verantwortung besprochen werden. Diese Themen können frei exploriert werden oder man orientiert sich an teilstrukturierten Interviews (für zentrale Sozialisationsziele siehe z. B. Harwood, Schoelmerich, Ventura-Cook, Schulze u. Wilson, 1996), Leitfäden und Fragebögen (z. B. Keller, 2011). Die Klärung der (kultur)spezifischen Ideale der Klientinnen und Klienten ist entscheidend, um das Anliegen der Familie kontextuell einzubetten.
Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie149
Dadurch kann vermieden werden, mit unangemessenen Zuschreibungen zu arbeiten, die die Vorstellungen und die Sichtweise der Familie nicht ausreichend berücksichtigen. Neben den benannten allgemeinen Themen ist es ebenso wichtig, die kulturspezifischen Haltungen und Bedeutungszuschreibungen bezogen auf das konkrete Anliegen zu erarbeiten. Dabei sind zwei Fragenkomplexe von zentraler Bedeutung: 1) Welche Idealvorstellungen hat die Bezugsperson hinsichtlich des emotionalen Zustandes und der Aktivitäten des Kindes? 2) Was sind die Idealvorstellungen der Bezugsperson hinsichtlich der Interaktionspartner und Interaktionserfahrungen des Kindes? Spezifischere Fragen, die sich daraus ergeben, umfassen beispielsweise: Was sind wichtige Interaktionsformate (z. B. Versorgung, Lernen, Spiel)? Wer beschäftigt sich wann auf welche Weise mit dem Kind? Wer übernimmt versorgende Tätigkeiten? Wer stimuliert das Kind und spielt mit dem Kind auf welche Weise? In welcher Stimmung befindet sich das Kind idealerweise während der aktiven Wachphasen? Ziel ist hierbei, die Vorstellungen und Ideale der Klienten bezüglich des konkreten Verhaltens von unterschiedlichen Familienmitgliedern, vom Kind und von der Gestaltung prototypischer Situationen zu erkunden. Ein weiterer wichtiger Fragenkomplex im Zusammenhang mit dem von der Familie benannten Anliegen bezieht sich auf den Zugang zu und den Umgang mit sozialen Unterstützungssystemen im weiteren Familienkreis und im sozialen Umfeld: Welche Beziehungen und Kontakte sind vorhanden und auf welche Helferstrukturen würde die Familie in ihrer Herkunftskultur typischerweise zurückgreifen? Dabei können sowohl Ressourcen des erweiterten Klientensystems deutlich werden als auch hinderliche Faktoren wie beispielsweise die soziale Regel, dass über familiäre Probleme nicht außerhalb der Familie gesprochen wird. Beides kann sich für den Beratungs- bzw. Therapieverlauf als bedeutsam erweisen. Insgesamt geht es bei der Klärung des Beratungsanliegens darum, das als problematisch erlebte Verhalten in seiner Kulturgebundenheit zu erfassen und zu ergründen, welche Vorstellungen von Erziehung und Entwicklung und welche Erwartungen an verschiedene Akteure und Helfersysteme existieren, um ein umfassendes Bild von der Situation zu entwickeln. In diesem ersten Schritt geht es zunächst
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
nicht darum, was der Therapeut bzw. die Beraterin aufgrund ihrer eigenen Werte und Überzeugungen für angemessen hält. Vielmehr ist das Ziel, das Anliegen vor dem Hintergrund des (kultur)spezifischen Ideals der Klienten zu verstehen. Die weitere Aufgabe des Beraters oder der Therapeutin liegt darin, das Ideal der Klienten auf inkompatible Anteile zu prüfen, um diese in den Blick zu nehmen und im weiteren Verlauf zu berücksichtigen. Klärung des Fit-Misfit-Analyse 6.2 Schritt II: Fit-Misfit-Analyse und Zieldefinition Beratungsgestaltung Intervention Beratungsanliegens und Zieldefinition
Klärung des Beratungsanliegens
Fit-Misfit-Analyse und Zieldefinition
Beratungsgestaltung
Intervention
Im zweiten Schritt des Beratungsprozesses wird zunehmend konKlärung des Fit-Misfit-Analyse Beratungsgestaltung Intervention Beratungsanliegens und Zieldefinition kretisiert, was die Familie von der Beratung oder Therapie erwartet und welche Ziele sie erreichen möchte. Diese Fragen sind zentral für den Klärung weiteren Prozess.Fit-Misfit-Analyse Sie sollten immer wieder in den Fokus gerückt des Beratungsgestaltung Intervention Beratungsanliegens und Zieldefinition werden, um zu überprüfen, ob und inwieweit Erwartungen und Ziele bereits erreicht wurden. Sie eignen sich auch, um zu reflektieren, ob die zunächst genannten Anliegen weiterhin gültig sind oder ob sie angepasst werden müssen. So können im Verlauf der Beratung bzw. Therapie neue Themen aufkommen oder das Ursprungsanliegen kann sich verschieben. Beispielsweise kann aus dem anfänglich geäußerten Wunsch »Das Kind soll ausgeglichener werden« die Zielrichtung »Wir möchten schauen, wie wir uns in der Familie besser unterstützen können, um uns so mehr zu entlasten und gegenseitig zu stärken« entstehen. Wird in der Beratung und Therapie ein kultursensitiver Ansatz verfolgt, stellen sich sowohl dem Berater bzw. der Therapeutin als auch den Klientinnen und Klienten zwei zentrale Herausforderungen. Sie werden hier mit dem Begriff der Fit-Misfit-Analyse beschrieben und im Folgenden im Zusammenhang mit verschiedenen Lösungsansätzen diskutiert. Die erste Aufgabe dabei ist der Abgleich des (kultur)spezifischen Ideals mit der aktuellen Lebenswelt der Familie. Die zweite Aufgabe besteht darin, das (kultur)spezifische Ideal mit normativen Perspektiven und Angeboten der Aufenthaltskultur abzugleichen. Auf der Grundlage dieser beiden Themen
Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie151
erfolgt in einem weiteren Schritt die Positionierung der Familie und der Beraterin bzw. des Therapeuten in diesem Spannungsfeld, die abschließend die Zieldefinition ermöglicht. Im Folgenden werden diese Schritte erläutert. 6.2.1 Abgleich des (kultur)spezifischen Ideals mit der aktuellen Lebenswelt Beim Abgleich des (kultur)spezifischen Ideals mit der aktuellen Lebenswelt werden die individuellen kulturellen Ideale der Familie zur Erziehung und Entwicklung von Kindern mit der Realität der dominanten Aufenthaltskultur in Beziehung gesetzt. Hauptsächliches Thema hierbei ist, welche Ziele sich aus dem (kultur)spezifischen Ideal der Klienten ergeben und inwiefern diese kompatibel mit der aktuellen Lebenswelt sind. Die individuellen Ideale werden geprüft und realistisch betrachtet, welche Optionen verfüg- und umsetzbar sind. Für eine differenziertere Betrachtung stellt sich die Frage, in welchen Teilen die (kultur)spezifischen Ideale und Zielvorstellungen der Familie in der jetzigen Lebenswelt bereits verwirklicht sind, wo sie grundsätzlich kompatibel, aber noch nicht verwirklicht sind, und wo es Diskrepanzen zwischen familiären Idealen und aktueller Lebenswelt gibt. Falls es Diskrepanzen gibt, schließt sich die Frage an, ob und wodurch diese aufgelöst werden können. Dabei gibt es prinzipiell zwei Denkrichtungen: Entweder gelingt es, die aktuelle Lebenssituation zu ändern, oder das Ziel ist, die (kultur)spezifischen Ideale kritisch zu prüfen und gegebenenfalls neu zu fassen. Themen in diesem Zusammenhang sind beispielsweise die Rolle der Mutter und die Rolle des Vaters als primäre Bezugspersonen und die damit assoziierten Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen gegenüber dem Kind (z. B. Versorgung des Kindes oder finanzielle Absicherung der Familie). Entsprechende Fragen können sich hinsichtlich der Rolle und Verfügbarkeit von Geschwistern (z. B. Aufsicht über jüngere Geschwisterkinder), hinsichtlich der Aufgaben in der weiteren Familie (z. B. Verpflichtungen zur finanziellen Unterstützung Angehöriger) und hinsichtlich anderer sozialer Unterstützungssysteme (z. B. Aufgaben von Institutionen wie Kindertagesstätte) stellen.
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
6.2.2 Abgleich des (kultur)spezifischen Ideals mit normativen Perspektiven und Angeboten Daneben gilt es, einen Abgleich zwischen dem (kultur)spezifischen Ideal der Klientinnen und Klienten und der dominanten normativen Perspektive der aktuellen Aufenthaltskultur vorzunehmen. Eine zentrale Dimension ist die Frage nach der Passung zwischen den Vorstellungen und Zielen der Familienkultur und den Kontextbedingungen und Strukturen der aktuellen Lebenswelt. Welche Erfahrungen machen die Klienten hinsichtlich der Überzeugungen, Erwartungen und Rückmeldungen von anderen Personen aus der Aufenthaltskultur? Welche Botschaften erhalten sie von der sozialen Umgebung darüber, wie sie mit ihrem Kind umgehen und welche Einstellungen und Ziele sie hinsichtlich der Erziehung ihrer Kinder haben? Inwiefern passen diese Rückmeldungen zum Ideal der Eltern und an welchen Stellen entstehen Reibungspunkte? An dieser Stelle geht es also zentral darum, einen Abgleich zwischen den (kultur)spezifischen elterlichen Idealen und den Idealen des dominanten kulturellen Modells in der Aufenthaltskultur vorzunehmen. Darauf aufbauend wird den Klienten vermittelt, welche langfristigen Konsequenzen die unterschiedlichen kulturellen Ideale, Erwartungen und Erziehungsstile für die Entwicklung der Kinder haben könnten. Bei einer Orientierung am Rahmenkonzept der kultursensitiven Entwicklungspfade (siehe Kapitel 1) würden in einem ersten Schritt mögliche Entwicklungskonsequenzen ausgelotet, um diese dann mit den langfristigen Entwicklungszielen der Eltern abzugleichen. Da nach diesem Ansatz das kulturelle Modell der Bezugspersonen richtungsweisend für die Entwicklung des Kindes ist, lohnt es sich an dieser Stelle, mit den Klienten darüber zu sprechen, welche längerfristigen Folgen das spezifische Elternverhalten für die Entwicklung des Kindes haben kann. Dabei sind in jedem kulturellen Modell bestimmte Entwicklungskonsequenzen klar positiv konnotiert, werden jedoch in der Regel durch »unerwünschte Nebenwirkungen« begleitet, die mit dem jeweiligen Entwicklungspfad einhergehen. Beispielsweise führt ein autonomiebetontes Erziehungsideal, in dem das Kind für seine eigenen Bedürfnisse sensibilisiert wird und lernt, sich daran zu orientieren, häufiger dazu, dass das Kind eine stärker ausgeprägte Trotzphase durchlebt, die für die Eltern
Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie153
anstrengend sein kann (siehe auch Kapitel 6). Folgt die Erziehung dem verbundenheitsorientierten Erziehungsideal, in dem das Kind zu Folgsamkeit und sozialer Angepasstheit erzogen wird, hat es möglicherweise Probleme, sich kompetent in Bildungseinrichtungen zu bewegen, die in autonomiebetonten Kontexten häufig darauf ausgerichtet sind, dass Kinder ihre individuellen Leistungen und Kompetenzen zeigen und betonen, um sich positiv von anderen abzuheben. Insgesamt geht es an diesem Punkt darum, gemeinsam mit den Klientinnen und Klienten in den Blick zu nehmen, welche erwünschten positiven Konsequenzen mit deren (kultur)spezifischem Erziehungsideal verbunden sind und welche Schwierigkeiten im weiteren Entwicklungsverlauf an verschiedenen Stellen auftreten könnten. 6.2.3 Positionierung der Familie und der Beraterin bzw. des Therapeuten in diesem Spannungsfeld Hat man den Blick sowohl der Klienten als auch der Beraterin bzw. des Therapeuten im beschriebenen Sinne geweitet, besteht der nächste Schritt darin, dass sich die Klienten im Spannungsfeld zwischen ihrem (kultur)spezifischen Modell und dem normativen kulturellen Modell, das die Klienten umgibt und das auch den meisten Präventions- und Interventionsansätzen zugrunde liegt, positionieren. Sicherlich haben die meisten Klientinnen und Klienten bereits eine Einstellung dazu, hier geht es allerdings darum, diese Position bewusst zu reflektieren, bestenfalls unter Bezug auf das konkrete Beratungsanliegen. Ziel dabei ist die Selbstvergewisserung der Eltern, welche Anteile des Elternverhaltens ihnen nach wie vor angemessen und kompatibel erscheinen und an welchen Stellen sie den Wunsch entwickeln, ihre Einstellungen und ihr Erziehungsideal zu überdenken und möglicherweise zu verändern. Beispielsweise kann es im (kultur)spezifischen Ideal der Eltern üblich sein, dass sich die Väter in den ersten Jahren kaum um Kinder und Haushalt kümmern und dies von den weiblichen Mitgliedern der Großfamilie und des Dorfes übernommen wird. Im aktuellen Umfeld der Familie ist dies eventuell nicht mehr möglich, sodass Neuorientierungen und Anpassungen erforderlich sind. Ebenso muss sich die Beraterin bzw. der Therapeut mit jeder Familie neu in diesem Spannungsfeld zwischen Kultursensitivität
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
und Normativität positionieren. Was sind Beratungsziele, die sie oder er in dem jeweiligen Fall für angemessen und vertretbar hält? In diesem Zusammenhang ist eine zentrale Querschnittskompetenz die professionelle Haltung, das Wissen um kulturspezifische Entwicklungspfade und die Implikationen, die sich daraus für die Entwicklungspsychopathologie und die Einschätzung der Korrekturbedürftigkeit von Entwicklung ergeben. Nach diesem Annäherungsprozess, der sowohl den Abgleich des (kultur)spezifischen Ideals mit der aktuellen Lebenssituation als auch den Abgleich des (kultur)spezifischen Ideals mit dem normativen kulturellen Modell und die Positionierung in diesem Spannungsfeld umfasst, ist es möglich, konkrete Ziele für die Beratung zu formulieren. 6.2.4 Zieldefinition: Kulturell unterschiedliche Veränderungs wünsche bzw. Beratungs- und Therapieziele Wie oben erläutert, ist es für die Beratung bzw. Therapie entscheidend, die durch das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen veränderte Situation mit den Eltern zu erläutern und ihre Vorstellungen, Wünsche und Gewohnheiten zu erfragen und wertzuschätzen. Erst auf dieser Grundlage kann im weiteren Beratungsverlauf eine veränderte Herangehensweise an den familiären Alltag erarbeitet und erprobt werden. Hinsichtlich der Erziehungsvorstellungen und Verhaltensweisen von Eltern bestehen große kulturelle Unterschiede (siehe Kapitel 1). Folglich können Beraterinnen bzw. Therapeuten auch mit variierenden kulturell gebundenen Interventionszielen konfrontiert sein. Bei der Wahl der Interventionsziele empfiehlt es sich daher, das Kind mit seinen Bedürfnissen in den Blick zu nehmen sowie die aus den jeweiligen (kultur)spezifischen Hintergründen der Eltern erwachsenen Wünsche an die kindliche Entwicklung ernst zu nehmen und in die Planung der Beratung und Therapie einzubeziehen. (siehe Kapitel 6). Von der Beraterin bzw. dem Therapeuten erfordert das, offen für unterschiedliche Formen der Veränderung und damit für unterschiedliche Beratungsziele und Veränderungswünsche von Eltern zu sein. Beraterinnen und Therapeuten können dabei in Konflikt mit ihren eigenen Werten und Überzeugungen kommen, mit den eige-
Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie155
nen Vorstellungen vom Umgang mit Kindern, von der Gestaltung der Geschlechterrollen und dem Grad der Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. So ist zum Beispiel eine klare Trennung der Geschlechterrollen in vielen verbundenheitsorientierten Kontexten üblich, und es kann hier passender sein, andere Frauen des Umfeldes und nicht den Vater zur Entlastung der familiären Situation in die Betreuungsarbeit des Kindes einzubeziehen. Für Beraterinnen bzw. Therapeuten mit autonomieorientiertem Hintergrund und der damit verbundenen Vorstellung von Geschlechtergleichheit kann das schwer zu akzeptieren und mit der Tendenz verbunden sein, die elterliche Rollenaufteilung zu bewerten. Dadurch wiederum kann es zu Irritationen bis hin zum Beratungsabbruch kommen, wenn sich die Eltern in ihren Vorstellungen abgewertet und abgelehnt fühlen. Hilfreich ist es, mit einer Haltung der Offenheit und Neugier zu explorieren, wie die Rollenaufteilung gehandhabt wird und wie zufrieden die Mutter und der Vater damit sind. Für die Auswahl des Ziels der Beratung bzw. Therapie kann nicht das kulturelle Modell der Beraterin bzw. des Therapeuten handlungsleitend sein, sondern die auf die Aufenthaltskultur und die kindliche Entwicklung abgestimmten (kultur)spezifischen Überzeugungen und Wünsche der Eltern sowie deren Veränderungsmöglichkeiten. Zusammenfassend ist es für die Tragfähigkeit des vereinbarten Ziels der Beratung bzw. Therapie zentral, die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes zwischen dem (kultur)spezifischen Ideal der Eltern und der dominanten Aufenthaltskultur zu berücksichtigen sowie eine Lösung für das Spannungsfeld zwischen den ( kultur)spezifischen Idealen der Eltern und den normativen Vorstellungen der Aufenthaltskultur zu erarbeiten. Das Wohl des Kindes und der Familie steht dabei gegenüber der Zufriedenheit der Beraterin bzw. des Therapeuten klar im Vordergrund. Ist es im zweiten Schritt gelungen, sich den spezifischen Zielen für die Beratung oder Therapie anzunähern, gilt es im nächsten Schritt, einen sinnvollen und passenden Weg für die Gestaltung des Beratungsprozesses zu entwickeln.
Klärung des
Fit-Misfit-Analyse
Beratungsgestaltung 156 Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: PraktischeIntervention Umsetzung Beratungsanliegens und Zieldefinition
Klärung des Fit-Misfit-Analyse 6.3 Schritt III: Beratungsgestaltung Beratungsgestaltung Beratungsanliegens und Zieldefinition
Klärung des Beratungsanliegens
Fit-Misfit-Analyse und Zieldefinition
Beratungsgestaltung
Intervention
Intervention
Im weiteren Verlauf einer kultursensitiven Beratung geht es darum, Klärung des Fit-Misfit-Analyse Beratungsgestaltung Intervention Beratungsanliegens und Zieldefinition sowohl die Planung von Interventionen als auch die Rahmenbedingungen der Beratung bzw. Therapie auf die Bedürfnisse und Hintergründe der Familien abzustimmen. Zudem sollte bei Bedarf das Thema Migration berücksichtigt werden. Das folgende Fallbeispiel verdeutlicht die Bedeutung der ersten beiden Aspekte: Familie G. kommt mit ihrem 18 Monate alten Sohn wegen Schlafproblemen in eine Beratungsstelle. Die Familie hat einen türkischen Migrationshintergrund. Beide Eltern leben schon seit vielen Jahren in Deutschland. Der Junge wird in der Nacht mehrfach wach und braucht dann recht lange und viel Unterstützung der Eltern, um wieder in den Schlaf zu finden. Die Beratungspersonen explorieren die aktuelle Situation in der Familie sowie deren familiären Hintergrund sorgfältig. Dabei zeigt sich, dass es für Mutter und Vater nicht denkbar ist, das Kind in einem eigenen Zimmer schlafen zu lassen. Dies entspricht nicht ihren Erfahrungen aus den Kontexten ihrer türkischen Heimat, wo die Kinder in den ersten Lebensjahren mit anderen zusammen schlafen. In der Beratung werden im weiteren Verlauf Strategien erarbeitet, die es ermöglichen sollen, dass das Kind im Schlafzimmer der Eltern mit weniger Aufwand und Unterstützung wieder in den Schlaf finden kann. Es kommt zu einer leichten Verbesserung, die Nächte bleiben für die Eltern dennoch anstrengend. Zu Beginn eines der folgenden Beratungsgespräche berichtet die Mutter erfreut, dass ihr Sohn nun erfolgreich durchschlafe. Die Beratungspersonen fragen interessiert nach, was denn geschehen sei. Die Eltern berichten, dass eine deutsche Freundin der Mutter bei einem Besuch erklärt habe, es könne so nicht weitergehen und der Junge sei auch schon alt genug, um allein in seinem Zimmer zu schlafen. Sie riet ihnen, ihn von nun an dort hinzulegen und ihn, wenn der erwartete Protest komme, zu beruhigen, aber in zeitlich geregelten Abständen auch allein zu lassen. Die Familie konnte diesen Tipp annehmen und
Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie157
umsetzen und ihr Sohn schlief nach einigen schwierigen und anstrengenden Nächten in seinem eigenen Zimmer durch.
Am Beispiel wird deutlich, dass eine kultursensitive Beratung aus mehreren Komponenten besteht und es herausfordernd ist, diese in Einklang zu bringen. Bei der beschriebenen Familie haben die Beratungspersonen sich lediglich darauf konzentriert, kulturangemessene Lösungen und Interventionen für das benannte Problem der Familie zu suchen. Sie erfragten die kulturellen Hintergründe und Modelle und bezogen diese im Rahmen einer non-direktiven Gesprächsgestaltung in die weitere Planung der Beratung ein. Dennoch führte das Vorgehen nicht ausreichend zur gewünschten Veränderung der Situation. Das Vorgehen der deutschen Freundin der Familie verdeutlicht den fehlenden Aspekt. Mit ihrer klaren Expertenhaltung und der direktiven Vermittlung knüpfte sie an die Art der Kontaktgestaltung zwischen Ratsuchenden und Beratenden in der Herkunftskultur der Eltern an. Sie entsprach damit den Erwartungen der Eltern an eine Erziehungsberatung. Zusätzlich hat vermutlich die Vertrauensbeziehung, die zu der Freundin bestand, die erfolgreiche Umsetzung der Veränderungsidee unterstützt. Zu einer kultursensitiven Beratung gehören somit sowohl der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung als auch die kultursensitive Planung der Interventionen und eine Kontaktgestaltung zwischen Familie und Berater bzw. Therapeutin, die die Herkunftskultur der Familie berücksichtigt. Nur in der Kombination aller drei Komponenten kann letztlich eine fruchtbare Arbeit am Beratungs- oder Therapieanliegen der Familie erreicht werden. Es gilt, für jeden Beratungsprozess neu eine Balance zwischen dem inhaltlichen und dem formalen Aspekt der Beratung zu finden und zu gestalten. Musterlösungen lassen sich damit schwer beschreiben. Ein Bewusstsein des Spannungsfeldes und die Auseinandersetzung damit sind jedoch hilfreich, um passende Kontakte und Beratungsverläufe gestalten zu können. In den folgenden Abschnitten werden wir zunächst die kulturangemessene Kontaktgestaltung in den Blick nehmen und dann erläutern, wie Migrationsprozesse im Beratungsprozess bei Bedarf angemessen berücksichtigt werden können.
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
6.3.1 Kulturangemessene Kontaktgestaltung mit Eltern Wie dargestellt kommen Eltern mit kulturell unterschiedlich geprägten Vorstellungen von Hilfe und unterschiedlichen Erwartungen an die Rolle von Helfern in Beratung oder Therapie. Das Spektrum spannt sich von der Idee der »Hilfe zur Selbsthilfe« bis zum Wunsch, konkrete Verhaltensanweisungen zu erhalten, die zur Lösung des Problems führen. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich oft bereits beim Erstgespräch mit Familien. Die folgenden Fallbeispiele verdeutlichen das Spektrum der Hilfeerwartungen. Beginn Erstgespräch Familie A Beraterin: »Erzählen Sie doch bitte, was Sie zu uns bringt und was wir für Sie tun können.« Mutter: »Ja, unser Sohn war von Anfang an sehr unruhig. Es gab bereits Komplikationen während der Schwangerschaft und er musste dann zwei Wochen vor dem eigentlichen Geburtstermin per Kaiserschnitt geholt werden. Na ja, und er hat von Anfang an viel geschrien. Es hilft manchmal, wenn wir ihn tragen, aber er ist jetzt ja mit seinen neun Monaten auch nicht mehr so leicht, dass ich ihn ständig tragen kann, und es hilft auch nicht immer. Manchmal wissen wir dann gar nicht mehr weiter und fühlen uns hilflos und manchmal merke ich auch, dass ich aggressiv werde, was ich eigentlich nicht möchte und wofür ich mich schäme. Mein Mann und ich fragen uns auch, ob wir denn vielleicht etwas falsch machen. Daher haben wir gedacht, wir melden uns mal bei Ihnen, um da Hilfe zu bekommen.« Beraterin: »Ja, da sind wir gerne für Sie da und können sicherlich gemeinsam Wege erarbeiten, um Ihnen dabei zu helfen und Sie zu unterstützen.« Vater: »Uns ist schon auch bewusst, dass Sie vermutlich auch nicht den Wundertipp haben, aber es ist für uns schon hilfreich, hier auf offene Ohren zu stoßen und auch Ihre Meinung zu hören. Wir haben das Gefühl, wir kommen allein nicht mehr weiter.« Beraterin: »Sie haben recht, wir werden leider auch nicht zaubern können. Jedes Kind und jede Familie sind anders und was bei einer hilft, hilft bei einer anderen nicht unbedingt. Aber wir haben gute Erfahrungen, gemeinsam mit Ihnen als Eltern Lösungen zu suchen, die für Sie passen.« Mutter: »Ja, das haben wir uns auch so ähnlich vorgestellt.«
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Beginn Erstgespräch Familie B Beraterin: »Erzählen Sie doch bitte, was Sie zu uns bringt und was wir für Sie tun können.« Mutter: »Unser Kind schreit viel und lässt sich schwer beruhigen. Wir würden von Ihnen gerne wissen, was zu tun ist, damit es weniger schreit.« Beraterin: »Ihr Kind schreit viel und beruhigt sich schwer. Ja, da können wir Ihnen sicher helfen. Bevor wir dazu kommen, zu überlegen, was helfen kann, würden wir gerne noch ein paar Fragen stellen, damit wir Ihre Situation besser kennenlernen. Wenn Ihr Sohn schreit, was haben Sie bislang versucht, um ihn zu beruhigen?« Mutter: »Manchmal hilft Tragen, aber auch nicht immer.« Beraterin: »Ist Körperkontakt generell etwas, was ihn beruhigen kann?« Mutter: »Ja, das mag er schon gerne, aber oft hilft auch nichts und er schreit auch, wenn ich ihn auf den Arm nehme. Und da würden wir gerne von Ihnen wissen, was wir tun können.«
Die Beispiele sind prototypisch für den Beginn von Beratungen. Die Unterschiede zeigen sich vor allem in der Erwartung der Eltern, was für sie hilfreich wäre (gemeinsame Lösungssuche oder konkrete Ratschläge), sowie hinsichtlich der Elaboriertheit, mit der sie die Fragen der Beraterin beantworten (siehe hierzu auch Kapitel 3). Jede Familie und jeder Beratungsprozess ist einzigartig und jeder Beratungsbeginn mit einer Familie bedarf des Einlassens auf die jeweiligen Familienmitglieder sowie eines darauf abgestimmten Beziehungsaufbaus. Hierbei spielen die Persönlichkeiten und Lebensgeschichten aller Beteiligten eine Rolle. Insofern gestalten sich individuelle Prozesse. Es ist vonseiten der Beratenden wichtig, offen in den jeweiligen Kontakt mit den Eltern zu gehen und die jeweilige Beratungsstrategie und -haltung aus dem Kontakt mit den Familien zu entwickeln. Neben den individuellen Unterschieden lassen sich auch kulturelle Unterschiede hinsichtlich elterlicher Erwartungen an Beratung und Therapie sowie unterschiedliches Auftreten im Beratungs- bzw. Therapieprozess beschreiben. Beide Bereiche sind zudem durch Wechselwirkungen miteinander verbunden. Das Wissen um diese kulturellen Unterschiede kann helfen, Wünsche und Verhaltensweisen von Familien besser einzuordnen. Gibt es Kenntnisse über den kulturellen Hin-
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
tergrund, lassen sich daraus Gestaltungshinweise für den Kontakt mit den Eltern ableiten. Hierbei soll es nicht um ein vorschnelles Kulturalisieren von Individuen gehen. Es bleibt unerlässlich, unvoreingenommen und offen auf jede Familie zuzugehen und sich nicht in der offenen Wahrnehmung einzuschränken. Das Wissen um die kulturellen Unterschiede bezüglich des Kontaktes stellt, bei entsprechend reflektierter Nutzung und jeweiliger Realitätsprüfung, eine hilfreiche Ergänzung zum Verstehen von Familien sowie zum gemeinsamen Kontaktaufbau dar. Im Folgenden sollen nun praktische Umsetzungsmöglichkeiten kultursensitiver Beratung hinsichtlich einer differenzierten Kontaktgestaltung mit Eltern dargestellt werden. Wie in Kapitel 3 näher ausgeführt, können kulturelle Unterschiede in der Erwartung einer eher direktiven oder eher non-direktiven Gestaltung von Beratungsbzw. Therapiegesprächen bestehen. Im Sinne der Anschlussfähigkeit an die Erwartungen und Erfahrungen der Familien wäre es für eine kultursensitive Beratung hilfreich, wenn die Beraterinnen bzw. Therapeuten ihre Kontaktgestaltung je nach kulturellem Hintergrund variabel gestalten können. Zur Verdeutlichung werden im Folgenden Beispiele entwickelt, in denen die Beratungspersonen den Beratungsverlauf unterschiedlich darstellen. Im ersten Beispiel wird eine non-direktive Variante geschildert. Das zweite Beispiel stellt den Beratungsprozess direktiver dar. Non-direktive Darstellung des Beratungsprozesses Berater: »Sie wünschen sich, Ihren Sohn dabei zu unterstützen, sich zu beruhigen, wenn er schreit. Ihre Beruhigungsversuche haben bislang nicht dazu geführt, dass sich die Situation verbessert. Deshalb möchten Sie weitere Ideen entwickeln. Wir werden leider keine Wunder- oder Zaubertipps haben und wir würden auch ungern Ratschläge geben, ohne Sie und Ihre Wünsche näher kennenzulernen. Da jedes Kind und jede Familie unterschiedlich sind, gibt es keine Musterlösungen. Wir haben jedoch gute Erfahrungen damit, Ihre Situation erst einmal kennenzulernen und dann darauf aufbauend gemeinsam mit Ihnen individuelle Lösungen für Ihre Situation zu erarbeiten. Sie können dann schauen, ob diese Ideen auch für Sie passen.«
Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie161
Hier werden entsprechend den Strukturelementen der non-direktiven Beratung die inhaltlichen Äußerungen der Eltern aufgegriffen und deren Wünsche und Einstellungen explizit anerkannt. Direktive Darstellung des Beratungsprozesses Berater: »So, wie Sie es berichtet haben, komme ich zu dem Schluss, dass Ihr Sohn noch sehr viel Unterstützung beim Einschlafen benötigt. Das ist in dem Alter nichts Ungewöhnliches. Ich kann Ihnen dabei helfen, wie Sie dahin kommen, dass er lernt, mit immer weniger Unterstützung in den Schlaf zu finden. Aus meiner Sicht ist es ein guter erster Schritt, das Tragen langsam zu reduzieren und ihn an andere Beruhigungssituationen, die für Sie weniger anstrengend sind, zu gewöhnen. Sie können sich zum Beispiel Ihren Sohn auf Ihren Schoß setzen, so hat er weiterhin Ihre Nähe und den Körperkontakt; es ist für Sie aber nicht mehr so aufwendig. Zusätzlich können Sie versuchen, ihn an ein Kuscheltier zu gewöhnen, das er künftig als Einschlafhilfe nutzen kann. Viele Kinder nutzen ein Kuscheltier als Einschlafhilfe; hat Ihr Kind denn schon ein Kuscheltier, das es bevorzugt?«
Im Kontrast zum ersten Beispiel benennt der Berater hier das konkrete Problem und die Ursache, er schlägt eine Lösungsmöglichkeit vor und empfiehlt ein bestimmtes Verhalten. Zudem informiert er über das Problem, stellt gezielte Fragen und lenkt damit die Themen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Interventionsmöglichkeiten beinhalten keine Erfolgsgarantie. Prinzipiell ist es notwendig, sich einer Lösung gemeinsam mit den Eltern anzunähern. Für eine kultursensitive Beratung kann jedoch ein Spielraum zwischen Direktivität und Non-Direktivität im Beratungsprozess geschaffen und genutzt werden, mit dem sich sowohl Beratende aus der non-direktiven Tradition als auch Klientinnen und Klienten mit direktiven Erwartungen wohlfühlen. Das nachfolgend dargestellte Vorgehen innerhalb von Beratung oder Therapie kann die Balance zwischen beiden Polen für die Arbeit mit Familien hilfreich nutzen: 1) In den ersten ein bis zwei Gesprächen stehen die Klärung des Anliegens und der Situation sowie das Einholen von Informationen im Mittelpunkt. Konkrete Tipps oder Herangehensweisen werden noch nicht vermittelt.
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
2) Entsprechend wird den Familien erklärt, dass erst nach der Klärung der Situation konkrete Tipps gegeben werden können. In dieser Zeit entwickeln die Beratenden, gegebenenfalls unter Rücksprache mit dem Team, ein passendes Vorgehen. 3) In den folgenden Gesprächen kann der Familie darauf aufbauend vermittelt werden, was aus Sicht der Beratenden die Ursache der Problematik ist, was helfen könnte und warum. Verbunden mit klaren und konkreten Anregungen für Änderungen familiärer Verhaltensweisen kann damit den direktiven Erwartungen der Familie begegnet werden. Auf diese Weise kann eine offene Exploration stattfinden und in einen Rahmen eingebettet werden, der es für die Familien verständlich macht, warum (noch) keine Intervention angeboten wird. Dieses Vorgehen gibt den Beratenden die Möglichkeit, ohne Druck Informationen zur Familie zu sammeln, Unterstützungsansätze abzuwägen und auszuwählen sowie sich darüber abzustimmen, wie diese den Eltern dargestellt und begründet werden. Für Familien mit einem verbundenheitsorientierten Hintergrund kann so eine Herangehensweise angeboten werden, die es ermöglicht, auch im Rahmen von nondirektiven Ansätzen einen anschlussfähigen Rahmen zu schaffen. Ein weiterer in Kapitel 3 diskutierter Aspekt bezieht sich auf kulturelle Unterschiede beim Ansprechen von gefühlsbezogenen und persönlichen Themen. Auch hier kann ein differenzierter Umgang hilfreich sein. Beispielsweise kann die introspektive Frage »Wie fühlen Sie sich, wenn Ihr Kind länger schreit?« für eine Familie mit verbundenheitsorientiertem Hintergrund unvertraut und daher für die Eltern schwer zu beantworten sein. Als hilfreich erweist sich, die Frage auf die Verhaltensebene zu beziehen, zum Beispiel »Was machen Sie, wenn Ihr Kind schreit?«. Weiterhin ist es für Familien mit einem verbundenheitsorientierten Hintergrund Erfolg versprechend, introspektive Perspektiven (aber auch Situationsbeschreibungen oder Interventionsmöglichkeiten) über Bilder oder Geschichten anzusprechen. Die Auseinandersetzung mit einer Geschichte, in der eine andere Familie beschrieben wird, kann den nötigen Abstand gewährleisten, damit Eltern sich im Rahmen einer Beratung ohne Gesichtsverlust oder Scham
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mit der Thematik beschäftigen können. Auch allgemeine Sinnsprüche oder Weisheiten können hilfreich sein. Die Beratenden sollten bei jeder Familie sorgfältig abwägen, ob bzw. im welchem Ausmaß eine introspektive und psychologisierende Vertiefung der Beratung möglich und hilfreich ist. In aller Regel ist es für die Arbeit mit Familien aus verbundenheitsorientierten Kontexten wichtig, zunächst eine Vertrauensbeziehung aufzubauen und sich über andere Themen zu unterhalten, um sich erst dann dem eigentlichen Anliegen der Beratung zu nähern. Leicht kann es dabei zu Missverständnissen kommen. Für Berater bzw. Therapeutinnen ist es daher entscheidend, Familien, die sich der konkreten Beantwortung von introspektiven Fragen entziehen oder lange brauchen, um ihr Beratungsanliegen zur Sprache zu bringen, nicht als oberflächlich oder unzureichend beratungsmotiviert wahrzunehmen, sondern sie in ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zu verstehen und anzunehmen (Pirmoradi, 2012; Rezapour u. Zapp, 2011). Abschließend kann festgehalten werden, dass es bei Familien aus autonomieorientierten Kontexten passend und für die Intensität der Beratung günstig sein kann, sich intensiv mit aktuellen Gedanken und Gefühlen, früheren Erfahrungen der Mutter und des Vaters oder mit den Übereinstimmungen und Diskrepanzen zwischen beiden auseinanderzusetzen. Auf diese Weise können zum Beispiel Zusammenhänge zwischen den aktuellen Gefühlen, die durch den Säugling ausgelöst werden, und den Beziehungserfahrungen aus der eigenen Kindheit bewusst gemacht und bearbeitet werden. Für Familien aus verbundenheitsorientierten Kontexten ist diese Form meist unüblich und sollte in der Beratung nicht forciert werden, da sie den Erwartungen und Gewohnheiten der Familie widerspricht und damit die Gefahr eines Beratungs- oder Therapieabbruchs erhöht. Auch bei den Beratern bzw. Therapeutinnen kann dieses Vorgehen zu Irritationen führen, wenn die Familien die Fragen nicht in dem erwarteten Maß und der gewünschten Intensität beantworten. Im nächsten Abschnitt soll nun die Bedeutung von Migrationsprozessen für die Gestaltung von kultursensitiven Beratungs- und Therapieprozessen näher betrachtet werden.
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
6.3.2 Berücksichtigung von Migrationsprozessen im Bedarfsfall Die individuellen Werte und Überzeugungen von Familien stellen einen elementaren Bestandteil in unserem Beratungs- und Therapieprozessmodell dar. Zusätzlich wollen wir an dieser Stelle ausführen, welche Besonderheiten bei Familien mit Migrationshintergrund in der Beratung und Therapie parallel mitbedacht werden können, um eine vertiefte Klärung ihres Anliegens zu erreichen. Im Kasten 1 wird ergänzend auf die Bedeutung von Migrationsprozessen sowie auf die Beziehung zwischen den Begriffen Migrationshintergrund und kultureller Kontext eingegangen. Kasten 1: Familien mit Migrationshintergrund Wie dargestellt, werden in dem für dieses Buch maßgeblichen Ansatz kulturelle Unterschiede nicht mit Länder-, Sprach- oder Religionsunterschieden gleichgesetzt. Folglich beschränken sich die Ausführungen auch nicht auf Familien mit Migrationshintergrund. Sie gelten gleichermaßen für kulturelle Unterschiede innerhalb eines Landes, eines Sprachbereichs oder einer Religion. Dennoch gehen Migrationserfahrungen häufig mit besonderen Erlebnissen und Belastungen einher, die in der Beratungsarbeit mit Familien von Säuglingen und Kleinkindern von Bedeutung sein können und einbezogen werden sollten. In diesem Abschnitt soll daher auf die besondere Situation von Familien mit Migrationshintergrund eingegangen sowie die Beziehung zwischen Migration und kulturellem Hintergrund näher beleuchtet werden. Migration ist dabei kein neues Phänomen. Wanderungsbewegungen gibt es seit Anbeginn der Menschheit, beispielsweise um andere oder neue Nahrungsquellen zu erschließen (Schönpflug, 2003). Für das Phänomen der Migration als Überbegriff von Immigration (Einwanderung) und Emigration (Auswanderung) wird im Migrationsbericht 2005 der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration folgende Definition vorgeschlagen: »Von Migration spricht man, wenn eine Person ihren Lebensmittelpunkt räumlich verlegt. Von internationaler Migration spricht man dann, wenn dies über Staatsgrenzen hinweg geschieht« (Bundesministerium des Innern, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2005, S. 10). Demzufolge geht es bei Migration nicht zwingend um den Wechsel von einem Land in ein anderes. Dennoch werden mit dem Begriff »Menschen bzw. Familien mit Migrationshintergrund« in der Regel Personen bezeichnet, die aus anderen Ländern eingewandert sind. Das Vorhandensein eines Migrationshintergrundes wird vom Statistischen Bundesamt folgendermaßen definiert:
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»Zu den Menschen mit Migrationshintergrund zählen alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil« (Statistisches Bundesamt, 2011, S. 6). Im Folgenden soll der Fokus daher zunächst auf Migration über Staatengrenzen hinweg gelegt werden. Im Jahr 2013 hatten 16,5 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund (20,5 % der Gesamtbevölkerung). Betrachtet man den Anteil der Kinder und Jugendlichen, so ist der Anteil noch bedeutend höher: Er lag 2010 bereits bei 31 % aller minderjährigen Kinder und ist seither weiter angestiegen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2011; Statistisches Bundesamt, 2011). Hinsichtlich der Herkunftsregionen der nach Deutschland immigrierten Familien lässt sich zeigen, dass bei 21 % der Familien mit Migrationshintergrund mindestens ein Familienmitglied einen türkischen Hintergrund hat. Die zweitgrößte Gruppe sind mit 12,8 % Familien aus der ehemaligen Sowjetunion (einschließlich der großen Gruppe der Spätaussiedler). In 9,6 % der Familien gibt es einen polnischen Migrationshintergrund. Ähnlich viele kommen aus Ländern des ehemaligen Jugoslawien (9,5 %) sowie aus den südeuropäischen Ländern (Griechenland, Italien, Portugal, Spanien; 9,6 %). Die verbleibenden 37,5 % aller Familien mit Migrationshintergrund stammen aus weiteren europäischen (10 %), aus asiatischen (11,3 %), aus afrikanischen (4,6 %) sowie aus nord- oder südamerikanischen (3,7 %) Ländern (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2011). Es lässt sich also festhalten, dass ein bedeutender Anteil der in Deutschland lebenden Familien direkte Erfahrungen mit länderübergreifenden Migrationsprozessen hat und eine Vielfalt hinsichtlich der nationalstaatlichen Herkunftsregionen der Familien besteht (zur Vertiefung siehe z. B. Bade, Emmer, Lucassen u. Oltmer, 2010; Bommes u. Krüger-Potratz, 2008). Im Folgenden soll nun näher auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Konstrukte kultureller Kontext und Migrationshintergrund eingegangen werden. Zur Beziehung von Migrationshintergrund und kulturellem Kontext Die Unterscheidung zwischen kulturellem Kontext und Migrationshintergrund mag zunächst künstlich und theoretisch anmuten, und sicher vermischen sich diese Bereiche in der Praxis. Die gedankliche Unterscheidung soll für (parallele) Dynamiken sensibilisieren, die zwar nicht trennscharf sind, jedoch zu einer differenzierten Wahrnehmung und zu einem vertieften Verständnis von Familien führen können. Wie ausgeführt, lassen sich einerseits kulturelle Unterschiede auch innerhalb eines Landes beschreiben (z. B. zwischen einer Mittelschichtfamilie in einer Großstadt und einer bäuerlichen Großfamilie in einer strukturschwachen ländlichen Gegend). Andererseits finden sich ähnliche Überzeugun-
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gen und Lebensweisen bei Familien, die in unterschiedlichen Teilen der Welt, aber unter vergleichbaren Bedingungen leben (z. B. zwischen städtisch lebenden Familien im indischen Bundesstaat Gujarat und städtisch lebenden Familien im Nordwesten Kameruns; Keller et al., 2009). Kulturunterschiede beziehen sich damit nicht unbedingt auf Länderunterschiede und auch nicht zwingend auf Migrationsprozesse über Ländergrenzen hinweg. Kulturunterschiede bestehen auch ohne Migrationsprozesse, und es sind länderübergreifende Migrationserfahrungen denkbar, bei denen keine großen Kulturunterschiede zum Tragen kommen (z. B. bei einem beruflichen Wechsel eines Professors von einer US-amerikanischen zu einer kanadischen Universität). Der kulturelle Kontext und der daraus resultierende Umgang mit kultureller Vielfalt sind damit zunächst unabhängig von einem Migrationshintergrund zu betrachten. In Beratungs- und Therapieprozessen kann es daher je nach Konstellation erforderlich sein, gesondert auf beide Aspekte einzugehen. Es sind also unterschiedliche Phänomene, die eine gemeinsame Schnittmenge besitzen. Im Folgenden betrachten wir die Bedeutung von Migration in Ergänzung zu der bisher besprochenen Bedeutung kultureller Unterschiede für die Arbeit mit Familien von Säuglingen und Kleinkindern. Bedeutung des Migrationshintergrundes für das Erleben und Wohlbefinden von Menschen Migrationserfahrungen (ob länderübergreifend oder nicht) haben Einfluss auf das Erleben und Verhalten von Menschen und sollten bei der Arbeit mit Familien berücksichtigt werden. Bezogen auf den Umgang mit Migrationserfahrungen spielt eine Reihe von Faktoren eine Rolle. Zum einen kommt den Unterschieden zwischen Herkunfts- und Aufenthaltskultur eine zentrale Bedeutung zu. So kann davon ausgegangen werden, dass es eine größere Herausforderung ist und mehr potenzielle Stressoren und Belastungen erzeugt, wenn sich das neue Umfeld stark von dem alten unterschiedet (z. B. durch eine andere Sprache, ein anderes Klima, andere religiöse und gesellschaftliche Wertvorstellungen, andere Speisen, andere ökonomische Verhältnisse). So ist es sicher leichter für eine Familie aus einem ostfriesischen Dorf, nach Berlin-Mitte zu ziehen, als für eine Familie aus einem indischen Dorf, in eine deutsche Stadt zu emigrieren. Je größer die Unterschiede zwischen der Herkunfts- und der Aufenthaltskultur sind, desto größer sind auch die Unterschiede zwischen den jeweils vertretenen Werten, Überzeugungen und Verhaltensweisen, etwa bezogen auf den Umgang mit Kindern. Bei großen Differenzen kann es dazu kommen, dass Eltern mit ihren Vorstellungen und Verhaltensweisen im neuen Kontext nicht verstanden, ernst genommen oder sogar abgelehnt werden. Dies führt zu zusätzlichem Stress, zu Irritationen und Anpassungsschwierigkeiten. Zum anderen kommt den Gründen für die Migration eine große Bedeutung zu. Geschieht diese aus eigener Initiative, zum Beispiel weil ein attrak-
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tives berufliches Angebot in einem anderen Land angenommen wird, kann von einem anderen Erleben ausgegangen werden, als wenn diese gegen den Willen der Betroffenen stattfindet (z. B. bei Kindern, die ungefragt mitgenommen werden) oder sich aufgrund prekärer Lebensbedingungen wie wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit, Hunger oder Krieg aufzwingt. Gerade in letzteren Fällen kann vom Erleben stark belastender bis traumatisierender Erfahrungen von Entbehrung, Verlusten, Folter, aber auch von beeinträchtigenden Fluchterfahrungen ausgegangen werden. Lee (1966) hat im Zusammenhang von Migrationsprozessen sogenannte »Push- und Pullfaktoren« beschrieben. Mit den Pushfaktoren benennt der Autor Bedingungen, die dazu führen, dass Menschen ihre Herkunftskontexte verlassen, zum Beispiel eine schwierige Arbeitsmarktsituation, mangelnde Bildungschancen oder eine instabile politische Lage. Als Pullfaktoren bezeichnet er demgegenüber Faktoren, die anziehend auf Menschen wirken können, zum Beispiel bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, bessere Zukunftsperspektiven, Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung und die Freiheit von sozialen Zwängen. Weiterhin spielen auch die Persönlichkeit (z. B. Offenheit für neue Erfahrungen, Neugier, soziale Offenheit oder Ängstlichkeit), das Alter (Kindern und auch Jugendlichen fällt es oftmals leichter, sich an neue Umgebungen anzupassen, als älteren Menschen, die meist viel enger mit dem Herkunftskontext verbunden sind und mehr Schwierigkeiten beim Erlernen neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten haben) und die Frage, ob es bereits Sozialkontakte in der neuen Umgebung gibt, eine wichtige Rolle. Es sind also eine Fülle von Faktoren daran beteiligt, ob und inwiefern Migrationsprozesse bereichernd und positiv oder als Belastung und Quelle von Stress erlebt werden. Berry (z. B. 1980, 1990) unterscheidet in seinem Akkulturationsmodell Formen von Umgangsstrategien mit Migrationsprozessen. Mit Akkulturation wird dabei der Prozess, durch den Einzelpersonen oder ganze Gruppen fremde geistige oder materielle Kulturgüter übernehmen oder sich an fremde Milieus anpassen, bezeichnet (vgl. Drosdowski, 1990, S. 40). Berry legt zwei Dimensionen zugrunde. Bei der einen geht es um die Frage, inwiefern es als wichtig erachtet wird, die kulturelle Identität und kulturellen Charakteristika der Herkunftskultur beizubehalten und wertzuschätzen. Die andere Dimension beinhaltet die Frage, inwiefern es als wichtig erachtet wird, in Kontakt zur dominanten Gesellschaft zu stehen und offen gegenüber deren Werten und Verhaltensweisen zu sein. Je nach Beantwortung dieser beiden Fragen ergeben sich vier verschiedene Konstellationen: Bei der Integration wird sowohl der Herkunfts- als auch der Aufenthaltskultur eine große Bedeutung beigemessen. Bei der Assimilation wird vor allem der Aufenthaltskontext wertgeschätzt, jedoch nicht die Bedeutung der Herkunft, diese wird möglicherweise sogar abgewertet. Die Separation ist gekennzeichnet durch eine starke Betonung der Herkunftskultur und eine Distanzierung zur Aufenthaltskultur, und bei der Marginalisation wird sowohl zur Herkunftskultur
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als auch zur Aufenthaltskultur wenig Zugehörigkeit empfunden und beiden wird wenig Bedeutung beigemessen. Auch wenn die Zusammenhänge zwischen den Akkulturationsstrategien und dem Wohlbefinden bzw. der psychischen und körperlichen Gesundheit nicht eindeutig bzw. multifaktoriell beeinflusst sind, gibt es Befunde, die darauf hindeuten, dass beim Muster der Integration das größte Wohlbefinden und die geringsten gesundheitlichen Probleme vorliegen. Beim Muster der Separation gibt es demgegenüber Hinweise auf das geringste Wohlbefinden und die meisten gesundheitlichen Schwierigkeiten (Berry, 1997; Nguyen, 2006; Schmitz, 1992). Dies bringen die Autoren damit in Verbindung, dass beim Muster der Integration zum einen eine positive und offene Einstellung der Aufenthaltskultur gegenüber besteht, durch die das Eingewöhnen in die neue Umgebung und die Kontaktgestaltung erleichtert werden. Zum anderen ermöglicht die Wertschätzung der kulturellen Wurzeln einen guten und stützenden Kontakt zu Werten und Personen der Herkunftskultur. Beim Muster der Separation kann es verstärkt zum Erleben von Heimatlosigkeit, Entfremdung und Vereinsamung kommen, wodurch erhöhter Stress entsteht, der zu gesundheitlichen Problemen führen kann. Bei der Marginalisation und der Assimilation scheinen die Wohlbefindenswerte zwischen denen bei den Mustern der Integration und der Separation zu liegen.
Aus Migrationsprozessen können sich, unabhängig von Unterschieden zwischen der Herkunfts- und der Aufenthaltskultur, belastende Faktoren für Familien ergeben, die beratungs- bzw. therapierelevant sind. Entsprechend sollte der Migrationshintergrund zu Beginn der Beratung differenziert erfragt werden (Wer hat wann welche Erfahrungen gemacht? Welche Belastungen wurden erlebt? Wie wird die Situation derzeit empfunden?), im Prozess berücksichtigt und bei Bedarf bearbeitet werden. Je nach Migrationsgrund, Akkulturationsstrategie, persönlichen Vorbelastungen und Verarbeitungsstrategien können sich multiple Stressoren und Beeinträchtigungen zeigen. Bedeutsame Themen bezogen auf Familien mit Säuglingen und Kleinkindern sind beispielsweise das Erleben der Erziehungs- und Entwicklungsvorstellungen sowie Verhaltensweisen im Aufenthaltskontext und Abweichungen zu den gewohnten Konzepten. Bei ausgeprägten Unterschieden zwischen der Herkunfts- und der Aufenthaltskultur können zusätzlich deutliche Abweichungen zwischen Erziehungsvorstellungen und der Struktur von professionellen Helfersystemen hinzukommen. Auf einer allgemeinen Ebene sind Heimweh, Einsamkeit und Fremdheit Gefühle, die das elterliche Wohlbefinden schmälern und den empfundenen Stress erhöhen (Schlippe, El Hachimi u. Jürgens,
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2003). Auch Erfahrungen von Ablehnung, Diskriminierung oder Ausländerfeindlichkeit sind relevante Themen. Über die im Rahmen der Beratung oder Therapie von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern bearbeitbaren Themen hinaus kann es im Zusammenhang mit migrationsbedingten Belastungen daher notwendig sein, nach ergänzenden Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen. Die Bandbreite erstreckt sich von der Vermittlung von Informationen über Strukturen der deutschen Verwaltung und Gesellschaft, der Unterstützung bei Behördengängen bis zur Stärkung bei Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung oder einer Therapie für traumatisierte Eltern aus Kriegs- bzw. Krisengebieten. Zusätzlich zu den benannten Belastungen verringern sich oftmals Unterstützungsnetzwerke durch Migrationsprozesse, wenn beispielsweise die Gestaltung des Kontakts zu vertrauten Personen aus der Herkunftskultur erschwert ist. Den Eltern stehen unter Umständen weniger Ressourcen zur Verfügung, die eine entspannte und intuitive Interaktion mit dem Säugling und Kleinkind begünstigen. Fragen zur Exploration des Migrationshintergrundes haben in diesem Zusammenhang nicht nur eine diagnostische Funktion, sondern auch Interventionscharakter. Dadurch können Aspekte der Migration bewusst und der Beratung zugänglich gemacht sowie mögliche Umdeutungs- und Veränderungsmöglichkeiten sichtbar werden. Neben dem kulturellen Hintergrund kommt bei einer kultursensitiven Beratung bzw. Therapie folglich auch der Berücksichtigung möglicher Migrationsprozesse eine große Bedeutung zu. Klärung des Fit-Misfit-Analyse Beratungsgestaltung Intervention Beratungsanliegens und Zieldefinition Im folgenden Kapitel wird anhand unterschiedlicher Beratungsanlässe kultursensitive Beratungs- und Therapiearbeit mit Familien Klärung des Beratungsgestaltung Intervention mitBeratungsanliegens Säuglingen undFit-Misfit-Analyse Kleinkindern beispielhaft hinsichtlich der Plaund Zieldefinition nung und Durchführung von Interventionen dargestellt. Klärung des Beratungsanliegens
Fit-Misfit-Analyse und Zieldefinition
Beratungsgestaltung
Intervention
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6.4 Schritt IV: Intervention
Bezüglich der Gestaltung von Interventionen lassen sich quer zu den konkreten Interventionsmöglichkeiten für einzelne Anliegen drei übergreifende Aspekte hervorheben: die Erarbeitung von Lösungs-
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ansätzen, die Klärung der Passung sowie die Psychoedukation (siehe Abbildung 6, S. 145). Bei der Erarbeitung von Lösungsansätzen geht es darum, neben den üblichen Überlegungen der Beraterinnen bzw. Therapeuten hinsichtlich hilfreicher Interventionsstrategien vor allem auch die Perspektive der Familie und deren kulturellen Hintergrund einzubeziehen, um individuelle und passende Lösungswege im Kontakt mit den Familien entwickeln zu können. Dabei können sehr unterschiedliche Aspekte eine Rolle spielen bzw. können verschiedenste Wege beschritten und unterschiedlichste Ebenen fokussiert und kombiniert werden. Zentral ist die Suche nach Möglichkeiten zur familiären Entlastung, etwa durch eine Stärkung des elterlichen Vertrauens in die eigenen Kompetenzen, eine Änderung der Tagesstruktur zur Entlastung des Säuglings, eine besser abgestimmte Interaktion und Ko-Regulation, den Aufbau oder die Aktivierung sozialer Netzwerke zur Unterstützung der Familie. Der Klärung der Passung kommt eine große Bedeutung zu. Diese bezieht sich zum einen auf die unterschiedlichen Ebenen der bereits dargestellten Fit-Misfit-Analyse, die bei der Klärung und Einordnung von Anliegen und Zielen der Familie zentral sind. Weiterhin gilt es zu prüfen, ob und auf welche Art und Weise Interventionen anschlussfähig an familiäre Hintergründe sind. Es kann nicht von allgemeingültigen Interventionen ausgegangen werden, die bei den jeweiligen Anliegen standardmäßig anzuwenden sind. Vielmehr ist es bedeutsam, die Lösungswege auf die Familien abzustimmen. Bei der Psychoedukation wird entwicklungspsychologisches oder entwicklungspsychopathologisches Hintergrundwissen über bekannte Wege der Entstehung und mögliche Folgen von Verhaltensproblemen vermittelt (siehe Kapitel 1 und 2). Durch psychoedukative Elemente kann zu einem größeren Verständnis für Entwicklungsphänomene von Kindern, aber auch von familiären Prozessen beigetragen werden. In manchen Fällen führt dies direkt zur Entlastung von Eltern (etwa wenn sie erfahren, dass viele Kinder im Alter von zwölf Monaten noch nicht frei und eigenständig gehen können). Zudem wird das Verständnis der Familie für Zusammenhänge und Entstehungskonstellationen erweitert (z. B. durch die Darstellung von Prozessmodellen) und der Boden für Veränderungen bereitet.
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Im Rahmen einer kultursensitiven Beratung bzw. Therapie ist es zentral, auch bei psychoedukativen Interventionen den (erfragten) Hintergrund der Familie und das Wissen um unterschiedliche kulturelle Entwicklungspfade miteinzubeziehen. Der Fit-Misfit-Analyse kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu. Im Folgenden soll nun konkret auf typische Anliegen von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern eingegangen werden. Übermäßiges Schreien des Kindes, Ein- und Durchschlafschwierigkeiten sowie Trotz und Grenzsetzungsprobleme gehören zu den häufigen Gründen von Familien, sich an Beratungs- bzw. Therapieeinrichtungen zu wenden (Papoušek et al., 2004). Es ist für eine kultursensitive Interventionsgestaltung zentral, zu berücksichtigen, wie diese Anliegen unter Einbezug verschiedener kultureller Modelle verstanden und behandelt werden können. Sie werden im Folgenden hinsichtlich ihrer Erscheinungsbilder dargestellt und kultursensitiv eingeordnet, wobei vor allem Aspekte der Beratungsplanung und Intervention im Mittelpunkt stehen. Verschiedene Interventionsmöglichkeiten werden diskutiert und anhand von Fallbeispielen dargestellt. Aufgrund der Vielfalt der Methoden und Ansatzmöglichkeiten sowie der jeweiligen Einzigartigkeit von Beratungs- und Therapieprozessen können die Interventionen und Prozesse dabei nur beispielhaft dargestellt werden. Der Schwerpunkt bei der Darstellung der Beratungs- und Therapieanliegen liegt auf den Besonderheiten und Unterschieden, die sich bei einem systematischen Einbezug von kultureller Vielfalt ergeben. Sie werden einführend kurz und überblicksartig dargestellt (für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den beschriebenen Beratungsanliegen sei beispielsweise auf folgende Quellen verwiesen: Cierpka, 2012; Borke u. Eickhorst, 2008; Ziegenhain et al., 2004; Papoušek et al., 2004) und im Lichte von Möglichkeiten für kultursensitive Interventionen reflektiert. Wichtig ist zu betonen, dass die Trennung zwischen den einzelnen Symptomfeldern vor allem der Übersichtlichkeit dient, da die geäußerten Anliegen und die entsprechenden Interventionen sich in vielen Fällen überschneiden (siehe hierzu auch Kapitel 2).
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
6.4.1 Übermäßiges Schreien Als klassisches und vermeintlich universelles diagnostisches Kriterium für übermäßiges oder exzessives Säuglingsschreien wird in westlichen Kontexten nach wie vor häufig das Wessel-Kriterium (oder auch Dreier-Regel) angeführt (Wessel, Jackson, Cobb, Harris u. Detwiler, 1954). Diesem zufolge ist von übermäßigem Schreien zu sprechen, wenn ein Kind in seinen ersten sechs Lebensmonaten während mehr als drei Stunden am Tag, an mehr als drei Tagen pro Woche, in mindestens drei aufeinanderfolgenden Wochen schreit. Dauert dies über den sechsten Lebensmonat hinaus an, spricht man von persistierendem Schreien, dem eine schlechtere Prognose für spätere Verhaltensprobleme zugeschrieben wird (Wurmser, Papoušek, von Hofacker, Leupold u. Santavicca, 2004; siehe hierzu auch Kapitel 7). In der Praxis wird dem individuellen Belastungserleben der Familie gegenüber dem diagnostischen Kriterium das größere Gewicht beigemessen. Für manche Eltern und Kinder rufen bereits viel geringere Schreiphasen deutlichen Stress hervor, der negative Interaktionskreisläufe erzeugen kann (siehe Kapitel 2). Letztlich ist das subjektive Belastungserleben bedeutsam für die sich entwickelnde Interaktion und Beziehung zwischen Eltern und Kind. Zudem besteht in der Praxis häufig eine enge thematische Verzahnung mit der Organisation und dem elterlichen Empfinden bezüglich der kindlichen Schlaf-Wach-Zyklen. Zur Beratung und Behandlung bei übermäßigem Schreien sind in Tabelle 2 zunächst Anliegen von Eltern zum Thema Schreien aufgeführt. Es folgen zentrale Aspekte, die bei der Exploration und Beratungs- bzw. Therapieplanung abgeklärt und mit berücksichtigt werden sollten. Durch diese können wichtige Grundlagen für die Erarbeitung von Lösungsansätzen, die Klärung der Passung und die Psychoedukation geschaffen werden. Darauf aufbauend werden gängige Interventionsmöglichkeiten benannt. Welche der einzelnen Aspekte und Interventionsmöglichkeiten in Beratungs- oder Therapieprozessen wie von Relevanz sind, hängt von den jeweiligen Zielen der Familie, den Ergebnissen der Fit-Misfit-Analyse sowie von weiteren möglichen kulturell- oder migrationsbedingten Faktoren ab.
Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie173
Tabelle 2: Anliegen, Exploration und Interventionen zum Thema »Übermäßiges Schreien« »Übermäßiges Schreien« – Anliegen –– Das Kind schreit über längere Zeiträume –– Die Eltern wissen nicht, wie sie das Kind beruhigen können –– Die Eltern fühlen sich sehr belastet vom Schreien des Kindes –– Es werden aufwendige Beruhigungsmaßnahmen eingesetzt (z. B. stundenlanges Tragen, Autofahren …) »Übermäßiges Schreien« – Exploration –– Wurden körperliche Ursachen und Schmerzen ausgeschlossen? –– Exploration des Schreiverhaltens (Dauer, tageszeitliche Unterschiede) –– Was hilft zur Beruhigung des Kindes? –– Welche weiteren Belastungen gibt es? (z. B. finanzielle Not, partnerschaftliche Konflikte) –– Welche Ressourcen gibt es in der Familie? (z. B. unterstützende Personen) –– Videoaufnahme (Diagnostik) »Übermäßiges Schreien« – Interventionsmöglichkeiten –– Ggf. ärztliche Abklärung körperlicher Ursachen –– Psychoedukation der Eltern (z. B. Bedürfnisse des Kindes, Signale des Kindes) –– Klärung von Beruhigungsmöglichkeiten (z. B. Wickeltechniken wie Pucken, Tragetuch, Hängematte …) –– Beobachtung durch Eltern und Beratungspersonen (Informationen werden auf das jeweilige Kind bezogen) –– Videoarbeit (Unterstützen der Interaktion) –– Beobachtung durch die Eltern zu Hause (z. B. 24-Stunden-Protokoll* über eine Woche) –– Folgerungen aus der Beobachtung (z. B. Regulationshilfen, Reizreduktion, Tagesstrukturierung) –– Ruhe- und Entspannungsphasen für die Eltern suchen –– Aktivierung von Ressourcen (Wer kann die Eltern unterstützen?) *In diesen Protokollen, die auch bei anderen Beratungs- bzw. Therapieanliegen einsetzbar sind, werden zum Beispiel die genauen Schrei- oder Schlafzeiten der Kinder über 24 Stunden eingetragen. Auf diese Weise können Bedingungen des Schreiens oder der durchschnittliche Schlafbedarf des Kindes ermittelt und Ansatzpunkte für Interventionen überlegt werden.
Zur Prävalenz von übermäßigem Schreien beschreibt Wolke (1994), dass etwa ein Drittel der Eltern in westlichen Stichproben von übermäßigem Schreien ihrer Säuglinge berichtet. Wurmser, Laubereau, Hermann, Papoušek und von Kries (2001) fanden bei einer deutschen Stichprobe retrospektiv eine Prävalenz von 21 %. Es wird
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davon ausgegangen, dass übermäßiges Schreien bei etwa 6–8 % der westlichen Kleinkindpopulation als persistierendes Phänomen einzuordnen ist (Thiel-Bonney u. Cierpka, 2012). Betrachtet man Untersuchungen in nicht westlichen Kontexten, so fällt auf, dass die Schreidauer der Säuglinge kürzer ist und vermutlich auch weniger Störungen mit unstillbarem Schreien entstehen (Barr, Konner, Bakeman u. Adamson, 1991; Bensel, 2006). Bensel (2006) sieht den Grund unter anderem darin, dass die Kinder in verbundenheitsorientierten Kulturen in den ersten Jahren niemals allein sind sowie viel Körperkontakt und Nähe zu den Bezugspersonen erfahren. Zudem sind dort häufig mehrere Personen anwesend, die sich um das Kind kümmern und es bei Bedarf beruhigen können, sodass es weniger zu Überlastungssituationen der Eltern kommt. Schwierigkeiten können damit meist innerhalb der Familie bzw. der erweiterten Bezugspersonen aufgefangen und gelöst werden. So gaben in Deutschland lebende russisch- und türkischstämmige Familien, die aufgrund ihrer benannten Sozialisationsziele als verbundenheitsorientiert eingestuft wurden, an, dass sie entsprechende Beratungsangebote für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern eher nicht in Anspruch nehmen, weil diese Probleme innerhalb der Familie gelöst werden (Borke u. Müller, 2011; Müller, 2011). In westlichen autonomieorientierten Kontexten dagegen werden Kinder früh daran gewöhnt, sich auch allein zu beschäftigen. Sie erfahren weniger Körperkontakt und werden in Situationen gebracht, in denen sie lernen sollen, sich selbst zu regulieren. Manche Eltern formulieren explizit den Wunsch, ihr Kind solle lernen, auch allein zufrieden zu sein und sich selbst zu beschäftigen. Dies entspricht einer frühen Förderung der psychologischen Autonomie des Kindes (siehe Kapitel 1). Für Säuglinge und Kleinkinder stellt dies zunächst eine große Herausforderung dar und es ist denkbar, dass ein Teil der Kinder diesen Herausforderungen nicht sofort gewachsen ist und beispielsweise mit übermäßigem Schreien auf die vergleichsweise geringe ko-regulatorische Unterstützung reagiert (Bensel, 2006). Gerade auch in Verbindung mit geringen Unterstützungsmöglichkeiten im familiären oder weiteren Umfeld ergibt sich für Eltern aus autonomieorientierten Kontexten daraus oftmals ein Bedarf an Beratung und Therapie. Demnach kann hier von einem Misfit zwischen
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den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Kindes und den Verhaltensweisen der Bezugspersonen gesprochen werden. Allerdings können auch Familien mit verbundenheitsorientiertem Hintergrund aufgrund von Migrationsprozessen oft nicht auf die traditionellen Unterstützungsstrukturen zurückgreifen. Wenn weitere familiäre Stressoren wie Armut oder unsichere Perspektiven im Kontext der Migration hinzukommen, erfahren die Kinder in der Folge oft ebenfalls weniger ko-regulatorische Unterstützung und können mit vermehrtem oder übermäßigem Schreien reagieren. Hier besteht ein Misfit zwischen den elterlichen Strategien und der aktuellen Lebenswelt; die tradierten elterlichen Strategien erweisen sich als nicht ausreichend anwendbar oder auch nicht ausreichend adaptiv. Dies verdeutlicht noch einmal die Wichtigkeit, den kulturellen (und bei Bedarf den migrationsspezifischen) Hintergrund bei der Problem- und Zieldefinition sowie bei der Fit-Misfit-Analyse mit einzubeziehen und im weiteren Verlauf zu berücksichtigen. So kann es für Familien mit verbundenheitsorientiertem Hintergrund grundsätzlich eine besonders anschlussfähige Idee sein, zu klären, ob weitere Personen zur Unterstützung herangezogen werden können. In der aktuellen Situation können jedoch Familienmitglieder nicht zugänglich oder verfügbar sein; Berührungsängste hinsichtlich der neuen Umgebung, Sprachbarrieren oder Scham können den Zugang zu weiteren helfenden Personen behindern. Im Verlauf einer Beratung oder Therapie kann nach Möglichkeiten gesucht werden, den unterstützenden Familienkreis zu erweitern. Kontakte zu Migrantenorganisationen oder -verbänden, Kontakte mit Personen aus der Heimatregion oder im neuen Umfeld sind Beispiele für Ansatzpunkte. Voraussetzung bei alledem ist eine gewachsene Vertrauensbeziehung, die Sicherheit und Verständnis gewährleistet und damit Offenheit ermöglicht. Der Einbezug unterstützender Personen kann zu einer familiären Entspannung beitragen, die eine erfolgreiche Ko-Regulation durch die Eltern und damit reduziertes Schreien des Kindes nach sich zieht. Weitere Ansatzpunkte für die Beratung und Therapie können sich aus kulturellen und elterlichen Erklärungs- und Handlungsansätzen für übermäßiges Säuglingsschreien ergeben. Die Offenheit für elterliche Erklärungsmodelle, sofern sie nicht Ausdruck einer problemati-
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schen oder gar gestörten Wahrnehmung, sondern in einem anderen kulturellen Kontext stimmig verankert sind, bietet die Möglichkeit, diese in die Lösungssuche einzubeziehen. Beispielhaft für kulturelle Erklärungsmodelle konnte im ländlichen Kamerun beobachtet werden, wie eine Familie mit einem übermäßig schreienden Säugling bei einem traditionellen Heiler vorstellig wurde. Dieser vollzog die hierfür üblichen Heilungsrituale mit Sprüchen und Kräutern. Mutmaßlich wurden die Gründe für das Schreien hier vor allem innerhalb des Säuglings gesehen, die den Einbezug des Kontextes nicht erforderten. Eine solche Sichtweise kann Beratungspersonen mit zum Beispiel systemischem Ansatz bzw. die dem Konzept der Regulationsstörungen folgend den Fokus vor allem auf interaktionelle Aspekte legen (siehe Kapitel 2 und 4), erst einmal durchaus irritieren und erfordert variable Zugangs- und Handlungskonzepte. Durch ein interessiertes Erfragen und Verstehenwollen von kulturinternen Heilungs- und Behandlungsstrukturen können sich die Familien verstanden und ernst genommen fühlen, und auf dieser Basis kann versucht werden, Anschlussmöglichkeiten an vertraute Konzepte zu entwickeln. So könnte ein westlicher Berater, bei dem eine verbundenheitsorientierte Familie um Rat sucht, die auf Nachfrage oben beschriebene Unterstützungssysteme gewohnt ist, erst einmal den Fokus auf den Säugling legen und interaktionelle oder auch elternbezogene Aspekte eher indirekt und möglicherweise auch erst später thematisieren. Für die konkrete Ausgestaltung der Beratung sind individuelle und damit passgenaue Wege bedeutsam. So kann es im Einzelfall beispielsweise darum gehen, Eltern bei Überlastung und Überforderung zu entlasten oder den Tagesablauf für das Kind reizärmer und überschaubarer zu gestalten oder mit Eltern zu entdecken, wie sich ihr Kind gut beruhigen lässt. Vor allem bezogen auf den letztgenannten Aspekt ist die videogestützte Interaktionsberatung hilfreich. Mithilfe gelungener Sequenzen, in denen das Kind zum Beispiel selbstregulatorische Kompetenzen zeigt und ruhiger wird oder es den Eltern gelingt, beruhigend auf das Kind einzuwirken, können die Eltern am Bildschirm kompetentes Verhalten von sich und vom Kind beobachten. Gemeinsam kann dann erarbeitet werden, was vonseiten des Kindes und vonseiten der Eltern dazu beigetragen hat, eine Beruhi-
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gung zu erreichen. So können den Eltern konkrete Interaktionselemente gezeigt werden, die zu einer besser abgestimmten Interaktion und in deren Folge zu vermindertem Säuglingsschreien beitragen. Für eine kultursensitive Beratung bzw. Therapie ist hierbei zu beachten, dass unterschiedliche Strategien der elterlichen Ko-Regulation kindlicher Zustände bestehen. Für Eltern aus autonomiebetonten Kontexten kann davon ausgegangen werden, dass die gängigen Videointeraktionsberatungsansätze, denen eine autonomieorientierte Konzeption zugrunde liegt, gut anschlussfähig sind. Das Abwarten kindlicher Signale sowie ein angemessenes Eingehen auf kindliche Initiativen bei gleichzeitiger sprachlicher Begleitung stehen im Einklang mit der Unterstützung psychologischer Autonomie. Bei Familien aus verbundenheitsbetonten Hintergründen ist eine stärkere Elternzentrierung in der Interaktion üblich (siehe Kapitel 1). Berater bzw. Therapeutinnen sollten hier achtsam die Eltern-Kind-Interaktionen beobachten, die elterlichen Strategien erfragen und sich der Gefahr, Interaktionsprozesse irrtümlich als intrusiv und wenig kindzentriert wahrzunehmen, bewusst sein. Eine unreflektierte Intervention in Richtung einer ausgeprägten Kindzentrierung in der Interaktion kann für verbundenheitsorientierte Eltern wenig anschlussfähig und verwirrend sein. Alternativ kann die Beratung bzw. Therapie darauf ausgerichtet werden, wie Eltern passendere und funktionalere Lenkungs- und Leitungsmomente in der Interaktion umsetzen können. Eine Regulationsproblematik mit exzessivem Säuglingsschreien würde so nicht durch eine zunehmende Wahrnehmung und Zentrierung auf kindliche Initiativen aufgelöst, sondern durch eine verbesserte Initiativsetzung durch die Eltern. Folgende Beispiele sollen die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen verdeutlichen: Familie A Die Eltern sind in einer deutschen Großstadt geboren und aufgewachsen. Beide Eltern haben studiert und sind in ihren jeweiligen Berufen erfolgreich. Als die Mutter 35 und der Vater 37 Jahre alt waren, wurde ihr erstes Kind, eine Tochter, geboren. Sie teilten sich die ersten Monate der Elternzeit. Als die Tochter zwei Monate alt war, kam es vor allem abends zu Phasen exzessiven und unberuhigbaren Schreiens. Der Kinderarzt konnte keine gesundheitlichen Ursachen feststellen, die verordneten
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Tropfen gegen Blähungen bewirkten keine erkennbare Verbesserung. Die Eltern lasen viel und bemühten sich, alles richtig zu machen und sich gegenseitig zu unterstützen. Sie fühlten sich dennoch häufig unsicher und überfordert. Im Rahmen der Beratung, zu der sich die Familie entschloss, wurde ein Interaktionsvideo von den Eltern mit ihrem Kind erstellt. Bei der Auswertung des Videos fiel den Beratenden auf, dass beide Eltern engagiert versuchten, die Aufmerksamkeit ihrer Tochter zu erlangen. Bereits bei kleinen Anzeichen der Verstimmung wurden verschiedene Beruhigungsversuche und -strategien rasch nacheinander und teilweise parallel angeboten. Die Beratenden suchten für ein gemeinsames Videofeedback eine kurze Sequenz aus, in denen die Eltern das Kind zunächst ruhig beobachteten, sich an den kindlichen Signalen orientierten und abgestimmt reagierten, worauf eine kurzfristige Beruhigung beim Kind beobachtbar war. Gemeinsam mit den Eltern wurde diese Sequenz betrachtet und ausgehend von den elterlichen Beobachtungen erarbeitet, welches elterliche Verhalten zu einer kindlichen Beruhigung geführt hatte. Die Eltern konnten auf dem Video die kindlichen Signale wahrnehmen, mit den Beratenden deren Bedeutung besprechen und ihr eigenes wirksames Antwortverhalten erkennen. Das gewonnene Verständnis führte zu einer zunehmenden Sicherheit in der Interaktion mit dem Kind. Die kindlichen Signale konnten genauer, aber auch gelassener wahrgenommen werden, die Anzahl der Beruhigungshilfen wurde reduziert, die einzelnen Beruhigungsstrategien jeweils länger beibehalten. Im Verlauf der kommenden Wochen wurden die Phasen unstillbaren Schreiens weniger, bis sie schließlich ganz aufhörten. Familie B Die Eltern sind in einer dörflichen Gegend in einem nicht westlichen Kontext aufgewachsen. Sie haben geheiratet, als die Mutter 23 und der Vater 29 Jahre alt waren. Als das ansonsten gesunde vierte Kind drei Monate alt war, schrie es viel und ließ sich zunehmend schwer beruhigen. Beide Eltern waren sehr erschöpft und am Rande ihrer Kräfte. Auf Rat des Kinderarztes entschloss sich die Familie, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Gerne wollten sie Hilfe in Bezug auf das Schreien des jüngsten Kindes in Anspruch nehmen. Die Anamnese ergab, dass die Mutter seit der Geburt der Kinder nicht mehr in ihrem gelernten Beruf gearbeitet hatte. Der Vater sorgte durch zwei unterschiedliche Tätig-
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keiten für den Unterhalt der Familie und war daher wenig zu Hause. Vor ein paar Jahren waren die Eltern mit den ersten beiden Kindern nach Deutschland gezogen, da sie in ihrer Heimat keine wirtschaftliche Perspektive mehr gesehen hatten. Den direkten Kontakt zu den jeweiligen Großfamilien hatten sie dadurch verloren. Es gelang ihnen, einen neuen Freundeskreis aufzubauen, dennoch fühlte sich die Mutter häufig allein und vermisste den Anschluss an die Großfamilie und deren Unterstützung. Im Rahmen der Beratung wurde ein Video von der häuslichen Interaktion der Mutter mit dem Kind erstellt. Bei der Vorbereitung sahen die Beratenden auf dem Video, dass die Mutter das Kind zu beruhigen versuchte, dabei jedoch einen erschöpften und genervten Eindruck machte. Im folgenden Gespräch mit der Mutter wurde deutlich, dass sie über viel Erfahrung im Umgang mit Kindern verfügte, sowohl durch die eigenen wie auch durch Kontakte in ihrem früheren Umfeld. Daraus hatte sie eine klare Vorstellung entwickelt, wie Säuglinge beruhigt werden können und welche Unterstützung sie durch die Eltern benötigen. Die Beratenden erlebten die Eltern als grundsätzlich liebevoll und engagiert ihren Kindern gegenüber, wenn auch gestresst und belastet durch die aktuelle Lebenssituation. Im weiteren Verlauf legten sie daher den Schwerpunkt darauf, nach Wegen der Entlastung für die Eltern zu suchen, damit diese wieder einen unbeschwerten Zugang zu ihren intuitiven Kompetenzen erlangen könnten. Durch stärkeren Einbezug von Freunden konnten Phasen geschaffen werden, in denen die Mutter nicht mehr allein für Haushalt und Versorgung der Kinder zuständig war. Über einen Verein nahmen die Eltern zusätzlich verstärkt Kontakt mit Menschen aus ihrer Heimatregion auf. Diese Veränderungen führten dazu, dass vor allem die Mutter zunehmend entspannt und unbeschwert mit dem Säugling umgehen konnte. Die von ihr angewandten Formen von Körperkontakt und Körperstimulation führten zu einer erfolgreichen Ko-Regulation und damit Beruhigung des Säuglings. In der Folge wurden die Phasen des übermäßigen und unberuhigbaren Schreiens weniger und verschwanden schließlich ganz.
6.4.2 Ein- und Durchschlafschwierigkeiten Bei den in westlichen Kontexten üblichen Diagnosekriterien wird hinsichtlich des Auftretens von Schlafschwierigkeiten nach dem
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sechsten Lebensmonat des Kindes zwischen Problemen beim Einschlafen und Problemen beim Durchschlafen unterschieden (Zero to Three, 1999). Von Einschlafproblemen wird gesprochen, wenn die Einschlafdauer durchschnittlich bei über 30 Minuten liegt. Durchschlafprobleme sind durch nächtliche Aufwachperioden mit fehlendem selbstständigem Wiedereinschlafen gekennzeichnet, die durchschnittlich länger als 20 Minuten dauern und mehr als drei Mal pro Nacht in mindestens vier Nächten pro Woche vorkommen. Wie bereits ausgeführt, sind solche Diagnosekriterien aus einer kultursensitiven Sicht in ihrer universellen Gültigkeit infrage zu stellen. In der Praxis sollte daher auch hier, wie beim übermäßigen Schreien des Säuglings, dem Belastungserleben der Eltern und des Kindes gegenüber den diagnostischen Kriterien das größere Gewicht beigemessen werden. Tabelle 3: Anliegen, Exploration und Interventionen zum Thema »Ein- und Durchschlafschwierigkeiten« »Ein- und Durchschlafschwierigkeiten« – Anliegen –– Das Kind braucht lange zum Einschlafen –– Das Kind wird häufig wach –– Das Kind braucht viel Unterstützung, um wieder in den Schlaf zu finden –– Das Kind wird wach und schreit viel –– Das Kind wird wach, ist munter und möchte längere Zeit spielen »Ein- und Durchschlafschwierigkeiten« – Exploration –– Wie wird die Zeit vor dem Zubettgehen gestaltet? –– Wie wird das Zubettgehen gestaltet? –– Wie sind die Schlafbedingungen? (Raum, Temperatur, Lichtverhältnisse) –– Welche Vorstellungen und Wünsche haben die Eltern bezüglich der Schlafsituation? Entsprechen diese der Entwicklung des Kindes? Aus welchem Kontext stammen die Vorstellungen und Wünsche? –– Wie belastet sind die Eltern (welche Stressoren gibt es)? –– Welche Ressourcen gibt es? –– Nachtschreck abklären (Pavor nocturnus) »Ein- und Durchschlafschwierigkeiten« – Intervention –– Abklären von möglichen Gründen (Kälte, Wärme, Hunger, Schmerzen …)
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–– Psychoedukation der Eltern bezüglich der Entwicklung des Schlafverhaltens und entwicklungsbedingter Schwankungen (z. B. im Zusammenhang mit Selbstständigkeit und Ängstlichkeit von Kindern) –– 24-Stunden-Protokoll über eine bis zwei Wochen zur Klärung des Rhythmus und der Gesamtschlafzeit des Kindes –– Strukturierung bzw. Anpassung der Schlafsituation mit den Eltern in Bezug auf Abendrituale, Schlafort und Klärung der Unterstützungsmöglichkeiten für das Kind –– Ruhe und Entspannungsphasen für die Eltern suchen, Unterstützung für die Eltern am Tag (oft bleiben die Nächte noch einige Zeit anstrengend)
In Tabelle 3 sind häufige Anliegen von Eltern zum Thema Schlafschwierigkeiten sowie zentrale Explorationsrichtungen und übliche Interventionen aufgeführt. Auch diese sind als eine Auflistung von Möglichkeiten zur Erarbeitung von Lösungsansätzen und zur Klärung der Passung bzw. als Grundlage für psychoedukative Elemente gedacht. Im Rahmen einer kultursensitiven Beratung bzw. Therapie hängt es dann zentral von den kulturellen Hintergründen sowie den Ergebnissen der Fit-Misfit-Analyse und Zieldefinition ab, welche Interventionen zum Ziel der Familie passen und anschlussfähig an ihre Vorerfahrungen und kulturellen Modelle sind. Über Schlafschwierigkeiten ihrer Kinder in den ersten Jahren berichten epidemiologischen Studien in westlichen Kontexten zufolge etwa 20–30 % westlicher Eltern (Barth, 1999). Kulturelle Unterschiede bezüglich des Schlafverhaltens in den ersten Jahren finden sich vor allem in verschieden Schlafarrangements und in den Schlafzeiten. In Kontexten, die die psychologische Autonomie betonen, ist es den Eltern oftmals ein Anliegen, dass ihr Kind möglichst früh in einem eigenen Bett schläft. Dementsprechend sind Ratgeber zum Schlafenlernen populär (z. B. Kast-Zahn u. Morgenroth, 2007). Demgegenüber ist es in verbundenheitsorientierten Kontexten üblich, dass sich die Kinder über Jahre mit den Eltern bzw. anderen Familienmitgliedern ein Bett teilen (Harkness u. Super, 1992; LeVine et al., 1994). Einen Säugling oder ein Kleinkind allein schlafen zu lassen wäre für eine Familie mit einem verbundenheitsbetonten Hintergrund unter Umständen eine sehr irritierende Vorstellung. Familien aus autonomiebetonten Kontexten berichten dagegen teilweise von Ängsten, dass Kinder Schaden nehmen und unangemes-
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sen verwöhnt werden, wenn sie zu lange mit den Eltern zusammen in einem Bett schlafen. An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass es in westlichen Kontexten zunehmend Vorbehalte gegenüber einer frühen Trennung beim Schlafen von Eltern und Kindern und eine Befürwortung des gemeinsamen Schlafens gibt. Die Regulations herausforderungen, die durch ein sehr frühes Schlafen in einem eigenen Zimmer an das Kind gestellt werden, werden als zu groß und daher problematisch eingestuft (z. B. Lüpold, 2009). Kulturelle Unterschiede finden sich weiterhin bezüglich der Schlafzeiten (Renz-Polster, 2009). Feste und regelmäßige Schlafzeiten für Kinder in autonomieorientierten Kontexten stehen bedarfsorientierten und folglich unregelmäßig verteilten und zeitlich unterschiedlichen Schlafzeiten in verbundenheitsorientierten Kontexten gegenüber. Ein weiterer Unterschied ergibt sich aus der Bedeutung, die sogenannten Übergangsobjekten beigemessen wird. Unter Übergangsobjekten werden Ersatzgegenstände (oftmals Kuscheltiere) für Bezugspersonen verstanden, die für das Kind als Ersatzbezugspersonen bedeutsam werden und so die Ablösung und das Alleinsein erleichtern können (Winnicott, 1969). In autonomieorientierten Kontexten wählen Kinder diese bedeutsamen Objekte in der Regel selbst, und sie können eine wichtige Funktion etwa beim Erlernen des Allein-Schlafens sowie generell bei der Regulation von Ängsten ausüben und gezielt dafür eingesetzt werden. In verbundenheitsorientierten Kontexten sind Übergangsobjekte eher unbekannt. Da Kinder nie oder kaum allein sind, sich ständig in sozialen Kontakten bewegen, haben Ersatzfiguren kaum Relevanz und werden nicht in der Form wie in westlichen Kontexten genutzt (Göncü, 1993; Rogoff, 2003). In der Beratungs- bzw. Therapiearbeit mit Familien ist es aus kultursensitiver Perspektive wichtig, die jeweiligen Schlafkonstellationen sowie die Vorstellungen und kulturellen Überzeugungen hinsichtlich der Schlafentwicklung und des Umgangs mit Schlafschwierigkeiten zu erfragen. So kann ein Verständnis für die jeweilige Familie gewonnen werden, das eine wichtige Grundlage für den Beratungsprozess und die Planung der Interventionen zur Veränderung der Schlafsituation darstellt. Die Herausforderung für Beraterinnen bzw. Therapeuten besteht darin, offen an mögliche Lösungswege heranzugehen. So kann es je nach Situation und bezogen auf
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die jeweiligen Erkenntnisse der Fit-Misfit-Analyse für eine Familie beispielsweise passend sein, wenn mithilfe eines gestalteten Übergangs das Kind daran gewöhnt wird, in einem eigenen Bett oder in einem eigenen Zimmer zu schlafen. Für eine andere Familie wäre es stimmiger, eine gemeinsame Familienbettsituation aufrechtzuerhalten oder auszubauen. Auch können die Interventionen zum Erreichen der Ziele unterschiedlich aussehen und an ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten beginnen. Zur Planung der jeweiligen Interventionen eignen sich zum Beispiel 24-Stunden Protokolle (siehe oben), mit denen sowohl die kindlichen Schlafzeiten diagnostisch geklärt werden als auch Interventionen geplant und deren Verlauf beobachtet werden können. Veränderungsideen können so gemeinsam besprochen und individuell, mit der jeweiligen Familie abgestimmt werden. Die erfolgreiche Umsetzung kann im Verlauf der Beratung beobachtet und gegebenenfalls angepasst werden. Auch hier sollen zwei Fallgeschichten unterschiedliche Interventionswege und Prozessgestaltungen beispielhaft verdeutlichen. Familie A Die Eltern kamen mit ihrem zweijährigen Sohn zur Beratung. Abends brauchte er längere Zeit zum Einschlafen, in der Nacht wachte er fünf bis sieben Mal auf und benötigte längere Zeit und Unterstützung durch die Eltern, um wieder in den Schlaf zu finden. Die Mutter war zu dieser Zeit 32 und der Vater 41 Jahre alt, und es gab noch eine vier Monate alte Tochter. Die Mutter war in Elternzeit und der Vater arbeitete als Schulleiter an einer Realschule. Er versuchte, so oft wie möglich zu Hause zu sein. Die Tochter schlief in einem Beistellbett im Elternschlafzimmer. Der ältere Sohn hatte sein eigenes Kinderzimmer mit einem eigenen Bett. Während der Schwangerschaft mit dem zweiten Kind hatten die Eltern begonnen, ihren Sohn an das Schlafen im eigenen Zimmer zu gewöhnen. Dieser zeigte von Anfang an viel Protest und konnte sich nur schwer und langsam auf die neue Situation einlassen. Anfangs hatten die Eltern ihn nachts wieder zu sich ins Bett geholt, aber sie hatten die Sorge, dass sie es ihm so nur schwerer machten, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Seitdem gingen Mutter und Vater beim Schreien des Sohnes abwechselnd zu ihm ins Zimmer und versuchten, ihn dort wieder in den Schlaf zu bringen. Dies funktionierte am
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besten mit Herumtragen und Wiegen, konnte aber bis zu einer halben Stunde dauern, und manchmal war das Kind bereits nach eineinhalb Stunden wieder wach. In der Beratung wurde deutlich, dass die Eltern nicht wollten, dass ihr Sohn wieder bei ihnen im Bett schlief. Sie befürchteten, dass seine Selbstständigkeitsentwicklung darunter leiden könnte und dass sie selbst nicht gut schlafen würden, wenn beide Kinder mit dabei wären. Die Beratenden erläuterten, dass es prinzipiell kein Problem sei, wenn Kinder auch länger im Bett mit den Eltern schlafen und dass auch die Eltern dadurch möglicherweise Entlastung finden. Da es den Eltern aber ein zentrales Anliegen war, dass ihr Sohn lernt, im eigenen Zimmer besser ein- und durchzuschlafen, wurde geplant, wie die Familie dies erreichen könne. Im Gespräch wurde deutlich, dass das Kind noch sehr viel Nähe und ko-regulatorische Unterstützung beim Einschlafen durch die Eltern benötigte. Es wurde in einem ersten Schritt überlegt, das Kind in seinen selbstregulatorischen Fähigkeiten zu stärken. Es entstand die Idee, dass die Eltern ihren Sohn nicht mehr aus dem Bett nehmen, aber bei ihm bleiben und ihn beruhigen, bis er in den Schlaf gefunden hat. Dadurch wurde eine Lernmöglichkeit für das Kind geschaffen, wie es ohne Körperkontakt zu den Eltern einschlafen kann. Nach der Etablierung dieses ersten Schrittes sollten weitere folgen2, bis das Kind gelernt hätte, ohne oder mit wenig Unterstützung in den Schlaf zu finden. Als Beginn wurde die nahe Urlaubszeit des Vaters vereinbart, da die Eltern sich hier gegenseitig gut unterstützen und bei den Beruhigungsphasen abwechseln konnten. Beim ersten Beratungsgespräch nach der Umstellung berichteten die Eltern, dass die ersten drei Nächte anstrengend gewesen seien, ihr Sohn sehr häufig aufgewacht sei und lange gebraucht habe, sich mithilfe der Eltern im Bett zu beruhigen. Sie hätten versucht, diese für die ganze Familie stressige Zeit mit einer guten Tagesgestaltung auszugleichen, die Entspannungsphasen für die Eltern und Phasen der 2 Als weitere Schritte wäre hier zum Beispiel denkbar, dass die Eltern beim Kind sitzen und es lediglich zu Beginn streicheln, sich dann aber auf verbale Beruhigungsbegleitungen beschränken, um dann in den folgenden Schritten immer weniger einzugreifen, aber noch anwesend zu sein und schließlich auch die Anwesenheit durch ein zunehmendes Wegrücken vom Bett bis zum Verlassen des Raumes schrittweise zu reduzieren.
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Nähe und Aufmerksamkeit für die Kinder berücksichtigte. In der vierten Nacht habe der Sohn weniger Zeit zum Einschlafen benötigt, was sich dann in den folgenden Nächten fortsetzte. Diese ersten Erfolge bildeten die Motivationsbasis für beide Eltern, die begonnene Veränderung auch nach dem Urlaub des Vaters fortzusetzen. Änderungsbedarf sahen beide Eltern nicht. In der Folge entspannte sich die Familiensituation weiter und die Eltern konnten innerhalb weniger Wochen ihren Sohn dahingehend begleiten, dass er lernte, recht schnell in seinem Bett ein- und immer häufiger auch eine längere Phase durchzuschlafen. Familie B Die Eltern von fünf Kindern kamen aufgrund des Schlafverhaltens ihrer jüngsten Tochter in eine Beratungsstelle. Die Mutter war 34, der Vater 41 Jahre alt, die Kinder zwischen zwei und 15. Die Eltern waren als junges Paar aus einem türkischen Dorf in eine deutsche Großstadt gezogen. In der Beratung berichteten sie, dass die zweijährige Tochter und der sechsjährige Sohn zusammen mit den Eltern in einem Bett schlafen. Dies sei zum einen aufgrund der Wohnungsgröße notwendig, zum anderen sei es in beiden Herkunftsfamilien der Eltern so üblich und vermittle den Kindern die Nähe der Eltern. Ihre kleine Tochter schlafe nun aber unruhig und sei zudem so häufig wach, dass es für die Eltern und den sechsjährigen Sohn zunehmend schwierig werde, selbst zu schlafen. Vor allem die Mutter versuche, das Kind, sobald es unruhig werde, nah zu sich herzunehmen und durch Schaukeln zu beruhigen, sodass die anderen weiterschlafen können. Die sei jedoch nur teilweise erfolgreich, sodass am Ende häufig alle wach seien. Die Eltern seien von der Situation angestrengt und genervt und wünschten sich mehr Ruhe in den Nächten. Die Beratenden besprachen die aktuelle Situation und die Wünsche der Eltern. Es wurde deutlich, dass Lösungsideen, bei denen die Tochter allein schlafen würde, nicht infrage kamen. Auch das gemeinsame Schlafen mit anderen Geschwistern schied aus, weil die älteren Geschwister dies ablehnten. Es wurde daher besprochen, wie die Eltern ihre Tochter dabei unterstützen könnten, schneller ein- und besser durchzuschlafen. Die Beratenden besprachen mit den Eltern, dass die bisher erfolgreichen Strategien des Körperkontaktes und Schaukelns beibehalten werden sollten. Aufgrund des Eindrucks, dass die Beruhi-
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gungsstrategien der Mutter möglicherweise ungewollt dazu beigetragen hatten, dass das Kind richtig wach wurde, sollten die Eltern zudem abwarten, ob sich ihre Tochter von allein wieder beruhigen würde und vielleicht gar nicht richtig wach gewesen war, sondern im Halbschlaf gequengelt hatte. Das Vorgehen brachte kleine Erfolge. Aus den über eine Woche geführten Schlafprotokollen ergaben sich Hinweise, dass die nächtliche Bettzeit nicht dem Schlafbedarf des Kindes entsprach. Daraufhin verkürzten die Eltern den Tagschlaf ihrer Tochter. Zusätzlich wurde gemeinsam überlegt, wie die Tochter am Tag körperlich aktiv sein könnte, um am Abend müde zu sein. Im weiteren Verlauf der Beratung berichteten die Eltern, dass sich das Schlafverhalten ihrer Tochter deutlich gebessert habe. Sie sei nun am Abend müder und schaffe es, länger durchzuschlafen. Wenn sie nachts wach werde, versuche die Mutter, sie durch Liegen im Arm wieder in den Schlaf zu bringen. Dies nehme immer noch etwas Zeit in Anspruch, stelle für die Familie jedoch kein Problem mehr dar. Die Eltern sahen sich gut gerüstet, um mit der familiären Schlafsituation wieder eigenständig umzugehen.
6.4.3 Trotz und Grenzsetzungsprobleme Trotz und Grenzsetzungsprobleme gehören zu den Störungen der emotionalen Verhaltensregulation im späten Säuglings- und Kleinkindalter. Kennzeichnend sind kontextunangemessene, auffallend intensive und lang andauernde heftige Wutanfälle als Reaktion auf Situationen, die Frustration und Ärger auslösen (Papoušek et al., 2004). Trotz kann entstehen, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden oder etwas den aktuellen Wünschen und Planungen im Weg steht. Er äußert sich durch ausgeprägten Widerstand gegen die Meinungen anderer und durch ein starkes Beharren auf den eigenen Wünschen. Trotzverhalten kann sich so weit aufschaukeln, dass der eigentliche Grund des oppositionellen Aufbegehrens nicht mehr zugänglich bzw. möglicherweise auch gar nicht mehr bedeutsam ist. Häufig steht Trotzverhalten auch mit Situationen in Zusammenhang, bei denen Grenzen gesetzt wurden, durch die eigene Vorstellungen und Handlungsideen unterbunden oder vereitelt bzw. Freiheiten beschränkt wurden. Manchmal scheint vor allem das »Experimentieren« mit einer eigenen Meinung und dem Dagegensein im Mittelpunkt zu stehen.
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Bei ausgeprägten Formen kann das Verhalten zu starken Belastungen in Familien führen. In Tabelle 4 sind wieder mögliche Anliegen, Explorationsrichtungen und Interventionsmöglichkeiten, die im Zusammenhang mit Trotz und Grenzsetzungsproblemen stehen, dargestellt. Tabelle 4: Anliegen, Exploration und Interventionen zum Thema »Trotz und Grenzsetzungsprobleme« »Trotz und Grenzsetzungsprobleme« – Anliegen –– Das Kind reagiert auf Beschränkungen durch Regeln und Grenzen mit heftigen Trotz- oder Wutanfällen –– Schützende Beschränkungen des Kindes können von den Eltern nicht umgesetzt werden –– Das Kind reagiert mit heftigen Wutausbrüchen auf Dinge, die ihm nicht gelingen –– Das Kind hört nicht so, wie die Eltern es möchten –– Streit und Stress kommen zwischen Eltern und Kind häufig vor –– Das Kind zeigt sich aggressiv gegenüber Gegenständen, anderen Kindern oder Erwachsenen »Trotz und Grenzsetzungsprobleme« – Exploration –– In welchen Situationen treten die Probleme auf? –– Wie verlaufen die schwierigen Situationen? Ablauf genau beschreiben lassen –– Interaktion zwischen Eltern und Kind beobachten oder beschreiben lassen –– Was haben die Eltern bereits ausprobiert? Was hat geholfen? –– Was möchten die Eltern erreichen? –– Welche Maßnahmen können die Eltern sich vorstellen? Was möchten sie nicht? –– Wie belastet sind die Eltern (welche Stressoren gibt es)? –– Gab es bisher Gewalt zwischen Eltern und Kind (verbal oder körperlich)? –– Haben die Eltern Angst davor, die Kontrolle über sich zu verlieren? »Trotz und Grenzsetzungsprobleme« – Intervention –– Entwicklungspsychologische Informationen zum Trotzverhalten –– Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Grenzsetzungssituationen; überlegen, wo die Eltern konsequent sein möchten/ sollten –– Das zugrunde liegende Bedürfnis des Kindes erkennen und anerkennen (z. B. mitmachen oder allein machen wollen)
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–– Kommunikationsregeln erarbeiten (Ich-Botschaften; nicht nur sagen, was nicht geht, sondern auch, was möglich ist; erklären, nicht rechtfertigen) –– Sinnvolle Konsequenzen einsetzen (z. B. nicht zum Spielplatz gehen, wenn das Kind sich nicht anzieht) –– Eltern verstärken das unangemessene Verhalten des Kindes nicht mehr (ignorieren bzw. ablenken) –– Konflikte versöhnlich beenden –– Dem Kind zu verstehen geben, dass jeder Tag neu ist; nicht nachtragend sein
Studien zeigen, dass Kinder in den ersten Lebensjahren nicht immer und nicht in allen kulturellen Kontexten Trotzverhalten zeigen (z. B. Mosier u. Rogoff, 2003). Es kann also nicht davon ausgegangen werden, dass es universelle und entwicklungsbedingte Trotzphasen gibt, die von allen Kindern durchlaufen werden. Ausmaß und Intensität des Trotzverhaltens scheinen einerseits eine Temperamentskomponente aufzuweisen, das heißt, es gibt angeborene Anteile, die mitbestimmen, wie stark und andauernd Kinder Trotzverhalten zeigen (Largo, 2006). Andererseits lassen sich auch Erklärungen dafür anführen, warum Trotz und Grenzsetzungsprobleme in autonomieorientierten Kontexten überwiegend mit einem Schwerpunkt in den ersten zwei Lebensjahren auftreten. Belsky, Woodwoth und Crnic (1996) fanden beispielsweise bei einer Stichprobe von 15 bis 21 Monate alten (erstgeborenen) Jungen aus westlichen Kontexten eine Auftretenshäufigkeit von als problematisch erlebtem Trotzverhaltens von 62 %. Im Zusammenhang mit der kognitiven und der Ich-Entwicklung erkennen Kinder sich im zweiten Lebensjahr als eigenständige Wesen mit eigenen Wünschen, Zielen und eigenen mentalen Zuständen. Dieses neue Erleben wird erkundet, der eigene Wille erprobt und gegen den Willen anderer behauptet (Gopnik, Meltzoff u. Kuhl, 2003). Gleichzeitig werden Kinder im zweiten Lebensjahr zwangsläufig mit Situationen konfrontiert, die nicht ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprechen. Die eigenen Möglichkeiten bleiben hinter den Wünschen zurück; durch die hinzugewonnene motorische Kompetenz entstehen vermehrt gefährdende Situationen, in denen die Eltern schützend eingreifen müssen. Zudem können die Kinder mögliche Meinungsverschiedenheiten noch kaum verbal benennen, sodass ihnen
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vorwiegend emotionale und körperliche Wege des Selbstausdrucks bleiben. Auch stehen moralische Maßstäbe im Sinne einer ethischen Bewertung und Einordnung noch nicht zur Verfügung (Michaelis, 2007). Vor diesem Hintergrund kommt es im zweiten und dritten Lebensjahr von Kindern vermehrt zu ausgeprägtem Trotzverhalten. Im Englischen wird in diesem Zusammenhang auch von den »Terrible Twos« gesprochen. Diese Entwicklung wird überwiegend in autonomieorientierten Kontexten beobachtet und als Problem bzw. in problematischem Ausmaß erlebt und berichtet. Ein Grund dafür kann in der ausgeprägten und früh beginnenden Förderung der psychologischen Autonomie des Kindes gesehen werden (siehe Kapitel 1). Für Säuglinge und Kleinkinder werden Interaktionssituationen bevorzugt, bei denen die Kinder Selbstwirksamkeit erleben können, etwa durch kontingente Reaktionen der Eltern auf kindliche Signale in Faceto-Face-Situationen mit drei Monate alten Säuglingen (Keller et al., 2004) oder durch das Abwarten von kindlichen Spielinitiativen und deren Folgen beim elterlichen Spiel mit 18 Monate alten Kleinkindern (Keller et al., 2010). Die Kinder werden bereits früh nach Vorlieben gefragt und ihnen werden Auswahl- und Mitentscheidungsmöglichkeiten geboten (»Was sollen wir heute machen?«, »Möchtest du lieber die gelbe oder die blaue Hose anziehen?«). Durch diese frühen Unterstützungen der Selbstwahrnehmung und der sozialen Selbstwirksamkeit werden auch eigene Entscheidungen bei Handlungsoptionen gefördert. Kinder neigen dann dazu, Dinge, die sie nicht möchten oder mögen, auch nicht zu machen. So konnten Keller und Kollegen (2004) beispielsweise Zusammenhänge zwischen einer hohen Ausprägung von potenziellen Blickkontaktsituationen (in denen die Möglichkeiten für eine Unterstützung des Selbstwirksamkeitserlebens durch die Eltern besonders groß sind) zwischen Müttern und ihren drei Monate alten Säuglingen mit vermindertem Gehorsam im Alter von 18 Monaten zeigen. Durch dieses Verhalten bereiten Eltern ihre Kinder stimmig auf die hoch individualisierte Welt in autonomieorientierten Kontexten vor, die durch nahezu unendliche Wahlmöglichkeiten und durch permanente Entscheidungserfordernisse gekennzeichnet ist. Die Kehrseite können Überforderungssituationen sein, die beispielsweise vermehrtes Säug-
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lingsschreien (siehe oben), Ängstlichkeit oder auch übermäßiges Trotzverhalten nach sich ziehen. In solchen Fällen kann von einem Misfit zwischen den kindlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten und den elterlichen Verhaltensweisen ausgegangen werden. Letztere sind zwar prinzipiell kulturell stimmig, aber im Ausmaß überzogen bzw. nicht ausreichend auf das individuelle Kind abgestimmt. In verbundenheitsorientierten Kontexten wird demgegenüber die Eingebundenheit in die soziale Gemeinschaft beispielsweise durch Körperkontakt oder Körperstimulation vermittelt und betont. Die kindliche Individualität spielt eine untergeordnete Rolle, die Kinder sollen sich als Teil einer Gruppe erleben und lernen, ihre Bedürfnisse mit der Bezugsgruppe in Einklang zu bringen. Demnach folgen 18 Monate alte Kinder in verbundenheitsorientierten Kontexten elterlichen Bitten und Aufforderungen signifikant häufiger als Kinder aus autonomieorientierten Kontexten (Keller et al., 2004). Probleme mit exzessivem Trotzverhalten zeigen sich in verbundenheitsorientierten Kontexten seltener oder gar nicht, unerwünschtes Verhalten wird früh sanktioniert. In diesem Zusammenhang können auch mögliche spezifische Schwierigkeiten dieses kulturellen Modells angenommen werden, etwa in der Form, dass einschneidende Sanktionierungen bei abweichendem oder ungewolltem Verhalten aufgrund ihrer Härte zu kindlichen Verhaltensproblemen führen können. Auch hier kann von einem Misfit zwischen elterlichen Strategien, die von der Intention her kulturangemessen, aber überzogen sind, und den kindlichen Bedürfnissen ausgegangen werden. Weitere Ursachen für Probleme im Bereich des Trotzverhaltens und der Grenzsetzungen können durch Migrationsprozesse entstehen. In vielen verbundenheitsorientierten Kontexten besteht in den ersten Jahren eine ausgeprägte Orientierung an den physiologischen Bedürfnissen des Säuglings bzw. Kleinkindes; Körperkontakt, Stillen nach Bedarf und das Schlafen in einem gemeinsamen Bett sind die dazu eingesetzten Mittel. Diese bedürfnisorientierte Interaktionsgestaltung verändert sich im Laufe der Sozialisation. Beispielsweise beginnt in vielen ländlichen afrikanischen Kontexten die Eingliederung der Kinder mit entsprechenden Aufgaben in das Gemeinschaftsleben bereits in Vorschulalter. Es bestehen familiäre wie institutionelle Strukturen, die die Beachtung von Hierarchien,
Praxis der kultursensitiven Beratung und Therapie191
die Übernahme von Aufgaben sowie die Sanktionierung bei Nichtbefolgung und Regelverstößen gewährleisten. Durch eine migrationsbedingte Verlagerung des Lebensmittelpunktes in einen autonomieorientierten Kontext kommen Familien dann in eine Umgebung, in der es diese für sie vertrauten und in dieser Weise stützenden Strukturen nicht gibt. Pädagogische Einrichtungen sind beispielsweise kindzentriert und auf eine Förderung der psychologischen Autonomie ausgerichtet. Dadurch können Probleme in Grenzsetzungssituationen und exzessives Trotzverhalten entstehen. Die starke Orientierung vor allem der Mütter an den Bedürfnissen der Kinder (insbesondere der Söhne) wird durch die weiteren Sozialisationsinstanzen nicht komplementär begrenzend ergänzt. In diesen Zusammenhang sind auch Befunde von Familien mit Migrationshintergrund einzuordnen, die zeigen, dass Wünsche hinsichtlich einer stärkeren Erziehungsübernahme durch pädagogische Einrichtungen bestehen. So konnten beispielsweise Jäkel und Leyendecker (2009) zeigen, dass in Deutschland lebende Mütter mit einem türkischen Migrationshintergrund die Erziehungsverantwortung öfter an den Kindergarten abgaben und von den dortigen Erzieherinnen eine stärkere Disziplinierung ihrer Kinder erwarteten als deutsche Mütter ohne Migrationshintergrund. Für die Beratung bzw. Therapie sollten die jeweiligen Konzepte von Autonomie und Grenzsetzungen der Eltern sowie die konkreten Umgangsweisen damit erfragt werden. Unter Einbezug des kulturellen Hintergrundes der Eltern kann dann im Rahmen der Fit-MisfitAnalyse erschlossen werden, wie abgestimmt und angemessen die elterlichen Verhaltensweisen in Bezug auf ihre Sozialisationsziele sind. Zeigen sich darüber hinaus deutliche Unterschiede zwischen den kulturellen Modellen der Herkunfts- und der Aufenthaltskultur, sollte mit den Eltern besprochen werden, inwiefern ihre kulturellen Überzeugungen mit den Erfordernissen der Aufenthaltskultur übereinstimmen bzw. kompatibel sind. Darauf aufbauend kann mit den Eltern geplant werden, welche Art von Interventionen sinnvoll sind. Der Schwerpunkt kann unter anderem darauf liegen, die Eltern zu unterstützen, angemessene Grenzen in angemessener Art zu setzen oder einen angemessenen Umgang mit kindlichem Trotzverhalten zu entwickeln.
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
Hilfreich ist es, mit den Eltern an konkreten Interaktionssituationen zu arbeiten. Dies kann mithilfe von Videosequenzen geschehen oder auch in der gemeinsamen Rekonstruktion von problematischen oder besonders gelungenen Situationen. Unterstützende Verhaltensweisen der Eltern können gemeinsam überlegt, erklärt und in ihrer Umsetzung geplant werden. Bedeutsam ist auch, zu überprüfen, wie angespannt die familiäre Situation ist und ob die Eltern ausreichende Strategien zum Umgang mit eigenen Aggressionen haben. Bei Bedarf sollte hier mit den Eltern an Entlastungen sowie an angemessenen Umgangsweisen gearbeitet werden. Im Folgenden sollen zwei Fallbeispiele unterschiedliche Herangehensweisen verdeutlichen. Familie A Aufgrund ausgeprägter Wutanfälle, die in der Familie als zunehmend störend und belastend empfunden wurden, kamen die Eltern mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn zur Beratung. Die Mutter (31 Jahre, leitende Angestellte bei einer Bank) und der Vater (33 Jahre, selbstständiger Unternehmensberater) erläuterten, dass ihr Sohn manchmal scheinbar aus dem Nichts heraus Wutanfälle bekomme und dann kaum zu beruhigen sei. Beruhigungsversuche führten teilweise sogar zu einer Steigerung der Wut. Auch Phasen exzessiven Trotzens würden seit einiger Zeit deutlich zunehmen. Ansonsten sei ihr Sohn ein aufgewecktes, interessiertes und fantasievolles Kind. Während des ersten Beratungsgesprächs betonten die Eltern, dass es ihnen wichtig sei, ihr Kind als eigenständige Person zu respektieren und ihm ein gutes Selbstbewusstsein zu ermöglichen. So waren sie bemüht, ihm wenig vorzugeben und auf seine Wünsche einzugehen. Bei der vorbereitenden Auswertung eines erstellten Interaktionsvideos zwischen Eltern und Kind zeigte sich, dass das Kind in vielfältige Entscheidungssituationen einbezogen wurde (»Möchtest du das Brot mit Butter?«, »Soll ich dir eine Karotte geben?«, »Wollen wir nachher rausgehen?«) und im Verlauf der Interaktion vermehrt Zeichen von Belastung zeigte (leichtes Stöhnen, Augenreiben, motorische Ungeschicklichkeiten, Wegschauen). Für die Beratung wurden zwei kurze Sequenzen ausgewählt. In der ersten Sequenz reicht ein Elternteil dem Kind wortlos ein Stück Karotte, das Kind greift danach, strahlt den Elternteil an und beißt in die Karotte. In der zweiten Sequenz fragt ein Elternteil das Kind, ob es Käse aufs
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Brot möchte. Als das Kind freudig bejaht, wird nachgefragt, welcher es sein soll. Das Kind schaut daraufhin zur Seite und reagiert nicht auf die Frage. Der Elternteil fragt noch einmal, das Kind wischt daraufhin das Brot vom Teller. Mit Blick auf das Kind wurde gemeinsam der Zusammenhang zwischen der ausgeprägten Orientierung an den Wünschen des Kindes und den kindlichen Wut- und Trotzanfällen erarbeitet. Die Eltern konnten an den Belastungszeichen des Kindes erkennen, dass ihr Kind von Entscheidungssituationen manchmal überfordert ist und von den Eltern getroffene Entscheidungen auch entlastend sein können. Im weiteren Verlauf der Beratung wurde anhand des Tagesablaufs und konkreter Situationen der zu den Eltern und zur Entwicklung des Kindes passende Umgang mit Entscheidungen geklärt. Unter anderem wurde der Frage nachgegangen, welche Entscheidungen von den Eltern allein getroffen werden, zu welchen Entscheidungen das Kind gehört wird und welche Entscheidungen das Kind allein treffen kann. Während der folgenden Wochen veränderte sich die Situation deutlich. Das Kind wirkte abgesehen von kleinen Protesten gegen den neuen Umgang zufriedener und ausgeglichener. Weiterhin waren die Eltern bemüht, die Wünsche ihres Kindes ernst zu nehmen und liebevoll auf seine Initiativen einzugehen, gaben aber ebenso liebevoll und konsequent in entsprechenden Situationen die Richtung vor. Familie B Die Eltern (Mutter 22 Jahre, Vater 27 Jahre) kamen auf Anraten der Kindertagesstätte in die Beratungsstelle, da ihr Sohn (34 Monate) in der Einrichtung immer wieder durch Verweigerung, Trotz und aggressive Ausbrüche auffalle. Die Mutter, die bis zur Geburt des ersten Kindes in Vollzeit und danach in Teilzeit als Kassiererin in einem Supermarkt gearbeitet hatte, war im fünften Monat schwanger. Der Vater war als Fleischer in einer großen Fabrik tätig. Die Eltern berichteten, dass es auch zu Hause Schwierigkeiten gebe, wenn das Kind seinen Willen nicht bekomme. Ihr Sohn sei dann nicht mehr zugänglich und zeige sich sogar aggressiv gegenüber der Mutter. Im Verlauf des Erstgespräches wurde deutlich, dass die Eltern unterschiedlich in Grenzsetzungssituationen mit dem Kind umgingen. Die Mutter berichtete, dass es ihr schwerfalle, konsequent zu bleiben. Ihr sei zwar wichtig, dass ihr Sohn lerne, Grenzen zu akzeptieren und einzuhalten, sie gebe aber
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auch schnell nach, um Situationen zu beruhigen. Der Vater gab an, aufgrund seiner Arbeit wenig zu Hause zu sein. Seine Rolle sehe er, in Übereinstimmung mit seiner Frau, hauptsächlich als Ernährer der Familie. Wenn er abends und am Wochenende zu Hause sei, würde er versuchen, klare Grenzen zu setzen und diese dann auch aufrechtzuerhalten. Durch Nachfragen der Beratenden wurde deutlich, dass zwischen den Eltern Spannungen bestanden. Während der Vater äußerte, die Mutter sei nicht konsequent genug mit dem Sohn, berichtete die Mutter, dass der Vater in Bezug auf Grenzsetzungen oftmals zu hart sei, das Kind anschreie oder bestrafe. Für die weiteren Beratungsgespräche wurden aus Videoaufnahmen von Interaktionen zwischen Mutter und Kind bzw. Vater und Kind Sequenzen ausgewählt, die gelungene Szenen zur Grenzsetzung und zum Umgang mit kindlichem Trotzverhalten zeigten. Mit den Eltern wurde anhand der Bilder erarbeitet, welche Wirkung klare, konsequente und aggressionsfreie Grenzsetzungen auf das Kind hatten. Die Eltern konnten kooperationsbereite und entspannte Verhaltensweisen bei ihrem Kind entdecken sowie eigenes Verhalten erkennen, mit dem sie ihr Kind dabei unterstützt hatten. Bei der Umsetzung in alltäglichen Situationen konnten beide Eltern auf ihre im Video sichtbaren Kompetenzen aufbauen. In der Folge kam es zur Entspannung in der Familie. Die Eltern konnten sich bezüglich ihrer Umgangsstrategien mit dem Kind annähern und für das Kind einen klaren Orientierungsrahmen schaffen, der nicht mehr durch das Spannungsfeld von nachgiebigem und aggressivem Elternverhalten gekennzeichnet war. Zusätzliche Gespräche mit der Kindertagesstätte wurden im Rahmen der Beratung vorbereitet. Die Erzieherinnen wurden über die erforderlichen Punkte informiert. Zudem wurden konkrete Umgangsweisen mit ihnen abgestimmt. Die Veränderung zeigte sich auch hier nach kurzer Zeit, indem sich die aggressiven Ausbrüche des Kindes reduzierten und die friedlichen Spielphasen mit anderen Kindern ausweiteten.
6.4.4 Fazit Anhand von häufigen Beratungs- bzw. Therapieanliegen von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern wurden in diesem Abschnitt beispielhaft Interventionsgestaltungen einer kultursensitiven Beratung und Therapie dargestellt. Diese zeichnen sich vor allem durch eine
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individuelle Gestaltung der Prozesse aus, die wiederum mit einer Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Hintergründe der Familie und einer entsprechenden Passung zwischen Anliegen, Kontaktgestaltung, Interventionen, Beratungs- bzw. Therapiezielen und eben dem kulturellem Hintergrund einhergeht. Die dabei zentralen Elemente wurden in den vorherigen Abschnitten Klärung des Anliegens, Fit-Misfit-Analyse und Zieldefinition sowie Beratungsgestaltung erläutert und stellen den Rahmen für die Gestaltung und Durchführung einer kultursensitiven Beratung bzw. Therapie dar. Im folgenden Kapitel soll es um mögliche Zusammenhänge zwischen familiären oder kindlichen Schwierigkeiten in den ersten Jahren und Problemen zu späteren Lebenszeitpunkten gehen. Dadurch soll zum einen die Bedeutung von frühen Unterstützungssystemen hervorgehoben und zum anderen auch hierbei die Relevanz einer kultursensitiven Sichtweise verdeutlicht werden.
7 Regulationsprobleme: Ausblick auf das spätere Lebensalter
In Bezug auf die in Kapitel 6 dargestellten häufigen Beratungsanlässe von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern stellt sich die Frage, welche Problematiken sich in der Folge von übermäßigem Schreiverhalten, Ein- und Durchschlafschwierigkeiten sowie übermäßigem Trotzverhalten ergeben können. In diesem Kapitel werden in einem ersten Schritt Entwicklungsverläufe und mögliche Langzeitfolgen bei Kindern darstellt, für die in der frühen Kindheit Regulationsprobleme wie übermäßiges Schreien bzw. Ein- und Durchschlafschwierigkeiten dokumentiert wurden. Die Befundlage muss sich hierzu – mangels Studien aus verbundenheitsorientierten Kontexten – auf Studien aus autonomieorientierten Kontexten beschränken. Es werden potenzielle Problembereiche diskutiert, die sich für verbundenheitsorientierte Familien ergeben, und es wird der Beitrag vorliegender empirischer Studien für eine kultursensitive Beratungs- und Therapiearbeit thematisiert. In einem zweiten Schritt wird ausgeführt, welche Problematiken sich im späteren Lebensalter bei jenen Kindern ergeben können, die übermäßig viel und persistierend trotzen. Zudem werden Entwicklungsverläufe, die im Hinblick auf Trotzverhalten in verschiedenen kulturellen Kontexten bestehen, dargestellt und damit einhergehende mögliche Beratungsanlässe im späteren Lebensalter thematisiert.
7.1 Übermäßiges Schreien und Ein- und Durchschlafschwierigkeiten 7.1.1 Entwicklungsverläufe und Langzeitfolgen Regulationsstörungen werden zwar in autonomieorientierten Kontexten recht häufig beschrieben (beispielsweise sind ca. 15–30 % der Säuglinge in Deutschland betroffen; Wolke, Meyer, Ohrt u. Riegel, 1994; Wurmser at al., 2001), gehen aber meist nicht mit weiteren gravierenden Langzeitfolgen einher (Sloman, Bellinger u. Krentzel,
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1990; Stifter u. Braungart, 1992, St. James-Roberts, Conroy u. Wilsher, 1998). Der Verlauf ist bei vielen Säuglingen selbstlimitierend und das Schreiverhalten reduziert sich nach dem dritten Lebensmonat. Bei einem kleinen Teil an Kindern allerdings persistieren Regulationsstörungen und werden als Risikofaktor für spätere Probleme in anderen Verhaltensbereichen beschrieben (Schmid, Schreiner, Meyer u. Wolke, 2010). Insbesondere Kinder, die Regulationsstörungen in mehreren Verhaltensbereichen gleichzeitig aufweisen, haben eine ungünstige Prognose für die spätere Entwicklung (Laucht, Schmidt u. Esser, 2004). In einer repräsentativen Studie, die in Deutschland durchgeführt wurde, berichten ca. 8 % der Eltern eine ausgeprägte Schreiproblematik bei ihrem Kind nach dem dritten Lebensmonat (Wurmser et al., 2001). Für Ein- und Durchschlafschwierigkeiten finden sich Prävalenzraten von ca. 6 % bezogen auf einen persistierenden Verlauf (Wake et al., 2006). Die Studien, die sich mit Langzeitfolgen beschäftigen, sind methodisch sehr unterschiedlich gestaltet. Es variieren die Zeitintervalle zwischen den Messzeitpunkten, die Maße zur Erfassung von Problemverhalten (z. B. Child Behavior Checklist, Strength and Difficulties Questionnaire, Bayley Scales of Infant Development) und das Ausmaß der Berücksichtigung von weiteren Einflussfaktoren (z. B. mütterliche Depressivität, Gestationsalter des Kindes, soziale Faktoren der Familie). Auch die Stichprobenwahl ist heterogen. Aufgrund diverser Klassifikationsmethoden, die zur Diagnose von Regulationsstörungen herangezogen werden, erfüllen Kinder mit unterschiedlich schwer ausgeprägten Regulationsstörungen das Einschlusskriterium für die Studienteilnahme. Beispielsweise werden unterschiedliche Altersgrenzen verwendet, ab denen eine Regulationsproblematik beim Kind erfasst wird (z. B. vier Monate in Wolke, Rizzo u. Woods, 2002; acht bis zehn Monate in Lam, Hiscock u. Wake, 2003). Zudem werden unterschiedliche Kriterien genutzt, um Regulationsstörungen zu diagnostizieren, die einerseits kindbezogen sind (Wessel-Kriterium, siehe z. B. Elliott, Pedersen u. Mogan, 1997), andererseits die Elterneinschätzungen berücksichtigen (subjektive Problemwahrnehmung der Eltern, siehe Scher, Zuckerman u. Epstein, 2005). Auch gibt es Variabilität dahingehend, ob die Stichprobenziehung aus klinischen (z. B. DeSantis, Coster, Bigsby u. Lester, 2004; Wolke et al., 2002)
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
oder nicht klinischen Stichproben (community-based samples, z. B. Forsyth u. Canny, 1991) erfolgte. Ungeachtet dieser Heterogenität ist die Befundlage im Hinblick auf Langzeitfolgen recht e inheitlich. In einer Meta-Analyse der Autoren Hemmi, Wolke und Schneider (2011) wurden 22 prospektive Studien im Zeitraum von 1987 bis 2006 berücksichtigt, die den Zusammenhang zwischen Regulationsstörungen (dazu zählten übermäßiges Schreien, Ein- und Durchschlafstörungen, Fütterstörungen, multiple Regulationsprobleme) und späteren Verhaltensproblemen untersuchten. Die einbezogenen Studien nutzten Daten aus nicht klinischen Zufallsstichproben aus einer Population von Familien mit Säuglingen (59 %) und aus klinischen Stichproben (41 %), welche sich aus Familien zusammensetzten, die aufgrund einer Schreiproblematik professionelle Hilfe aufsuchten. Als übergeordnetes Einschlusskriterium für die Berücksichtigung in der Meta-Analyse war definiert, dass die Regulationsproblematik des Kindes als ernstes Problem aufseiten der Eltern bzw. Psychologen bewertet wird. In einem weiteren Schritt wurden die spezifischen Regulationsproblematiken konkreter definiert (z. B. exzessives Schreien besteht in einem intensiven, unstillbaren Schreiverhalten ohne offensichtlichen Grund in den ersten drei Lebensmonaten; persistierendes exzessives Schreien bezeichnet ein solches Schreiverhalten, das über den dritten Lebensmonat hinausgeht). In der Meta-Analyse konnte ein längsschnittlicher Zusammenhang zwischen Regulationsstörungen im Säuglingsalter und vermehrtem Problemverhalten im Kindesalter im Vergleich zu unauffälligen Kontrollkindern nachgewiesen werden. Kinder, für die im Säuglingsalter Regulationsstörungen dokumentiert wurden, zeigten auch später im Kindesalter vermehrt externalisierende Störungen (d. h. aggressives und destruktives Verhalten, Wutanfälle, Störungen des Sozialverhaltens), internalisierende Störungen (d. h. Ängstlichkeit, Depression, sozialer Rückzug) und Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörungen. Für diese Kinder wurden somit sowohl für das Säuglingsalter als auch für das Kindesalter mehr Probleme in der Bewältigung altersentsprechender Regulationsherausforderungen berichtet. Die berechneten Effektstärken sind als klein bzw. mittelgradig zu interpretieren. Detailanalysen ergaben, dass sich vor allem für exzessives Schreien in allen drei Problemverhaltensbereichen
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Effekte mittlerer Effektstärke zeigten. Bei Ein- und Durchschlafstörungen wurden hohe Effektstärken nur für Aufmerksamkeitsdefizitbzw. Hyperaktivitätsstörungen berichtet. Das heißt, jene Kinder, für die im Säuglingsalter Ein- und Durchschlafstörungen dokumentiert wurden, gehörten im Vergleich zu unauffälligen Kontrollkindern vermehrt auch zu den Kindern, für die im Kindesalter Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsprobleme festgestellt wurden. Ein weiterer wichtiger Befund dieser Meta-Analyse war, dass der Zusammenhang zwischen Regulationsproblemen und Verhaltensproblemen stärker war, wenn weitere familiäre Risikofaktoren (z. B. problematische Eltern-Kind-Interaktion, depressive oder gestresste Mutter, soziale Notlage, problematisches familiäres Umfeld) gegeben waren. Bei einer australischen längsschnittlichen Kohortenstudie, die Zusammenhänge von Regulationsstörungen in der frühen Kindheit und Problemverhalten mit fünf, 14 und 21 Jahren untersuchte, wurden Regulationsprobleme mit einem Häufigkeitsscore gemessen. Er beinhaltete, wie oft Kinder im Alter von sechs Monaten Koliken, Schlaflosigkeit, Fütterprobleme und übermäßige Aktivität zeigten. 10 % der Kinder, die die häufigsten Ausprägungen hatten, wurden als »Kinder mit Regulationsstörungen« klassifiziert (Hyde, O’Callaghan, Bor, Williams u. Najman, 2012). Die Studie erbrachte das Ergebnis, dass jene Kinder, deren Mütter Regulationsprobleme bei ihren Kindern im Alter von sechs Monaten berichteten, ein höheres Risiko für externalisierende und internalisierende Störungen im Vorschulalter und in der Adoleszenz aufwiesen, wobei bei Vorschulkindern der Zusammenhang stärker war. Der Zusammenhang blieb selbst unter Kontrolle relevanter weiterer sozialer, biologischer und psychologischer Einflussfaktoren bestehen. Im Alter von 21 Jahren zeigte sich dieser Zusammenhang jedoch nicht mehr. Ein ähnlicher Befund konnte auch bei Risikokindern (frühgeborene Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g) in einer finnischen Studie gezeigt werden (Korja et al., 2014). Belegt wurde ein längsschnittlicher Zusammenhang zwischen exzessiver Schreiproblematik im Alter von sechs Wochen bzw. fünf Monaten und externalisierenden und internalisierenden Störungen im Alter von vier Jahren sowie elterlichem Stress, wenn das Kind zwei und vier Jahre alt war. Das Schreiverhalten wurde in dieser Studie mit einem
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Tagebuch erfasst, über das die tägliche Schreidauer und -häufigkeit dokumentiert wurde. Die Befunde verdeutlichen, dass Regulationsschwierigkeiten eine allgemeine Problematik darstellen, die verschiedene Verhaltensbereiche und Altersgruppen betrifft. Säuglinge mit Regulationsproblemen haben gegenüber unauffälligen Kontrollkindern ein höheres Risiko für spätere Folgeproblematiken. Das Risiko für Folgeproblematiken ist erhöht, selbst wenn eine Behandlung der Regulationsprobleme erfolgt ist. Bedeutsame Verbesserungen der kindlichen Symptomatik, der Eltern-Kind-Interaktion und der elterlichen Belastung können aber über Beratung und Therapie von Schrei- und Schlafproblematiken nachweislich erreicht werden (Sarimski, 2004; Wollwerth de Chuquisengo u. Papoušek, 2004), was die Wichtigkeit von frühen Beratungs- und Therapieangeboten und die Notwendigkeit von Angeboten unterstreicht, die viele Familien erreichen. Die derzeitige Befundlage ergibt den klaren Forschungsbedarf, in anderen kulturellen Kontexten Regulationsprobleme, deren Verlauf und insbesondere mögliche langfristige Entwicklungskonsequenzen zu untersuchen. 7.1.2 Implikationen für Familien aus verbundenheits orientierten Kontexten Der derzeitige Forschungsstand liefert für die Beratung und Therapie lediglich bei Kindern aus autonomieorientierten Kontexten Anhaltspunkte zu problematischen Entwicklungsverläufen. Aus Studien für unterschiedliche kulturelle Kontexte ist bisher nur das universell auftretende vermehrte Schreien bei Säuglingen in den ersten Lebensmonaten mit einem Schreigipfel um die sechste Lebenswoche bekannt sowie das vermehrte frühabendliche Schreien im Vergleich zur Resttageszeit (z. B. Alvarez u. St. James-Roberts, 1996; Barr et al., 1991; St. James-Roberts, Bowyer, Varghese u. Sawdon, 1994). Beides wird als Teil der normalen kindlichen Entwicklung betrachtet, wobei auch hier große interindividuelle Unterschiede bestehen (Soltis, 2004). Zu Regulationsproblemen in Zusammenhang mit übermäßigem Schreien und Ein- und Durchschlafschwierigkeiten bei Säuglingen und Kleinkindern aus verbundenheitsorientierten Familien sind kaum Studien bekannt. Die wenigen vorliegenden Befunde deuten jedoch darauf hin, dass in verbundenheitsorientierten Kontexten
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Kinder seltener übermäßig schreien (z. B. werden kürzere Schreidauern berichtet, Barr et al., 1991). Übermäßiges Säuglingsschreien wird von manchen Autoren als »nonadaptives Produkt evolutionär neuartiger Aspekte aktueller Kinderbetreuungspraktiken« gesehen, das »nur in modernen, westlichen Ländern aufzutreten scheint« (Lummaa, Vuorisalo, Barr u. Lehtonen, 1998, S. 199; siehe auch Bensel, 2003). Als ursächlich dafür werden Erziehungspraktiken in verbundenheitsorientierten Kontexten angenommen, die geringere Anforderungen an die Selbstregulationsfähigkeiten des Kindes stellen und gleichzeitig ein höheres Ausmaß sozialer Unterstützung im familiären Verbund bieten. Probleme können sich allerdings aus dem Wegfall traditioneller Unterstützungsstrukturen ergeben. Hier kann das Belastungserleben bei den Eltern stärker ausgeprägt sein, wenn Regulationsprobleme auftreten und zur Beeinträchtigung der Eltern-Kind-Interaktion führen. Die Entwicklungskonsequenzen können dann ähnlich sein wie jene, die in Studien aus autonomieorientierten Kontexten (z. B. Hemmi et al., 2011; Hyde et al., 2012) beschrieben wurden. In Bezug auf Ein- und Durchschlafschwierigkeiten kann gemutmaßt werden, dass das Belastungserleben bei Familien aus verbundenheitsorientierten Kontexten geringer ist, selbst wenn persistierende Abweichungen in den Ein- und Durchschlafgewohnheiten des Kindes auftreten. Ein möglicher Grund liegt in der Gestaltung der kindlichen Schlafgewohnheiten (z. B. unregelmäßige Schlafzeiten, Schlafen im Elternbett, nächtliches Stillen und promptes Beruhigen bei Bedarf), die solche Abweichungen im Allgemeinen nicht so stark akzentuiert wie in autonomieorientierten Kontexten. Daraus resultiert ein potenziell geringerer Bedarf an Beratung und Therapie. Das bislang als nicht belastend erlebte Ein- und Durchschlafverhalten des Kindes könnte ab dem Zeitpunkt als problematisch erachtet werden, wenn das Kind auf Umwelten trifft, deren Erziehungspraktiken im Widerspruch zu den familiären Erziehungspraktiken stehen. Das geschieht dann, wenn höhere Anforderungen an die selbstregulatorischen Kompetenzen des Kindes gestellt werden und gleichzeitig die ko-regulatorische Unterstützung nicht im erforderlichen Maße zur Verfügung steht. Als Beispiel kann der Übergang eines Kindes aus einer verbundenheitsorientierten Familie in eine außerfamiliäre
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Betreuung in einem autonomieorientierten Kontext, zum Beispiel eine Kindertagesstätte, genannt werden. In diesem Kontext wird häufig von einem Kind erwartet, dass es seinen Mittagsschlaf zu einer bestimmten Zeit allein liegend auf einer Matratze hält. Wenn es nun aber weder die übliche Unterstützung beim Einschlafen bekommt, noch die gewohnte Nähe zu anderen Personen während des Schlafens erfahren kann (z. B. Erzieherin liegt daneben und beruhigt es prompt), können Ein- und Durchschlafschwierigkeiten als Problem manifest werden. Es ist zu erwarten, dass Kinder ihre Gewohnheiten ab einem bestimmten Alter nicht von sich aus verändern (Jenni u. Benz, 2011). Auch im Grundschulalter könnten persistierende Ein- und Durchschlafschwierigkeiten dazu beitragen, dass ein solches Kind nicht bei anderen Kindern übernachten kann oder Schulausflüge mit Übernachtung zum Problem werden. Solche Folgeproblematiken sind als »unerwünschte Nebenwirkungen« möglich und machen einen Beratungsbedarf im späteren Lebensalter plausibel. Die empirische Prüfung dieser Annahmen steht allerdings noch aus.
7.2 Trotz und Grenzsetzungsprobleme 7.2.1 Entwicklungsverläufe und Langzeitfolgen Trotzverhalten ist in autonomieorientierten kulturellen Kontexten ein häufiges Phänomen. Fast ein Drittel der Anlässe, die zur Inanspruchnahme von Beratung im Säuglings- und Kleinkindalter führen, betreffen diese Problematik (Cierpka u. Cierpka, 2012). Zum Entwicklungsverlauf in autonomieorientierten Kontexten ist bekannt, dass Trotzanfälle bei Kindern in den ersten Lebensjahren, insbesondere zwischen dem 15. und 30. Lebensmonat, vermehrt auftreten und danach in ihrer Häufigkeit und Intensität wieder abnehmen. Bei Trotzanfällen handelt es sich um eine Verhaltenstendenz, die im Prinzip universell bei allen Kindern vorhanden ist (z. B. Bhatia et al., 1990; Osterman u. Björkqvist, 2010; Potegal u. Davidson, 2003). Es bestehen jedoch große kulturspezifische Unterschiede dahingehend, in welcher Intensität und wie häufig sich Trotzanfälle äußern. Bei übermäßigem Trotzverhalten ist von Folgeproblematiken im weiteren Entwicklungsverlauf auszugehen, wenn es längere Zeit
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persistiert und/oder eine an die neuen Regulationsherausforderungen des Kleinkind- und Vorschulalters angepasste Fortsetzung von früheren Regulationsproblematiken ist (Borke u. Hawellek, 2011). Dadurch kann es zu langfristigen Überforderungssituationen kommen, die die familiären Interaktionen derart belasten, dass es zu sogenannten koersiven Interaktionsmustern kommen kann (auch »Zwangsinteraktion« oder »Verhaltensnötigung« genannt; Patterson, 2002). Diese Interaktionsmuster zeigen sich, wenn ein Kind den Aufforderungen oder Bitten eines Elternteils nicht nachkommt und mit Trotz oder Ärger reagiert, woraufhin der Elternteil versucht sich durchzusetzen. Dies führt zu immer heftigeren Reaktionen aufseiten des Kindes und provoziert damit immer stärkere bis hin zu aggressiven Reaktionen beim Elternteil, bis schließlich einer der beiden »gewinnt«. Entweder gibt der Elternteil nach und zieht sich zurück und das Kind »gewinnt«, oder der Elternteil setzt sich schließlich doch mit aggressiven Mitteln durch. Durch beide Situationsausgänge wird das als problematisch erachtete Verhalten des Kindes verstärkt (Patterson, 2002), denn der Rückzug des Elternteils ermöglicht es dem Kind, zu lernen, dass es mit seinem negativen Verhalten etwas erreichen kann. Das Verhalten des Elternteils, seine Ziele mit aggressiven Mitteln durchzusetzen, stellt ein Modellverhalten für das Kind dar. Beim Elternteil verstärken sich durch die sich wiederholende aufschaukelnde Dynamik in der Interaktion zunehmend negative Schemata des Kindes, die wiederum ein aggressives Reagieren auf das kindliche Verhalten begünstigen. Koersive Interaktionsmuster sind höchst problematisch, da sie sich auf andere Interaktionen des Kindes übertragen können (z. B. mit der Erzieherin, mit Gleichaltrigen oder mit dem Lehrer) und die Entstehung weiterer Problembereiche befördern können (z. B. Ausgrenzung durch Gleichaltrige, Schulversagen). Zudem kann persistierendes frühes Problemverhalten einen Risikofaktor für die Manifestation klinischer Störungsbilder darstellen (z. B. Störung des Sozialverhaltens, Störung mit oppositionellem Trotzverhalten). Eine amerikanische Studie, die koersive Interaktionsmuster zwischen Eltern und Kindern in Zusammenhang mit deren oppositionellem und aggressivem Verhalten im Alter von zwei, drei, vier und fünf Jahren sowie im Grundschulalter (7,5/8,5 Jahre) unter-
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suchte, erbrachte aufschlussreiche Befunde: Erstens beeinflussen koersive Interaktionsmuster die Entwicklung von eskalierendem, aggressivem und oppositionellem Verhalten. Der Einfluss in diese Wirkrichtung ist stärker als der in die andere, nämlich dass aggressives, oppositionelles Verhalten das Auftreten koersiver Interaktionsmuster erhöht. Zweitens sind koersive Interaktionsmuster über die Jahre relativ stabil. Das trägt dazu bei, dass koersive Interaktionen nicht nur während der frühen Kindheit das aggressive und oppositionelle Verhalten erhöhen, sondern auch langfristige Auswirkungen auf Problemverhalten in der Grundschule haben. Koersive Interaktionsmuster zwischen Eltern und sehr jungen Kindern (zweijährigen) stellen einen besonderen Risikofaktor für einen von aggressivem und oppositionellem Verhalten geprägten Entwicklungsverlauf dar. Drittens zeigen sich diese Befunde sowohl bei Mädchen und Jungen als auch bei Kindern unterschiedlicher ethnischer Herkunft (Smith et al., 2014). Frühe Interventionen im Rahmen von Beratungs- und Therapiearbeit sind für jene Familien zentral, in denen koersive Interaktionsmuster häufig vorkommen. Hilfreiche Beratungs- und Therapieansätze zur Deeskalierung für entsprechend problematische Familiendynamiken finden sich in den Ansätzen von Haim Omer zum gewaltlosen Widerstand und zur elterlichen Präsenz (siehe Grabbe, Borke u. Tsirigotis, 2013; Omer u. von Schlippe, 2006). 7.2.2 Implikationen für Familien aus verbundenheits orientierten Kontexten In verbundenheitsorientierten Kontexten ist Trotzverhalten kaum oder gar nicht zu beobachten, was mit einer geringeren Förderung der psychologischen Autonomie bei gleichzeitiger Betonung von Gehorsam und respektvollem Verhalten gegenüber Erwachsenen in den Erziehungspraktiken erklärbar ist (Borke u. Hawellek, 2011). In autonomieorientierten Familien kann hingegen das Verfolgen positiv bewerteter autonomieorientierter Erziehungsziele exzessives Trotzverhalten als »unerwünschte Nebenwirkung« befördern. Im Hinblick auf langfristige Entwicklungskonsequenzen ist sowohl das ausbleibende als auch das persistierende übermäßige Trotzen zu diskutieren. Tritt das Trotzverhalten in verbundenheits-
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orientierten Kontexten kaum oder nicht auf, stellt das meist eine gelungene Passung mit den vorherrschenden Erziehungszielen dar. Probleme können entstehen, wenn die Anforderungen des Lebenskontextes den familiären Idealen und Vorstellungen widersprechen und das Kind mit Interaktionserfahrungen konfrontiert wird, mit denen es nicht gelernt hat umzugehen. Dies kann sich ergeben, wenn verschiedene Mitglieder eines familiären Verbundes aufgrund von gesellschaftlichen oder migrationsbedingten Veränderungen bestimmten Erziehungszielen eine unterschiedliche Wichtigkeit zuschreiben und unterschiedliche Erziehungspraktiken handlungsleitend werden. So können beispielsweise die Großeltern Gehorsam stark betonen und das Nichtbefolgen von Anweisungen streng sanktionieren, während die Eltern Gehorsam weniger stark akzentuieren und auch weniger sanktionieren. Damit erfährt das Kind inkonsistente Erziehungspraktiken aus seiner Umwelt, was das Auftreten von Problemverhalten erhöhen und so wiederum zu weiteren Sanktionen durch Bezugspersonen führen kann. Ein weiteres Beispiel betrifft den Kontakt mit autonomieorientierten Bildungsinstitutionen (z. B. Kindertagesstätte, Schule), in welchen Erziehungsziele verfolgt werden, die nicht zu den Erziehungszielen der Familie passen. Hat ein Kind durch Trotzverhalten bislang kaum »erprobt«, eigene Wünsche, Meinungen und Bedürfnisse durchzusetzen, kann es in Bildungsinstitutionen Durchsetzungsschwierigkeiten in der Gleichaltrigengruppe bekommen sowie Schwierigkeiten bei der Wahl eigener Vorlieben und der selbstständigen Gestaltung von Abläufen und Tätigkeiten haben.
8 Evaluation von Beratung und Therapie
Ein Berater oder Therapeut kann in seiner professionellen Arbeit aus verschiedenen Perspektiven mit dem Thema Evaluation in Berührung kommen. Einerseits kann seine professionelle Arbeit und/ oder die seiner gesamten Einrichtung evaluiert werden. Andererseits kann die Beraterin oder Therapeutin eine Evaluation selbst durchführen. Dieses Kapitel widmet sich der Evaluation von Beratung und Therapie bei Familien mit Säuglingen und Kleinkindern. Zunächst wird dabei kurz in das Themenfeld Evaluation eingeführt, bevor in einem weiteren Schritt ein allgemeines Evaluationsmodell für Beratung und Therapie vorgestellt wird. Dieses Evaluationsmodell wird dann in Zusammenhang mit der Beratung und Therapie von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern betrachtet. Anschließend werden die Evaluation kultursensitiver Beratung und Therapie und damit einhergehende Herausforderungen diskutiert. Ein Abschnitt mit Strukturierungshilfen zur Selbstevaluation für die eigene kultursensitive beraterische bzw. therapeutische Arbeit schließt das Kapitel ab.
8.1 Evaluation: Begriffsklärung Für Beratung und Therapie bei Familien mit Säuglingen und Kleinkindern besteht wie in allen Bereichen der psychosozialen Versorgung das Interesse und der Bedarf an Evaluation von Verläufen, Symptomreduktionen und allgemein der Zufriedenheit mit Beratungs- und Therapieprozessen. Im Beratungs- und Therapiekontext zählen zu den »Evaluationsgegenständen« Beratungs- und Therapieprozesse im Einzel- oder Gruppensetting, einzelne Methoden (z. B. Videointeraktionsanalysen), offene Sprechstunden, Onlineberatungen, Telefonberatungen, Gruppenangebote, Maßnahmen mit »Projektcharakter« wie etwa Präventionsprogramme für Kinder und Eltern sowie Trainings oder Fortbildungen für Multiplikatoren.
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Als Evaluation wird nicht nur die Bewertung eines Evaluationsgegenstandes bezeichnet, sondern darunter wird auch eine Untersuchung von Konzepten, Prozessen und Maßnahmen verstanden, die wissenschaftsgeleitet und datengestützt erfolgt (vgl. Mittag u. Hager, 2000; Patton, 1997; Wottawa u. Thierau, 2003). Der geeignetere Begriff wäre demnach eigentlich Evaluationsforschung, welcher den Einsatz sozialwissenschaftlicher Methoden und klarer Regeln bei der Bewertung von Evaluationsgegenständen mit einschließt (Suchman, 1967; Rossi u. Freeman, 1993). In diesem Kapitel wird der Begriff Evaluation synonym für den Begriff der Evaluationsforschung verwendet. Evaluationen können anhand verschiedener Dimensionen beschrieben werden (siehe auch Gollwitzer u. Jäger, 2007; Westermann, 2002; Wottawa u. Thierau, 2003), wobei die folgenden drei Dimensionen für den Beratungs- und Therapiekontext besonders wichtig sind: Evaluationen können sich darin unterscheiden, welcher Nutzen durch die Evaluationsergebnisse erwartet wird (Evaluationsfunktion). Evaluationen können weiterhin danach unterteilt werden, welche Ausrichtung in Hinblick auf den Durchführungsmodus gewählt wird sowie welche Rolle der Evaluator in der jeweiligen Beratungs- und Therapieeinrichtung hat. Bezug nehmend auf die Evaluationsfunktionen können nach Westermann (2002) folgende Funktionen formuliert werden: Erstens können Evaluationen als Entscheidungsstrategie oder abgeschwächt als Entscheidungsunterstützung genutzt werden, indem entscheidungsdienliche Erkenntnisse zu verschiedenen Alternativen gewonnen werden (z. B. »Soll unsere Beratungsstelle Onlineberatung anbieten oder wollen wir die Zeiten für die offene Sprechstunde erweitern?«, »Führt im Vergleich zu unserem bewährten Beratungsangebot auch das neue Konzept mit seiner kultursensitiven Ausrichtung dazu, dass Schwierigkeiten sich reduzieren, sich die Sichtweisen so verändern, dass die Familie gestärkt ist oder Ressourcen erschlossen werden, durch welche die Familie die Situation wieder gut allein bewältigen kann?«). Zweitens kann eine Evaluation dazu verwendet werden, Informationen für die Gestaltung und Verbesserung von Maßnahmen zu liefern, und verfolgt damit die Funktion einer Optimierungsgrund-
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
lage (z. B. »Was ist in den Beratungssitzungen mit den Eltern gut gelaufen, was ist schlecht gelaufen?«, »Was sind positive Bestandteile eines Erstgesprächs mit Familien?«). Drittens kann eine Evaluation zur Informationssammlung verwendet werden, um eine Beratungsoder Therapieeinrichtung und deren Maßnahmen zu bewerten (z. B. »Welche Beratungsanlässe gibt es in der Erziehungsberatungsstelle?«, »Wie lange sind die durchschnittlichen Wartezeiten für ein Erstgespräch?«, »Welche Klientengruppen erreichen wir mit unserem Beratungsangebot?«, »Wie viele Beratungs- und Therapieabbrüche gab es im letzten Jahr?«). Viertens kann Evaluation als strategisches Instrument eingesetzt werden. Diese Funktion kann relevant werden, um die Durchsetzung von Entscheidungen zu ermöglichen (z. B. »Soll die Anzahl der wenig genutzten Gruppenangebote für junge Eltern reduziert werden?«), aber auch, um die finanzielle Unterstützung von bestimmten Maßnahmen zu fördern (z. B. »Können mehr Eltern über Hausbesuche bei Regulationsproblemen ihrer Kinder unterstützt werden, sodass sich die Anschaffung einer mobilen Videotechnik zur Eltern-Kind-Interaktionsanalyse lohnt?«) sowie um die Verantwortung für wenig akzeptierte Entscheidungen zu delegieren bzw. diese zu rechtfertigen (z. B. »Ist der Einsatz eines kostspieligen und zeitaufwendigen Präventionsprogramms in Hinblick auf seine Wirksamkeit zu rechtfertigen?«). Bewährte Durchführungsmodi in Hinblick auf den Zeitpunkt der Evaluation sind die formativ angelegte und die summativ angelegte Evaluation. Als formative Evaluation (auch als Prozessevaluation oder dynamische Evaluation bezeichnet) werden Evaluationsvorhaben bezeichnet, die wiederholt und begleitend zu Beratungsoder Therapiemaßnahmen durchgeführt werden. Sie tragen dazu bei, Beratungs- und Therapiemaßnahmen zu verbessern, diese oder deren Rahmenbedingungen, Ziele oder Voraussetzungen zu verändern oder Veränderungen zu erklären (Spiel, Gradinger u. Lüftenegger, 2010; Westermann, 2002). Diese Ergebnisse sind somit unmittelbar für die praktische Arbeit der Beraterinnen oder Therapeuten bedeutsam. Für formative Evaluationen eignen sich Selbstevaluationen (Berater bzw. Therapeut evaluiert sich und seine Maßnahme selbst) und interne Evaluationen (Evaluation erfolgt über eine Kollegin aus derselben Einrichtung; Spiel, Lüftenegger, Gradinger u. Rei-
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mann, 2010). Es ist vorteilhaft, wenn ein Evaluator mit dem Evaluationsgegenstand gut vertraut ist, wenn er diesen formativ evaluiert. Die Datengrundlage ist hier häufig, aber nicht ausschließlich qualitativ (z. B. Interviews). Demgegenüber legt die summative Evaluation (oder Ergebnisevaluation) ihren Fokus darauf, die Qualität, die Wirksamkeit und die Effizienz einer Maßnahme zu beurteilen (Scriven, 1991; Westermann, 2002). Sie findet in der Regel am Ende einer Beratungs- oder Therapiemaßnahme statt, im Idealfall auch noch zu einem späteren Zeitpunkt (als sogenannte Follow-up-Messung). Die Evaluationsergebnisse werden dann mit Daten einer Baseline-Messung verglichen, die zu Beginn einer Beratungs- oder Therapiemaßnahme erfolgt ist. Für summative Evaluationen bieten sich externe Evaluationen (oder Fremdevaluationen) an, der Fokus liegt zumeist auf quantitativen Daten (z. B. erfasst über standardisierte Fragebögen). Externe Evaluationen werden in der Regel von Personen, die nicht direkt an der Maßnahme beteiligt sind, aber in Beziehung zur Einrichtung stehen, oder durch institutionsunabhängige Expertinnen und Experten durchgeführt (Westermann, 2002). Die Ergebnisse summativer Evaluationen können an die Leitung einer Beratungs- oder Therapieeinrichtung rückgemeldet und herangezogen werden, um für künftige Maßnahmen Verbesserungen anzuregen.
8.2 Evaluationsmodell für den Beratungsund Therapiekontext In der Literatur findet sich eine große Anzahl an Evaluationsmodellen, die unterschiedlich theoretisch verortet und für vielfältige Einsatzmöglichkeiten geeignet sind (für eine Übersicht siehe z. B. Stufflebeam, 2001; Soellner, 2010). Ein Evaluationsmodell, das sich für die Anwendung im Beratungs- und Therapiekontext eignet, ist das nutzenorientierte Evaluationsmodell von Kirkpatrick und Kirkpatrick (2006), welches ursprünglich für die Evaluation von Trainingsmaßnahmen bzw. -programmen entwickelt wurde. Das Modell sieht eine Evaluation auf vier hierarchisch angeordneten Ebenen vor (siehe Abbildung 7; siehe auch Atria et al., 2006; Kirkpatrick u. Kirkpatrick, 2006). Die vier Ebenen werden im Folgenden beschrieben.
Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
Ebene der Ergebnisse Mittel und langfristige Veränderungen in der Beratungs- und Therapieeinrichtung
Systemperspektive
210
Ebene des Lernens Veränderungen von Einstellungen Erweiterung von Wissen und Kompetenzen
Klientenperspektive
Ebene des Verhaltens Veränderungen des Verhaltens und Transfer auf andere Situationen Umsetzung der Verhaltensänderungen im Alltagskontext
Ebene der Reaktionen Klientenzufriedenheit Akzeptanz der Beratungs- oder Therapiemaßnahme
Abbildung 7: Auf den Beratungs- und Therapiekontext adaptiertes nutzenorientiertes Evaluationsmodell nach Kirkpatrick und Kirkpatrick (2006)
Die erste Ebene ist die Ebene der Reaktionen. Evaluation auf dieser Ebene bedeutet die Erfassung der Zufriedenheit der Klientinnen und Klienten mit der Beratung bzw. Therapie sowie die Messung der Akzeptanz des Beratungs- und Therapieangebots. Ausreichend hohe Zufriedenheit und Akzeptanz stellen eine wesentliche Voraussetzung für die aktive Beteiligung im Beratungs- und Therapieprozess dar. Diese beiden Faktoren sind somit entscheidende Bedingungen für mögliche Veränderungen bei den Klienten. Allerdings zeigen sich nicht bei jedem zufriedenen Klienten zwangsläufig auch Beratungsund Therapieeffekte.
Evaluation von Beratung und Therapie211
Die nächste Ebene ist der Reaktionsebene hierarchisch übergeordnet und betrifft die Ebene des Lernens. Wird auf dieser Ebene evaluiert, dann liegt der Fokus auf Veränderungen in drei Bereichen: erstens Einstellungen (z. B. in Bezug auf den Problemanlass, in Bezug auf die Änderungsmotivation), zweitens Wissen und drittens (Bewältigungs-)Kompetenzen. Ab der Ebene des Lernens ist eine zentrale Frage, was den eigentlichen Beratungs- und Therapieerfolg darstellt und wie dieser definiert sein soll (siehe auch Vossler, 2006). Beratung und Therapie ist stets individuellen Klientinnen und Klienten gewidmet, die einzigartige und vielschichtige Anliegen haben. Damit kann auch Beratungs- bzw. Therapieerfolg sehr heterogen sein. Die Bestimmung, was auf der Lernebene als Beratungs- oder Therapieerfolg gewertet wird, obliegt subjektiver Schwerpunktsetzung in Abhängigkeit von Problemanlass und dem, was als Beratungs- oder Therapieziel definiert wurde. Neben Veränderungen auf der Lernebene sind Verhaltensänderungen, die nicht nur im Beratungs- oder Therapiesetting, sondern auch im Alltag umgesetzt werden können, aus Klienten- und Berater-/Therapeutenperspektive von Interesse. Diese Verhaltensänderungen werden auf der Ebene des Verhaltens evaluiert. Ob Verhaltensänderungen im Alltag passieren, hängt nicht nur von den Voraussetzungen auf der Lernebene ab – das heißt Einstellungs-, Wissens- und Kompetenzänderungen –, sondern auch davon, ob das soziale Umfeld diese Änderungen zulässt und ob sich die Veränderungen für die Klienten als lohnend erweisen. Kirkpatrick und Kirkpatrick (2006) haben für den Arbeitskontext verschiedene Reaktionsmöglichkeiten der sozialen Umwelt (im Speziellen der oder des Vorgesetzten) formuliert, die auch auf das soziale Umfeld von Klienten übertragbar sind. Personen aus dem sozialen Umfeld der Klientinnen und Klienten können den angestrebten Verhaltensänderungen verhindernd, entmutigend, neutral oder unterstützend gegenüberstehen. Die vierte Ebene ist die Ebene der Ergebnisse. Diese Ebene umfasst die Messung mittel- und langfristiger Veränderungen auf Systemebene, welche auf einem anderen Abstraktionsniveau zu erheben sind bzw. nicht in direkter Verbindung zu einzelnen Beratungs- oder Therapieverläufen stehen (z. B. Anzahl von Beratungsabbrüchen pro
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
Jahr, Inanspruchnahmeraten bestimmter Beratungs- und Therapieangebote in verschiedenen Klientengruppen, Rate der Wiedervorstellungen). 8.2.1 Anwendung des Evaluationsmodells auf die Beratung und Therapie mit Familien In der Anwendung des Evaluationsmodells von Kirkpatrick und Kirkpatrick (2006) auf die Beratungs- und Therapiearbeit mit Familien ist die Frage zentral, welche Veränderungen angestrebt werden und wie diese konkret gemessen werden können. Es bestehen auf jeder Ebene unterschiedliche Schwerpunkte. Auf der Ebene der Reaktionen interessiert, inwieweit Familien mit dem Beratungs- und Therapieangebot zufrieden sind bzw. wie gut sie es annehmen können. Auf der Ebene des Lernens kann relevant sein, ob sich die Einstellungen hinsichtlich des kindlichen Verhaltens (z. B. »Mein Kind schreit nicht, um mich zu ärgern«) bzw. – noch allgemeiner – hinsichtlich des Problems und der Änderungsmotivation verändert haben (»Ich sehe ein, dass es für mein Kind nicht gut ist, wenn ich so viel mit ihm schimpfe. Ich möchte daran arbeiten, das zu ändern«). Auch kann problemrelevantes entwicklungspsychologisches Wissen durch Psychoedukation erweitert worden sein (z. B. »Viele Kinder schlafen mit einem halben Jahr noch nicht durch«) oder eine Stärkung elterlicher Kompetenzen erfolgt sein (z. B. »Ich kann nun die Feinzeichen von Belastetheit erkennen und feinfühliger auf mein Kind reagieren«). Veränderungen auf der Ebene der Reaktionen können gut mit katamnestischen (Telefon-)Interviews (siehe z. B. Schulz u. Schmidt, 2004) gemessen werden. Mit standardisierten Fragebögen lassen sich sowohl Veränderungen auf der Ebene der Reaktionen als auch auf der Ebene des Lernens abbilden. Als standardisierte Fragebögen können im deutschsprachigen Raum beispielhaft zwei Instrumente genannt werden: zum einen der Fragebogen zur Erziehungs- und Familienberatung (FEF; Vossler, 2001; für das vollständig publizierte Verfahren siehe Vossler, 2003), zum anderen der Fragebogen zur Beurteilung der Behandlung (FBB; Mattejat u. Remschmidt, 1998). Der Fragebogen zur Erziehungs- und Familienberatung (FEF) erfasst rückblickend die Einschätzungen der Klientinnen und Klienten zum
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Beratungszugang, zum Beratungsprozess, zu Effekten der Beratung und zur Zufriedenheit mit der Beratung. Für den FEF sind zufriedenstellende psychometrische Qualitäten dokumentiert (Vossler, 2001). Das weitere standardisierte Instrument, der Fragebogen zur Beurteilung der Behandlung (FBB; Mattejat u. Remschmidt, 1998), liegt zur Evaluation des Verlaufs und des Erfolgs von Beratung bzw. Therapie in drei verschiedenen Ausfertigungen vor: eine zur Erfassung der Einschätzung des Therapeuten bzw. der Beraterin, eine für die Eltern und eine für das Kind. Einschränkend ist zu betonen, dass es gedacht ist, dass erst Kinder ab zwölf Jahren den entsprechenden Fragebogen ausfüllen. Im Rahmen der Beratung und Therapie von Familien mit jüngeren Kindern sind folglich nur die Therapeutenund die Elternversion verwendbar. Der Erfolg der Beratung bzw. Therapie wird in dem FBB auf individueller Ebene und auf der Ebene der Familienbeziehungen beurteilt. Auf der Ebene des Verhaltens sind zwei Aspekte zentral: Hat sich das kindliche Problemverhalten reduziert? Und konnte das Bewältigungsverhalten aufseiten der Eltern verbessert werden? Konkrete Themen können hierbei sein, inwieweit das Kind nach der Beratung oder Therapie weniger schreit und länger durchschläft, inwieweit die Eltern im Alltag einen Umgang mit dem Kind finden konnten, der für sie weniger belastend ist, und ob seltener sogenannte Teufelskreise in der Interaktion auftreten. Für die methodische Umsetzung einer Evaluation auf Verhaltensebene ist ein multiperspektivischer Ansatz empfehlenswert. Durch diesen werden Informationen von verschiedenen direkten (Eltern, Kind, Berater bzw. Therapeutin) und indirekten Beteiligtengruppen (z. B. weitere Familienmitglieder, Erzieherinnen, Kinderärztin) über Befragungen und Beobachtungen oder über standardisierte Verfahren erhoben (Soellner, 2010). Über standardisierte Verfahren können beispielsweise von den Eltern Informationen zum Schrei- und Schlafverhalten zu Beginn und gegen Ende der Beratung bzw. Therapie erfasst werden (z. B. mit einem 24-Stunden-Protokoll oder mit der Parental Interactive Bedtime Behavior Scale; Morrell u. Cortina-Borja, 2002). Veränderungen in den Schreihäufigkeiten, Tag- und Nachtschlafzeiten und in der Nutzung von Beruhigungsmethoden können damit dokumentiert und für Evaluationen genutzt werden. Maße zur Partnerschafts-
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
qualität oder zum elterlichen Wohlbefinden liefern indirekte Überprüfungskriterien, die darüber Aufschluss geben, ob Beratungs- und Therapieziele auf der Verhaltensebene erreicht wurden. Neben der eigentlichen Beratung und Therapie sind immer auch andere Einflussfaktoren in der Evaluation von Beratungs- und Therapieprozessen von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern mit zu berücksichtigen, um eintretende oder ausbleibende Veränderungen auf der Zufriedenheits-, Lern- oder Verhaltensebene erklären zu können (siehe auch Vossler, 2003). Bei Säuglingen und Kleinkindern spielen biologische Reifeprozesse eine bedeutsame Rolle, beispielsweise bei der Veränderung des Schreiverhaltens in den ersten Monaten oder bei der Verbesserung des Tag-Nacht-Rhythmus. Bei der Mutter können beispielsweise hormonelle Umstellungen in den ersten Monaten nach der Geburt das Ausmaß der Belastbarkeit und die Bewältigungsressourcen verändern. Auch können außerhalb der Beratung bzw. Therapie liegende familienspezifische Faktoren einen Einfluss haben, etwa kurzfristige Erkrankungen oder kritische Lebensereignisse (chronische Erkrankungen, Trennung/Scheidung, Todesfall, Umzug, Arbeitsverlust usw.). Auf der Ebene der Ergebnisse interessieren Resultate, die große Einheiten betreffen, wie mehrere Erziehungsberatungsstellen eines bestimmten Trägers oder psychosoziale Hilfesysteme für frühe Hilfen. Die Erfassung von Veränderungen erfolgt in der Regel in quantitativer, aggregierter Form. Eine Studie, die die Beratung von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern evaluiert hat, wurde von Jutta Beermann (2010) durchgeführt. Die Fragestellungen der Evaluation können den Ebenen des Modells nach Kirkpatrick und Kirkpatrick (2006) zugeordnet werden. Die Studie soll an dieser Stelle illustriert werden (siehe Kasten 2).
Evaluation von Beratung und Therapie215
Kasten 2: Evaluative Einzelfallanalysen: Eine interne Evaluation von Beratungsgesprächen der Babysprechstunde Osnabrück (Beermann, 2010) Die seit 1999 an der dortigen Universität etablierte Babysprechstunde Osnabrück ist ein Beratungsangebot für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern. Die Beratung ist systemisch-humanistisch ausgerichtet und theoretisch in einem nicht normativen Entwicklungskonzept verankert. Ziel der Evaluationsstudie war es, die Zufriedenheit der Klientinnen und Klienten mit der Beratung, Veränderungen des kindlichen Verhaltens und des elterlichen Befindens vor und nach Beendigung der Beratung zu untersuchen. Insgesamt fünf Familien konnten für die Teilnahme an der Studie gewonnen werden. Die Beratungsanlässe der Familien waren Probleme mit dem kindlichen Schreiverhalten und Ein- und Durchschlafschwierigkeiten. Zur Untersuchung der Klientenzufriedenheit (Ebene der Reaktionen) wurde eine adaptierte Fassung der Fragebögen zur Beurteilung der Behandlung (FBB; Mattejat u. Remschmidt, 1998) eingesetzt. Zur Erfassung des elterlichen Befindens wurden anamnestische Informationen sowie standardisierte diagnostische Verfahren zur Erfassung der Lebenszufriedenheit und depressiver Symptome verwendet. Um Informationen zum kindlichen Problemverhalten zu bekommen, füllten die Eltern einen Fragebogen zum Schreiund Schlafverhalten (Parental Interactive Bedtime Behavior Scale; Morrell u. Cortina-Borja, 2002) und ein 24-Stunden-Protokoll aus. Auf der Ebene der Reaktionen erbrachte diese Studie den Befund, dass alle Familien mit der Beratung zufrieden waren, obwohl sogar eine der Familien die Beratung nach zwei Sitzungen abgebrochen hat. Auf der Lernebene können Veränderungen hinsichtlich der Einstellungen der Eltern zum kindlichen Verhalten (z. B. das Schrei- und/oder Schlafverhalten wird als weniger problematisch erlebt) und der Stärkung der Bewältigungskompetenzen (z. B. mehr Sicherheit und Zutrauen in eigene Kompetenzen) dokumentiert werden. Auf der Ebene des Verhaltens zeigten sich bei zwei Familien deutliche Verbesserungen dahingehend, dass sich die Schreihäufigkeit und -dauer verringerte und sich der Schlaf-Wach-Rhythmus wunschgemäß regulierte. In diesen Familien verbesserte sich auch die elterliche Befindlichkeit. Bei zwei Familien waren teilweise Verbesserungen auf der Verhaltensebene festzustellen. Eine weitere Familie hat die Beratung abgebrochen.
Das nutzenorientierte Evaluationsmodell eignet sich auch für die Evaluation kultursensitiver Beratung und Therapie, wobei sich hier zusätzliche bedeutsame Herausforderungen ergeben, die im folgenden Abschnitt diskutiert werden.
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
8.2.2 Herausforderungen in der Evaluation kultursensitiver Beratung und Therapie Drei wichtige Herausforderungen in der Evaluation kultursensitiver Beratungs- und Therapiearbeit bestehen darin, festzulegen, was als Beratungs- oder Therapieerfolg gewertet wird, wie dieser gemessen wird und welche externen Einflüsse, die zusätzlich veränderungswirksam werden, in welchem Ausmaß zu berücksichtigen sind (siehe auch allgemeine Herausforderungen der Erziehungsberatung in Vossler, 2006). Definition von Beratungs- und Therapieerfolg
Im Rahmen einer kultursensitiven Beratung oder Therapie ist es wichtig, eine Erfolgseinschätzung vor dem Hintergrund des jeweiligen kulturspezifischen Ideals der Klientin oder des Klienten vorzunehmen. So sind Erfolgsindikatoren, die in autonomieorientierten Familien möglicherweise erstrebenswert sind (z. B. das Kind schläft im eigenen Bett die ganze Nacht durch), nicht automatisch auf verbundenheitsorientierte Familien zu übertragen. Eine durch Beratung und Therapie erzielte Annäherung an ein normatives Ideal kann eine erfolgreiche Entwicklung im Beratungs- bzw. Therapieprozess sein, wenn diese von den Familien gewünscht ist, darf aber nicht als verallgemeinerndes Erfolgskriterium für Evaluationen formuliert werden. Folglich ergibt sich daraus die Notwendigkeit, für die Evaluation kultursensitiver Beratung Erfolgsindikatoren festzulegen, die für Familien mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen gleichwertige Gültigkeit besitzen. Einen Ansatzpunkt für die Definition von Erfolgskriterien können die von Grawe, Donati und Bernauer (1994) formulierten allgemeinen Wirkfaktoren einer Therapie liefern. Diese beziehen sich auf 1) die Erhöhung von Bewältigungskompetenzen, 2) die Klärung und Veränderung von Bedeutungen für Erleben und Verhalten, 3) die Problemaktualisierung und 4) auf die Aktivierung von Ressourcen. Dementsprechend kann eine Beratung bzw. Therapie dann als erfolgreich gewertet werden, wenn es beispielsweise den Eltern gelingt, einen für sie stimmigen und hilfreichen Umgang mit dem Kind zu finden, um Zeichen von Belastetheit zu verringern. Beratung kann auch dann erfolgreich sein, wenn sich Eltern durch Informationen über kulturspezifische
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Entwicklungspfade entlastet fühlen, weil ihr Elternverhalten nicht mehr als Normabweichung bewertet wird, sondern als alternatives entwicklungsförderliches Elternverhalten. Messung von Zufriedenheit und Erfolg in Bezug auf Beratung und Therapie
Auf den Ebenen der Reaktionen und des Lernens betrifft ein Aspekt den Einsatz standardisierter Instrumente zur Erfassung der Zufriedenheit und des Erfolgs von Beratung und Therapie. Die Fragebögen zur Erziehungs- und Familienberatung (FEF; Vossler, 2001, 2003) und der Fragebogen zur Beurteilung der Behandlung (FBB; Mattejat u. Remschmidt, 1998) bieten zweifellos Vorteile, weisen aber für ihren Einsatz in der Evaluation kultursensitiver Beratung und Therapie Grenzen auf. Der Fragebogen zur Erziehungs- und Familienberatung wurde an Stichproben von Familien geprüft, die Erziehungs- und Familienberatung in Deutschland aufsuchten. Die Skala zur Beratungszufriedenheit stammt aus der deutschen Übersetzung des Client Satisfaction Questionnaire (CSQ-8; Larsen, Attkisson, Hargreaves u. Nguyen, 1979), welcher international zur Erfassung von Behandlungszufriedenheit eingesetzt wird. Für den Einsatz des gesamten FEF in der kultursensitiven Beratung und Therapie kann über Grenzen und offene Fragen diskutiert werden, die bislang noch nicht empirisch geklärt wurden. Ein kritischer Punkt ist in den sprachlichen Anforderungen zu sehen, die der FEF an die Klientinnen und Klienten stellt. Die Bearbeitung des FEF setzt sehr gute Deutschkenntnisse in Wort und Schrift voraus. Jede Skala wird mit einer ausführlichen Anleitung eingeleitet, der Gesamtfragebogen beinhaltet über fünfzig Fragen mit verschiedenen Varianten geschlossener Antwortformate und 13 offene Fragen, die im Freitext beantwortet werden sollen. Außerdem sollte die Bereitschaft gegeben sein, sich mit einem mehrseitigen Fragebogen auseinanderzusetzen, bei dem eine retrospektive, reflektierte Beschäftigung anhand verschiedener Dimensionen erforderlich ist. Zwar wurde der FEF an Stichproben mit diversen Bildungshintergründen eingesetzt, aber Personen nicht deutscher Nationalität sind unterrepräsentiert (ca. 2 %). Systematische Studien zur Anwendung des FEF in unterschiedlichen kulturellen Kontexten fehlen.
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
Bei näherer Betrachtung der Fragen im FEF ist es plausibel, anzunehmen, dass viele von ihnen für den Einsatz im kultursensitiven Kontext geeignet sind. Einige von ihnen könnten jedoch problembehaftet sein. So setzen beispielsweise die Fragen zu den Beratungserwartungen und -bedenken (Skala Beratungszugang) ein vorab bestehendes Problembewusstsein voraus, was gerade bei Zuweisung oder Empfehlung durch Dritte nicht gegeben sein muss. Des Weiteren wird über die Skala Beratungsprozess von den Klienten erwartet, direkte, persönliche Bewertungen der Beraterin oder des Beraters vorzunehmen, was für Menschen schwierig sein kann, die im Berater oder Therapeuten eine Autorität sehen. Auch erhebt der Fragebogen Informationen zu gefühlsbetonten Einschätzungen, die von verbundenheitsorientierten Familien in diesem Kontext als wenig passend bzw. ungewohnt empfunden werden könnten. Die genannten Einschränkungen zum FEF bezüglich des vorausgesetzten Problembewusstseins, der direkten persönlichen Bewertung des Beraters bzw. der Therapeutin und der gefühlsbetonten Einschätzungen gelten auch für die Elternversion des FBB (FBB-E), obgleich dieser Fragebogen mit 21 geschlossenen Items sprachlich und zeitlich weit weniger anforderungsreich ist. Als Fazit ist festzuhalten, dass im deutschsprachigen Raum ein eklatanter Mangel an kultursensitiven Instrumenten besteht und auch eine systematische Anwendungsprüfung etablierter Verfahren in anderen kulturellen Kontexten fehlt. Weiterhin sind zur Evaluation kultursensitiver Beratung und Therapie auch kultursensitive diagnostische Testverfahren bzw. Einschätzungsmöglichkeiten erforderlich, da viele Überprüfungskriterien nicht universell gültig sind (siehe auch Kapitel 2 in diesem Buch). Beratungs- und therapieexterne Einflussfaktoren
In der Beratung und Therapie von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern gibt es, wie oben angeführt, weitere mit der Beratung und Therapie nicht unmittelbar in Verbindung stehende Einflussfaktoren, beispielsweise Reifeprozesse beim Kind, die generell mit zu berücksichtigen sind, wenn Veränderungen auftreten. Bestimmte Einflüsse sind jedoch bei verbundenheitsorientierten Familien üblicherweise anders ausgeprägt als bei autonomieorientierten Familien.
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Das betrifft das Ausmaß an sozialer Unterstützung und Lenkung durch andere Familienmitglieder oder familiäre Rollenerwartungen und Verpflichtungen. Eine ausgeprägte Orientierung oder eine zu geringe Orientierung am familiären sozialen Umfeld und dessen Reaktionen kann daher maßgeblich sein, welche Beratungs- und Therapieeffekte erzielbar sind. Daneben sind beratungs- und therapiebezogene Faktoren relevant, die nicht nur individuell, sondern auch in Abhängigkeit von der kulturellen Orientierung variieren können. Dazu gehören Erwartungen, die Familien an die Beratung oder Therapie haben, oder die Gründe, eine professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zur Abklärung dieser Faktoren bietet zum einen das in Kapitel 6 dargestellte Beratungsprozessmodell Orientierung, zum anderen die in diesem Kapitel dargestellte Strukturierungshilfe zur Dokumentation der Einflussfaktoren in Gesprächen. Neben diesen beiden allgemeinen Herausforderungen sind auf jeder Ebene nach Kirkpatrick und Kirkpatrick (2006) weitere Aspekte kritisch zu beleuchten.
8.3 Selbstevaluation: Reflexion, Bewertung und Verbesserung Bisher lag der Fokus auf der Zufriedenheit und Akzeptanz, den Veränderungen und Erfolgen von Beratung und Therapie bei den Klientinnen und Klienten (Klientenperspektive) sowie der psychosozialen Systeme/Einrichtungen (Systemperspektive). Der folgende Abschnitt widmet sich der Frage, wie ein Berater bzw. Therapeut seine professionelle kultursensitive Arbeit selbst evaluieren kann. Eine Beraterin bzw. Therapeutin kann aus ihren Erfahrungen im professionellen Kontakt mit Familien aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten fortwährend lernen, indem sie sich einem »Prozess der Reflexion, Bewertung und Verbesserung« (auch als »evaluative Haltung« bezeichnet; Atria et al., 2006, S. 582) unterzieht. Der Dreischritt aus Reflexion, Bewertung und Verbesserung ist als sich wiederholendes, zirkuläres Konzept zu verstehen. Dieses kann somit zu einem beständigen Wegbegleiter professioneller Beratungs- und Therapiearbeit werden. Für diesen Prozess bedarf es systematischer Dokumentationen von Beratungs- bzw. Therapiesitzungen. Diese erleichtern auch
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
in Intervisions- und Supervisionssitzungen die Fallbesprechung. Zu diesem Zweck wurden in diesem Buch allgemeine Strukturierungshilfen für Beratungsgespräche (siehe Straumann, 2001) auf ihre Passung für den Kontext der Beratung und Therapie von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern geprüft und adaptiert. In dieser Form können die in den Kästen 3–5 dargestellten Strukturierungshilfen zur Selbstevaluation eingesetzt werden. Schritt I: Reflexion In einem ersten Schritt geht es darum, die Inhalte und Erfahrungen aus den Kontakten mit der Familie zu reflektieren und systematisch zu dokumentieren. Das Beratungsprozessmodell sieht zu Beratungsbzw. Therapiebeginn eine Klärung kulturspezifischer Vorstellungen und Erwartungen vor bezüglich a) des idealen Kindes und optimalen Elternverhaltens, b) bezüglich des Problemverhaltens und dessen Korrekturbedürftigkeit und c) der sozialen Unterstützung und Entlastungsstrukturen. Die ersten Kontakte ermöglichen auch Einschätzungen darüber, welche Erwartungen an den Berater bzw. die Therapeutin gerichtet werden und welche Form der Kontaktgestaltung günstig ist. Im weiteren Verlauf ist es wichtig, eine Auseinandersetzung der Familie mit ihrem (kultur)spezifischen Ideal, mit den Möglichkeiten ihrer Lebenswelt sowie mit normativen Angeboten und Perspektiven zu gestalten, bevor konkrete Interventionen erarbeitet oder vorgeschlagen werden. Die Reflexion von Interventionsvorhaben und -durchführungen kann ebenfalls Bestandteil der Selbstevaluation sein. Die Strukturierungshilfe in Kasten 3 beinhaltet Fragen zu diesen Themenbereichen. Kasten 3: Strukturierungshilfe zur Reflexion der Gespräche mit den Eltern (adaptiert nach Straumann, 2001, S. 114 f.) KLÄRUNG DES ANLIEGENS Vorstellungen und Erwartungen bezüglich des idealen Kindes und optimalen Elternverhaltens •• Welche Vorstellungen und Erwartungen bezüglich des idealen Kindes und optimalen Elternverhaltens habe ich wahrgenommen? •• Welche Wünsche habe ich bei den Eltern wahrgenommen? •• Worüber freuen sich die Eltern (in Zusammenhang mit dem Kind)?
Evaluation von Beratung und Therapie221
Vorstellungen und Erwartungen bezüglich des beschriebenen Problemverhaltens und dessen Korrekturbedürftigkeit •• Welche Probleme wurden von den Eltern genannt? •• Welche problembezogenen Informationen wurden mir von den Eltern mitgeteilt/habe ich erfragt? •• Welche Gefühle wurden von den Eltern bezogen auf das Problem direkt geäußert? •• Welche Gefühle habe ich wahrgenommen? Vorstellungen und Erwartungen bezüglich sozialer Unterstützungsstrukturen •• Welche Personen wurden in Zusammenhang mit dem Problem benannt? •• Welche Personen aus dem sozialen Umfeld oder Fachkräfte wurden hinsichtlich möglicher Problemlöseschritte benannt? FIT-MISFIT-ANALYSE Fit-Misfit mit der Lebenswelt und normativen Angeboten/Perspektiven •• Was habe ich verstanden aus den Äußerungen der Eltern über ihr Erleben, ihre Lebenswelt, ihre verstandesmäßigen und verhaltensbezogenen Erfahrungen? •• Wo und wie kollidieren aus der Sicht der Eltern persönliche Bedürfnisse, Ideale, Vorstellungen mit real gemachten Erfahrungen? BERATUNGSGESTALTUNG Kontaktgestaltung •• Welche Aussagen werden vonseiten der Eltern zu mir als Beraterin/Therapeut und zu unserer Beziehung gemacht? •• Wie erlebe ich die Kontaktgestaltung durch die Familie? •• Welche Erwartungen, Wünsche, Ängste verbunden mit mir als Beraterin/ Therapeut werden geäußert? •• Welche Aussagen/Verhaltensweisen deuten auf eine Vertrauensebene hin? INTERVENTION Gibt es Äußerungen, die auf persönliche Stärken hindeuten, die die Eltern bei sich sehen? •• Welche Äußerungen deuten veränderungsorientierte, aktive und konstruktiv-fördernde Impulse an? •• Wo deuten sich eigene Aktivitäten hinsichtlich der Problembewältigung an? •• Auf welche Interventionen reagieren die Eltern positiv und konstruktiv? •• Auf welche Interventionen reagieren die Eltern negativ und ablehnend?
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Teil II: Kultursensitive Beratung und Therapie: Praktische Umsetzung
Schritt II: Bewertung
Auch die Beraterin bzw. Therapeutin ist gefordert, sich ihrer eigenen (kultur)spezifischen Ideale gewahr zu sein und zu reflektieren, inwieweit diese sie in ihrer professionellen Arbeit und insbesondere in ihrer Wertschätzung und Akzeptanz der Klientinnen und Klienten beeinflussen. Hier erfolgt eine Bewertung eigener Ansichten vor dem Hintergrund ihrer Relevanz für das professionelle Handeln. Um diese transparent in einer Selbstevaluation bearbeiten zu können, bietet die Strukturierungshilfe in Kasten 4 Leitfragen, die diese Bewertung anregen. Kasten 4: Strukturierungshilfe zur Bewertung der Gespräche mit den Klientinnen und Klienten (adaptiert nach Straumann, 2001, S. 114 f.) •• Welche Ideale und Vorstellungen prägen mich hinsichtlich meiner Einschätzung von optimaler Kindesentwicklung und optimalem Erziehungsverhalten? Wie haben mich diese Ideale und Vorstellungen in der spezifischen Beratungs-/Therapiesitzung beeinflusst? •• In welchen Bereichen brauche ich zum individuellen (kultur)spezifischen Ideal der Eltern noch mehr Informationen, um sie in ihrem Lebenskontext besser verstehen zu können? •• Welche Gefühle hat es meinerseits den Eltern gegenüber gegeben? Konnte ich ihnen mit positiver Beachtung und Wertschätzung begegnen? •• Wie verstehe ich meine Funktion, meine Möglichkeiten und Grenzen in der Arbeit mit den Eltern? Welche Grenzen habe ich in der spezifischen Beratungs-/Therapiesitzung wahrgenommen? •• Welche Schwerpunkte setze ich speziell bei diesen Eltern und warum? •• Wie beurteile ich das Anliegen der Eltern aus einer problemspezifischen Perspektive? •• Wie beurteile ich das Anliegen der Eltern aus einer normativen/kulturellen Perspektive? •• Wie habe ich den Kontakt zu den Eltern erlebt? •• Wie schätze ich die Entwicklungschancen/Selbsthilfepotenziale/Bewältigungskompetenzen der Eltern im Rahmen der Beratung bzw. Therapie ein? •• Wo gingen Initiativen und direkte Hilfen von mir aus? Welche und warum? •• Welche entwicklungspsychologischen Informationen habe ich vermittelt und warum?
Schritt III: Verbesserung
In der Auseinandersetzung mit der Reflexion der Inhalte und Erfahrungen der Kontakte mit den Familien und der Bewertung eigener
Evaluation von Beratung und Therapie223
Ansichten sollen Bereiche beleuchtet werden, die in der kultursensitiven Arbeit mit Familien verbessert werden können. Auf diese Weise können Ansatzpunkte verdeutlicht werden, die es ermöglichen, einen Beitrag zur beständigen professionellen Weiterentwicklung in der individuellen Arbeit mit jeder Familie zu leisten. Kasten 5 beinhaltet Orientierungsfragen, die zur Ableitung von Weiterentwicklungsmöglichkeiten beitragen. Kasten 5: Strukturierungshilfe zur Erarbeitung von Verbesserungsmöglichkeiten für die Gespräche mit den Klientinnen und Klienten (adaptiert nach Straumann, 2001, S. 114 f.) •• Worauf muss ich im nächsten Gespräch besonders achten? Was muss ich anders machen, was behalte ich bei? •• Welche Schwächen kenne ich von mir, und welche kamen in der Beratungs-/Therapiesitzung zum Tragen? •• In welchen Bereichen benötige ich noch mehr Wissen (normative Modelle, Wissen um kulturelle Modelle und deren Konsequenzen für die kindliche Entwicklung usw.)? •• Wo besteht Verbesserungsbedarf bei meinen methodischen Kompetenzen?
Durch ein beständiges Lernen aus Erfahrungen mit Klienten aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten erfährt nicht nur der Berater oder die Therapeutin eine professionelle Weiterentwicklung. Es profitieren auch die Klientinnen und Klienten durch eine Beratung und Therapie, die ihre Anliegen, Erwartungen und Bedürfnisse individueller berücksichtigt.
Abschluss und Ausblick
Das Buch soll den aktuellen Stand der Erkenntnisse aus der kulturvergleichenden Familienforschung abbilden und deren Bedeutung für Beratungs- und Therapieprozesse mit Eltern von Säuglingen und Kleinkindern darstellen. Daraus wird der Entwurf einer kultursensitiven Arbeit abgeleitet und beschrieben. Wir haben dabei Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie, der klinischen Psychologie, der Beratungspsychologie und der kulturvergleichenden Psychologie miteinander in Bezug gesetzt. Zentral ist aus unserer Sicht, dass bei einer konsequenten und systematischen Berücksichtigung des Wissens um unterschiedliche kulturgebundene Entwicklungspfade eine Relativierung von vermeintlich universell geltenden psychologischen Theorien, Modellen und Konzepten vorzunehmen ist. Darauf aufbauend ergeben sich neue Herausforderungen für die Einordnungen von elterlichen und kindlichen Verhaltensweisen sowie in Bezug auf gemeinsame Interaktions- und Regulationsprozesse. Dies hat folglich auch Auswirkungen auf die Definitionen von Pathologien und die ihnen zugrunde liegenden diagnostischen Konzepte. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse und Ableitungen und mit dem Wissen über unterschiedliche kulturelle Konzepte, Erwartungen und Erfahrungen hinsichtlich der Kommunikation, des Umgangs mit Emotionen und persönlichen Themen sowie der Kontaktgestaltung in Beratungs- bzw. Therapiesituationen wurde ein Modell zum möglichen Ablauf einer kultursensitiven Arbeit mit Familien mit Säuglingen und Kleinkindern entwickelt. Kennzeichnende Elemente für den Beratungs- bzw. Therapieprozess sind dabei die Klärung des Anliegens unter Einbezug des kulturellen Hintergrundes der Familie. Weiterhin kommt der Fit-Misfit-Analyse und Zieldefinition eine zentrale Bedeutung zu. Hier findet ein Abgleich zwischen dem (kultur)spezifischen Ideal der Familie und ihrer aktuellen Lebenswelt sowie den normativen Sichtweisen der Aufenthaltskultur statt, um so zu realistischen und für die Familie stimmigen
Abschluss und Ausblick225
und förderlichen Zielen gelangen zu können. Bei der Beratungsgestaltung kommen zudem einer kultursensitiven Settinggestaltung und der Berücksichtigung von möglicherweise vorhandenen Erfahrungen und Belastungen durch Migrationsprozesse wichtige Rollen zu. Aus diesen Aspekten kann dann in Abstimmung mit der Familie sowie bezogen auf den individuellen Einzellfall eine Interventionsplanung und -durchführung gestaltet werden. Im Buch wird diese bezogen auf drei ausgewählte häufige Beratungs- und Therapieanlässe von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern erörtert. Querschnittlich und ergänzend zu diesen Prozesselementen werden eine kultursensitive Haltung, das Wissen um kulturelle Unterschiede und Methodenkompetenzen, die ein variables Eingehen auf unterschiedliche Familien ermöglichen, als bedeutsam für eine kultursensitive Beratungs- bzw. Therapiearbeit dargestellt. Das Buch ist als Startpunkt eines umfassenden Ansatzes einer kultursensitiven Beratungs- und Therapiearbeit mit Eltern von Säuglingen und Kleinkindern zu verstehen. Es bedarf in Zukunft einer weiterführenden Erprobung und Fortentwicklung sowie der empirischen Überprüfung des erwarteten Nutzens für die in dieser Form vorgeschlagene systematische Berücksichtigung und Einbeziehung von kultureller Vielfalt. Wir hoffen, mit dem Buch einen Teil zur Diskussion und zur Weiterentwicklung von Beratungs- und Therapieansätzen beigetragen zu haben. Wir würden uns freuen, wenn die hier vorgestellten Befunde, Konzepte, Überlegungen und Ansätze Anregungen für Wissenschaftler und Praktiker aus unterschiedlichen Fächern und Disziplinen bzw. mit unterschiedlichen Ausrichtungen bieten und zu einer aktiven Auseinandersetzung damit anregen. Und im Besonderen hoffen wir, mit dem Buch einen Beitrag zur Unterstützung von Beraterinnen und Therapeuten und damit mittelbar auch für Rat suchende Familien leisten zu können.
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Die Autorinnen und Autoren
Jörn Borke, Prof. Dr. rer. nat., ist Professor für Entwicklungspsychologie der Kindheit an der Hochschule Magdeburg-Stendal und war von 2004–2014 Leiter der Babysprechstunde Osnabrück. Eva-Maria Schiller, Dr. rer. nat., ist Akademische Rätin in der Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie an der Universität Müns ter und Leiterin des Münsteraner Beratungslabors. Angelika Schöllhorn, Dr. biol. hum., ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Supervisorin und Dozentin im Masterstudiengang Frühe Kindheit an der Pädagogischen Hochschule Thurgau, Schweiz. Joscha Kärtner, Prof. Dr. rer. nat., ist Professor für Entwicklungspsychologie am Institut für Psychologie der Universität Münster. Ute Ziegenhain, Prof. Dr. phil., leitet die Sektion Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm.