Female Genital Mutilation: Medizinische Beratung und Therapie genitalverstümmelter Mädchen und Frauen 9783110481006, 9783110479942

In this book, leading experts concisely present the background, social context, and all therapy-relevant aspects of fema

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German Pages 243 [244] Year 2020

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Table of contents :
Vorwort/Geleitwort
Vorwort der Herausgeber
Vorwort von Fadumo Korn
Vorwort von Assia, Kenia
Inhalt
Autorenverzeichnis
Teil I. Grundlagen
1 Kontext der Genitalbeschneidung
2 Zwischen Tradition und eigenen Ansprüchen – Berichte Betroffener
3 Propädeutik
4 Auswirkungen
5 Umgang in der Praxis
Teil II Therapie
6 Erwartungen und Möglichkeiten
7 Psycho-sexualmedizinische Betreuung
8 Operative Techniken: Was ist möglich?
9 Postoperative Betreuung und Selbsthilfegruppen
Teil III Rahmenbedingungen
10 Situation in Deutschland
11 Finanzierung eines FGM-Behandlungszentrums
12 Initiativen
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Female Genital Mutilation: Medizinische Beratung und Therapie genitalverstümmelter Mädchen und Frauen
 9783110481006, 9783110479942

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Uwe von Fritschen, Cornelia Strunz, Roland Scherer (Hrsg.) Female Genital Mutilation

Uwe von Fritschen, Cornelia Strunz, Roland Scherer (Hrsg.)

Female Genital Mutilation 

Medizinische Beratung und Therapie ­genitalverstümmelter Mädchen und Frauen

Herausgeber Dr. med. Uwe von Fritschen HELIOS Klinikum Emil von Behring Klinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie, Handchirurgie Walterhöferstr. 11 14165 Berlin [email protected]

Dr. med. Cornelia Strunz Krankenhaus Waldfriede Berlin-Zehlendorf Zentrum f. Darm- u. Beckenbodenchirurgie Argentinische Allee 40 14163 Berlin [email protected]

Dr. med. Roland Scherer Krankenhaus Waldfriede Berlin-Zehlendorf Zentrum f. Darm- u. Beckenbodenchirurgie Argentinische Allee 40 14163 Berlin [email protected]

ISBN: 978-3-11-047994-2 e-ISBN (PDF): 978-3-11-048100-6 e-ISBN (EPUB): 978-3-11-048031-3 Library of Congress Control Number: 2020936669 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen mit den Autoren große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Wiedergabe der Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dergleichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: „Schutzschild gegen weiblicher Genitalverstümmelung“ von Agata Norek Satz/Datenkonvertierung: L42 AG, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Das Cover zeigt den „Schutzschild gegen weiblicher Genitalverstümmelung“ von Agata Norek. Der Schutzschild stammt aus einem Zyklus von 27 Kunstwerken. Dieser Zyklus ist Teil ihrer prämierten Dissertation. Das Buch „Wüstenblume“ von Waris Dirie war Inspiration und Auslöser für dieses Kunstobjekt.

VOGUE 1/2016 Agata Norek verwandelt Schmerz in Schönheit – ohne ihn oder die Gewalt, die ihn hervorrief, zu verharmlosen. Die aus Polen stammende Künstlerin setzt Gewalt­erfahrungen, die Frauen - auch sie selbst - gemacht haben, symbolisch ihre ­komplexen und hochartifiziellen Schutzschilde entgegen. Bernd Skupin: Welche Idee steht hinter den „Shields Against Violence“, Ihren Schutzschilden? Agata Norek: Die Umsetzung von Trauma-Erfahrungen in Kunstobjekte. Dabei sind die Symbolik und historische Anwendung des Schutzschilds von großer Bedeutung. Es geht mir dabei jedoch vor allem darum, auf die unsichtbaren Folgen und Facetten der Gewalt hinzuweisen. Die körperlichen Folgen heilen meist schneller. B.S.: Sie zeigen diese Objekte in Ausstellungen. Aber Sie arbeiten auch im Workshop „Schutzschilde“. Worum geht es da? A.N.: Um die Aufarbeitung von Gewalterfahrungen der Betroffenen. Traumatherapeutisch und künstlerisch begleitete Menschen können ihre eigene „Schutzschilde“ bauen, ihr Schicksal auf diese übertragen und es so gestaltend, erzählend bewältigen.

Schutzschilde Projekt & Workshops: www.agata-norek-institute.ch

D. Arts Agata Norek ist u.a. Trägerin des Titels „Primus Inter Pares“ – beste Absolventin, dem 1. Preis der Kunstakademie Kattowitz, Stipendiums des Rotary Clubs, der Hugo-Kollataj-Stiftung wie auch des Socrates Erasmus Programms – Gaststudium an der Kunstakademie Nürnberg. Trägerin des Titels „Frau des Erfolges“ – 2015, wie auch des Titels „Löwin des Business“ – LAW BUSINESS QUALITY – Businessmagazin / 2017

Vorwort/Geleitwort Weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) geht uns alle an. Es ist ein brutales Verbrechen an kleinen Mädchen und Frauen, von dem man sich ein Leben lang nie ganz erholt. Schon damals, als ich mit fünf Jahren in Somalia die Folter über mich ergehen lassen musste, hatte ich dieses starke Gefühl in mir, dass FGM etwas sehr, sehr Falsches ist. Ich schwor mir, eines Tages gegen diese grausame Praxis mit all meinen Kräften zu kämpfen. Ich wusste nur noch nicht wie, wann oder wo. FGM existiert nur aus dem einen Grund, weil es immer noch diese Ungleichheit zwischen Männern und Frauen gibt. Es geht nur darum, Kontrolle über uns Frauen zu haben. FGM hat nichts mit Religion, Tradition oder Kultur zu tun, es geht um Macht und Unterdrückung. FGM hat nur den einen Zweck, uns Frauen und unsere Sexualität den Männern zu unterwerfen. Deshalb sage ich: Stopp! Genug ist genug. Wir Frauen tolerieren das nicht länger. Weibliche Genitalverstümmelung ist nicht nur eine schlimme Verletzung der Menschenrechte einer Frau, sondern gibt Männern die Möglichkeit, Frauen auf eine Weise zu kontrollieren und zu besitzen, die im 21. Jahrhundert wirklich keinen Platz mehr hat. Mehr als zwei Jahrzehnte kämpfe ich nun gegen FGM. Das Desert Flower Center im Krankenhaus Waldfriede in Berlin spielt seit seiner Eröffnung im September 2013 eine Schlüsselrolle. Und es ist eine Einrichtung, die in den vergangenen sieben Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnt. Was mich natürlich sehr freut. Den Frauen, die von FGM betroffen sind, wird nicht nur medizinisch die Möglichkeit einer Rückoperation angeboten, sie bekommen auch Hilfe in der Zeit nach dem Eingriff. Sei es bei Treffen in Selbsthilfegruppen oder bei Gruppengesprächen mit Übersetzerinnen. Danke an alle Betreuerinnen der psychosozialen Beratung. Das ist einzigartig und erfüllt mich mit großem Stolz. Bei meiner Mission war mir sehr schnell klar: Es kann nicht nur mein Kampf gegen FGM sein, es muss unser Kampf sein. Aufzustehen, auch wenn es einem schwerfällt, ist das Entscheidende. Frauen aller Welt, erhebt Euch. Wir müssen füreinander ein- und zusammenstehen. Je öfter wir das tun, desto größer wird die Chance, dass wir diesen Missbrauch beenden. Deshalb danke ich Euch allen. Ihr habt vielen Frauen ihre Würde und ein Stück verlorene Lebensqualität zurückgegeben. Gleichzeitig bitte ich Euch, mit demselben Engagement weiter zu arbeiten. Denn FGM ist mitten unter uns. Es geht uns alle an. Love & Peace Waris Dirie

https://doi.org/10.1515/9783110481006-201

Vorwort der Herausgeber Niemanden, der sich ernsthaft mit FGM beschäftigt, lässt dieses Problem emotionslos zurück. FGM ist ein grausames Ritual, dass beendet werden muss. Das Problem lässt sich aber nur ganzheitlich, gemeinsam und Schritt für Schritt lösen. Zunächst geht es darum, die Hintergründe und jahrhundertealten Traditionen von FGM zu verstehen. Dazu muss man bereit sein, eigene Traditionen zu hinterfragen und immer wieder die eigene begrenzte Perspektive zu verlassen. Das geht nur, wenn man Betroffenen zuhört und lernt, was FGM wirklich bedeutet. Aber auch was es bedeutet, sich von eigenen Traditionen lösen zu wollen. Vielen wird unbekannt sein, dass in westlichen Ländern, auch in Deutschland, die weibliche Genitalbeschneidung Ende des 19. bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zur Behandlung von „Frauenleiden“ wie Hysterie, Nervosität und Nymphomanie aber auch Epilepsie vorgenommen wurde. Daher kommen in diesem Buch viele Betroffene zu Wort. Ohne die Sicht der Betroffenen kann man den umfassenden Kontext von FGM nicht erfassen. Hierin zeigt sich welche lebenslangen Folgen FGM für die Mädchen und Frauen haben kann. Dann ist diese nachhaltige Beschäftigung mit FGM ein Prozess, der auch uns „Helfende“ verändern wird. Sie wird unsere Perspektive verändern. Dieses Buch soll allen die sich mit FGM beschäftigen, dabei Hilfestellungen geben. Wir haben versucht, alle Aspekte von FGM zu beleuchten. Wir wollen darstellen, dass jeder etwas tun kann, egal in welchem psychosozialen oder medizinischen Umfeld er sich bewegt. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Mädchen so etwas angetan wird. Wir bedanken uns bei allen Betroffenen, die ihr Schicksal offenbart haben und so das furchtbare Tabu brechen, darüber nicht zu sprechen. Wir danken allen Autoren, die ihr Wissen und ihre Erfahrung in diesem Buch dargestellt haben. Wir danken allen Leserinnen und Lesern, denen das Buch neue Aspekte eröffnen wird. Nur gemeinsam können wir dieses grausame Ritual beenden. Uwe von Fritschen, Cornelia Strunz, Roland Scherer

https://doi.org/10.1515/9783110481006-202

Vorwort von Fadumo Korn Das Ritual der Beschneidung hat dazu geführt, dass sich Jahrtausende lang Mädchen und Frauen nicht unabhängig und frei entwickeln konnten.

„Ich erzähle ihnen mein persönliches Schicksal – von dem Tag, der mein Leben so verändert hat. Es war eines morgens ganz früh, als meine Mutter mich holte. Sie nahm mich mit, wusch mir das Gesicht und gab mir nichts zum Frühstück, was mich gewundert hat. Lediglich ein Schlückchen Tee habe ich bekommen. Wir verließen unser Dorf und liefen und liefen und liefen. Als der Morgen dämmerte, kamen wir an eine freie Lichtung, an eine kahle Wüste. Zwischen den Schirmakazien, die sowohl ganz niedrige Büsche waren als auch hohe elegante afrikanische Schirmakazien, haben wir uns in den heißen Sand hingesetzt und meine Mutter hat gesagt: wir warten hier auf jemanden. Ich wusste nicht, was passieren wird, ahnte aber, dass nichts Gutes kommen wird. Mir war wirklich schlecht und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich hatte Panikattacken, konnte nicht weglaufen, wollte aber auch keine Schande über meine Familie bringen. Wir warteten und kurz danach schälte sich aus der staubigen afrikanischen Landschaft eine Gestalt heraus. Diese Gestalt sah alt und gebrechlich aus. Dennoch erreichte uns die Frau mit energischen Schritten, obwohl der Oberkörper ziemlich gebeugt war und sie einen Buckel hatte. Meine Angst war unerträglich. Meine Mutter hatte geahnt, dass ich vielleicht weglaufen könnte und hat mich am Arm gepackt, hat mich festgehalten und sie hat gesagt: alles wird gut, es passiert dir doch gar nichts. Die Frau, die auf mich zukam, sah alles andere als vertrauenserweckend aus. Sie sah alt aus, sie sah böse aus, sie hatte schmutzige Finger und Hände, die so rau waren wie Elefanten. Wie Steine sahen sie aus, grau und rissig. Und als ich diese Hände erblickte, wurde es mir eiskalt am Rücken. Ich hatte Gänsehaut und schwitzte gleichzeitig. In diesem Moment habe ich geahnt, dass nichts Gutes passieren wird. Die Frau packte ihre Utensilien aus und breitete ein Tuch zur Vorbereitung für ihre sogenannte Operation aus. Sie hatte kein Wasser, um ihre Hände oder die Instrumente zu waschen. Sie packte eine Rasierklinge aus, legte sie auf das schmutzige Tuch, öffnete eine kleine Dose, in der eine schmierige schwarze Paste enthalten war. Sie hatte ein kleines Stöckchen dabei und einen Faden aus Sisal. Sie brach die Rasierklinge in zwei Hälften und steckte sie in das Stöckchen hinein. Das Stöckchen umwickelte sie oben und unten mit dem Faden und in der Mitte schaute die Rasierklinge heraus wie ein kleines Beil. Mir wurde klar, irgendetwas wird aus mir herausgeschnitten, aber ich wusste nicht was. Ich beobachtete diese ganze Zeremonie, die sie dort veranstaltete, mit wahnsinniger Genauigkeit. Schließlich deutete sie mir mich hinzulegen. Ich war natürlich stocksteif und habe mich geweigert.

https://doi.org/10.1515/9783110481006-203

XII  Vorwort von Fadumo Korn

Vor lauter Schreck konnte ich mich nicht bewegen, ich konnte meine Augen nicht schließen, ich konnte nicht wegschauen, ich war gebannt vor Schreck, starr vom Schock. Und dann sagte meine Mutter, ich soll mich auf eine Wanne aus Leichtmetall setzen, die sie mitgebracht hatte. Ich setzte mich darauf und in dem Moment fielen sie über mich her. Meine Beine wurden auseinandergerissen, ich wurde nach hinten gezerrt und festgehalten. Mir wurde ein mit Leder umwickeltes Stöckchen quer in den Mund hineingeschoben, damit ich mir meine Zunge nicht abbeiße wie ich später herausgefunden habe. Ich war von dem ersten Schnitt dermaßen überwältigt. Es sind Schmerzen, wie wenn man heiße Eisen in den Körper jagt, wie glühendes Metall fühlte sich das an. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass ich einen gurgelnden Schrei herausgebracht habe. Alles andere blieb in meinem Hals stecken. Ich sah den Himmel über mir, der vorhin so schön blau war, und der jetzt total grau wurde. Ich hatte das Gefühl, die Erde war stehen geblieben, die Vögel hörten auf zu singen, der Wind hörte auf zu wehen, die Bäume hatten die Bewegung ihrer Blätter eingestellt, es bewegte sich gar nichts mehr. Es rührte sich nichts, außer das Grauen in mir. Ich war nicht fähig zu fühlen, obwohl ich gleichzeitig alles hörte, sah und fühlte. Ich spürte eiskaltes Blut über mein Gesäß laufen. Eiskalt. Ich kann mich erinnern, dass ich versucht habe, meine Fingernägel in den Arm meiner Mutter zu vergraben und ich spürte, wie eine riesige Energie aus mir hinausstieg und in den Himmel verschwand. Ich spürte, wie mein Körper sich verabschiedete, wie mein Geist nicht mehr fähig war, dieses Elend auszuhalten und aus mir herausstieg. Ich sah mich selbst oben schwebend auf dieses Gemetzel herunterschauend. Ich kann mich erinnern und ich kann hören, wie die schreckliche Frau ihre Stacheln und Dornen durch meine Schamlippen steckte. Ich kann das Quietschen bis heute hören, ich kann das Kratzen hören. Ich kann das Geschimpfe von ihr hören, als sie mir einen abgebrochenen Stachel aus meiner Schamlippe heraus fingern musste. Ich kann mich erinnern, wie sie mich beschimpft hat, aber ich war einfach nur ruhig. Ich hatte aufgegeben, mein Körper hatte aufgegeben, mein Geist hatte aufgegeben. Ich wartete auf mein Sterben. Aber ich starb nicht. Mein Körper entzündete sich, ich fiel in ein Koma, ich hatte unendlich hohes Fieber. Mein Körper brannte und pochte und stach und ich betete zum lieben Gott, solange ich noch die Schmerzen spürte, lass mich sterben, ich halte es nicht aus. Es wäre gut, wenn ich jetzt gehen könnte, denn jetzt bin ich rein. Ich darf gehen, ich darf sterben, weil ich dann sowieso in das Paradies komme. Früher hat man uns erklärt, dass alle Mädchen, die ihre Klitoris haben, die nicht beschnitten sind, unrein sind. Wenn sie sterben, kommen sie direkt in die Hölle. Kann man sich vorstellen, dass man so etwas einem kleinen Kind sagt? An dem Tag, als ich beschnitten worden bin, ich glaube es war an einem Mittwoch, konnte ich bis zum nächsten Tag nicht urinieren. Die ganze Flüssigkeit, das ganze Blut, die ganzen Sekrete konnten nicht abfließen. Ich wäre so gerne gestorben. Hauptsache, die ganzen Schmerzen hören auf.“

Vorwort von Assia, Kenia Mit 15 Jahren überkam mich erstmals der Drang, die Nähte zu lösen und alle Spuren meiner Genitalverstümmelung zu beseitigen. Entfacht hatten diesen Drang die wachgewordene Wahrnehmung von blankem Selbstekel und abgründigem Verrat durch meine Eltern. Besonders durch meine Mutter, die mich nach der unislamischen Art der „Jahil“ (ungebildete und ungläubige) Pharaonen, beschnitten hatte. Zu dieser Zeit war ich eine überzeugte blindgläubige Muslima, die den Gedanken verabscheute, ein Zeichen der Gottlosigkeit zu tragen. Ich hatte mir gewünscht dazuzugehören, als ich mich dafür entschied, mich bei meiner ersten Beschneidung im Alter von neun Jahren nicht zu wehren oder zu weinen; aber das war nicht das Publikum oder die Gesellschaft zu der ich gehören wollte. Wenn ich jetzt an meine Versenkung in Selbstekel zurückdenke, die ich während des Unterrichts in islamischer religiöser Erziehung empfand, dann muss ich zugeben, dass dieser Ekel mich noch weiter auf den Weg der Infragestellung und zu meinem jetzigen Lebensstil geführt hat: Unsere Lehrerin, eine freundliche, weise Frau, erklärte unserer Klasse – hauptsächlich aus somalischen Mädchen bestehend – dass die „Firauni-Beschneidung“ nicht nur unislamisch sondern auch verbunden sei, mit einem glaubenslosen und skrupellosen Herrscher. Ich möchte nicht mit dem tiefsitzenden Gefühl des Verrats durch meine Mutter beginnen, aber ich muss zugeben, dass der Selbstekel mich tiefer zu den Fragen des Lebens geführt hat. Meinen lieben Familienangehörigen mag das wie ein rebellischer und sogar unverzeihbarer Lebenswandel vorkommen. Jawohl, so war ich als Kind und so bin ich in vielerlei Hinsicht geblieben, sehr geistlich, loyal und zu einem gewissen Grad behindert durch meine Vorstellungskraft und Fähigkeit, alles miteinander zu verknüpfen und sich über alles den Kopf zu zerbrechen. Heutzutage staune ich darüber, wie dieser Drang die Nähte zu entfernen und alle Spuren meiner Genitalverstümmelung zu beseitigen durch meinen starken Glauben an eine Religion entfacht wurde, mit der ich mich abmühen musste und die ich größtenteils über Bord geworfen habe und durch einen stärkeren Glauben an die Menschlichkeit ersetzt habe. Ich habe fast zwanzig Jahre gebraucht, um mich mit meiner Vergangenheit und meinem Lebensschicksal zu versöhnen und langsam loszulassen. Viele Frauen werden aus Tradition beschnitten und infibuliert. Ich wurde beschnitten und infibuliert mit der Behauptung und in dem unerschütterlichen Glauben, dass dies islamisch und notwendig sei und zu meiner Pflicht als Tochter gehöre, um den Weg in den Himmel für meine Mutter und andere Respektpersonen zu pflastern. Sexualität, Frauenpower, Konformität und Untreue gehörten nicht zum Wortschatz meiner Mutter und ihres Kreises von frommen und rechtschaffenen Freundinnen bei uns daheim. Beschreibungen der Unreinheit, Unbezähmbarkeit und Sündhaftigkeit der Klitoris tauchten später auf, im Vokabular von Tanten und weniger frommen Menschen, https://doi.org/10.1515/9783110481006-204

XIV  Vorwort von Assia, Kenia

die die weibliche Genitalverstümmelung aus traditionellen Gründen rechtfertigten und eine Kultur der Kontrolle und der Überwachung von weiblicher Kleidung, Redensart und sogar Verhaltensweise begrüßten. Als meine Schwestern und ich im Teenageralter gegen unsere Mutter aufbegehrten, um die Beschneidung unserer jüngsten Schwester zu verhindern, mussten wir sie bis auf ein symbolisches Schälen der Klitoris herunterhandeln. Dies war Dank der Unterstützung unseres Medrese-Lehrers möglich, den ich um Hilfe bat, als meine Schwester auf ihre Beschneidung im Schlafzimmer im Obergeschoss vorbereitet wurde. Sein schockierter Gesichtsausdruck und seine Art der Verhandlung mit meiner Mutter, um meine Schwester zu schonen, machten mir klar, dass unsere Mütter die Torwächterinnen dieser schmerzvollen Praxis und Tradition waren. Unsere Mutter äußerte die Sorge, dass ihre Töchter ohne Beschneidung nicht mit richtigen somalischen Männern verheiratet und in die Gesellschaft aufgenommen werden würden, da sie als unrein und unsittlich gelten würden. Denkweise und Wahrnehmung waren vorgefasst, und sogar unser geachteter Lehrer musste eine Sunna-Beschneidung aushandeln, um ihre Ängste zu besänftigen. Es war klar, dass sie aus Angst das Beste für uns wollte. Das Beste nach ihrer Überzeugung und gemäß dem damaligen Zeitgeist. Ich habe 18 Jahre gebraucht, um schließlich die ersten mutigen Schritte zu diesem chirurgischen Eingriff zu setzen. Mit 34 war ich erwachsen und drastisch verändert. Ich habe das außerordentliche und unbeschreibliche Glück, gebildet zu sein und viel Unterstützung, die mir von Fremden und Freunden entgegengebracht wurde, erfahren zu haben. Fügungen, mit denen ich nicht im Geringsten rechnen konnte, haben mir den Weg hierher geebnet. Es sind schon dreieinhalb Monate vergangen seit meiner Operation und noch bereue ich gar nichts. Ich habe Schwierigkeiten, das stimmt, aber keinerlei Bedauern. Wie vor meiner Reise zur Deinfibulationschirurgie, bin ich immer noch unfähig darüber zu sprechen und meine Erfahrung ausführlich mit meinen geliebten Schwestern zu teilen: der Weg zur Entscheidung, eine ehrliche und offene Mitteilung über unsere wahren Gefühle bezüglich Beschneidung und deren tiefe Auswirkungen in vielerlei Hinsicht. Vor dem chirurgischen Eingriff habe ich Unterstützung und Rat vom Team erfahren. Ich konnte das Thema mit meinen vier Schwestern nicht ansprechen. Es war und ist immer noch zu schmerzlich und beschwerlich. Es ist viel leichter sich an die vertraute Gewohnheit des tabuisierenden Schweigens zu klammern, Groll und Schmerz zu unterdrücken und Normalität weiter vorzutäuschen. Ist das Leben selbst schließlich nicht schwer genug? Wer kann sich den Luxus leisten, seine Zeit mit Selbstbesinnung zu verschwenden, wenn das Leben ein schwieriges Überlebensspiel ist und das Jenseits die einzige Zukunftsperspektive darstellt? Ich habe den seltsamen, wenn nicht abscheulichen Weg gewählt: Ich habe mich entschlossen, das Beste aus meinem diesseitigen Leben zu machen und die Verheißung des Himmels, welche wie eine dieser Männervorstellungen und -domänen klingt, dahinfahren zu lassen. So gibt es einen tiefen Abgrund zwischen uns. Sie erkennen die Vorteile der

Vorwort von Assia, Kenia

 XV

Chirurgie bezüglich der Linderung der Komplikationen an, aber wir tanzen geschickt herum und sprechen nicht darüber, wie unsere traumatischen Erfahrungen so viele Fragen in uns aufwerfen. Vielleicht weil unsere Erfahrung so tief im Sumpf der religiösen Rechtfertigung versunken ist, ist sie viel schwerer zu befreien von den Glaubenszwängen, ohne den Islam auf den Kopf stellen zu müssen. Zumindest in meinem Fall hat sich der Glaube von seinen religiösen Erwartungen getrennt. Ich habe das akzeptieren und andere Formen der Unterstützung und Orientierung finden müssen. Es hat meinen Veränderungsprozess und meine Entscheidung zu handeln verzögert, aber ich bin mir sicher, dass dieses Selbsterwachen seine eigene Entwicklung und Zeit einfach gebraucht hat. War es ein einsamer Weg? Sehr sogar. Jetzt, da ich den Unterschied kenne, kann ich bestätigen, dass ich in meinen Zwanzigern, jahrelang umhergeirrt bin in einem Dunstschleier von Schmerz, Wut und lähmenden Schuldgefühlen. Nach der Operation, als ich meinen „Entengang“ nicht verbergen konnte und das Thema mit meinen Schwestern direkt ansprach, war ihr Schock über meine Offenheit offensichtlich. Ich selbst war verblüfft über meine klaren Worte und über meinen Versuch, sie ebenfalls zu dieser Option zu bewegen. Ich war erstaunt, dass ich meinen Maulkorb ganz unerwartet abgelegt hatte. Aber das ist auch alles, was ich schaffe. Dann sind wir auch zurück beim ehrenwerten Schweigen und bei Annahmen, die stillen Lücken ganz passend füllend. Ich habe mir nun vorgenommen mich auf die Unterstützung meines eigenen Kreises von ähnlich denkenden Freunden zu konzentrieren und auf das mit Herz und Seele geflochtene soziale Netzwerk von helfenden Bekannten und Fremden. Der zweite Schnitt war in jeder Hinsicht anders als der Erste. Der gut ausgeleuchtete Raum voll mit freundlichen Gesichtern und eine Atmosphäre, die mich in Sicherheit und Gewissheit wiegte. Nach dem zweiten Schnitt wachte ich auf und stellte erleichtert fest, dass es vorbei war, was mich mit Freude erfüllte. Ich wurde auf mein Zimmer zurückgebracht, mit einem albernen Lächeln auf meinem verschlafenen Gesicht, Tränen der Erleichterung und einer unaussprechlichen Freude im Hals. Das hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem kleinen dunklen Zimmer in Kibera, einem der größten Slums in Nairobi, wo eine nichtsomalische Frau meine Mutter fragte, wie der Schnitt und die Naht ausgeführt werden sollten. Sie kommunizierten mit Handbewegungen, da die fast nicht vorhandenen Swahili-Kenntnisse meiner Mutter mit der akzentstarken Swahili-Version der kikuyu-stämmigen Beschneiderin kollidierten. Beide waren ohne Bedenken miteinander verbunden in einem zielgerichteten, fast stummen Dialog. Unter der schwächsten Glühbirne, auf einem kalten Brett als Bett, lag ich gelähmt vor Schmerzen vom Nabel an abwärts, nachdem ich die Spritzen mit lokalem Betäubungsmittel erhalten hatte. Und so wurde ich beschnitten und genäht. In die richtige Stellung gezerrt und festgebunden, während ich meine Schmerzen und meine Angst im Hals mit aller Kraft unterdrückte. Meine Hüften bäumten sich flehentlich auf, um den Schmerz zu lindern, den die Beschneiderin verursachte beim Ziehen der

XVI  Vorwort von Assia, Kenia

Schuhriemen durch meine großen Schamlippen und beim Knüpfen bevor sie den überschüssigen Riementeil abschnitt. Meine Kinderaugen fixierten neugierig die schartigen Kanten der Schere, die gebogenen Nadeln, die Spritzen, Wattebäusche und antiseptische Lösungen. Ich hörte auf meine Mutter und schrie nicht auf. Ich war fest entschlossen sie glücklich zu machen und die Spritzen mit dem schwachen, lokalen Betäubungsmittel waren etwas hilfreich. Doch deren Wirkung ließ schnell nach und eine schwere Blutung setzte ein. Das war nichts Ungewöhnliches und so wurde ich erst Stunden nach Sonnenuntergang und auf Drängen eines besuchenden Cousins in ein Krankenhaus gebracht. Ich hätte die Blutung sonst nicht überlebt und es brauchte wochenlange Behandlung und medizinische Überwachung, um ihrer Herr zu werden und mich etwas genesen zu lassen. Da die weibliche Genitalverstümmelung in Kenia nicht illegal war, konnten die Ärzte meine Mutter nicht dazu zwingen, ihnen das Entfernen der Nähte zu gestatten. Wie bei jedem anderen somalischen Mädchen waren meine Beine mit peinlicher Sorgfalt zusammengebunden worden und ich musste zur Toilette hin und zurück humpeln, wobei ich nach jedem schmerzvollem Harnlassen eine Blutspur auf dem sauberen Boden hinterließ. Ich zog die Aufmerksamkeit der Menschen um mich herum an und erntete starre Blicke, besorgtes Geflüster, Schock und Angst. Ich vermute, dass ich in dieser Zeit zu schnell erwachsen wurde. Stoisch humpelte ich weiter und entschied mich dem Urteilsvermögen und den Handlungen meiner Mutter zu vertrauen, angesichts der ablehnenden Blicke. Als die Krankenhausverwaltung einen muslimischen Arzt somalischer Abstammung beauftragte, meine Mutter inständig zu bitten, die Nähte zu lösen und ihr die weibliche Genitalverstümmelung und ihre Komplikationen erklärten, bin ich für sie eingetreten und habe ihn gebeten aufzuhören, meine Mutter zu drangsalieren, denn sie hätte Recht, da wir es für unsere Religion täten. Älter geworden, habe ich mein blindes Vertrauen bereut. Ich musste eine davor unbekannte und schwere Selbstschuld ansprechen und verarbeiten: Ich war nicht eingestanden für dieses verängstigte neunjährige Mädchen, das so viel Hilfe benötigte. Das Schlimmste sind nicht die körperlichen Schmerzen, aber die emotionalen und die psychologisch lähmende Vorstellung, dass unser Leben ganz ohne Dank und ohne Ende für andere gelebt werden soll. Dass das Leben eines ahnungslosen Kindes es wert ist, abstrakte und unbegreifliche Ideale der Gemeinschaftsehre und weibliche Bosheit oder Machtansprüche, wie ich es lieber bezeichne, in die Tat umzusetzen; dass der Opfertod von ein oder zwei Menschen durch exzessives Bluten nach der Beschneidung nicht zählt im Vergleich zum Zugehörigkeitsgefühl und zur Ehre. Ich bin eine der wenigen Glücklichen, die in der Stadt beschnitten wurden, an einem dezenten Ort mit einigermaßen sauberen Instrumenten, mit vernünftigem Zugang zu notfallmedizinischen Diensten, wenn erforderlich und mit dem helfenden Anstoß eines hysterischen Cousins in meinem Fall. Seltsamerweise habe ich für diese traurige und schwere Erfahrung in meiner Kindheit ein gewisses Maß an Dankbarkeit entwickelt. Ich bin mir sicher, dass dadurch mein Nachdenken, Fragen und der langsame, aber kontinuierliche und erfül-

Vorwort von Assia, Kenia

 XVII

lende Prozess der Selbsterkenntnis – der noch lange nicht abgeschlossen ist – angeregt wurden. Sexuelle Erfahrungen, Erwartungen und Frustrationen haben eine Rolle auf meiner Reise gespielt, aber sie waren niemals die wesentliche oder treibende Kraft. Die Hauptgründe für meine Einlassung mit diesem chirurgischen Eingriff haben sehr wenig mit Geschlechtsverkehr oder sexueller Erfüllung zu tun. Ich war mehr daran interessiert meinen Körper, meinen Geist und mein Selbst zurückzugewinnen und zu lernen, meine eigene Realität zu leben. Ich habe nie die oft beschriebene Lust eines Orgasmus erlebt, aber das hat meinen Genuss an und meinen Appetit auf bedeutsame Intimität nicht beeinträchtigt. Und dieser Appetit auf Intimität war schon in meinem Körper und Geist vorhanden und lebendig vor dem chirurgischen Eingriff. In diesem Sinne hat die körperliche und psychologische verkrüppelnde Erfahrung der weiblichen Genitalverstümmelung nicht den erhofften Effekt gehabt, der Stilllegung meiner Libido und meiner Lebenslust. Die Beschneidung ist ein sinnloses und sehr ineffektives Unterfangen gegen jede zielstrebige Frau. Den Orgasmus und den Zauber in diesem Begriff finde ich interessant, aber er ist nicht zu einer Voraussetzung für mich geworden, körperliche Intimität zu erfahren und er ist auch keine Notwendigkeit und garantierte Bestimmung für mich. Ich finde die Überschwänglichkeit meiner neu gewonnenen geistigen und psychischen Befreiung sowie den verlockenden Duft des inneren Friedens, nachdem die Geister sich zu Ruhe begeben haben, viel verblüffender und atemberaubender.

Inhalt Vorwort/Geleitwort  VII Vorwort der Herausgeber  IX Vorwort von Fadumo Korn  XI Vorwort von Assia, Kenia  XIII Autorenverzeichnis  XXIII

Teil I Grundlagen 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Kontext der Genitalbeschneidung  3 Verbreitung, Tradition und Kultur  3 Islam und weibliche Genitalverstümmelung – Missbrauch und Chance  4 Soziale Strukturen des Rituals – Konstanz und Wandel  11 Was wissen Männer über die geheime Welt der Frauen?  18 Einfluss des gesellschaftlichen Umfelds – Das Fremde und das Eigene  22

2 2.1 2.2 2.3

Zwischen Tradition und eigenen Ansprüchen – Berichte Betroffener  25 Isolation durch Bruch eines Tabus  25 Bericht einer unbeschnittenen Frau aus Kenia  26 Als Überlebende der weiblichen Genitalverstümmelung habe ich viel über mich nachgedacht  30

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5 3.5.1 3.6 3.7

Propädeutik  35 Anatomie des weiblichen äußeren Genitale  35 Formen der weiblichen Genitalverstümmelung  37 Ablauf der Beschneidungszeremonie in Somalia  40 Regionale Unterschiede  41 Entwicklung in Afrika  41 Entwicklung in Europa  47 Medikalisierung der weiblichen Genitalverstümmelung  51 Medikalisierung – Ergänzende Daten, Trends in Afrika  55 Die männliche Zirkumzision  57 Klassifikation Peniler Komplikationen  65

4 4.1 4.1.1 4.1.2

Auswirkungen  67 Medizinische Auswirkungen von FGM  67 Primäre Komplikationen  67 Sekundäre Komplikationen und Langzeitfolgen von FGM  69

XX  Inhaltsverzeichnis

4.2 4.3 4.3.1 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Sexualität, Psychosoziale Folgen und Psychotherapie  70 Die Zerstörung des Selbstwertgefühls  74 Rituale und Mythen  75 Umgang in der Praxis  77 Verwenden Sie den richtigen Ton  77 Anspruch an Zentrum/Praxis und Ansprache  80 Barrieren erfolgreicher Kommunikation – Cross-Cultural Competence  85 Umgang mit beschnittenen Frauen  92 Adäquater Umgang mit genital beschnittenen Mädchen und Jugendlichen im therapeutischen Kontext  93

Teil II Therapie 6

Erwartungen und Möglichkeiten  99

7 7.1

Psycho-sexualmedizinische Betreuung  103 Nicht immer nur an das Eine denken – Differentialdiagnostik der sexuellen Störungen bei genitalbeschnittenen Frauen  103 Psychosomatische Interventionen im Kontext der Operation  107 Voraussetzungen schaffen  107 Sexualtherapeutische Interventionen  110 Umgang mit der posttraumatischen Symptomatik  112 Jugendliche Patientinnen, die darunter leiden, dass sie genitalbeschnitten wurden  113

7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3

8 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7

Operative Techniken: Was ist möglich?  117 Extensive Verletzungen: Rektovaginale Fisteln  117 Urologische Aspekte, Chirurgie unter einfachen Bedingungen  122 Diagnostisches Vorgehen  123 Therapieoptionen  125 Die Problematik von irreversiblen Spätkomplikationen am Harntrakt  127 Urogenitale Fisteln – Yankan gishiri fistula  131 Deinfibulation: Ein visuelles Referenz- und Lerninstrument  142 Rekonstruktion statt Deinfibulation  153 Rekonstruktion bei ausgedehnten Vulvadefekten  175 Geburtshilfliche Betreuung und Behandlung von Schwangeren und Gebärenden mit FGM  184

Inhaltsverzeichnis  XXI

8.7.1

9

Traumasensible Geburtshilfe – zum Schutz der Gebärenden, der Hebammen und Geburtshelfer  189 Postoperative Betreuung und Selbsthilfegruppen  195

Teil III Rahmenbedingungen 10 10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.2 10.3

Situation in Deutschland  199 Rechtliche Situation  199 Strafrechtliche Aspekte der FGM  199 Familienrechtliche Aspekte der FGM  202 Maßnahmen nach dem Passgesetz  202 Aufenthaltsrechtliche Aspekte der FGM  203 Prävention der gefährdeten Kinder, Reisen im Urlaub  204 Stand in Deutschland  208

11

Finanzierung eines FGM-Behandlungszentrums  213

12 12.1 12.2 12.3

Initiativen  215 Bildung stoppt FGM  215 NALA-Mädchengruppe  216 Links  217

Autorenverzeichnis Dr. med. Jasmine Abdulcadir, PD FECSM University Hospitals of Geneva Département de la femme, de l'enfant et de l'adolescent Boulevard de la Cluse 30 1211 Genf 14 Schweiz E-Mail: [email protected] Kapitel 8.4 Omar Abdulcadir Kapitel 8.4 Dr. med. Fana Asefaw Clienia AG Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Neumarkt 4 8400 Winterthur Schweiz E-Mail: fana.asefaw@clienia@ch Kapitel 5.5, 7.3 Lucrezia Catania Kapitel 8.4 Christina Clemm Rechtsanwältin Yorckstraße 80 10965 Berlin Kapitel 10.1 Souleymane Diallo Mama Afrika e. V. Stellvertretender Vorstandsvorsitzender Residenzstr. 156 13409 Berlin www.mama-afrika.org E-Mail: [email protected] Kapitel 1.1 J. Rijken Dingeman, MD formerly medical doctor at Holy Cross Hospital Eastern Cape Südafrika E-mail: [email protected] Kapitel 3.7

Nafissatou Diop, PhD UNFPA – United Nations Population Fund Chief, Gender and Human Rights Branch 605 Third Avenue NY 10158 New York USA E-Mail: [email protected] Kapitel 3.4.1, 3.5.1 Dr. med. Uwe von Fritschen HELIOS Klinikum Emil von Behring Klinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie, Handchirurgie Walterhöferstr. 11 14165 Berlin E-Mail: uwe.von-fritschen@helios-gesundheit. de Kapitel 3.2, 6, 8.5, 8.6 Dr. Abdi A. Gele, PhD Norwegian Institute of Public Health Unit for Migration and Health Skøyen N-0213 Oslo PO Box 222 Norway E-Mail: [email protected] Kapitel 3.4.2 Dr. med. Janna Graf LVR Klinik Köln Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Wilhelm-Griesinger-Str. 23 51109 Köln Kapitel 5.1 Salma Hossein Kapitel 2.3 Dr. med. Helmut Jäger E-Mail: [email protected] Kapitel 5.3

XXIV  Autorenverzeichnis

Fadumo Korn Nala e. V./Bildung statt Beschneidung Rablstr. 44 81669 München E-Mail: [email protected] Kapitel 3.3, 4.3, 12.2 Univ.-Prof. Dr. phil. Christoph Kröger Universität Hildesheim Klinische Psychologie und Psychotherapie Universitätsplatz 1 31141 Hildesheim E-Mail: [email protected] Kapitel 4.2, 7.2 Martina Kruse Hebamme Kapitel 8.7.1 Dr. med. Hillary Mabeya Gynocare Womens Fistula Hospital Kahoya Road Box 2326-30100 30100 Eldoret Kenia E-Mail: [email protected] Kapitel 4.1 Prof. Adriana Kaplan Marcusán Universitat Autonoma of Barcelona Wassu UAB Foundation/ Dpt. Social Anthropology Campus UAB 08193 Bellaterra Barcelona Spanien E-Mail: [email protected] Kapitel 1.4 Sandra Marras Kapitel 8.4 Farhia Mohamed Kapitel 2.1

Dr. h. c. Comfort Momoh (MBE) Guys and St Thomas NHS Foundation Westminster Bridge Road SE1 7EH London United Kingdom E-Mail: [email protected] Kapitel 8.7 Dr. med. Sabine Müller Oldenburger Str. 37 10551 Berlin E-Mail: [email protected] Kapitel 7.1 Cordelia Nawroth Kapitel 10.2 Annette Nehberg-Weber TARGET e. V. Ruediger Nehberg Großenseer Str. 1A 22929 Rausdorf E-Mail: [email protected] Kapitel 1.2 Rüdiger Nehberg Kapitel 1.2 Christina Pallitto World Health Organization Avenue Appia 20 1211 Genf Schweiz E-Mail: [email protected] Kapitel 3.5 Priv.-Doz. Dr. med. univ. Elisabeth Pechriggl Medizinische Universität Innsbruck Univ.Klinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie Anichstrasse 35 6020 Innsbruck Österreich E-Mail: [email protected] Kapitel 3.1 Dr. Anni Peller E-Mail: [email protected] Kapitel 1.3, 1.5

Autorenverzeichnis  XXV

Patrick Petignat Kapitel 8.4 Priv.-Doz. Dr. med. Gralf Popken Klinikum Ernst von Bergmann Urologie Charlottenstr. 55 14467 Potsdam E-Mail: [email protected] Kapitel 3.6 Dipl. Betriebswirt/MBA Bernd Quoß Krankenhaus Waldfriede e. V. Argentinische Allee 40 14163 Berlin E-Mail: [email protected] Kapitel 11 Lale Say World Health Organization Avenue Appia 20 1211 Genf Schweiz E-Mail: [email protected] Kapitel 3.5 Dr. med. Roland Scherer Krankenhaus Waldfriede Berlin-Zehlendorf Zentrum f. Darm- u. Beckenbodenchirurgie Argentinische Allee 40 14163 Berlin E-Mail: [email protected] Kapitel 4.1, 8.1 Nicole Schmidt Kapitel 8.4 Thilo Schwalenberg Kapitel 8.2 Assia Shidane Vorwort

Dr. Karin Stein World Health Organization Herne Hille Mansions 15A SE249QN London Großbritannien E-Mail: [email protected] Kapitel 3.5 Dr. med. Cornelia Strunz Krankenhaus Waldfriede Berlin-Zehlendorf Zentrum f. Darm- u. Beckenbodenchirurgie Argentinische Allee 40 14163 Berlin E-Mail: [email protected] Kapitel 3.2, 5.2, 5.4, 9 Sina Tonk TERRE DES FEMMES e. V. Bereichsleiterin Referate Brunnenstr. 128 13355 Berlin Kapitel 10.3 Dr. rer. nat. Ilka Vasterling TU Braunschweig Psychotherapieambulanz Humboldtstraße 33 38106 Braunschweig E-Mail: [email protected] Kapitel 7.2 Dr. Kees Waaldijk, PhD Kapitel 8.3 Prof. Dr. med. Jürgen Wacker Frauenklinik der Fürst-Stirum-Klinik Gutleutstr. 1–14 76646 Bruchsal Kapitel 8.7

 Teil I Grundlagen

1 Kontext der Genitalbeschneidung 1.1 Verbreitung, Tradition und Kultur Souleymane Diallo Ein kulturelles Gut an der Wurzel zu packen und den Kampf anzusagen, ist die Beraubung und Zerstörung einer Tradition. Die weibliche Genitalverstümmelung ist ein fester Bestandteil in einigen afrikanischen Ländern und wird aus unterschiedlichen Gründen durchgeführt, sei es aus kulturellen, gesellschaftlichen oder religiösen. Es ist schwer zu verstehen wie man so etwas gutheißen kann und sich sträubt daran etwas zu ändern. Die Unwissenheit der Menschen in diesen Regionen und die Angst bloßgestellt zu werden, sind so groß, dass man ab einem gewissen Zeitpunkt die Religion als Hauptgrund benannt hat, um sie zu rechtfertigen. Der Islam kennt die weibliche Genitalverstümmelung nicht und ist damit auch nicht einverstanden! Religionen allgemein sehen den Frieden in erster Linie. Und solch ein Akt, der so grausam und schmerzhaft ist wie die weibliche Genitalverstümmelung, kann nichts mit dem Islam oder mit einer Religion zu tun haben. Der genaue Ursprung dieser Tradition ist nicht bekannt, aber die weibliche Genitalverstümmelung gab es schon weit vor dem Christentum. Durch fehlende und nicht eindeutige Dokumentation haben sich im Laufe der Zeit die Gründe dieser Tat geändert. Einige Ethnien sehen es als Fruchtbarkeit, wiederum andere als Rein, wiederum andere sehen es als Akt um eine Frau zu werden. Den Gesellschaftlichen Druck sollte man nicht unterschätzen, der in den jeweiligen Ländern herrscht. Denn jeder möchte dazu gehören. Die Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung und ihr Netzwerk unterscheiden sich von Land zu Land, von Region zu Region und von Ethnie zu Ethnie. UNICEF zufolge sind weltweit mehr als 250 Millionen Mädchen und Frauen von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen – die meisten von ihnen leben in Afrika. Aber auch im Süden der arabischen Halbinsel und in Teilen Asiens wird die Genitalverstümmelung praktiziert. Über die Verbreitung in dieser Region gibt es wenige Daten, obwohl dort Millionen von Frauen betroffen sind. In Guinea, einem Land, in dem mehr als 90 % der Frauen beschnitten sind, wird die Verbreitung durch die Mütter und Großmüttern betrieben. Die weibliche Genitalverstümmelung ist dort ein reines Frauen-Thema. Die Familienväter werden meistens nicht informiert und wissen nicht wie eine unbeschnittene Frau aussieht. Die Kinder sind meist in einem Alter, in dem sie sich nicht wirklich wehren können und nicht genau wissen, was sie bei der Verwandtschaft erwartet. Es wird den Mädchen lediglich mitgeteilt, dass sie zur Frau werden. Die Schmerzen, die das mit sich bringt, werden als gute Schmerzen bezeichnet. Die Schäden wiederum, sei es körperliche wie seelische, werden ignoriert und stillgeschwiegen. Um diesen https://doi.org/10.1515/9783110481006-001

4  1 Kontext der Genitalbeschneidung

Schmerz zu kompensieren und ihn als gut zu vermitteln, wird im Anschluss des Rituales eine Feier organisiert, an der nur Frauen teilnehmen. Die Tradition verlangt es, also wird es auch gemacht! Es ist ein kulturelles Gut welches geschützt werden muss und von Mutter zu Tochter weitergetragen wird. Tradition hat etwas mit Stolz zu tun, womit man sich identifizieren kann. So eine Tradition, die von Mutter zu Tochter übertragen wird, kann man in der westlichen Welt schwer verstehen oder nachvollziehen. Es wird als barbarisch betrachtet und man trifft oftmals auf Verständnislosigkeit. Es soll und kann nicht gutgeheißen werden, aber man muss versuchen sich hineinzuversetzen. Den Menschen mit Verständnis entgegenzukommen und ihnen erklären, dass diese Tradition nichts „mit Frau werden“ zu tun hat, nichts mit Fruchtbarkeit zu tun hat oder zu der Gesellschaft zu gehören. Einer Tradition den Kampf anzusagen ist wie dem Land ein Stück Ehre oder Stolz zu rauben. Es geht hier in erster Linie um Sensibilisierung und um Verständnis. Vermittelt man den Frauen, dass man versteht weshalb sie es tun, aber es nicht gut ist, kann man vieles erreichen. Der Mensch blockt meistens ab, sobald man den Finger auf ihn richtet und viele tun es mit der weiblichen Genitalverstümmelung. Das erschwert es ungemein. Jeder Kontinent, jedes Land, jede Stadt und jedes Dorf, dass die weibliche Genitalverstümmelung praktiziert, hat seine eigene Kultur, Tradition und Gründe warum es an diesem schrecklichen Brauch festhält. Bevor man sich diesem Problem stellt, muss man es verstehen. Frauen wollen in erster Linie ihren Männern gefallen und von der Gesellschaft akzeptiert werden. Eine Mutter, die ihre Tochter über alles liebt und nur das Beste für sie möchte, wird alles dafür tun, um ihr einen leichten Einstieg in die Gesellschaft zu gewähren. Wenn sie ihre Tochter hier für zu einer Beschneiderin bringen muss, um ihr einen Teil oder die komplette Schamlippe mit Klitoris entfernen zu lassen, dann wird die Mutter dies tun. Ganz egal, wie grausam das auch klingt. Die Absicht ist keine schlechte, aber die Tat ist es.

1.2 Islam und weibliche Genitalverstümmelung – Missbrauch und Chance Annette Nehberg-Weber, Rüdiger Nehberg Ein Erfahrungsbericht Klar, wenn unser aller Schöpfer die genitale Verstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) der Frau angeordnet hat, wenn es Sünde ist, sich dem zu widersetzen, weil es die Religion gebietet, dann hat sich ein wahrhaft Gläubiger dem zu fügen. Selbst unter Inkaufnahme von Tod, lebenslangen Leiden und Entwürdigung der Opfer. Mangelnde Bildung erleichtert es den Traditionalisten, die Mär vom angeblichen Willen des Schöpfers aufrecht zu erhalten. Und denen unter ihnen, die Bildung er-

1.2 Islam und weibliche Genitalverstümmelung  5

fahren durften, mangelt es am nötigen Mut, hier aufzuklären. Ein Verräter, wer sich dem Mainstream entgegenstellt. Das Thema ist tabu. Wir sind Augenzeugen dieses Dramas geworden. Das hat unser Leben verändert. Der Brauch verhöhnt nicht nur jede Form von Menschlichkeit. Er zeugt von hochgradiger menschlicher Selbstherrlichkeit und Gottesanmaßung. Die Religion wird missbraucht und dem Schöpfer unterstellt, bei der Schaffung der Frau gepfuscht zu haben. Dabei stellt Sure 95, Vers 4, für Muslime klar: „Allah schuf den Menschen in schönstem Ebenmaß“. Und der Hadith „La darar wa la dirar“ ergänzt, dass man weder Schaden zufügen darf noch erleiden muss. Hadithe sind Überlieferungen von angeblichen (so genannten schwachen) und tatsächlichen (starken) Äußerungen des Propheten. Dieser Hadith gilt als stark. Je mehr wir uns mit dem Brauch auseinandersetzen, stellt er sich uns als der größte „Bürgerkrieg“ der Menschheit dar: die Gesellschaft (Mann und Frau!) gegen Gesundheit und Unversehrtheit ihrer Mädchen, seit 5000 Jahren, mit täglich 8000 neuen Opfern (WHO). Weil 80 % der Betroffenen Muslimas sind (die übrigen sind Christen und Andersgläubige), ist das für uns der Anlass, den Brauch mithilfe der Ethik und Kraft des Islam zu beenden, verbunden mit der Hoffnung , dass die übrigen Religionsgemeinschaften dann folgen werden. Für diese Idee suchen wir Partner bei existierenden Menschenrechtsorganisationen. Sie sollen die politisch-theologische Arbeit leisten, wir wollen vor Ort des Geschehens aktiv werden. Das erweist sich als die erste Fehleinschätzung. Solche Partner finden wir nicht. „Mit dem Islam? Der ist doch gar nicht dialogfähig!“, wissen die einen. „Die jagen uns das Büro in die Luft“, prophezeien die anderen. Ehrlichere Antworten wären gewesen: „Wir haben Angst.“ Kurz entschlossen gründen wir unsere eigene Organisation. Wir nennen sie TARGET, englisch für ZIEL. Synonym auch für zielstrebig und pragmatisch. Das Ziel, für das wir kämpfen werden unter allen Umständen. Sowohl in direkter Konfrontation als auch mit Geduld und Diplomatie. „Was gibt euch die Hoffnung, mit ‚dem Islam‘ kooperieren zu können?“, ist die viel gehörte Frage. Das hat mit meiner, Rüdigers, Lebensgeschichte zu tun. In jungen Jahren habe ich mehrmals über Monate hinweg die arabischen Länder bereist. Mit dem Fahrrad, mit eigenen Kamelen. Allein oder zu dritt. Was mich neben all der wüstenbedingten Genügsamkeit besonders nachhaltig beeindruckt und geprägt hat, war die unendliche Gastfreundschaft, die mir allerorten zuteil wurde. Der letzte Tropfen Wasser, die letzte Dattel gehörten mir, dem Gast. Die Selbstlosigkeit gipfelte darin, dass mir meine einheimischen Begleiter bei Überfällen zweimal das Leben gerettet haben. Mit ihren Körpern als lebende Schilde. Ich stehe in ihrer Schuld. Diese Menschen haben mich gelehrt, zu differenzieren und mich vor Verallgemeinerungen zu hüten. Bei den führenden Ansprechpartnern des Islam stößt TARGETs Strategie der Kooperation von Anfang an auf offene Türen, Ohren und Herzen. Sultan Ali Mirah Hanfary vom Halbnomadenvolk der Afar (Danakilwüste, Äthiopien) ist der Erste, der uns vertraut und unterstützt. Er gestattet uns, seine 60 Clanführer, den Gesundheits-

6  1 Kontext der Genitalbeschneidung

beauftragten aus Addis Abeba und die höchsten Geistlichen des Volkes zu einer Stammeskonferenz einzuladen. Unerwartet erscheinen auch viele Frauen. Noch niemals hatte man in der Geschichte des Volkes über das Thema sprechen dürfen. Nicht einmal privat. Jetzt soll es sogar öffentlich diskutiert werden. Ausschlaggebend für des Sultans Zusammenarbeit sind die Fotodokumente von Annette. Mit ihrer Beschaffung hatte unsere Arbeit begonnen. Die Bilder und der Koran werden unsere unangreifbaren Argumentationshilfen. Wir wollen den verantwortlichen Entscheidungsträgern ungeschönt zeigen, wovon die Rede ist. Den Männern ist oft nicht klar, was den Mädchen angetan wird. Sie sind bei der Operation selten zugegen. Nach zweitägigen lebhaften Diskussionen ist der Beschluss gefasst: „Ab sofort ist FGM verboten.“ Eine Strafe soll später festgelegt werden. „Sonst sind die Menschen überfordert“, erklärt uns der weise Sheikh Darassa Moussa. Die Frauen brechen in Tränen aus und wollen Annette gar nicht mehr aus den Armen lassen. Unsere Illusion, dass die Tragödie damit ab sofort beendet ist, erfüllt sich nicht. Was 5000 Jahre rechtens war, lässt sich nicht von heute auf morgen auslöschen. Vor allem die älteren Frauen haben Schwierigkeiten, sich mit der neuen Situation abzufinden. „Eine Unbeschnittene ist triebhaft und bekommt keinen Mann.“ Und ohne Mann sind Frauen in jenen Kulturen kaum überlebensfähig. Die gesellschaftlichen Strukturen ermöglichen es ihnen nicht, sich selbst aus der entwürdigenden Situation zu befreien. Da muss Hilfe von außen, von Freunden kommen. Wir müssen in Afrika lernen, uns in Geduld zu üben. Wir bleiben in Äthiopien und praktizieren Nachhaltigkeit. Zum Beispiel mit einer fahrenden Krankenstation. Sie gibt uns den schockierenden Einblick in die Ausmaße des Schadens für die Frauen und wir erhalten einen Überblick, ob und wie langsam der Brauch rückläufig ist. Im Juni 2015 haben wir unsere medizinische Betreuung mit einer Geburtshilfeklinik deutschen Standards erheblich optimiert – praktisch und ehrenamtlich unterstützt vom Berufsverband deutscher Frauenärzte. Ein autarkes Dorf auf zwei Hektar Land. Der Erfolg bei den Afar ermutigt uns, auch im übrigen Äthiopien, in Djibouti, Somaliland, Guinea-Bissau und Mauretanien aktiv zu werden. Grundverschiedene Länder, die ebenso verschiedene Herangehensweisen erfordern. Zu Beginn der Arbeit stellen wir uns auf Konferenzen mit führenden Gelehrten vor, bitten sie um Kooperation und erleben überall die gleiche Offenheit. Die Entscheidungsträger verfassen Fatwas (theologische Rechtsgutachten, die empfehlend, aber nicht verpflichtend sind), der Großmufti von Mauretanien gestattet uns sogar, die neue Botschaft auf Fahnen zu schreiben und mit einer „Karawane der Hoffnung“ in die Oasen zu tragen (Abb. 1.1). Und allerorten die beglückende Erfahrung, dass man uns Fremde herzlich empfängt und wieviel mehr möglich ist, als man sich manchmal zu erhoffen wagt. Wir kommen als Beduinen zu Beduinen, auf Augenhöhe, als Bittsteller, ohne westliche oder christliche Besserwisserei. Der Lohn: man hört uns zu und ist grundsätzlich bereit, eine lebenslang vertretene Meinung zu ändern. Zum bisherigen Höhepunkt unserer Arbeit wird bereits im Jahre 2006 die „Internationale Gelehrtenkonferenz über das Verbot der Verstümmelung des weiblichen

1.2 Islam und weibliche Genitalverstümmelung  7

Abb. 1.1: Karawane der Hoffnung. Annette und Rüdiger Nehberg in Mauretanien (2005) – symbolischer Start ihrer Karawane der Hoffnung für die Mädchen Afrikas.

Abb. 1.2: TARGETs Internationale Gelehrtenkonferenz in der Al-Azhar zu Kairo (2006) unter Schirmherrschaft des Großmuftis von Äypten, Prof. Dr. Ali Gom’a. Sitzend v. li.: Prof. Ali Gom’a, Grossheikh Al Azhar Prof. Tantawi, Religionsminister Ägypten Prof. Zakzouk, Vertretung First Lady Mubarak M. Khattab, TARGET-Gründer Rüdiger Nehberg.

Körpers durch Beschneidung“ (Abb. 1.2). Nicht irgendwo, sondern in der ältesten Bildungsinstitution des Islam, der Azhar-Universität und Moschee in Kairo. Sie ist vergleichbar mit dem Vatikan der Katholiken. Großmufti Ali Gom'a, höchster Gelehrter für theologisches Recht, übernimmt dafür eigens die Schirmherrschaft. Ein Vertrauen, eine Ehre, eine Entschlossenheit, die uns demütig macht. Und das in Ägypten, einem Land, in dem 95 % der Frauen als verstümmelt gelten und der Brauch fanatisch verteidigt wird. Zu den Konferenzteilnehmern zählt auch Prof. Tantawi, Großsheikh Al- Azhar. Er ist der ranghöchste Gelehrte und vergleichbar mit dem Papst. Darüber hinaus nehmen Oulemas (Gelehrte) aus mehreren afrikanischen Ländern und Ärzte an der Tagung teil. Darunter auch Prof. Heribert Kentenich aus Berlin. Geradezu sensationell ist der Beschluss, die Fatwa. Ali Gom'a nennt sie historisch. Sie erklärt den Brauch FGM zu einem „strafbaren Verbrechen, das höchste Werte des Islam verletzt“. Hofften wir noch, nach nur sechs Jahren TARGET am Ziel

8  1 Kontext der Genitalbeschneidung

(a)

(b)

Abb. 1.3: (a) Bei TARGETs Konferenz zum Goldenen Buch für das Horn von Afrika (2009) studiert ein Imam die Inhalte des aufwendig gestalteten Buchwerkes. (b) Die Dokumentation und Fatwa der Azhar-Konferenz mit einem Vorwort des Großmuftis Ali Gom’a wurde als Predigtvorlage für Imame kostbar gestaltet. TARGET e. V. verteilt dieses mit Imam Teams in Verstümmelungsländern.

angelangt zu sein, müssen wir uns erneut damit abfinden, dass Papier geduldig und eine 5000 Jahre in die Köpfe der Menschheit implantierte Tradition nicht von heute auf morgen zu beenden ist. Niederlagen beflügeln die Fantasie. Sie spornen die Kreativität an. Um diese ignorierte Botschaft mithilfe von Predigten in den Moscheen ins Bewusstsein der Betroffenen zu tragen, dokumentieren wir die Azhar-Konferenz im so genannten „Goldenen Buch“ (Abb. 1.3), eine wertvoll gestaltete Predigtvorlage für Imame. Sie soll bestehen können neben dem Koran. Unser Schirmherr Ali Gom'a segnet das Buch sogar mit einem Geleitwort und macht es damit unanfechtbar. Seither sehen wir eine unserer Aufgaben darin, das Buch in die Länder zu tragen. Auf vorangehenden Konferenzen mit den jeweils führenden Geistlichen stellen wir das Buch vor und erreichen, dass sie selbst die Verteilung übernehmen. Wir finden es wichtig, uns bestmöglich zurückzuhalten. Aber es bleibt eine Sysiphus-Arbeit, denn letztlich sind es 35 Länder, in denen sich die Tradition ausgebreitet hat. Dort wo Imame Hemmungen haben, das heikle Thema in der Moschee anzusprechen, veranstalten wir probeweise Workshops. Die Imame werden vertraut gemacht mit dem unüblichen Vokabular. Es werden Probepredigten praktiziert. Diese viel Sensibilität erfordernde Aufgabe meistert unser langjähriger Berater, der Syrer und Imam Tarafa Baghajati aus Wien. Doch nicht immer läuft alles glatt. Es gibt durchaus verbissene Widerstände. Zum Beispiel in Guinea-Bissau. Mitarbeiter werden mit Flüchen belegt und körperlich bedroht. Es gibt Dörfer, wo wir Hausverbot haben. Ein weiterer bedeutender Erfolg ist uns beschieden durch die Fatwa1 des im „Westen“ umstrittenen Sheikhs Prof. Yusuf al-Qaradawi. In Europa gilt er als Hardliner und hat Einreiseverbot. Er ist der Verursacher des Dänemarkstreites um die Mo-

1 https://www.target-nehberg.de/HP-08_fatwa/index.php?p=appellQaradawi

1.2 Islam und weibliche Genitalverstümmelung  9

hammed-Karikaturen. In großen Teilen der islamischen Welt gilt er als Vorbild. Seine Meinung hat für viele Gläubige höchsten Stellenwert. Er war ursprünglich für Verstümmelung. Auf unserer Azhar-Konferenz hat der über 80-Jährige den Mut aufgebracht, seine lebenslang vertretene Meinung öffentlich und vehement zu revidieren aufgrund der medizinischen Gutachten. Nicht genug damit, schreibt er uns später in seiner Residenz in Qatar noch eine gesonderte, sehr persönliche Fatwa (alle Fatwas auf www.target-nehberg.de), verdammt FGM als „Teufelswerk“ und spricht einen leidenschaftlichen Appell in die Kamera, in dem er jeden Gläubigen dringend auffordert, von dem Brauch abzulassen, weil er großen Schaden verursacht. Wenn wir diesen Film auf den Konferenzen zeigen, springen die Delegierten vor Begeisterung auf und filmen die Rede mit ihren Handys. Qaradawis Appell hat nachweislich schon viele Mädchen vor der Verstümmelung bewahrt. Wir machen die Erfahrung, dass Filmdokumente eine wertvolle Ergänzung zu den verschriftlichten Fatwen sind. Sie sind authentisch. Hinzu kommt, dass viele Betroffene nicht lesen können.

Abb. 1.4: Weibliche Genitalverstümmelung ist ein Verbrechen, die gegen höchste Werte des Islam verstößt. Diese Azhar-Botschaft durfte TARGET vor der Organisation for Islamic Cooperation spannen. v. li. Deutscher Botschafter Ruge, Direktorin Familienministerium Dr. Grine, TARGET-Berater Baghajati, Familienministerium Fr. Mohamed, Rüdiger Nehberg.

10  1 Kontext der Genitalbeschneidung

Abb. 1.5: Sie haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Mädchen vor genitaler Verstümmelung zu schützen in Partnerschaft mit dem Islam – Annette und Rüdiger Nehberg mit Mädchen in Dschibuti.

Alles das sind mühsame Schritte auf dem Weg zum finalen Ziel, dem Ende der unsäglichen Tradition FGM. Es ist ein Weg von vielen, die andere Menschen gehen. Einen besonders wichtigen Erfolg versprechenden Ansatz dazu sehen wir in der Mitwirkung von Saudi-Arabien. Glücklicherweise wird im Geburtsland des Propheten und des Islam nicht verstümmelt. So hatte die Organization of Islamic Cooperation (OIC, islamische „UNO“) auf TARGETs Initiative das Thema bereits 2012 auf ihre Agenda genommen. Ein persönliches Gespräch mit dem zuständigen Generaldirektorat für kulturelle, soziale und familiäre Angelegenheiten im Juni 2016 in Dschidda gibt Grund zu der Hoffnung, dass die Delegierten der 56 Mitgliedstaaten den Brauch in absehbarer Zeit einstimmig verbieten und für strafbar erklären werden. Als noch vielbedeutender entwickelt sich das Gespräch mit dem Generalsekretär des Ältestenrates, Dr. Fahd Bin Saad Al Magid im Fatwa-Amt zu Riad. Das FatwaAmt ist die höchste theologische Rechtsinstitution des Landes. Unser Ziel ist eine Fatwa, die jegliche Form von FGM als Sünde wider den Islam brandmarkt. Eine solche Botschaft, verkündet zur Hauptpilgerzeit in Mekka, wenn dort vier Millionen Gläubige aus allen Teilen der Erde zusammenströmen, um dem Schöpfer der Menschheit ihre Reverenz zu erweisen, wäre ein Fanal von epochaler Dimension, ein Segen nicht nur für die Frauen, sondern auch eine Chance für den Islam, sich gegenüber dem islamistischen Terror mit den wahren Werten positiv zu positionieren. TARGET e. V. Ruediger Nehberg, www.target-nehberg.de, [email protected]

1.3 Soziale Strukturen des Rituals – Konstanz und Wandel  11

1.3 Soziale Strukturen des Rituals – Konstanz und Wandel Anni Peller Das Phänomen der Mädchenbeschneidung kann von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet werden. Typische Blickwinkel sind der gesundheitliche, der rechtliche und der historische. Das zeigt sich auch in der Benennung. Genitalverstümmelung, Beschneidung oder Female Genital Cutting sind häufig verwendete Bezeichnungen. In diesem Abschnitt soll die Mädchenbeschneidung von kulturanthropologischer Perspektive aus untersucht werden. Ausgangspunkt für diese Herangehensweise ist, dass es sich hier um eine rituelle Handlung bzw. um ein Übergangsritual handelt. Lässt man sich auf diesen Blickwinkel ein, wird deutlich, dass eine Bewertung dieses Phänomens in schwarz-weiß-Kategorien wie richtig oder falsch nicht angemessen ist. Soziale Hintergründe Nicht alles, was wir tun, machen wir bewusst oder gezielt. Wir hinterfragen nicht immer das Warum, die Bedeutung oder den Nutzen unseres Handelns. Das trifft insbesondere auf solche Handlungen zu, die wir in regelmäßigen Abständen wiederholen. Warum schmücken wir zu Weihnachten einen Baum mit Glaskugeln, Aluminiumstreifen und Lichtern? Warum geben wir uns zur Begrüßung die Hand? Trotzdem sind diese ritualisierten Handlungen nicht ohne Sinn und Verstand. Wir fragen nur nicht mehr danach, weil sie uns selbstverständlich geworden sind. „Das war schon immer so. Das ist eben so Brauch.“ Solche ritualisierten Handlungen geben uns die Sicherheit, etwas Richtiges zu tun, ohne darüber nachdenken zu müssen. Das ist ökonomisch und stärkt darüber hinaus das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe, derjenigen Menschen also, die etwas auf die gleiche Art und Weise tun und im Umkehrschluss etwas anders machen als Fremde, nicht der Gruppe Zugehörigen. Rituale oder ritualisierte Handlungen sind aus irgendeinem speziellen Grund einmal erfunden worden. Wir führen diese Handlungen aus, weil wir sie im Verlauf unserer Sozialisation so als richtig, anständig und sinnvoll vermittelt bekommen haben. Selbst wenn sich die Umstände mit der Zeit geändert haben, halten wir weiter an ihnen fest; sie sind uns sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen und ein Teil unserer Identität. Problematisch wird es, wenn ritualisierte Handlungen von Menschen durchgeführt werden, die einen anderen kulturellen Kontext und somit eine andere Sozialisation durchlaufen haben. Oft kollidieren hier Innen- und Außensicht. Wir verstehen die gebräuchlichen Handlungen der anderen nicht. Sie sind aus unserer Sicht oft überflüssig oder sinnlos. Ja, sie erscheinen uns teilweise als falsch und vollkommen absurd, insbesondere dann, wenn sie mit Schmerz, Blut und irreversiblen körperlichen Veränderungen verbunden sind. Solche Handlungen, zu denen im besonderen Maße das Ritual der weiblichen Beschneidung gehört, sind für uns bizarr und unvernünftig.

12  1 Kontext der Genitalbeschneidung

Nun, es ist immer leicht mit dem Finger auf andere zu zeigen und aus der Ferne festzustellen, dass sich die Anderen merkwürdig, absurd oder unklug benehmen. Evolutionär betrachtet kann aber eine Gesellschaft, die nach sinnlosen oder gar törichten Regeln handelt, langfristig nicht überleben. Für diejenigen, welche die Mädchenbeschneidung innerhalb ihrer gesellschaftlich manifestierten Moralvorstellung seit langem als Übergangsritual durchführen, ist diese Handlung weder sinnlos noch töricht, sondern vollkommen vernünftig und durchaus notwendig. Durch diese schmerzhafte Handlung wird markiert, dass das Individuum ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist. Ohne diesen ritualisierten Eingriff kann ein Mädchen in diesen geschlossenen Gesellschaften kein normales Leben führen. Das Durchführen des Rituals ist ein Teil seiner Identität. Erst durch die Beschneidung wird es in die Gruppe der Heiratswürdigen aufgenommen. Warum dies gerade durch diesen schmerzhaften Eingriff gekennzeichnet und bewiesen werden soll, wird von den Betroffenen nicht hinterfragt und ist für den Einzelnen auch nicht verhandelbar. Warum gerade das Ritual der Mädchenbeschneidung einmal erfunden worden ist, um die Heiratswürdigkeit eines Mädchens zu kennzeichnen, dafür gibt es zahlreiche Hypothesen. Sie berufen sich auf ökonomische, soziale, religiöse oder statuskennzeichnende Hintergründe. Allen gemeinsam ist, dass sie spekulativ sind. Sei es, dass sie der Geburtenkontrolle, der sozialen Abgrenzung der herrschenden Klasse, der eindeutigen Definition des Geschlechts, der gesellschaftlichen Ausgrenzung von Sklaven, der Verringerung femininen Geruchs und somit der Gefahr vor Übergriffen oder als Mittel der natürlichen Auslese dienen sollte. Es ist schwer möglich zu belegen, welches ursprüngliche Konzept hinter diesem Ritual stand und wann den Menschen die Idee dazu gekommen ist. Die Frage, die sich hier stellt, ist, welche Relevanz ein möglicher Beweis für den ursprünglichen Beweggrund hat. Wir müssen uns heute und hier mit der Mädchenbeschneidung auseinandersetzen und die aktuellen Beweggründe der Menschen verstehen, die dieses Ritual nach wie vor auch im Zeitalter der Globalisierung, gesellschaftlichen Homogenisierung und Informationsdichte praktizieren. Auch für die Arbore, eine rund 4.000 Mitglieder umfassende ethnische Gruppe im Südwesten Äthiopiens, war das Ritual der Mädchenbeschneidung eine unhinterfragte gesellschaftliche Norm. Seit 1993 arbeite ich als Ethnologin bei den Arbore und bin seitdem in die Gesellschaft, besonders in die Familie meiner mir zugeordneten bamira (Freundin) integriert. Auf meine Frage, warum sie dieses Ritual durchführen, warum die Heiratsfähigkeit eines Mädchens durch das Schneiden gekennzeichnet werden muss, antworteten Mütter, Väter, junge Männer und Mädchen mit „Dies ist unsere Tradition, das war schon immer so.“ Auf wertende Fragen meinerseits nach gut und schlecht reagierten sie mit Unverständnis, denn es war eine obligatorische Handlung, die keiner Bewertung oder Frage nach der Sinnhaftigkeit bedarf. Niemand, weder Frauen noch Männer, hat den starken Schmerz abgestritten. Aber was würde ohne das Schneiden ein Arbore-Mädchen zweifellos und unwiderruflich als

1.3 Soziale Strukturen des Rituals – Konstanz und Wandel  13

heiratswürdig kennzeichnen? Mit dieser Form des Übergangsrituals grenzten sich die Arbore auch von anderen ethnischen Gruppen ab. Die äthiopische Provinz Southern Nations, in der sie leben, ist geprägt durch zahlreiche kleine ethnische Gruppen, welche sich durch die verschiedensten Merkmale (Kleidung, Sprache, Rituale, Häuserform, Aspekte der Subsistenzwirtschaft etc.) gezielt voneinander abgrenzen und entweder, wie die Arbore, die Mädchenbeschneidung durchführen oder, wie beispielsweise die benachbarten Hamar, dieses Ritual nicht praktizieren. Neben der Beschneidung gibt es bei den Arbore zahlreiche andere, überwiegend äußerlich sichtbare Symbole, die den Status eines weiblichen Individuums kennzeichnen. Die einzelnen Sozialisationsstufen sind Mädchen (harat), Braut (uta), Ehefrau (sallé) und Mutter (ege). Ihr jeweiliger Status wird nach außen über Kleidung, Frisur aber auch spezielles Verhalten kenntlich gemacht. Am deutlichsten ist die Veränderung bei dem Statuswechsel vom Mädchen zur Braut sichtbar. Mit diesem Übergangsritual, welches sud (Hochzeit) genannt wird, zieht das Mädchen in die Hütte der Schwiegereltern, lässt sich die Haare lang wachsen, tauscht den Wickelrock aus Leder gegen einen Rock aus Stoff, trägt ein Vielfaches an Halsketten und legt mit der Zeit deutlich an Körperfülle zu. Die eisernen Fußringe, die bei den unverheirateten Mädchen bei jedem Schritt klirren und auch die nächtlichen Tänze der Jugend rhythmisch untermalen, werden ihr am letzten Tag des insgesamt viertägigen Hochzeitsrituals abgenommen. Die Beschneidung selbst fand am dritten Tag in der Hütte einer der ältesten Frauen aus dem Clan der Brautmutter statt. Die Durchführenden Die Beschneidung der Mädchen wird traditionell sowohl von Männern (Priestern oder Barbieren) als auch von Frauen durchgeführt. Bei den Frauen sind es traditionelle Geburtshelferinnen oder spezielle Beschneiderinnen, die von Dorf zu Dorf ziehen und über die rituelle Operation einen Teil ihres Einkommens sichern. Oft vererben sie ihr Amt an weibliche Mitglieder ihrer Familie weiter. Es gibt auch Fälle, wie bei den Arbore, wo das Amt der Beschneiderin nicht weitervererbt wird, sondern sich einzelne Frauen dazu berufen fühlen und öffentlich ihre Absicht bekunden, von nun an die Mädchenbeschneidung durchzuführen. Die Beschneider und Beschneiderinnen haben großen Einfluss in den Gesellschaften wie auch auf die Durchführung der Operation selbst. Nicht minder großen Einfluss haben jedoch die Mütter und Schwiegermütter. Für erstere ist es wichtig zu beweisen, dass ihre Tochter eine angesehene, moralisch handelnde, gesellschaftskonforme und somit heiratswürdige Person ist. Für die Schwiegermütter ist es wichtig, dass ihr Sohn ein anständiges Mädchen bekommt, das dem Ansehen der neuen Familie wohldienlich ist. In jüngerer Zeit ist zu beobachten, dass diejenigen, die es sich leisten können, ihre Mädchen in medizinischen Einrichtungen beschneiden lassen. Hier wird der Eingriff von professionellen Kräften wie ausgebildeten Hebammen oder Ärzten vorgenommen.

14  1 Kontext der Genitalbeschneidung

(a)

(b)

Abb. 1.6: (a) Baro, Mädchen (harat), 1993; (b) Baro, Ehefrau und Mutter (sallé), 1997.

Das Alter Die Altersspanne, in der die Mädchenbeschneidung durchgeführt wird, ist sehr groß. Der Zeitpunkt des Eingriffs reicht von wenigen Tagen nach der Geburt bis zu – wie in Arbore – der Hochzeit, die durchaus erst mit Mitte 20 stattfinden kann. Generell existieren zwei signifikante Termine: Der erste umfasst den Altersabschnitt zwischen vier und acht Jahren. Es ist vorstellbar, dass durch die rituelle Operation zu diesem Zeitpunkt eine Beendigung der Kindheit und der Beginn der Integration des Mädchens in den Arbeitsprozess manifestiert wird. Hierdurch wird der Beginn des sozialen Reifungsprozesses markiert, der sich nicht synchron mit dem der physischen Pubertät vollzieht. Der zweite charakteristische Zeitpunkt kennzeichnet deutlich einen Initiationsritus, durch welchen das Mädchen in den Kreis der Heiratsfähigen aufgenommen wird. Dieser Termin wird zum ungefähren Zeitpunkt der physischen Pubertät gewählt. Oftmals werden den Mädchen in diesem Zusammenhang Regeln, Verhaltensweisen und Tricks für ihr späteres Erwachsenendasein beigebracht. Dazu gehören beispielsweise Haushaltsführung, Kinderbetreuung, Hygiene und Tänze. Neben diesem durch das Alter der Mädchen traditionell festgesetzten Zeitpunkt der Beschneidung können äußere Faktoren Einfluss auf den Termin haben. Hierzu zählen jahreszeitliche Bedingungen wie Trockenzeit, Ernte oder Ferien, die finanzielle Situation oder auch die mythische Bestimmung des geeigneten Zeitpunkts durch den rituellen Chief. Das gesamte Zeremoniell selbst kann Minuten, Stunden, Tage oder auch Wochen dauern.

1.3 Soziale Strukturen des Rituals – Konstanz und Wandel  15

Anzahl der Initiandinnen Die Beschneidung wird häufig an einzelnen Mädchen vorgenommen. Es kommt aber auch vor, dass mehrere Mädchen einer Familie, eines Clans oder einer Altersklasse gemeinsam beschnitten werden. Ein jüngeres Phänomen sind Massenbeschneidungen von mehreren Dutzend Mädchen an einem Ort an einem Tag. Diese haben einen praktischen Hintergrund: Solche Massenbeschneidungen werden in den Schulferien durchgeführt, da die Mädchen hier im familiären oder dörflichen Kreis greifbar sind und zu dem Zeitpunkt keinen Unterricht versäumen. Grenzen des Rituals Die rituelle Praxis der Mädchenbeschneidung kennt keine Grenzen – weder geographische, religiöse, noch soziale. Gleichermaßen, wie der Brauch bei Moslems, Christen und Vertretern indigener Religionen auf dem afrikanischen Kontinent anzutreffen ist, stößt man hier auch auf Ablehnung des Rituals bei allen Religionsrichtungen. Betrachtet man die geographische Verteilung des Rituals bezogen auf die im Land praktizierten Religionen, so wird deutlich, dass hier kein Zusammenhang existiert. Die einzige erkennbare Grenze ist die ethnische Gruppe selbst. Ganz allein die spezifischen Vorstellungen einer Ethnie über Moral, Körperbeschaffenheit und soziale Karriere bestimmen, ob eine Beschneidung notwendig gefordert oder eben abgelehnt wird.

Christentum-Islam – indigene Religionen Christentum Christentum-Islam Christentum-indigene Religionen Islam Islam-Christentum Islam-indigene Religionen indigene ReligionenChristentum indigene Religionen-Islam „Band der Mädchenbeschneidung“

Abb. 1.7: Geographische Verteilung des Rituals bezogen auf die im Land praktizierten Religionen (gewichtet).

16  1 Kontext der Genitalbeschneidung

Veränderbarkeit Die obige Auflistung der grundlegenden Details zeigt die enorme Variationsbreite des Rituals der Mädchenbeschneidung. Eine einheitliche, universell gebräuchliche Zeremonie ist ebenso wenig festzustellen, wie eine exklusive religiöse Zuordnung. Solche Abweichungen von Details sind eine anthropologische Konstante innerhalb der Übergangsrituale. Darüber hinaus verändern sich Übergangsrituale in Raum und Zeit, trotz ihrer festen Verankerung im gesellschaftsspezifischen Moralkodex. Rituale sind nicht statisch. Sie breiten sich aus, verändern einzelne Komponenten oder sie werden vergessen oder gar abgeschafft. Allerdings bedarf es hierzu starker, oft mehrerer Auslöser. Einer dieser Auslöser sind Kriege. Der langjährige Unabhängigkeitskrieg zwischen Äthiopien und Eritrea im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts hatte unmittelbaren Einfluss auf die Einstellung der Frauen beider Länder zur Mädchenbeschneidung. Die Kampftruppen bestanden aus bis zu 30 % weiblichen Kämpfern. Viele der Kämpferinnen waren beim Eintritt in die Guerilla unter 14 Jahre alt und kämpften über zehn Jahre an der Front, teilweise auch in höheren Positionen. Nach der Beendigung des Krieges 1993 wollten bzw. konnten viele Kämpferinnen nicht mehr in ihr altes traditionelles Leben zurück und standen auch althergebrachten Traditionen wie der Beschneidung abweisend gegenüber. Die Veränderung oder Abschaffung eines Rituals kann nur von innen her kommen, durch eine Veränderung der Lebensumstände oder eine gewachsene Veränderung der Einstellung der Menschen. Gesetzlich verankerte Verbote allein, die von außen übergestülpt werden, reichen nicht aus. Das zeigt die angesprochene Problematik der Medikalisierung des Beschneidungsrituals. Ärzte und medizinisches Fachpersonal verstoßen mit der Durchführung dieser medizinisch nicht notwendigen Operation gegen ihren beruflichen Ehrenkodex und meist auch gegen das im Land herrschende Gesetz. An solch einer Beschneidung im Krankenhaus ist nicht mehr Ritual als an einer Appendektomie. Aber diese Verlagerung und der wissentliche Verstoß gegen Medizinerethos und Gesetz sind ein deutliches Zeichen dafür, wie tief Traditionen im kollektiven Bewusstsein verankert sind. Auch wenn sich der Bezugsrahmen des Eingriffs radikal ändert, die Überzeugung, das Richtige zu tun, dem Mädchen nur hierdurch den normalen Werdegang in der Gesellschaft zu ermöglichen, bleibt bestehen. Allein gesetzlich verankerte Verbote ändern daran nichts, weil diese an der Einstellung der Menschen kaum etwas ändern. Die Tradition der Mädchenbeschneidung ist deshalb so beständig, da über sie soziale Identität geschaffen, sittliches Verhalten gewährleistet und Machtverhältnisse stabil gehalten werden. Die Debatte kann hier nicht mit westlichen Methoden auf Grundlage eines westlichen Selbstverständnisses über Körper, Individualität und Gleichstellung geführt werden. Vielmehr muss eine gedankliche Annäherung, ein Verstehen der fremden Kultur, ihrer Struktur, sozialen Strategien, Sprechweisen und Besonderheiten stattfinden. Ein tief verwurzeltes Traditionsbewusstsein, die Notwendigkeit, Statusü bergänge sichtbar zu machen, die Unvorstellbarkeit um Alternativen

1.3 Soziale Strukturen des Rituals – Konstanz und Wandel  17

und die Normalität, die ein durch die Beschneidung veränderter weiblicher Körper in den betreffenden Gesellschaften darstellt sind Gründe dafür, warum sich dieses für uns so absurd erscheinende Ritual weiterhin hält. Ein funktioneller Ersatz zum Schneiden kann einige dieser genannten Gründe gegenstandslos werden lassen. Das ist beispielsweise in Kenia geschehen, wo seit Mitte der 90er-Jahre ein Übergangsritual als Alternative angeboten und durchgeführt

(a)

(b)

(c)

(d)

(e)

(f)

(g)

(h)

(i)

(j)

(k)

(l)

Abb. 1.8: Arbore, 20. Oktober 2013. (a) Beginn des Schauspiels: Die Ältesten lobpreisen die Hochzeit. (b) Die Braut sitzt in der Hütte der Clanältesten auf dem Beschneidungssitz. (c) Die Spitze eines Ziegenohrs wird abgeschnitten. (d) Die Braut wird gewaschen. (e) Das Blut wird von Messer und Beschneidungssitz gewaschen. Alles – Blut, Kindheit, „Klitoris“ (hooli – Nacktheit), bleibt in der Hütte der Clanältesten. (f) Die Braut wird bedeckt und zu den Schwiegereltern gebracht. (g) Sie betritt den Kral der Schwiegereltern und wird ihnen übergeben. (h) Beginn offizieller Teil: Männer der Arbore, Nachbarn, Vertreter der Regionalregierung und Fernsehen kommen zusammen. (i) Reden werden gehalten, die Veränderungen werden gesegnet. (j) Wie bei einer richtigen Hochzeit gibt es ein Festmahl. (k) Die Ältesten erhalten als Dank für ihre Befürwortung der Veränderung des Rituals ein Tuch. (l) Ein Arbore gibt ein Fernsehinterview und betont wie wichtig es ist, dass die Mädchen ab sofort nicht mehr beschnitten werden.

18  1 Kontext der Genitalbeschneidung

wird, welches die tatsächliche Beschneidung durch eine „Beschneidung durch Worte“ ersetzt. Auch in Arbore gibt es seit dem 20. Oktober 2013 kein Schneiden während des Hochzeitsrituals mehr. In einem öffentlichen Festakt, zu dem Arbore, Nachbarn, Vertreter der regionalen Verwaltung und nationale Medien eingeladen waren, wurde verkündet, dass das Ritual von nun an geändert und das Abschneiden der Klitoris durch das Abschneiden einer Ohrspitze einer Ziege aus dem Brautpreis ersetzt wird. Dieser neue, geänderte Teil des Hochzeitsrituals wurde in einem Theaterstück (mit einem Jungen als Initianden, weil sich kein Mädchen getraute) vorgeführt. Männer hielten Reden, Frauen kochten ein Festmahl. Die Ältesten der Arbore erhielten für ihre Entscheidung und Befürwortung der Veränderung ein Tuch zum Geschenk. Das Fest wurde im nationalen Fernsehen übertragen. Der gesamte Prozess, der letztlich erfolgreich zur Abschaffung der Mädchenbeschneidung geführt hat, dauerte über zehn Jahre, initiiert durch einige, progressiv eingestellte Arbore selbst und unterstützt durch NGOs. Referenzen Asali A. Ritual female genital surgery among Bedouin in Israel. Archive of Sexual Behavior 1995 (5):571–575. Deutsche Stiftung Weltbevölkerung. Newsletter(23) vom März 1997. Grassivaro GP, Viviani F. The Origin of Infibulation in Somalia. An ethnological Hypothesis; In: Ethology and Sociobiology. 1992(13):253–265. Hosken F. The Hosken Report; Lexington, International Network News, 1993. Krug S. Anthropologie der Kriegs- und Nachkriegszeit in Äthiopien; Hamburg, LIT Verlag, 2000. Lightfoot-Klein H. Das grausame Ritual; Frankfurt a. M., Fischer TbV, 1996. Peller A. Chiffrierte Körper – Disziplinierte Körper. Female Genital Cutting: Rituelle Verwundung als Statussymbol (Diss.); Berlin, Weißensee Verlag, 2002. Schnüll P. Weibliche Genitalverstümmelung. Eine fundamentale Menschenrechtsverletzung; Göttingen und Tübingen, Terre des Femmes e. V., Textsammlung, 1999. Toubia N. Female Genital Mutilation. A Call for Global Action; New York, Women Ink, 1995.

1.4 Was wissen Männer über die geheime Welt der Frauen? Adriana Kaplan Marcusán Untersuchungen über geschlechtsbezogene Gewalt zeigen, dass es üblicherweise Männer sind, die Gewalt gegen Frauen ausüben [3]. Allerdings wird im Falle der weiblichen Genitalverstümmelung die Praxis durch Frauen ausgeführt und in deren Kreisen als Geheimnis gehütet [9]. Daher ist die Überschneidung der Beziehung zwischen Männern und FMG nicht so offensichtlich und direkt wie bei anderen Formen der Gewalt gegen Frauen [4]. In der gambischen patriarchalen Gesellschaft werden die politischen, legalen und religiösen Bereiche immer noch von Männern kontrolliert, die daher als zentrale Torhüter für Geschlechtergleichheit und die Beendigung der Verstümmelungspraxis

1.4 Was wissen Männer über die geheime Welt der Frauen?  19

gelten [5]. Angesichts der dominierenden Rolle, die Männer bei gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen spielen, weist eine umfangreiche Literatur auf die Bedeutung der Einbeziehung des männlichen Geschlechts in die Forschung und Präventionsstrategien der FMG [1,2,5,10]. Die besondere Rolle jedoch, die Männer bei der Fortsetzung der FGM-Praxis spielen, ist noch nicht erfasst. FGM und die Männer in Gambia: Ansichten und Schlüsselfaktoren Bisherige Studien in Gambia über das Wissen von ländlichen gambischen Gesundheitsfachleuten zum Thema FGM haben offenbart, dass die Bereitschaft, die Fortsetzung der Praxis zu unterstützen, unter Männern höher ist. Insbesondere gaben die Männer Moral und das Religionsgebot zur Beschneidung als stärkste Gründe für ihre Überzeugung an [6]. Kaplan et al. [6] haben die einzige bekannte Untersuchung zum Thema Männer und FGM in Gambia durchgeführt, mit dem Ziel „die männliche Sicht der geheimen Welt der Frauen“ zu erfassen. Die Ergebnisse dieser quantitativen Studie deuten darauf hin, dass die Meinungs- und Einstellungsbildung beim Mann durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren geschieht und nicht von einer einzigen Größe abhängt [6]. Zuallererst ist ethnische Identität die entscheidende Variabel in Bezug auf Befürwortung der Praxisfortführung; Männer aus traditionell FMG-praktizierenden Volksgruppen zeigten deutlich mehr Unterstützung als andere. Den Ergebnissen dieser Studie ist zu entnehmen, dass Männer aus den Mandinka-, Fula-, Serahule- und Djola-Ethnien die größte Unterstützung im Vergleich zur Gesamtstudienpopulation zeigen, da sie aus traditionell FMG-praktizierenden Volksgruppen, mit einer FMG-Prävalenz von 87 % und mehr kommen [8]. Im Gegensatz hierzu zeigen Wolof- und Serer-Männer mit jeweils 5,2 % und 16,4 % Befürwortung einer Beschneidung ihrer Tochter, die geringste Zustimmung [6]. Im Falle einer interethnischen Ehe zwischen einem Mann aus einer praktizierenden Gesellschaft und einer Frau aus einer nichtpraktizierenden, entscheidet oft die Großmutter väterlicherseits die Praxis fortzuführen, da sie eher über die Erziehung der Enkelkinder bestimmt als die Großmutter mütterlicherseits. Diese Dynamik zeigt, dass der Vater manchmal die einzige Person ist, die über die Fortführung der FMG-Praxis entscheidet, obschon Frauen hauptsächlich für deren Erhalt verantwortlich sind. Dass die Mehrheit der Männer nicht aktiv in den Entscheidungsprozess involviert ist, bedeutet in der Tat nicht, dass sie ihn nicht beeinflussen können [6]. Religion als Grund zur Fortsetzung von FGM gilt nicht für alle ethnischen Gruppen. Traditionell FMG praktizierende Volksgruppen neigen dazu, die Praxis als religiöse Aufforderung oder „Sunna“ zu rechtfertigen, während fast alle anderen Gruppen es ablehnen, die Praxis als Gebot des Islams zu betrachten [6]. Allerdings ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass der Grad der Unterstützung durch die Männer innerhalb der traditionell FMG praktizierenden Volksgruppen signifikant unterschiedlich ist.

20  1 Kontext der Genitalbeschneidung

Des Weiteren konnte Alter als beeinflussender Faktor der Einstellung von Männern zur Praxis erfasst werden. Angesichts der Tatsache, dass junge Männer sich der negativen Gesundheitsfolgen eher bewusst sind, zeigen sie eine höhere Bereitschaft FGM abzuschaffen und seltener die Absicht ihre Töchter dieser Prozedur zu unterziehen. Im Zusammenhang mit Alter ist das Bewusstsein der negativen Gesundheitsfolgen dieser Praxis der prägende Faktor der männlichen Einstellungen. Während ältere Männer (über 60 Jahre) das geringste Bewusstsein zu den Gesundheitsfolgen hatten, sah ein höherer Prozentsatz von ihnen als in anderen Altersgruppen (16–30 Jahre und 30–45 Jahre) eine Beziehung zwischen FGM und Islam sowie eine Gleichwertigkeit mit der männlichen Beschneidung [6]. Daher kann man auch behaupten, dass eine positive Veränderung zu Einstellungen und Praktiken durch den Grad des Wissens über die Gesundheitsfolgen beeinflusst wird. Schließlich lieferten die Ergebnisse Informationen über die Beteiligung der Männer an der Entscheidung, die eigenen Töchter der Praxis zu unterziehen [6]. Obschon die statistische Analyse in der Studie nicht beweiskräftig ist, weisen die Daten auf eine nicht näher definierte Art der Beteiligung der gambischen Männer bei der letzten Entscheidung über die Durchführung an der jungen Generation hin [6]. Im Gegensatz zu den oben erwähnten Faktoren scheint ein Verständnis über die Beteiligung der Männer am Entscheidungsprozess bei den eigenen Töchtern ein Schlüsselfaktor für die Forschung zu sein, weil es eine der Ebenen aufzeigt, auf der Männer direkt in die Fortsetzung der Praxis involviert sein mögen. Die Entscheidung ein Mädchen der Praxis zu unterziehen oder nicht, scheint das Ergebnis eines komplexen multifaktoriellen Prozesses zu sein. Obgleich wenige Männer aktiv an diesem Prozess teilnehmen, beeinflussen sie ihn durch die Befürwortung der FGM bei ihren Töchtern. Ihre Unterstützung, welche sehr von ihrer ethnischen Identität abhängt, ist wesentlich stärker, wenn sie einer traditionell FMG praktizierenden Volksgruppe angehören. Das Bewusstsein der Gesundheitskomplikationen jedoch zeigt eine Tendenz zur positiven Beeinflussung der männlichen Bereitschaft eine präventive Rolle zu spielen. In dieser Gedankenfolge mag eine Strategie der Berücksichtigung des männlichen ethnischen Hintergrunds und der Fokussierung auf die Vermittlung eines besseren Verständnisses für die negativen Gesundheitsfolgen der FGM, ein effektiver Weg zur Beeinflussung und zur positiven Veränderung der geheimen Welt der Frauen zu sein [6]. Die Rolle der Männer beim Verzicht auf FGM Eine Studie, welche die Veränderungen und Trends bei Wissen, Einstellung und Praxis unter Gesundheitsfachleuten in Gambia zwischen 2012 und 2014 untersuchte, zeigte auf, dass die Männer in zunehmendem Maße als Schlüsselfiguren in der Prävention von FGM angesehen werden. 90 % der mittels eines Selbstfragebogens befragten Gesundheitsfachleute und Medizinstudenten fänden es gut, wenn sich Männer an der Debatte über FGM beteiligen würden. In einer ähnlichen Studie, welche

1.4 Was wissen Männer über die geheime Welt der Frauen?  21

zwischen 2009 und 2011 durchgeführt wurde, offenbarten die Ergebnisse einen Widerstand seitens der weiblichen Gesundheitsfachleute, die Männer einzubeziehen [5–7]. Dies zeigt einen deutlichen Wandel seit der Vergangenheit, in der die FGM-Praxis als reine „Frauenangelegenheit“ eingestuft wurde und gibt Grund zur Hoffnung auf eine positive Veränderung durch Einbeziehung der Männer in die Prävention. Zudem zeigen Untersuchungen zur Rolle der Männer beim Verzicht auf FGM in den letzten Jahren darauf hin, dass Männer stärker involviert und weiter sensibilisiert sowie Männer und Frauen zum Dialog miteinander ermutigt werden sollen. Die Studie über die geheime Welt der Frauen, von Männern aus betrachtet, veranschaulicht die Notwendigkeit Männer als Zielgruppe in Bezug auf Präventionsstrategien zu nehmen. 71,4 % der Männer in der Gesamtstudiengruppe wussten nichts von den negativen Folgen der FGM auf Gesundheit und Wohlergehen der Mädchen und Frauen [6]. Daher sollten Interventionen diese Wissenslücke bei Männern spezifisch angehen, um eine Einstellungsänderung zu bewirken. Nach Varol et al. [10] stellt der Bildungsgrad der Männer einen der wichtigsten Indikatoren für die männliche Unterstützung eines Verzichts auf FGM dar. Sozialer Zwang und der fehlende Dialog zwischen Männern und Frauen sind zwei Schlüsselprobleme, die Männer als Hindernis zum FGM-Verzicht anerkennen. Weil die Praxis mit weiblichen Genitalien zu tun hat, wird sie in gewissen Gesellschaften mit stark konservativen Geschlechtsnormen als Tabu betrachtet. Das Thema wird jedoch nicht mehr ausschließlich unter Frauen diskutiert. Jüngere Generationen sind besser informiert und Dank der Sensibilisierungskampagnen über die Massenmedien bereitwilliger die FGM-Praxis aufzugeben. Die Ergebnisse dieser Studie haben auch zur Erkenntnis geführt, dass die Fürsprache durch Männer und die Zusammenarbeit zwischen Gesundheits- und Gemeindeprogrammen für Männer und Frauen wichtige Schritte im Prozess des Verzichts auf FGM sind [10]. Die erste quantitative Studie über FGM und Männer hat Einblicke in die ursächlichen Faktoren der männlichen Einstellung zur FGM-Praxis in Gambia ermöglicht [6]. Dennoch gibt es Grenzen bei einer quantitativen Herangehensweise, wenn man die Zusammenhänge zwischen Männern und Fortführung der Praxis erklären will. Daher ist weitere Forschung zu dem Thema mit quantitativer wie auch qualitativer Herangehensweise notwendig, um eine möglichst optimale Einbeziehung der Männer in zukünftige Präventionsstrategien zu ermöglichen. Die Ergebnisse der verschiedenen vorher genannten Studien zeigen auf, dass zunehmendes Wissen über die gesundheitlichen Folgen bei den Männern und deren Einbeziehung in die Debatte wesentlich für einen positiven Wandel sind. Zukünftige Maßnahmen sollten deshalb fortfahren, über die gesundheitlichen Folgen der FGM-Praxis zu informieren, stets Männer und Frauen einbeziehen und eine Kommunikationsplattform anbieten, welche die kulturellen Merkmale der Zielgruppen berücksichtigt, um eine Ablehnung zu vermeiden. Da die FGM-Praxis tief in traditionellen Überzeugungen verwurzelt und zeitweise mit Interpretationen von religiösen Pflichten verbunden ist, sollte man sich stets der Sensibilität des Themas bewusst sein.

22  1 Kontext der Genitalbeschneidung

Referenzen Almroth L, Almroth-Berggren V, Mahmoud Hassanein O, et al. “Male complications of female genital mutilation”. Social Science & Medicine. 2001;53(11):1455–1460. [2] Brown E, Mwangi-Powell F, Jerotich M, Le May V. “Female Genital Mutilation in Kenya: Are young men allies in social change programmes”. Reproductive Health Matters. 2016;24(47):118–125. [3] DeKeseredy WS, Schwartz MD. Masculinities and interpersonal violence in Michael Kimmel S, Hearn MS, Connell J (eds.) the Handbook of studies of men and masculinities. Thousand Oaks, Calif.: Sage Publications, 2005. [4] Flood M. Involving Men in Efforts to End Violence Against Women. Men and Masculinities. 2011;14(3):358–377. doi:10.1177/1097184x10363995 [5] Kaplan A, et al. “Knowledge, attitudes and practices of female genital mutilation/cutting among health care professionals in The Gambia: a multiethnic study”. BMC Public Health. 2013;13:851. [6] Kaplan A, Cham B, Njie L, et al. “Female Genital Mutilation/Cutting: The Secret World of Women as Seen by Men”. Obstetrics and Gynecology International. 2013;11. [7] Kaplan A, Cham B, Njie LA, et al. “Female Genital Mutilation/Cutting: The secret world of women seen by men” Obstetrics and Gynecology International. 2013; http://dx.doi.org/10.1155/2013/ 643780 [8] MICS, 2010. UNICEF/Gambia Bureau of Statistics. 2012. The Gambia: Multiple Indicator Cluster Survey 2010: Final Report. [9] Shell-Duncan B, Wander K, Hernlund Y, Moreau A. “Dynamics of change in the practice of female genital cutting in Senegambia: Testing predictions of social convention theory”. Social Science & Medicine. 2011;73(8):1275–1283. [10] Varol N, Turkmani S, Black K, Hall J, Dawson A. The role of men in abandonment of female genital mutilation: a systematic review. BMC Public Health. 2015;15:1034. http://doi.org/10.1186/ s12889-015-2373-2 [1]

1.5 Einfluss des gesellschaftlichen Umfelds – Das Fremde und das Eigene Anni Peller In einem lebenslangen Prozess bekommen wir unsere Denk- und Gefühlsmuster vermittelt. Wir werden sozialisiert, und zwar ganz spezifisch durch die uns umgebende soziale Umwelt. Wir verinnerlichen die hier gültigen gesellschaftlichen Normen und entwickeln daraus ein Bewertungsmuster für Gut und Böse, richtig und falsch. Wir glauben daran, dass dieses Muster – und zwar nur dieses – das einzig Wahre ist. Glauben ist ein Fürwahrhalten, und verzichtet auf den Beweis. Das mit dem Glauben verbundene Vertrauen wird zu einem wichtigen sozialen regulativen Prinzip und erspart oder verhindert häufig Zweifel oder Überprüfung. Das ist ökonomisch. Konflikte treten dann auf, wenn wir mit Menschen zusammentreffen, die eine andere Sozialisation durchlaufen haben und unsere Bewertungskategorien plötzlich in Frage stellen. Derzeit müssen wir uns in einem bisher noch nicht dagewesenen Ausmaß mit solchen anderen Bewertungskategorien auseinandersetzen. Das geschieht in zwei Richtungen – Migranten tragen ihre fremden Vorstellungen von Moral und Normen zu uns und wir tragen unsere eigenen Ideen durch Reisen und ein immer dichter wer-

1.5 Einfluss des gesellschaftlichen Umfelds – Das Fremde und das Eigene  23

dendes Kommunikationsnetz aus unserer Kultur heraus in die Fremde. So erfahren wir, ebenso wie die anderen, dass ein anderes gesellschaftliches Umfeld auch anders bewertet – Schönes wird auf einmal hässlich, Tugendhaftes anstößig oder Unbedeutendes wesentlich. Diesem Widerspruch kann auf unterschiedlichen Wegen entgegengetreten werden. Eine Möglichkeit ist, dass man das Fremde in seiner eigenen Gesellschaft toleriert und den anderen in seinen Vorstellungen und Handeln so belässt. Dies ist in zahlreichen Bereichen sicherlich ein gängiger und guter Weg, beispielsweise bei Essgewohnheiten, Kleidung, Frisur oder Musik. Im Falle des Rituals der Mädchenbeschneidung, das von Migranten mit in die westliche Welt importiert wird, ist dieser Weg jedoch vollkommen indiskutabel. Diesen fremden Brauch können und dürfen wir bei uns nicht tolerieren, nicht zuletzt deshalb, weil er gegen bestehende Gesetze verstößt. Wir erwarten, dass sich die Migranten zumindest soweit anpassen und integrieren, dass sie nicht gegen in ihrem Einwanderungsland geltendes Recht verstoßen. Die internationale Staatengemeinschaft definiert die Realität der Mädchenbeschneidung nicht mehr als eine rein kulturelle Gegebenheit mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen, sondern bewertet sie als eine Verletzung der menschlichen Grundrechte. Welche Formen die gesetzlichen Regelungen in den westlichen Industrienationen auch haben, der Erfolg von deren Umsetzung hängt maßgeblich von mehreren Faktoren ab: Wie hoch ist der Druck in einem Einwanderungsland, hier überhaupt etwas zu tun (Anzahl und Herkunft der Migranten), gibt es zusätzliche Aufklärungskampagnen, gibt es weitere gesetzliche Regelungen, die das Verbot der Mädchenbeschneidung unterstützen. In Frankreich, wo ein hoher Anteil an Migranten aus westafrikanischen Staaten kommt, besteht eine Meldepflicht für begangene oder drohende Mädchenbeschneidung. Seit Mitte der 70er Jahre kommt es hier regelmäßig zu Verurteilungen, welche sowohl die Eltern als auch die Operateure betreffen. Eine andere Möglichkeit, auf sich widersprechende Bewertungen kultureller Normen zu reagieren, ist die Veränderung der Bewertung oder der Norm selbst von innen heraus. Solch eine Veränderung kann im Falle der Mädchenbeschneidung in zwei unterschiedliche Richtungen gehen – entweder sie wird abgemildert oder gar abgeschafft oder der Eingriff wird radikalisiert. Es gibt einige Beispiele, wo sich infolge von Migration und interethnischen Heiraten der Typus der Mädchenbeschneidung verändert hat. Bei Beduinen in Südisrael kam es zu einer Abschwächung dahingehend, dass nur noch eine rituelle Inzision durchgeführt wird. Aber auch der umgekehrte Fall, ein Übernehmen der radikaleren Exzisionsform, ist anzutreffen. Die Fallata Rattana im Sudan, die ursprünglich die Sunna durchführten, haben zum Typ III, der Infibulation gewechselt. Grund hierfür waren infolge der Verstädterung vermehrte Heiraten mit Ethnien arabischer Herkunft, welche traditionell den Typ III praktizieren. Durch solch eine Radikalisierung werden die Unterschiede verstärkt, um so die kulturellen Grenzen deutlicher zu machen und sich seine kulturelle Identität zu wahren.

24  1 Kontext der Genitalbeschneidung

Es ist noch nicht ausreichend erforscht, wie sich die kulturelle Vermischung von afrikanischen Migranten in den Industrienationen auf die Situation der Praktik der Mädchenbeschneidung auswirkt. Es ist jedoch stark davon auszugehen, dass es hier Veränderungen gibt. Infolge der wachsenden Migration und der aktuellen Flüchtlingswelle wird die Auseinandersetzung mit der Praktik der Mädchenbeschneidung zukünftig noch an Bedeutung gewinnen. Die Praktik abzumildern, gegen harmlose Alternativen auszutauschen oder gar gänzlich abzuschaffen wird ein sehr langwieriger Prozess sein. Der Wille zur Integration ist hierfür eine Schlüsseleigenschaft, die in beiden Richtungen vorhanden sein muss.

2 Zwischen Tradition und eigenen Ansprüchen – Berichte Betroffener 2.1 Isolation durch Bruch eines Tabus Farhia Mohamed Was bedeutet es für eine beschnittene Frau, sich rekonstruieren zu lassen? Der rekonstruktive Eingriff bewirkt in erster Linie eine große Erleichterung. Die Erleichterung, sich wieder als vollkommene Frau zu fühlen. Außerdem bedeutet es auch eine Befreiung von den kulturellen Eigenheiten, welche die Beschneidung erst möglich gemacht haben. Auch die Befreiung von den aus der Beschneidung resultierenden Schmerzen oder Beeinträchtigungen hat einen hohen Stellenwert, der die Lebensqualität verbessert. Die Angst vor dem Geschlechtsverkehr mit dem Ehepartner kann durch die Rekonstruktion vermindert werden. Es ist besonders schlimm, trotz aller Liebe Angst vor dem Partner zu haben. Ist die Rekonstruktion überstanden, sieht man den Frauen ein viel größeres Selbstbewusstsein an. Was gibt es für Probleme in der Community? Eine beschnittene Ehefrau hat einen hohen Stellenwert in der Community. Die Ehemänner geben wesentlich mehr Geld für eine Frau aus, welche beschnitten wurde, als für eine nicht beschnittene Frau. Die Öffnung der Narbe in der Hochzeitsnacht wird im großen Stil gefeiert, so dass sich diese Denkweise als völlig normal in den Köpfen der Community festgesetzt hat. Abhängig von der Region, entfernt entweder eine professionelle Beschneiderin oder der Ehemann die Narbe unter schmerzhaften Umständen. Trotz dessen feiert die gesamte Community diese Zeremonie, da es gleichbedeutend mit der Keuschheit der Braut und damit gleichbedeutend mit der Ehrbarkeit ihrer Familie ist. Denn eine Familie, welche „reine“ Mädchen hervorbringt und in diesem Zustand an ihren Ehemann übergibt, gilt als sehr ehrbar. Wird die Rekonstruktion vor der Hochzeit durchgeführt, nimmt die Community an, dass die Frau die Absicht hat, vorehelichen Geschlechtsverkehr zu haben und ihre Familie zu entehren. Viele Männer sind der Meinung, dass eine solche Frau Geschlechtsverkehr mit jedem Mann haben will und versuchen vorehelichen Geschlechtsverkehr mit ihnen zu haben oder sie gar zu vergewaltigen. Die Frau wird also von der Community verstoßen, was zu verbaler oder sogar tätlicher Gewalt durch Mitglieder der Community führen kann. Deshalb halten die Frauen ihr Vorhaben vor allen Leuten geheim und teilen es höchstens mit engen Freunden. Obwohl es viele Frauen gibt, welche die Rekonstruktion ohne einen in Aussicht stehenden Ehepartner durchführen lassen, gibt es Frauen, welche ihren Verlobten zunächst um Erlaubnis bitten.

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Was gibt es für Probleme in Deutschland bzw. im Heimatland? Die somalische Diaspora ist relativ eng gestrickt, weshalb sich Informationen und Gerüchte sehr schnell verbreiten. Durch die in Deutschland ankommenden somalischen Flüchtlinge und ihrer Unterbringung in denselben Unterkünften ist es besonders einfach geworden. Dies kann zwar insbesondere für den Kontakt der Angehörigen bei familiären Angelegenheiten sehr hilfreich sein. Allerdings kann dieser Vorteil schnell zum Nachteil werden. Ist eine Information in die Welt gesetzt, wissen viele Leute schnell Bescheid. Es kann also sehr wohl sein, dass diese Information über mehrere Ecken bei der unwissenden Familie in Somalia ankommt. Es heißt dann, dass die Frau nach der Ankunft in Deutschland ihre Kultur und Religion hinter sich gelassen und sich verändert hat. Ist dieser Verstoß für die Familie schlimm genug, kann dies dazu führen, dass die Frau verstoßen, bzw. enterbt wird. Auch hierzulande kann es sein, dass Teile der Community den Kontakt gänzlich abbrechen und die Frau isoliert wird. Dies ist einer der Gründe, weswegen sich viele Frauen gegen eine Rekonstruktion entscheiden.

2.2 Bericht einer unbeschnittenen Frau aus Kenia Anonym Als ich als Mädchen in meinem Land aufwuchs, war ich fasziniert von dessen vielen Kulturen, Sprachen, Religionen und Speisenvielfalt. In meiner Erziehung bin ich gelehrt worden, ältere Menschen zu respektieren, meinen Eltern zu gehorchen und stolz auf meine Kultur zu sein; diese Werte sind mir bis heute sehr kostbar geblieben. Ich wusste als Mädchen um meine Rolle, sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft. Ich wuchs in der Stadt auf und gelegentlich schickten uns die Eltern aufs Land, aber wir konnten nie bei den Tanten oder Großmüttern bleiben (ich hatte sechs davon, da mein Großvater mit fünf Frauen verheiratet war), wie meine Cousins. Ich habe das einfach hingenommen, diese Besuche genossen und auch mich auf die geplanten Darauffolgenden gefreut. Ich wusste nichts über weibliche Genitalverstümmelung. Später erfuhr ich warum. Kulturelle Überzeugungen und Beschneidung Als ich die Mittelschule abschloss, wurde ich auf eine Internatsschule in meinem ländlichen Heimatort aufgenommen. Ich freute mich darauf, denn dies bedeutete, dass ich meine Großmutter besuchen und viel Zeit mit ihr verbringen konnte. Das Leben im Internat gab mir auch die Gelegenheit zur Unabhängigkeit und zur Selbstkenntnis. Dort bin ich mit dem Begriff der Beschneidung konfrontiert worden, als ein Mittel um Frau zu werden und Respekt in der Gesellschaft zu erhalten. Meine Mutter hatte nie darüber gesprochen, obschon sie die Erfahrung der Beschneidung gemacht hatte. In diesen Jahren wurde das Thema in der Öffentlichkeit nie so angesprochen

2.2 Bericht einer unbeschnittenen Frau aus Kenia  27

wie heute und viele betrachten es als ein Tabu, bis heute. Bei mir hörte die weibliche Genitalverstümmelung auf, im Gegensatz zu meiner Mutter, ihrer Mutter und allen vor ihr die sich dem „Schnitt“, wie er genannt wurde, unterziehen mussten. Als junge Mädchen in der Oberschule hatten wir unsere Gesprächsthemen, und eines Tages während des Kennenlernens tauschte unsere Mädchenrunde stolz ihre Erfahrungen über die Beschneidung aus, wann und durch wen sie ausgeführt wurde und ob an einem Flussufer wie es typisch für mein Dorf ist. Ich habe mich wie im falschen Film oder in einem Alptraum gefühlt. Als ich an der Reihe war, blieb ich sprachlos, da ich nicht im Geringsten wusste, wovon diese Mädchen sprachen. Ich sagte nur: „Ich möchte nicht über dieses Ritual sprechen“. Manche interpretieren dies als Zeichen einer vergangenen schmerzhaften Erfahrung und gestatteten mir zuzuhören, was ich nur zehn Minuten lang aushielt, bevor ich mich mit Tränen in den Augen entschuldigte und zusammenbrach. Wie konnte eine liebende Mutter ihrer Tochter solche Schmerzen zumuten und wie konnte meine Mutter niemals mit mir über dieses kulturelle Ritual, welches Pflicht für alle Mädchen meiner Umgebung war, sprechen? Ich schwankte zwischen Ärger, Verwirrung, Verlegenheit, und vielen unbeantworteten Fragen und konnte in diesem Moment nicht wahrhaben, wie viel Glück ich eigentlich hatte, dass ich diesem Schmerz und Horror, worüber die Mädchen so stolz sprachen, entronnen war. Für sie war es eine gute Sache, die ihnen wiederfahren war und sie waren stolz darauf, als Frauen in der Gesellschaft anerkannt zu sein. Wo blieb ich denn nun, als unbeschnittenes Mädchen von der Stadt? Das Beste was ich tun konnte, war mich einer Vertrauensperson, meiner Großmutter, zu öffnen. Da ich ein extrovertiertes Stadtmädchen war, wollten die Mädels alles über das Leben in der Stadt wissen und wie ich mich an das Schulleben außerhalb der Hauptstadt anpassen konnte. Wir kamen uns so nahe, dass ich einigen anvertraute unbeschnitten zu sein. Der Schock, den ich bei einigen in den Gesichtern wahrnahm, war erschreckend. Dann sagte eine: „Aber das bedeutet, dass du immer noch keine Frau bist. Keiner wird dich heiraten“. Die Pandorabüchse der weiblichen Genitalverstümmelung wird geöffnet Während der Semesterferien besuchte ich meine Großmutter, gewappnet mit vielen Fragen, die in meinem Kopf herumschwirrten. Bei meiner Ankunft wusste ich, dass diese vier Tage mein Leben für immer verändern würden. Meine liebevolle Großmutter eröffnete mir eine Welt, die mir kalte Schauer über den Rücken jagte. Nichts in der Welt konnte mich vorbereiten auf die Worte, die von einer Frau kamen, die ich anbetete, liebte und die mir zugleich Mutter und Großmutter war. Sie entschuldigte sich für meine Mutter, mit der Erklärung, dass es in der Kultur unserer Leute üblich sei, nicht über „das Geheimnis“ zu sprechen. Sie offenbarte mir, dass sie sich dem Schnitt unterzogen hatte, wie auch alle ihre Töchter und sogar meine Cousinen. Dann eröffnete sie mir, dass es mein Vater gewesen war, der mit dieser „Familientradition“ gebrochen hatte, als er mir verbot sie in den Ferien zu besuchen, denn es

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wäre ein Leichtes gewesen, mich in wenigen Minuten von einer der zahlreichen anwesenden Frauen beschneiden zu lassen. Aber sie warnte mich davor, meinem Vater zu diesem Thema zu fragen oder anzusprechen, da es gegen die Kultur war, den Begriff der Beschneidung in Anwesenheit eines Vaters überhaupt zu erwähnen; als sie das sagte, sah ich ihren Gesichtsausdruck wie ich ihn nie zuvor oder danach wahrgenommen habe. Als eine Tochter des Kontinents, wusste ich, dass ich nie wieder fragen sollte und nie etwas gegen meine liebende Großmutter unternehmen würde. Aber später, viel später, entdeckte dieses unbeschnittene Mädchen, dass es viel schwerer ist, als solches in die Gemeinschaft integriert zu werden. Jeden Tag weinte ich, wenn ich daran dachte, was die Mädchen mitmachten mussten. „In unserer Gesellschaft schneiden wir nur die Spitze der ‚Bohne‘ (wir nennen die sexuellen Organe nicht bei ihrem Namen) und diese mag wieder nachwachsen. Woanders wird sogar mehr weggeschnitten“, sagte meine Großmutter. Als sie mit ihrem Finger versuchte die Spitze zu veranschaulichen, huschte ein Lächeln über ihr schönes, faltiges Gesicht. Dann sagte sie, dass wer immer einen Schrei von sich gäbe, Schande über ihre Mutter und ihre Gesellschaft bringen würde. Mein Herz schmerzte. Meine Augen taten weh vor Weinen als ich mir vorstellte, durch welche Qualen meine Cousinen durch mussten, festgehalten von starken Frauen, ohne Schmerzmittel, von der Gesellschaft gezwungen dies anzunehmen als Teil des Frauenwerdens. Wir beendeten das Gespräch für diesen Abend und am nächsten Tag nahm ich meine Tante zur Seite und wieder hörte ich die gleiche Botschaft, dass es für meine Cousinen notwendig sei. Dann schaute sie mich an, mit Tränen in ihren Augen und sagte mir: „Ich wünschte, ich hätte die Wahl gehabt wie dein Vater, nein zu sagen für meine Tochter. Aber ich war durch die landwirtschaftliche Arbeit und als Mutter von sieben Kinder gebunden.“ Sie war ungebildet und wo hätte sie mit sieben Kindern in einem Land ohne soziale Absicherungen gehen sollen? Sie war abhängig von meinem Onkel. Dies ist ein geläufiges Muster bei vielen Frauen in ländlichen Gegenden. Das Leben als unbeschnittenes Mädchen von der Stadt Das Wiedersehen meiner Schulkameradinnen nach den Schulferien war nicht einfach, da einige von ihnen die Nachricht verbreitet hatten. Sogar wenn ich ins Badezimmer kam, gingen welche weg mit dem Worten „hier kommt das Mädchen!“ und wollten nicht mit mir duschen. Die Großmutter hatte mich gewarnt, dass es schwierig sein würde, aber ich hatte nicht geahnt wie schwer. Die zwei Jahre in der höheren Schule waren erträglich, aber der Gedanke, dass man nicht weinen oder auch nur zu dem Thema fragen oder reden dürfte, war für mich umso härter. Als ich zurück in die Stadt kam, beschloss ich, dass ich eines Tages gegen diesen Brauch kämpfen würde, aber die Frage war, wie würde ich überhaupt meinen Mund auftun zu diesem unaussprechlichen Thema. Wie würde ich es wagen, gegen eine Tradition, die so tief in meinem Volk verwurzelt ist, anzukämpfen? Es wurde mir bewusst, dass es eine sehr harte Auseinandersetzung werden würde, die meine Beziehungen zur Familie belas-

2.2 Bericht einer unbeschnittenen Frau aus Kenia  29

ten würde. Und so beschloss ich damals zu schweigen, um das Risiko abgelehnt zu werden, nicht einzugehen. Mit der Zeit realisierte ich, dass wenn immer ich mein Dorf besuchte, manche Frauen mich ignorierten. Als die Kunde sich verbreitete, dass ich das „unbeschnittene Mädchen“ war, motivierte es mich mehr zu erfahren über weibliche Genitalverstümmelung und die Gründe warum Menschen so sehr an diesem schlechten Brauch hingen. Meine liebende Großmutter zählte mir die Gründe auf, warum dieser Brauch so wichtig war. Die Bandbreite reichte von der Kultur über das Verheiratetwerden bis zu Reinigung und Kontrolle der sexuellen Wünsche der Frau. Aber all dies wurde im Flüsterton diskutiert und auch viele Jahre später, als ich als Aktivistin gegen weibliche Genitalverstümmelung tätig war, habe ich trotzdem das Thema nie mit meiner Mutter besprochen, wegen der mir eingetrichterten Angst, dass es Unglück bringe über die Körperregion unter der Gürtellinie auch nur zu sprechen. Wenn ich schon Opfer der Angst und Gehirnwäsche bin, kann man sich den Schaden an den Kindern, die durch diese schmerzhafte Erfahrung gehen, nicht vorstellen. Mein Vater hatte auch den Preis zu zahlen und wurde von manchen seiner Kollegen verachtet, dafür dass er mich unbeschnitten lies. Aber für mich ist er mein Held! Ich wurde vielleicht als Mädchen angesehen, aber in meinem Inneren war ich eine Frau, die die Stimme für die sprachlosen Opfer der weiblichen Genitalverstümmelung erhob. Ich habe jetzt gegen die weibliche Genitalverstümmelung fast 20 Jahre lang gekämpft und viele fragen mich, ob dieser schädliche Brauch jemals ein Ende finden wird. Ich habe erlebt wie Mädchen sich gegen den Wunsch ihrer Väter erhoben haben und davongelaufen sind, nachdem man sie zur weiblichen Genitalverstümmelung gezwungen hatte und sie verheiraten wollte. Manche von ihnen studieren an Universitäten oder höheren Schulen und bereiten sich vor, eine führende Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen. Wir bereiten eine Generation vor, die frei von weiblicher Genitalverstümmelung leben wird. Es wird Geduld und Förderung brauchen, um diesen Mädchen eine Chance zu geben, die ihre Mütter niemals erhalten haben. Das sind die Heldinnen, die so viel durchgemacht haben und jetzt jeden neuen Tag mit einer brennenden Hoffnung in ihren Herzen beginnen, dass ihre Töchter niemals das erleben, was sie erdulden mussten. Es gibt Männer, die die Bewegung gegen die weibliche Genitalverstümmelung unterstützen, aber sie verlieren das Gesicht unter ihren männlichen Kollegen. Einer bekannte, dass er eine unbeschnittene Frau geheiratet hatte aber als er in sein Dorf kam, drückte die Schwiegermutter ihren Unmut über ihren Sohn aus, der ein „Mädchen“ geheiratet hätte, und sie würde weder die Enkelkinder annehmen noch zulassen, dass die Schwiegertochter als „Mädchen“ ihr Essen anreiche. Hin und her gerissen zwischen ihrem liebenden Ehemann und der weiblichen Genitalverstümmelung ließ sie sich den Schnitt mit 28 Jahren geben. Es werden mir schmerzhafte Erfahrungen berichtet von Frauen, die in dieser Falle gefangen sind. Männer reden nicht offen darüber, weil sie ihr Ansehen in der Gesellschaft nicht verlieren wollen. Aber der

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Wind dreht sich, und wenige mutige Männer sind bereit darüber zu sprechen. Die weibliche Genitalverstümmelung hat im Westen eine große Medienresonanz erhalten, aber wir müssen die Grundarbeit verrichten und unseren Müttern, Großmüttern und Tanten helfen, indem wir ihnen die schädlichen Folgen von weiblicher Genitalverstümmelung, Beschneidung, früher Heirat vor Augen führen. Nach ihrer Überzeugung kann es so weiter gehen, da sie es überlebt haben. Wir müssen die Lampe einschalten, damit sie das Licht sehen und dann mit ihnen gehen. Wir müssen ihnen die schädlichen Gesundheitsfolgen der weiblichen Genitalverstümmelung zeigen und die Kulturbräuche, die schlecht sind ablegen, ohne die gesamte Kultur in Frage zu stellen, damit sie sich den Veränderungen nicht verschließen. Ich werde eine Welt frei von weiblicher Genitalverstümmelung nicht mehr erleben, aber ich bin stolz darauf, dass die neue Generation, die wir zurüsten, eine Welt ohne weibliche Genitalverstümmelung schaffen wird. Eine Welt, in der die Mädchen nicht länger vor dem „Frauenwerden“ Angst haben müssen, sondern mit Freude und Stolz die Seite umblättern, weil Afrika durch seine Töchter blühen wird. Lang lebe Afrika! Möge Gott, Mutter Afrika segnen! Ich werde für immer meinem Vater dankbar sein, für sein „Nein“ zu meiner Beschneidung!

2.3 Als Überlebende der weiblichen Genitalverstümmelung habe ich viel über mich nachgedacht Salma Hossein Meine Geschichte begann vor 33 Jahren, ich war damals sieben und ich kann mich dennoch ganz klar daran erinnern, als ob es gestern gewesen wäre. Zudem habe ich niemals aufgegeben, eine Dauerlösung für meine Wunden zu finden. Sie mögen sich bewusst sein, dass mein Schicksal nicht einzigartig ist; ich bin eine von 250 Millionen Mädchen und Frauen weltweit die eine rituelle Beschneidung erfahren haben. Dennoch bin ich bereit, meine Erfahrung mit der Genitalverstümmelung zu leben und weiterzusagen, damit sich solche Tragödien in Zukunft nicht wiederholen. Wie viele andere Mädchen in meinem Kulturkreis, bin ich als siebenjähriges Kind dieser Prozedur (Typ III) unterzogen worden. Nun bin ich fast 40 und möchte Ihnen über die gewaltigen Auswirkungen dieses Traumas auf mein Erwachsenenleben berichten. Ich habe 33 Jahre lang auf einer Achterbahn der extremen Gefühle gelebt. Es ist mir ein besonderes Herzensanliegen, das Bewusstsein über die Wahlmöglichkeiten, die andere Frauen in ähnlicher Situation haben, zu stärken und diese Frauen zu ermutigen, lebensverändernde Chancen zu ergreifen. Allerdings würde ich mir eine stärkere Anerkennung der psychologischen Auswirkungen der weiblichen Genitalverstümmelung wünschen und hoffe, dass die therapeutischen und unterstüt-

2.3 Als Überlebende der weiblichen Genitalverstümmelung ...

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zenden Dienste sich verbessern und psychologische Beratung wie auch ganzheitliche Behandlung angeboten werden würden. Ich habe lang gebraucht, um den Vorgang der Verstümmelung zu akzeptieren. Es ist schwer die Auswirkung auf meine Psyche in Worte zu fassen. Ich denke, meine Probleme begannen gleich nach der Pubertät. Mein Selbstvertrauen und mein Selbstwertgefühl waren angeschlagen. Zusätzlich zu all den körperlichen, psychischen und emotionalen Veränderungen, die ein Teenager bewältigen muss, tat ich mich aufgrund der Beschneidung schwer mit meinem Körperbild. Die Erkenntnis des Erlittenen hat mich in meinen frühen Zwanzigern noch viel stärker beeinträchtigt. Als junge verheiratete Frau wollte ich meinem Ehemann gefallen. Das Verstümmelungstrauma und das Narbengewebe hinderten mich daran, normale sexuelle Beziehungen zu haben. Ich habe eine Bandbreite von negativen Empfindungen erlebt. Ich fühlte mich so unzulänglich und wertlos. Mein Ehemann machte öfters die Bemerkung, dass ich keine „vollwertige Frau sei“. Mein Selbstwertgefühl war so gering, dass ich in eine tiefe Depression fiel. Täglich plagten mich die Gedanken, dass ich nicht gut genug wäre. Wegen all dieser falschen Gründe versuchte ich jegliche körperliche Beziehung zu meinem Mann zu vermeiden und schlussendlich zerbrach unsere Ehe. Ich fühlte mich allein dafür verantwortlich und niemals kam es mir in den Sinn, dass mein Ehemann vielleicht kein Gefühl für meine Situation hatte. Obwohl ich mich jetzt besser fühle und beginne nach vorne zu schauen, ringe ich immer noch mit Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen. Es fällt mir sehr schwer die Botschaft anzunehmen, dass das Ende unserer Ehe nicht mein Fehler war. Ich glaube, ich würde sehr von einer professionellen Beratung durch jemanden profitieren, der weiß, wie man mit all den intensiven Gefühlen, die ich empfinde, umgeht. Schon jemand der mir nur zuhört, täte gut. Ich bin unfähig darüber mit anderen Frauen aus meinem Kulturkreis zu sprechen, da sich die Mehrheit von ihnen bei dem Thema zu unwohl fühlt. Es ist eine höchst private und sensible Angelegenheit und gelegentlich fühle ich mich wegen all des Erlebten sehr verletzbar. Ich hatte Glück das Desert Flower Center in Deutschland kennenzulernen, in dem Wiederherstellungschirurgie für Opfer der weiblichen Genitalverstümmelung wie ich, angeboten wird. Alleine nach Berlin zu reisen war eine große Herausforderung für mich, ganz zu schweigen von dem chirurgischen Eingriff an einer sehr intimen Körperstelle. Dennoch brachte ich den Mut dazu auf und nahm das Angebot an. Nun heilen postoperativ die körperlichen Wunden gut und komplikationslos, aber die emotionalen Narben sitzen sehr tief. Ich versuche durch das Planen meiner beruflichen Karriere positiver zu denken, aber trotz des normalen äußeren Scheins, fühle ich mich da unten nicht vollständig – nicht normal. Ich bin so dankbar für die Chance, die sich mir bot und bereue meine Entscheidung zur Behandlung nicht. Allerdings mache ich mir Sorgen bezüglich meiner potenziellen zukünftigen Beziehungen. Kürzlich bin ich einem Mann begegnet, den ich mochte. Wir haben uns mit gemeinsamen Freunden ein paarmal getroffen, aber ich

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war erschrocken, als er mich bezüglich meiner Gefühle ihm gegenüber herausforderte. Er erwähnte, dass er mich mochte und ich antwortete ihm desgleichen, aber ich wurde sehr abwehrend und zeitweise ängstlich in Bezug auf die weitere Entwicklung dieser Beziehung. Ich bin so besorgt über intime Beziehungen zu einem Mann. Ich fürchte mich davor mich zu öffnen und meine innersten Gefühle noch einmal preiszugeben und dabei das Risiko einzugehen, emotional missbraucht zu werden, wegen einer Sache, für die ich nichts kann. Ich bin eine warmherzige, offene und liebevolle Person, aber ich schrecke davor zurück, mich der Kränkung, Lächerlichkeit und dem Missbrauch in einer neuen Beziehung mit einem Mann auszusetzen, der die Gründe für meine Gefühle und mein Verhalten nicht verstehen könnte. Ich bin zuversichtlich, so kurz nach dem chirurgischen Eingriff, dass meine körperlichen Wunden heilen werden. Ich hege nur Bedenken gegenüber den gefühlsmäßigen Wunden und Narben, die niemand sehen kann. Ich möchte normal sein und hoffe, eines Tages dem Mann zu begegnen, der mich liebt und für mich sorgt, trotz all meiner schlimmen Erlebnisse. Ich möchte nur angenommen werden, so wie ich jetzt bin und hoffe, dass alle negativen Gefühle eines Tages verstreichen werden und sich der Ausblick positiver gestaltet. Meine Hausärztin in Nordirland ist sehr verständnisvoll und unterstützend gewesen, hat aber nach eigener Aussage zugegeben, dass sie nicht ausreichend ausgebildet sei, um mir die adäquate Nachsorge zu bieten zur Genesung von Jahren der Depressionen und des geringen Selbstwertgefühls. Die Wiederherstellungschirurgie der weiblichen Genitalverstümmelung ist relativ unbekannt. Deshalb werden noch keine entsprechenden medizinischen Dienstleistungen angeboten. Mit der wachsenden Zahl von Migrantinnen, müssen die praktischen Ärzte Fachkompetenz erwerben, um eine adäquate medizinische Behandlung für Frauen wie mich zu ermöglichen. Tag für Tag versuche ich wegzukommen von diesen negativen Gefühlen, aber ich werde fortwährend daran erinnert. Ich zögere immer noch sehr, manche Stadtteile von Belfast aufzusuchen, in denen es eine hohe Konzentration von meiner Volksgruppe gibt. Unsere Volksgemeinschaften sind sehr eng miteinander verwoben und die Frauen plaudern und tratschen viel. Ich bin mir sicher, die Leute werden erfahren, was ich unternommen habe und mich verurteilen. Sie werden denken, dass ich ihre Kultur verraten habe. Ich bringe oft meine Tochter mit, wenn ich ausgehe, damit ich mit ihrer Unterstützung rechnen kann. Ich weiß, dass ich mich nicht auf sie verlassen sollte und ich möchte nicht, dass sie sich ausgenutzt vorkommt, aber ich habe in gewissen Situationen immer noch Schwierigkeiten. Es ist offensichtlich, dass manche Männer sich durch das, was ich gemacht habe, eingeschüchtert fühlen. Obschon ich versucht habe meine wahren Gefühle vor meinen Kindern zu verbergen, haben sie doch etwas von den Auswirkungen mitbekommen. Sie wünschen mir, dass ich einen langfristigen Partner finde, mit dem ich ein erfülltes Leben haben kann. Es besorgt mich, dass sie diese Last für ihre Mutter empfinden. Ich möchte nicht, dass sie sich verpflichtet fühlen, bei mir zu bleiben. Ich habe die Hoffnung für meinen Sohn und meine Tochter, dass eine gute Ausbildung sie befähigen und in die

2.3 Als Überlebende der weiblichen Genitalverstümmelung ...

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Lage versetzen wird, ihre eigenen beruflichen und lebensbezogenen Entscheidungen zu treffen, beim Erwachsenwerden in unserer heutigen schwierigen Welt. Kürzlich war ich eingeladen worden zu einer gesellschaftlichen Veranstaltung, anlässlich der Eröffnung einer neuen somalischen Vereinigung. Sie fand in der Nähe meiner Wohnung statt und es gab ein reichhaltiges Unterhaltungsprogramm und kulinarisches Angebot. Obschon ich mich so sehr danach sehnte hinzugehen, um die Gesellschaft und die Gastfreundschaft zu genießen, fand ich einfach nicht den Mut dazu. Danach war ich über mich verärgert, da ich einen schönen Abend versäumt hatte. Ein großer Teil von mir möchte anderen Frauen eine helfende Hand reichen und sie auf die Möglichkeiten, die ihnen zur Wahl stehen, aufmerksam machen. Frauen müssen nicht mehr mit den Auswirkungen der weiblichen Genitalverstümmelung leben. Es gibt Alternativen. Ich möchte eine Fürsprecherin/Unterstützerin des Desert Flower Center am Krankenhaus Waldfriede mit seinem segensreichen humanitären Einsatz sein, aber ich tue mich schwer mit meinem Selbstwertgefühl und meiner Unfähigkeit all die negativen Gefühle, die ich so lange empfunden habe, hinter mir zu lassen. Was kann ich Ihnen als Leser meiner Geschichte zum Abschluss mitgeben? Meine Wertschätzung und Dankbarkeit für das Desert Flower Center, diese innovative Klinik in Berlin mit ihren hervorragenden Ärzten und die positive Auswirkung der Behandlung auf mich und andere Opfer der weiblichen Genitalverstümmelung. Es geht um viel mehr als nur um den chirurgischen Eingriff am Körper. Dieser mag auch die mit der Verstümmelung verbundenen Schwierigkeiten für den Rest des Lebens überwinden helfen und ich wünsche Ihnen, dass Ihre Widerstandskraft und Ihre Bewältigungsfähigkeit Ihnen erlauben werden, nach vorne zu schreiten in eine bessere Zukunft.

3 Propädeutik 3.1 Anatomie des weiblichen äußeren Genitale Elisabeth Pechriggl Die weiblichen äußeren Geschlechtsorgane, in ihrer Gesamtheit als Vulva bezeichnet, inkludieren den Mons pubis, die Labia pudendi majora und minora, das Vestibulum, den Bulbus vestibuli, die Glandulae vestibulares und die Klitoris und liegen unterhalb des Beckenbodens. Die großen Schamlippen, Labia pudenda majora sind relativ breite und flache Hautwülste, welche eine große Anzahl an Talg-, Schweiß- und Duftdrüsen enthalten, reichen vom Mons pubis bis zum Damm bzw. Perineum. Die großen Schamlippen vereinigen sich ventral in der Commissura labium anteriora und dorsal in der Commissura labium posteriora und umschließen die Schamspalte, Rima pudendi. Die kleinen Schamlippen, Labia pudendi minora, sind fett- und talgdrüsenfreie, gerunzelte Hautfalten, welchen den Scheidenvorhof, Vestibulum vaginae, begrenzen. Sie bestehen aus stark pigmentiertem mehrschichtigem Plattenepithel und weisen vor allem auf der Innenseite eine äußerst dichte sensible Innervation auf. Dorsal sind diese durch das Frenulum labiorum pudendi miteinander verbunden, welches mit der ersten vaginalen Geburt verschwindet. Die Labia minora laufen vorne in zwei Falten aus: die beiden äußeren Falten bilden das Praeputium clitoridis (Kitzlervorhaut). Die beiden inneren Falten vereinigen sich zum Frenulum clitoridis, dem „Kitzlerzügel“. Das Vestibulum vaginae, der Scheidenvorhof, liegt zwischen den kleinen Schamlippen. Hier münden die Harnröhre (Urethra) mit ihrem kleineren Ausgang, dem Ostium urethrae externum und die Vagina mit ihrem Ostium vaginae. Das Ostium vaginae wird vom Hymen, einer dünnen Schleimhautfalte unvollständig verschlossen, welches meist bei dem ersten Geschlechtsverkehr (Kohabitation) reißt. Der verbleibende Rest des Hymens wird als Carunculae hymenales bezeichnet. Beiderseits des Ostium vaginae liegen die großen Vorhofdrüsen, die Glandula vestibulares majores (Bartholin-Drüsen), welche der vermehrten Befeuchtung des Vestibulums bei sexueller Erregung dienen. Dieselbe Funktion erfüllen die mukösen Glandulae vestibulares minores, die nahe der Harnröhrenöffnung liegen. Die Schwellkörper des Vorhofes, Bulbi vestibuli, flankieren beidseits das Ostium vaginae und bestehen aus einem dichten Venengeflecht, umhüllt von einer derben Faszie. Bei Verletzungen dieses Venenplexus kann es zu massiven venösen Blutungen kommen, die bis hin zum Verbluten führen können. Die beiden Anteile des Bulbus vestibuli sind homolog zum Harnröhrenschwellkörper beim Mann zu sehen und werden beidseits vom Musculus bulbospongiosus bedeckt. Die hinteren Enden sind verdickt, die vorderen Enden vereinigen sich in der Pars intermedia bulborum. Die Klitoris ist durch ihr dichtes Nervengeflecht hochsensibel, und das erektile Organ zur Aufnahme und Erhöhung sexueller Erregung der Frau. Man unterscheidet https://doi.org/10.1515/9783110481006-003

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mehrere Abschnitte, wobei das freie Ende, die Klitoriseichel (Glans clitoridis), oberflächlich gelegen und von außen deutlich sichtbar ist. Hervorzuheben ist, dass die Glans nur ca. ein Zehntel der gesamten Klitoris ausmacht. Den größten Anteil der Klitoris bilden die paarigen Crura clitoridis, welche von den Schwellkörpern, Corpora cavernosa clitoridis, gebildet werden. Diese liegen von außen nicht sichtbar in der Tiefe und sind von den beiden Musculi ischiocavernosi bedeckt. Symphysenwärts laufen die beiden Corpora cavernosa zum ebenfalls nicht sichtbaren Corpus clitoridis zusammen. Die Klitoris ist über das Ligamentum suspensorium am Unterrand der Symphyse befestigt (s. Abb. 3.2). Dieses Band ermöglicht ein Anheben der Klitoris bei Erregung, verhindert jedoch Pendel- bzw. Aufrichtbewegungen. Die Blutversorgung des äußeren Genitals erfolgt über die Arteria pudenda interna, die im Regelfall aus der A. iliaca interna entspringt. Die A. pudenda interna teilt sich in mehrere Äste auf, welche zu den einzelnen Strukturen der Vulva ziehen. Ihre Endäste, die Arteria dorsalis clitoridis und die Arteria profunda clitoris, sichern die

Labium majus pudendi Praeputium clitoridis Sulcus Interlabialis Frenulum clitoridis

Glans clitoridis

Meatus urethrae

Labium minus pudendi Commissura labiorum anterior

Abb. 3.1: Anatomie der Vulva.

Symphysis pubica

Lig. suspensorium N. dorsalis clitoridis

Glans clitoridis

Crus clitoridis

Ostium urethrae externum

Bulbus vestibuli

Ostium vaginae N. pudendus

Abb. 3.2: Ausdehnung der Schwellkörper (rosa).

3.2 Formen der weiblichen Genitalverstümmelung

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Blutversorgung der gesamten Klitoris. Verletzungen dieser Arterien können zu massiven, lebensbedrohlichen arteriellen Blutungen führen. Der venöse Abfluss erfolgt parallel dazu über die Vena pudenda interna und über die Venae pudendae externae. Die klitorale und perineale Innervierung erfolgt hauptsächlich durch den Nervus pudendus, der parallel zu den oben genannten Gefäßstrukturen verläuft. Dieser gibt in seinem Verlauf durch den Canalis pudendalis (Alcock-Kanal) zahlreiche Äste ab zur Versorgung des äußeren Genitals. Der Endast des Nervus pudendus erreicht als N. dorsalis clitoridis das Corpus cavernosum clitoridis und versorgt sensibel die Klitoris einschließlich der Glans. Des Weiteren sind der Nervus ilioinguinalis und der Ramus genitalis des Nervus genitofemoralis maßgeblich an der sensiblen Versorgung des äußeren Genitals beteiligt. Bei Schädigung des Nervus pudendus kommt es neben Sensibilitätsstörungen bzw. -ausfällen, zu Harn- und Stuhlinkontinenz. Referenzen Fischer B, Rune G. Weibliche Geschlechtsorgane. In: Benninghoff, Drenckhahn Anatomie. 17. Auflage Urban und Fischer, 2008, 838–841. Fritsch H. Aufbau der äußeren Geschlechtsorgane. In: Fritsch, Kühnel Taschenatlas der Anatomie Bd2, Innere Organe, 11. Auflage Thieme, 2013, 284–285. O´Connell HE, Eizenberg N, Rahman M, Cleeve J. The anatomy of the distal vagina: towards unity. J Sex Med. 2008;5(8):1883–1891. O´Connell HE, Sanjeevan KV, Hutson JM. Anatomy of the clitoris. J Urol. 2005;174(4 Pt 1):1189–1195. O´Connell HE, DeLancey JO. Clitoral anatomy in nulliparous, healthy, premenopausal volunteers using unenhanced magnetic resonance imaging. J Urol. 2005;173(6):2060–2063. Pauls RN. Anatomy of the Clitoris and the Female Sexual Response. Clin Anat. 2015;28:376–384. Res MA, O´Connell HE, Plentner RJ, Hutson JM. The suspensory ligament of the clitoris: connective tissue supports of the erectile tissues of the female urogenital region. Clin Anat. 2000;13 (6):397–403. Standring S (ed) Gray´s Anatomy. 39th edition Churchill Livingston Elsevier, 2005, 165–221. Yavagal S, de Farais TF, Medina CA, Takacs P. Normal vulvovaginal, perineal and pelvic anatomy with reconstructive considerations. Semin Plast Surg. 2011;25(2):121–129.

3.2 Formen der weiblichen Genitalverstümmelung Cornelia Strunz, Uwe von Fritschen Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert die weibliche Genitalverstümmelung (FGM, Female Genital Mutilation) als „jegliche nicht-therapeutische, teilweise oder vollständige Entfernung oder Verletzung des weiblichen äußeren Genitals, z. B. aus religiösen oder kulturellen Gründen“. Unter den Begriff der Genitalverstümmelung fällt in diesem Kontext nur die weibliche Beschneidung. Die WHO unterteilt die weibliche Genitalverstümmelung in vier verschiedene Typen. Diese Klassifizierung kann lediglich als Orientierung dienen. In der Realität existieren Zwischenvarianten, die sich aufgrund von Präferenzen der jeweiligen Be-

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schneiderin oder der Ethnie unterscheiden, aber auch auf Verletzungen durch die Abwehr der Betroffenen zurückzuführen sind. Wundheilungsstörungen, Versuche der Wiedereröffnung und Geburten tragen dazu bei, dass eine stringente Zuordnung nicht immer möglich ist. Immerhin erlaubt diese Klassifikation eine grobe Einschätzung des substanziellen Defektes. Einteilung der Formen weiblicher Genitalverstümmelung Typ I: Klitoridektomie oder „Sunna-Beschneidung“ Partielle oder totale Exzision des Präputiums mit oder ohne Exzision eines Teiles oder der ganzen Klitoris. Diese Form wird auch „Sunna Beschneidung“ genannt. – Typ Ia: Exzision des Präputiums clitoridis – Typ Ib: Exzision des Präputiums clitoridis und der Glans clitoridis Typ II: Partielle oder totale Exzision des Präputiums und/oder der Klitoris mit partieller oder totaler Exzision der Labia minora, mit oder ohne Exzision der Labia majora – Typ IIa: Exzision der Labia minora – Typ IIb: partielle oder totale Exzision der Glans clitoridis und der Labia minora – Typ IIc: partielle oder totale Exzision der Glans clitoridis, der Labia minora und der Labia majora Typ III: Infibulation oder „pharaonische Beschneidung“ Klassifikation nach WHO: Verengung der Vaginalöffnung durch die komplette Exzision und Zusammennähen der Labia minora und/oder Labia majora mit oder ohne Exzision der Glans clitoridis. Diese Form wird auch „pharaonische Beschneidung“ genannt. – Typ IIIa: Exzision und Naht der Labia minora – Typ IIIb: Exzision und Naht der Labia majora Die beiden Seiten der Vulva werden anschließend z. B. mit Dornen, Seide oder Tierdarm so vernäht, dass sich eine Brücke aus Narbengewebe über der Vagina bilden. Eine kleine Öffnung für den Abfluss von Urin, Menstruationsblut und Vaginalsekret wird durch das Einführen eines Fremdkörpers bis zur Wundheilung gewährleistet. Die Beine des Mädchens werden manchmal vom Knöchel bis zur Hüfte zusammengebunden, so dass sie mehrere Wochen immobil ist, bis sich Narbengewebe über der Wunde gebildet hat. Bei der offiziellen Klassifikation der WHO handelt es sich um eine Beschreibung des äußerlich sichtbaren Narbenbildes. Das tatsächliche Ausmaß der Beschneidung, insbesondere die Beteiligung der klitoralen und/oder labialen Anteile unterhalb der

Referenzen

 39

Infibulationsnarbe, kann hiermit nicht erfasst werden. Zur besseren Beurteilung des postoperativen Resultates verwenden wir daher eine modifizierte Einteilung, die das tatsächliche Ausmaß der Resektion berücksichtigt. – – – – – –

Typ IIIa: Exzision der Labia minora und Naht Typ IIIac: Exzision der Labia minora, Exzision der Glans clitoridis und Naht Typ IIIb: Exzision der Labia majora und Naht Typ IIIbc: Exzision und Naht der Labia majora, Exzision der Glans clitoridis Typ IIIc: Exzision der Labia minora und Labia majora und Naht Typ IIIcc: Exzision der Labia minora und Labia majora, Exzision der Glans clitoridis und Naht

Ist das vollständige Ausmaß der Resektion präoperativ aufgrund des überdachenden Narbenareales bei Infibulation nicht zu erkennen, wird der Befund als Typ IIIx klassifiziert. Typ IV: diverse, nicht klassifizierbare Praktiken Typ IV bezeichnet die verschiedensten Formen bzw. Variationen der FGM, welche nicht näher klassifiziert werden können. Darunter fallen das Einritzen, Durchbohren oder Einschneiden von Klitoris und/oder der Schamlippen, das Dehnen oder das Verlängern von Klitoris und Schamlippen, das Ausbrennen von Klitoris und umgebendem Gewebe, Auskratzen der Vaginalöffnung oder Einschneiden der Vagina, das Einführen ätzender Substanzen, die Vaginalblutungen verursachen oder das Einführen von Kräutern, mit dem Ziel, die Vagina zu verengen. Die Typen I und II sind am weitesten verbreitet. Weltweit sind etwa 80 Prozent der genitalverstümmelten Frauen in dieser Weise beschnitten. Zum Typ III gehören circa 15 Prozent aller von FGM betroffenen Frauen. Es gibt jedoch Länder, in denen praktisch alle Mädchen dieser extremsten Form der FGM unterzogen worden sind, wie zum Beispiel in Eritrea, Dschibuti und Somalia. Referenzen [1]

WHO, Classification of female genital mutilation. World Health Organization. Geneva, 2008.

40  3 Propädeutik

3.3 Ablauf der Beschneidungszeremonie in Somalia Fadumo Korn Die Tradition der Beschneidung ist leider verbreiteter als man glauben will. Europa und auch Deutschland bilden hier keine Ausnahme mehr. In Somalia werden die Mädchen im Alter von ca. vier Jahren auf die Beschneidung vorbereitet. Die Haare werden an beiden Seiten des Kopfes geschoren, so dass auf dem Schädel ein kleines Büschel übrig bleibt. So kann jeder sehen, dass das Mädchen noch nicht beschnitten ist. Die Mädchen sehnen sich regelrecht nach dem großen Tag der Beschneidung, um endlich dazuzugehören. Als Unbeschnittene gelten sie als Außenseiter und werden von den älteren Mädchen beschimpft, beleidigt und als „unrein“ bezeichnet. Da es tabu ist über die Beschneidung zu sprechen, wissen die Mädchen nicht was sie erwartet. Ob das Mädchen nun „reif“ für die Beschneidung ist, entscheiden die Frauen in der Familie. Männer halten sich generell heraus. Die Mütter beobachten die körperlichen Anzeichen ihrer Mädchen, ob sie sich zum Beispiel an den Genitalien reiben, oder ob sie romantische Gedanken haben und von der Hochzeit sprechen, obwohl sie erst zwischen fünf und sieben Jahre alt sind. Ab dem sechsten Lebensjahr ist es dann soweit. Die Mädchen werden vollkommen kahl rasiert. Am Abend vor der Beschneidung kommt die ganze Familie zusammen. Die Mädchen bekommen schöne Geschenke, neue Stoffe, Kleider und Schuhe. Die Frauen suchen sich eine Ziege oder ein Schaf aus und schlachten es. Es wird ein großes Feuer angezündet, riesige Töpfe aufgesetzt, das Tier wird zerteilt, damit man es später an die Besucher verteilen kann. Eine Wahrsagerin wird hinzugezogen, die aus den Innereien liest und die Zukunft für das Mädchen voraussagt. Die Erdgeister werden besänftigt, in dem man kleine Blutspritzer auf die Erde gießt. An diesem Abend dürfen die Mädchen keine feste Nahrung zu sich nehmen, nur etwas weichen Brei oder süßen Tee. Die ganze Familie feiert und isst und tanzt. Die Mädchen dürfen nicht mitmachen, sie sitzen da und sind ganz passiv. Dem Mädchen schwant nichts Gutes, und die Not, die sie haben, ist mit den Händen zu greifen. Alle Geschenke werden um das Mädchen drapiert. Sie wird wie eine Prinzessin behandelt. Die Nachbarinnen kommen zu Besuch und die anderen Mädchen bewundern die schönen Sachen, sprechen aber auf gar keinen Fall über den bevorstehenden Tag. Es werden Loblieder auf das Mädchen gesungen, sie wird gesegnet und die Frauen stoßen das übliche Trällern aus das man weit hören kann, so dass alle wissen: Morgen wird es wieder passieren. So wird auch die aufsteigende Panik unterdrückt, sozusagen als Ablenkung von den Tragödien, die sich mit Sicherheit auftun werden. Wenn nach und nach die Besucher nachhause gegangen sind, werden die Mädchen ins Bett geschickt. An diesem Abend bekommen sie meistens einen besonderen Platz zum Schlafen.

3.4 Regionale Unterschiede  41

Morgens, ganz früh, werden die Mädchen geholt. Auf dem Land werden sie außerhalb des Dorfes gebracht, in den Städten kommen sie in separate Räume oder es wird in Hinterhöfen ein Raum geschaffen. Das alles dient zur Vertuschung, damit man die Hilfeschreie der Mädchen nicht hören kann. Auf dem Land werden sie auch deshalb aus den Dörfern weggeschafft, weil die Familien in einem einzigen Raum gemeinsam leben, und der Geruch, der von den Wunden ausgeht, die Mitbewohner stört. Die Mädchen werden meistens gemeinsam beschnitten. Das heißt, dass viele Mädchen von derselben Frau beschnitten werden und dass ein Instrument benutzt wird, das weder gereinigt noch desinfiziert worden ist. Auf dem Land werden als Nähwerkzeuge Dornen oder Schwanzhaare eines Elefanten benutzt. Als Schneidewerkzeug werden Scheren, Messer, Dolche, Dosendeckel, Fingernägel und Rasierklingen verwendet. Eine Rasierklinge gilt als ein absolutes Luxuswerkzeug. Als Medizin werden Kräuterpasten, Salzwasser, Lehmerde usw. verwendet. Es ist üblich, dass die Mädchen vollkommen schutzlos zusehen müssen, wie eins nach dem anderen geholt und verstümmelt wird. Damit die Naht auch hält, wird in Zickzack-Form um die Dornen, die im Fleisch stecken, entweder ein Sisalfaden oder eben Elefantenhaare geschnürt. Zum Schluss werden die Beine des Mädchens von der Taille bis zu den Knien mit einem Stoffband oder mit einem Seil zusammengewickelt. Damit soll verhindert werden, dass das Mädchen nicht versehentlich die Beine spreizt und die Wunden aufreißen. Die Mädchen können nur noch auf der Seite oder auf dem Rücken liegen. Einige Stunden nach der Beschneidung müssen die Mädchen zur Probe urinieren. Dafür wird ein kleiner Platz auf dem Sandboden flachgeklopft, das Mädchen dorthin getragen und auf die Seite gelegt. Alles steht unter großer Beobachtung. Falls mehr als ein paar Tropfen auf einmal rausfließen, wird die Öffnung für nicht klein genug bewertet und es wird nachgenäht. Eine Öffnung, die größer als ein Maiskorn ist, ist nicht erlaubt.

3.4 Regionale Unterschiede 3.4.1 Entwicklung in Afrika Nafissatou Diop

Die FGM ist international als Verletzung der Menschenrechte von Mädchen und Frauen anerkannt, wie es internationale und regionale Dokumente belegen: Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die UN-Kinderrechtskonvention, der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte. FGM stellt als schädliche Praktik ein bedeutsames Hindernis bei der Bekämpfung von Armut und der Förderung anderer Bereiche der menschlichen Entwicklung dar [1].

42  3 Propädeutik

Soziale Faktoren und Grundursachen Es gibt zahlreiche soziale Faktoren und Grundursachen für die FGM, die der Genderungleichheit entspringen: der Wunsch, die weibliche Sexualität zu kontrollieren, unterstützende religiöse Traditionen, Rituale, die das Erwachsenwerden eines Mädchens markieren, begrenzter Zugang zu Bildung und wirtschaftlichen Chancen für Mädchen und Frauen und die Sicherstellung von Sozialstatus, Keuschheit und Heiratsfähigkeit. Die FGM wirkt als soziale Konvention und Norm und wird durch gegenseitige Erwartungen innerhalb von Bevölkerungsgruppen unterhalten. Somit stellen die mit der FGM verbundenen gesellschaftlichen Belohnungen und Sanktionen einen kraftvollen bestimmenden Faktor sowohl der Fortführung wie auch der Aufgabe dieser Praxis dar. Es wurden auch unterschiedliche Einflüsse und Schutzfaktoren untersucht, um den Zusammenhang zwischen Aufgabe der FGM-Praxis und Haushaltseinkommen, Urbanisation und Bildung zu verstehen. Es gibt zahlreiche Faktoren, die für den FGM-Verzicht ausschlaggebend sind: Schwächung der traditionellen Familienstrukturen, Verschiebungen der sozialen und wirtschaftlichen Rolle der Frauen, deren Einfluss auf den Haushalt und auf die Entscheidungsprozesse in der Gemeinschaft sowie sich verändernde Einstellungen zum Zusammenhang zwischen Heiratsfähigkeit und FGM. Mehrere Studien weisen auf die stark positive Assoziation zwischen Unterstützung der FGM und Armut des Haushalts. Ähnlich gibt es eine starke Beziehung zwischen dem Bildungsniveau der Frau und FGM. Das FGM-Risiko der Tochter ist größer in ärmlicheren Haushalten und wenn die Mutter keinerlei Bildung hat [1]. Schätzungsweise jede fünfte Tochter einer Mutter ohne Bildung wurde der FGM unterzogen, im Vergleich zu jeder neunten Tochter oder Mutter mit zumindest Mittelschulbildung [2]. Häufigkeit und Trends Bei unbekannten exakten Zahlen wird geschätzt, dass mindestens 250 Millionen Mädchen und Frauen in den Ländern mit repräsentativen Prävalenzdaten einer FGM unterzogen worden sind [3]. Der Brauch konzentriert sich auf einen Streifen von Ländern von der Atlantikküste Afrikas bis zum Horn von Afrika, in Gegenden des mittleren Ostens wie Irak und Jemen sowie in mehreren asiatischen Ländern wie Indonesien. Dennoch ist FGM ein Menschenrechtsproblem, welches Mädchen und Frauen weltweit betrifft. Innerhalb der 17 Länder, die vom UNFPA-UNICEF Joint Programme gegen die FGM in Phase II Unterstützung bekommen, gibt es eine große Bandbreite der nationalen Prävalenz, die von einem Prozent der Frauen zwischen 15 und 49 in Uganda bis zu mehr als 90 Prozent in Somalia, Guinea und Djibouti reicht [3]. In vielen Ländern mit geringer bis mäßiger nationaler FGM-Prävalenz ist die Praktik auf bestimmte Regionen oder ethnische Bevölkerungsgruppen konzentriert.

3.4 Regionale Unterschiede  43

Over the past three decades, there is evidence of decline in the practice of FGM/C in ten of the Joint Programme countries, though minimal in some countries Percentage of girls and women who have undergone FGM/C, by age cohort 100 %

Age 45–49 Age 25–29

90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0% Guinea

Egypt

Eritrea

Sudan

Burkina Faso Ethiopia

Mauritania

Kenya

Nigeria

Yemen

Abb. 3.3: Prozentsatz von Mädchen und Frauen mit FGM.

Es gibt Anzeichen, die darauf hindeuten, dass es zu einem Rückgang des Brauches im Laufe der Zeit gekommen ist (Abb. 3.3). Insgesamt ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen heute beschnitten wird, ungefähr um ein Drittel niedriger als drei Jahrzehnte zuvor, obschon nicht alle Länder Fortschritte gemacht haben und das Veränderungstempo ungleich gewesen ist. In folgenden zehn Ländern, die vom UNFPA-UNICEF Joint Programme unterstützt werden, gibt es Beweise für zumindest generationsabhängige Veränderungen der FGM-Prävalenz: Guinea, Ägypten, Eritrea, Sudan, Burkina Faso, Äthiopien, Mauretanien, Kenia, Nigeria und Jemen. Das Ausmaß der Veränderungen in diesen Ländern reicht von kleinen stufenweisen Rückgängen in Guinea, Sudan und Mauretanien, bis zu substanziellen Verminderungen in Kenia und Nigeria. Einstellungen zur FGM Die Daten weisen darauf hin, dass sogar in vielen Ländern, in denen FGM weit verbreitet ist, Einzelpersonen von Widerstand zu dieser Praktik berichten. Teilweise ist die Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern der Meinung, dass FGM beendet werden sollte. Innerhalb der Joint Programme-Staaten, sind in elf (von 17) Ländern mehr als die Hälfte der Frauen gegen eine Fortführung der FGM-Praktik und mehr als die Hälfte der Männer in sechs Ländern (von zehn mit vorliegenden Daten). Während diese Ergebnisse als Bereitschaft interpretiert werden können, den Brauch zu beenden, spielen gesellschaftliche Normen eine Schlüsselrolle, da Einzelne sich gemäß ihrer Überzeugung zurückhalten, wenn eine Erwartung von Belohnung für das Mitmachen und von Sanktionen bei Nichtkonformität besteht.

44  3 Propädeutik

In Übereinstimmung mit dem Prinzip der Förderung von positiven Veränderungen von innen heraus, müssen als wichtiges Element der Joint Programme-Strategie, Maßnahmen bestehende positive gesellschaftliche Kräfte verstärken und unterstützen. Demnach baut diese Herangehensweise darauf, dass viele – in manchen Ländern die meisten – Menschen die Praktik der Beschneidung nicht mehr fortführen möchten. Wenn mehr Individuen entdecken, dass ihre Bezugspersonen FGM nicht praktizieren oder nicht mehr praktizieren möchten, werden auch sie dazu tendieren, die neue Norm, Mädchen unversehrt zu lassen, anzunehmen. Dies ist besonders im Vergleich heute zum letzten Jahrzehnt der Fall, weil viele sich der Schäden durch die FGM schon jetzt bewusst sind, ohne darin Vorteile zu sehen [3]. Erfahrungen, Einschränkungen und Herausforderungen Die Standarderfassung der FGM–Prävalenz entspricht dem Prozentsatz von Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren, die einer FGM unterzogen wurden. Die Herausforderung mit diesem Indikator besteht in der Zeitverzögerung zwischen dem Akt der Beschneidung und ihrer Mitteilung. Zum Beispiel berichten Betroffene aus einem Land, in dem das durchschnittliche Beschneidungsalter ein Monat ist, mit 15– 19 Jahren über ein Ereignis, dass somit im Durchschnitt 15 bis 19 Jahre vor der Umfrage stattfand. In diesem Fall können die Auswirkungen von kürzlich durchgeführten Kampagnen zur Beendigung der FGM nicht erfasst werden. Eine zweite Herausforderung bei der Bestimmung der Prävalenz liegt im Ausmaß der örtlichen Begrenzung der Praktik und der Maßnahmen zu ihrer Vorbeugung. Während Interventionen in Gegenden stattfinden, in denen die Praktik konzentriert ist, hängen die potenziellen Auswirkungen auf die nationale Prävalenz von der Repräsentativität der Zielbevölkerung zur landesweiten Bevölkerung ab. Somit müssen solide Überwachung und Evaluation des Programms die periodische landesweite Erfassung der FGM mittels Haushaltsumfragen ergänzen. Auswirkungen der demographischen Dynamik Die demographische Dynamik der Jugend ist ein kritischer Faktor bei der Schätzung der globalen Zahl der Mädchen, die der Gefahr der Beschneidung ausgesetzt sind [4]. Da FGM meistens vor dem 15. Lebensjahr stattfindet, ist die Altersstruktur der Bevölkerung entscheidend. Die Mehrheit der Länder mit weitverbreiteter FGM-Praxis (22 von 30) sind die am wenigsten entwickelten [5], und es wird erwartet, dass deren Bevölkerung mehr als 1,8 Milliarden bis 2050 zählen wird [6]. Alle 30 Länder mit hoher FGM-Prävalenz, für die uns Daten vorliegen, erleben ein starkes Bevölkerungswachstum und weisen eine junge Altersstruktur auf: 30 Prozent oder mehr ihrer weiblichen Bevölkerung sind unter 15 Jahre alt [7]. Wie in Abb. 3.4 dargestellt, wird bis 2030 etwas mehr als ein Drittel aller Mädchen weltweit in den 30 Ländern mit national weit verbreiteter FGM geboren werden.

3.4 Regionale Unterschiede  45

1965

2015

13 % of all girls 50 years ago were born in the 30 countries, or 19,000 per day

2030

31 % of all girls today are born in the 30 countries, or 47,000 per day

2050

35 % of all girls in 2030 will be born in the 30 countries, or 55,000 per day

41 % of all girls in 2050 will be born in the 30 countries, or 64,000 per day

(a)

Länder mit Daten nach Haushaltsumfragen

(b)

Länder in denen die FGM gemeldet worden ist Länder in denen die FGM in Immigrantengesellschaften gemeldet worden ist Quelle: UNFPA –Analyse basierend auf DHS, MICS, 2002-2014 und WHO, “Weibliche Genitalverstümmelung: Gemeinsame WHO/UNICEF/UNFPS Erklärung”, 1997.

Abb. 3.4: (a) Anteil der Mädchen, geboren in FGM-prävalenten Ländern. (Quelle: United Nations, Department of Economics and Social Affairs, Population Division, World Population Prospects: The 2015 revision, CD-ROM edition, United Nations, New York, 2015); (b) Verbreitung und Migration von Betroffenen in 30 Ländern auf allen Kontinenten.

46  3 Propädeutik

Location of girls expected to have FGM between 2015 and 2030 The new estimates are based on DHS and MICS* surveys, which provide the risk of FGM by single years of age and combine these probabilities with data from the 2017 UN World Population Prospects, allowing us to generate more precise estimates and projections of the number of girls at risk of FGM in each country. Number of girls expected to have FGM between 2015 and 2030, in thousands 10–100 200–700 800–1,000 2,000–4,000 5,000–20,000 No Data The boundaries and names shown and the designations used on this map do not imply official endorsement or acceptance by the United Nations.

*With the exception of Indonesia, where it is based on the national RISKESDAS survey (2013). Source: Population and Development Branch, Technical Division, UNFPA

Abb. 3.5: Regionen mit zu erwartender FGM zwischen 2015 und 2030. Die neuen Schätzungen basieren auf DHS und MICS Umfragen, welche das FGM-Risiko für jedes Lebensjahr angeben und diese Wahrscheinlichkeiten mit den Daten der UN World Population Prospects (= Prognosen der Weltbevölkerung nach den Vereinten Nationen) verknüpfen. Dies ermöglicht präzisere Schätzungen und Voraussagen bezüglich der Zahl, der durch FGM gefährdeten Mädchen.

Das bedeutet einen zahlenmäßigen Anstieg der Mädchen mit erhöhtem Risiko. Insgesamt ist der beobachtete Rückgang der FGM-Prävalenz nicht ausreichend, um das erwartete Bevölkerungswachstum zu kompensieren. Falls sie weiterhin auf jetzigem Niveau praktiziert wird, werden bis 2030 68 Millionen Mädchen davon betroffen sein. Sollte der Rückgang der FGM nicht schneller erfolgen als in der vergangenen Generation beobachtet werden konnte, wird die Zahl der FGM-geschädigten Mädchen zunehmen. Dies ist eine weitere Mahnung zur dringenden sofortigen Investition von Ressourcen, um den demographischen Herausforderungen entgegenzuwirken. Referenzen [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7]

International Center for Research on Women [ICRW] 2013. UNICEF global databases, 2016, based on demographic and health surveys, multiple indicator cluster surveys and other nationally representative surveys from 2004 to 2015. UNICEF global databases, 2016. UNFPA 2015. The least-developed countries are classified by the United Nations based on their low gross national income, weak human assets and high degree of economic vulnerability. United Nations Department of Economic and Social Affairs, Population Division 2013. UNFPA 2014.

3.4 Regionale Unterschiede  47

3.4.2 Entwicklung in Europa Abdi A. Gele

Die weibliche Beschneidung in Norwegen: Entwicklung oder Abwicklung? FGM wird von ethnischen Bevölkerungsgruppen in 28 afrikanischen und in einigen asiatischen Ländern praktiziert. Die Verfahren reichen vom Stechen/Prickeln der Klitorisvorhaut, um einen Tropfen Blut zu entnehmen, bis zur Infibulation. Durch die Migration gibt FGM Anlass zu großer Sorge in den westlichen Ländern und es findet eine anhaltende Diskussion darüber statt, in welchem Umfang diese Praktiken in Immigrantenkreisen aufrecht erhalten werden, obschon sie im Westen illegal sind [1]. Dieses Kapitel möchte einen Einblick in die Einstellungen/Meinungen von Immigranten aus FGMpraktizierenden Ländern gewähren, die in Europa und vor allem in Norwegen leben. Einstellungen sind eine erlernte Tendenz, Phänomene auf eine bestimmte Weise zu deuten, und obwohl sie sozialen Interaktionen entspringen und hierin eingebettet sind, bleiben sie weder statisch noch unveränderlich. Sie sind räumlich und zeitlich variabel [2]. Da Einstellungen sich anpassen und verändern, ist es wichtig zu verstehen, wie sie sich in Bezug zur FGM entwickeln. Der primäre Prozess der Beeinflussung ist nicht die Veränderung der Einstellungen zur FGM, sondern eher der Wandel in der Definition und Bedeutung des Ritus. Bedeutungswandel geht mit entsprechender Einstellungsänderung einher. Eine anthropologische Studie in Norwegen stellte fest, dass FGM, in Somalia als Zeichen der Reinigung und der Fraulichkeit wahrgenommen, jetzt von somalischen Frauen im Exil als „Amputation und sogar Verstümmelung“ reinterpretiert wird [3]. Der Wohnort hat bekanntlich einen starken Einfluss auf die Bedeutung und Definitionen der FGM und infolgedessen auf die Einstellungen zu dieser Praktik. In Afrika unterstützen städtische Frauen mit geringerer Wahrscheinlichkeit die Fortführung dieses Brauches als ländliche Frauen und es gibt eine Diskrepanz in der Beschneidung von Mädchen innerhalb derselben ethnischen Gruppe, abhängig vom sozialen Kontext in dem jede Familie lebt. Zum Beispiel beschneiden Frauen des Peulh-Stammes von Senegal einmütig ihre Töchter wenn sie in der Region Matan leben, in der die Prävalenz der FGM fast durchgängig ist. Hingegen wird FGM innerhalb derselben ethnischen Bevölkerungsgruppe in der Region Diourbel, in der die Prävalenz von FGM gegen null tendiert, fast nie praktiziert [4]. In ähnlicher Weise können Art und Häufigkeit der FGM in Somalia anhand der Wohngegend und nicht des Geburtsortes der Eltern vorausgesagt werden [5]. Zum Beispiel, wenn Menschen von Nordsomalia, wo die Infibulation gang und gäbe ist, in die südlichen Regionen des Landes ziehen wo mildere Formen der FGM praktiziert werden, dann nehmen diese Menschen die Praktiken an, die an ihrem neuen Wohnort üblich sind. Die Falasha-Bevölkerungsgruppe, die FGM praktizierte solange sie in Äthiopien lebte, hat diesen Brauch nach ihrer Ansiedlung in Israel, wo FMG unbekannt ist, aufgegeben [6]. Demnach ist ein ähnlicher Trend im Kontext der Migration vom FGM praktizierenden Afrika nach Europa möglich, wo FGM nicht nur eine Straftat, sondern auch der Stigmatisierung unterworfen ist.

48  3 Propädeutik

Unter den ersten Studien, die den Kulturwandel bezüglich FGM unter Immigranten in westlichen Ländern hervorhoben, fand sich eine qualitative Studie unter Somaliern in Kanada und London, die einen wachsenden Widerstand gegenüber FGM aufzeigte [7,8]. Andere Studien in Norwegen dokumentierten einen Einstellungswandel, der durch die Abwesenheit von gesellschaftlichem Druck in Norwegen begründet wird. Druck, der in Afrika die Praktik fortbestehen lässt [9,10]. Als Begründung wird angeführt, dass Menschen, die in eine neue Umgebung umziehen, ihre verfügbaren Optionen abwägen und sich immer für die bestmögliche Wahl entscheiden [11]. Dementsprechend haben in Bevölkerungsgruppen, in denen jedes Mädchen beschnitten wird, weder diejenigen, die diese Praxis befürworten, noch diejenigen, die sie ablehnen (auf sich allein gestellt), eine bessere Option als ihre Töchter beschneiden zu lassen, da es für keine der beiden Gruppen einen Anreiz gibt, sich anders zu entscheiden. Das gleiche gilt für Bevölkerungsgruppen, die dorthin ziehen wo kein Mädchen beschnitten wird, da niemand in dieser Gesellschaft eine höher geschätzte Option hat, als seine Mädchen unversehrt zu lassen [12]. Bestehende Theorien zur FGM betonen, dass Familien, die in einem Umfeld leben, in dem die FGM die Norm darstellt, sie sich eher an die vorherrschende soziale Norm anpassen werden [11]. In ähnlicher Weise werden Menschen in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die Praktik unbekannt und illegal ist, sich wahrscheinlich an die gesellschaftlichen Regeln anpassen und den Brauch aufgeben. Shell-Duncan argumentiert, dass in bestimmten Situationen Menschen die Praktik aufgeben, auch wenn sie persönlich für deren Fortführung sind, z. B. wenn sie in einem Umfeld leben, in dem ein Gesetz, dass den Brauch verbietet, umgesetzt wird, aus Angst vor Strafverfolgung wegen Gesetzesübertretung [13]. Unsere frühe Studie in Oslo zeigt, dass junge Somali-Norweger Beschnittensein als Symbol für Ungerechtigkeit und als Menschenrechtsverletzung betrachten und Nichtbeschnittensein als die Norm. Außerdem werden beschnittene Mädchen als Folterüberlebende gesehen [14]. Diese Wahrnehmung widerspricht ganz klar der weitverbreiteten Ansicht über FGM unter den Somaliern in Somalia, wo Beschnittensein die Norm darstellt und Unbeschnittensein ein fremdes Konzept ist [15]. Dies wird unterstützt durch eine vorhergehende quantitative Studie von Oslo, die aufzeigt, dass fast alle in Norwegen geborenen somalischen Mädchen nicht beschnitten sind [16]. Die Ansicht der Studienteilnehmer über FGM wird durch das soziale Umfeld in Norwegen geformt, wo FGM nicht nur ein Verbrechen ist, sondern auf starken öffentlichen Widerstand stößt, sowohl von der Hauptgesellschaft wie auch der Immigrantengesellschaft [16]. Dieselbe Studie zeigt, dass keine der Studienteilnehmerinnen, die nicht in Norwegen geboren wurden, unbeschnitten waren [14]. Die Begründung für FGM in Somalia ist, dass sie als wichtig für die Jungfräulichkeit angesehen wird und junge unbeschnittene Mädchen nicht heiratswürdig sind. Unsere aktuelle Studie zeigt, dass junge Mädchen in Norwegen entweder keine Ahnung von dem Zusammenhang zwischen ihrer Heirat und FGM haben, oder glauben, dass es keine negativen Konsequenzen für ihre Ehe hat, während die Jungen FGM nicht als wichtig für die Heiratsfähigkeit erachten. Diese Ergebnisse werden durch eine unveröffentlichte Studie in Norwegen ge-

3.4 Regionale Unterschiede  49

stützt. Sie zeigt auf, dass zwei Drittel der Frauen, die aufgrund FGM klinische Hilfe in Norwegen gesucht haben, darum baten deinfibuliert zu werden. Ein Hinweis dafür, dass die Wahrung der Jungfräulichkeit durch FGM unter Frauen in Norwegen, die aus einem FGM-praktizierenden Land stammen, nicht mehr relevant ist. Kultur ist ein dynamischer Prozess, der sich durch die Begleitumstände verändert. Dennoch, obwohl durchaus viele Immigrantenbräuche mit der Migration widerstandslos verschwinden, könnte die Tradition der FGM sich hiervon unterscheiden. Es stellt eine gesellschaftliche Norm dar, bei der die Entscheidung einer Familie von der Entscheidung anderer Familien abhängt, wenn in der Gemeinschaft untereinander geheiratet wird. Bevor Familien sich dazu entschließen ihre Tochter nicht zu beschneiden, müssen sie die Gewissheit haben, dass ihre Tochter eine sichere Ehe ohne FGM führen kann. Diese Gewissheit kann erreicht werden, wenn Familien wahrnehmen und akzeptieren, dass andere Familien derselben Heiratsgemeinschaft diesen Brauch aufgegeben haben. In diesem Stadium können Familien akzeptieren, dass FGM keinerlei Anreiz mehr für Mitglieder der Gemeinschaft darstellt, sodass die Forderung nach beschnittenen Mädchen durch die Nachfrage nach unbeschnittenen Mädchen ersetzt wird. Nichtsdestotrotz gibt es in vielen europäischen Ländern Ungereimtheiten zwischen den offiziellen Aussagen zur FGM und der vorhandenen empirischen Evidenz [17]. Der öffentliche Diskurs unterstützt die Ansicht, dass FGM in den Immigrantengesellschaften weiter praktiziert wird. Die Beweislage dagegen unterstützt die Auffassung, dass FGM nicht mehr eine riesige Bedrohung für die norwegischen Mädchen darstellt. Unterstützt wird dies anhand von jahrelangen genitalen Check-Ups und mehreren empirischen Studien in Norwegen. Dennoch gibt es Menschen, die glauben, dass FGM in den „Untergrund“ geht oder dass sie an norwegischen Mädchen außerhalb Norwegens praktiziert wird. Dies ist eine Wahrnehmung, die durch die öffentlichen Medien entstanden sein mag. 2007 hat der norwegische TV-Sender (NRK) einen Bericht über die Beschneidung von 189 somalisch-norwegischen Mädchen in einem Zeitraum von drei Jahren in Hargeisa, Somalia, ausgestrahlt. Professor Aud Talle, der 78 Beschneider in Hargeisa interviewte, fand heraus, dass keiner von ihnen jemals ein Mädchen von Norwegen oder eines anderen europäischen Landes beschnitten hatte [18]. 2014 publizierte ein schwedischer Journalist einen Bericht über 30 somalische Mädchen, die dieselbe Schulklasse besuchten und FGM unterzogen wurden, was sofort die Aufmerksamkeit der Medien weltweit erhielt. Später wurde der schwedische Bericht als übertrieben und falsch verworfen. Während solch sensationelle Medieninformation allmählich in unserem Bewusstsein verblasst, bleibt ihr negativer Effekt innerhalb der Immigrantengesellschaften weiter bestehen. Das mögliche Stigma als „Verstümmelter“ und mit der darauffolgenden wahrgenommenen Diskriminierung, verhindert schließlich die Integration. Dies ist besonders besorgniserregend, weil stigmatisierte Personen oft unempfänglich für Informationen werden, sowie defensiv und unwillig, Tadel für ihr negatives Verhalten anzunehmen [19]. Norwegische Daten weisen darauf hin, dass neuangekommene Immigranten mit größerer Wahrscheinlichkeit die Fortführung des Brauches unterstützen als schon lan-

50  3 Propädeutik

ge etablierte Immigranten [14,16,20]. Das zeigt deutlich, welchen Einfluss der gesellschaftliche Kontext auf die Fortführung oder Beendigung der Praktik hat, die in erster Linie durch den gesellschaftlichen Druck oder Gruppenzwang unterhalten wird. Die Faktoren, die den Brauch in Afrika aufrechterhalten, schließen den gesellschaftlichen Druck ein: Wenn ein Mädchen nicht beschnitten wird, wird es nicht nur durch seine Peers stigmatisiert, sondern auch zur Heirat abgelehnt werden. Im Gegensatz dazu erfahren Immigranten in Norwegen den sozialen Druck, dass beschnittene Mädchen von Jungen zur Heirat abgelehnt werden, zusätzlich zur Stigmatisierung durch Gleichaltrige. Demzufolge dient der primäre Zweck der FGM unterschiedlichen Funktionen in unterschiedlichen Gesellschaften und für dieselben Glieder der Gesellschaft in unterschiedlichen Milieus. FGM wertet den Status eines Mädchens in Somalia auf, dagegen wird es in Norwegen stigmatisiert [14]. Nichtsdestotrotz ist die FGM eine gesellschaftliche Norm und es ist nicht leicht für Immigranten aus FGM-praktizierenden Ländern diesen Brauch in naher Zukunft für immer aufzugeben. Zudem ist Migration eine globale Realität und es gibt keinerlei Hinweise dafür, dass die Einwanderung aus FGM praktizierenden Ländern nach Europa in naher Zukunft verebben wird. Folglich sollten anhaltendes Bewusstsein und die Kriminalisierung der Praxis erhalten bleiben. Referenzen [1]

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3.5 Medikalisierung der weiblichen Genitalverstümmelung  51

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3.5 Medikalisierung der weiblichen Genitalverstümmelung Karin Stein, Christina Pallitto, Lale Say Die weibliche Genitalverstümmelung ist eine uralte Tradition und somit ein Brauch, der schwierig zu ändern ist. Er verkörpert einen Teil der Geschichte und kulturellen Identität der praktizierenden Gesellschaften und es hat sich gezeigt, dass diese tiefe soziokulturelle Verwurzelung die vollständige Elimination zu einer großen Herausforderung macht. Allerdings gibt es zunehmend ermutigende Signale. Nach einem Bericht des United Nations Children’s Fund (UNICEF) 2016 findet sich eine allgemeine Abnahme der Prävalenz von FGM über die letzten drei Dekaden. Dennoch haben nicht alle Länder einen Fortschritt gemacht und die Geschwindigkeit der Abnahme ist ungleich verteilt [1]. In vielen Teilen der Welt wurde FGM typischerweise von Beschneidern oder traditionellen Geburtshelfern durchgeführt. Allerdings zeigt sich seit einigen Jahren eine Zunahme der Fälle, die durch professionelles medizinisches Personal durchgeführt wurden (Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen und andere ausgebildete Kräfte). Dieses Phänomen wird „Medikalisierung von FGM“ genannt und von der World Health Organization (WHO) definiert als „Situation in der die Prozedur (einschließlich Re-Infibulation) durch irgendeinen im Gesundheitsbereich Tätigen in einer öffentlichen oder privaten Klinik, zu Hause oder sonst wo, zu irgendeiner Zeit im Leben einer Frau durchgeführt wird“ [2]. In diesem Kapitel beschreiben wir den Ursprung der Medikalisierung von FGM und wir erklären die Gründe, warum seit eini-

52  3 Propädeutik

gen Jahren FGM zunehmend von Gesundheitsdienstleistern durchgeführt wird. Wir reflektieren zudem die Motive derjenigen, die diese Entwicklung unterstützen. Schließlich beleuchten wir den negativen Einfluss der Medikalisierung von FGM auf die Gesundheit und das Wohlergehen von Mädchen und Frauen und wir diskutieren mögliche Strategien sie zu vermindern. Die ersten Maßnahmen, FGM einzudämmen, begannen vor über 40 Jahren. Unter ihnen war einer der populärsten Ansätze, über die damit verbundenen Gesundheitsrisiken zu informieren. Dieser Ansatz geht davon aus, dass die Bevölkerung die Praxis einstellt, wenn sie über die negativen gesundheitlichen Auswirkungen von FGM aufgeklärt ist [3]. Allerdings könnte die gesteigerte Aufmerksamkeit zu den Gesundheitsrisiken den unerwünschten Effekt haben, die Durchführung in zunehmendem Maß an Gesundheitsdienstleister zu delegieren, statt dazu beizutragen, den Brauch gänzlich einzustellen. Da manche Gemeindemitglieder FGM als eine notwendige Praxis ansehen um ihre kulturelle Tradition zu erhalten, führte der Versuch die Sicherheit des Eingriffs zu verbessern, in vielen Fällen zu einem vermeintlichen „Schaden-Verminderungs“-Ansatz2, bei dem die Gemeinschaft glaubt, es wäre sicherer, wenn Gesundheitsdienstleister den Eingriff durchführen [4]. Der Trend zur Medikalisierung von FGM ist inzwischen so präsent, dass Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens erforderlich sind, um die Durchführung von Beschneidungen durch Gesundheitsdienstleister zu reduzieren. Befürworter argumentieren hingegen, dass die Medikalisierung das Potenzial hat, die Gesundheit von Mädchen und Frauen zu verbessern, indem sie die gesundheitlichen Komplikationen reduziert, die mit der Durchführung der Prozedur unter unhygienischen Umständen verbunden sind und zudem das Ausmaß der Beschneidung vermindern kann. Ein weiteres häufiges Argument ist, dass die Medikalisierung ein erster Schritt zur vollständigen Elimination der Praxis sein kann [2]. Sie postulieren, dass die Durchführung in einem hygienischen Umfeld, sterile Instrumente und die prophylaktische Gabe von Antibiotika akute Komplikationen wie Infektionen erheblich vermindern. Dasselbe gilt für den Einsatz von Lokalanästhetika zur Schmerzreduktion. Als Reaktion auf diese Behauptungen, hat die WHO 1982 eine offizielle Stellungnahme herausgegeben, die die Durchführung jedweder Form von FGM durch Gesundheitsdienstleister, unabhängig von den Verhältnissen, als unethisch deklariert. Die Internationale Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO) hat die Praxis 1994 ebenfalls öffentlich verurteilt. Diesen Resolutionen haben sich mehrere internationale und professionelle Gesundheitsorganisationen angeschlossen. Gesundheitsministerien in vielen afrikanischen Ländern haben ähnliche Stellungnahmen abgegeben [2,4]. 2010 hat die WHO gemeinsam mit zwölf weiteren Organisationen

2 Schaden-Verminderung ist ein Ansatz im Public Health Bereich der darauf zielt die gesundheitlichen Risiken eines bestimmten Verhaltens zu verringern, indem zur Verwendung von Alternativen ermutigt wird, die als weniger schädlich eingeschätzt werden.

3.5 Medikalisierung der weiblichen Genitalverstümmelung  53

der Vereinten Nationen und professionellen Gesellschaften eine globale Strategie entwickelt, um Gesundheitsdienstleister abzuhalten, FGM zu praktizieren [2]. Die strikte Opposition gegenüber Gesundheitsdienstleistern die FGM praktizieren, fußt auf guten Argumenten. Zunächst stellt die Verhinderung der Medikalisierung von FGM eine essenzielle Komponente des holistischen, auf den Menschenrechten basierenden Ansatzes dar, diese Praxis vollständig zu unterbinden. Durch ihr Einstehen für eine Abschaffung und die Weigerung FGM durchzuführen, tragen sie dazu bei, diesen gefährlichen Brauch zu unterminieren. Zweitens, im Gesundheitswesen Tätige, die FGM praktizieren, verletzen damit fundamentale medizinische Prinzipien: „schadet nicht“ und „erhalte gesunde, funktionierende Körperorgane, außer wenn sie lebensbedrohliche Veränderungen haben“ [4]. Drittens ist FGM auch bei der Verwendung von sterilen Instrumenten nicht ohne Risiken. Zudem kann die Entfernung oder Schädigung von gesundem Genitalgewebe kurz- und langfristige Konsequenzen haben [5]. Und letztens ist der tatsächliche Einfluss der Medikalisierung, wie die Verwendung steriler Klingen und prophylaktischer Antibiotika, auf die Gesundheit von Frauen und Mädchen bisher nicht geklärt [4]. Ohne Evidenz, die die vorgebliche Verbesserung stützt, kann dieser Ansatz nicht empfohlen werden. In diesem Licht ist es wichtig die Motive zu verstehen, warum Gesundheitsdienstleister bereit sind, FGM zu praktizieren. Wie zuvor erwähnt, willigen viele von ihnen mit der Intention ein, den Schaden und die akuten Risiken, die mit der Prozedur verbunden sind, zu reduzieren. Zu ihnen gehören neben dem Risiko von Blutungen, starken Schmerzen, akuter Harnverhalt sowie lokale und systemische Infektionen [5]. Zudem erhalten die Dienstleister häufig ökonomische Vorteile für die Durchführung der Beschneidung. Diese Zuwendungen sind meist monetär, können aber auch Geschenke sein. Es ist darüber hinaus wichtig zu bedenken, dass diese Praxis in Ländern mit hoher FGM-Prävalenz die gesamte Gemeinschaft durchdrungen hat, einschließlich der Gesundheitsdienstleister und ihrer Familienmitglieder. Daher sind die Dienstleister wahrscheinlich selbst betroffen und unterstützen sie vollkommen. Sie könnten sich sogar in ihrer Funktion als Gesundheitsdienstleister als Behüter einer wichtigen Tradition sehen. Schließlich halten es einige von ihnen, die FGM selbst nicht unterstützen, für ihre Pflicht die sozio-kulturell motivierten Forderungen nach einer Beschneidung zu unterstützen [2]. Um die Durchführung von FGM durch seine Mitglieder einzudämmen, muss sich das Gesundheitswesen mit Entscheidungsträgern und Interessenvertretern in anderen gesellschaftlichen Sektoren zusammenschließen, um die Schritte zu ermöglichen, die erforderlich sind, um die Medikalisierung von FGM zu reduzieren. Wie in der globalen Strategie zur Beendigung von FGM durch Gesundheitsdienstleister umrissen, beinhaltet dies folgende Schritte [2]: – Mobilisation von politischem Willen und finanziellen Mitteln, um die Entwicklung und Implementierung von Strategien, Leitlinien und Gesetzen sicherzustellen. – Ausbauen des Verständnisses und Wissen der Mitarbeiter im Gesundheitswesen, weshalb FGM nicht praktiziert werden sollte und wie sie den Forderungen danach

54  3 Propädeutik

– –

widerstehen können. Jeder Versuch, der darauf zielt, die Einstellung von Gesundheitsdienstleistern zu ändern, muss den normativen Charakter von FGM berücksichtigen und die Tatsache, dass die Dienstleister und ihre Familien Mitglieder einer Gesellschaft sind, in der FGM prävalent ist, sie selbst wahrscheinlich damit in Berührung gekommen sind und sie möglicherweise sogar unterstützen. Schaffe und setze eine unterstützende Gesetzgebung gegen FGM durch. Verstärke Monitoring, Evaluation und Haftung.

Zusätzlich besteht die Notwendigkeit zu weitergehender Forschung, um die Motivation von Gesundheitsdienstleistern zu verstehen und um kultur-sensible Ansätze zu identifizieren, die Einstellungen und Praktiken zu beeinflussen, um die Medikalisierung von FGM zurückzudrängen. Mit der notwendigen Unterstützung und Training können Mitglieder im Gesundheitswesen nicht nur dazu beitragen diese Praxis zu beenden, sondern auch als Vermittler in ihren eigenen Communities dienen und Kollegen und Patienten überzeugen FGM zu beenden. Haftungsausschluss Die Autoren sind Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation. Für die in dieser Publikation geäußerten Ansichten sind allein die Autoren verantwortlich, und sie repräsentieren nicht notwendigerweise die Ansichten, Entscheidungen oder Politik der Weltgesundheitsorganisation. Referenzen [1]

[2]

[3]

[4] [5]

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3.5 Medikalisierung der weiblichen Genitalverstümmelung  55

3.5.1 Medikalisierung – Ergänzende Daten, Trends in Afrika Nafissatou Diop

Die Durchführung der FGM durch Gesundheitspersonal, auch Medikalisierung der Praktik genannt, ist ein alarmierender Trend in manchen Ländern. An dem Joint Programm beteiligen sich unter anderen sieben Länder, in denen eins von zehn Mädchen eine FGM durch Gesundheitspersonal erleidet: Ägypten, Sudan, Guinea, Djibouti, Kenia, Jemen und Nigeria. In diesen Ländern sind mehr als 20 Millionen Mädchen und Frauen der FGM durch medizinisches Fachpersonal unterzogen worden. Die vom Gesundheitspersonal durchgeführte FGM ist am häufigsten in Ägypten und im Sudan – in Ägypten durch Ärzte und im Sudan durch Hebammen. In Ägypten sind von den elf Millionen Mädchen und Frauen neun Millionen durch Ärzte beschnitten worden. Die Medikalisierung verletzt nicht nur die medizinische Ethik angesichts der Tatsache, dass die FGM ein schädigender Brauch ist. Sie vermittelt auch der FGM den Anschein einer Legitimation oder den Eindruck, dass sie ohne Gesundheitsfolgen sei. – Weibliche Genitalverstümmelung ist niemals „sicher“ und es gibt keine medizinische Rechtfertigung für diesen Brauch. Auch wenn der Eingriff unter sterilen Bedingungen durch eine Gesundheitsfachkraft durchgeführt wird, kann es unmittelbar danach und auch später im Leben zu schwerwiegenden Folgen kommen. – In mehr als einem von zehn FGM Fällen erfolgt der Eingriff durch eine Gesundheitsfachkraft. – Mehr als 20 Millionen Mädchen und Frauen sind durch medizinisches Fachpersonal beschnitten worden. – Dies stellt ein Drittel aller Mädchen und Frauen dar, die dieser Praktik unterworfen wurden. Trends in der Medikalisierung – In Ägypten ist das Gesundheitspersonal verantwortlich für 68 % der FGM bei den Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren im Vergleich zu nur 17 % der Fälle bei Frauen zwischen 45 und 49 Jahren. – In Guinea berichten Frauen, dass 30 % ihrer Töchter, die die FGM erlitten haben, von Gesundheitsfachleuten beschnitten worden sind, im Gegensatz zu nur 3 % der ältesten Kohorte von Frauen (45–49 Jahren). – Gemeldete Medikalisierungsraten bei Frauen zwischen 15–49 Jahren sind in folgenden fünf Ländern am höchsten: Ägypten 38 %, Sudan 67 %, Guinea 15 %, Kenia 15 % und Nigeria 13 %. – Unter Schwestern ist die Rate der medikalisierten Beschneidung beträchtlich, (10 % oder höher) in folgenden acht Ländern: Djibouti, Ägypten, Guinea, Irak, Kenia, Nigeria, Sudan und Jemen. Vergleiche zwischen Mutter und Tochter zeigen, dass die Medikalisierung in diesen Ländern zunimmt, mit Ausnahme von Nigeria.

56  3 Propädeutik

100 Mütter

Töchter

80 60 40 20 0 Nigeria

Yemen

Irak

Kenia

Djibouti

Guinea

Sudan

Ägypten

Abb. 3.6: Prozentsatz der FGM von medizinischem Personal durchgeführt. Jemals verheiratete Frauen im Vergleich zu Töchtern.

78 Ägypten

67

12

21

77 Sudan

77

20

3

31 Guinea 2

29

68

1

21 Djibouti 2

19

78

2

20 Kenia 4

16

75

5

13 Yemen

7

Nigeria 1

6

12 11

Ausführende: Arzt traditioneller Heiler

85

3

87

2

Krankenschwester / Hebamme / anderer Gesundheitsdienstleister

unbekannt / andere

Abb. 3.7: Prozentuelle Verteilung von Mädchen im Alter von 0–14 Jahre alt mit FGM (gemäß Aussage ihrer Mütter), nach Art von Personen, die diesen Eingriff durchführen.

3.6 Die männliche Zirkumzision  57

3.6 Die männliche Zirkumzision Gralf Popken Die männliche Zirkumzision ist die chirurgisch durchgeführte Umschneidung des Präputiums (Vorhaut) mit teilweiser oder kompletter Resektion. Ein Großteil der Zirkumzisionen wird heute aus religiös-rituellen Gründen sowie aus kosmetisch-„hygienischen“ Gründen durchgeführt. Sie gehört zu den weltweit am häufigsten durchgeführten Eingriffen. Gegenwärtig sind 25–33 % der männlichen Weltbevölkerung beschnitten. Jedes Jahr werden weltweit etwa 13,3 Millionen Männer beschnitten. Die Beschneidung von gesunden Kindern am achten Lebenstag gilt im Judentum als Gebot Gottes. Der Koran erwähnt sie nicht ausdrücklich, dennoch ist sie in islamisch geprägten Ländern als Sunna weit verbreitet und wird im Kindes- oder Jugendalter durchgeführt. In den USA war die Beschneidung im Säuglingsalter weit verbreitet, ging jedoch stark zurück. 2010 fand sie noch bei 77 % der Jungen statt. In einigen Gesellschaften ist die Zirkumzision ein Initiationsritual; dieses soll die Aufnahme des Jugendlichen in die Gemeinschaft der erwachsenen Männer symbolisieren. Auch in Deutschland wird die Zirkumzision häufig auch ohne religiösen oder kulturellen Hintergrund ohne strenge Indikationsprüfung durchgeführt. Die Zirkumzision ist eine Behandlungsmöglichkeit, die bei schweren Formen der Phimose als indiziert gilt, wenn Behandlungsalternativen nicht erfolgversprechend sind oder zuvor keinen Heilungserfolg brachten. Strenge medizinische Indikationen für die Zirkumzision lassen sich bei Erwachsenen nur selten stellen. Im Kindesalter ist dies hingegen häufiger der Fall. Vor allem eine Verengung der Vorhaut (Phimosen und Erkrankungen der genitalen Schleimhäute [z. B. Lichen sclerosus et atrophicus]) können eine therapeutische Beschneidung notwendig machen. Nach kritischer Betrachtung zeigt sich, dass der Zirkumzision kein medizinischer Nutzen bei der Verbesserung der Genitalhygiene, Verringerung der Inzidenz von Harnwegsinfektionen, sexuell übertragbaren Krankheiten oder der Krebsprävention zugesprochen werden kann. Nur bei der pathologisch erworbenen Phimose, nach Scheitern aller verfügbaren konservativen Behandlungsverfahren, ist die Zirkumzision medizinisch indiziert. Dagegen steht eine nicht zu vernachlässigende Rate perioperativer und postoperativer Komplikationen zwischen 2 % und 10 %. Die Zirkumzision ist mit anatomischen, sexuellen und psychischen Langzeitfolgen verbunden. Auch wenn letztere Punkte schwer zu untersuchen sind, kann die Zirkumzision sicher nicht diesbezüglich als harmloser und folgenloser Eingriff betrachtet werden. Es liegen viele Berichte über die negativen Folgen der Zirkumzision sowohl für den Patienten selbst als auch für dessen Sexualpartner vor, ferner häufen sich die wissenschaftlichen Belege für die negative Auswirkung der Zirkumzision auf die Sexualität des Mannes sowie dessen Partner.

58  3 Propädeutik

Funktion der Vorhaut Die Vorhaut hat für die Glans und den Meatus urethrae eine Schutzfunktion vor mechanischen Einflüssen, Schmutz und Schadstoffen. So kommt es nach Zirkumzision immer zu einer Keratinisierung der Glans. Werden Jungen im Windelalter beschnitten, kann es auf Grund der permanenten Irritation des freiliegenden Meatus zu wiederholten Entzündungen des Meatus urethrae und infolge davon zur sog. Meatusstenose kommen. Ferner ist in diesem Alter die Zirkumzision mit besonders starken postoperativen Schmerzen für den Jungen und mit einem größeren Risiko für Komplikationen verbunden, da die Operationswunde und die freiliegende Eichel den Ausscheidungen in der Windel ausgesetzt sind. Eine weitere Funktion des Präputiums ist die Aufrechterhaltung einer stabilen Bakterienflora zur Infektprophylaxe. Das innere Vorhautblatt und die Eichel des Penis bestehen aus Schleimhautgewebe. Schleimhautoberflächen erfüllen mehrere immunologische und hygienische Funktionen. Die innere Vorhaut enthält Drüsen, die Cathepsin B, Lysozym, Chymotrypsin, neutrophile Elastase, Zytokine bilden. Lysozym, das man auch in Tränen, der menschlichen Milch und anderen Körperflüssigkeiten vorfindet, zerstört bakterielle Zellwände und tötet so schädliche Bakterien ab. Weiterhin enthält die Vorhaut Plasmazellen, die sich gemäß der Erregerkonzentration vermehren, und Antikörper sezernieren. Die Vorhaut erfüllt mehrere mechanische Funktionen, die für eine normale sexuelle Funktion wichtig sind. Die Reibungsmechanik während des Vaginalverkehrs wird durch die Vorhaut beeinflusst. Durch sie dringt der Penis ohne Reibung in die Vagina ein, während die Vorhaut sich zurückstreift. Durch die fehlende Vorhaut ist die für die Penetration benötigte Kraft um das 10-fache erhöht. Nach der Penetration ermöglicht die Vorhaut das reibungsfreie Gleiten des Penis vor und zurück innerhalb seiner eigenen Vorhaut. Diese Gleitwirkung sorgt für eine starke Reduktion an Reibung und vaginaler Trockenheit. Inwieweit diese Veränderungen jedoch zu Einschränkungen der Sexualität beitragen oder diese positiv beeinflussen können, wird kontrovers diskutiert. Die Zirkumzision führt, bedingt durch die Entfernung der stark innervierten Vorhaut sowie die Keratinisierung der Eichel, zu einer herabgesetzten Sensibilität des Penis. Im Gegensatz zur Glans penis, welche durch freie Nervenendigungen und einiger Ruffini-Endigungen fast nur zur Wahrnehmung von Schmerzreizen fähig ist, enthält die Vorhaut zusätzlich Mechanorezeptoren (Meißner-Tastkörperchen, Vater-Pacini-Tastkörperchen, Merkel-Zellen), die für eine hoch auflösende Oberflächensensibilität sorgen. Besonders nah an der Oberfläche liegen diese spezialisierten Nervenenden am sogenannten gefurchten Band. Dieses gefurchte Band entspringt am Frenulum und umkreist die Vorhautöffnung. Die Gewebestellen, deren Nervenenden am empfindlichsten auf leichte Berührungsreize reagieren, befinden sich – völlig ausnahmslos – auf der Vorhaut.

3.6 Die männliche Zirkumzision

 59

Indikationen zur Zirkumzision Phimose: Sie ist die Bezeichnung dafür, dass die Vorhaut nicht über die Glans zurückgezogen werden kann. Die fehlende Zurückziehbarkeit allein besitzt noch keinen Krankheitswert, sofern sie frei von Krankheitssymptomen bleibt. Sie ist mindestens bis zum Abschluss der Pubertät physiologisch, d. h. nicht behandlungsbedürftig. Von der physiologischen Phimose zu unterscheiden ist die pathologische Phimose, die akute Beschwerden zeigt, und der im wesentlichen rezidivierende Entzündungen (Balanoposthitis, Balanitis xerotica obliterans) zugrunde liegen. Vorteile der Zirkumzision Neben den medizinischen Indikationen wird eine Reihe gesundheitlich präventiver Vorteile beschrieben. Hygiene: Es wird z. T. die Meinung vertreten, dass die Zirkumzision die Genitalhygiene verbessern könne. So argumentieren Beschneidungsbefürworter, die Beschneidung „schaffe trockene Verhältnisse“, was zu einer verringerten Keimbesiedlung führe und somit hinsichtlich des Infektionsrisikos als „günstigere Grundsituation“ einzuschätzen sei. Auch würde durch die Zirkumzision die Ansammlung von Smegma erschwert, die als Herd für Entzündungen angesehen wird. Wissenschaftlich belegt sind diese Mutmaßungen jedoch nicht. Vielmehr deuten neue Forschungsergebnisse darauf hin, dass die Zirkumzision die Genitalhygiene eher verschlechtert. Die durch die Zirkumzision entblößte Eichel ist eher als unreiner denn als sauberer anzusehen, da diese permanent Hautabrieb, Schadstoffen sowie Keimen ausgesetzt ist. Studien zufolge leiden beschnittene Jungen häufiger an Balanitis, Meatitis, Verwachsungen mit der Eichel und Meatusstenose. Besonders problematisch hinsichtlich der Hygiene sind Zirkumzision während der Windeljahre, da Urin verbunden mit Fäkalien den entblößten Meatus urethrae und die Operationswunde ätzen kann. Harnwegsinfektionen (HWI): Häufig wird die Reduzierung der Inzidenz von HWI als Begründung zur Routine-Zirkumzision angeführt. Wissenschaftliche Arbeiten diskutieren dies äußerst kontrovers. Ein Zusammenhang konnte bislang nicht eindeutig nachgewiesen werden. Virale Infektionen – sexuell übertragbare Krankheiten: Schon 1855 publizierte der englische Chirurg Jonathan Hutchinson seine Vermutungen über einen Zusammenhang zwischen Zirkumzisionsstatus und der Übertragung von Geschlechtskrankheiten. Seit der Zeit sind zahlreiche Studien hierzu veröffentlicht. Die Ergebnisse der Studien sind widersprüchlich. So können letztlich keine signifikanten Unterschiede bezüglich des Zirkumzisionsstatus und der bakteriellen Flora (Mycobactus smegmaticus, Mycoplasmen, Trichomonaden, Chlamydien, Candida) noch in der Häufigkeit

60  3 Propädeutik

sexuell übertragbarer Krankheiten (Gonorrhö, Urethritis sonst. Genese, Lues, Ulcus molle, Herpes, HIV) gesehen werden. Bei der HIV-Bekämpfung wird auch in jüngerer Literatur die Zirkumzision aller Männer als einzig wirksames Mittel zur Eindämmung der HIV-Epidemie in Entwicklungsländern beworben. Diese Vermutungen lassen sich derzeit jedoch nicht halten, zumal die Rolle der immunkompetenten Langerhans-Zellen, die auch in der Vorhaut reichlich vorkommen, heute geklärt ist. Bis vor kurzem wurde diskutiert ob die in der Vorhaut selbst in hoher Konzentration sowie nah an der Hautoberfläche vorliegenden Langerhans-Zellen für die Übertragung von Viren beim Geschlechtsakt hauptverantwortlich wären. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass Langerhans-Zellen, die sich in der Vorhaut befinden, Langerin produzieren, eine Substanz, die den HI-Virus bei Kontakt unschädlich macht. Krebsprävention: Die Inzidenz des Peniskarzinoms liegt in den USA bei 1/100.000 pro Jahr. Allerdings ist die Inzidenz in Ländern, in denen nahezu keine Zirkumzisionen durchgeführt werden, gleich. Wichtiger als die Zirkumzision erscheint, dass 75 % aller Fälle eines Peniskarzinoms histologische Anzeichen einer Balanitis xerotica obliterans aufweisen, so dass diese heute als Präkanzerose diskutiert wird. Das Zervixkarzinom ist weltweit der zweithäufigste bösartige Tumor bei Frauen. Man geht davon aus, dass ein großer Teil der Gebärmutterhalskarzinome von humanen Papillomviren (HPV) verursacht wird. Darüber hinaus ist diese Virengruppe ursächlich für Genitalwarzen, Vaginal-, Penis- und Analkarzinome, Basalzellenkrebs und Mundtumore. Allerdings sind neben der Vorhaut auch der Penisschaft, die Eichel, der Hodensack und Urin an der HPV-Übertragung beteiligt. Auch bezüglich der Prävention von HPV-Infektionen geben Studienergebnisse unterschiedliche Ergebnisse. Entgegen früherer Meinung kann durch die Zirkumzision des Partners das Risiko nicht gesenkt werden. Die Behauptung, dass Frauen von Männern mit intakten Vorhäuten anfälliger für Zervixkarzinome wären, ist widerlegt. Vielmehr scheint mangelhafte Sexualhygiene von größerer Bedeutung zu sein. Sicher spielen auch hier wie bei den sexuell übertragbaren Krankheiten sozio-ökonomische und kulturelle Faktoren sowie das Sexualverhalten des einzelnen eine übergeordnete Rolle ebenso wie die Verbreitung der heute bekannten diesbezüglichen Vektoren, den humanen Papillomviren. Komplikationen der Zirkumzision Die Zirkumzision wird häufig als kleiner Eingriff betrachtet, jedoch ist sie mit einer beträchtlichen Komplikationsrate selbst unter optimalen Operationsbedingungen verbunden. Die exakte Komplikationsrate der Zirkumzision ist unbekannt. Realistisch wird sie in einem professionellen medizinischen Umfeld auf 2–10 % geschätzt d. h., dass es bei mindestens jedem 50. Fall zu Komplikationen kommt. Die häufigsten Komplikationen sind Blutungen oder Infekte. Die Komplikationen umfassen un-

3.6 Die männliche Zirkumzision  61

ter anderen: Meatitis und Meatusulzeration (8–31 %), Nachblutungen (1–7 %), Infektionen (8,5 %), Verletzung der Glans oder der Harnröhre, Meatusstenose, übermäßige Hautentfernung, Harnröhrenfisteln, Knotenbildung der Venen, Verwachsungen, Nekrosen. Psychische Auswirkung der Zirkumzision: Die Zirkumzision, in welchem Alter auch immer durchgeführt, wirkt zweifellos als Trauma. Insbesondere die Zirkumzision beim Neugeborenen, die auch noch heute in den meisten Fällen ohne jedwede Betäubung durchgeführt wird, muss als erhebliches Trauma für das Kind betrachtet werden. Erhöhte Pulsraten und Serumkortisolspiegel als Stressparameter sind infolge der Neugeborenenzirkumzision messbar. Noch sechs Monate nach dem Eingriff können Verhaltensauffälligkeiten der Kinder beobachtet werden, wenn diese z. B. eine Injektion erhalten. Beschnittene Knaben weisen eine geringere Schmerzhemmschwelle auf als nicht beschnittene Jungen. Sexuelle Auswirkungen: Die Vorhaut ist ein primär erogenes Gewebe, das für eine normale Sexualfunktion notwendig ist. Ein Großteil der Nervenendigungen und die überwiegende Mehrzahl der spezialisierten Nervenendigungen des Penis befinden sich auf der Vorhaut. Folglich wird durch die Zirkumzision dem Knaben oder Mann der Großteil der erogenen Nervenenden, sowie fast alle der spezialisierten Nervenenden seines Penis irreversibel entfernt. Sofern Männer dies beurteilen können, da sie erst im Erwachsenenalter beschnitten worden sind, berichtet die signifikante Mehrzahl über spürbaren Sensibilitätsverlust. Die nach der Beschneidung noch verbleibende Sensitivität liegt vorwiegend in der Eichel. Diese restliche Sensitivität wird, infolge der Entfernung der schützenden Vorhaut und der damit verbundenen Keratinisierung der Eicheloberfläche, weiter reduziert. Diese Desensibilisierung des Penis infolge des Verlustes an erogenem Gewebe einerseits und des zusätzlichen Empfindlichkeitsverlustes des noch verbliebenen erogenen Gewebes aufgrund der Keratinisierung der Glans andererseits, zeigt sich auch in einer nachweisbaren Verminderung des sexuellen Vergnügens. Die Verlängerung der Zeit bis zur Ejakulation wird häufig als positiver Effekt der Beschneidung dargestellt. Diese geht jedoch Hand in Hand mit dem Verlust an Penissensibilität. Auf der anderen Seite berichten beschnittene Männer öfters über vorzeitige Ejakulation als unbeschnittene. Und auch das sexuelle Erleben der Partnerin bzw. des Paares wird beeinflusst. So berichten alle Paare durch die fehlende Gleitfunktion der Vorhaut von einem merklichen Sekretverlust während des Geschlechtsverkehrs mit wahrnehmbar erhöhter Reibung und dadurch bedingtem Diskomfort bis hin zur vaginalen Dyspareunie. Auch berichten Frauen beschnittener Partner über eine signifikant niedrigere Häufigkeit vaginaler Orgasmen. Die Masturbation wird durch die Beschneidung ebenfalls erschwert, lange Zeit in Amerika Hauptmotivation für diese Operation.

62  3 Propädeutik

Zusammenfassend muss davon ausgegangen werden, dass die negativen Auswirkungen der Zirkumzision auf die Sexualfunktion und das Sexualleben beider Partner überwiegen. Ästhetische Gründe Das optische Erscheinungsbild des Penis wird durch eine Beschneidung gravierend verändert. Hierbei entscheidet jeweils der persönliche Geschmack, ob ein beschnittener oder natürlicher Penis ansprechender aussieht. Da eine Beschneidung nicht rückgängig gemacht werden kann, sollte man sich vor einer ästhetisch motivierten Zirkumzision genauestens über die Risiken und möglichen Spätfolgen informieren, um abwägen zu können, ob der erzielte optische Gewinn die körperlichen Veränderungen rechtfertigt. Da diese Veränderungen und ihre möglichen Folgen von demjenigen lebenslang zu tragen sind, der aus ästhetischen Gründen beschnitten werden soll, und darüber hinaus auch seinem persönlichen Geschmack entsprechen müssen, kann eine rechtmäßige Entscheidung zur ästhetisch motivierten Zirkumzision nur vom zu Beschneidenden selbst getroffen werden, wenn er aufgrund seines Alters und seiner geistigen Reife dazu in der Lage ist. In der Regel sollte dies mit Erreichen der Volljährigkeit der Fall sein. Manche Männer entschließen sich aus Gründen der persönlichen Ästhetik und/ oder des eigenen Körpergefühls zur Zirkumzision. In einer australischen Studie über die Folgen der Beschneidung zeigten sich beschnittene Männer weniger besorgt darüber, dass ihr Körper beim Sex unattraktiv wirken könnte. Weibliche Präferenz Studien aus den USA zeigten, dass junge Mütter (78 % nur sexuelle Erfahrungen mit beschnittenen Sexualpartnern, 5,5 % ausschließlich mit einem unbeschnittenen Mann), die gerade Söhne geboren hatten, 89 % ihre neugeborenen Söhne beschneiden lassen. Mehrheitlich (71–83 %) bevorzugten die Frauen beschnittene männliche Sexualpartner für verschiedene sexuelle Aktivitäten. Als Gründe für die Bevorzugung beschnittener Sexualpartner wurden hygienische, visuelle oder/und haptische Empfindungen bezüglich des Penis angegeben. Die Mehrheit gab an, einen beschnittenen Penis gegenüber einem unbeschnittenen ästhetischer und/oder erotischer zu finden. Etwa drei Viertel bezeichneten den beschnittenen Penis als natürlicher. Es zeigte sich zudem eine starke Korrelation zwischen dem Beschneidungsstatus des neugeborenen Sohnes und der Idealvorstellung der Frau bezüglich des Status ihres Sexualpartners beim Geschlechtsverkehr. Hieraus wurde die Hypothese abgeleitet, dass amerikanische Frauen die Zirkumzision aus sexuellen Gründen bevorzugen. In weiteren Untersuchungen gaben 38 % der Partnerinnen (und 44 % der Beschnittenen) an, dass sich das Penis-Aussehen signifikant ästhetisch verbessert hatte.

Referenzen  63

Abgesehen von rituellen und religiösen Beschneidungen werden auch zu viele unnötige medizinisch indizierte Zirkumzisionen durchgeführt. Es kann derzeit keine begründete positive Aussage über die prophylaktische Wirkung der Zirkumzision bezüglich der Inzidenz von Harnwegsinfektionen, sexuell übertragbarer Krankheiten oder der Malignomentwicklung getroffen werden. Demgegenüber stehen mögliche Komplikationen und negative Langzeitwirkungen anatomischer, funktioneller und psychischer Art. Die Zirkumzision ist die Amputation der Vorhaut vom restlichen Penis, die zu einer permanenten Veränderung seiner Anatomie, Histologie und Funktion führt. Zweifellos ist die Zirkumzision ein chirurgischer Eingriff, der wie andere mit möglichen Komplikationen und nachteiligen Auswirkungen einhergeht und deshalb die gebotenen gesetzlichen und medizinrechtlichen Vorgaben erfüllen muss. Unter ungünstigen, meist rituellen Rahmenbedingungen durchgeführt, sind gravierende Komplikationen nicht selten. Referenzen Aho MO, Tammela OK, Somppi EM, Tammela TL. Sexual and social life of men operated in childhood for hypospadias and phimosis. A comparative study. Eur Urol. 2000;37:95–101. Bensley G, Boyle G. Male Circumcision: Pain, Trauma and Psychosexual Sequelae. New Zealand Medical Journal. 2003;116:595–596. Cook LS, Koutsky LA, Holmes KK. Clinical presentation of genital warts among circumcised and uncircumcised heterosexual men attending an urban STD clinic. Genitourinary Medicine. 1993;69 (4):262–264. de Vincenzi I, Thierry M. Male circumcision: a role in HIV prevention? AIDS. 1994;8(2):153–160. Fink KS, Carson CC, DeVellis RF. Adult circumcision outcomes study: effect on erectile function, penile sensitivity, sexual activity and satisfaction. J. Urol. 2002;167(5):2113–2116. Fleiss P, Hodges F, Van Howe RS. Immunological Functions of the Human Prepuce. Sex Transm Inf. 1998;74:364–367. Frisch M, Lindholm M, Grønbæk M. Male circumcision and sexual function in men and women: a survey-based, cross-sectional study in Denmark. Int J Epidemiol. 2011;40(5):1367–1381. Frisch M, Friis S, Kjaer SK, Melbye M. Falling incidence of penis cancer in an uncircumcised population (Denmark 1943–90). BMJ. 1995;311(7018):1471. Griffiths DM, Atwell JD, Freeman NV. A prospective survey of the indications and morbidity of circumcision in children. Eur Urol. 1985;11(3):184–187. Holm P. Rechtliche Grenzen der Zirkumzision bei Minderjährigen. Medizinrecht. 2008;(262):268 −272. Kaplan GW. Complications of Circumcision. Urologic Clinics of North America. 1983;10(3):543–549. Kim D, Myung-Geol P. The effect of male circumcision on sexuality. BJU International. 2007;99 (3):619–622. Neill S, Tatnall F, Cox N. Guidelines for the management of lichen sclerosus. Br J Dermatol. 2010;163 (4):672–682. O'Hara K, O'Hara J. The effect of male circumcision on the sexual enjoyment of the female partner. BJU Int. 1999;83(Suppl. 1):79–84. Paige KE. The Ritual of Circumcision. Human Nature. 1978:40–48. Persaud V. Geographical pathology of cancer of the uterine cervix. Trop Geogr Med. 1977;29(4):335– 345.

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3.7 Klassifikation Peniler Komplikationen  65

3.7 Klassifikation Peniler Komplikationen J. Rijken Dingeman

S

lokale Sepsis/Infekt

s0

W

s1

w1

g0

g1

Abb. 3.8: Klassifikation Peniler Komplikationen.

s3

sx

kein/kaum Hautverlust geringer Hautverlust (20–40 %) moderater Hautverlust (40–80 %) erheblicher Hautverlust (> 80 %) Gangrän des Schaftes w2

0. 1. 2. 3. x.

Glans Penis

keine mild: Fibröser / eitriger Belag moderat: Belag erheblich: ausgedehnte Beläge oder lokaler Abszess Gangrän s2

0. 1. 2. 3. x.

Wunde Penisschaft

w0

G

0. 1. 2. 3. x.

w3

wx

intakt mild: partieller Verlust des Epithels (< 80 %) moderat: vollständiger Verlust des Epithels (> 80 %) erheblich: Gewebeverlust (Beteiligung Urethra) Gangrän der Glans g2

g3

gx

4 Auswirkungen 4.1 Medizinische Auswirkungen von FGM Hillary Mabeya, Roland Scherer FGM erhöht die kurz- und langfristigen Gesundheitsrisiken von Mädchen und Frauen und ist ein klarer Verstoß gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit. Dabei haben alle Formen von FGM negative Folgen für die Gesundheit der Betroffenen. Die Medikalisierung von FGM ist mit ärztlicher Ethik nicht zu vereinbaren. Im Rahmen von FGM können schwere Komplikationen auftreten, nach Angaben der WHO beträgt die Morbidität 50 %, die Mortalität von FGM 10 %. Man unterscheidet primäre Komplikationen als direkte Folgen der Beschneidung von Langzeitfolgen im Verlauf.

4.1.1 Primäre Komplikationen Schmerzen Das Verletzen der hochsensiblen Nervenenden im Genitalbereich führt zu extremen Schmerzen. Wenn überhaupt eine lokale Betäubung durchgeführt wird, ist sie in der Regel unzureichend. Auch im Verlauf des gesamten Heilungsprozesses sind regelhaft anhaltende Schmerzen vorhanden. Durch die plötzlich zugefügten Schmerzen treten oft schwerste physische Traumatisierungen auf, die die Betroffenen lebenslang begleiten. Schwere Blutungen Durch die Verletzungen der Arteria clitoralis und andere Blutgefäße im stark durchbluteten Vulvabereich können während und nach der FGM lebensbedrohliche Blutungen auftreten. Schock Schock kann verursacht werden vagovasal durch die extremen Schmerzen, hämorrhagisch durch die Blutungen oder septisch im Rahmen von Infektionen. Der hämorrhagische und septische Schock ist die Haupttodesursache von FGM.

https://doi.org/10.1515/9783110481006-004

68  4 Auswirkungen

Starke Schwellungen des Genitalgewebes Verursacht durch die lokale Reaktion des Gewebes oder die Infektion kann es zu extremen Schwellungen der Vulva kommen. Diese Schwellungen verstärken die vorbestehenden Schmerzen und können durch schwellungsbedingte Verlegung der Harnröhre zu Harnverhalten führen. Infektionen Durch den Gebrauch nicht sterilisierter und infizierter Instrumente kommt es häufig zu Infektionen. Durch die Besiedelung mit Darmkeimen können sich lebensbedrohliche Beckenbodenphlegmonen entwickeln. Infektion mit HIV Die direkte Assoziation zwischen FGM und HIV ist noch nicht abschließend wissenschaftlich bewiesen, aber die Durchführung von FGM an mehreren Mädchen mit den gleichen nicht sterilisierten Instrumenten erhöht natürlich das Risiko von HIV. Probleme bei der Miktion Nach FGM kann es durch Schwellungen und Infektionen im Wundbereich zu Harnverhalten kommen. Außerdem kann die Urethra durch die Beschneidung selbst verletzt werden. Psychologische Konsequenzen FGM wird häufig von nahen Bekannten und Verwandten ausgeführt. Diese plötzlich zugefügten, erzwungenen Schmerzen von engsten Bezugspersonen wie der Mutter oder Großmutter führen zu einem Vertrauensverlust des Kindes, das viele Betroffene lebenslang begleitet. Dieser Verlust des Urvertrauens führt häufig lebenslang zu Schwierigkeiten, stabile Beziehungen aufzubauen. Tod Die Mortalität von FGM beträgt laut WHO 10 %. Ursachen sind schwere Beckenbodeninfektionen einschließlich Tetanus und das Verbluten im Rahmen von Verletzungen von größeren Blutgefäßen.

4.1 Medizinische Auswirkungen von FGM  69

4.1.2 Sekundäre Komplikationen und Langzeitfolgen von FGM Narbenbildung Durch Narbenbildung im Genitalbereich kann es zu chronischen Schmerzen besonders auch beim Geschlechtsverkehr kommen. Durch die Narbenbildung ist die Gefahr von Einrissen und Hautverletzungen im Rahmen des Geschlechtsverkehrs und damit das Risiko der Infektion mit HIV und venerischen Erkrankungen erhöht. Chronische Infektionen Narbengewebe ist anfällig für chronische Infektionen mit Zystenbildung. Durch die gestörte Mikroflora kann es zu vermehrtem vaginalem Ausfluss mit chronischen aufsteigenden Blasen- und Niereninfektionen kommen. Durch Verengungen und Narbenbildungen im Harnröhrenbereich sind aufsteigende Harnwegsinfekte durch den chronischen Harnstau häufig. Menstruationsprobleme Durch den gestörten Abfluss von Menstruationsblut kommt es besonders bei FGM Typ III zum Blutstau, was zu vermehrten Schmerzen im Rahmen der Menstruation und auch größeren Retentionen von Menstruationsblut führt. Störungen der Sexualität Das Entfernen oder die Verletzung der hochsensiblen Nervenareale am äußeren Genitale, insbesondere der Klitoris kann zu Störungen des Lustempfindens bis hin zur Anorgasmie führen. Durch die Narbenbildung mit Verengung des Introitus kommt es zu Schmerzen und Verletzungen beim Geschlechtsverkehr. Posttraumatische Erinnerungen haben einen negativen Einfluss auf eine lustvoll erlebte Sexualität. Komplikationen in der Schwangerschaft, bei der Geburt und postpartal (siehe auch Kap. 8.7) FGM ist assoziiert mit einem erhöhten Risiko für eine Sektio, der Krankenhausaufenthalt ist dadurch verlängert. Unter der Geburt kann eine Deinfibulation notwendig sein. Da die Geburten häufig außerklinisch erfolgen ist das Risiko für verlängerte Geburten und Geburtsstillstände erhöht.

70  4 Auswirkungen

Ein direkter Zusammenhang zwischen FGM und postpartalen Fisteln konnte noch nicht bewiesen werden. Da jedoch die rektovesikovaginalen und rektovaginalen Fisteln im Rahmen von verlängerten Geburten und Geburtsstillständen hauptsächlich auftreten und FGM durch die Narbenbildung auch zu verlängerten Geburten führt, liegt die Vermutung nahe, das FGM die Rate von postpartalen Fisteln erhöht (s. Abb. 4.1).

Abb. 4.1: Narbenbildung nach FGM und multiplen Fisteloperationen.

4.2 Sexualität, Psychosoziale Folgen und Psychotherapie Christoph Kröger Die FGM-Praktik erfüllt die Kriterien für ein traumatisches Ereignis gemäß der gängigen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 [1,2]. Ein Trauma ist demnach definiert als belastendes Ereignis kürzerer oder längerer Dauer, das mit einer außergewöhnlichen Bedrohung oder einem katastrophenartigen Ausmaß einhergeht und das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde [1]. Fast alle beschnittenen Frauen erinnern sich an den Tag der Beschneidung und berichten, während des Vorgangs Angst, Horror und Schmerzen erlebt zu haben [3]. Die Infibulation gilt als der Beschneidungstyp, der im Vergleich zu den anderen Typen mit einer höheren posttraumatischen Belastung einhergeht [4,5]. Bei der Behandlung betroffener Migrantinnen in Deutschland ist aufgrund der Lebenssituation in den Herkunftsländern und der Fluchtgeschichte damit zu rechnen, dass die Frauen noch weitere traumatische Ereignisse erlebt haben.

4.2 Sexualität, Psychosoziale Folgen und Psychotherapie

 71

Die moderierende Rolle der sozio-sexuellen Identität In der jeweiligen Herkunftskultur bzw. Tradition der betroffenen Frauen wird FGM häufig positiv konnotiert [5]. In einer repräsentativen Befragung von Eltern aus 19 afrikanischen Ländern zeigte sich, dass die Befürwortung von FGM mit der Zugehörigkeit zur traditionellen Religion, geringer Anzahl von Gebeten und häufiger Besuch religiöser Angebote, wahrgenommene unfaire Behandlung durch den Staat und geringere Bildung einherging [6]. Mit dem Brauch werden bessere Heiratschancen (z. B. ein höherer Brautpreis), höhere soziale und gesellschaftliche Anerkennung der Frau und der ganzen Familie sowie ein Schutz vor Vergewaltigung und Sicherstellung der Jungfräulichkeit bzw. Treue in der Ehe verbunden [7–9]. Je stärker sich betroffene Frauen mit der Herkunftskultur und Tradition identifizieren bzw. Sanktionen der eigenen Person sowie den Verlust des sozialen Status der Familie antizipieren und fürchten, desto weniger werden sie bereit sein, professionelle Hilfe zu suchen bzw. sich einer Operation zu unterziehen. Treten körperliche oder psychische Beschwerden auf, werden daher zunächst eher traditionelle Heiler als Ärzte aufgesucht [10]. Sozio-sexuelle Überzeugungen und Normen können sowohl die psychische Gesundheit betroffener Frauen, insbesondere nach FGM-Typ III, als auch die ihrer Partner moderieren. Wurden Aussagen, wie zum Beispiel: „FGM schützt vor zu frühem Geschlechtsverkehr“, „Die Tradition soll weitergeführt werden“ und „Männer wollen, dass Frauen beschnitten werden“ von betroffenen Frauen verneint, war die Ausprägung der depressiven bzw. posttraumatischen Symptomatik höher [5]. Obwohl sich Rechtfertigungen der Praktiken im anonymisierten Selbstbericht leicht äußern lassen, schließen sie eine psychische Belastung nicht aus, die im persönlichen Gespräch eher offenbar wird [11]. Männer sind ebenfalls den familiär-kulturellen Normen und Tradition verpflichtet (z. B. der öffentlichen Deflorierung) und müssen die Schmerzäußerungen und psychischen Beschwerden ihrer Partnerinnen peri- und postkoital mittragen. Ein lustvolles Erleben von gemeinsam gestalteter Sexualität ist nur für einzelne Paare physisch und psychisch möglich. Während sich die betroffenen Frauen im Herkunftsland den psychosexuellen Überzeugungen und Normen folgend sozial anerkannt und integriert fühlen, werden sie als Migrantinnen mit dem westeuropäisch geprägten Wertesystem konfrontiert. Dabei werden sie vor die Entscheidung gestellt, entweder die neuen, fremdartigen Informationen zu selektieren bzw. zu modifizieren (Assimilation) oder ihre Einstellungen zu verändern (Akkommodation) und dem neuen Wertesystem anzupassen. Dieser Prozess kann sich über sehr lange Zeit hinziehen und fördert eine hohe Ambivalenz gegenüber einer (fach-) ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung bzw. einer Operation.

72  4 Auswirkungen

Die moderierende Rolle von Verarbeitungsprozessen Nicht in jedem Fall ist von einer psychischen Belastung bzw. psychischen Störung nach einem traumatischen Ereignis auszugehen. Unmittelbar im Anschluss können sich unterschiedliche Informationsverarbeitungsstrategien einstellen, von denen einige, die während der Beschneidung üblicherweise erlebten Gefühle von Hilflosigkeit, Todesangst bzw. Horror kurzfristig vermeiden helfen, langfristig allerdings zur Aufrechterhaltung der sich akut einstellenden Belastungsreaktionen beitragen. Zwei Verarbeitungsprozesse sollen an dieser Stelle hervorgehoben werden ([12]; für einen vertiefenden Überblick): (1) Werden die häufig auftretenden Intrusionen (d. h. bildliche Vorstellungen, Gedanken und Gefühle, die direkt mit dem Ereignis assoziiert sind) im Alltag bewusst zurückgedrängt oder im kulturellen Kontext fehlinterpretiert (z. B. als Folge der Annahme eines Fluches), bleibt die Belastungsreaktion eher bestehen und chronifiziert sich. (2) Insbesondere die anschließend auftretenden Bewertungsprozesse, die zu Ekel, Selbsthass, Scham und Schuld führen können, gelten prognostisch als ungünstig, wenn sie auch subjektiv als weniger belastend erlebt werden als Hilflosigkeit, Todesangst und Horror. Da Frauen, die nach FGM eine starke psychische Belastung entwickeln, langfristig offensichtlich nicht der psychosexuellen Norm ihrer Herkunftsländer entsprechen, fördern die genannten Gefühle zusätzlich Selbstunsicherheit, Erwartungen der Selbstunwirksamkeit und damit ein mangelndes Selbstwertgefühl [5]. Auswirkungen auf die psychische Gesundheit Werden strukturierte Interviews zur Diagnosestellung herangezogen, konnte gezeigt werden, dass beschnittene Frauen generell eher unter psychischen Störungen leiden als nicht beschnittene Frauen: Im Vergleich zu nicht beschnittenen kurdischen Mädchen im Alter zwischen acht bis 14 Jahren wurden bei beschnittenen Mädchen (n = 31) häufiger posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS; 44 %), depressive Störungen (34 %), andere Angststörungen (46 %) und somatoforme Störungen (22 %) diagnostiziert [13]. Auch die Mehrheit (80 %) erwachsener beschnittener Senegalesinnen (n = 23) erfüllte die Kriterien einer psychischen Störung, wobei nur eine unbeschnittene Frau überhaupt eine depressive Störung aufwies [13]. Wenn auch nur 30 % der beschnittenen Frauen die Kriterien der PTBS erfüllten, litten jedoch 80 % an Intrusionen. Zudem wurden auch in dieser Population häufig andere Angststörungen (26 %) und depressive Störungen (22 %) festgestellt.

Hinweise zu diagnostischen Instrumenten Um Hinweise auf eine psychische Störung reliabel zu erhalten, können Screening-Instrumente zeitökonomisch eingesetzt werden, die inzwischen in verschiedenen Sprachen vorliegen. Beispielsweise lässt sich die posttraumatische Belastung bzw. die Depressivität mithilfe der Kurzformen der Posttraumatic Diagnostic Scale mit 8 Items (PDS-8; [15]) bzw. dem Patient Health Questionnaire mit 4 Items (PHQ; [16]) erfassen.

Referenzen  73

In größeren Stichproben finden sich erwartungsgemäß in den Selbstberichten eine höhere Ausprägung von Ängstlichkeit, Depressivität und Somatisierung bei Frauen mit FGM, z. B. [4,17]. Zudem gibt es bei Betroffenen Hinweise auf ein generalisiertes Misstrauen, stärkeres Vermeidungsverhalten, ausgeprägte Feindseligkeit und Substanzmissbrauch. Allerdings gibt es keine Zusammenhänge zwischen psychischen Beschwerden und soziodemographischen Merkmalen (z. B. Bildungsniveau oder freiwillige versus arrangierte Eheschließung [18]). Referenzen [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] [13] [14] [15]

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74  4 Auswirkungen

4.3 Die Zerstörung des Selbstwertgefühls Fadumo Korn Die Mythen sind unterschiedlich, aber alle haben den gleichen Sinn: die Weiblichkeit zu eliminieren, die Weiblichkeit zu reduzieren, Frauen sollen nichts spüren. Die Frauen sollen einfach nur dem Mann Untertan sein. Ich habe mit vielen Frauen und jungen Mädchen gesprochen, Seminare gegeben und die Mädchen sagen immer alle das Gleiche. Sie haben Angst vor ihrem Körper. Sie haben auch Angst vor dem veränderten Körper, wenn sie eine Rückoperation machen. Man muss sich daran gewöhnen, wenn man vorher 15 Minuten gebraucht hat um zu urinieren und die Blase jetzt in einer Minute leer ist. Es ist auch ein neues Gefühl, wenn die Schamlippen nicht mehr ziehen und gequetscht zwischen den Beinen liegen. Dieses neue Gefühl kann auch Angst machen. Deshalb brauchen die Mädchen eine lange Begleitung, damit sie mit dem neuen Körpergefühl umgehen lernen, damit sie sich nicht in anderer Weise seltsam fühlen. Die Begleitung muss ihr den Rücken stärken und ihr jeden Tag sagen: das ist gut so, das ist in Ordnung, wenn du dich spürst. Es ist in Ordnung, wenn du auf einmal Sexualität gut findest. Das sind alles Dinge, die zu uns gehören, die man dir aber von Anfang an weggenommen hat, damit du es nicht lernst zu spüren und zu fühlen. Dieses neue Gefühl stürzt die Frauen in ein vollkommenes Wirrwarr. Es ist daher erforderlich, dass vor und nach der Operation eine Beratung und Begleitung stattfindet, damit man diese Mädchen und Frauen auffängt. Es ist ohnehin ein langer Prozess, bevor sie sich zu einer Rückoperation entschließen. Aber auch danach müssen die Frauen in ihrem neuen Körper gestärkt werden. Rückoperation soll nicht für die Männer gemacht werden. Die Frauen sollen es für sich selbst machen. Sie waren immer abhängig vom Mann und kennen keine Unabhängigkeit und freie Entscheidung. Daher ist es sehr schwierig, mit diesem neuen Körpergefühl keine Minderwertigkeitskomplexe zu bekommen. Es können auch Ängste vor Männern entstehen, die zum Beispiel sagen: Du bist ja offen, was ist los? Hast du vorher einen Mann gehabt? Diese Frauen müssen als Kinder bestärkt werden, man muss ihnen sagen: Es ist dein Körper, du darfst darüber entscheiden, dein Gott hat dir diesen Körper gegeben. Ich bin auch dafür, dass man die Religion mit einbezieht. Die meisten Frauen sind sehr religiös und fühlen sich besser, wenn auch ihre Religion die Operation unterstützt. In dem Fall sage ich: Der Gott hat dir diesen Körper anvertraut, und den musst du gut behandeln. Dazu gehört, dass du keine Schmerzen ertragen musst. Sie leben in einem Land, in dem es für jede Krankheit den passenden Arzt gibt. Und in der Beratung erfahre ich nach dem zweiten, dritten und vierten Mal, dass die Frauen wirklich jedes Mal stärker, offener, lustiger und teilweise kritischer geworden sind und dann sogar ihre eigenen Eltern nachträglich kritisieren. Das bedeutet, das eine Veränderung eingetreten ist. So lange ist es wichtig, die Frauen zu begleiten.

4.3 Die Zerstörung des Selbstwertgefühls  75

In meiner Beratungstätigkeit als Dolmetscherin, Kulturvermittlerin und Referentin erlebe ich, dass es auch bei mir lange gedauert hat, bis ich offen über alles sprechen konnte, bis ich mich getraut habe vor 500 Leuten zu sprechen und das Wort Klitoris in den Mund zu nehmen. Und ich lebe seit 40 Jahren in Deutschland und bin eine gebildete Frau.

4.3.1 Rituale und Mythen Es gibt zahllose Mythen. Sie sagen zum Beispiel, dass die Klitoris ein Stachel wäre. Dieser Stachel kann den Penis beim Geschlechtsverkehr stechen und der Mann würde impotent werden. Dass die Berührung der Klitoris mit dem Sohn unter der Entbindung dazu führt, dass dieser sofort stirbt oder unfruchtbar wird. Dass die männlichen Nachkommen zur Frau werden, weil die Klitoris sie impft und die Klitoris dem gerade geborenen Kind das Geschlecht ändert. Dass die Klitoris bis zu den Knien herunter wächst und dann zwischen den Beinen hängen wird und Flüssigkeit nach sich zieht wie der Schleim der Schnecke. Es gibt zahllose Gründe, die Menschen seit 3500 Jahren aufgebaut haben, um zu rechtfertigen, weshalb sie die Kinder verstümmeln und verletzen. Man muss Nachsicht haben bis diese Mythen ausgerottet sind. Es wird lange dauern. Fallbeispiel Ich will ein grausames Fallbeispiel von einer jungen circa 25-jährigen Somalierin erzählen. Sie hat mir erzählt, dass ihr erstes Kind einfach nicht herauskommen wollte. Sie lag drei Tage und drei Nächte in den Wehen. Die Krankenschwester in dem kleinen Dorf in Somalia hat das Mädchen praktisch in alle Richtungen geöffnet und den Scheideneingang zerstört. Sie haben so lange geschnitten, bis das Köpfchen des Kindes zu sehen war. Er ging aber wieder zurück, weil nicht ausreichend Platz war. Nach drei Tagen und drei Nächten wurde sie mit einem Eselkarren in den nächsten größeren Ort transportiert. Die Schmerzen kann man sich überhaupt nicht vorstellen, wenn das Kind so viele Tage im Geburtskanal hängt. Natürlich ist das Kind gestorben. Das tragischste ist aber, dass das Kind ohne Betäubung und ohne medizinische Versorgung Schnitt für Schnitt aus ihr herausgeholt wurde. Sie hat lediglich Kräuterblut bekommen. Sie leidet heute noch unter einem unfassbaren Trauma. Sie hat große Schwierigkeiten sich anzufassen und sich zu waschen. Sie lehnt ihren Körper ab, ist hauchdünn, 1,74 m groß und wiegt gerade noch 50 Kilo. Das sind die Probleme, die die Beschneidung mit sich bringt und dennoch hat sie offen mit mir darüber gesprochen. Als ich mit ihr das Interview führte, musste sie sich wie ein Embryo auf dem Boden zusammen kauern. Sie hat sich von einer Seite zur anderen gedreht, sie hat gestöhnt und hat sich den Bauch festgehalten, als ob sie noch einmal gebären müsste. Ihr lief der Schweiß herunter. Ich habe gesagt, dass wir aufhören können,

76  4 Auswirkungen

das musst du mir nicht erzählen, wir können eine Pause machen. Ich holte ein kaltes Tuch und legte es ihr auf den Kopf, damit sie nicht in Ohnmacht fiel. Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, dass sie mir so eine Grausamkeit erzählt. Sie hat mir keine Chance gegeben einen Psychologen zu holen oder eine Ärztin dabei zu haben. Ich muss sagen, dass mich das ehrlich berührt hat. Ich habe nächtelang von ihrer Geschichte geträumt. Als das Kind herausgeschnitten wurde, wurde auch die Wunde versorgt. Merkwürdigerweise wurde relativ gut gearbeitet, wie die Frauenärzte sagen, die sie untersucht haben. Sie ist aber im Grunde genommen in ihrem Inneren vollkommen zerstört. Sie kann sich nicht vorstellen, irgendwann in ihrem Leben Geschlechtsverkehr zu haben oder ein Kind zu bekommen. Es hat ihr Leben zerstört.

5 Umgang in der Praxis 5.1 Verwenden Sie den richtigen Ton Janna Graf In der internationalen Menschenrechtsdiskussion hat sich der Begriff „female genital mutilation” (FGM) bzw. „weibliche Genitalverstümmelung“ durchgesetzt. Dieser signalisiert deutlich, dass es sich um eine schwere Köperverletzung handelt, die lebenslange gravierende Folgen haben kann [1]. In Deutschland ist die Tendenz durch Flüchtlings- und Migrationsbewegungen steigend [2]. Daher ist weibliche Genitalverstümmelung zu einem Thema geworden, mit dem sich nun Politik, Justiz und vor allem auch Gesundheitsfürsorge auseinandersetzen. Unmittelbar damit konfrontiert sind Ärztinnen und Ärzte, Hebammen, Pflegepersonal und andere im Gesundheits- und Sozialsystem Arbeitende, die sich mit dem Thema oftmals nicht oder zumindest nicht gut genug auskennen. Die Medien haben gleichzeitig einerseits zu einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit beigetragen, andererseits jedoch auch zu einer Sensationalisierung. Letztere hat nicht dazu beigetragen, die Komplexität der Problematik ins Bewusstsein zu rücken, sondern führte eher zu einer vorschnellen Verurteilung der Kulturen, die weibliche Genitalverstümmelung praktizieren als vermeintlich „barbarisch“ und „primitiv“. Letztendlich werden so Betroffene zumindest indirekt verurteilt. Die von starker Betroffenheit geleitete Emotionalität, mit der die Praktik oft dargestellt und diskutiert wird, ist ein weiteres Merkmal des Diskurses. Jedoch führt eine lediglich abwehrende Haltung nicht zu einer produktiven Auseinandersetzung, sondern zu einer einseitigen Ablehnung. Dies kann schnell dazu führen, dass Betroffene gar nicht am Diskurs teilnehmen können, da sie nicht als ebenbürtig, sondern als „bemitleidenswert“ und „primitiv“ erachtet werden. Medizinisches Personal bewegt sich in einem Spannungsfeld, da es einerseits klar gegen weibliche Genitalverstümmelung Stellung beziehen muss, andererseits aber sehr sensibel das Wohl jeder einzelnen betroffenen Patientin im Blick haben und ein offenes Ohr für die individuellen Nöte haben muss. Von Genitalverstümmelung betroffene Frauen dürfen keineswegs verurteilt werden, sondern müssen einfühlsam beraten werden. Hierbei ist eine richtige Wortwahl wichtig. Die Widersprüche und Spannungsfelder, die mit FGM verbunden sind, spiegeln sich auch in der Schwierigkeit, mit der alleine die Begriffsfindung und die Wortwahl einhergehen. Eine Einigkeit bezüglich einer angemessenen einheitlichen Terminologie konnte bis heute nicht erreicht werden. Seitdem weibliche Genitalverstümmelung als globales Problem und massive Menschenrechtsverletzung betrachtet wird und nicht nur mehr als rein lokaler

https://doi.org/10.1515/9783110481006-005

78  5 Umgang in der Praxis

Brauch, unterliegen die Begrifflichkeiten, mit denen Eingriffe an den weiblichen Genitalien bezeichnet werden, einem Wandel [3]. In den 1970er-Jahren befassten sich westliche Aktivistinnen erstmals intensiver mit dem Thema der weiblichen Genitalverstümmelung. Dabei benutzten sie in ihrer Betroffenheit und Empörung Begriffe wie „ritualisierter Missbrauch“ und „Folter“ [4]. Dies sind polemische Bezeichnungen, die im Umgang mit Betroffenen nicht hilfreich sind. Im Lauf der Zeit kamen schließlich sachlichere Diskussionen auf und es wurde zunehmend die Bezeichnung „female circumcision“ also „weibliche Zirkumzision“ oder etwas freier übersetzt „weibliche Beschneidung“ verwendet. Jedoch kam es hier zu Befürchtungen, dass dies zu Verwechselungen mit der als weniger schwerwiegend erachteten männlichen Beschneidung führen kann und somit die weibliche Genitalverstümmelung verharmlost werden würde. Der Begriff „female genital mutilation“ bzw. abgekürzt FGM fand in den späten 1970er Jahren immer mehr Unterstützung. Mutilation bzw. im Deutschen Verstümmelung zieht eine klare Trennlinie zur männlichen Beschneidung bzw. Zirkumzision und betont die Schwere des Eingriffs und die gravierenden Folgen. Außerdem verdeutlicht der Terminus FGM, dass die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung eine Verletzung von Mädchen- und Frauenrechten ist. Erstmals wurde der Begriff FGM 1990 vom „Inter African Committee on Traditional Practices Affecting the Health of Women and Children“ in Addis Abeba, Äthiopien, übernommen. Sowohl in der offiziellen UNO-Sprache als auch von der WHO wird FGM als Terminus seit 1991 benutzt [1]. Parallel zum Begriff FGM wurde von einigen Nichtregierungsorganisationen in den 1990er Jahren der Begriff „female genital cutting“ übernommen. Er hat den Vorteil, dass er neutraler ist und im Gegensatz zu „Verstümmelung/Mutilation“ keine negativen Assoziationen hervorruft. Im Deutschen wird „cutting“ allerdings wieder mit „Beschneidung“ übersetzt und die Abgrenzung zu „circumcision“ entfällt somit. In den Sprachen und Dialekten der FGM praktizierenden Ethnien existiert natürlich zusätzlich eine Vielzahl an weiteren Begriffen für FGM. In Ägypten und im Sudan beispielsweise wird der Begriff „tahara“ verwendet, der „Reinheit“ bedeutet und verdeutlicht, warum die Methode angewendet wird [1]. Es gilt zu beachten, dass sich viele betroffene Frauen verletzt und angegriffen fühlen, wenn man sie als „verstümmelt“ bezeichnet. Im direkten Umgang mit Betroffenen und FGM praktizierenden Gesellschaften ist es daher empfehlenswert, den Begriff „cutting/Beschneidung“ zu benutzen. Durch die Relativierung des Terminus in diesem Zusammenhang werden nicht nur Schuldvorwürfe genommen und Respekt signalisiert, es kann sogar die Gesprächsbereitschaft eventuell steigen, da keine Vorverurteilung erfolgt. Betroffene Mädchen und Frauen müssen sich nicht als „hilfloses“, „bemitleidenswertes“ Opfer sehen, reduziert auf ein verstümmeltes, „unvollkommenes“ Genitale, sondern sie können Denk- und Handlungsweisen, die dem Ritual zu Grunde liegen, besser kommunizieren. Andere Betroffene wiederum betrachten den Begriff Beschneidung als Euphemismus und lehnen ihn daher ab. Sie argumentieren beispielsweise, dass das Abtrennen

Referenzen  79

eines Fingergliedes als Verstümmelung bezeichnet würde. Niemand käme auf die Idee dies als Beschneidung zu deklarieren. Betroffene Frauen berichten, dass Ärztinnen und Ärzte oft sehr erschrocken reagieren, wenn sie ein beschnittenes Genitale sehen, da sie keinerlei Erfahrung mit weiblicher Genitalverstümmelung haben. Für die Frauen kann diese Betroffenheit unangenehm sein. Nicht nur die Verwendung der passenden Terminologie ist wichtig, sondern auch Mimik und Gestik. Der unsensible Umgang gegenüber Patientinnen wird von diesen kritisiert. Auch übertriebene Neugier von Seiten des medizinischen Personals und Studierenden kann die Frauen verletzten. Sie möchten auch mit Genitalverstümmelung in ihrer Ganzheit wahrgenommen werden [5]. In der offiziellen Sprache im Gesundheitswesen sollte der Begriff „weibliche Genitalverstümmelung“ bzw. „female genital mutilation“ oder die Abkürzung FGM verwendet werden, trotz der aufgeführten Probleme und Argumente, die gegen diesen Begriff sprechen. Wie bereits erwähnt wird diese Nomenklatur von UNO und WHO verwendet. Außerdem betont der Terminus bewusst die Schwere der Manipulation an den weiblichen Genitalien. Es wird durch die Verwendung zusätzlich verdeutlicht, dass es ein sehr langer Weg war, bis international anerkannt wurde, dass weibliche Genitalien nicht „ein bisschen beschnitten“, sondern oft schwer verstümmelt werden. Medizinisches Personal muss sich im Umgang mit betroffenen Frauen darüber bewusst sein, dass es verschiedene Begrifflichkeiten gibt und letztendlich keiner, außer jeder einzelnen Betroffenen selbst, die Deutungsmacht darüber hat, sich als beschnitten oder verstümmelt zu bezeichnen. Referenzen [1] [2] [3] [4] [5]

WHO (Hrsg.): Eliminating Female Genital Mutilation, an interagency statement, 2008. FIDE e. V. (Hrsg.): Weibliche genitale Beschneidung – Umgang mit Betroffenen und Prävention, 2007. Graf J. Weibliche Genitalverstümmelung aus Sicht der Medizinethik. V & R unipress. Göttingen, 2013. Rust R. Beschneidung im Geheimbund. Weibliche Genitalbeschneidung in Sierra Leone aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Tectum Verlag. Marburg, 2007. UNICEF/Berufsverband der Frauenärzte/Terre des femmes (Hrsg.): Schnitte in Körper und Seele. Eine Umfrage zur Situation beschnittener Frauen und Mädchen in Deutschland, 2005.

80  5 Umgang in der Praxis

5.2 Anspruch an Zentrum/Praxis und Ansprache Cornelia Strunz „Für mich und andere Mädchen, die Opfer von FGM sind, ist ein Arztbesuch eine Qual. Die erste Reaktion von Ärzten ist Schock und Fassungslosigkeit. Sie fragen, was geschehen ist, glauben, es handle sich um eine Verletzung oder einen Unfall. Jedes Mal, wenn ich einen neuen Arzt aufsuche, muss ich ihn über FGM informieren. Von anderen Mädchen weiß ich, dass sie Arztbesuche vermeiden, weil sie es als beschämend empfinden, die Sache jedes Mal wieder von neuem zu erklären“. Ifrah Ahmed, „Strong Voice“ der END FGM-Kampagne

In Deutschland wird durch verschiedene Organisationen über die Problematik der weiblichen Genitalverstümmelung aufgeklärt und Angebote zur Prävention gemacht. Die medizinische Versorgung genitalverstümmelter Frauen ist jedoch weitgehend unbekannt. Ein strukturiertes Versorgungsangebot existiert nicht. Durch die zunehmende Migration und Zahl der Flüchtlinge in Deutschland wird das Personal im Gesundheitswesen mit dem zuvor fast unbekannten Thema konfrontiert. Im Folgenden soll unser Anspruch und unsere Behandlungsweise dargestellt werden. Was ist im klinischen Alltag zu bedenken und wie sollte die Ansprache und der Umgang sein, wenn man beschnittene Frauen behandeln möchte? Unser Ziel ist es, Frauen, die an den Folgen einer Genitalverstümmelung leiden, ganzheitliche medizinische Versorgung anzubieten. Dazu gehören nicht nur operative Eingriffe und Wiederherstellungsoperationen, sondern auch psychische und physiotherapeutische Hilfe. Außerdem bieten wir eine Selbsthilfegruppe als niedrigschwelliges Kontaktportal an, die sich regelmäßig trifft. Im Gesundheitsbereich Tätige müssen die Folgen und Komplikationen von FGM erkennen und bewerten können. Die betroffenen Frauen sind durch die Genitalbeschneidung größtenteils traumatisiert und leiden an den körperlichen, psychischen und seelischen Folgen. Um im Beratungsgespräch angemessen reagieren, argumentieren und aufklären zu können, ist ein umfassendes Hintergrundwissen zu dem sozialen und religiösen Kontext der betroffenen Frauen notwendig. Die Mädchen und Frauen haben Bedürfnisse, die in unserem Praxisalltag normalerweise nicht berücksichtigt werden. Ein kultursensibler Umgang ist von großer Bedeutung. So möchten sich islamische Frauen möglicherweise nicht von männlichen Ärzten untersuchen lassen. Auch die Anwesenheit eines männlichen Übersetzers kann problematisch sein und die Frau hindern sich offen zu äußern. Um derartigen Vorbehalten Rechnung zu tragen, ist es besser die Behandlung in der Hand von weiblichem medizinischem Personal zu belassen, dass kontinuierlich speziell geschult wird. Wesentlich mehr als in vielen anderen Bereichen spielt Kommunikation – verbal und non verbal – eine Rolle für einen erfolgreichen Zugang und damit den Therapieerfolg. Eine herzliche, umfangreiche Begrüßung ist bei uns üblich, wird erwartet und hilft in der besonderen Situation Vertrauen aufzubauen. Auch ein paar Worte in der Sprache der Patientin helfen. Allen Beteiligten muss das besondere soziale und psy-

5.2 Anspruch an Zentrum/Praxis und Ansprache  81

chologische Umfeld der Betroffenen präsent sein. Es ist hilfreich, wenn bereits beim Erstkontakt durch Telefon oder E-Mail ein fester Ansprechpartner und Koordinator die Kommunikation übernimmt. Alleine die Tatsache, dass diese oft sehr emotionalen Vorgespräche und die ärztliche Untersuchung in einer vertrauensvollen Umgebung von Frau zu Frau stattfinden, erleichtert es den Frauen sich der Ärztin gegenüber zu öffnen. Häufig wird die Beschneidung als Zufallsbefund bei einer gynäkologischen oder kinderärztlichen Routineuntersuchung festgestellt. Ein professioneller Ablauf ist für das weitere Verhältnis und die Bereitschaft, später Beratung und Hilfe anzunehmen, entscheidend. Jeder Ausdruck von Überraschung oder vielsagende Blicke im Behandlungsteam, die Mitleid oder Vorwurf wiederspiegeln, muss vermieden werden. Wertende Kommentare sind weder angebracht noch hilfreich. Es versteht sich von selbst, dass der Befund nicht zum Anlass genommen wird zusätzliche Mitarbeiter zu rufen, um den seltenen Fall zu demonstrieren. Der Patientin sollte jederzeit und von allen Mitarbeitern der Eindruck vermittelt werden, dass routiniert und unaufgeregt mit ihrem Zustand umgegangen wird. Für das Gespräch in der Sprechstunde sollte ein geschützter und vertrauensvoller Rahmen hergestellt werden. Das erste Kennenlernen und die erste Annäherung an dieses sehr intime und sensible Thema kann sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Es ist notwendig, sich Zeit für eine ausführliche Anamnese und Untersuchung zu nehmen und auf die Bedürfnisse der Frauen einzugehen und damit deren Ängste zu schmälern und ihre Sorgen aufzufangen. Dabei muss immer die Privatsphäre der Frauen gewahrt werden. Auch dürfen keine Vorwürfe oder Verunsicherungen durch erhobene Befunde entstehen. Wichtig ist ein respektvoller und einfühlsamer Umgang mit den betroffenen Frauen. Auf die vorgetragenen Probleme wird individuell eingegangen. Oft muss das erste Gespräch auch unterbrochen werden, wenn die Frauen von ihren Emotionen und Erlebnissen überrollt werden. Hier sollte vermittelt werden, dass dafür Verständnis besteht und sie sich für ein weiteres Gespräch jederzeit vorstellen können. Folgende Fragen werden integriert in die normale Anamnese und je nach Verlauf des Gespräches gestellt: – Woher haben Sie von uns erfahren? – Wie können wir Ihnen helfen? – Was wissen Sie von unserem Angebot? – Möchten Sie Informationen zu unserem Angebot? – Wo kommen Sie ursprünglich her? – Wie sind Sie nach Deutschland gekommen? – Was haben Sie auf Ihrem Weg nach Deutschland erlebt? – Haben Sie Kontakt zu Ihren Eltern/Geschwistern? – Sind Sie verheiratet/haben Sie einen Partner? – Haben Sie Kinder? – Haben Sie Vertrauenspersonen?

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– – – – – – –

Was haben Sie für medizinische Probleme? Was sind Ihre Beschwerden? Was für Ängste haben Sie? Was haben Sie für Erinnerungen an die Beschneidung? Was erhoffen Sie sich durch eine Operation/Behandlung? Sind Sie bereits in Behandlung (Psychotherapie/Gynäkologie) gewesen? Wünschen Sie die Anbindung an unsere Selbsthilfegruppe?

Im Erstgespräch sollte darauf geachtet werden, die Frauen keinesfalls mit direkten Fragen zu bedrängen. Die Frauen sollten aus eigener Intuition von der Genitalverstümmelung erzählen. Hier ist es wichtig, auf die Begrifflichkeit zu achten: Spricht die Frau von der „Verstümmelung“ oder von der „Beschneidung“? Wir würden immer dazu raten, den Begriff zu verwenden, den auch die Frau verwendet. Allerdings empfiehlt es sich, die Betroffenen im Beratungsgespräch nicht als „verstümmelt“ zu bezeichnen. Sie können sich durch diese Bezeichnung diskriminiert fühlen oder als Beleidigung auffassen. Auch würden die Eltern dann als Aggressoren dastehen. „Beschneidung“ ist hier die bessere Ausdrucksweise. Informationen sollten angemessen und dosiert gegeben werden. Beim ersten Treffen reichen die wichtigsten und das Angebot, bei Interesse weiter zu informieren bzw. einen Kontakt zu einer spezialisierten Anlaufstelle zu geben. Klare Sätze mit korrekten, aber nicht zu komplizierten Begriffen, die möglichst durch Skizzen erläutert werden, erhöhen das Verständnis. Wir machen Mut, Fragen zu stellen und prüfen ob alles verstanden ist durch die Bitte, die wesentlichen Informationen in eigenen Worten zu wiederholen. Dies erfordert Zeit. Die Patienten dürfen nicht unterbrochen werden oder ihnen Antworten in den Mund gelegt werden. Es ist nicht einfach zu prüfen, ob die Inhalte so vermittelt wurden, wie vorgesehen. Sprachliche Aspekte sind dabei nur ein Teil des Problems. Kulturelle Unterschiede spielen eine große Rolle. Daher sollte, wenn möglich, auch auf familiäre Übersetzer verzichtet werden. Eine trainierte medizinische Dolmetscherin mit demselben Hintergrund ist sehr hilfreich für die kulturelle Interpretation der Kommunikation und um auf Wahrnehmungsunterschiede beider Seiten hinzuweisen. Allerdings muss auch die Übersetzung überwacht werden. Am besten man spricht anfänglich nur in kurzen Absätzen und hält den Kontext überschaubar, damit nicht zu viel Information verloren geht. Das Gespräch über einen Mittelsmann muss geübt werden. Sprechen sie mit der Patientin, nicht dem Dolmetscher und vergewissern sie sich am Ende, ob die Patientin die wesentlichen Inhalte auch verstanden hat. Dem medizinischen Personal muss immer bewusst sein, dass das Thema FGM in den Heimatländern noch immer tabuisiert wird und die betroffenen Frauen in den meisten Fällen darüber noch nie geredet haben. Auch wenn man als Arzt eindeutig Stellung gegen die Genitalverstümmelung bezieht, ist es wichtig, dass die Frauen weder für ihre Kultur noch für ihre Tradition stigmatisiert oder ihre Eltern dafür verurteilt werden. Keine der betroffenen Frauen würden sich anklagend gegen ihre An-

5.2 Anspruch an Zentrum/Praxis und Ansprache  83

gehörigen stellen, obwohl die eigenen Eltern, zumeist die Mütter, für die Beschneidung verantwortlich waren. Natürlich sollte im Vorfeld geklärt sein, wie sich das medizinische Personal mit der betroffenen Frau verständigen kann und ob eine kulturkompetente Dolmetscherin notwendig wird. Nur mit Zustimmung der Betroffenen sollte eine Übersetzerin hinzugezogen werden. Allerdings haben wir auch die Erfahrung gemacht, dass engagierte Begleitpersonen ein Hindernis darstellen können, und sich die betroffene Frau der Ärztin gegenüber eher unter vier Augen anvertraut. Da die meisten betroffenen Frauen als Migrantinnen nach Deutschland kommen, besteht zwischen dem medizinischen Personal und der betroffenen Frau zwangsläufig ein unterschiedlicher kultureller Hintergrund. Wir bieten daher an, dass eine Kollegin aus dem Team mit afrikanischem Hintergrund beim Erstgespräch anwesend ist. Diese seelische Unterstützung kann sehr hilfreich sein. Auch ist die Begleitung von Sozialarbeitern/Ehemännern/Freundinnen/Psychotherapeuten prinzipiell nicht abzulehnen. Die Betroffenen sollten ihre Bezugspersonen in die Sprechstunde mitbringen, wenn sie es wünschen. Nach unseren Erfahrungen kommen jedoch die meisten Frauen ohne Begleitung. Viele reden mit uns das erste Mal in ihrem Leben über ihre Erlebnisse. Da viele Erinnerungen wachgerufen werden, ist es ratsam, auch psychotherapeutische Hilfe anzubieten. Da das Center von Anfang an nicht auf die operative Versorgung reduziert bleiben wollte, legen wir großen Wert auf eine umfassende Betreuung. Dies beinhaltet nicht nur die nicht direktive Beratung der Hilfesuchenden, sondern auch ein Hilfsangebot bei allen Fragen in Zusammenhang mit FGM, einschließlich Unterstützung bei Fragen zu Asylanträgen oder Kostenerstattungen. Ergänzt wird diese Betreuung, falls erforderlich, durch Physiotherapie, Gesprächstherapie und Sexualtherapie. Der Fokus liegt somit nicht auf der Vermittlung einer operativen Therapie. Durch sprachliche, insbesondere aber durch kulturelle Hürden kommen Informationen über Behandlungsoptionen oft nicht zu den einzelnen Communities. In unser Team haben wir zwei kulturkompetente Dolmetscher mit Migrationshintergrund integriert. Damit können gegenseitige Verständigungsschwierigkeiten und interkulturelle Hürden minimiert werden. Außerdem wird durch unsere afrikanischen Mitarbeiter unser Leistungsangebot in der jeweiligen Community bekannt gemacht. Für die operative Versorgung ist eine interdisziplinäre Kooperation erforderlich. Je nach Ausmaß der Verletzung wird die Operation durch die jeweiligen Spezialisten durchgeführt. Neben Beckenbodenchirurgen, Gynäkologen und Plastisch-Rekonstruktiven Chirurgen, sind Urologen erforderlich. Unser Team besteht damit aus Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen, die sich der Problematik der Frauen annehmen. Die prä- und postoperative Betreuung der betroffenen Frauen sollte durch möglichst wenige Ansprechpartner und Ärzte erfolgen. Vom Pflegepersonal ist darauf zu

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achten, dass pflegerische Maßnahmen ausschließlich durch entsprechend professionell geschultes weibliches Personal durchgeführt wird. Die Frauen werden bewusst einen Tag vor der Operation stationär aufgenommen. So haben einerseits die zuständigen Krankenschwestern Zeit, sich mit den Frauen vertraut zu machen. Andererseits können die betroffenen Frauen sich an die Begebenheiten des Krankenhauses gewöhnen. Ein anderer Grund besteht darin, dass die Frauen am Tag der Operation an früher Stelle operiert werden, da der erneute Eingriff für sie eine große psychische Belastung darstellt. Timing und Anreise sind für sie nicht immer einfach zu gewährleisten. Am Tag der stationären Aufnahme erfolgt die administrative Aufnahme, bei der die Frauen durch unser Team begleitet werden. Es ist verständlich, dass sich gerade asylsuchende und nicht Deutsch sprechende Frauen im bürokratischen Krankenhausalltag schwer verständlich machen können. Auch müssen die Nervosität und Unsicherheit berücksichtigt werden, die gerade vor der Operation nicht unterschätzt werden dürfen. Hier stellen wir eine eins-zu-eins Betreuung sicher. Weiterhin begleiten wir die Frauen zum Vorgespräch mit dem Anästhesisten. Am Aufnahmetag wird den Frauen erneut die geplante Operation erklärt. Bereits in den Vorgesprächen empfiehlt es sich, den Frauen die Anatomie des weiblichen äußeren Genitale mit einfachen Zeichnungen oder Modellen zu erklären. Viele Frauen haben keine Vorstellung davon, wie das Genitale einer nicht beschnittenen Frau aussieht. Andererseits haben sie aber oft genaue Vorstellungen davon, wie es bei ihnen postoperativ aussehen soll, ohne dass sie sich jemals mit dem Spiegel angesehen haben. Hier ist eine einfühlsame präoperative Aufklärung notwendig. Es darf keine Verunsicherung beim Erheben von Befunden entstehen. Sollte der Eingriff von einem männlichen Kollegen durchgeführt werden, fragen wir, ob die Frau ihren Operateur vor der Operation kennenlernen möchte. Sollte sie dem nicht zustimmen, ist ebenfalls ein verständnisvoller Umgang notwendig. In Beisein der betreuenden Ärztin als Vertrauensperson, stimmen jedoch fast alle Frauen einer präoperativen Untersuchung durch einen Mann zu. Am Operationstag werden die Frauen vom Pflegepersonal frühzeitig geweckt. Es ist empfehlenswert, die einzelnen Schritte genau zu erklären, damit sie wissen, was auf sie zukommt. Im Operationstrakt werden sie von der Anästhesieschwester entgegengenommen, die sie auch während der gesamten Zeit begleitet. Die Operation erfolgt in Allgemeinanästhesie. Auf eine Spinalanästhesie oder lokale Betäubung wird bewusst verzichtet, damit die Frauen während der Operation nicht an das Trauma der Verstümmelung erinnert werden.

5.3 Barrieren erfolgreicher Kommunikation – Cross-Cultural Competence  85

5.3 Barrieren erfolgreicher Kommunikation – Cross-Cultural Competence Helmut Jäger Menschen sind sich gleich.

Menschen unterscheiden sich weltweit erstaunlich wenig. Sie besitzen gleiche Grundbedarfe und sehnen sich nach deren Befriedigung: u. a. Luft, Wasser, Nahrung, Unverletzlichkeit, Wachstumsmöglichkeiten, Sicherheit und selbstbestimmte Sexualität. Deshalb kann in menschlichen Begegnungen ohne jede Sprachkenntnis sehr effektiv kommuniziert werden. Weit über neunzig Prozent des Informationsaustausches direkter menschlicher Kommunikation wird nonverbal vermittelt: unter anderem durch Körperhaltung, Gestik, Mimik, kommunizierende Hände, Berührung und schließlich auch die Melodie, den Rhythmus und den Tonfall der Sprache [1]. Dabei tauschen sich Menschen anders aus als elektronische Sender und Empfänger. Bei Lebewesen sind immer alle Nervenzellen der beteiligten Gehirne, und in Resonanz mit ihren Körpern, gleichzeitig aktiv. Kein Gehirn- oder Körper-Teil tut etwas alleine [2]. Deshalb wird das, was in einer anderen Person vorgeht, gespiegelt und kann so unmittelbar verstanden werden [3]. Das Prinzip der Begegnung Um möglichst viel durch Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprachmelodie vom anderen zu erfahren, ist es nötig, wach, ruhig, aufmerksam, unvoreingenommen, wohlwollend und empathisch zu beobachten und zu lauschen. Und dem anderen ein Angebot zu machen, Interesse zu zeigen, eine Geste der Einladung auszusprechen. Zwischenmenschliche Begegnungen gelingen leichter, wenn das Verbindende in den Vordergrund rückt. Und sie wird erschwert, wenn das was uns fremd erscheint und uns trennen mag (Sprache, Gender, Religion, Kultur) zu stark betont wird. Die Einstellung vor einer Begegnung – so wichtig Bevor sich eine Tür öffnet, sollte man bereit sein, etwas bisher Neues erfahren zu wollen. Aus ruhiger Gelassenheit kann z. B. ein Gefühl fragender, interessierter Neugier entstehen, das sich nicht bei geschäftiger Hektik schnell wieder verflüchtigen würde. Die Begegnung beginnt mit einer wortlosen Geste des Herausreichens: Mimik, Augen, Körperhaltung und schließlich vielleicht auch eine Hand signalisieren Sicherheit, und sie laden zu einem Kontakt ein. Genaugenommen beginnt die Kontaktaufnahme mit einer Frage: ob es erlaubt sei, in den Schutzraum des anderen eintre-

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ten zu dürfen und sich ihr oder ihm, vielleicht bis zu einer Hautberührung, nähern zu dürfen. Bevor es dann zu einem direkten menschlichen Kontakt kommt, der zu einem Austausch führt, muss die Person, die den Kontakt anfragt, als Persönlichkeit erkennbar geworden sein und nicht nur als Funktionsträger „im weißen Kittel“. Diese erste Phase der Kommunikation erfordert nur Bruchteile von Sekunden. Aber sie legt das Fundament für alles Weitere. Gelingt die Kontaktaufnahme nicht optimal, z. B. weil zielorientiert unter Erfolgsdruck sofort zur Sache übergegangen wurde, verliert man Zeit und kommt ungleich schwieriger zu einem gewünschten Ergebnis. Ist der Kontakt dagegen etabliert und belastbar, können die wortlosen Gesten des Anderen sinnlich wahrgenommen, erfahren und verstanden werden. Alle Menschen verfügen über das weltweit gleiche Set wortloser Grundstimmungen. Die Gefühle, wie Angst, Ärger, Wut, Neugier, Freude, Geborgenheit, Ekel, werden aktiv erzeugt, indem Sinneseindrücke, Ich-Vorstellungen, Erfahrungen der Vergangenheit und Zukunftsvorstellungen verknüpft werden. Dass ein Gefühl ohne Worte verstanden wurde, kann nahezu unvermittelt signalisiert werden, in dem es körperlich erkennbar gespiegelt wird: durch Mimik, Körperhaltung, Gestik und Melodie, Prosodie und Tonlage einer Stimme, deren Wortsinn dabei ohne Belang ist. Erst nachdem so fruchtbar-gefühlvoll kommuniziert wurde, ergibt es Sinn weiter zu fragen. Hierbei bleibt das „wie es gesagt wurde“ (die non-verbale Information) wichtiger und authentischer, als das „was gesagt wurde“ [1]. Begriffliche und verschriftlichte Sprachen sind (im Gegensatz zu den wortlosen Sprachen) kulturell sehr verschieden, und können meist nicht eins zu eins um-kodiert werden. Denn vieles was wichtig wäre, darf nicht durch Worte gesagt werden. Aber es wird dann parallel sehr wohl, und oft überdeutlich wortlos ausgedrückt. Verbales Fragen beginnt weit und offen und schließt dann ganz allmählich, um zu dem Wesentlichen hinzuführen: zu dem was „hier und jetzt“ wichtig ist und nun getan werden soll. Scheint der Bedarf des Anderen durch kluges Fragen klar geworden zu sein, kommt eine weitere wesentliche Phase, die oft übergangen wird: Die Zusammenfassung. Dabei spiegeln Zuhörer dem Erzähler zurück, ob das, was sie erfahren und verstanden zu haben glauben, auch das ist, was die Anderen meinen. Diese können es dann bestätigen oder, falls ein Missverständnis vorlag, korrigieren. Wenn auch dazu Einverständnis besteht, können ungeduldige Europäer endlich zur Sache kommen: Vorschläge machen, Alternativen besprechen und die nächsten Schritte des aktiven Vorgehens festlegen.

5.3 Barrieren erfolgreicher Kommunikation – Cross-Cultural Competence  87

Was verhindert erfolgreiche interkulturelle Kommunikation? Alles was auch sonst einen fruchtbaren menschlichen Austausch behindert: Stress, Zielfixiertheit, Ungeduld, Hektik, Widerstände, Abwehr, Verschlossenheit, Desinteresse, Unaufmerksamkeit, emotionale Dummheit und „Viel zu viel – viel zu schnell – wollen“. Das scheint sich banal anzuhören. Aber Vorschläge, „versuchsweise anders“ vorzugehen, lösen im Medizinbetrieb häufig Ängste aus: Denn dafür sei in der Realität rationaler, effizienzoptimierter Arbeitsabläufe keine Zeit. Ängste sind Gefühle, die deshalb auch beruhigt werden können. Zum Beispiel durch die Erfahrung, dass menschliche Kommunikation dem Bergsteigen gleicht: sofort in eine Richtung loszurennen, erhöht nicht die Chancen, den Gipfel schnell zu erreichen. Wer dagegen ruhig und gut vorbereitet, und gerade bei den ersten Schritten langsam vorgeht, spart sich viel unnötige Energie und vergeudet keine Zeit. Konkreter Umgang mit schwierigen Stimmungslagen Entsteht bei der Kontaktaufnahme der Eindruck von Ohnmacht, Depression oder Erschöpfung, nützen weder Sachinformationen noch Appelle oder gute Ratschläge. Vorrangig ist es dann, die Grundbedürfnisse zu erfüllen, und insbesondere Sicherheit zu bieten! Es muss Vertrauen entstehen, dass die Situation gut wird [4]. Erst dann wären vorsichtige Aktivierungsversuche möglich. Auch bei Stress, im Sinne einer Stammhirnreaktion, die den Körper im Notfall auf Aggressions- oder Fluchtverhalten einstellt, ist es zunächst das Wichtigste, für Sicherheit und Ruhe zu sorgen, indem vermittelt wird, dass „zumindest hier und jetzt“ keine Gefahr besteht [5]. Dazu muss vor allem „die eigene“ Stressreaktion beruhigt werden. Denn Aggressionen des anderen verursachen reflexartig „Aggression in mir“. Und auf Stress mit Stress zu antworten, erzeugte noch mehr Stress. In Ruhe dagegen können Stress-Hass-Aggressions-Flucht-Reaktionen des Gegenübers angenommen werden, so wie sie eben sind. Es kann Interesse signalisiert werden, verstehen zu wollen, warum es „so“ sei. Welche Bedürfnisse so wichtig waren und warum sie gefährdet erscheinen? Ziel ist es, dabei vom Stress zu Gefühlen zu kommen, in eine Situation, in der vielleicht durch Gesten ein vorsichtiger Austausch beginnen kann. Deshalb ist es nicht sinnvoll, bei einer Stressreaktion des anderen zu widersprechen, Gegenpositionen aufzubauen oder mit Logik, Rationalität und Fakten zu argumentieren [4]. Wenn das Gegenüber dagegen in der Lage ist, Gefühle zu empfinden und zu zeigen, wachsen die Sehnsucht und auch die Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren [6–8]. Für Angst gibt es immer gute Gründe.

Angst ist ein besonders wichtiges und häufiges Gefühl, weil sie vermittelt, dass aktuelle Informationen oder Erinnerungen an schlechte Erfahrungen oder gefährliche Zukunftsvisionen dazu zwingen, eine Handlung zu unterbrechen. Sie weist auf etwas

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Wichtiges hin, das ohne das Gefühl nicht erkannt worden wäre. Häufig auf ein noch unsicheres Selbst, auf eine erhebliche Herausforderung oder eine anstehende große Belastung. Ob Angst in Stress umschlägt oder zu anderen Gefühlen führt, hängt davon ab, wie berechenbar die Handlungen des Fremden erscheinen, wie stark das Selbstbewusstsein entwickelt ist, mit Überraschungen klar zu kommen, und schließlich, ob das, was hier geschieht, für den persönlichen Zusammenhang einen Sinn ergibt. Dass es also nötig erscheint, Unsicherheiten und Herausforderungen anzunehmen [9]. Mit Menschen in Angst kann kommuniziert werden, sobald gespiegelt wurde, dass ihr Angst-Gefühl verstanden wurde. Wenn die verloren gegangene Sicherheit durch einen gelungenen menschlichen Kontakt (in der Gespräch-Situation) gesichert zu sein scheint, kann sich Angst in ein anderes Gefühl wandeln, z. B. in Ärger oder in vorsichtige Neugier. Verstärkte sich aber das Unsicherheitsempfinden, kann Angst leicht in das Primitivprogramm Stress „abstürzen“. Aggression oder Flucht erscheinen immer als rettende Alternative, wenn eine vertraute und beruhigende Kommunikation nicht möglich ist. Angst ist also im Rahmen gelungener Beziehungen wandelbar. Dafür können und sollten Gesprächspartner zunächst zeigen, dass sie das Gefühl „Angst“ verstanden haben und dass alles getan wird, um angstauslösende Sicherheitsrisiken zu senken. Damit kann Vertrauen entstehen, dass sich die Situation gut entwickeln wird, selbst bei großen Belastungen. Das verständnisvolle Zuhören in einer warmherzigen Situation vermindert ein Rückfallrisiko in die Stressreaktion. Frauen, die Gewalt erfahren haben und in eine Praxis oder ein Krankenhaus kommen, können aus guten Gründen Angst empfinden, wenn sie fürchten, dass sie im Medizinsystem erneut traumatisiert werden könnten, oder dass sie gezwungen würden, Dinge von sich oder ihren Nächsten preiszugeben, die sie nicht offenbaren wollen. Oder über tabuisierte Bereiche wie Sexualität reden zu müssen. Wenn sie dann den Drang spüren, aus dem Wartezimmer zu fliehen, müssen sie beruhigt werden. Und es wäre gut, wenn Neugier auf Chancen angeregt würde, die sich hier ergeben könnten. Mitarbeiter können Ängste sehr gut non-verbal lösen, indem sie Gefühle durch Mimik und Körperhaltung verstehen und spiegeln. Auf einer Vertrauen-vermittelnden Kommunikationsbasis wandelt sich Angst in ein anderes Gefühl: vielleicht in Wut auf jemanden, der sie verletzt hat, oder in Trauer, dass etwas verloren gegangen ist oder in Überraschung, dass sich jemand so nett und liebevoll ihrer annimmt und sie schützen will. Und auch die neu entstandenen Gefühle können in der Kommunikation gespiegelt und begleitet werden. In Angst ist ein Zuviel an einflutender Information gefährlich. Denn äußere Signale, Worte oder Texte oder innere Empfindungen, die nicht sinnvoll in einen persönlichen Zusammenhang eingeordnet werden können, verstärken das Angstgefühl und erhöhen damit das Risiko, dass eine Notfallreaktion ausgelöst wird: Stress, Panik oder gar Ohnmacht.

5.3 Barrieren erfolgreicher Kommunikation – Cross-Cultural Competence  89

Als erstes ist es also nötig, innere Notfallprogramme zu beruhigen und damit die Grundlage zu schaffen für fruchtbare Kommunikation. Erst auf einer ruhigen Basis: Das kulturell geprägte Großhirn einbeziehen.

Wenn das Stammhirn ruhig arbeitet und die Emotionen im Mittelhirn nicht zu hohe Wellen schlagen, kann die Welt mit Hilfe des Großhirns sehr unterschiedlich wahrgenommen werden: sehr weit, mit aller Dynamik und den Zusammenhängen und Beziehungen, oder sehr eng, durch Betrachtung isolierter Einzelfakten und Details. In Not oder Angst neigen Menschen zum „Tunnelblick“. Diesen zu weiten, so dass immer mehr Möglichkeiten entstehen, wie sinnvoll und selbstbestimmt gehandelt werden könnte, ist das Ziel vertrauensvoller Arzt-Patient-Beziehungen. Kulturell bedingte Missverständnisse Kultur ist die konservative Beibehaltung von Verhaltensweisen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Humberto Maturana

Kinder erlernen im Alter von zwei bis drei Jahren die Gefühle anderer zu verstehen, und so wirksam emotional zu kommunizieren. Ab dem vierten Lebensjahr beginnen sie darüber nachzudenken, was andere denken mögen (Lenovo, Theory of mind). Nun verinnerlichen sie wichtige moralische und ethische Werte, Geschlechterrollen und Handlungsvorschriften: also alles, was von ihrer Kultur als unverzichtbar oder heilig empfunden wird. Der resultierende, sozial-sanktionierte und vertraute Kodex menschlich-sozialen Verhaltens erscheint den späteren Erwachsenen dann als wahr und über Zweifel erhaben. Die Konfrontation mit anderen Wertvorstellungen, Geschlechterrollen oder Handlungsweisen verunsichert dann, weil die Tatsache, dass andere anders fühlen, denken und handeln können, die sicher geglaubte Unwandelbarkeit eigener Werte in Frage stellt. Die Begegnung mit „dem Fremden“ kann deshalb leicht bei beiden Beteiligten einer Begegnung zu einem ausgeprägten „Kulturschock“ führen: z. B. wenn ein männlicher, europäischer Arzt sehr ziel- und zeitoptimiert vorgehen und relativ schnell „zur Sache“ kommen will. Zunächst entsteht dann bei der Patientin aus dem fremden Kulturkreis Angst. Und sie kann dann nur noch emotional (und nicht mehr rational) kommunizieren. Wenn bei der Patientin ggf. „die Nerven ohnehin schon blank liegen“, kann die Unsicherheit auch schnell zu Stress führen, zu aggressiver Abwehr, zu Fluchtversuchen oder zu lähmender Ohnmacht. Um Kulturschockreaktionen erst gar nicht entstehen zu lassen, sollten Ärztinnen und Ärzte damit rechnen, dass Frauen aus anderen Kulturen traumatisiert sein könnten, und daher ein besonders starkes Sicherheits- und Vertrauensgefühl brauchen. D. h. Ärztin-

90  5 Umgang in der Praxis

Selbstwert

Fordern

Fördern

Stützen

Konfrontieren

Zeit

Abb. 5.1: Eine Patientin kann gestützt werden: Wenn die Situation für Sie zusammenzubrechen scheint. Oder sie kann gefordert werden: Wenn ein Ziel nahe liegt und auch erreichbar zu sein scheint. Oder sie kann konfrontiert werden: mit der Enge eines Tunnelblickes oder ihrer Abwehr, eine Situation so anzunehmen, wie sie ist. Oder sie kann gefördert werden: damit in ihr ganz neue Ideen erwachsen können, die zu Handlungen führen.

nen und Ärzte sollten möglichst kultursensible und gender-kompatible Vermittler in ihre Gesprächssituationen einbeziehen. Der professionelle Umgang mit Menschen, denen unsere Kultur fremd erscheint, verlangt emotionale Intelligenz. Wichtiger als das Nachlesen, wie sich Personen anderer Kulturen angeblich verhalten, ist es zu beobachten, wie diese auf (vorsichtige) eigene Handlungsweisen reagieren: ob sie sich (gelöst von Angst) öffnen können, oder ob sie sich bedroht und gestresst fühlen. Kultur-unsensibles Verhalten kann zu zwei sehr unterschiedlichen Störungen führen: 1. Kontaktverweigerung und eigener Rückzug. So können z. B. offensichtliche Probleme (wie FGM) in einem flüchtig gestalteten Arzt-Patienten-Kontakt übersehen oder verdrängt werden. 2. Trauma-Verstärkung. Indem zu forsch, zu schnell, zu interventionistisch, zu objekt- und zu technikorientiert vorgegangen wird. „Emotional intelligent“ würde durch Vermittlung von Sicherheit und Vertrauen die Basis geschaffen werden, um die Patientin so zu begleiten, dass sie selbstbewusst und auch rational eigene Entscheidungen entwickeln und auch treffen kann. Und wenn es trotz allem nicht klappt? Es wird auch bei aller guten Vorbereitungen, Einstellungen und hoher Professionalität zu Widersprüchen kommen: zum Beispiel zwischen den eigenen Möglichkeiten und den Erwartungen oder Forderungen der Patientinnen. Oder zu Missverständnissen, die völlig unerklärlich zu sein scheinen. Was dann? Am besten wäre es dann, sich einige Sekunden oder Minuten einmal keine Gedanken um den anderen zu machen, den man nicht versteht. Sondern zu fühlen, wie es „mir“ gerade „jetzt“ geht. Und nicht sofort zu handeln. Sondern erst dafür zu sorgen, sich zu beruhigen und sich selbst aus dem Stress herauszuführen. Erst wenn das gelungen ist, ergibt es Sinn, erneut zu kommunizieren, und zu vermitteln was „ich“ fühle. Dieses Prinzip der sogenannten „gewaltlosen Kommunikation“ ist weltweit und in jeder Kultur wirksam [10]. Es besteht darin,

Referenzen  91

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Etwas, das geschieht, zunächst (für sich) nur als eine Beobachtung zu beschreiben und sie nicht zu beurteilen. Dann „in sich“ die Gefühle wahrzunehmen, die durch das Beobachtete ausgelöst wurden. Oder genauer: den inneren Sinnes-Meldungen (Propriozeption) zu lauschen, die melden, was das Gefühlte bewirkt hat. Dann den eigenen Bedarf erkennen: das was „jetzt“ gebraucht wird. Und daraus eine Bitte zu formulieren, die „jetzt“ erfüllt werden kann.

Ist das geschehen, ergeben sich oft ungeahnte Möglichkeiten, einer bisher schwierigen Kommunikation eine ganz neue Richtung geben zu können. Referenzen [1]

Eibl-Eibesfeldt I: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. Piper 1984. [2] Buzsáki G, et al. The log-dynamic brain: how skewed distributions affect network operations, Nature Reviews. 2014;15:264–278. Weitere Literatur, Interviews etc: www.buzsakilab.com. [3] Storch M, et al. Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche. Huber 2010. [4] Porges SW, et al. Reducing auditory hypersensitivities in autistic spectrum disorder. Front Pediatr. 2014;2:80. http://stephenporges.com [letzter Zugriff: 02.06.2020]. [5] Jäger H. Fetale Herzsteuerung: Reflexhaft und chaotisch. DHZ. 2014;11:38–43. [6] Damásio A. Self Comes to Mind: Constructing the Conscious Brain. NYC: Pantheon 2010. dt.: Selbst ist der Mensch. Siedler 2011. [7] Goleman D. Emotionale Intelligenz. Hanser 1996. München; dtv 2011. München. [8] Humphrey N. Seeing Red. Harvard University Press 2006. [9] Dörner D. Bauplan für eine Seele. Rowohlt Taschenbuch 2001. Reinbek. [10] Rosenberg M. Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, Verlag Herder 2014. Freiburg.

Weiterführende Referenzen Borg E, et al. The Middle-Ear Muscles. Scientific American. 1989:74–80. Faa G, et al. Fetal programming of the human brain: is there a link with insurgence of neurodegenerative disorders in adulthood? Curr Med Chem. 2014;21(33): 3854–3876. Foster J. Cultural Humility and the Importance of Long-Term Relationships in International Partnerships. JOGNN. 2009;38:100–107. Jäger H. Das Stillen: Lebenswichtige Funktionen stabilisieren. DHZ. 2013;10:55–59. Macionis J. „Culture“ (Chapter 3) Sociology 2010. 7th ed. Pearson, Toronto. McGilchrist I. The Master and his Emissary (2010). Weitere Arbeiten und Videos: https://iainmcgilchrist.com Oberg K. Culture shock and the problems of adjustment to new cultural environments. Washington 1958. Pedersen P. The Five Stages of Culture Shock: Critical Incidents Around the World. Contributions in Psychology. 1995; No. 25. Westport, Conn: Greenwood Press. Tschacher W. Embodiment und Kommunikation. Familiendynamik. 2015;40(2):118–127.

92  5 Umgang in der Praxis

5.4 Umgang mit beschnittenen Frauen Cornelia Strunz Wir werden von Kolleginnen und Kollegen oft gefragt, wie man in der Praxis mit Frauen umgehen soll, bei denen auf Grund anderer Erkrankungen zufällig eine Genitalbeschneidung diagnostiziert wird. Sollte man diese Frauen darauf ansprechen? Benötigt jede betroffene Frau eine Beratung? Wer soll diese Beratung durchführen? Ist hier ein spezielles Zentrum notwendig? Grundsätzlich ist zu sagen, dass nicht jede Frau eine Beratung benötigt. Viele Frauen leben ohne körperliche Beschwerden und benötigen oder wünschen keine Beratung. Viele genital verstümmelte Frauen haben sich sehr gut arrangiert und genießen ein gesundes emotionales und sexuelles Leben. Auf der anderen Seite wird vielen Frauen, die von der Beratung profitieren könnten, diese Option nicht zur Verfügung gestellt. Die zur Verfügung stehenden medizinischen Möglichkeiten sind vielen unbekannt. Auch wissen viele Frauen nicht, dass ihre Beschwerden auf die Beschneidung zurückzuführen sind. Gerade diese Frauen würden von einer Beratung profitieren. Von daher ist es empfehlenswert, die Frauen behutsam auf die Genitalbeschneidung anzusprechen. Beratung ist ebenfalls notwendig, wenn vermutet wird, dass sich die präsentierten Symptome nicht mit chirurgischen oder medizinischen Eingriffen allein bessern lassen und eine sexualtherapeutische oder psychologische Beratung möglicherweise notwendig ist. Vorteilhaft sind schriftliche Informationen über die medizinischen Therapieoptionen oder vorhandene Beratungsdienste. Die Schaffung einer Beratungs- oder Unterstützungsgruppe ist eine weitere Möglichkeit. Die unterstützende Präsenz anderer mit einer ähnlichen Erfahrung kann dazu beitragen, die Vorbehalte der Frau und Angst zu reduzieren. Der Gruppenvermittler muss die Vielfalt innerhalb der afrikanischen Einwanderergemeinschaft in Bezug auf Kultur, Sprache, Bildung, Alter und Familienstand berücksichtigen und wie sich dies dynamisch auf die Gruppe auswirken kann. Es kann ratsam sein, Beratungsgruppen mit Personen mit ähnlichem Hintergrund zu bilden, um Offenheit zu fördern und Konflikte zu vermeiden.

5.5 Adäquater Umgang mit genital beschnittenen Mädchen und Jugendlichen

 93

5.5 Adäquater Umgang mit genital beschnittenen Mädchen und Jugendlichen im therapeutischen Kontext Fana Asefaw Im Kontakt mit genital beschnittenen Mädchen und Jugendlichen stelle ich immer wieder fest, dass die Genitalbeschneidung für sie in ihren Heimatländern bisher nicht Thema war. Alle in ihrem sozialen Umfeld waren Beschnittene und es stellte für sie eine Normalität dar, die sie nicht hinterfragten. Selbst allfällige körperliche Folgen der Beschneidung wurden in der Vergangenheit aus unterschiedlichen Gründen nicht aktiv zum Thema gemacht. Im Gegenteil: Die Betroffenen konnten sich mehrheitlich positiv damit identifizieren. „Weil ich eine Beschnittene bin, bin ich rein und anständig“, sagte mir eine 15-jährige Patientin aus Äthiopien. Wenn sie nach Europa kommen, aktuell vorwiegend als Flüchtlinge, werden sie erstmals bereits in Durchgangsheimen mit dem Thema „Weibliche Genitalverstümmelung“ und deren Folgen etc. konfrontiert. So wurde mir von einer Kinderärztin ein elfjähriges somalisches Mädchen zur Traumatherapie ins Ambulatorium für Kinderund Jugendpsychiatrie zugewiesen. Sie kam in Begleitung ihrer 18-jährigen Schwester zum Vorgespräch. Im Vorfeld habe ich viele Telefonate mit Mitarbeitern vom Jugendamt, Kinderärzten und anderen Personen geführt. Alle waren in großer Aufregung und die Situation war hoch emotional. Im Gespräch erfuhr ich, dass die junge Patientin bis zu ihrer Ankunft in der Schweiz nicht gewusst habe, dass sie im Alter von neun Monaten infibuliert worden ist. Sie habe keine Erinnerung daran. Das sei Tradition, bestätigt mir auch die anwesende ältere Schwester. In Somalia sei ihre kleine Schwester ein normales, fröhliches Mädchen gewesen, sie habe sogar die Flucht und die Trennung von ihren Eltern gut überstanden. Jedoch seit sie diese Genitaluntersuchung habe über sich ergehen lassen müssen, sei sie anders. Bedrückt, traurig und sehr verunsichert, berichtet mir die Schwester. Die elfjährige Patientin stimmte ihrer Schwester nickend zu und ergänzte, sie habe sich bisher ganz wohl gefühlt, sie habe immer gedacht, sie sei ein ganz normales somalisches Mädchen. Doch seit sie in der Schweiz sei, erlebe sie sich anders, sie muss „unten am Körper etwas sehr Erschreckendes an sich haben“. Sie werde es nie vergessen, wie das medizinische Personal, weiß gekleidet, bei ihr die Genitaluntersuchung durchgeführt habe. Sie habe mit gespreizten Beinen auf dem komischen Stuhl liegen müssen, schon damit sei sie überfordert gewesen. Jedoch war es nicht die Untersuchung an sich, die so schlimm war, sondern viel mehr der Schreck oder das Entsetzten der Untersuchenden über ihren Zustand, der sie erschreckte und sehr betroffen gemacht habe.

94  5 Umgang in der Praxis

„Oje, ist das vernarbt, wer hat Dich denn so verstümmelt! Das ist so grausam! Du musst doch Probleme beim Wasser lassen haben! Es ist schrecklich, was Dir passiert ist.“ Diese Worte gehen ihr heute noch nach. „Während ich mit den gespreizten Beinen beschämt da lag, kamen noch zwei weitere Personen dazu. Die ebenso schockiert waren. Im Verlauf machten sie ein Foto von mir unten, ich fühlte mich so schrecklich und schämte mich. Keiner hat mit mir gesprochen und mich gefragt, warum es gemacht wurde, wie es mir damit geht. Ich fühlte mich wie ein Gegenstand und nicht wie ein Mensch. Die Tränen liefen mir über das Gesicht, beschämt wischte ich sie schnell weg, keiner hat es gemerkt. Die Untersuchung dauerte unendlich lange und es war das Schlimmste und Beschämenste, was ich bisher erlebt hatte.“ Für die Patientin waren die geschilderten Szenen sehr belastend, im Vorfeld haben die Fachpersonen immer wieder von der vermuteten Traumatisierung durch die „Verstümmelung am Genital“ gesprochen und der Patientin die Traumasprechstunde empfohlen. Jedoch war es der Patientin ein Hauptanliegen über die erlittenen Verletzungen durch inadäquaten und unsensiblen Umgang mit ihr zu sprechen. Dieser Fall ist exemplarisch für viele andere betroffene Patientinnen, die ich im psychotherapeutischen Kontext kennenlerne. Ein respektvoller Umgang beinhaltet für die jungen Patientinnen bereits im Erstkontakt auf die Begrifflichkeiten zu achten. Sie nicht als Genitalverstümmelte zu bezeichnen, sondern als Genitalbeschnittene. Kultursensibler Umgang unter Berücksichtigung des kulturellen Hintergrundes der betroffenen Mädchen und Jugendlichen. Folgende aufgeführten Punkte können eine Hilfe dazu sein: 1. Für die jungen Patientinnen ist es zielführend und gut, wenn sie vor der körperlichen Untersuchung eine altersgerechte Aufklärung darüber bekämen, wie das äußere Genital normalerweise aussieht. Dies kann anhand eines Schemas zunächst neutral erfolgen. 2. Für die Anamnese sollte mehr Zeit eingeräumt werden. Wenn sie nicht ausreichend deutsch sprechen, ist es sinnvoll eine weibliche Dolmetscherin einzubeziehen. 3. Die Hintergründe der Genitalbeschneidung erfragen, wenn man selber über den jeweiligen kulturellen Hintergrund des Herkunftslandes nicht ausreichend Bescheid weiß. 4. Die Patientin fragen, wie es ihr mit ihrer Genitalbeschneidung in ihrem Heimatland gegangen ist und wie es ihr hier damit geht. 5. Geklärt werden muss, ob körperliche Beschwerden im Zusammenhang mit einer Beschneidung bestehen und seit wann? 6. Ebenso sollte man klären, was die Betroffene sich als Unterstützung wünscht und was sie sich davon erhofft.

5.5 Adäquater Umgang mit genital beschnittenen Mädchen und Jugendlichen  95

7.

Patientinnen wünschen sich, dass das medizinische Personal seine eigene emotionale Überforderung im Umgang mit dem Thema nicht auf sie projiziert und sie in die Opferrolle drängt.

Fakt ist, dass viele junge beschnittene Patientinnen durch den inadäquaten Umgang, den sie hier durch die Medien aber auch mit medizinischem Personal erleiden, sich plötzlich als unvollständig und verstümmelt wahrnehmen und in ihrer Identitätsfindung sehr verunsichert werden. Vor diesem Hintergrund möchten sie manchmal eine Rekonstruktion ihres Genitals haben, damit sie endlich als normal angesehen werden und die Chance bekommen, dazugehören zu können.

 Teil II Therapie

6 Erwartungen und Möglichkeiten Uwe von Fritschen Ende des 17. Jahrhunderts beschrieb der italienische Chirurg Gasparo Tagliacozzi eine Technik zur Rekonstruktion von abgetrennten Nasen. Einer zu dieser Zeit weit verbreitete Methode, um Menschen dauerhaft zu stigmatisieren. Tagliacozzi beschrieb seine Motivation folgendermaßen: „Wir bauen auf und stellen wieder her und machen ganze Teile des Gesichtes, die die Natur gegeben und das Schicksal fortgenommen hat, nicht nur zur Freude des Auges, sondern, um den Geist aufzurichten und der Seele des Betroffenen zu helfen.“ Er geriet mit dieser Ansicht jedoch bald in Konflikt mit der katholischen Kirche, die der Meinung war, dass Verstümmelungen und Erkrankungen gottgewollt waren und der Mensch daher nicht eingreifen dürfe. Nur der Schutz einflussreicher Unterstützer ermöglichte es ihm, zu arbeiten, aber noch nach seinem Tod wurde er verfolgt, seine Leiche exhumiert und in ungeweihter Erde verscharrt. Seine Veröffentlichung betrachten wir heute als einen der Wegbereiter der modernen Plastischen Chirurgie, da er erkannte, dass für unser Wohlbefinden nicht nur die rein organische Funktion, sondern auch ein ästhetisch intakter Körper bedeutsam ist. Dieser damals so revolutionäre Gedanke, das Zusammenspiel von Körperbild und Psyche ist in unserem Kulturkreis heute selbstverständlich und zentraler Bestandteil der Plastischen Chirurgie, da er ein Grundbedürfnis des Menschen darstellt. In dem sozialen Umfeld, in dem heute FGM praktiziert wird, begegnen wir jedoch denselben Vorbehalten, mit denen unser Vorvater zu kämpfen hatte. Religiöse, traditionelle und soziale Gründe werden für die unabänderliche Notwendigkeit angeführt und sind bei Ausführenden und Betroffenen tief verwurzelt. Bei der Konsultation ist es wichtig, dies ebenso zu bedenken wie den komplexen sozialen Kontext. Familie und soziales Umfeld bedeuten Orientierung und Sicherheit, viel umfassender als in unserer postmodernen Gesellschaft. Sich außerhalb der Normen zu stellen bedeutet Isolation und Stigma. Beschneidung ist ein Tabuthema, dass selbst in der Familie nicht angesprochen wird. Allein das erste Gespräch in einer Selbsthilfegruppe bedeutet einen riesigen Schritt und die Konsultation eines Arztes mit der Frage nach einer möglichen reparativen Operation einen gravierenden Einschnitt im Leben der Frau. Er markiert das Ende einer Isolation in unselbstständigem Erdulden zu dem Entschluss sein Schicksal selbst zu formen mit allen Ängsten und Unsicherheiten, die damit verbunden sind. Es ist daher verständlich, dass bei den ersten Kontakten in aller Regel zunächst der Kontakt zur Selbsthilfe gesucht wird, um sich erstmals mit anderen Betroffenen auszutauschen und innerlich den richtigen individuellen Weg zu finden. Es bleibt zu erwähnen, dass nicht alle beschnittenen Frauen FGM als Makel empfinden. Strukturierte Studien hierzu fehlen, aber in zahlreichen Publikationen wird https://doi.org/10.1515/9783110481006-006

100  6 Erwartungen und Möglichkeiten

darauf verwiesen, dass vielen Frauen sich hiermit als schöner, reiner und weiblicher empfinden. Sobald eine persönliche Unterstützung gewünscht wird, ist eine körperliche Untersuchung und exakte Evaluation der geschilderten Beschwerden und Wünsche erforderlich. Dies umfasst sowohl die körperlichen Probleme, insbesondere aber auch das sexualtherapeutische Umfeld. Hilfreich für die Klärung einer möglichen OP-Indikation ist die konkrete Nachfrage nach dem wesentlichen Aspekt, den die Patientin in erster Linie verbessert haben möchte. Regelhaft werden die Verbesserung der sexuellen Empfindung und Reduktion von Schmerzen genannt. Hierbei offenbart sich jedoch häufig eine erstaunliche Unkenntnis nicht nur der anatomischen Verhältnisse, sondern auch der Probleme, die rein physisch auf die Beschneidung zurückzuführen sein könnten. Viele Frauen wünschen sich die Wiederherstellung eines normalen Zustandes, ohne diesen auch nur ansatzweise zu kennen. Um spätere Frustration und Unzufriedenheit mit dem operativen Resultat zu vermeiden, ist eine detaillierte Klärung der geschilderten Beschwerden und Vorstellungen unumgänglich. Einige Beispiele sollen das erläutern. Narbige Veränderungen der Vulva können Schmerzen verursachen. Äußern Patientinnen diesen Wunsch, neigen wir aus unserer Perspektive dazu sogleich einen Bezug herzustellen. Erst detaillierte Nachfragen zeigen, dass hiermit womöglich mehrtägige Rückenschmerzen im Rahmen des Menstruationszyklus gemeint sein können. Bei infibulierten Frauen kann der Eingriff dann zu einer deutlichen Beschwerdebesserung beitragen, allerdings erhoffen sich das auch viele Frauen ohne Infibulation. Ebenso häufig wird neben normalen Menstruationsbeschwerden der Wunsch nach einem „normalen“ sexuellen Empfinden genannt. Mehrere Publikationen bestätigen unsere Erfahrung, dass vielen Frauen einen regelmäßigen Orgasmus angeben. Dennoch wünschen sie sich ein Empfinden „wie das nicht beschnittener Frauen“. Besonders stark ist der Wunsch nach einem möglichst unauffälligen Aussehen. Allerdings besteht regelhaft eine fast völlige Unkenntnis der normalen Anatomie und der natürlichen Variationsbreite. Meist wird hierunter eine deutlich sichtbare Klitoris verstanden. Dies ist weder physiologisch noch technisch in allen Fällen möglich. Besonders komplex sind in diesem Kontext Beziehungsprobleme, die auf körperliche Unzulänglichkeit projiziert werden. Bedenkt man, dass in anderen Kulturkreisen Gespräche über diese Themen nicht üblich sind und der Wunsch auch von Frauen kommt, die noch nie sexuellen Kontakt hatten, wird klar, dass eine umfassende präoperative Aufklärung über die weibliche Anatomie und Physiologie ebenso wichtig ist wie über realistisch zu erzielende Resultate. Für diese ersten Gespräche sollten mehrere Stunden eingeplant werden. Es muss ein Verständnis dafür geschaffen werden, dass bei der Rekonstruktion nie eine vollständige Wiederherstellung möglich ist. Besonders bei Empfindungen kann immer nur ein verbliebenes Potenzial reaktiviert werden.

6 Erwartungen und Möglichkeiten  101

Und schließlich muss vermittelt werden, dass eine erfüllte Sexualität ein komplexes, multifaktorielles Geschehen ist, in dem auch der Partner eine wesentliche Rolle spielt. Tatsächlich entscheidet sich nach der Beratung nur knapp die Hälfte der Frauen für eine Operation bzw. können wir eine Operation empfehlen. Die sexualtherapeutische Begleitung, der gemeinsame Austausch und die Information über „Normalität“ reichen vielen aus. Diese Wünsche, meist in sehr emotionalen Gesprächen nach und nach geäußert, sind Ausdruck der tiefen Verunsicherung, die den Frauen durch den brutalen Übergriff zugefügt wurde. Er zerstört ihr Selbstbewusstsein und hinterlässt ein ständiges Gefühl der umfassenden Unzulänglichkeit. Alle Beschwerden aber auch Schwierigkeiten in der Partnerschaft werden hierauf zurückgeführt, immer bleibt der Zweifel ob ihre Unvollständigkeit die eigentliche Ursache ist. Es verwundert daher nicht, dass die Wiederherstellung der körperlichen Integrität der am häufigsten geäußerte Wunsch bei unseren Patientinnen ist. Die Betroffenen wollen zurück, was ihnen ohne ihre Zustimmung genommen wurde und damit ihre Würde und persönliche Autonomie. Die im Folgenden beschriebenen verheerenden Defekte sind entweder auf Infektionen nach der Beschneidung oder auf Geburtshindernisse zurückzuführen, häufig narbige Einengungen nach FGM. Wir sehen diese bedauernswerten Frauen in Europa kaum, da sie in den Ursprungsländern versterben oder nicht die Möglichkeit haben sich hier in Behandlung zu begeben. Dennoch ist es unangemessen, das Ausmaß der Mutilation und des damit verbundenen Leidens zu graduieren oder zu relativieren. Ohne Frage ist es schwierig die komplexen Probleme, die an uns herangetragen werden, in ihren Zusammenhängen zu bewerten und den objektiven Gewinn wissenschaftlich zu messen. Besonders problematisch hieran ist, dass es bisher weder einen evaluierten Erfassungsbogen noch eine standardisierte Operationstechnik gibt, die über die alleinige Deinfibulation hinausgeht. Es liegen lediglich vereinzelte Studien und Falldarstellungen vor, die jedoch alle erhebliche systematische Schwächen aufweisen. Die Rekonstruktion nach Genitalbeschneidung ist bei kritischer Patientenselektion dennoch eine sinnvolle Option. Hierfür ist eine multidisziplinäre Betreuung erforderlich. Sie ermöglicht betroffenen Frauen das häufig dominierende Problem ihres Lebens aktiv zu gestalten. Durch das Zusammenspiel aus verbesserter Sensibilität, Entfernung von schmerzhaften narbigen Einschränkungen und das nun unauffälligere Aussehen berichten uns viele Frauen über ein gesteigertes Selbstbewusstsein, Körpergefühl und erfülltere Sexualität. Besonders aber heben sie hervor, dass sie das Gefühl haben, ihre Würde zurückzuerlangen.

7 Psycho-sexualmedizinische Betreuung 7.1 Nicht immer nur an das Eine denken – Differentialdiagnostik der sexuellen Störungen bei genitalbeschnittenen Frauen Sabine Müller Eines Tages betrat eine afrikanische Frau meine Praxis und klagte über eheliche Anorgasmie. Sie sei bereits bei einer anderen Frauenärztin gewesen, diese hätte eine Klitorektomie diagnostiziert und ihr empfohlen, sich einer operativen Klitorisrekonstruktion zu unterziehen. Diese sei aber sehr teuer und sie wollte von mir hauptsächlich wissen, wie sie an das Geld käme. Auf ein sexualanamnestisches Gespräch und eine Untersuchung wollte sie sich zunächst nicht einlassen. Nach einem längeren Gespräch war sie dann aber doch zu beidem bereit. Sie war als Kind beschnitten und später mit ihrem Cousin zwangsverheiratet worden. Schmerzen beim Verkehr hatte sie keine. Die Untersuchung ergab, dass der vordere Anteil der Klitoris, die sogenannte Klitorisperle, entfernt worden war. Die beiden Schenkel der Klitorisvorhaut waren über dem Klitoriskörper zusammengewachsen und verbargen den restlichen Klitoriskörper. Im weiteren Gesprächsverlauf berichtete sie, dass sie einen heimlichen Liebhaber hatte, mit dem sie voll erlebnisfähig und orgastisch sei, wollte sich aber dennoch operieren lassen, um auch ihrem Mann eine gute Ehefrau zu sein. Meine Diagnose: sekundäre situative Anorgasmie bei Z. n. Zwangsverheiratung. Im weiteren Verlauf der Beratung sprach ich dann mit der Patientin darüber, dass bei voll erhaltener sexueller Erlebnisfähigkeit eine Operation zu keiner Verbesserung der Situation führen würde. Ich habe sie leider nicht mehr wiedergesehen, so dass ich nicht weiß, ob sie sich operieren ließ oder doch mit ihrem Mann zur Eheberatung gegangen ist. Es ist wichtig zu beachten, dass beschnittene Frauen, genau wie alle anderen Frauen, an primären oder sekundären Störungen leiden können. Zusätzlich jedoch möglicherweise an physischen Problemen sowie an posttraumatischer Belastungsstörung in Abhängigkeit vom Ausmaß der Beschneidung, des Beschneidungsalters und der Erinnerung daran. Eine andere Patientin berichtete mir, dass sie ja nur ein ganz klein wenig beschnitten sei, sie selbst hatte der Beschneidung zugestimmt. Während der Beschneidung saßen ihre Mutter und ihre Großmutter zu ihrer rechten und linken Seite und hielten ihre Hände. Später hatte sie sich ihren Ehemann selbst ausgesucht, beim ehelichen Verkehr habe sie so gut wie keine Probleme. Sie sei voll erlebnisfähig. Die Untersuchung ergab eine FGM Typ III: Die Klitoris war tief ausgeschnitten, beide kleinen Labien radikal entfernt, die großen teilweise, und sie war bis auf eine winzige Öffnung vollständig infibuliert. https://doi.org/10.1515/9783110481006-007

104  7 Psycho-sexualmedizinische Betreuung

Sie wollte sich aber auf gar keinen Fall operieren lassen aus Angst vor Bakterien, die dann ungehindert in sie eindringen und zur Unfruchtbarkeit führen könnten. Dies sei in ihrem Kulturkreis eine anerkannte Wahrheit, unbeschnittene und geöffnete Frauen würden an Unfruchtbarkeit leiden. Erst Jahre später, nach erfolgreicher Deinfibulation wegen anderer gesundheitlicher Probleme berichtete sie von erheblicher Qualitätsverbesserung ihrer Sexualität. Aufgrund eines Kinderwunsches wurde nach der Deinfibulation eine diagnostische Laparoskopie durchgeführt, die Hämatosalpingen beidseits zeigte. Eine Empfängnis auf natürlichem Wege war somit nicht mehr möglich und für eine In-vitroFertilisationsbehandlung fehlte ihr das Geld. Sie blieb ungewollt kinderlos. Eine andere, noch junge Studentin aus Afrika besuchte mich wegen von ihr als entsetzlich und unaushaltbar geschilderten Schmerzen beim Verkehr mit ihrem Verlobten. Sie selbst vermutete eine pharaonische Beschneidung mit anschließender Infibulation. Die Umstände ihrer Beschneidung schilderte sie als grauenvoll und belastend. Sie und ihre Schwester waren vor dem grausigen Ritual davongelaufen, wurden jedoch wieder eingefangen, geschlagen und gefesselt. Trotz der heftigen Gegenwehr wurden die Mädchen beschnitten. Ihren Verlobten durfte sie sich selbst aussuchen und sie durfte nach der Beschneidung in Europa studieren. Die Untersuchung ergab für mich zunächst keinen vom Normalbefund abweichenden Zustand. Erst nach mehrmaligem Hinsehen wurde ersichtlich, dass der linke Schenkel der Klitorisvorhaut etwas kürzer war als der rechte, so dass davon ausgegangen werden kann, dass hier eine sog. kleine Sunna (Typ Ia) vorgenommen wurde. Meine Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung mit Dyspareunie. Die Patientin war sehr interessiert an einer Verbesserung des Zustandes und stimmte einer sexualtherapeutischen Anamnese und Behandlung zu. Zum nächsten Gespräch brachte sie ihren Partner mit, der mit stockender Stimme weinend folgendes berichtete: In der Hochzeitsnacht seines Bruders, als dieser wie kulturell gefordert, die Infibulation mit einem Messer öffnete, sei es zu einer schweren akzidentellen Verletzung gekommen und die junge Frau sei verblutet. Er selbst war damals anwesend und könne sich noch sehr gut an das viele Blut und die sterbende Frau erinnern. Er selbst sei immer davon ausgegangen, dass auch seine Verlobte pharaonisch beschnitten sei, und deshalb sehr vorsichtig gewesen. Hingeschaut habe er selbstverständlich nicht und er habe auch keinerlei Vergleich. Er habe furchtbare Angst ihr wehzutun und auch Erektionsprobleme. Meine Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung mit sekundärer erektiler Dysfunktion. Im weiteren Verlauf der sexualtherapeutischen Gespräche und mit viel Aufklärung kam es zu einer Besserung der Symptomatik bei beiden. Drei Jahre später trenn-

7.1 Nicht immer nur an das Eine denken  105

te sich das Paar. In ihrer neuen Beziehung berichtete die Frau über ein wesentlich verbessertes Sexualleben. Auch wenn zunächst die Beschneidung hinreichend als Ursache von sexueller Dysfunktion, Dyspareunie und Dysmenorrhö erscheint, so ist doch eine primäre gründliche und umfassende gynäkologische Anamnese und Untersuchung unerlässlich. Dazu gehört zwingend eine Inspektion des äußeren und inneren Genitale, der Infektionsausschluss, insbesondere ein Screening auf Chlamydien, ein Abstrich nach Papanicolaou sowie ein Blutbild und der Ausschluss einer Endometriose. Bei infibulierten Frauen muss zudem immer auch an eine Hämatometra und Hämatosaktosalpinx gedacht werden. In einem zweiten Termin wird die Sexualanamnese vollständig und umfassend erhoben. Hierzu gehören neben der Differentialdiagnostik der sexuellen Störungen zu primären, sekundären oder situativen Problemen, die Familienanamnese, Todesfälle als direkte oder indirekte Beschneidungsfolge in der Hochzeitsnacht oder bei Geburt eines Kindes sowie Alter und Umstände bei der Beschneidung. Das Erinnerungsalter für psychosexuelle Traumata liegt bei ca. 27 Monaten. Fragen nach dem Kontext – wurde das Einverständnis des Kindes/der jungen Frau eingeholt, wünschte sie es sogar selbst? Wie war die kindliche Entwicklung, Menarche, Pubarche, Thelarche und die psychosexuelle Entwicklung? Erste sexuelle, auch masturbatorische Erfahrung, Freiwilligkeit der Partnerwahl. Wie war das familiäre Umfeld? Wie standen die Eltern zu dem Thema? – runden das Bild ab. Abschließend klärt eine psychosomatische Anamnese, ob eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegt und schließt andere psychogene Erkrankungen aus. Liegt eine Dyspareunie vor oder doch ein Vaginismus? Besteht ein Anhalt für endogene oder exogene Depression? Wie stark ist das Schamgefühl, das rituelle Tabu gebrochen zu haben und sich einem Arzt oder Ärztin aus einem anderen Kulturkreis anvertraut zu haben? Im Anschluss kann die aktuelle Problematik erörtert werden. Ist die Patientin orgastisch? Liegen Störungen der Initiative, der Appetenz, des Erregungsablaufes vor? Liegen klinische Einschränkungen wie z. B. eine unzureichende Lubrikation vor? Die Partnerschaftsanamnese kann eine wertvolle Hilfe sein. Wenn immer möglich sollte der Partner daher hinzugezogen werden. Bevor wir mit der Behandlung beginnen, ist es wichtig zu bedenken, dass der Aufklärungsstand der Frau und des Mannes möglicherweise erheblich vom Grundwissen, dass wir in unserem Kulturkreis voraussetzen, abweicht. Um Missverständnissen vorzubeugen, muss dies zwingend geklärt, Mythen soweit möglich ausgeräumt werden. Eines Tages wurde eine junge Frau von ihrer Schwägerin in meine Sprechstunde gebracht. Sie war von ihrer Familie zwangsverheiratet worden und sicherlich vollkommen unerfahren und unaufgeklärt. Die Schwägerin teilte mir mit, dass seit der

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Hochzeitsnacht immer weiße Flüssigkeit aus der Frau herausliefe und der Ehemann lasse anfragen, ob seine Frau geschlechtskrank sei. Die Untersuchung ergab, dass es sich bei der auslaufenden Flüssigkeit um Sperma handelte. Es bedurfte einer längeren Erklärung wobei die Übersetzung der Schwägerin durch die Tatsache erschwert wurde, dass die junge Frau überhaupt nicht wusste, was Sperma ist und auch keine Worte dafür hatte. Bemühen Sie sich daher die Begrifflichkeiten zu klären und sich einen Eindruck von der Vorbildung der Patientin und ihres Partners zu machen. Häufig steht nach meiner Erfahrung das Ausmaß der Beschwerden nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem pathologischen Ausmaß der Verstümmelung, sehr wohl aber mit dem Ausmaß der Traumatisierung und den weiteren Begleitumständen. Viele Frauen wissen nicht, was ihnen widerfahren ist und sind über ihren anatomischen Zustand nicht oder nur unzureichend informiert. Das Tabu verhindert den Vergleich. Ich setze in dieser Situation Bildertafeln ein. Sobald eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung besteht, verwende ich auch gerne einen Handspiegel. Zusammenfassend ist es nach meiner Erfahrung am sinnvollsten bei den betroffenen Frauen nicht von den Grundsätzen der Diagnostik und Behandlung anderer psychosexueller Probleme abzuweichen. Interkulturelle Kommunikationsprobleme und für uns bisher ungewöhnliche Pathologien erschweren zwar die Beurteilung, dennoch stellt die sexualtherapeutische Bewertung einen wesentlichen Bestandteil der Therapieplanung dar. Hierfür ist es unbedingt erforderlich, sich detaillierte Kenntnisse vom Kontext und den Folgen von FGM anzueignen. Häufig ist die konservative Behandlung der richtige Weg und ausreichend, um die Beschwerden zu lindern. Ist eine Operation sinnvoll und geplant, sollten die Begleitumstände im Vorfeld geklärt werden. Idealerweise besteht eine Einbindung in ein therapeutisches Umfeld oder in eine Selbsthilfegruppe, in welcher ein Austausch stattfinden kann. Möglicherweise bricht die Patientin ein Tabu, was zum Verstoß aus der Gemeinschaft führen kann. Fragen, ob der Partner und die Familie eingeweiht sind, was von dem Eingriff erhofft wird und wie realistisch diese Erwartungen sind, sollten unbedingt im Vorfeld geklärt werden.

7.2 Psychosomatische Interventionen im Kontext der Operation  107

7.2 Psychosomatische Interventionen im Kontext der Operation Ilka Vasterling, Christoph Kröger Einleitung Das übergeordnete Ziel psychosomatischer Interventionen im Kontext einer Operation der weiblichen Genitalien ist es, die Patientin bei einer autonomen Entscheidung zu unterstützen: Nehme ich die psychischen und körperlichen Beschwerden und damit einhergehenden Beeinträchtigungen in Folge der Genitalbeschneidung weiter hin oder lasse ich mich operieren und verändere damit auch meine psychosexuelle Identität als Frau? Therapeutische Ziele der Behandlung sind im Einzelnen: – Aufbau einer stabilen Arzt/Therapeut-Patient-Beziehung – Förderung der Genussfähigkeit, Körperwahrnehmung und -akzeptanz – Informationsvermittlung zu körperlichen und psychischen Beschwerden – Reduktion depressiver bzw. posttraumatischer Symptomatik

7.2.1 Voraussetzungen schaffen Sprachgebrauch Die Beschneidungsprozedur wird üblicherweise als „Genitalverstümmelung“ bezeichnet, was eine negative Bewertung beinhaltet und im Sprachgebrauch die Praktik deutlich als Menschenrechtsverletzung markiert [1]. Allerdings können Betroffene diese Wortwahl möglicherweise als Abwertung oder Diskriminierung empfinden [2]. Daher sollte im Gespräch mit einer betroffenen Frau deskriptiv von „weiblicher Genitalbeschneidung“ gesprochen werden. Gesprächsführung Da viele Patientinnen einer psychosozialen Intervention und im Verlauf der Operation ambivalent gegenüberstehen, ist die therapeutische Beziehung durchgehend motivationsförderlich zu gestalten. Behandler sollten mit Besonderheiten der Gesprächsführung mit Übersetzung eines Dolmetschers vertraut sein [3]. Die vier Prinzipien der motivierenden Gesprächsführung bieten eine wichtige Orientierungshilfe für die therapeutische Arbeit [4]: (1) Das empathische Verständnis ist angesichts einer zunächst fremden Person einer anderen Kultur und Religion zentrale Voraussetzung für eine kooperative Zusammenarbeit. (2) Bestehende Ambivalenzen sollen auf dieser Basis aufgegriffen und Diskrepanzen herausgearbeitet werden. (3) Dabei sollte mit Widerstand geschmeidig umgegangen und (4) eine Veränderungsperspektive aufgebaut werden.

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Motivationsfördernde Gesprächstechniken Die folgenden Techniken ermöglichen die Anwendung der Prinzipien. Diese können durchgehend in jeder Sitzung zur Anwendung kommen und sind Grundlage der veränderungsorientierten sexualtherapeutischen Interventionen. – Als Basisfertigkeiten sollten Therapeuten offene Fragen stellen („open questions“: z. B. „Wie denken Sie selbst über die wiederkehrenden Schwierigkeiten während der Menstruation?“) und Zusammenfassungen geben, die insbesondere die idiosynkratische Bedeutung des Gesagten berücksichtigen („Ich habe von Ihnen jetzt gehört, dass wiederkehrende Schmerzen und Blasenentzündungen Sie sehr mitnehmen“). – Dabei ist es wichtig, aufrichtiges Interesse an der Patientin und ihrer Situation zu zeigen („reflective listening“: z. B. „Ich sehe, es fällt Ihnen schwer, über die Probleme zu sprechen. Um Sie noch besser zu verstehen, möchte ich Sie bitten, mir von Ihrer Familie und Ihrer Großmutter zu erzählen [die die Beschneidung durchgeführt hat]. Vielleicht können Sie beim nächsten Treffen Fotos mitbringen?“). – Immer wieder sind Verhaltensweisen hervorzuheben oder Eigenschaften der Patientin zu würdigen („affirmations“: z. B. „Mich beeindruckt es, wie Sie es schaffen, trotz der wiederkehrenden Erinnerungen jetzt eine fremde Sprache zu erlernen … Es bedeutet viel Mut, sich so weit von den Regeln der eigenen Familie zu entfernen“). – Wenn eine vertrauensvolle Beziehung zur Patientin aufgebaut worden ist, können zusätzliche Techniken veränderungsbezogene Aussagen fördern („change talk“). Fragen zum Perspektivwechsel („Wenn Sie sich nicht operieren lassen, was wird aus Ihrer Sicht in zwei Jahren sein? Was ist der schlimmste Ausgang?“) können die Erstellung einer Vier-Felder-Tafel (siehe Tab. 7.1) mit Vor- und Nachteilen einer Operation einleiten.

Tab. 7.1: Vier-Felder-Tafel.

Kurzfristige Konsequenzen

Gründe gegen eine OP

Gründe für eine OP



Krankenhausaufenthalt vermeiden keine Auseinandersetzung mit der eigenen Angst notwendig …



Auseinandersetzung mit der Familie über die OP ist nicht erforderlich weiterhin schlimme Schmerzen bei der Menstruation …

– –

– – Langfristige Konsequenzen



– –

– –



keine Probleme mehr beim Wasserlassen Selbstsicherheit in Bezug auf den eigenen Körper steigt … weniger Harnwegsentzündungen weniger Schmerzen beim Geschlechtsverkehr …

7.2 Psychosomatische Interventionen im Kontext der Operation  109

Fallen dabei Diskrepanzen auf, können diese in diesem Kontext auch angesprochen werden (z. B. „Sie haben gerade gesagt, dass Sie einerseits sehr unter den körperlichen Beschwerden der Beschneidung leiden. Andererseits wollen Sie den Regeln Ihrer Großmutter und Ihrer Ahnen folgen und sich nicht operieren lassen“). Während eines veränderungsbezogenen Gespräches sollten die Äußerungen der Patientin regelmäßig zusammengefasst werden, damit diese sich beim Hören ihrer Argumente (Pros und Contras einer Operation) beständig mit der eigenen Ambivalenz auseinandersetzt. Columbo-Technik: Ist ein vertrauensvolles Gespräch im Fluss (oder endet bald), kann bei gläubigen Christinnen und Muslima beiläufig (und leicht irritiert) gefragt werden, wie die Beschneidung mit ihrem Glauben an Gott zu vereinbaren ist. Im Christentum wird Gott als Schöpfer der Welt und der Menschen verehrt, der bei Abschluss des Schöpfungsaktes feststellt, dass sein Werk gut ist (Gen 1,31). Von Menschen initiierte Veränderungen am Werk Gottes, hier die Beschneidung, muss daher gut begründet sein, und sollte das Wohl des einzelnen Menschen anstreben. Im Schöpfungsmythos sind die Folgen des Sündenfalls Schmerz, Mühsal und Macht des Mannes über die Frau (Gen 3,16). Im Islam findet sich das gleiche Gottesbild (z. B. al-Furqan 2): Allahs Werk ist gelungen und er [nicht der Mensch] leitet (Tahä 50; al-Ala 1, 2, 3). Die Patientinnen sollten die Bibel- bzw. Koranstellen nachlesen.







Wird die ambivalente Haltung (u. a. durch Gestik und Sitzhaltung) während veränderungsbezogener Techniken offensichtlich, kann diese auch direkt angesprochen werden („express and show sympathy“: z. B. „Ich merke, Sie sind noch sehr mit der Entscheidung am Hadern“). Eine Verschiebung des Gesprächsinhaltes auf das Beibehalten des aktuellen Verhaltens fokussiert die Vorteile, die ausführlich gewürdigt und zusammengefasst werden sollten. Um Veränderungszuversicht zu erfassen und zu fördern, können subjektive Einschätzungen hilfreich sein („Was glauben Sie, wie wahrscheinlich ist es, in Prozent, dass Sie zu der gynäkologischen Sprechstunde übermorgen gehen?“). Dabei können im Anschluss Hürden direkt antizipiert werden („support and develop discrepancy“: z. B. „Wenn Sie nicht hingehen, was werden Sie mir bei unserem nächsten Treffen berichten?“, „Wenn Sie die Aufgabe nicht machen, was wird Ihre beste Ausrede bei unserem nächsten Treffen sein?“). Geschmeidig mit Widerstand umzugehen bedeutet die Haltung der Patientin aufzunehmen und dabei wertschätzend zu bleiben („roll with resistance“: z. B. „Sie können sich im Moment gar nicht vorstellen, sich so einer komplizierten Operation zu unterziehen“). Durch Bestätigung („Sie haben Recht – eine solche Entscheidung können Sie nicht in einer Sitzung treffen.“), Stellen offener Fragen („Was würde sich möglicherweise ändern, wenn Sie sich für eine Operation entscheiden würden?“), Umformulieren („Die Angst vor der Reaktion Ihrer Familie im Heimatland hindert Sie noch daran, diese Option wirklich in Erwägung zu ziehen“) und Betonung der persönlichen Wahlfreiheit und Kontrolle („auto-

110  7 Psycho-sexualmedizinische Betreuung



nomy“: z. B. „Niemand kann Sie zu dieser Operation zwingen – es ist allein Ihre Entscheidung) kann eine neue Perspektive eingeleitet und somit die Reaktanz aufgelöst werden. Erst wenn die vorangegangenen Schritte durchlaufen worden sind, kann eine Veränderungsperspektive aufgebaut werden. Dabei ist es wichtig, dass bei der Zielformulierung darauf geachtet wird, dass konkrete Ziele vereinbart („Die Fragen, die Sie hier gesammelt haben, werden Sie heute Abend nochmal aufschreiben und beim Termin morgen stellen“) und in einer positiven Sprache formuliert werden („Ich werde meine Fragen langsam und ruhig vorlesen“). Zudem werden gezielte Maßnahmen zur Steigerung der Selbstverpflichtung genannt („support self-efficacy“: z. B. „Das Vorgespräch findet in zwei Tagen statt. Sie werden sich den Anfahrtsweg selbst ausdrucken“).

7.2.2 Sexualtherapeutische Interventionen Ziel ist es, die Patientin selbständig neue Verhaltensweisen erproben und in den Alltag integrieren zu lassen bzw. Hindernisse offenbar zu machen. Um der häufig vorkommenden, reduktionistischen Sichtweise auf die Funktion der Genitalien entgegen zu wirken und die postoperativen Veränderungen in die psychosexuelle Identität zu integrieren, sollten zunächst selbstwertstabilisierende Veränderungen am äußeren Erscheinungsbild und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper gefördert werden. Erst anschließend sollten Übungen zur Förderung der sexuellen Gesundheit initiiert werden. Die Teilnahme an einer Gruppe betroffener Frauen kann die Motivation erheblich unterstützen, die folgenden Übungen durchzuführen. In Abhängigkeit von der Veränderungsmotivation sollten diese gestuft erfolgen. Sich etwas Gutes tun Übungen zum Genusserleben [5] erleichtern den Zugang zu später folgenden Übungen, während der sich die Patientin direkt mit ihrem Körper bzw. ihrer körperlichen bzw. sexuellen Reaktion auseinandersetzen soll. Während der Genussübungen sind die Sinne (Riechen, Schmecken, Tasten, Sehen, Hören) idealerweise einzeln anzusprechen (z. B. Verpackung ertasten, Schokolade riechen, auf der Zunge zergehen lassen). Häufig bedarf es bei Übungsbeginn (z. B. bei einer Fußmassage) zunächst der direkten Anleitung bzw. des Modells durch die Therapeutin. Begleitende Fragen (z. B. „Was gefällt mir?“, „Was tut mir gut?“, „Was präferiere ich?“, „Mit welchen Materialien?“) lassen sich exemplarisch für folgende Übungen einführen. Diese sollten von der Betroffenen in den Alltag übernommen werden.

7.2 Psychosomatische Interventionen im Kontext der Operation  111

Vertraut werden mit dem eigenen Körper Um den eigenen Körper kennen und akzeptieren zu lernen, sind während des Duschens alle Körperteile langsam zu waschen und anschließend aufmerksam einzucremen [6]. Möglicherweise kann auch der ganze Körper von allen Seiten mit einem großen Spiegel betrachtet werden. Im direkten Anschluss sollten auf einer Körpersilhouette die Körperteile gekennzeichnet werden, deren Betrachtung und Berührung als angenehm bzw. unangenehm erlebt wird. Körperbezogene Bewertungsprozesse und damit einhergehende Emotionen (z. B. Scham, Ekel, Angst) sind unter Einbeziehung einer Körpersilhouette therapeutisch leichter zugänglich und sollten in einem zeitnahen Gespräch bearbeitet werden. Bereits zu diesem Zeitpunkt wird die Patientin lernen, dass Übungen immer mit einer gemeinsamen Auswertung verbunden sind, die eine dokumentierte Selbstbeobachtung voraussetzen. Vermittlung von Informationen zur sexuellen Gesundheit Um wichtige medizinische und psychosoziale Bedingungen der Sexualität zu erfassen, sollte eine Sexualanamnese erhoben werden ([7]; im Detail). Dabei ist auch die eigene sexuelle Reaktion während der letzten sexuellen Stimulation grafisch darzustellen. Hindernisse für den weiteren Prozess (z. B. sexuelle Mythen und Ängste) lassen sich so schneller erkennen und ausräumen. Unter Zuhilfenahme von Abbildungen der weiblichen Genitalien lassen sich die unterschiedlichen Folgen der Genitalbeschneidung erklären. Der Anblick von entsprechenden Abbildungen dient auch der Habituation oben genannter Emotionen. Durch regelmäßige Einschätzungen des aktuellen Belastungsgrades, detaillierte Beschreibungen der Abbildungen und Zusammenfassungen der Folgen durch die Patientin selbst, sollte der Habituationsprozess soweit zeitlich verlängert werden, bis die physiologische Reaktion und subjektive Belastung ausreichend abgenommen hat. Streichelübungen Ein zentraler Baustein einer sexualitätsfördernden Behandlung sind Streichelübungen [8]; mit ausführlicher Anleitung. Orientiert an einem Programm zur Behandlung von Orgasmusstörungen wird empfohlen, Streichelübungen zunächst alleine und nackt in angenehmer und ungestörter Atmosphäre durchzuführen ([6]; geeignet auch als Begleitbuch). Im Sinne eines gestuften Vorgehens werden dabei Extremitäten, Brust, Genitalien und individuelle Tabuzonen beim Streicheln anfangs ausgespart. Das Streicheln des Körpers kann durch Entspannungs- (z. B. Vaginales Training nach Kegel) und Vorstellungsübungen (ggf. inklusive erotischer Fantasien) ergänzt werden. Mithilfe eines Handspiegels sollte die Patientin ihren Genital- und Afterbereich prä- und postoperativ betrachten (lernen). Streicheln, Erkunden bzw. Stimulieren der Genitalien sollten erst postoperativ nach Abheilung der Wunden initiiert werden. In Absprache mit den zuständigen Fachärzten sollte die Betroffene auch

112  7 Psycho-sexualmedizinische Betreuung

Hilfsmittel (Salben, Vibrator) nutzen. Zu einem späteren Zeitpunkt kann der Partner in die Streichelübungen einbezogen werden.

7.2.3 Umgang mit der posttraumatischen Symptomatik Zuallererst sollte die Patientin umfassend über alle Aspekte der Erkrankung aufgeklärt werden. Es ist wichtig, die Symptomatik einer Belastungsreaktion bzw. Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu normalisieren, z. B. mittels folgender Erklärung für die Patientin: „Während des bzw. der traumatischen Ereignisse konnte das Gehirn nicht alle einströmenden Informationen verarbeiten, sondern war gezwungen, einzelne Informationen in einer Rohversion zu speichern, die immer noch so erlebt werden, als ob das Geschehen im „hier und jetzt passiert“. Bei der Vermittlung erster Schritte zur Bewältigung sind schriftliche Informationsmaterialien über verschiedene psychische Erkrankungen hilfreich, die didaktisch aufbereitet in verschiedenen Sprachen (u. a. Arabisch, Farsi, Türkisch) vorliegen (http://www.pknds. de/37.0.html). Um die Übererregung zu reduzieren und gegen die depressive Symptomatik anzugehen, werden in Abhängigkeit von der körperlichen Fitness tägliche Bewegung (mindestens zweimal 20 Minuten) und/oder wöchentlich mehrfach durchzuführender Sport empfohlen. Leicht zu erlernende Entspannungs- bzw. Atemtechniken können zusätzlich hilfreich sein. Zu prüfen ist, ob diese Interventionen vor einer Operation ausreichen, da eine traumafokussierende Behandlung viel Zeit (ca. 15 bis 20 Sitzungen) in Anspruch nimmt und eine zeitweise Symptomaggravation bedingen kann. Gemäß der AWMF-Leitlinien [9] können verschiedene traumafokussierende Verfahren zur Behandlung der PTBS angewendet werden. Im Kontext von meist mehrfach traumatisierten Flüchtlingen hat sich aber die Narrative Expositionstherapie (NET) als kultursensible, leicht durchzuführende und effektive Maßnahme erwiesen ([10]; für das detaillierte Vorgehen). Referenzen [1] [2] [3]

[4] [5]

Inter-African Committee on Traditional Practices. Declaration on the Terminology FGM. 6th IAC General Assembly 2005, 4–7. Utz-Billing U, Kentenich H. Female genital mutilation: an injury, physical and mental harm. J Psychosom Obst Gyn. 2008;29:225–229. Kluge U. Sprach- und Kulturmittler in interkulturellen psychotherapeutischen Setting. In: Machleidt W & Heinz A. Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie – Migration und psychische Gesundheit. München, Urban & Fischer, 2011, 145–154. Miller WR, Rollnick S. Motivational interviewing: Preparing people to change addictive behavior. New York, Guilford Press, 1991. Koppenhöfer E. Kleine Schule des Genießens: Ein verhaltenstherapeutisch orientierter Behandlungsansatz zum Aufbau positiven Erlebens und Handelns. Groß Umstadt, Pabst Science Publishers, 2004.

7.3 Jugendliche Patientinnen, die darunter leiden, dass sie genitalbeschnitten wurden  113

[6]

Heimann J, LoPiccolo L, LoPiccolo J. Gelöst im Orgasmus: Entwicklung des sexuellen Selbst-Bewusstseins für Frauen. Verlag für humanist Psychologie Flach, 1978. [7] Gromus B. Sexualstörungen der Frau. Göttingen, Hogrefe-Verlag, 2002. [8] Maß R, Bauer R. Lehrbuch Sexualtherapie. Stuttgart, Klett-Cotta, 2016. [9] Schäfer I, Gast U, Hofmann A, Knaevelrud C, et al. S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung. Berlin, Springer-Verlag, 2019. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/155-001.html. [letzter Zugriff: 02.06.2020]. [10] Schauer M, Ruf-Leuschner M. Lifeline in der Narrativen Expositionstherapie. Psychotherapeut. 2014;59:226–238.

7.3 Jugendliche Patientinnen, die darunter leiden, dass sie genitalbeschnitten wurden Fana Asefaw Bericht einer 17-jährigen, genitalbeschnittenen Patientin „Ich bin Sudanesin, aufgewachsen in einer kleinen Stadt in der Nähe der Hauptstadt Khartum. Ich wurde im Alter von ca. vier Jahren genitalbeschnitten. Ich hatte bis vor kurzem keine Erinnerungen daran. Im Sudan hatte ich auch nicht groß darunter gelitten, außer, dass ich lange brauchte, um zu urinieren. Ich dachte damals, dass es normal sei, weil alle Mädchen lange dazu brauchten. Erst als ich im Alter von 15 Jahren in die Schweiz kam, habe ich langsam begriffen, dass andere Mädchen viel schneller ihre Blase entleeren konnten als ich. Zudem hatte ich mit 16 Jahren, im Gegensatz zu vielen Mädchen, mit denen ich befreundet war, immer noch keine Menstruationsblutung. Mit fast 17 Jahren hatte ich regelmäßig Bauchschmerzen und mein Unterbauch begann anzuschwellen. Nach einigen Monaten sah ich aus wie im vierten Monat schwanger. Ich schämte mich sehr dafür, sogar mein Rock passte mir inzwischen nicht mehr. Ich vertraute mich meiner Schulsozialarbeiterin an, und sie ermutigte mich, zum Arzt zu gehen. Der Hausarzt untersuchte mich und machte ein Ultraschall. Er überwies mich ins Krankenhaus. Dort erklärte mir eine Frauenärztin, dass sich bei mir viel Menstruationsblut im Unterleib angesammelt habe und dies der Grund für meine Bauchschmerzen sein könnte. Sie erklärte mir, dass mein Genital ziemlich eng zugenäht worden ist und das Blut nicht abfließen könne. Dies sei wohl auch der Grund, warum ich zum Urinieren so lange bräuchte. Mir wurde empfohlen, mich möglichst bald operieren zu lassen, d. h. zu „deinfibulieren“, damit das Blut abfließen kann. Ich konnte nicht sofort zustimmen, obwohl meine Beiständin, meine Sozialarbeiterin, verschiedene Ärzte und Freundinnen, mich dazu drängten. Meine Angst, „sich öffnen zu lassen“ ohne verheiratet zu sein, war groß, denn in meiner Kultur war das sehr negativ besetzt. Das hat niemand verstanden! Nach einigen Wochen stimmte ich der Operation trotzdem zu, weil ich die Schmerzen nicht mehr aushielt, eine systemische Infektion mit Fieber bekommen hatte und mein Allgemein-

114  7 Psycho-sexualmedizinische Betreuung

zustand sich wesentlich verschlechtert hatte. Ich musste länger als geplant im Krankenhaus bleiben, da es Komplikationen gab und ich im Anschluss immer wieder Infektionen und Fieber bekam. Obwohl ich regelmäßig mit meiner Mutter im Sudan telefonierte, traute ich mich nicht, mit ihr über meine Operation zu sprechen. Gerne hätte ich ihr erzählt, wie sehr ich wegen der Genitalbeschneidung, die sie mir als Kind „angetan“ haben, zu leiden hatte. Aber da ich wusste, dass eine traditionelle Denkweise dahintersteckte, konnte ich niemandem wirklich böse sein. Trotzdem war ich immer wieder verärgert, traurig, wütend, verzweifelt, wenn ich mal wieder eine Entzündung oder starke Schmerzen hatte. Das Schlimmste für mich war, dass ich mich niemanden anvertrauen konnte. Mit der Zeit zog ich mich immer mehr zurück und weinte heimlich, besonders nachts. Ich war erschöpft, hatte keine Lust mehr auf die Schule und keinen Appetit. Dann wurde ich einer Schweizer Psychologin vorgestellt. Ihr erzählte ich von meiner Genitalbeschneidung und den Folgen, mit denen ich mich herumquälte. Bevor ich ihr die ganze Geschichte fertig erzählen konnte, war sie den Tränen nahe. Immer, wenn ich versuchte, darüber zu sprechen, wurde sie plötzlich sehr emotional und sie fing an, meine Mutter zu verurteilen, in dem sie immer wieder sagte: ‚Wie kann eine Mutter einem Kind so etwas Schreckliches und Barbarisches antun! Sie hat dich für dein ganzes Leben verstümmelt.’ Diese Worte haben mich sehr betroffen gemacht. Ich fühlte mich noch elender als vorher, hatte das Gefühl, dass ich meine Mutter verteidigen musste und fing an, alles zu verharmlosen. Ich hatte den Eindruck, dass die Therapeutin mir gar nicht helfen konnte. Ich ging nicht mehr zu ihr. Dann ging es mir immer schlechter, bis ich nach ein paar Monaten einer Kinder- und Jugendpsychiaterin mit bikulturellem Hintergrund vorgestellt wurde. Was mir in der Begegnung mit dieser Frau half, war, dass sie mir zunächst viel Zeit ließ, um Vertrauen zu ihr aufzubauen. Sie kannte sich auch mit den gesundheitlichen Folgen aus. Sie war mir gegenüber sehr einfühlsam, zeigte aber eine neutrale Haltung. In der therapeutischen Auseinandersetzung mit ihr habe ich langsam begriffen, dass ich jemanden brauchte, der in der Lage war, meine eigene Ambivalenz zu verstehen. Einerseits die Wut auf meine Mutter und meine Ethnie, die mir das angetan haben, andererseits, dass es traditionelle und kulturelle Gründe waren und keine Absicht mich zu misshandeln. Auch begriff ich, dass ich bisher keine Möglichkeit bekommen hatte meinen eigenen Emotionen Raum zu geben. Weil meine Umwelt vorab sehr emotional und negativ reagierte und sofort meine Mutter und meine Kultur verurteilte, fühlte ich mich immer schnell dazu veranlasst, mich zu verteidigen und ließ keine negativen Emotionen zu. In der kultursensiblen Therapie bekam ich Raum, meine tiefe Trauer und auch Unverständnis, Wut, Empörung zu bearbeiten. Auch kamen plötzlich Erinnerungen an die Beschneidung, die ich im Alter von ca. vier Jahren erlebt hatte. In einer Therapiestunde erinnerte ich mich plötzlich genau an die Szene. Und dass ich direkt im Anschluss viel geweint hatte und beim Urinieren mich ein starkes Brennen schmerzte. Lange hatte ich Angst davor Wasser zu lassen! Ich konnte mich aber nicht an alle Einzelheiten erinnern. Nach jeder Thera-

7.3 Jugendliche Patientinnen, die darunter leiden, dass sie genitalbeschnitten wurden  115

piestunde, die oft länger als 60 Minuten dauerte, hat sich die Therapeutin vergewissert, dass es mir wieder gut geht, und wir haben immer mit dem abgeschlossen, was aktuell gut funktioniert, dass ich Ressourcen habe, dass ich trotzdem viel Freude und Glück im Leben habe. Im Verlauf ermutigte mich die Therapeutin, die gesundheitlichen Komplikationen, die mir widerfahren sind, meiner Mutter zu erzählen. Und sie auch zu fragen, ob sie selber gesundheitliche Probleme mit der Beschneidung habe. Die Therapeutin sagte, auch wenn du es nicht abschickst, es ist therapeutisch wirksam, wenn du es aufschreibst und in die Therapie mitbringst. Das habe ich dann auch gemacht. Es half mir zu begreifen, wie tabu das Thema für mich ist, meine eigene Ambivalenz wurde deutlich, aber auch, wie sehr ich darunter leide, dass mein äußeres Genital nicht normal aussieht. Ich schämte mich immer dafür. Dann begriff ich, dass ich gar keine Schuld trage. In meiner Kultur würde ich mich dafür nicht schämen, weil alle Frauen so aussahen und mehr oder weniger die gleichen Komplikationen hatten wie ich. Im Therapieverlauf lernte ich für mich und meine Situation Verständnis zu haben. Ich fing an, meine beschnittenen Genitalien und die Komplikationen, die mir widerfahren sind, in mein Leben zu integrieren, meine ambivalente Haltung zu verstehen und meine eigene Betroffenheit darüber und auch meine negativen Emotionen auszusprechen und mit Hilfe der Therapeutin zu verarbeiten. Auch lernte ich, mich nicht als Traumatisierte abstempeln zu lassen, sondern neue Strategien im Umgang damit zu entwickeln. Am Ende traute ich mich sogar, das Tabuthema gegenüber meiner Mutter zu erwähnen und schickte meinen Brief an sie ab. Sie hat es gut aufgenommen und war sehr betroffen darüber. Wir konnten am Telefon in Ruhe darüber sprechen und es tat ihr aufrichtig leid, dass ich so einen langen Leidensweg gehen musste. Inzwischen geht es mir wieder gut. Nicht die Therapieform ist entscheidend gewesen, sondern einem Menschen zu begegnen, der mir geholfen hat, meine eigenen Gedanken und Gefühle zu dem, was mir passiert ist, zu verstehen, zu ordnen und zu verarbeiten und letztendlich in mein Leben zu integrieren und neue Strategien im Umgang damit zu entwickeln.“

8 Operative Techniken: Was ist möglich? 8.1 Extensive Verletzungen: Rektovaginale Fisteln Roland Scherer Versorgung von Rektovaginalen Fisteln Rektovaginale und vesikovaginale Fisteln in Afrika entstehen in der Regel postpartal durch Druck und Ischämie der Scheidenhinter- und Scheidenvorderwand. Hauptursächlich sind protrahierte Geburtsverläufe oder Geburtsstillstände mit konsekutiver Drucknekrose der umliegenden Gewebe. Inwieweit die Narbenbildung nach FGM oder das zu enge Becken bei sehr jungen Gebärenden hauptursachlich ist, ist nicht abschließend geklärt. Therapieprinzipien bei der Versorgung von Rektovaginalen Fisteln Rektovaginale Fisteln müssen immer chirurgisch versorgt werden. Spontanheilungen sind bei postpartalen rektovaginalen Fisteln mit größeren Gewebsdefekten durch den hohen Druckunterschied zwischen Rektum und Vagina nicht zu erwarten. Postpartal sollte allerdings vor der operativen Versorgung mindestens drei, besser sechs Monate gewartet werden, da der Beckenboden sich postpartal rekonditioniert. Bei großen Defekten mit viel Stuhlabgang über die Scheide und Infektionen der umliegenden Gewebe muss vor der operativen Versorgung ein Sigmoidostoma angelegt werden. Am sinnvollsten ist die Anlage eines doppelläufigen Sigmoidostomas, wenn möglich laparoskopisch. Der abführende Schenkel kann direkt am Stoma mit einer Klammernaht verschlossen werden. Bei einem doppelläufigen Sigmoidostoma ist die spätere Rückverlagerung technisch am einfachsten. Operative Prinzipien Das Grundprinzip bei der Versorgung rektovaginaler Fisteln ist der sichere Verschluss der Rektumwand. Dieser Verschluss muss immer mehrschichtig erfolgen, da aufgrund des hohen Drucks im Rektum eine direkte einfache Naht nicht zur Heilung führen kann. Rektovaginale Fisteln sind sehr kurzstreckig. Das Spatium rektovaginale muss bei der Operation mehrschichtig rekonstruiert werden, es muss Gewebe zwischen der Rektumvorderwand und der Scheidenhinterwand interponiert werden. Hierfür sind verschiedene Techniken bekannt (Tab. 8.1).

https://doi.org/10.1515/9783110481006-008

118  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Der Zugangsweg hängt wesentlich von der Höhe der rektovaginalen Fistel ab. Postpartale Fisteln sind in der Regel im mittleren und unteren Scheidendrittel lokalisiert und können von perineal versorgt werden. Operative Technik des transperinealen Fistelverschlusses In der Primärsituation hat sich der transperineale Zugang am besten bewährt. Der Eingriff wird in Steinschnittlage (SSL) durchgeführt. Wichtig ist ein ausreichend großer Schnitt von 9–3°° SSL (Abb. 8.1). Bei der Versorgung der rektovaginalen Fistel ist es essentiell ausreichend weit in Spatium rektovaginale bis mindestens 2 cm oberhalb des rektalen Gewebsdefekts zu präparieren (Abb. 8.2). Sonst ist ein spannungsfreier Verschluss der Rektumwand nicht möglich.

Abb. 8.1: Hautschnitt von 9–3°° SSL. Dann wird am Oberrand des Musculus sphincter ani externus entlang ins Spatium rektovaginale präpariert.

Abb. 8.2: Vollständige Präparation des Spatium rektovaginale.

8.1 Extensive Verletzungen: Rektovaginale Fisteln  119

Bei der Präparation ist sorgfältig auf die venösen Gefäße im Bereich der Scheidenhinterwand zu achten, hier kommt es öfter zu stärkeren venösen Blutungen die umstochen werden müssen. Nach Abschluss der Operation sollte immer eine Tamponade der Scheidenhinterwand erfolgen, um hier eine vollständige Bluttrockenheit zu gewährleisten. Zusätzlich wird ein transurethraler Dauerkatheter gelegt, um Pressen beim Wasserlassen postoperativ zu vermeiden. Nach 48 Stunden können die Tamponade und der Katheter entfernt werden. Nach der Präparation des Spatium rektovaginale bis deutlich oberhalb der Fistel wird das Fistelgewebe exzidiert. Dann wird der Rektumwanddefekt vom Spatium rektovaginale aus mehrschichtig verschlossen. 1. Zunächst wird die Rektumschleimhaut 3-0 Vicryl Einzelknopfnähten genäht. 2. Dann wird die Rektummuskularisschicht mit 3-0 Vicryl fortlaufender Naht versorgt. 3. Dann empfiehlt es sich die Schenkel des Musculus levator ani beidseits lateral aufzusuchen und über der Rektumnaht zu interponieren. Diese Levatorenschenkel finden sich bei 2 und 10°° SSL am Oberrand des Musculus sphinkter ani externus. Nach stumpfer Darstellung der Levatorenschenkel werden diese mit 3 2-0 PDS Nähten in der Mittellinie vereint. Drei Nähte sind ausreichend, da sonst die Durchblutung kompromittiert werden kann und durch die Verengung der Scheidenhinterwand Schmerzen beim Geschlechtsverkehr auftreten können (Abb. 8.3). Anschließend wird die Scheidenhinterwand mit 3-0 Vicryl Naht verschlossen. Die Haut sollte nur genäht werden, wenn ein spannungsfreier Verschluss möglich ist (Abb. 8.4), ansonsten kann sie zur Infektprophylaxe primär offen bleiben. Zur Infektprophylaxe ist vor einem Wundverschluss auf eine akkurate Blutstillung zu

Abb. 8.3: Levatorennaht.

120  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Abb. 8.4: Abschluss primärer Wundverschluss.

achten, postoperative Hämatome führen in der Regel zu Wundinfekten. Bei sorgfältiger Blutstillung und spannungsfreiem Wundverschluss kann auf eine Wunddrainage verzichtet werden. Häufig sind postpartale Fisteln allerdings auch mit einem breiten Sphinkterdefekt der Musculus sphincter ani externus und internus kombiniert. Dann muss das Narbengewebe komplett exzidiert werden und später nach Versorgung der rektovaginalen Fisteln auf dem Rückweg der Analsphinkter rekonstruiert werden. Hierbei ist zu beachten das die Analsphinkterstümpfe in der Regel bis nach 10°° und 2°° Steinschnittlagerung retrahiert sind, daher müssen Sphinkterstümpfe bis weit nach lateral präpariert und mobilisiert werden, um sie ohne Spannung Stoß auf Stoß oder überlappend rekonstruieren zu können. Eine Stoß auf Stoß Rekonstruktion ist dabei ausreichend. Prä- und postoperative Versorgung Präoperativ ist bei größeren Defekten eine orthograde Darmspülung sinnvoll. Intraoperativ sollte immer eine Single shot Antibiotikaprophylaxe durchgeführt werden. Bei infizierten Wundverhältnissen sollte diese Antibiotikatherapie für sieben Tage fortgeführt werden. Postoperativ wird eine Scheidentamponade und ein transurethraler Dauerkatheter für 48 Stunden eingelegt. Nach 48 Stunden kann die Tamponade entfernt werden. Die Wunden werden postoperativ ausgeduscht und mit einer Panthenol Salbe versorgt. Entscheidend ist das drei Monate kein Geschlechtsverkehr durchgeführt wird. Nach Abschluss der Wundheilung kann nach vier Wochen mit einem Beckenbodentraining begonnen werden, was insbesondere nach gleichzeitiger Versorgung von Sphinkterdefekten wichtig ist.

8.1 Extensive Verletzungen: Rektovaginale Fisteln  121

Tritt trotz optimaler Operationstechnik ein Fistelrezidiv auf, ist eine erneute Fistelversorgung nur unter Stomaschutz mit einem doppelläufigen Anus praeter sigmoidalis sinnvoll. Unter Stomaschutz kann dann das lokale Verfahren wiederholt werden. Wenn die Fistel dann wieder nicht heilt, muss in der Regel ein Gewebetransfer durchgeführt werden. Hierfür haben sich der Martius Flap und die Interposition des Musculus gracilis am besten bewährt. Diese Eingriffe sind aber sehr aufwendig und sollten nur in Zentren mit hoher Expertise durchgeführt werden (Abb. 8.5). Ist die rektovaginale Fistel unter Stomaschutz ausgeheilt, sollte die Anus praeter Rückverlagerung frühestens drei Monate, besser sechs Monate nach der Fisteloperation durchgeführt werden. Im Rahmen der Rückverlegung sollte eine proktologische und gynäkologische Untersuchung in Narkose durchgeführt werden, um einen vollständigen Fistelverschluss nachweisen zu können. Tab. 8.1: Operationsverfahren bei rektovaginalen Fisteln. Lokale Verfahren: – Mucosal advancement flap repair – Transanal sleeve advancement flap – Fibrinkleber – Transperinealer Verschluss Gewebetransfer-Verfahren: – Musculus Gracilis-Interposition – Bulbocavernosus Flap (Martius Flap) Abdominelle Verfahren (nur für hohe Fisteln): – tiefe anteriore Rektumresektion – Netzinterpositionsplastik

R.-V. Fistel distal

proximal abdominelle OP

Heilung

perinealer Repair 12 Wochen A. p. sigmoidalis 6 Wochen

Heilung

lokaler Repair

Heilung

Gracilisplastik

Persistenz

Persistenz Turnbull Abb. 8.5: Algorithmus bei rektovaginalen Fisteln.

122  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Konsequenzen für zukünftige Schwangerschaften und Geburten Nach der Versorgung von recht komplexeren rektovaginalen oder rektovesikalen Fisteln sind zukünftige Schwangerschaften möglich. Die Entbindung sollte aber in jedem Fall per Sektio erfolgen.

8.2 Urologische Aspekte, Chirurgie unter einfachen Bedingungen Thilo Schwalenberg Funktionsstörungen des Harntraktes nach „Female Genitale Mutilation“ (FGM) haben ihren Ursprung in einer Miktionsstörung, die sich in einer vermehrten Miktionsfrequenz, als Harninkontinenz oder erschwerte Miktion bis hin zum kompletten Harnverhalt manifestieren kann. Dabei muss eine Funktionsstörung am Harntrakt nicht unmittelbare Folge nach genitalverstümmelten Eingriffen sein, sondern kann sich sowohl durch einen langsam zunehmenden Vernarbungsprozess der Harnröhre als auch infolge einer Fistelbildung zwischen Harn- und Genitaltrakt über einen längeren Zeitraum entwickeln (Abb. 8.6). Daher sind Kenntnisse zur möglichst frühzeitigen Erfassung urologischer Beschwerden und sichtbarer Veränderungen am äußeren Genitale auch durch medizinische Laien essenziell für die Vermeidung irreversibler Spätschäden. Der Zeitfaktor bis zu einer Therapieeinleitung spielt hierbei eine weakutes Harnröhrentrauma

chronische Stenosierung der Harnröhre

Blutung, Schmerz, Dysurie, Urethritis Dysurie Urethralsyndrom

Stenosierung der Scheide Infibulation Geburtstrauma

Restharn

urogenitale Fistel

Harnwegsinfektion Zystitis

Harninkontinenz

Keimaszension oberer Harntrakt

Kapazitätsverlust der Harnblase

Pyelonephritis Nierenabszess

Harnblasenersatz

Urolithiasis

Nierenfunktionsverlust

Abb. 8.6: Schema Schädigungsmechanismus.

8.2 Urologische Aspekte, Chirurgie unter einfachen Bedingungen  123

sentliche Rolle, da der Harntrakt als geschlossenes Organsystem einer fein abgestimmten Druckregulation zur Urinspeicherung und Urinentleerung unterliegt. Die Störung dieser Druckregulation über einen längeren Zeitraum führt zu Veränderungen in der Organmorphologie mit Beeinträchtigung der Harnblasenfunktion und unter Umständen des oberen Harntraktes. Die Folgen sind Harnretention, rezidivierende Harnwegsinfektionen, chronische Zystitiden, Harnsteinbildung und bei permanenter Abflussbehinderung des oberen Harntraktes die Schädigung der Nierenfunktion. Neben der Primärschädigung des Harntraktes bei Genitalverstümmelung sind zum späteren Zeitpunkt aufgrund einer narbig verengten Scheide die traumatische Läsion von Harnröhre und Harnblase bei der Geburt, beim Geschlechtsverkehr oder bei einer Deinfibulation möglich.

8.2.1 Diagnostisches Vorgehen In den wenigsten Fällen einer Schädigung des Harntraktes nach FGM können Betroffene, zumal in afrikanischen Ländern, von einem Urologen untersucht werden. Es erscheint daher sinnvoll, ein diagnostisches Schema vor sich zu haben, welches auch von medizinischen Laien und Medizinern anderer Fachrichtungen zur Anwendung gebracht werden kann. Das Erfragen urologischer Symptome zielt dabei auf die Miktionsanamnese, Schmerzanamnese und Infektzeichen. Miktionsanamnese Bei der Erhebung der Miktionsanamnese sind grundsätzlich eine gehäufte Miktion (Pollakisurie), eine schmerzhafte oder erschwerte Miktion (Dysurie), ein ungewollter Harnabgang (Harninkontinenz) und ein kompletter Harnverhalt zu unterscheiden. Eine Pollakisurie kann Symptom einer Harnwegsinfektion oder auch einer abakteriellen Zystitis sein. Bei einer chronischen Überdehnung der Harnblase aufgrund von Vernarbungen an der Harnröhre kommt es mitunter zum Überlaufen der Harnblase, was sich auch als Pollakisurie äußern kann. Somit ist bei der Erhebung der Miktionsanamnese neben der Miktionsfrequenz die Beurteilung der Blasenentleerung wichtig. In medizinischen Einrichtungen gelingt das mittels Ultraschall, alternativ durch die Bestimmung des nach der Miktion verbliebenen Restharns mit einem Einmalkatheter. Unter einfachen Bedingungen lässt sich die Entleerung der Harnblase auch durch das Abtasten der Blasenregion grob beurteilen. Liegt der Verdacht einer unvollständigen Blasenentleerung nahe, erfolgt im Weiteren die Inspektion der Harnröhre und Scheide. Harninkontinenz aufgrund einer Fistel zwischen Harntrakt und Scheide ist einfach zu erfragen. Ist die Harnblase miterfasst, berichten die Betroffenen über einen permanenten Urinverlust aus der Scheide, der sich insbesondere beim Laufen und bei Lagewechsel bemerkbar macht. Ist die Fistel auf die Harnröhre beschränkt und der Schließmuskel intakt, wird die Inkontinenz bei der Miktion bemerkt. In Abhän-

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gigkeit der Höhe der Harnröhrenfistel können verschiedene Beschwerden bei der Miktion resultieren. Charakteristisch sind ein abgelenkter Harnstrahl mit Entleerung in die Scheide, oftmals ein Nachträufeln von Urin und brennende Schmerzen in der Harnröhre. Auch hier folgt die Inspektion von Harnröhre und Scheide zur Feststellung der Lokalisation der Fistel. Schmerzanamnese Den Harntrakt betreffend sind Schmerzen ohne und während der Miktion zu differenzieren. Schmerzen während der Miktion werden von den Betroffenen als stechend oder brennend beschrieben, was auf Entzündungen und narbige Verengungen in der Harnröhre und an der Harnröhrenmündung schließen lässt. Eine Verlegung der Harnröhre kann mitunter auch durch einen Harnröhrenstein bedingt sein. Harnröhrenschmerzen, die nicht durch eine Infektion ausgelöst werden und auch keine morphologischen Veränderungen in der Harnröhre als Ursache haben, werden wegen der nicht geklärten Genese als Urethralsyndrom zusammengefasst [2]. Betroffene nach FGM mit Verletzungen der Klitoris und des Harnröhrenausganges können derartige Schmerzen äußern. Ursächlich ist eine Affektion sensorischer Nervenfasern aus dem Nervus pudendus, der diese Region innerviert. Aber auch chronisch entzündliche Veränderungen der Harnröhrenschleimhaut können ein Urethralsyndrom markieren. Hierbei werden Schmerzrezeptoren in der Harnröhrenwand aktiviert, ohne dass dieser Pathomechanismus einer Diagnostik zugänglich ist. Das in der europäischen Medizin oftmals auf eine psychosomatische Genese reduzierte Urethralsyndrom hat bei Patientinnen nach FGM wegen der initial traumatischen Ursache am Ort der entstehenden Schmerzen eine relevante medizinische Bedeutung. Schmerzen in der Blasengegend kommen eher in Ruhe vor, äußern sich als imperativer Harndrang und werden subjektiv als nicht unterdrückbares Blasendruckgefühl wiedergegeben. Ursachen sind eine Zystitis bei Vorliegen einer Harnwegsinfektion oder die Reizung der Harnblasenschleimhaut durch einen Harnblasenstein. Die Steinbildung selbst ist das pathologische Korrelat einer permanenten Restharnbildung infolge einer chronischen Abflussbehinderung bei der Miktion. Selten, aber durchaus nach einer Infibulation möglich und bei der Versorgung von Betroffenen gesehen sind durch den vaginalen Urinverhalt Harnsteinbildungen in der Scheide, die ganz unspezifische Symptome im kleinen Becken auslösen können. Aszendierende Harnwegsinfektionen betreffen den oberen Harntrakt, insbesondere das Nierenbecken und das Nierenparenchym. Typisch sind Schmerzen im Nierenlager, die sich beim Klopfen auf die Nierenregion verstärken. Auch Schmerzen entlang der Flanken und im Bauchraum können eine komplizierte Harnwegsinfektion mit Beteiligung des oberen Harntraktes anzeigen. Derartig geäußerte Schmerzen bedürfen einer raschen Therapieeinleitung, da der Übertritt von Bakterien aus dem Nierenbecken in das Nierenparenchym droht, was zu einem Nierenabszess mit Verlust der Niere führen kann.

8.2 Urologische Aspekte, Chirurgie unter einfachen Bedingungen  125

Infektzeichen Der Harntrakt verfügt neben den Barrieremechanismen der Schleimhaut, die Infektionen abwehren, über Prinzipien, die eine forcierte Eliminierung von Bakterien durch den kontinuierlichen Harnabtransport ermöglichen und zudem den Harntrakt anatomisch in verschiedene Kompartimente untergliedern, so dass beim Vorliegen einer Harnwegsinfektion die bakterielle Besiedlung des gesamten Harntraktes vermieden wird. Werden diese Prinzipien gestört, kann sich eine symptomatische Harnwegsinfektion entwickeln, was sich als Pollakisurie und Dysurie, Fieber sowie einer Farb- und Geruchsveränderung des Urins bemerkbar macht. Grundsätzlich ist Urin steril. Der Harnröhrenschließmuskel verhindert ein Eindringen von Bakterien in die Blase, ein Schließmuskelsystem am Eintritt der Harnleiter in die Harnblase eine Keimaszension in Richtung Nieren. Verletzungen dieser Schließmuskel, Fistelungen der Harnröhre und Harnblase zur Scheide, führen zu einer permanenten Infektion des Harntraktes, die nicht zwingend symptomatisch sein muss. Fieber ist ein Alarmzeichen und Symptom einer aufsteigenden Harnwegsinfektion mit Beteiligung der Nieren.

8.2.2 Therapieoptionen Grundsätzlich lassen sich die Therapieoptionen bei Harntraktschädigung nach FGM in folgende Kategorien einteilen: – Infekttherapie – Steintherapie – Fistelchirurgie – komplexe Rekonstruktion unter Ausschaltung der Harnblase. Dazu kommen vor allem bei harninkontinenten Patientinnen psychotherapeutische Maßnahmen zur sozialen Reintegration und physiotherapeutische Komplementärtherapien zur Restitution der Schließmuskelaktivität. Letztendlich ist die Therapie bei Beteiligung des Harntraktes ein komplexes Feld. Aus dem eigenen Erleben bei der urologischen Versorgung betroffener Frauen in Afrika sind vor operativen Eingriffen mit Rekonstruktionen des Harntraktes oftmals Ernährungstherapien notwendig, um eine Operationsfähigkeit erreichen zu können. Die jahrelange Harninkontinenz mit einer sozialen Isolation führen viele Betroffene in eine kritisch katabole Situation. Insbesondere bei Ausschaltung der Harnblase und Harnumleitung in Darmsegmente können metabolische Störungen dann zum ernsthaften Problem werden, was eine entsprechende präoperative Konditionierung erfordert. Auch wenn derartige Eingriffe eher die Ausnahme sind, ist es gerade ein fachspezifisch urologischer Anspruch, diese Frauen nicht unversorgt zu lassen. Weniger kompliziert und häufig in der Anwendung ist die antibiotische Therapie von Harnwegsinfektionen. Zu klären ist dabei aber immer die Ursache der Infektion. Nicht die Leukozyturie, sondern der symptomatische Harnwegsinfekt rechtfertigt ei-

126  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

ne Applikation von Antibiotika. Bei chronischen Abflussbehinderungen infolge von Vernarbungen der Harnröhre kann es zur Restharn- und konsekutiver Steinbildung kommen. Eine Antibiotikagabe verschafft hier kurzzeitig Besserung, wird aber die rezidivierende Besiedlung von Bakterien am Konkrement nicht verhindern. Gleiches gilt für Steine in der Harnröhre und im oberen Harntrakt. Generell sind bei einer antibiotischen Therapie von Harnwegsinfektionen wegen der hohen Resistenzentwicklung die aktuellen Empfehlungen der Fachgesellschaften zu berücksichtigen [6,8]. Als Entscheidungshilfe sollte aber für jeden Therapeuten eine allgemein anerkannte Unterteilung der Harnwegsinfektionen in die des unteren (Harnblase, Harnröhre) und des oberen (Harnleiter, Nierenbecken, Nierenparenchym) Harntraktes gelten. Bei einer Zystitis muss zwischen einer unkomplizierten und komplizierten Harnwegsinfektion, die unter Umständen zur Keimaszension in den oberen Harntrakt führen kann, unterschieden werden. Des Weiteren wird eine Antibiotikagabe bei Harnwegsinfektionen als Akuttherapie oder zur Langzeitprophylaxe eingesetzt. Diese Einteilung kann als Leitfaden zur Auswahl des Antibiotikums dienen. Zur Akuttherapie stehen bei einer unkomplizierten Zystitis als Einmalgabe Fosfomycin-Trometamol, alternativ Pivmecillam, Nitrofurantoin, Cotrimoxacol und Cephalosporine der 2. und 3. Generation zur Verfügung. Fluorchinolone sollten eher bei komplizierter Harnwegsinfektion mit Beteiligung des oberen Harntraktes verordnet werden. Bei Cephalosporinen und Fluorchinolonen ist das erhöhte Risiko einer Clostridium difficile Infektion infolge von Veränderungen der Darmflora mit zu bedenken. Septische Konstellationen, die Nierenabszesse mit dem Verlust der Niere nach sich ziehen können, bedürfen der stationären Behandlung und einer parenteralen Antibiotikatherapie. Relevant bei symptomatischen Harnwegsinfektionen nach FGM ist wegen der Chronizität mit Vernarbungen, Miktionsstörungen und permanenter Kontamination von Bakterien bei Fistelungen in den Harntrakt eine Langzeitprophylaxe. Hierfür sind Nitrofurantoin und Nitroxolin bei guter Nierenfunktion geeignet. Das hier aufgeführte Antibiotikaregime dient zur allgemeinen Orientierungshilfe bei Betroffenen nach FGM, Dosierungen sind der Fachinformation zu entnehmen. Trotz der besonderen Problematik gilt auch für diese Patientengruppe, dass bei einer adäquaten Flüssigkeitszufuhr und der für die jeweilige urogenitale Verletzung entsprechend möglichen Genitalhygiene unkomplizierte Harnwegsinfektionen eine hohe Spontanheilungsrate haben. Die Harnsteinbildung nach FGM ist das Ergebnis einer chronischen Restharnbildung bei Behinderung des Urinabflusses aus der Harnblase und Harnröhre, nach Defekten am Blasenboden mit Vernarbungen der Harnleitermündungen auch aus dem oberen Harntrakt. Steine, die sich aus Fisteln in die Scheide entleeren oder sich am Harnröhrenausgang festsetzen, können relativ einfach instrumentell geborgen werden. Steine in der Harnblase, die oft eine beträchtliche Größe von mehreren Zentimetern erreichen, müssen unter Narkosebedingungen operativ entfernt werden, ebenso Steine im Harnleiter und im Nierenbeckenkelchsystem. Harnsteine sind eine immerwährende Infektquelle und können zudem eine chronische Entzündung der Harnblasenschleim-

8.2 Urologische Aspekte, Chirurgie unter einfachen Bedingungen  127

haut unterhalten, die dann als Zystitis imponiert. Mit der Miktion abgehende Steine verursachen heftige Schmerzen in der Harnröhre, Steine im Harnleiter typische Harnleiterkoliken. Die operative Steintherapie ist eine urologische Domäne und erfordert ein spezielles urologisches Instrumentarium. Auch asymptomatische Steine im oberen Harntrakt, die zu einem über Monate anhaltenden Harnaufstau führen, sind therapiepflichtig, da die Nierenfunktion infolge der dauerhaften Druckbelastung beeinträchtigt wird. Eine Einzelniere, die persistierende Steinokklusion mit einer konsekutiven Harnstauungsniere, begleitet von Fieber und laborchemisch erhöhten Entzündungswerten stellen einen urologischen Notfall dar und bedürfen der sofortigen Entlastung des oberen Harntraktes mittels einer Harnleiterschiene oder Nephrostomie. Diese Maßnahmen sind auch unter einfachen afrikanischen Bedingungen durch einen Urologen umsetzbar und entscheidend für den Erhalt der Nierenfunktion. Bei einer Steingröße bis 4 mm ist ein Spontanabgang aus dem oberen Harntrakt zu erwarten, abhängig von der individuellen Schmerztoleranz und der Steinform. Harnleiterkoliken werden mit einer konsequenten medikamentösen Spasmoanalgesie und forcierten Flüssigkeitszufuhr behandelt. Für die Akuttherapie ist die Kombination aus Metamizol, alternativ Paracetamol, Diclofenac oder Ibuprofen, und N-Butyl-Scopolamin geeignet, bei längerer Anwendung die zusätzliche Gabe eines Alpha-Blockers (first line Tamsulosin). Neben den mechanischen Ursachen, die zur Harnretention und Steinbildung führen, ist gerade bei inkontinenten Patientinnen die restriktive Flüssigkeitszufuhr und dadurch reduzierte Urinproduktion eine weitere Ursache, die eine Steinbildung begünstigt. Somit umfasst die Therapie von Harnsteinen neben der Beseitigung der Ursache der Steinbildung und des Steines selbst auch die ausreichende und über den Tag verteilte Zufuhr von Flüssigkeit. Bei wiederholter Steinbildung ist eine Kontrolle des Urin-pH-Wertes und eine Medikation zur Steinprophylaxe empfohlen. Eine besondere Relevanz bei Patientinnen nach FGM haben Struvitsteine, die sich bei chronischen Harnwegsinfektionen infolge der erhöhten Ureaseaktivität von Bakterien im alkalischen Milieu ausbilden. Mit der Gabe von L-Methionin wird der Urin auf Werte zwischen 5,8–6,2 angesäuert. Zudem sollte in diesen Fällen eine Urinkultur angelegt und eine entsprechende antibiotische Behandlung des Harnwegsinfektes eingeleitet werden [5,7].

8.2.3 Die Problematik von irreversiblen Spätkomplikationen am Harntrakt Der Harntrakt ist in der Lage, pathologische Veränderungen über einen längeren Zeitraum zu kompensieren, um die Urinspeicherung und Urinentleerung aufrecht zu erhalten. Der Verlust dieser physiologischen Vorgänge verursacht irreversible Schäden am Harntrakt, die bei Aufgabe der Reservoirfunktion der Harnblase einen Harnblasenersatz erforderlich machen. Kommt es zu einer dauerhaften Druckbelastung durch einen Harnrückstau in die Nieren, werden Nephrone irreversibel geschädigt, die Nierenfunktion kommt zum Erliegen, ein Harnblasenersatz ist dann nicht mehr

128  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

möglich. Weder gibt es feststehende Kriterien, die eine drohende Dekompensation rechtzeitig anzeigen, noch lässt sich exakt vorhersagen, in welchem Maß nach Druckentlastung eine Rekompensation insbesondere der Nierenfunktion möglich ist. Die wohl häufigste Ursache für den Ersatz der Harnblase im Rahmen von FGM ist eine großflächige Destruktion des Blasenbodens bei einem Geburtstrauma infolge einer narbigen Verengung des Geburtskanals. Durch die Zerreißung der Scheidenund Harnblasenwand resultiert eine Blasen-Scheiden-Fistel, eine Urinspeicherung kommt nicht mehr zustande, es entwickelt sich über längere Zeit eine Schrumpfblase als irreversibler Endzustand. Die Mündungsstellen der Harnleiter können mit betroffen sein, die zum Teil am Scheidenepithel spontan neu inserieren. Selbst wenn eine Neuimplantation der Harnleiter möglich erscheint, lässt sich eine derartig große Fistel wegen des bestehenden Substratverlustes der Blasen- und Scheidenwand nur schwer plastisch decken. Die andere Ursache für die Dekompensation der Harnblasenfunktion ist eine chronische Überdehnung der Harnblasenwand infolge einer subvesikalen Abflussbehinderung mit einer sukzessiven Steigerung der Urinvolumina. Neben der pathologischen Kapazitätserhöhung kann es einen passiven Reflux in den oberen Harntrakt geben, die Infektanfälligkeit steigt wegen des permanenten Restharns. In diesen Fällen wird man mit der Indikation zum Harnblasenersatz zurückhaltender sein und eher einen intermittierenden Selbstkatheterismus oder eine suprapubische Harnableitung bevorzugen. Da aber die Betroffenen in afrikanischen Ländern die dafür notwendigen Kathetermaterialien nicht ausreichend zur Verfügung haben, steht auch hier die Frage nach einem Harnblasenersatz. Harnblasenersatz Harnblasenersatz bedeutet die dauerhafte Urinableitung unter Umgehung der Harnblase in ein artifizielles Reservoir, welches immer aus Darmsegmenten besteht. Dabei wird zwischen einer inkontinenten und kontinenten Harnableitung unterschieden. Bei einer inkontinenten Harnableitung, das sogenannte Konduit, erfolgt die Implantation der Harnleiter in ein separiertes Darmsegment, welches als Urostoma an der Bauchdecke ausgeleitet wird und eine lebenslange Versorgung mit Stomamaterialien erfordert. Diese Form der Harnableitung ist operativ ein sicheres Verfahren, optimal zur Entlastung eines vorgeschädigten oberen Harntraktes, wird aber von jungen Patientinnen wegen des inkontinenten Stomas nur selten akzeptiert. Dazu kommt in afrikanischen Ländern die meist fehlende Versorgung mit Stomamaterialien. Deshalb ist auch die Anlage eines kontinenten Reservoirs als sogenannte Pouchblase mit einem katheterisierbaren Nabelstoma hier seltener, wenngleich diese Form eine exzellente Technik darstellt. Anders als in den industrialisierten Ländern wird als kontinente Form eine Harnableitung bevorzugt, die auf die Verwendung von Stomamaterialien und Einmalkathetern verzichtet. Dabei spielen auch ethnologisch-kulturelle Aspekte eine Rolle, so die Beibehaltung der Miktion in sitzender Haltung. Das wäre mit einer orthotopen Neoblase aus Dünndarmsegmenten und dem Wiederanschluss

8.2 Urologische Aspekte, Chirurgie unter einfachen Bedingungen

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an die Harnröhre gut realisierbar, ist aber bei Patientinnen nach FGM wegen der Destruktion des Schließmuskels und der Harnröhre nicht mehr möglich. Insofern bleibt als kontinente Harnableitung die Implantation der Harnleiter in den nicht separierten Darm, bezeichnet als Ureterosigmoideostomie. Ausgeschieden wird ein StuhlHarn-Gemisch, die Kontinenz sichert der anale Schließmuskel. Diese Harnableitung stellt im Spektrum der Harnblasenersatztechniken die älteste Form dar und wurde Anfang des letzten Jahrhunderts vielfach durchgeführt, in den 80er Jahren dann von der orthotopen Ileumneoblase und der Pouchblase mit einem katheterisierbaren Nabelstoma abgelöst. Interessanterweise hat man in den 90er Jahren die ursprüngliche Ureterosigmoideostomie für die Anwendung in Afrika unter Einbezug der Erkenntnisse aus den anderen Formen des kontinenten Harnblasenersatzes weiterentwickelt. Es entstand der Sigma-Rektum-Pouch, auch als MainzPouch II bezeichnet [3,4]. Hierbei werden die Harnleiter auch in den Dickdarm implantiert, Segmente des Sigmas und des Rektums aber eröffnet und so aneinandergelegt, dass nach Verschluss des nun konfigurierten Pouches ein Reservoir mit einem niedrigeren Druck resultiert (Abb. 8.7). Das ermöglicht eine längere Urinspeicherung im Darm, eine Reduktion der Entleerungsfrequenz und durch die Druckabsenkung im Pouch einen verbesserten Refluxschutz von Urin in Richtung der Nieren. Damit ist aber auch ein Nachteil dieser Harnableitung genannt, die Aszension von Darmbakterien in den oberen Harntrakt. Bei guten Abflussbedingungen des Urins ohne Einengung der Harnleiterimplantation in den Darm und einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr ist diese Gefahr gut zu beherrschen. Ein zweites Problem besteht in der Rückresorption von Ionen aus dem Urin über die Darmschleimhaut in das Blut. Damit kommt es zu Verschiebungen des Blut-pH-Wertes, es entwickelt sich eine metabolische Azidose, die sich bei Erkrankungen der Leber und Niere lebensbedrohlich verstärken kann. Eine exakte Bestimmung der pH-Wert-Verschiebung ist letztendlich nur laborchemisch möglich. Die Betroffenen fallen durch eine Lethargie, Übelkeit, Erbrechen, Gewichtsverlust und ein gesteigertes Durstgefühl auf, bei ausbleibender Therapie folgt das Koma. Erste Maßnahmen, auch unter einfachen Bedingungen, sind die Entlastung des Darmes mit einem Darmrohr oder großlumigen Blasenkatheter, um den Urin abzuleiten und damit die Resorption über die Darmschleimhaut einzudämmen sowie die notfallmäßige Gabe von Bikarbonat [1]. Prophylaktisch stehen Medikamente als Natriumhydrogencarbonat/-zitrat zur Verfügung, der regelmäßige Genuss von Zitronensaft zur Vermeidung einer metabolischen Azidose ist in Afrika verbreitet.

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Abb. 8.7: Ureterosigmoideostomie mit Bildung eines Rektum-Sigma-Pouches (zur Demonstration der Harnleiterimplantation partiell geöffnet).

Auch wenn der Rektum-Sigma-Pouch ein ernst zu nehmendes Komplikationspotential hat, bietet diese Form der kontinenten Harnableitung eine hervorragende Möglichkeit, Harnkontinenz nach weitreichenden Destruktionen des unteren Harntraktes wieder zurück zu erlangen. Aus der eigenen Tätigkeit in Afrika konnte ich feststellen, dass die Akzeptanz für diese Harnableitung unter den betroffenen Frauen sehr groß ist, vital bedrohliche metabolische Azidosen selten und mit den Mitteln vor Ort beherrschbar sind. Entscheidend zur Vermeidung von Komplikationen ist die Begleitung der Patientinnen nach der Operation und die Konditionierung hin zu einer konsequenten Urinentleerung. Eine Reintegration in die Familie und den gesellschaftlichen Alltag ist mit einer funktionierenden Ureterosigmoideostomie sehr gut möglich. Somit endet in scheinbar ausweglosen Situationen die operative Therapie von Harninkontinenz nach FGM nicht mit der Fistelchirurgie, sondern erfordert die Ausschaltung der Harnblase und einen Harnblasenersatz. Referenzen [1] [2]

Deutsche Gesellschaft für Urologie. Leitlinie zur Nachsorge von Patienten mit Harnableitung unter Verwendung von Darmsegmenten. Urologe. 2000:483–485. Dreger N, Degener S, Roth S, Brandt A, Lazica D. Das Urethralsyndrom: Fakt oder Fiktion – ein Update. Urologe. 2015:1248–1255.

8.3 Urogenitale Fisteln – Yankan gishiri fistula  131

[3] [4] [5] [6]

[7] [8]

Fisch M, Hohenfellner R. Sigma-rectum pouch (Mainz pouch II). BJU international. 2007:945– 960. Fisch M, Wammack R, Müller S, Hohenfellner R. The Mainz pouch II (sigma rectum pouch). The Journal of urology. 1993:258–263. Knoll T, Bach T, Humke U, et al. S2k-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis (AWMF 043/025). Kurzfassung. Urologe. 2016:904–924. Kranz J, Schmidt S, Lebert C, et al. Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Management unkomplizierter, bakterieller, ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten. Aktualisierung 2017 der interdisziplinären AWMF S3-Leitlinie. Urologe. 2017:746–758. S2k-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis. Retrieved from http:// www.awmf.org, 2018. S3 Leitlinie Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prä vention und Management unkomplizierter, bakterieller, ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten. Retrieved from http://www.awmf.org, 2017.

8.3 Urogenitale Fisteln – Yankan gishiri fistula Kees Waaldijk, Babbar Ruga Obwohl sich seit einiger Zeit für die weibliche Genitalbeschneidung ebenso wie für traumatische oder geburtshilfliche Fisteln ein zunehmendes Bewusstsein entwickelt hat, erhält eine spezielle Form der Hausa/Fulani Bevölkerung im nördlichen Nigeria und südlichen Niger wenig Aufmerksamkeit, die über die bloße Erwähnung hinausgeht. Yankan Gishiri (wörtlich: Salzschnitt) ist eine traditionelle Praktik, bei der ein longitudinaler Schnitt im vorderen und/oder hinteren Scheidengewölbe mit Hilfe eines scharfen Instrumentes durchgeführt wird. Die Herleitung des Namens ist nicht vollständig geklärt. Salz wird in der Sprache und Kultur der Hausa für viele unterschiedliche Aspekte genutzt. So wird die Vagina als „Salz des Lebens“ bezeichnet. Möglich ist aber auch, dass Yankan Gishiri in ähnlicher Weise oder mit Instrumenten durchgeführt wird, wie früher Händler auf dem Markt ihre Salzblöcke, zum Verkauf zerschnitten haben. Am häufigsten wird die Prozedur bei jungen Mädchen durchgeführt, die sich weigern, mit ihren Ehemännern sexuellen Kontakt zu haben; vermutlich, weil sie die Männer nicht mögen. Sie geben dann an, dass es ba hanya, „keinen Weg“ gäbe. Auf diese Weise vermeiden Sie, jemanden zu beleidigen oder zu beschuldigen. Hierdurch ist es möglich, dass diese stark mutilierende Praxis praktiziert wird, obwohl ansonsten keine Beschneidung des äußeren Genitale im Hausa-Land durchgeführt wird. Sie wird jedoch auch für die Behandlung einer Vielzahl anderer Befunde praktiziert, darunter diverse gynäkologische oder psychische Probleme, Kopfschmerzen, Harnverhalt, u. a. Eine anthropologische Untersuchung dieses Phänomens ist längst überfällig.

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Die Erweiterung der Vulva oder Vagina bei Dyspareunie durch eine Inzision ist ein alter Brauch. Zwar wird auch in der modernen Gynäkologie bei korrekter Indikation eine Erweiterungsplastik durchgeführt. Mit einer bloßen Inzision ist aber naturgemäß kein akzeptables Resultat zu erzielen. Ganz zu schweigen von den gravierenden Komplikationen bei unkontrolliertem Vorgehen. Der Eingriff wird meistens durch traditionelle Barbiere (wanzami) oder traditionelle Geburtshelferinnen (ungozoma) durchgeführt. Sie verwenden ein Messer, traditionelle Geburtshelferinnen eher eine Rasierklinge. Gelegentlich führen auch andere Personen die Prozedur durch, zum Teil Ärzte oder sogar die Patientin selbst. Sie erfolgt daher unter unterschiedlichsten Umständen im Liegen, Sitzen oder Hocken. Zur Blutstillung, Schmerzverminderung und Heilung werden im Anschluss meist Kräuter oder eine Lösung hieraus in die Vagina eingebracht, um den Blutverlust und die Schmerzen zu vermindern oder die Heilung zu unterstützen. Einige Beispiele verdeutlichen dies: – Eine Patientin wurde aufgrund einer Infertilität beschnitten und wurde innerhalb eines Monats schwanger. – Eine Patientin wurde durch einen traditionellen Barbier aufgrund von Kopfschmerzen „behandelt“. Er erklärte ihr, die Ursache wäre der große Überschuss an Salz in der Vagina, der das Blut aufsaugt und somit im Kopf nicht genügend zur Verfügung stehe. – Eine Patientin wurde bei dem Versuch sich selbst mithilfe von Kerze, Spiegel und Rasierklinge zu schneiden ohnmächtig. Der zu Hilfe gerufene Bruder beendete den Eingriff. Dies führte zu einer 5 cm großen Fistel zwischen Blase und Vagina. – Eine Patientin hatte bereits vier Beschneidungen bei verschiedenen traditionellen Barbieren hinter sich, war aber nicht zufrieden. Der fünfte Eingriff resultierte dann in einer großen Fistel. – Eine Patientin hatte sich bereits viermal selbst „behandelt“ und wandte sich das fünfte Mal an einen traditionellen Barbier. – Eine Patientin kam nach erfolgreicher Rekonstruktion einer Harnwegsfistel erneut zur Aufnahme. Diesmal mit einer rektovaginalen Fistel durch denselben Barbier wie bei dem Voreingriff. Klinisch können drei Formen unterschieden werden: Ritzen/oberflächliche Schnitte zur Skarifikation, tiefe Schnitte (Inzision) und die Exzision von Gewebe. Die letzten beiden Formen können zu kleinen, aber auch gravierenden Fisteln mit extensiven Verletzungen führen (s. Abb. 8.8–8.10). Zur Inzidenz oder Prävalenz können keine zuverlässigen Aussagen gemacht werden, da sich lediglich die Patientinnen mit Fistelungen in Behandlung begeben. Der Autor hat in einer 25-jährigen Periode 1983–2008 insgesamt 15.389 Fistelpatienten im Hausa-Land operiert. 577 (3,75 %) davon stellten sich mit einer Yankan Gishiri Fistel vor. Davon 523 (3,8 % von 13.793 Patientinnen) mit einer urovaginalen Fistel und 54 (3,4 % von 1.596) mit einer rectovaginalen Fistel.

8.3 Urogenitale Fisteln – Yankan gishiri fistula  133

Die Mehrzahl wurde durch Barbiere durchgeführt. Die Verbliebenen durch Geburtshelferinnen und Ärzte oder selbst, bzw. andere durchgeführt (s. Tab. 8.2). Das Alter bei dem Eingriff reichte von sieben Tagen bis zu 72 Jahren mit einem Schwerpunkt zwischen dem elften und 15. Lebensjahr (47,8 %). Tab. 8.2: Umstände der Yankan Gishiri bei 577 Patientinnen im nördlichen Nigeria und südlichen Niger. Beschneider

Umstände der Beschneidung

n

traditioneller Barbier

Messer, im Liegen

439 (76,1 %)

traditionelle Geburtshelferin

Rasierklinge, sitzend während der Geburt

89 (15,4 %)

Patientin selbst

hockend, mit Spiegel und Kerze

19 (3,3 %)

Arzt

OP-Bedingungen

23 (4,0 %)

andere (Mutter, Schwester, etc.)

7 (1,2 %)

Als Gründe für die Yankan Gishiri wurden in 60 % (n = 346) „kein Weg“ angegeben, was in 221 Fällen zu einem Eingriff aufgrund einer unterstellten Malformation bei tatsächlich vorliegenden psychischen Problemen führte und in 125 Fällen aufgrund von tatsächlichen Veränderungen/Malformationen. Als weitere Gründe wurden angegeben: Geburtshilfliche Aspekte bei 80 Patienten (13,9 %), Prolaps 63 (10,9 %), Schmerzen/Jucken/Schwellung/Abszess in 27 (4,7 %), Unfruchtbarkeit in 24 (4,2 %), urologische Probleme in 16 (2,8 %) und andere wie Kopfschmerz, Brust- oder abdominelle Schmerzen bei 21 (3,6 %). Vier Patienten hatten eine kombinierte Fistel nach Kaiserschnitt und Yankan Gishiri. Die Mehrzahl der Patientinnen (77 %) mit vesikovaginaler Fistel hatte einen longitudinalen Urethradefekt Typ IIBa–IIBb. 16 % wiesen eine Typ IIAa Fistel und 3,4 % eine Typ I Fistel auf. 19 Patientinnen (3,6 %) stellten sich mit einer vollständigen Inkontinenz nach Voroperation bei IIBa Fistel vor (Klassifikation s. Tab. 8.3). Von den 54 Patientinnen mit einer rectovaginalen Fistel hatten 44 eine distale Fistel Typ IIa. Sechs Patienten hatten eine Beteiligung des Sphinkters bei einer IIb Läsion und vier eine proximale Fistel Typ I. 31 Patientinnen wiesen eine kombinierte rektovaginale und vesikovaginale Fistel auf (s. Tab. 8.4). Die beschriebenen Fisteln waren in gut der Hälfte der Fälle klein bis mittel, aber in jeweils ca. 20 % groß bis extensiv. Eine vollständige postoperative Inkontinenz bestand bei 19 Patientinnen (3,3 %). Die genaue Inzidenz von Yankan Gishiri Fisteln ist nicht bekannt, da sich die Frauen nur vorstellen, wenn hierbei eine Fistel resultiert. Die hier dargestellte geringe Inzidenz von 3,75 % aller behandelten Fisteln beruht auf der Zusammensetzung unserer Klientel mit einem größeren Anteil von Fisteln aus anderen Ursachen.

134  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Operative Technik Die Yankan Gishiri Fisteln sind nicht einfach zu korrigieren, da in aller Regel eine kontinente Urethra rekonstruiert werden muss, obwohl ein zum Teil ausgedehnter Weichteildefekt vorliegt. Dies zeigt sich u. a. darin, dass 125 Patientinnen (22,4 %) bereits bis zu sechsmal operiert wurden. Alle Eingriffe wurden unter Spinalanästhesie in Steinschnittlage durchgeführt, die operative Technik ist für jede spezifische Fistelkonstellation standardisiert. Zur Wiederherstellung einer kontinenten Urethra hat sich folgendes Vorgehen bewährt (Abb. 8.11–8.23): – Fixieren der Labien und Einbringen eines selbsthaltenden Gewichtsspekulums. – Erneute Analyse aller Läsionen und ggf. Anpassung des Behandlungsplanes. – Weite H-förmige Inzision im Verlauf der Fistel durch die anteriore Wand der Vagina mit einer minimalen Weite der Blätter von 3 cm distal und zunehmenden Verbreiterung nach proximal. – Scharfe Dissektion der anterioren Vaginawand von der pubozervikalen Faszie/ Harnblase um einen Vorschublappen für die Deckung der Neo-Urethra zu präparieren. – Falls erforderlich para-urethrale Mobilisation. Häufig werden hierbei urethrale Gefäße durchtrennt, die eine Hämostase erforderlich machen. – Spannungsfreie longitudinale Urethrarekonstruktion durch invertierende, einschichtige Polyglycol-Einzelknopfnähte. Der Anfang wird von proximal mit einer Repositionierung des uretherovesikalen Übergangs gemacht und die Durchgängigkeit nach jedem Stich mit Hilfe eines 6er Hägar-Stifts überprüft. – Es muss gewissenhaft sichergestellt werden, dass keine Urethra-/Blasenmukosa zwischen den Stichen evertiert bleibt. – Bilaterale Refixation der Faszie am Arcus tendineus fasciae durch je zwei Polyglycolnähte, um die seitliche Abstützung zu rekonstruieren. – Prüfen auf Dichtigkeit der Naht und Kontinenz des Meatus externus. Hierfür wird die Patientin aufgefordert zu Husten, bei gleichzeitigem suprapubischem Druck auf die Harnblase. – Einlage eines 16 oder 18 Ch Katheters und Sicherung mit Haltenaht. – Prüfen des longitudinalen Blasendurchmessers und der Urethralänge. – Transversale hämostatische Rekonstruktion der anterioren Vaginawand durch Vierpunkt Fixation der zuvor mobilisierten Vorschublappenplastiken der anterioren Vaginalwand/Cervix am paraurethralen Arcus tendineus bzw. der Symphyse mit Nylonnähten. – Lockere Tamponade der Vagina.

8.3 Urogenitale Fisteln – Yankan gishiri fistula  135

Einige Hinweise: – Falls die Distanz zwischen den H-Inzisionen (Zirkumferenz der Neourethra und 4–6 mm für die Nähte) zu schmal ist, wird die hiermit rekonstruierte Urethra zu eng werden und ein Ausflusshindernis verursachen. Probleme kann dann auch eine Wundheilungsstörung durch den Katheter oder eine Striktur darstellen. Es ist daher ratsam, die Inzision im Zweifel eher etwas zu groß zu wählen, da sich die hieraus ergebenden Probleme im Laufe der Wundheilung meist von selbst lösen bzw. später relativ einfach chirurgisch zu korrigieren sind. Eine Einengung hingegen erfordert wiederholte Dilatationen. – Die Rekonstruktion der Urethra über einen liegenden Katheter ist schwieriger und birgt das Risiko einer erhöhten Spannung auf der Naht. Es ist daher sicherer zunächst die Rekonstruktion durchzuführen, die Durchgängigkeit nach jedem Stich zu prüfen und am Ende den Katheter einzulegen. – Beginnen Sie die Rekonstruktion des vesiko-uretheralen Überganges mit folgender Nahttechnik: Bilden Sie mit dem ersten Stich eine Türflügelplastik, in dem Sie zunächst proximal das Urethragewebe einer Seite fassen. Dann den posterioren Blasenboden und schließlich den proximalen lateralen Urethraanteil der Gegenseite. Andernfalls besteht ein hohes Risiko für eine urethero-vasikuläre Striktur. Die longitudinale Rekonstruktion wird dann wie ein invertiertes T imponieren. – Zur Unterstützung der Kontinenz muss die funktionelle Anatomie des Beckens durch bilaterale paraurethrale Meatusfixation der pubozervikalen Faszie rekonstruiert und durch Sicherung der Neourethra in ihrer anatomischen Position erhöht werden, da durch die fehlende Verbindung der pubozervikalen Faszie zur Faszie des paraurethralen Arcus tendineus, der Blasennacken zur Cervix verlagert wurde. Resultate Für drei der elf operativen Zentren in Hausa-Land liegen Follow-Up Daten vor. Insgesamt konnten 449 Patientinnen nachuntersucht werden. Die überwiegende Anzahl (n = 438, 97,6 %) wies urogenitale Fisteln auf. Hiervon konnte in 92,2 % (n = 404) eine vollständige Wiederherstellung der Kontinenz erreicht werden. Bei den übrigen bestand eine Stressinkontinenz in 3,8 % (n = 21). Bei 13 Patientinnen (3 %) verblieb eine vollständige Harninkontinenz. Zehn Patientinnen (2,3 %) entwickelten eine residuale Fistel und eine Patientin verstarb am zweiten postoperativen Tag nach Einnahme von traditioneller Medizin. Alle 45 Patientinnen mit Stuhlinkontinenz waren ein bis sieben Mal voroperiert. Die Fisteln konnten in allen Fällen mit einem oder zwei Eingriffen zur Ausheilung gebracht werden.

136  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Tab. 8.3: Klassifikation von Harnwegsfisteln nach anatomischen u. physiologischen Gesichtspunkten. I: Fistel ohne Beeinträchtigung der Kontinenz/Beteiligung Verschlussmechanismus II: Fistel mit Beeinträchtigung der Kontinenz/Beteiligung Verschlussmechanismus – A ohne (sub-)totaler Urethra Beteiligung – a ohne zirkumferentiellen Defekt – b mit zirkumferentiellen Defekt – B mit (sub-)totaler Urethra Beteiligung – a ohne zirkumferentiellen Defekt – b mit zirkumferentiellen Defekt III: andere, z. B. Ureterfisteln, andere exzeptionelle Fisteln

Tab. 8.4: Klassifikation von Rektumfisteln nach anatomischen u. physiologischen Gesichtspunkten. I: Proximale Fisteln – a ohne Rektum Striktur – b mit Rektum Striktur – c mit zirkumferentiellen Defekt II: Distale Fisteln – a ohne Sphinkter ani Beteiligung – b mit Sphinkter ani Beteiligung III: andere, z. B. ileo-uterine Fisteln nach instrumentiertem Abort

8.3 Urogenitale Fisteln – Yankan gishiri fistula  137

Abb. 8.8: Typ IV Beschneidungen – Ritzung oder Inzisionen mit resultierender Inkontinenz.

Abb. 8.9: Ritzung oder Inzisionen mit proximaler Fistel.

Abb. 8.10: Ausgedehnte Inzisions-Fistel mit Eröffnung der Blase.

138  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Operatives Vorgehen

Abb. 8.11: Ausgedehnte Fistel und Verlust der Urethra von 4 cm Länge.

Abb. 8.12: Ausgedehnte Fistel und Verlust der Urethra von 4 cm Länge.

Abb. 8.13: H-förmige Inzision.

8.3 Urogenitale Fisteln – Yankan gishiri fistula  139

Abb. 8.14: Dissektion der anterioren Vaginalwand/pubozervikalen Faszie.

Abb. 8.15: Dissektion der anterioren Vaginalwand/pubozervikalen Faszie.

Abb. 8.16: Rekonstruktion des urethero–vesikalen Überganges und der Harnröhre.

140  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Abb. 8.17: Schrittweise Rekonstruktion des uretherovesikalen Überganges durch invertierende Einzelknopfnähte.

Abb. 8.18: Durchgängigkeit.

Abb. 8.19: Refixation der Faszie am Arcus tendineus fasciae.

8.3 Urogenitale Fisteln – Yankan gishiri fistula  141

Abb. 8.20: Refixation der Faszie am paraurethralen Os pubis.

Abb. 8.21: Faszie refixiert.

Abb. 8.22: Abschluss der Rekonstruktion durch Fixieren des proximalen und distalen vaginalen Vorschublappens.

142  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Abb. 8.23: Abgeschlossene Rekonstruktion.

8.4 Deinfibulation: Ein visuelles Referenz- und Lerninstrument Jasmine Abdulcadir, Sandra Marras, Nicole Schmidt, Lucrezia Catania, Omar Abdulcadir, Patrick Petignat Beim FGM Typ III (Infibulation) wird die Vaginalöffnung verengt. Diese Verengung ist bedingt durch eine häutige Narbenbrücke, die durch Entfernung der Labia minora und/oder Labia majora und die Zusammenfügung der Wundränder, mit oder ohne Entfernung der Klitoris, entsteht. Sie kann ebenfalls durch eine Spontanadhäsion der Labien nach FGM Typ II entstehen. Ungefähr 15 % der Mädchen und Frauen mit FGM haben eine Infibulation (Typ III) erlitten [2,3], die durch eine Verengung des vulvären Vestibulums für signifikante urogynäkologische, geburtshilfliche und psychosexuelle Komplikationen verantwortlich ist [4,5]. Die Klitoris ist, vor allem bei Frauen aus Ostafrika, oftmals erhalten. Die Behandlung der Komplikationen durch Infibulation besteht in der Deinfibulation, einer Operation, die die Infibulationsnarbe öffnet und das vulväre Vestibulum, die Vaginalöffnung, den Harnröhrenausgang (partielle Deinfibulation) und ggf. die Klitoris (totale Deinfibulation) freilegt. Die Deinfibulation und die assoziierte prä- und postoperative Versorgung sind selten in die Ausbildungscurricula des medizinischen Fachpersonals integriert, so dass dieses oftmals nicht mit der chirurgischen Technik und den soziokulturellen Fragestellungen vertraut ist. Obschon schriftliche und online Ressourcen zu dem Thema vorhanden sind [6–8], gibt es kein evidenzbasiertes umfassendes Lerninstrument, das auf die prä-, intra- und postoperative Therapie der Deinfibulation fokussiert. In diesem Kapitel wird ein visuelles Referenz- und Lerninstrument zur Verbesserung der Ausbildung medizinischen Fachpersonals für die Behandlung infibulierter Frauen und Mädchen vorgestellt. Es ist eine Orientierungshilfe für Behandelnde, die unsicher oder mit der Deinfibulation nicht vertraut sind und kann für Ausbildung, PatientenBehandler Kommunikation, Nachsorge und Beratung verwendet werden.

8.4 Deinfibulation: Ein visuelles Referenz- und Lerninstrument  143

Indikationen Die Deinfibulation ist bei Frauen mit FGM Typ III indiziert, um die Dyspareunie zu reduzieren, die Sexualfunktion zu verbessern und den Geschlechtsverkehr mit vaginaler Penetration zu ermöglichen [9]. Sie erlaubt auch die physiologische Miktion und den menstruellen Ausfluss, behandelt urogenitale Komplikationen und lässt eine physiologische Geburt zu, vermindert die geburtshilflichen Risiken eines Kaiserschnitts, einer Episiotomie und perinealer Risse. Sie ermöglicht medizinische und chirurgische Verfahren (z. B. gynäkologische Untersuchungen, Beurteilung des Geburtsfortschritts, Harnwegskatheterisierung, Zervixkarzinom-Screening, transvaginale Sonographie und die routinemäßigen vaginal-gynäkologischen Eingriffe). Schritte der Deinfibulation Präoperative medizinische Anamnese: Die Patientenanamnese sollte Informationen zur genitalen Beschneidung und ihren möglichen physischen und psychologischen Komplikationen einschließen. Es sollte weiterhin auf urologische, gynäkologische und psychosexuelle Symptome mittels verständlicher, nicht stigmatisierender, kulturell sensibler und respektvoller Fragen untersucht werden. Nicht alle Frauen sind sich über das Vorliegen der FGM Typ III und deren Komplikationen im Klaren oder äußern sich spontan dazu [10]. Manche mögen sich der kausalen Beziehung zwischen Symptomen und Infibulation nicht bewusst sein, oder ihre Folgen positiv bewerten. Einige ethnische Gruppen betrachten zum Beispiel eine erschwerte, langsame Miktion als normal, vornehm und im Gegensatz hierzu eine schnelle, laute Miktion als „vulgär“ und „männlich“ [11]. Eine präzise Fragestellung ist hilfreich: „Wieviel Zeit brauchen Sie zur Blasenentleerung? Müssen Sie bei der Miktion drücken? Müssen Sie Ihre Stellung zur vollständigen Entleerung Ihrer Harnblase ändern? Tritt der Urin als Regen aus und benässt Ihre Schenkel?“ In manchen Gegenden wird die Infibulation nach der Geburt durchgeführt, um die vorgeburtliche Anatomie wiederherzustellen. Auch zeigen Beispiele aus unserer klinischen Praxis, dass Infibulationen nach Vergewaltigung durchgeführt werden, um das was für eine jungfräuliche Anatomie angesehen wird, zurückzugewinnen. Dadurch werden soziale Ausgrenzung vermieden und die Heiratsfähigkeit erhalten. Erfahrung, Werte und Erinnerungen bezüglich FGM variieren erheblich. Medizinische Fachkräfte müssen sich dieser Vielfalt bewusst sein, um Verallgemeinerungen und Unterstellungen zu vermeiden und ihre Behandlung den Bedürfnissen ihrer Patientinnen anzupassen. Manche Frauen wurden in ihrer frühen Kindheit beschnitten und können sich nicht mehr daran erinnern oder wissen nicht, ob sie beschnitten wurden. Andere haben die FGM in einem medikalisierten Setting erfahren, ohne akute Schmerzen zu empfinden. Manche Frauen halten das Ritual für normal oder betrachten es als die Tradition, um schön, rein und heiratsfähig zu werden. Im Gegensatz dazu erinnern sich einige an das Gefühl des Verrats, der Angst und an den genitalen Schmerz. Sie

144  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

können Depressionen, Angst und eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln [12]. Verfügbare Daten aus der Diaspora weisen darauf hin, dass Frauen mit FGM oft auch Opfer anderer Traumata wie Vergewaltigung, Zwangsheirat, Krieg und Gewalt während der Migration waren [13]. Wenn die Deinfibulation angeboten wird, sollte das Gesundheitspersonal wissen, dass der empfundene Schmerz während und nach der Operation manchmal das Wiederaufrufen von posttraumatischen Erfahrungen und Belastungsstörungssymptomen verursacht [14]. Deshalb empfehlen aktuelle Leitlinien die psychologische Unterstützung von Patientinnen unter chirurgischer FGM-Therapie [1,15]. Klinische Untersuchung: Formen des FGM Typ III variieren abhängig von der vaginalen Einengung, Klitorisexzision und der Apposition der Labia minora (IIIa) und/ oder der Labia majora (IIIb). Die Infibulationsnarbe ist mehr oder weniger fest mit den unteren Gewebsschichten verbunden (Abb. 8.24). Deshalb ist es hilfreich die Narbe zu untersuchen und zu palpieren. Die Klitoris oder der Klitorisstumpf ist mehr oder weniger sicht- und tastbar. Abhängig von der Größe der Öffnung kann ein Wattestäbchen oder Finger mit Gleitmittel unter die Narbe eingeführt werden, um darunterliegende Adhäsionen zu erfassen (Abb. 8.24). Abhängig von der Weite des Introitus und einer schon erfolgten vaginalen Penetration bei sexueller Aktivität der Patientin, kann eine Spekulumuntersuchung möglich sein. Klinische Befunde sollten sorgfältig dokumentiert und zusammen mit einem Foto (mit Einwilligung der Patientin) in der Patientenakte verwahrt werden [1,15].

(a)

(b)

(c)

Abb. 8.24: Die Infibulationsnarbe bei einer FGM Typ III kann mehr oder weniger ausgeprägt mit dem darunterliegenden Gewebe verwachsen sein. Dies kann durch eine digitale Untersuchung (a) oder durch Einführung einer Moskitoklemme (b) und (c) festgestellt werden.

8.4 Deinfibulation: Ein visuelles Referenz- und Lerninstrument  145

Aufklärungsgespräch: Das ausführliche präoperative Aufklärungsgespräch ist unumgänglich, um das Verfahren der Deinfibulation und die postoperative Nachsorge darzustellen und dabei gleichzeitig auf die Erwartungen, Ängste oder Zweifel der Patientinnen und deren Partner einzugehen. Die Deinfibulation stellt eine bedeutsame kulturelle, anatomische, physiologische und körperbildliche Veränderung dar [16,17]. Der Inhalt des präoperativen Aufklärungsgesprächs wird in Tab. 8.5 zusammengefasst. Sollte die Frau/das Mädchen Bedenkzeit brauchen, ist ein weiterer Gesprächstermin erforderlich. Im Falle einer sprachlichen Hürde sollte ein zertifizierter, kultursensibler Übersetzer engagiert werden, um eine gute Kommunikation und Verständigung sicherzustellen. Manche Patienten lehnen einen Dolmetscher jedoch aufgrund von Bedenken bezüglich der Vertraulichkeit ab (z. B. wenn die Deinfibulation vor der Eheschließung oder der offiziellen Verlobung durchgeführt werden soll). Alternative Übersetzer, denen die Patientin vertraut oder eine Übersetzung per Telefon können eine Lösung sein. In der Diaspora können zertifizierte kulturelle Mediatoren hilfreich sein, wenn die Deinfibulation aus kulturellen Gründen abgelehnt wird oder wenn um eine Reinfibulation nach Geburt gebeten wird. Falls die Frau/das Mädchen zustimmt, sollte das präoperative Aufklärungsgespräch ihren Partner einbeziehen. Manchmal bittet die Patientin um die Beteiligung anderer Familienmitglieder wie ihrer Mutter oder Schwiegermutter. Tab. 8.5: Inhalte des präoperativen Aufklärungsgespräches. Information über Anatomie und Physiologie vor und nach Deinfibulation: – Festellen, ob eventuelle Überzeugungen bezüglich infibulierter äußerer Genitalien und Befürchtungen/Zweifel, die die Deinfibulation betreffen, vorliegen. – Ansprechen häufiger falscher kultureller Vorstellungen wie: „Unbeschnittene oder deinfibulierte Genitalien sind sehr weit, unrein, hässlich und unsexy“. „Sie erzeugen weniger sexuelle Lust beim Partner.“ „Ein Mädchen/eine Frau mit Deinfibulation ist weniger heiratsfähig, da sie ihre voreheliche Jungfräulichkeit verloren hat.“ „Ein starker und richtiger Ehemann sollte fähig sein, die Infibulationsnarbe seiner Frau zu öffnen.“ – Verwenden von Zeichnungen und verständlicher Erklärungen. – Bei der Verwendung von Zeichnungen, die eine Vulva mit offenen Labien darstellen, Aufklärung, dass im Normalfall die Labien die Vaginalöffnung bedecken und der Vaginalkanal nicht sichtbar ist. – Erklären, dass die Deinfibulation die Vaginalöffnung nicht erweitert. Sie beseitigt nur die Narbe, die sie bedeckt und eine gute Hygiene verhindert (Verhinderung des Abflusses von Menstruationsblut oder Urin durch die Infibulation). – Erklären, dass der Urin und das Menstruationsblut aus zwei unterschiedlichen Öffnungen kommen. – Informieren über die physiologische Farbe der Vaginalhaut, welche nach der Deinfibulation leicht sichtbar sein wird (farblicher Kontrast zwischen der rosafarbenen und der dunklen Haut). – Erklären der Anatomie und Funktion der Klitoris vor und nach Deinfibulation (mit der unter der Infibulationsnarbe freigelegten oder verdeckten Klitoris). – Erklären der Veränderungen durch den stärkeren und schnelleren vaginalen Ausfluss oder Fluss von Urin und Menstruationsblut.

146  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Tab. 8.5: (fortgesetzt) Information über das Verfahren: – Erklären, warum eine Deinfibulation angezeigt ist (z. B. physiologische Geburt, Miktion, vaginaler Geschlechtsverkehr) und welche Gesundheitsvorteile und -verbesserungen nach dem Eingriff eintreten. – Detailliertes Beschreiben des chirurgischen Verfahrens, der Nachsorge und der möglichen Komplikationen. Vereinbarung über das Ausmaß der Deinfibulation: – Manche Patientinnen wünschen nur die geringste notwendige Eröffnung, um pathologische Symptome zu reduzieren und eine vaginale Entbindung zu erlauben. Nach Möglichkeit sollte der Wunsch der Patientin nach einer partiellen (1 cm oberhalb der Urethralöffnung) oder einer totalen Deinfibulation (mit Freilegung der Klitoris) respektiert werden. – Verwenden von Zeichnungen. Informationen über die postoperative Versorgung: – Informieren über lokale Hygiene, Schmerzmittel, Vermeidung von Adhäsionen der Labien, postoperative Kontrollen, resorbierbare Fäden/Nähte, Abstinenz von vaginaler sexueller Aktivität bis zur vollständigen Heilung. Abhängig vom Setting über die Analgesie nach Rücksprache mit dem Anästhesisten informieren: – Beruhigen, dass die intra- und postoperativen Schmerzen der Deinfibulation anders sind als die der weiblichen Genitalverstümmelung (z. B. bei der postoperativen Miktion). Über die Jungfräulichkeit informieren: – Erklären, dass die Deinfibulation die Jungfräulichkeit nicht beeinträchtigt. – Verwenden von Zeichnungen. Während der Schwangerschaft den Zeitpunkt der Deinfibulation besprechen: – Die Frau/das Mä dchen sollte zwischen einer Deinfibulation wä hrend der Schwangerschaft oder der Geburt wählen können. Bedenkzeit: – Wenn notwendig, der Patientin Bedenkzeit geben, um Optionen abzuwägen. Ggf. einen weiteren Termin vor Festlegung des chirurgischen Eingriffs vereinbaren. Schriftliche Einwilligung: – Die schriftliche Einverständniserklärung der Patientin erläutern und die Unterschrift der Patientin einholen.

Intraoperative Überlegungen: Der Zeitpunkt für die Deinfibulation kann im Leben einer Frau/eines Mädchens jederzeit geplant werden: während oder außerhalb der Schwangerschaft, während der Geburt oder während eines Kaiserschnitts [1]. Frühere systematische Reviews berichten von keinen signifikanten Unterschieden bei den geburtshilflichen Outcomes nach Deinfibulation antepartum oder intrapartum [9,18]. Zum optimalen Zeitpunkt der Deinfibulation gibt es keinen Konsens. Auch wurde die Akzeptanz und die Zufriedenheit mit dem Eingriff, ebenso wie die Gesundheitsfolgen während der Schwangerschaft (z. B. Dysurie) oder der Wunsch nach Reinfibulation postpartum bisher kaum untersucht [19]. Da derzeit keine eindeutige Evidenz vor-

8.4 Deinfibulation: Ein visuelles Referenz- und Lerninstrument  147

liegt, raten die verfügbaren Empfehlungen der Frau/dem Mädchen die Wahl des Zeitpunktes zu überlassen [1,15]. Wenn sie antepartum durchgeführt werden soll, wird verschiedentlich das zweite Trimester der Schwangerschaft empfohlen [1,15]. Dies wahrscheinlich aufgrund des Risikos eines Spontanaborts im ersten Trimester, mit der möglichen Folge der Schuldzuweisung auf die Deinfibulation durch die Patientin und/oder des Umfelds. Nichtsdestotrotz führen andere Zentren die Deinfibulation routinemäßig im ersten Trimester durch [20]. Die Deinfibulation während der Geburt sollte während der Eröffnungsphase erfolgen, um die Kontrolle des Geburtsverlaufes und die Katheterisierung der Harnblase zu erleichtern. Frauen mit FGM Typ III scheinen ein erhöhtes Risiko für einen Kaiserschnitt mit unklarer Indikation haben, möglicherweise weil eine Deinfibulation nicht zur Verfügung steht [21]. Um den richtigen Termin für die Deinfibulation wählen zu können, müssen die schwangeren Frauen ausreichend über die Folgen und Zusammenhänge informiert werden [1,15]. Aus unserer Sicht hat die Deinfibulation vor der Geburt verschiedene Vorteile, die die Frauen kennen sollten. (1) Symptome, wie erschwerte Miktion, wiederkehrende urogenitale Infektionen, Dyspareunie und die Unmö glichkeit vaginaler Penetration wä hrend der Schwangerschaft kö nnen verbessert werden. Es ist wichtig zu wissen, dass infibulierte Frauen ohne penetrierenden Geschlechtsverkehr schwanger werden können [22]. (2) Durch die Deinfibulation vor der Geburt, werden notwendige vaginale Untersuchungen (z. B. im Falle einer drohenden Frühgeburt oder bei vorzeitigem Blasensprung) möglich. (3) Die Schwangere hat Zeit, sich an die neue Anatomie und Physiologie der Genitalien zu gewö hnen, ohne die deinfibulationsbedingten Veränderungen mit denen der vaginalen Entbindung zu assoziieren. Dies könnte zu einer Vermeidung postpartaler Reinfibulationswünsche beitragen [11]. Die Deinfibulation während der Schwangerschaft ermöglicht zusätzlich das frühzeite Erkennen hymenaler, vaginaler oder zervikaler Malformationen unter der Infibulationsnarbe (Abb. 8.25). Die Deinfibulation kann elektiv geplant und durch einen mit den Operationstechniken vertrauten Operateur an einem weniger vaskularisierten und ödematösen Genitale durchgeführt werden. Zudem sind zum Zeitpunkt der Entbindung die Genitalien vollkommen geheilt. Anästhesie: Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt eine Anästhesie für die Deinfibulation [1]. Diese kann in lokaler, regionaler oder in allgemeiner Anästhesie durchgeführt werden. Die Wahl hängt von den zur Verfügung stehenden Ressourcen und der Wahl der Frau bzw. des Versorgers ab. Die Deinfibulation während der Schwangerschaft oder unter der Geburt wird in lokaler oder Periduralanästhesie durchgefü hrt. Als Lokalanästhetikum werden 10–20 ml 1 % Lidocain-Lösung entlang der Inzisionslinie injiziert. Ein bis fünf Stunden vor der Anästhesie kann zusätzlich eine Salbe bestehend aus 2,5 % Lidocain und 2,5 % Prilocain an derselben Stelle appliziert werden. Die chirurgische Deinfibulation kann in einer Ambulanz unter lokaler Betäubung oder einer Tagesklinik mittels Spinal- oder Allgemeinanästhesie durchgeführt wer-

148  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Abb. 8.25: Intraoperativ zeigt sich bei einer Patientin in der 26. Schwangerschaftswoche unmittelbar nach Deinfibulation ein mikroperforiertes, verdicktes Hymen.

den. Die Technik wird im Zusatzvideo der Originalpublikation (www.jsm.jsexmed. org) und in den Abb. 8.26 und 8.27 dargestellt sowie nachfolgend zusammengefasst. Wird die Deinfibulation unter Allgemein- oder Spinalanästhesie durchgeführt, kann die Harnblase mit einem Einmalkatheter am Ende des chirurgischen Eingriffs entleert werden. Ein Dauerkatheter ist nicht notwendig. Postoperatives Management und Nachsorge: Kontrollen zur Nachsorge werden um den siebten und 30. postoperativen Tag geplant, um die Vulva zu untersuchen und die physiologischen Veränderungen (z. B. Miktion) und Gefühlserfahrungen zu besprechen. Wurde die Deinfibulation selbst unter der Geburt durchgeführt, können manche Veränderungen auf die Entbindung oder geburtshilflichen Komplikationen und nicht auf die Deinfibulation selbst zurückgeführt werden. Diese Unterschiede müssen erklärt werden. Symptome einer Inkontinenz oder anderer postpartaler Beckenbodenbeschwerden sollten angemessen behandelt werden. Weitere Details zu Betreuungsund Beratungsmöglichkeiten finden sich in einer vorhergehenden Publikation [11]. Ergebnisse der Deinfibulation: Wie bereits erwähnt, verbessert die Deinfibulation den urogenitalen, sexuellen und geburtshilflichen Gesundheitsstatus der infibulierten Frauen und deren Partner und ermöglicht gynäkologische Untersuchungen und Eingriffe. Dennoch gibt es nur wenige Studien zu den Resultaten. Die systematische Review von Berg und Kollegen hat die vorhandenen Erfahrungen über die Effektivität der Deinfibulation zusammengefasst. Gemäß der vorliegenden Studienergebnisse verbessert die Deinfibulation die Sexualfunktion bezüglich Lubrikation, Erregbarkeit,

8.4 Deinfibulation: Ein visuelles Referenz- und Lerninstrument  149

(a)

(b)

Abb. 8.26: Deinfibulation. (a) Inzision entlang der markierten Mittellinie. (b) Der eingeführte Finger unterhalb der Narbe schützt die Urethra während der Inzision.

(a)

(b)

(d)

(e)

(c)

(f)

Abb. 8.27: Rekonstruktion der Labia majora (a und b) und/oder minora (c) durch Verschluss der Wundränder. Die Wundränder bluten in der Regel nicht stark. Die Klitoris kann unterhalb der Narbe entfernt (e und f) oder erhalten sein.

150  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Orgasmus und Schmerz und verringert das Risiko für einen Kaiserschnitt sowie für zweit-, dritt- und viertgradige Dammrisse unabhängig vom Eingriffszeitpunkt (Deinfibulation während der Schwangerschaft oder während der Geburt) [9]. Komplikationen: Gemäß einer systematischen Review fanden fünf Studien keine intraoperativen Komplikationen der Deinfibulation bei 436 beobachteten Frauen. Leichte postoperative Komplikationen, wie Harnwegsinfekte, Wundinfektionen und labiale Adhäsionen, traten bei 14 von 113 Frauen auf. Genesung und Heilung waren bei den postoperativen Kontrollen nach ein bis drei Monaten zufriedenstellend, mit guten anatomischen Ergebnissen [9]. Theoretisch sind intraoperative Komplikationen wie Verletzung der Urethra oder der Klitoris möglich, aber sehr unwahrscheinlich. Erfolgt der Eingriff in Lokalanästhesie, können einige Frauen erneut dieselbe Erfahrung wie bei der Beschneidung durchleben [13]. Zu Spontanadhäsionen der Labien kommt es vor allem im oberen Teil der Narbe, im Bereich der Urethra und Klitoris. Diese treten üblicherweise in den ersten sieben bis zehn Tagen nach dem Eingriff auf und können meist unter lokaler Betäubung während der postoperativen Kontrolle gelöst werden (Abb. 8.28).

Abb. 8.28: Spontanadhäsion der Labien am siebten Tag nach Deinfibulation. Diese können problemlos unter lokaler Betäubung gelöst werden.

8.4 Deinfibulation: Ein visuelles Referenz- und Lerninstrument  151

Tab. 8.6: Chirurgische Schritte bei der Deinfibulation. Präoperative Versorgung: – Gewä hrleisten einer guten Asepsis. – Bei kleiner Infibulationsöffnung und Virgo erfolgt die vaginale Desinfektion mit einer mit Desinfektionsmittel gefüllten Spritze (ohne Nadel). – Eine antibiotische Prophylaxe wird nicht empfohlen. Deinfibulation: – Palpation der Klitoris und Lokalisation des Meatus urethrae. – Eingehen mit dem Finger oder einem stumpfen Instrument (z.B. Moskitoklemme) unter die häutige Narbenbrücke der Infibulation. Leichtes Anziehen nach vorne (Abb. 8.24), da zusä tzliche Ö ffnungen entlang der Infibulationsnarbe vorhanden sein können (Abb. 8.24b). – Um eine labiale Asymmetrie zu vermeiden, kann die mediane Inzisionslinie mit einem chirurgischen Stift vor dem Einführen der Moskitoklemme angezeichnet werden. – Inzision entlang der Mittellinie mit der Schere oder dem Skalpell von inferior nach superior bis zu der mit der Patientin vereinbarten Hö he, so daß der Meatus urethrae (partielle) oder die Klitorisregion (totale Deinfibulation) freigelegt wird (Abb. 8.26). – Vorsichtig sein, um bei der Inzision nicht den Meatus urethrae und die Klitoris oder den Klitorisstumpf zu verletzen (Abb. 8.26). Bei vorliegenden Adhäsionen kann ein transurethraler Einmalkatheter für die Dauer des Eingriffs eingeführt werden sobald die Urethra erreicht wird. – Bei Durchführung der Deinfibulation unter der Geburt, sollte die Narbe während des Wehenschmerzes inzidiert werden. – Rekonstruktion der Labia majora und/oder minora durch Adaptation der Wundränder der deinfibulierten Infibulation mittels fortlaufender Naht oder Einzelknopfnaht mit resorbierbarem Nahtmaterial (Abb. 8.27). – Hierfür steht ein Deinfibulation-Simulationskit zur Verfügung [23]. – Erstellung einer Foto-Dokumentation gemäß der Datenspeichervorschriften der Institution. Postoperative Versorgung: – Bei Deinfibulation unter Allgemein- oder Spinal-/Periduralanä sthesie, Entleerung der Harnblase mit einem Einmalkatheter am Ende der Deinfibulation. Ein Blasendauerkatheter ist nicht notwendig. – Innerhalb von drei bis vier Wochen kommt es zur vollständigen Wundheilung. Danach kann der Geschlechtsverkehr wieder aufgenommen werden. – Die häufigsten möglichen intraoperativen Komplikationen sind: leichte Blutung und Läsionen der Urethra und Klitoris. – Planung einer ersten Kontrolle am siebten postoperativen Tag. Bei unauffälligem Befund kann die Patientin am 30. postoperativen Tag wieder einbestellt werden. – Aufklären der Patientin über die lokale Hygiene der Vulva, ebenso wie die tägliche manuelle Trennung der Labien zur Vorbeugung von Adhäsionen (z. B. 3 ×/Tag). – Schmerzmittel empfehlen (Paracetamol und Ibuprofen). – Aktuell gibt es keinen Nachweis einer Wirksamkeit für die lokale Anwendung von östrogen- oder jodhaltigen Salben. – Gute Hydratation und Miktion unter einem Wasserstrahl kann hilfreich sein, um das Brennen des Harnflusses auf dem defibulierten Areal zu mildern. – Sitzbä der können empfohlen werden. – Im Falle teilweiser Spontanadhäsionen der Labien am 7. postoperativen Tag lösen der Adhäsionen unter Lokalanästhesie (mittels 2,5 % Lidocain und 2,5 % Prilocaine Salbe und/oder 1 % Lidocain) im ambulanten Setting.

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Das Buchkapitel wurde aus der englischen Orginalpublikation übersetzt und geringfügig angepasst: Abdulcadir J, Marras S, Catania L, et al. Defibulation: a visual reference and learning tool. J Sex Med 2018;15:601e611. Die Reproduktion der Bilder erfolgte mit Genehmigung von J. Abdulcadir. Referenzen [1] [2]

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8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation Uwe von Fritschen Anfänglich gingen wir davon aus, dass sich die meisten Betroffenen, die sich bei uns vorstellen, über funktionelle Beschwerden klagen würden. Es stellte sich jedoch heraus, dass selbst bei Patientinnen mit Infibulation dieser Aspekt nicht alleine im Vordergrund stand. Wir machten dieselben Erfahrungen wie Pierre Foldès, der weltweit die größte Anzahl von Operationen durchgeführt und eine umfangreiche Nachbewertung seiner Eingriffe publiziert hat. Die präoperativ von seinen Patientinnen an ihn herangetragenen Wünsche betrafen überraschenderweise nur in 29 % der Fälle eine Behandlung der Schmerzsymptomatik, aber in 81 % eine Verbesserung des sexuellen Empfindens und ganz herausragend in 99 % der Wunsch nach Wiederherstellung der körperlichen Integrität, der Restauration der weiblichen Identität und körperlichen Vollständigkeit. Patienten mit diesem Anspruch kann die alleinige Deinfibulation nicht gerecht werden, da sie lediglich die funktionellen Probleme, die durch das mechanische Narbenhindernis verursacht werden, adressiert. Der Versuch das äußere Erscheinungsbild, die Sensibilität und das sexuelle Empfinden zu verbessern, erhöhen die Komplexität des Eingriffs ganz erheblich. Insbesondere die sexuellen Aspekte müssen in einem umfassenderen, nicht allein anatomischen Kontext betrachtet werden und erfordern eine sexualmedizinische Bewertung. Aber auch die Ansprüche und Vorstellungen von „normalem“ Aussehen bedürfen kritischer Aufklärung. Ohne Frage ist es schwierig diese Zusammenhänge zu bewerten und den objektiven Gewinn operativer Maßnahmen wissenschaftlich zu messen. Besonders problematisch hieran ist, dass es bisher keine standardisierte Operationstechnik gibt, die über die alleinige Deinfibulation hinausgeht. Vereinzelte Studien und Falldarstellun-

154  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

gen weisen erhebliche systematische Schwächen auf. Dennoch zeigen sie in Übereinstimmung mit unseren Erfahrungen, dass der Eingriff bei korrekter Indikation mit einer hohen Zufriedenheit verbunden ist. Besonders auch das Selbstbewusstsein der Betroffenen profitiert zusätzlich in erheblichem Maß. Um den Patientinnen auch in dieser Hinsicht gerecht zu werden, hat es sich als zweckmäßig erwiesen, zu fragen was das eine Hauptproblem ist, das sie in erster Linie verbessert haben möchten. Überraschenderweise wird häufig nicht das vom Operateur als naheliegend diagnostizierte Problem angesprochen, sondern ein ganz anderer, zum Teil wesentlich einfacher zu erzielender Aspekt. Dies hilft nicht nur das erforderliche Ausmaß des Eingriffs abzuschätzen, sondern auch späterer Unzufriedenheit vorzubeugen und unrealistische Erwartungen zu identifizieren. Pathologie Die Beteiligung der Klitoris ist unabhängig vom Beschneidungstyp. Abb. 8.29a zeigt eine FGM Typ I mit isolierter Resektion des Präputiums. Auf Abb. 8.29b findet sich nach Deinfibulation bei Typ IIIb unterhalb der Narbe ebenfalls eine erhaltene Klitoris. Beim Typ II sind das Präputium und zumindest die Labia minora reseziert. Es können auch die Labia majora betroffen sein – gemein ist jedoch allen, dass die Wundränder primär nicht über das Ostium urethrae hinaus vereint wurden (Abb. 8.30). Die

(a)

(b)

Abb. 8.29: (a) Typ Ia – Beschneidung mit Resektion des Präputium, sog. Sunna-Beschneidung. (b) Typ IIIa Beschneidung nach Deinfibulation. Unter der Narbe waren Labia minora und Klitoris vollständig erhalten.

8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation  155

Narbe begrenzt sich auf den Bereich darüber. Im Rahmen der Wundheilung kann es jedoch zu einer partiellen Adaptation des direkt anschließenden Bereiches, einer Pseudoinfibulation mit Überdachung des Harnröhrenausgangs kommen (Abb. 8.31). Dieser Befund lässt sich klinisch nicht immer von einer partiellen Deinfibulation einer Typ III Beschneidung unterscheiden (Abb. 8.32 und Abb. 8.33), was jedoch klinisch nicht von Bedeutung ist.

(a)

(b)

Abb. 8.30: (a) Typ IIb Beschneidung mit Resektion der Labia minora, Präputium und Glans clitoridis. (b) Typ IIb Beschneidung mit zusätzlicher Resektion der Labia majora und resultierender klaffender Vulva.

(a)

(b)

Abb. 8.31: (a) Typ II Beschneidung mit Pseudoinfibulation. Die fehlende zentrale Narbe weist auf eine spontane Verheilung der seitlichen Wundränder. (b) Die Überdachung lässt sich meist bis auf Höhe knapp oberhalb des Meatus urethrae sondieren, bei erhaltener Klitoris auch höher.

156  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Abb. 8.32: Typ III sog. Pharaonische Beschneidung. Die zentrale Narbe nach Infibulation weist auf eine Naht oder Klammerung mit Dornen o. ä. Teilresektion der Labia majora. Trotz partieller Deinfibulation in der Hochzeitsnacht deutliche Narbenspannung.

Abb. 8.33: Typ III Beschneidung mit typisch minimal verbliebener Öffnung vor der Deinfibulation (s. Pfeil).

Da die Beschneidung in aller Regel ohne Anästhesie durchgeführt wird, ist das Ausmaß in Abhängigkeit vom Schutzverhalten der Betroffenen unterschiedlich und fast immer asymmetrisch. Die Anatomie des weiblichen Genitale ist komplex und schwierig zu rekonstruieren.

8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation  157

Zur Planung der operativen Therapie ist es erforderlich zunächst die individuelle Situation zu analysieren. Die Typisierung der WHO gibt einen groben Überblick. Zur Planung der Rekonstruktion sind jedoch weitere Aspekte wesentlich: Nicht nur die Tatsache der labialen Beteiligung, sondern auch das Ausmaß des Gewebeverlustes ist relevant, um die Spannungsverhältnisse nach Narbenentfernung einzuschätzen. Besonders der verbliebene Anteil der Labia majora muss bewertet werden. Ausdehnung und Qualität der Narben spielen eine große Rolle, um zu entscheiden, ob sich ausreichend lokales Gewebe für eine Rekonstruktion findet, ohne auf Fernlappenplastiken zurückgreifen zu müssen. Ist die Glans der Klitoris reseziert worden oder noch in der Tiefe vorhanden. Besteht eine narbige Einengung des Urogenitaltraktes. Liegen Fisteln oder Zysten vor und bestehen über die Infibulation hinausgehende Narbenprobleme oder weitere Verletzungen z. B. nach Vergewaltigung, Geburtstrauma oder nichtmedizinischer Deinfibulation. Anamnestisch muss geklärt werden ob und wann Schmerzen auftreten, welche funktionellen Defizite bestehen, ob es intermittierende Episoden mit einer Verschlechterung gibt. Die Anamnese und klinische Inspektion können fast alle diese Fragen beantworten. Die Bewertung und Lokalisation der Klitorisresektion kann hierbei jedoch Schwierigkeiten bereiten. Bei der Beschneidungsprozedur wird die Klitoris gefasst und vorluxiert. Die Resektionsebene umfasst somit mehr als die alleinige Glans und erreicht in aller Regel annähernd den Umschlagpunkt zum Corpus. Durch den traumatischen Zug, das anschließende Hämatom und die sekundäre Wundheilung, meist unter widrigen Umständen, wird der verbliebene klitorale Anteil nach dorsal verlagert und dort narbig am symphysären Periost fixiert (Abb. 8.34). Mit und ohne Infibulation bildet sich darüber eine Nabenplatte mit unterschiedlicher Ausprägung. Diese kann sehr zart, aber auch deutlich mehr als einen Zentimeter dick sein und ist dann als Vorwölbung gut sichtbar. Nicht selten wird dieser Befund mit dem Klitorisstumpf verwechselt (s. Abb. 8.35 und Abb. 8.36). In jedem Fall ist nachvollziehbar, dass hierdurch die Sensibilität negativ beeinträchtigt sein kann. Eine Verletzung der

Resektion Fibrose

Schambein

Narbensaum

Klitoris (a)

Meatus urethrae (b)

Abb. 8.34: Pathomechanismus modifiziert nach Foldès.

158  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Abb. 8.35: Typ IIIb Beschneidung ohne wesentliche Narbenaufwerfung im klitoralen Bereich.

a

b Abb. 8.36: Typ III Beschneidung mit minimaler residualer Öffnung (b) und hypertropher Narbe um den Klitorisstumpf (a).

Nn. clitoridis hingegen ist unwahrscheinlich, da diese dorsal und weiter lateral verlaufen. Natürlich werden die Endäste reseziert und können Neurome bilden. Dies konnten wir auch histologisch nachweisen. Es verbleiben jedoch immer zahlreiche Seitenäste, die eine Restsensibilität sicherstellen. Viele Frauen berichten über eine ausreichende Stimulationsfähigkeit, die keiner weiteren Verbesserung bedarf.

8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation  159

Andernfalls ist der verbliebene Rest im günstigsten Fall mit unsensiblem Narbenmaterial überdeckt. Es kann aber auch zu schmerzhaften Narbeneinziehungen oder Irritationen der verletzten sensiblen Nerven kommen, die Missempfindungen verursachen. Ob die operative Re-Exposition eine Besserung verursacht, wird unterschiedlich bewertet. In der bisher größten, retrospektiven Fallserie mit 841 Frauen [1] gaben 97,7 % der Patientinnen eine verbesserte oder zumindest nicht verschlechterte Empfindsamkeit an. Hierbei wiesen Patientinnen mit einer sichtbaren, re-elevierten Glans nach der Rekonstruktion eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit für einen normalen Orgasmus auf. Nicht immer kann durch die klinische Untersuchung mit Sicherheit geklärt werden, ob die Klitoris verletzt wurde oder nicht. Dies gilt besonders für Typ III Patientinnen, bei denen die Narbe verschlossen wurde, zum Teil aber auch beim Typ II. In Somalia wird diese Form der Beschneidung häufig verwendet. Hierbei werden zwar Präputium und Labien in unterschiedlichem Ausmaß entfernt – die Klitoris jedoch verschont. Durch Verschluss der Wunde über den verbliebenen Anteilen (Typ III) oder Überwachsen im Rahmen der Wundheilung (Typ II, Pseudoinfibulation) verbleibt die Klitoris in der Tiefe und kann dort vollkommen reizlos narbig eingebunden sein (vergl. Abb. 8.29b). Sie kann aber auch in einer Zyste liegen, die leicht mit der beschriebenen narbigen Aufwerfung (Abb. 8.37) zu verwechseln ist. Der Zysteninhalt kann zu rezidivierenden Infekten oder Fistelungen Anlass geben, muss es aber nicht. Die entsprechende Anamnese gemeinsam mit dem klinischen Befund können bereits den Hinweis geben. In diesen Fällen müssen Zugang und das Rekonstruktionskonzept angepasst werden (Abb. 8.38).

Abb. 8.37: Erhaltene Glans clitoridis in einer reizlosen Zyste, die vollständig in Narbengewebe eingebettet ist.

160  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Abb. 8.38: Ausgedehnte Fisteln, vermutlich nach Wundverschluss mit Akaziendornen. Insbesondere wenn keine vollständige Sondierung nach proximal möglich ist, weisen sie auf residuale Anteile der Klitoris, häufig in zystischen Formationen.

Indikationsstellung und Verfahrenswahl Die Betroffenen begeben sich mit einer sehr hohen Erwartungshaltung in Behandlung und es ist entscheidend abzuwägen, ob die Hoffnungen durch einen operativen Eingriff zu erzielen sind oder mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Neben ganz normalen Problemen im Rahmen des hormonellen Zyklus werden fast immer auch psychische Probleme mit daraus resultierender diffus übersteigerter Erwartungshaltung an die Wiederherstellung einer „Normalität“ gewünscht. Naturgemäß muss die Indikationsstellung besonders kritisch bei den geringeren Verletzungsgraden gestellt werden, da funktionelle Beschwerden hier möglicherweise im Hintergrund stehen. Sehr viele Patientinnen haben keine klare Vorstellung von der Anatomie des Genitale und der natürlichen Bandbreite der Sexualität. Sie wünschen sich fast immer eine deutlich sichtbare Klitoris und das Empfinden einer unbeschnittenen Frau. Im Vorfeld ist daher immer eine umfangreiche sexualmedizinische Aufklärung und Beratung erforderlich. Besonders wichtig ist es, den Gesamtkontext im Auge zu behalten. Die Patientinnen kommen aus einem vollkommen anderen soziokulturellen Wertesystem, sind häufig in enge Familien- und Gemeindestrukturen eingebettet. Viele haben schreckliche Erfahrungen auf der Flucht gemacht. Hier werden sie mit gänzlich anderen Perspektiven, aber auch anderen Sichtweisen auf ihre Kultur konfrontiert. Nach unserer Erfahrung stellt die Entscheidung für eine Rekonstruktion ohnehin schon einen gra-

8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation  161

vierenden Schritt dar. Ein zu ausgedehnter Ansatz, insbesondere mit aufwendigen Lappenplastiken und damit natürlich einer längeren Heilphase, stellt häufig eine Überforderung dar. Die Indikationsstellung muss diesen Aspekt berücksichtigen. Klitorisreelevation, Neo-Glans Die ersten Eingriffe, die über die ausschließliche Deinfibulation hinausgingen, bezogen sich auf die Therapie von Narben, Fisteln oder Dermoidzysten. Foldès erweiterte nach einem Vorschlag von Thabet diesen Ansatz auf eine umfassendere funktionelle Rekonstruktion. Fast alle Frauen wünschen sich im Rahmen der Rekonstruktion eine deutlich sichtbare Klitoris. Dies scheint nach seinen Befunden zudem mit dem funktionellen Resultat zu korrelieren. Seine Technik bildet mit allenfalls leichten Modifikationen die Grundlage der derzeitigen Ansätze. Hierfür wird zunächst die Hautnarbe inzidiert oder partiell exzidiert und das darunter liegende fibrotische Gewebe soweit nach proximal exponiert, bis die Spitze des Klitorisstumpfes erreicht ist (Abb. 8.39 und Abb. 8.40). An dieser Stelle werden die Haltebänder der Klitoris (Lig. suspensorii) zur Symphyse gelöst. Es schließt sich die Präparation direkt auf dem Periost nach caudal an, bis die gewünschte Mobilisation erreicht ist. Dies ermöglicht eine effektive Verlagerung der verbliebenen klitoralen Anteile nach caudo-ventral. Um die hiermit erzielte Projektion der Klitoris im Verlauf der Epithelisation nicht zu verlieren, ist eine leichte Überprojektion und vollkommen spannungsfreie Positionierung erforderlich. Auf den Verlauf der klitoralen Nerven ist hierbei sorgfältig zu achten. Im Zweifel sollten sie beidseits dargestellt werden, um eine sichere Schonung zu gewährleisten. Im nächsten Schritt muss das narbig-fibrotische Gewebe, das den Klitorisstumpf umgibt, vollständig entfernt werden. Der Übergang zum zarten Gewebe des Klitoriskörpers ist mit einiger Erfahrung gut zu identifizieren. Sie kann zart, aber auch sehr ausgeprägt sein (Abb. 8.41). Es ist zweckmäßig einen Saum des Narbengewebes an der Basis zu belassen, um hieran später die Fixierung vorzunehmen, ohne Gefahr zu laufen, die Klitoris oder die sensiblen Nerven zu kompromittieren. Die Klitoris wird in ihrer neuen Position fixiert. Dies erfolgt zum einen durch Adaptation der seitlichen Haltebänder, zum anderen durch zirkuläre Nähte (Abb. 8.42). Beide Aspekte – die sichere Fixation und die ausreichende Mobilisation sind entscheidend, um einen späteren Verlust der erreichten Projektion zu vermeiden. In seiner Originaltechnik wird nach Fixierung der Haltebänder die Haut der Labia majora invertiert und oberhalb der Klitoris an der Symphyse fixiert. Hieraus resultiert eine Inversion des zuvor erhabenen Narbenareals mit der Folge, dass der Sulcus labialis verlängert erscheint und die Klitoris trotz ihrer nun exponierten Lokalisation, zumindest partiell bedeckt ist. Diese Naht wird unter Einbeziehung der seitlichen Hautränder um die Klitoris fortgesetzt und mit dem Defekt oberhalb der Harnröhrenöffnung vereint. Auf diese Weise ist die Neo-Glans fest in einen Hautmantel integriert. Sie selbst bleibt unbedeckt und wird der langsamen Epithelisation überlassen (Abb. 8.43).

162  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Abb. 8.39: Inzision der Narbe.

Abb. 8.40: Präparation nach proximal, bis das Ende des klitoralen Stumpfes erreicht ist. Durchtrennen der Lig. suspensoria zur Mobilisation.

8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation  163

(a)

(b)

Abb. 8.41: Exzision der Narbe und Freilegung der Klitoris.

164  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Abb. 8.42: Verschluss des entstandenen Defektes in dem ehemaligen Klitorislager und Sicherung der Re-Exposition durch Adaptation der beiden Lig. suspensoria clitoridis. Am proximalen Pol wird die erzielte Projektion der Klitoris durch eine zentrale Naht an dem Narbensaum gesichert.

Abb. 8.43: Invertierende Naht der Wundränder und Ausformung eines zentralen Sulcus. Die Klitoris wird der sekundären Epithelisation überlassen.

8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation  165

Ein Prozess der etwa sechs bis acht Wochen dauert. In dieser Phase wird auch ihre Projektion wieder einen, nicht selten erheblichen, Teil des erreichten Vorschubs verlieren. Es ist also erforderlich diesen anfänglich über das gewünschte Maß hinaus zu planen. Der verbleibende, in aller Regel dezente, Hautüberschuss wird verwendet, um durch einen YV-Verschluss zumindest rudimentäre Labia minora zu konstruieren. Dieses Vorgehen zur Klitoris Elevation und anschließenden Verwendung als NeoGlans hat sich inzwischen soweit etabliert, dass es mit individuellen Modifikationen als Standard angesehen werden kann. Die Methode hat den Vorteil, dass sie mit einer geringen Morbidität und Komplikationsrate verbunden ist. Auch unter schwierigen Bedingungen, z. B. in Afrika, ist die Technik erprobt und gut zu realisieren. Foldès hat in dieser Technik annähernd 3000 Patientinnen operiert, fast ausschließlich nach Typ II Beschneidung. Bei einem Drittel konnte er nach einem Jahr eine Nachuntersuchung durchführen. Er wies nach, dass die klitorale Sensibilität im überwiegenden Anteil der Betroffenen verbessert werden konnte. Technisch fiel auf, dass die erreichte Projektion der Neo-Glans nicht immer zu sichern war. In 24 % d. F. war die Projektion zwar noch sichtbar, in 6 % aber nur noch palpabel. Ein Problem, dass wir ebenfalls beobachtet haben und die Patientinnen erheblich stört. Es war der häufigste Grund für eine nicht vollständige Zufriedenheit mit dem Eingriff. Nach unserer Erfahrung ist eine ausgedehnte, vollkommen spannungsfreie Mobilisation, eine sichere, zirkuläre Fixierung und eine dezente Überkorrektur erforderlich, um die sekundäre Einziehung zu vermindern. Ein wesentlicher Anspruch der Patientinnen ist die Wiederherstellung eines möglichst unauffälligen Äußeren. Dies lässt sich mit der beschriebenen Technik allerdings nur bedingt, bzw. nur bei günstiger Ausgangslage erreichen. Nachdem die Sensibilität und auch eine bestehende Schmerzsymptomatik mit dieser Technik positiv beeinflusst werden kann, stellt sich die Frage, ob es auch das äußere Erscheinungsbild dem drängenden Wunsch der Betroffenen nach einem möglichst unauffälligen Aussehen Rechenschaft trägt. Zwar kann in den meisten Fällen die flächige Narbe in eine Einkerbung modifiziert werden, was insbesondere bei ausreichend residualen Labia majora durchaus einen unauffälligen Aspekt erzielen kann. Der Sulcus wird jedoch durch die Verlagerung der Klitoris nach distal deutlich verlängert. Ein Aspekt, der durch die fehlende Abdeckung der Klitoris durch ein Präputium und damit Ausbildung von Sulci interlabialis noch verstärkt wird. Besonders bei schlanken Patientinnen oder weit resezierten Labia majora kann dies eine unbefriedigende Lösung darstellen. Zudem wurde die Technik fast ausschließlich bei Typ II Beschneidungen eingesetzt, also bei Befunden mit geringerer Beteiligung der Labia majora im vaginalen Anteil der Vulva. Daher musste auf einen ausreichenden Ersatz des Gewebeverlustes nach Deinfibulation zur Vermeidung eines exponierten Introitus keine Rücksicht genommen werden. Ein weiterer ästhetisch auffälliger Aspekt ist die Deckung des Defektes zwischen Meatus urethrae und Neo-Klitoris mit dunkler Haut der Labien. Auch dieses Areal

166  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

lässt sich mit der Technik nicht befriedigend decken, wenn lokal keine Haut in der erforderlichen Qualität verblieben ist. Gute Indikationen stellen somit weitgehend isolierte Resektionen der Labia minora mit oder ohne Infibulation dar, besonders wenn die Labia majora ausreichend voluminös sind, um eine Verdeckung der Neo-Glans zu erzielen. Hierdurch kann das Defizit meist gut ausgeglichen werden, es bestehen in aller Regel keine funktionellen Beschwerden im vaginalen Bereich. Auch der ästhetische Aspekt ist in den unteren ⅔ der Vulva meistens relativ unauffällig. Bei sehr schlanken Patientinnen ist es vorteilhaft, wenn das Präputium zumindest partiell erhalten ist. Selten finden sich Fälle mit narbiger Einziehung am Introitus vaginae nach ausgedehnten Resektionen, bei denen das resultierende Hautdefizit funktionelle Probleme verursachen kann. Diese lokalen Narbenprobleme der Vulva haben immer eine Ursache, die alleinige Resektion oder Korrektur der Narben ist in aller Regel nicht zielführend. Dies gilt auch für rezidivierende Risse in der Perinealregion, über die Betroffene gelegentlich klagen. Im Fourchette-Bereich wirkt sich die relative Enge durch fehlende Elastizität der ventralen Narbenareale aus. Eine alleinige Erweiterungsplastik wird das Problem nur selten kompensieren. Die Versorgung sollte daher gemeinsam mit der Rekonstruktion geplant werden. Rekonstruktion Präputium Ob eine Rekonstruktion des Präputiums mit lokalen Lappenplastiken möglich ist, wird durch das Ausmaß der Resektion und die Narbenqualität im oberen Drittel der Labia majora bestimmt. Die Infibulation einer Typ III Beschneidung verschleiert möglicherweise das Ausmaß der Resektion. Nach Deinfibulation und Resektion der Narben kann dies im distalen Drittel zu einer klaffenden Vulva mit entsprechenden Problemen führen. Im proximalen Drittel muss ausreichend Gewebe vollkommen spannungsfrei und mit guter Hautqualität zur Verfügung stehen, um eine dauerhafte zeltförmige Struktur mit zwei seitlichen Einsenkungen, den Sulci interlabialis, zu konstruieren. Dies muss bei der Wahl der Operationstechnik berücksichtigt werden. Mitunter ist die Versorgung mit einer gestielten Lappenplastik, wie sie im folgenden Kapitel beschrieben wird, besser geeignet. Die Wiederherstellung einer präputialen Überdeckung der Neo-Klitoris kann in drei Situationen erwogen werden. Am einfachsten sind Fälle mit partiell erhaltenem Präputium. Hier muss lediglich geprüft werden, ob die zukünftige Position der nach kaudal verlagerten Neo-Glans bzw. der re-elevierten Klitoris bei erhaltener Glans mit der Position des Präputiums korrespondiert. Die anderen Gruppen betreffen Frauen mit einer nur dezenten Resektion der Labia majora und entsprechendem Weichteilüberschuss bzw. einer breiten und weichen Narbenplatte (Abb. 8.44). Naturgemäß ist die Verwendung von Narbenarealen schwierig und das Resultat am wenigsten vorhersehbar.

8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation  167

Abb. 8.44: Typ III mit Hautüberschuss durch erhebliche Narbenaufwerfung proximal.

Bei allen anderen Fällen, entweder einer vorbestehenden deutlichen Spannung auf der Narbe oder einer dünnen, hypoplastischen Narbe, sollte besser auf den Versuch verzichtet werden. Im Fall einer guten Indikation für die Foldès-Technik kann hierauf zurückgegriffen werden. Dies gilt besonders bei voluminösen Labia majora, die durchaus eine auch ästhetisch befriedigende Abdeckung erzielen können. Andernfalls bleibt nur die Verwendung einer gestielten Lappenplastik mit integrierter Konstruktion des präputialen Anteils. Hierbei sollte beachtet werden, dass dies mit einer deutlichen Erweiterung der postoperativen Morbidität verbunden ist und viele, besonders junge Frauen mit begleitender Polytraumatisierung zum Beispiel nach Fluchterfahrungen, hiermit möglicherweise überfordert sind. In diesen Fällen kann auch zunächst mit einem eingeschränkten Resultat die alleinige Neo-Glans Konstruktion erfolgen und die Formverbesserung durch die aufwendigere Technik zu einem späteren Zeitpunkt ergänzt werden, wenn weiterhin der Wunsch besteht.

168  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Planung Das Präputium ist schwieriger zu korrigieren als die Elevation der Klitoris, da der hierfür erforderliche Hautüberschuss entfernt wurde und ortsständig lediglich eine Narbe mit mehr oder weniger guter Hautstruktur zur Verfügung steht. Dennoch hat sich die Einschätzung, dass das Gewebe nicht verwendet werden kann, nicht bewahrheitet. Allerdings muss das gewünschte bzw. erwartete Resultat mit dem zur Verfügung stehenden Material abgeglichen werden [2]. Für die Positionierung des Präputiums ist neben dem zur Verfügung stehenden Weichteilmantels die zukünftige Position der exponierten Klitoris entscheidend. Bei einer Infibulation wird zunächst der obere Umschlagpunkt durch Sondierung ermittelt und markiert. Der Meatus urethrae ist in aller Regel nicht betroffen und sein Abstand hiervon kann im Laufe der Dissektion überprüft werden. Eine Anpassung der Planung ist jedoch nur sehr selten erforderlich. Sodann wird die Oberkante der palpablen Klitoris markiert und die erforderliche Rotationsstrecke für eine ausreichende Projektion ermittelt. Die Oberkante der Neo-Glans stellt die Position für die spätere Basis des Präputiums dar. Als nächstes muss geprüft werden, ob ausreichend Gewebe für eine vollständige Überdachung der Klitoris mit Auskleidung auch der Innenwand – dem sog. „inner lining“, zur Verfügung steht. Neben der dafür erforderlichen Länge, muss dafür auch ausreichend Gewebe für eine breite Basis vorhanden sein, damit nach Narbenschrumpfung durch die sekundäre Epithelisation keine Einziehung resultiert. Erscheint die Hautspannung zu hoch, oder imponiert das Narbenmaterial hypoplastisch, sollte auf die Inversion verzichtet werden. Zu kleine Lappenplastiken haben nach unserer Erfahrung in der Region keine gute Aussicht auf langfristigen Erfolg. In vielen Fällen kann stattdessen oberhalb der Klitoris zumindest eine präputiale Aufwerfung mit Ausbildung von zwei verlängerten Sulci interlabialis gebildet werden. Auch die direkte Inklusion der Neo-Glans in diese Formation kann eine gute Lösung mit deutlich natürlicherem Aspekt im Vergleich zu der alleinigen Elevation erzielen (Abb. 8.45 und Abb. 8.46). Die flächenhafte Narbe einer Infibulation kann für die Rekonstruktion verwendet werden, wenn sie zart ist und spannungsfreie Hautverhältnisse vorliegen. Das Ziel ist es, die bei der Foldès-Technik resultierende lange vertikale Narbe durch Rekonstruktion eines zumindest rudimentären Präputiums natürlicher zu gestalten. Und schließlich muss geprüft werden, ob das Areal zwischen der Harnröhrenöffnung und der Klitoris ebenfalls gedeckt werden muss. Bei einer Typ II Beschneidung ist dies offensichtlich, im Falle einer Infibulation muss das Vorgehen zunächst so geplant werden, dass hierfür ausreichend Gewebe geschont wird, bis dieses Areal zweifelsfrei beurteilt werden kann. Idealerweise sollte das Kolorit dem rosigen Aspekt der Umgebung gleichen (vergl. Abb. 8.43 mit Verwendung der dunklen Haut der Labien in der Originaltechnik).

8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation  169

Abb. 8.45: Hypoplastische unelastische Narbe. Eine Resektion ist dennoch nicht erforderlich. Zumindest die beiden Sulci interlabialis können damit konstruiert werden.

Abb. 8.46: Abschluss nach Verwendung des Narbenareales zur Ausbildung der Sulci interlabialis und eines rudimentären Präputiums. Die Klitoris muss deutlich übereleviert werden, da sie im Verlauf der Epithelisation um ca. zwei Drittel schrumpfen wird.

170  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Die zur Verfügung stehende Haut wird als doppelte Umkipplappenplastik geplant. Dabei wird das innere Blatt, das in der Regel ein helles Kolorit aufweist, für die Deckung der Strecke zwischen Meatus und Klitoris verwendet, das äußere Blatt für das Präputium und falls ausreichend das inner lining. Die Hautbrücke beginnt in aller Regel knapp oberhalb des Meatus urethrae, der nur sehr selten in das Narbenareal integriert ist. Darüber ist die Wunde wie bei einer Typ II Beschneidung fest mit der Unterfläche vernarbt, oder es liegt eine mehr oder weniger intakte Klitoris am Umkehrpunkt vor. Ist dies im Vorfeld nicht sicher zu beurteilen, muss der Zugang schrittweise erfolgen, da häufig zwischen Meatus und verbliebener Klitoris ein Narbenanteil liegt, der gedeckt werden muss, um eine Verlagerung mit entsprechender funktioneller Beschwerdesymptomatik zu vermeiden. Auch dafür eignet sich das innere Blatt der Narbenbrücke, zumal es in aller Regel dasselbe Hautkolorit aufweist. Präparation Es erfolgt ggf. nach Hydrodissektion die Präparation zwischen den beiden Blättern bis der Umkipppunkt erreicht ist (Abb. 8.47). Ab hier muss schrittweise der zuvor palpierte klitorale Körper aufgesucht werden. Da nach wie vor unklar ist, ob es sich hierbei um eine narbige Aufwerfung, eine Retentionszyste mit oder ohne Inklusion der möglicherweise nicht resezierten Glans oder tatsächlich um den Klitorisstumpf handelt, muss bis zur Klärung der Anatomie mit besonderer Vorsicht präpariert werden. Begleitende Fisteln sind immer suspekt auf residuale klitorale Anteile. Ist die Oberkante der Klitoris erreicht, wird der Eingriff wie in der Foldès-Technik beschrieben fortgesetzt. Anfänglich fällt es schwer diesen Punkt zu finden, da das sich anschließende Narbengewebe eine ähnliche Konsistenz hat. Dennoch sollte auf eine zu weite Präparation nach proximal verzichtet werden, da das resultierende Volumendefizit nur schwer zu kompensieren ist.

8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation  171

Abb. 8.47: Präparation zwischen den beiden Blättern der Infibulation/Pseudoinfibulation.

Präputium Nach endgültiger Fixierung der Klitoris wird, falls erforderlich, das zuvor gebildete innere Blatt der Narbe für eine Deckung des Areales oberhalb der Harnröhrenöffnung umgeschlagen, auf die erforderliche Länge bis zur Basis der Klitoris gekürzt und an dem belassenen Fibrosesaum spannungsfrei fixiert (Abb. 8.48). Das äußere Blatt kann nun für die Formung und Auskleidung des Präputium verwendet werden (Abb. 8.49). Das Design des präparierten Läppchens wurde zur Basis leicht verbreitert, um eine ausreichende Weite zu erzielen. Sollte diese nicht ausreichen oder das distale Ende der Lappenplastik im Verhältnis zu schmal sein, können durch eine zusätzliche Inzision zwei Fähnchenlappen gebildet werden, die kragenartig die Klitoris umgreifen. Unbedingt ist auf eine ausreichende Weite in diesem Bereich zu achten. Nach Fixierung erfolgt die Ausformung und Feinadaptation mit feinen resorbierbaren Einzelknopfnähten. Das Präputium profitiert häufig von ein oder zwei Matratzennähten zur Definition der endgültigen Form (Abb. 8.50 und Abb. 8.51).

172  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

U

MU Abb. 8.48: Das innere Blatt mit meist rosigem Kolorit wird als Umkipplappenplastik (U) in der erforderlichen Länge und Breite bis zur zukünftigen Basis der Klitoris verwendet. MU = Meatus urethrae.

Abb. 8.49: Invertieren des äußeren Blattes und Ausformung des Präputium mit ein bis zwei U-Nähten falls erforderlich.

8.5 Rekonstruktion statt Deinfibulation  173

Abb. 8.50: Befund nach zwölf Wochen mit vollständig epithelialisierter Klitoris.

Abb. 8.51: Befund nach sechs Monaten.

174  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Zyste/Pseudo-Klitoris Liegt eine ausgedehnte Zyste vor, muss stets sorgfältig nach einer verbliebenen Glans gesucht werden. Der große Hautüberschuss verleitet zur Verwendung mit aufwendigen Lappenplastiken. Nach unserer Erfahrung sollte primär eher zurückhaltend vorgegangen werden, da der erheblich überexpandierte Hautmantel innerhalb weniger Tage fast vollständig schrumpft. Besser ist eine sekundäre Korrektur, falls erforderlich (Abb. 8.52). Nicht immer liegen so ausgedehnte Befunde vor. Zum Teil sind die Zysten wesentlich kleiner und können auch mit dem narbig überwachsenen Klitorisstumpf verwechselt werden. Besonders ist darauf zu achten, dass die Klitoris oder Teile davon in der Zystenwand verblieben sind. Sie sollte also nicht primär in toto reseziert werden, ohne sich hiervon zu überzeugen. Gelegentlich finden sich multiple zystische Residuen und nach insuffizienten Teilresektionen zum Teil ausgedehnte Fistelgänge, die vollständig entfernt werden müssen.

Abb. 8.52: Ausgedehnte Retentionszyste. Der Hautüberschuss eignet sich in der Regel nicht für eine Lappenplastik, da er stark schrumpfen wird.

8.6 Rekonstruktion bei ausgedehnten Vulvadefekten  175

Nachsorge Der Eingriff wird mit der Installation von einem langwirksamen Lokalanästhetikum und Fettgazeverband abgeschlossen. Orale Analgetika bei Bedarf. Die Patientinnen werden angehalten ab dem zweiten postoperativen Tag den Wundbereich zu duschen und trocken zu tupfen. Anfänglich schildern viele Patientinnen eine Hypersensibilität im Bereich der noch nicht epithelialisierten Klitoris, die sich aber im Laufe von einigen Wochen zurückbildet. Referenzen [1] [2]

Foldès P, Cuzin B, Andro A . Reconstructive surgery after female genital mutilation: a prospective cohort study. Lancet. 2012;380:134–141. von Fritschen U, Strunz C, Scherer R. Female Genital Mutilation/-Cutting. In: Intimchirurgie, S. 117–125, Springer, Berlin, Heidelberg, ISBN 978-3-662-57391-4.

8.6 Rekonstruktion bei ausgedehnten Vulvadefekten Uwe von Fritschen Die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Techniken erfordern für die zumindest partielle Rekonstruktion des Präputiums ausreichend verbliebenes Gewebe, das zart genug für die filigrane Lappenplastik ist. Entweder durch eine moderate Beschneidungsform ohne wesentliche Beteiligung der Labia majora oder ein ausreichend breites und formbares Narbenareal. Die Techniken kommen an ihre Grenze, wenn zusätzlich der funktionelle Verschluss der Vulva erzielt werden muss. Es sollte daher keine deutliche Exposition des Scheideneinganges vorliegen, da dies mit den beschriebenen Techniken nicht ausreichend zu kompensieren ist. Bei ausgedehnter Resektion auch der großen Schamlippen mit daraus resultierender Spannung, ev. noch kompliziert durch ein derbes Narbenareal nach Infibulation oder Fistelung, muss das seinerzeit resezierte Gewebe ersetzt werden, falls die Patientin eine entsprechende Beschwerdesymptomatik angibt oder diese nach Deinfibulation zu erwarten ist (s. Abb. 8.53 und Abb. 8.54). Ohne funktionelle Probleme, oder wenn der erweiterte Eingriff der Patientin zum jetzigen Zeitpunkt nicht zugemutet werden soll, kann zunächst auf die primäre Technik von Foldès zurückgegriffen werden. Die Ergänzung ist auch sekundär möglich. Hiermit kann zwar die Klitoriselevation erzielt werden, jedoch keine Deckung durch ein Neo-Präputium. Auch der insuffiziente Verschluss der Vulva muss dann akzeptieren werden. Nach Eröffnung der Infibulationsnarbe zieht die Hautspannung die Wunde auf ihre ursprüngliche Weite von meist mehreren Zentimetern und zeigt den tatsächlichen Umfang des Resektionsausmaßes. Durch eine alleinige Vereinigung der Wundränder nach Elevation der Klitoris wird die Hautspannung nicht kompen-

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Abb. 8.53: Typ IIIb mit subtotaler Resektion der Labia majora und erheblicher Spannung auf dem Narbengewebe.

siert und resultiert in diesen Fällen in einer ästhetisch und funktionell unbefriedigenden Lösung. Für eine spannungsfreie Rekonstruktion muss in diesen Fällen der Defekt wieder aufgefüllt werden. Natürlich können die komplexen und zarten Strukturen des weiblichen Genitale nicht vollständig rekonstruiert werden. Dennoch kann versucht werden die normale Anatomie der Labia minora zumindest partiell durch Ausbildung des Sulcus interlabialis zu konstruieren. Für den Gewebeersatz ausgedehnter Defekte – meist nach onkologischen Eingriffen – sind zahlreiche Nah- und Fernlappenplastiken beschrieben. Stand zunächst die funktionelle Defektdeckung im Vordergrund, wurden zunehmend Techniken entwickelt, die durch Einschluss von Hautnerven in das Lappendesign auch eine sensible Versorgung sicherstellen. Bei Verletzungen durch FGM ist der Defekt jedoch häufig kleiner als nach Tumorentfernung. Viele der gestielten, lokalen Lappenplastiken fallen daher zu voluminös aus, um damit unsere beiden Ziele zu erreichen – eine

8.6 Rekonstruktion bei ausgedehnten Vulvadefekten  177

Abb. 8.54: Z. n. Exposition der erhaltenen Klitoris nach einer alleinigen Deinfibulation. Naht der Wunde mit konsekutiv klaffender Vulva aufgrund der fehlenden seitlichen Substanz zur vollständigen Defektrekonstruktion.

funktionelle Verbesserung und gleichzeitig ein möglichst unauffälliges Erscheinungsbild. Das verwendete Gewebe muss mobil und formbar sein, ohne die Gefäßversorgung zu beeinträchtigen. Ein zu hohes Volumen, ein nicht vollständig spannungsfreier Verschluss oder eine insuffiziente Durchblutung wird zu einem unbefriedigenden Resultat führen. Ein weiteres Kriterium stellt die Narbe im Hebebereich dar. Da ein hoher Anspruch an das kosmetische Resultat gestellt wird, muss auch der Defekt im Spendeareal so unauffällig wie möglich sein. Aufgrund ihrer geringen Dicke und der zuverlässigen Gefäßversorgung hat sich ein Gewebeareal aus der Beugefalte des Oberschenkels (Sulcus genitofemoralis) bewährt. Die Durchblutung erfolgt über einen Ast der A. obturatoria oder weiter dorsal durch die A. perinealis, einem Ast der A. pudenda interna. Häufig können beide Gefäßareale eingeschlossen werden, ohne die Mobilität der Lappenplastik zu beeinträchtigen. Diese Technik, der Pudendal Thigh Flap, wurde 1989 von Wee und Joseph aus Singapur ursprünglich für die Rekonstruktion der Vagina beschrieben. Sie verwendeten einen neurovaskulären Insellappen, verzichteten also auf die Hautbrücke zu der Herkunftsregion. Er ist seither auch als Singapore-flap bekannt. Seine Gefäßachse beruht auf der A. labialis post., einem Ast der A. perinealis. Die sensible Innervation erfolgt über Äste der Nn. pudendus und cutaneus femoris post. Woods et al modifizierten die Technik und verlagerten das Gewebe durch Tunnelung unter den Labia majora [1–5,7].

178  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

AO ALab Api = A. pudenda interna AO = A. obturatoria ALab = A. labialis ant. Api

Abb. 8.55: Perineale Gefäßversorgung und A. obturatoria Insellappen (anterior), Pudendal Thight Flap (posterior).

In der Folge wurde das Lappendesign für kleinere Defekte perfektioniert. Im Vordergrund standen die Formbarkeit und die spannungsfreie Mobilisation ohne die Durchblutung zu kompromittieren. Planung und operatives Vorgehen Nach Markierung der Beugefalte erfolgt die dopplersonografische Darstellung der beiden Perforatoren (s. Abb. 8.56). Den Ast der A. obturatoria findet man am posterioren Rand des M. gracilis dicht am Ramus inf. ossis pubis. Die A. perinealis liegt weiter posterior und etwas lateral, weshalb diese Gefäßachse nicht immer spannungsfrei erhalten werden kann. Um beim Wundverschluss keine Verlagerung der Labien zu erzeugen wird der Sulcus als mediale Grenze gewählt. Die Breite ist abhängig von der Laxizität der Haut. 5–6 cm sind immer zu erreichen. Für die Länge sind 8–10 cm ausreichend. Sowohl der Singapore-Flap, als auch seine vollständig ausgelöste Variante sind bis zu 16 cm beschrieben. Dann ist jedoch mit einer erhöhten Rate an Spitzennekrosen zu rechnen, da der anteriore Teil der perinealen Region vorwiegend durch Äste der A. pudenda ext. versorgt wird. Für die alleinige Rekonstruktion der Labia minora ist diese Ausdehnung auch nie erforderlich [6]. Zudem sollte eine Minderperfusion im apikalen Bereich des Lappens vermieden werden, da eine Sekundärheilung letztlich zu narbigen Verhärtungen führt. In dem besonders sichtbaren Bereich kompromittieren sie nicht nur das ästhetische Resultat, sondern können wiederum Schmerzen verursachen. Nach Markierung eines spindelförmigen Designs (s. Abb. 8.55), erfolgt die Dissektion von anterior lateral nach posterior, bis der perforierende Ast der A. obturatoria identifiziert ist (s. Abb. 8.57 und Abb. 8.58). Die Präparation kann sowohl sub-

8.6 Rekonstruktion bei ausgedehnten Vulvadefekten  179

als auch epifaszial erfolgen. Für die spätere Fixierung des lateralen Hautanteils vom Oberschenkel, empfiehlt es sich jedoch einen Teil der Faszie zu erhalten. Nach Identifikation der beiden Perforatoren wird der Lappen vollständig bis an die beiden Gefäße mobilisiert. Um die Mobilität zu erhöhen, wird die Lappenplastik auf der medialen Seite bis auf die Faszie durchtrennt und partiell nach lateral ausgelöst. Nach Tunnelung in den Defekt kann überprüft werden, ob hierdurch eine spannungsfreie Transposition erreicht werden konnte und ob das verlagerte Volumen ein harmonisches Bild ergibt (s. Abb. 8.59). Falls nicht, ist zunächst zu prüfen, ob durch eine Ausdünnung ein besseres Resultat und eine höhere Mobilität zu erzielen wäre. Der PTF ist eine faszio-kutane Lappenplastik, die Durchblutung also unabhängig von dem darunterliegenden Fettgewebe. Der epifasziale Anteil des Fettgewebes kann somit reseziert werden, ohne die Durchblutung zu gefährden. In diesen Fällen kann hierdurch auch die spätere Formbarkeit des Sulcus interlabialis deutlich verbessert werden. Sollte dies nicht den gewünschten Erfolg bringen oder eine Ausdünnung aus kosmetischen Gründen unvorteilhaft sein, müssen die Gefäßachsen mobilisiert werden. Zunächst wird die A. perinealis ligiert und das Gewebe auch an der posterioren Seite unterminiert. Falls dies immer noch nicht ausreichend ist, kann durch Eröffnung der Faszie bzw. der Aponeurose des M. gracilis die Dissektion des zweiten Gefäßstiels unter Durchtrennung der feinen Seitenäste bis zur A. obturatoria fortgeführt werden. Hierdurch sind noch einmal ca. 1,5–2 cm zu gewinnen. In aller Regel ist dies jedoch nicht erforderlich. Zudem erfordert die Präparation dieser sehr zarten Gefäße einige mikrochirurgische Erfahrung, ermöglicht aber elegant die vollständige Auslösung der gesamten Hautinsel und Stielung alleine an den feinen Gefäßen [3,4]. Zur Ausformung der beiden Lappenplastiken werden proximal und distal Haltefäden angelegt. Sollte sich der Sulcus interlabialis hierdurch nicht ausreichend formen, muss ev. eine weitere Ausdünnung erwogen werden. Ansonsten können auch zarte Nähte angelegt werden, die das mittlere Drittel der Lappenplastik invertieren. In aller Regel reichen jedoch die beiden Zugvektoren aus. Die Klitoris wird wie zuvor beschrieben eleviert und fixiert. Zur Ausbildung des Präputiums wird an der gewünschten Position die Lappenplastik von medial etwa zu einem Viertel inzidiert und die beiden hierdurch erzielten dreieckigen Läppchen evertiert (s. Abb. 8.60–Abb. 8.62). Der posteriore Wundrand umschließt die Klitoris und sorgt für eine ausreichende Breite der Basis. Hier liegt ein gewisser Nachteil der Technik, da das inner lining des Präputiums nicht mit der Lappenplastik ausgekleidet werden kann. Entweder muss ausreichend Gewebe aus dem Narbenareal zur Verfügung stehen und in das Design überführt werden, oder die Klitoris wird in den distalen Anteil des gebildeten Präputiums integriert. Funktionell wird dies vermutlich keinen wesentlichen Unterschied machen. Lediglich eine zusätzliche Exposition ist dann nicht möglich, wobei die sichtbaren ventralen und apikalen Anteile wie beschrieben der Epithelisation überlassen werden.

180  8 Operative Techniken: Was ist möglich?

Der Verschluss des Hebedefektes erfolgt nach sehr sparsamer Mobilisation von wenigen Zentimetern nach lateral, soweit erforderlich. Die zuvor geschonten medialen Faszienanteile bzw. das Periost des Schambeinastes werden zur sicheren Fixierung der Fascia lata verwendet. Hierdurch wird sowohl der Sulcus genitofemoralis rekonstruiert als auch ein spannungsfreier zweischichtiger Wundverschluss ermöglicht. Die Narbenbildung ist in diesem Bereich relativ unauffällig, da sie exakt in der Beugefalte liegt. Dennoch besteht bei dunkler Haut prinzipiell eine Neigung zu hypertropher Narbenbildung, die dann entsprechend behandelt werden muss. Nach dem Eingriff wird die Patientin bequem gelagert. Meist wird eine leicht gebeugte Position mit etwas gespreizten Beinen als angenehm empfunden, da anfänglich eine gewisse Schwellneigung besteht. Die Patientinnen können für einen Tag im Bett bleiben, werden dann aber ermuntert aufzustehen. Infektionen und gelockerte Fäden mit Dehiszenz der Wundränder können leicht auftreten. Die Wundpflege ist für das Endresultat daher wichtig, leider in der Lokalisation oft nicht einfach zu gewährleisten. Duschen ist ab dem dritten bis fünften Tag möglich und vereinfacht das Procedere erheblich. Zudem bleiben die Patientinnen ca. acht bis zehn Tage in stationärer Behandlung, um die komplikationslose Heilung zu gewährleisten. Zusammenfassend stellt diese Technik eine sehr effektive und elegante Lösung bei ausgedehnten Substanzdefekten der Labia majora dar. Bei funktionellen Beschwerden, die hierauf zurückzuführen sind, kann darauf nicht verzichtet werden. Auf der anderen Seite stellt der Eingriff eine erhebliche Ausweitung des vorab beschriebenen Vorgehens dar, verbunden mit einer deutlichen Prolongation des postoperativen Verlaufes und einer potenziellen Hebemorbidität bei hypertropher Narbenbildung. Eine informierte Entscheidung zu fällen kann besonders den sehr jungen Frauen, oft mit Polytraumatisierung nach ihrer Flucht und den Erfahrungen in einem fremden Land, sehr schwer fallen bzw. kaum möglich sein. Nach unserer Erfahrung ist es in diesen Fällen häufig besser, zunächst mit einer einfacheren Technik zu beginnen und die vollständige Rekonstruktion für einen späteren Zeitpunkt anzubieten, falls dies dann noch gewünscht wird.

8.6 Rekonstruktion bei ausgedehnten Vulvadefekten  181

Abb. 8.56: Dopplersonografische Markierung des Perforators (ant. Ast der A. obturatoria) und Planung des Lappendesigns im Sulcus genitofemoralis.

Abb. 8.57: Umschneidung der Lappenplastik von proximal lateral.

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Abb. 8.58: Darstellen des Perforators und ggf. subfasziale Mobilisation zur Erweiterung der Mobilität.

Abb. 8.59: Tunneln der Lab. majora und Einführen der Lappenplastik in den Defekt.

8.6 Rekonstruktion bei ausgedehnten Vulvadefekten  183

Abb. 8.60: Mediale Inzision der beiden Lappenplastiken zur Vorbereitung des Neo-Präputiums.

Abb. 8.61: Ausformung des Präputiums, die lateralen Hebedefekte werden durch Vorschub verschlossen.

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Abb. 8.62: Die re-elevierte Klitoris wird in der Basis des NeoPräputiums fixiert.

Referenzen [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7]

Wee JT, Joseph VT. A new technique of vaginal reconstruction using neurovascular pudendalthigh flaps. A preliminary report. Plast Reconstr Surg. 1989;83:701. Woods JE, Alter G, Meland B, Podratz K. Experience with vaginal reconstruction utilizing the modified Singapore flap. Plast Reconstr Surg. 1992;90(2):270–274. O'Dey D, Bozkurt A, Pallua N. The anterior Obturator Artery Perforator flap: Surgical anatomy and application of a method for vulvar reconstruction. Gynecologic Oncology. 2010;119:526–530. von Fritschen U, Strunz C, Scherer R. Female Genital Mutilation/-Cutting. In: Intimchirurgie, S. 117–125, Springer, Berlin, Heidelberg, ISBN 978-3-662-57391-4. Niranjan NS. Perforator Flaps for perineal reconstruction. Semin Plast Surg. 2006(20):133–144. Yii NW, Niranjan NS. Lotus petal flaps in vulvo-vaginal reconstruction. Br J Plast Surg. 1996;49:547–554. Monstrey S, Blondeel P, van Landuyt K, et al. The versatility of the pudendal thigh fasciocutaneous flap used as an island flap. Plast Reconstr Surg. 2001;107:719–725.

8.7 Geburtshilfliche Betreuung und Behandlung von Schwangeren und Gebärenden mit FGM Jürgen Wacker, Comfort Momoh In diesem Kapitel werden die wichtigsten Aspekte der Betreuung von Schwangeren und Gebärenden mit FGM beschrieben. Eine Schwangerschaft soll eine Zeit der Freude und des Glücks sein. Leider bringt sie für manche Frauen mit FGM auch Erinnerungen und Flashbacks. Das medizinische Personal sollte sich bewusst sein, dass schwangere Frauen mit FGM nicht immer von sich aus darüber berichten, ohne gefragt worden zu sein. Es ist wichtig

8.7 Geburtshilfliche Betreuung und Behandlung von Schwangeren mit FGM  185

die Frauen frühzeitig z. B. durch Einstiegsfragen wie „Sind Sie verschlossen worden“, „Haben Sie Probleme beim Urinieren“ zu identifizieren. Erläutern Sie dann die unterschiedlichen Arten von FGM, da dies das erste Mal sein kann, dass ein Professioneller sie fragt, was ihr als Kind geschehen ist [7]. Eine frühzeitige antenatale Einbindung ist entscheidend, um eine umfassende Information, Unterstützung und holistische Betreuung sicherzustellen, falls sie erforderlich ist. Gesundheitsdienstleister und besonders Hebammen sind hierbei wichtig. Sie können eine signifikante Rolle bei der Identifikation von FGM spielen und sicherstellen, dass die Frauen und ihre Familien die Unterstützung und Betreuung erhalten, die sie während der Schwangerschaft, Geburt und der Zeit danach benötigen. Das gesamte Team muss sich mit den assoziierten Aspekten von FGM auskennen, Vertrauen aufbauen und Risiken identifizieren. Sie müssen die physischen und psychologischen Auswirkungen, die legalen und schutzrelevanten Fakten verstehen. Sie sollten in der Lage sein, die Familie und Communities zu bestärken und die Frauen unterstützen, FGM in ihrer Generation zu beenden [4]. Bei der Betreuung von Frauen, die mit FGM leben, sollte geklärt werden, ob sie in Gefahr für weitere Gewalt schweben und daher selbst Schutz und Unterstützung benötigen. Ebenso ob sie weitere Kinder haben oder Kinder in ihrer Betreuung, in ihrer erweiterten Familie oder Netzwerk, die möglicherweise ebenfalls Schutz bedürfen. Es gibt Informationsmaterial, das Gesundheitsdienstleistern bei der Identifikation von gefährdeten Frauen und Mädchen hilft und bei der Gesprächsführung unterstützt. Informieren Sie sie und ihre Familie, damit sie den Ernst von FGM verstehen. Unterstützen Sie sie, sich zu bekennen, sagen Sie ihnen, dass sie nicht alleine sind und dass sie nicht bewertet werden. Die Beziehung zwischen der Frau und dem Team ist entscheidend, um positive Erfahrungen zu machen und eine offene Beziehung aufzubauen. Fragen Sie nach der Einstellung der Frau zu FGM, Ihren Glauben und Lebenshintergrund. Soweit erforderlich, sind kultursensitive Übersetzer hier wichtig [5,6]. Komplikation von FGM Das geburtshilfliche Vorgehen ist stark von der Art und dem Ausmaß der Beschneidung abhängt. Um das Vorgehen in Schwangerschaft und Geburt besser zu verstehen, werden im Folgenden die häufigsten Komplikationen von FGM dargestellt. Die Häufigkeit und Art der akuten Komplikationen sind vom FGM-Typ, den hygienischen Bedingungen, dem „Geschick“ bzw. dem „Mitleid“ der Beschneiderin sowie vom Widerstand des Opfers abhängig. Basierend hierauf muss ein Plan für die Geburt erstellt, mit der Frau diskutiert und dokumentiert werden. Das Ziel ist eine vaginale Geburt mit Sektio nur für die üblichen geburtshilflichen Indikationen.

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Chronische und Folgekomplikationen – Leichte bis schwerste Miktionsbehinderungen, daraus resultierend Harnwegsinfektionen mit weiteren Komplikationen bis zur schweren Pyelonephritis. – Menstruationsbeschwerden mit Retention von Menstruationsblut. – Schwere Dysmenorrhoen, aszendierende Infektionen des inneren Genitale mit sekundärer Sterilität. – Schwerste psychische und physische Behinderungen der Vita sexualis (für viele vom Typ III betroffene Frauen ist Kohabitation synonym für Erduldung grenzenloser Schmerzen, die jedoch als naturgegeben hingenommen werden, da die wenigsten Betroffenen von der Existenz anderer Lebensformen Kenntnis haben). – Im Falle einer Schwangerschaft besteht die Gefahr schwerster geburtshilflicher Komplikation mit protrahiertem Geburtsverlauf vor allem in abgelegenen Gegenden ohne ausreichende medizinische Versorgung (u. a. vesikovaginale und rektovaginale Fisteln). Assoziiert wird FGM zudem mit einer erhöhten Rate an Kaiserschnitten, verlängertem Geburtsverlauf, postpartaler Blutung, Episiotomie bzw. perinealen Rissen, geringem Geburtsgewicht und neonatalen Komplikationen. Die erhöhten Risiken werden hierbei einem weniger elastischen Gewebe der Vulva zugeschrieben, insbesondere wenn die Einleitung einer fachgerechten Therapie verzögert erfolgt [1]. Die Häufigkeit dieser Probleme ist nicht eindeutig geklärt, die Evidenz gering bei einer Datenlage von limitierter Qualität. Es liegen jedoch auch Erfahrungen aus Europa vor, die nachweisen, dass ein hoher Versorgungsstandard diese Risiken minimieren kann [2,3,7]. Eine Verlaufsstudie aus Genf zeigt, dass das Outcome bei einer Behandlung unter Routinebedingungen in der Vor- und Nachbetreuung in Kombination mit einer spezialisierten Betreuung für Frauen mit FGM gleich war im Vergleich zu Frauen ohne FGM. Ebenso fand sich kein Unterschied zwischen Frauen mit einer Typ III und Typ I oder II Beschneidung. Inadäquates Vorgehen und Komplikationen, die mit FGM assoziiert werden, können hierdurch vermindert werden [1]. Probleme nach FGM während der Schwangerschaft und Geburt: – vaginale Untersuchung ist erschwert – Katheterapplikation ist unmöglich – Messung des fetalen Skalp-ph unmöglich – Austreibungsphase verlängert – Perinealrisse – postpartale Hämorrhagie – perineale Wundinfektion – vesikovaginale Fistelbildung

8.7 Geburtshilfliche Betreuung und Behandlung von Schwangeren mit FGM  187

Vorgehen in Schwangerschaft und unter der Geburt Eine vaginale Untersuchung kann aufgrund von Narbengewebe, aber ebenso durch Erinnerungen oder Flashbacks erschwert werden. In der Schwangerschaft muss durch den Geburtshelfer beurteilt werden, ob eine Schwangerenvorsorge (Spekulumuntersuchung, zytologische Abstrichuntersuchung, Uringewinnung/-untersuchung, Tastuntersuchung der Portio und des Muttermundes) möglich ist. Sollte dies nicht möglich sein, sollte die Patientin über diesen Zustand aufgeklärt und mit deren Einverständnis eine Deinfibulation im mittleren Trimenon der Schwangerschaft durchgeführt werden. Viele betroffene Schwangere wünschen, dass die Deinfibulation möglichst erst unter der Geburt in örtlicher, ausreichender Betäubung durchgeführt wird. Nach der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) basiert die Wundversorgung nach der Entbindung auf der mit der Patientin während der Schwangerschaft besprochenen Festlegung des Öffnens der Infibulation und der Wundversorgung nach der Geburt. Es darf kein erneuter Genitalverschluss in der Form vorgenommen werden, dass medizinische Probleme, wie rezidivierende Blaseninfektionen, Harnverhalt, Beeinträchtigung der Miktion, Stau des Menstruationsblutes oder Schwierigkeiten beim Sexualverkehr zu erwarten sind. Wie unsere Untersuchungen im südlichen Nigeria ergaben, hängt das Ausmaß von Geburtsverletzungen bei Schwangeren mit Zustand nach FGM I und II eher von den Umständen und der Betreuung unter der Geburt als von dem Ausmaß der FGM ab [3]. Bei Frauen mit Infibulation können weder ein zytologischer Abstrich noch eine vaginale Untersuchung durchgeführt werden. Aufgrund des stark behinderten Urinabflusses (ebenso der Retention des Vaginalsekretes) besteht die Neigung zu einem erhöhten intravaginalen pH-Wert und einem damit verbundenen häufigeren Auftreten von Kolpitiden und einem vorzeitigen Blasensprung. Eine verlässliche Kontrolle des Urins z. B. auf das Vorliegen einer Proteinurie etc. ist aus den gleichen Gründen unmöglich. Das Vorliegen einer Infibulation ist keine Indikation zur Sektio oder zur Durchführung einer vorzeitigen Episiotomie! In diesem Fall ist die Therapie der Wahl die Deinfibulation, d. h. die Erweiterung des Introitus vaginae zur Ermöglichung einer vaginalen Entbindung. Die Notwendigkeit, Möglichkeiten und die Vorgehensweise müssen mit der Patientin in verständlicher Weise am besten bereits in der Schwangerschaft besprochen werden. Bei Schwangeren kann eine Deinfibulation in dem stabilen mittleren Trimenon (z. B. zwischen der 20. und 30. Schwangerschaftswoche) durchgeführt werden. Nach erfolgter Deinfibulation können die Untersuchungen im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge ohne Probleme durchgeführt werden.

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Die wichtigsten Indikationen zur Durchführung einer Deinfibulation mit Einverständnis der Patientin sind: – Verlangen der Patientin – Schwierigkeiten beim Entleeren der Harnblase – erschwerter Geschlechtsverkehr – Keloidbildung des Narbengewebes – erschwerte Diagnostik bei Verdachtsbefund – schwere Dysmenorrhö – rezidivierende Infektionen – Geburt – Einschlusszysten

Die Operation muss in Narkose durchgeführt werden, um eine traumatische Erinnerung an den Akt der Genitalbeschneidung zu vermeiden. Als Methoden empfehlen sich Peridural- oder Leitungsanästhesie bzw. eine kurze Vollnarkose. Infibulierte Frauen müssen zur Entbindung deinfibuliert werden. Dies kann zu starken Blutungen führen und sollte deshalb nicht in zu großem Abstand vor Durchtreten des kindlichen Kopfes erfolgen. Eine Reinfibulation nach der Geburt ist rechtlich nicht zulässig. Migrantinnen sollten verstehen, dass dieser Eingriff in Deutschland strafbar ist und deshalb nicht durchgeführt werden kann. Bei allem Verständnis für die soziokulturelle und ethnische Situation muss man einfühlsam und konsequent den eigenen Standpunkt vertreten. Um zu vermeiden, dass die Klitoris hypersensibel auf normale Stimuli reagiert, kann erwogen werden, ob sie nach Deinfibulation in Einzelfällen nicht vorerst im kranialen Bereich wieder mit Haut bedeckt wird, bzw. bleibt. Rechtlich ist zwischen den verschiedenen Formen der (primären) Genitalverstümmelung und der Wundversorgung zu unterscheiden. Während das Erste nach der Leitlinie der DGGG eine schwere Körperverletzung darstellt, ist das Zweite eine medizinisch notwendige Maßnahme. Die Wundversorgung nach der Entbindung hat zum Ziel, die geöffneten Narben sowie den Dammriss oder den Dammschnitt zu versorgen. Frauen müssen in die Lage versetzt werden, eine informierte Wahl für ihre Körper und ihre Behandlung zu treffen. Partner und Familien sollten Teil dieser Konsultation sein, da es bei FGM darum geht die Einstellung zu ändern, die Geisteshaltung und diejenigen zu schützen, die in Gefahr sein könnten.

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Referenzen [1]

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8.7.1 Traumasensible Geburtshilfe – zum Schutz der Gebärenden, der Hebammen und Geburtshelfer Martina Kruse

Der Umgang und die Betreuung von Frauen, die FGM überlebt haben, hat viele Facetten. Nicht jede Frau, die FGM überlebt hat, ist traumatisiert. Ob ein Ereignis traumatisch erinnert wird oder nicht, ist von individuellen Faktoren abhängig. Allerdings haben viele der Frauen, die auf der Suche nach Schutz und Sicherheit hierhin gekommen sind, neben FGM weitere Erfahrungen von körperlicher, sexualisierter oder psychischer Gewalt gemacht. Sowohl im Heimatland, auf der Flucht oder in den hiesigen Flüchtlingsunterkünften sind sie Übergriffen ausgesetzt gewesen. Hier angekommen, leben sie für eine lange Zeit in einer unsicheren Situation, wissen nicht ob sie bleiben können oder das Land wieder verlassen müssen. Sie haben ihre Heimat und damit ihr bisheriges soziales Umfeld verloren. Unter diesen Umständen schwanger zu sein, stellt eine besondere Herausforderung dar, zumal das hiesige Gesundheitssystem ein völlig unbekanntes ist. All diese Faktoren können ebenfalls Ursachen von Traumatisierung sein – müssen es aber nicht zwangsläufig. Infolge des Traumas kann sich das Verhältnis zum eigenen Körper ändern. Nicht selten kann beobachtet werden, dass sich das Schmerzempfinden verändert. Zum Beispiel werden Wehen oder Schmerzen, in der Schwangerschaft oder beim Stillen ausgeblendet/dissoziiert. Das Erkennen von Komplikationen wird dadurch erschwert. Das Wachstum von Bauch und Brust während der Schwangerschaft, das Spüren der kindlichen Bewegungen in der Gebärmutter, das von vielen Frauen kaum erwartet werden kann, stellt Betroffene vor große Herausforderungen und wird oft genug

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abgelehnt oder verdrängt. Das Kind im Bauch kann als Feind erlebt werden. Eine junge Mutter berichtete mir, dass sie sich von dem Fetus „besetzt“ gefühlt habe und gegen Ende der Schwangerschaft Gewaltfantasien entwickelt habe. In Folge von FGM kann sich auch die Beziehung zu anderen Menschen ändern. Das Vertrauen in andere Menschen wurde verraten, die nahestehendsten Menschen haben nicht geholfen, sondern zu Schmerzen und (Todes-)Angst beigetragen. Wie soll dann einer unbekannten Hebamme, einer unbekannten Ärztin vertraut werden? Traumatisches Erleben ist verbunden mit Kontrollverlust und Hilflosigkeit. Daraus kann ein gesteigertes Kontrollbedürfnis in der Arbeitsbeziehung zu den Fachkräften resultieren. Terminabsagen, Nicht-Anwesenheiten, Beziehungsabbruch, Schuldzuweisungen und Weigerungen, bestimmte Dinge zu tun, können Beispiele dafür sein. Leider führt ein solches Verhalten nicht selten dazu, dass diese Patientinnen als sehr schwierig erlebt und entsprechend abgestempelt werden, was für die Betroffenen fatal ist. Der traumatische Stress hat den Körper in eine Alarmsituation versetzt. Betroffene haben ein sehr viel höheres Stresslevel und damit auch eine höhere Belastung als nicht betroffene Frauen [2]. Ein Stressgedächtnis hat sich entwickelt, welches jederzeit wieder reaktiviert werden kann. In einem an sich unbedrohlichen Moment können dann die gleichen Verhaltensweisen, Körperreaktionen oder Gefühle wie in der ursprünglichen traumatischen Situation gezeigt werden [5]. Ein Beispiel: den Mädchen wird die Beschneidung oft als Fest beschrieben, es werden Geschenke angekündigt. Stattdessen erlebt sie unerträgliche Schmerzen. Was denken Sie, was passiert, wenn der Gebärenden die Geburt als freudiges Ereignis angekündigt wird, diese dann aber wieder heftige (Wehen-) Schmerzen empfindet, eine ähnliche Körperhaltung wie damals einnehmen soll und an denselben Stellen berührt wird? Vermutlich wird sie reagieren, wie damals, vielleicht mit Panik und dem Versuch, wegzulaufen. Im Rahmen der geburtshilflichen Betreuung gibt es viele mögliche Faktoren, die das Stressgedächtnis der Frauen triggern können: das Geburtsgeschehen als solches kann an die Hilflosigkeit erinnern, invasive Untersuchungen, Lagerung auf einem gynäkologischen Stuhl, vaginale Untersuchungen, Schmerzen, Blutungen, festgehalten werden, Nacktheit oder die Anwesenheit von fremden Personen sind nur einige der Möglichkeiten. Auch die Beziehung zum Kind kann durch das Trauma belastet sein. Der Säugling ist auf eine gute und verlässliche Fürsorge angewiesen. Dieses zu leisten kann schnell zu einer zu großen Belastung werden und „zu viel“ sein. Sehr unruhige Kinder, die viel weinen, können eine Art Teufelskreis auslösen. Die mit einem hohen Stresslevel belastete Mutter strahlt die Unruhe auf den unruhigen Säugling aus, der das mit gesteigertem Weinen beantwortet, welches von der Mutter nicht bewältigt werden kann, das Stressniveau steigt, der Säugling wird unruhiger usw. Bei der Mutter kann ambivalentes Verhalten beobachtet werden. Einerseits sucht sie die Nähe zu ihrem Kind, andererseits lehnt sie es ab und beantwortet die Bindungssuche des Säuglings nicht. Ambivalenz kann sich auch in der Frage zeigen, ob sie ihre Tochter

8.7 Geburtshilfliche Betreuung und Behandlung von Schwangeren mit FGM  191

beschneiden lassen möchte. Sie weiß, welche gesundheitlichen Auswirkungen das bedeutet und lehnt es ab. Andererseits fürchtet sie für diesen Fall die Ausgrenzung ihrer Tochter aus der Community. Zu verstehen, welche Auswirkungen eine Traumatisierung durch FGM oder andere Ursachen auf die Schwangere und Mutter hat, hilft Ihnen als geburtshilflichem Personal, ungewöhnliche Reaktionen besser einordnen zu können und damit Verständnis für die Betroffenen zu entwickeln. Diese Verhaltensweisen stellen kompetente, normale Reaktionen auf die früheren verletzenden, nicht normalen Situationen dar. Sie sind also nicht defizitär zu sehen, sondern als Überlebensstrategien wertzuschätzen. In der Praxis wird darüber hinaus „traumasensibles“ Handeln hilfreich sein. Was ist darunter zu verstehen? Traumasensibler Umgang mit den Patientinnen bezieht sich vor allem auf die Haltung, mit der wir Menschen begegnen [4]. Wenn eine Frau auf die Folgen von FGM und die daraus (vielleicht) resultierende Traumatisierung reduziert wird, werden ihre sonstigen Fähigkeiten und Ressourcen außer Acht gelassen und sie wird auf eine Opferrolle reduziert. Sie hat trotz widriger Umstände überlebt und sogar den Mut, ein Kind zu bekommen. Statt Ohnmacht sollten den Frauen positive Gegenerfahrungen von Stärke und Handlungsfähigkeit ermöglicht werden. Beteiligen Sie sie an Entscheidungen, die getroffen werden, ermöglichen Sie ihr eine Geburt, die Ihren Wünschen entspricht. Vielfach hat das Fachpersonal Vorstellung davon, was der Gebärenden helfen könnte. So berichtete mir eine Hebamme, dass Sie immer versuche, die Anzahl der anwesenden Personen im Kreißsaal zu begrenzen, das würde der Frau Sicherheit geben. Was lässt sie da sicher sein? Vielleicht ist ja auch das Gegenteil der Fall und die Anwesenheit von mehreren Menschen signalisiert der Gebärenden Geborgenheit? Um Frauen angemessen begleiten zu können, müssen wir unsere europäische Kulturbrille absetzen und stattdessen neugierig auf die Vorstellungen und Ideen der schwangeren Frauen sein. Statt Vorannahmen auf sie zu übertragen, versuchen Sie ihr zu helfen herauszufinden, was sie möchte. Des Weiteren kann es hilfreich sein, wenn: – Kreißsaaltüren geschlossen sind und nicht jeder/jede ungefragt eintreten kann. – Vertraulich mit den Informationen, die Ihnen zur Verfügung gestellt werden, umgegangen wird. – Parteilich für die Wünsche und Interessen der Patientin eingestanden wird. – Das Schamgefühl der Schwangeren respektiert wird, indem ihr ermöglicht wird, sich zu bedecken, wenn sie es wünscht. Bevor Sie ihr erklären, was die Untersuchung ergeben hat, lassen Sie ihr die Zeit, sich wieder zu bekleiden. – Besprechen Sie mit der Gebärenden, auch was nach der Geburt passieren soll. Möchte sie das Kind direkt nehmen oder erst dann, wenn es von Blut und Schleim gereinigt wurde? Wie möchte sie ihr Kind ernähren? – Falls Sie Dolmetscher benötigen, sollten Sie jemanden finden, der nicht zur Familie gehört. Bedenken Sie, dass FGM häufig mit einem Tabu belegt ist. Es ist vermutlich ohnehin schon schwierig für die Frau, darüber zu sprechen, in Anwe-

192  8 Operative Techniken: Was ist möglich?



senheit von nahestehenden Personen oder Männern kann es noch weiter erschwert sein. Ermöglichen Sie Ihrer Patientin den Zugang zu Netzwerken und Beratungsstellen – dies ist ein Beitrag zur Selbstermächtigung.

Ein besonderes Augenmerk sollte auf die Durchführung von vaginalen Untersuchungen und Eingriffen liegen. Diese können das frühere Gewalterleben reaktivieren und zu Flashbacks oder Dissoziationen führen. Aus diesem Grund ist immer gut zu überlegen, ob die Untersuchung wirklich notwendig ist. Yeshi Sherover Neumann empfiehlt, die Intervention gut vorzubereiten, indem der Schwangeren im Vorfeld erklärt wird, weshalb sie wichtig ist und wie sie ablaufen wird. Sie sollte nach ihren Wünschen gefragt werden und wissen, dass sie jederzeit unterbrechen kann. Die Untersuchung selbst sollte langsam und im Kontakt mit der Patientin durchgeführt werden. Wenn der Blickkontakt bestehen bleibt, können körperliche Reaktionen und Stresszeichen wahrgenommen werden. Sagen Sie Ihrer Patientin, was Sie als nächstes machen („Jetzt werden Sie meine Finger spüren …“). Durch diesen sprachlichen Kontakt kann Sicherheit vermittelt werden – übrigens auch, wenn es eine Sprachbarriere gibt. Ihr beruhigender Tonfall wird dazu beitragen [6]. In der Geburtshilfe ist es in kritischen Momenten manchmal nicht möglich, derartig langsam vorzugehen. In diesem Fall ist es umso wichtiger, den Kontakt zur Gebärenden zu halten, ihr soweit wie möglich Sicherheit zu vermitteln, in dem Sie ihr zum Beispiel anbieten, ihre Hand zu halten und ihre Wahrnehmungen bestätigen („Ich merke, dass ist jetzt sehr unangenehm für Sie“). Um das Erlebte einordnen und verstehen zu können ist es unerlässlich, zumindest im Nachhinein zu erklären, warum so gehandelt wurde. Geburtshilfliche Fachkräfte können einen Beitrag dazu leisten, dass eine Überlebende von FGM und/oder anderen Traumata die Schwangerschaft, Geburt und die Zeit des Wochenbettes positiv erleben. Die Betreuung von traumatisierten Frauen kann für Hebammen und Geburtshelfer aber auch eine große Herausforderung darstellen. Die Vorstellung des Leides, welches die betreute Frau erlitten hat, wird sie nicht unbeeindruckt lassen und kann schlimmstenfalls dazu führen, dass sie in ihrem Inneren erschüttert werden. Charles Figley spricht von Mitgefühlserschöpfung (compassion fatigue). Er beschreibt dies als „Preis des Helfens“, als eine „vorhersehbare, verhinderbare, vermeidbare Folge der Arbeit mit ‚leidenden‘ Menschen“ [1]. Er sieht es als eine Art Berufsrisiko. Aus diesem Grund bedeutet traumasensibles Handeln auch Achtsamkeit für sich selbst, für die Belastung, die Sie tragen und die Symptome, die Sie vielleicht entwickeln. Die Regulierung von Nähe und Distanz ist unbedingt notwendig. Das Leid Ihrer Patientinnen ist nicht Ihr Leid. Sorgen Sie für ausreichend Pausen, für Reflexionsmöglichkeiten und für Ausgleich zu der anspruchsvollen Arbeit, die sie leisten [3].

Referenzen  193

Referenzen [1]

[2] [3] [4] [5] [6]

Figley CF. Mitgefühlserschöpfung. Der Preis des Helfens. In: Hudnall Stamm B, Hrsg. Sekundäre Traumastörungen. Wie Kliniker, Forscher & Erzieher sich vor traumatischen Auswirkungen ihrer Arbeit schützen können. Paderborn: Junfermann, 2002:41–59. Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. 4. Aufl. München: Reinhardt; 2009. Huber M. Wege der Traumabehandlung. Trauma und Traumabehandlung. Teil 2. Paderborn: Junfermann, 4. Aufl. 2009. Kruse M. Traumatisierte Frauen begleiten. Das Praxisbuch für Hebammenarbeit, Geburtshilfe, Frühe Hilfen. Stuttgart: Hippokrates; 2017. Maercker A. Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. In: Maercker A, Hrsg. Posttraumatische Belastungsstörung. 4. Aufl. Berlin, Heidelberg: Springer; 2013: 13–34. Sherover Neumann Y. Durchführung einer gynäkologischen Untersuchung bei sexuell missbrauchten Frauen. In: Simkin P, Klaus P. Wenn missbrauchte Frauen Mütter werden. Die Folgen früher sexueller Gewalt und therapeutische Hilfen. Stuttgart: Klett-Cotta: 267–278.

9 Postoperative Betreuung und Selbsthilfegruppen Cornelia Strunz Die postoperative Betreuung der betroffenen Frauen sollte durch eine feste Ansprechpartnerin und durch den jeweiligen Operateur erfolgen. Während des stationären Aufenthaltes erfolgt die ausführliche Aufklärung über die durchgeführte Operation. Wenn die Frau es zulässt, kann der Befund mit dem Handspiegel demonstriert werden bzw. anhand von Modellen erklärt werden. Dabei ist es hilfreich der Frau zu erklären, dass in den meistens Fällen durch die Operation die Harnblasenentleerung schneller möglich ist und das Geräusch bei der Miktion damit lauter ist. Viele Frauen sind erstaunt über das neue Aussehen und müssen sich erst langsam daran gewöhnen. Zur besseren Akzeptanz des neuen Aussehens kann von der Frau eine Wundund Heilsalbe verwendet werden, um damit die Klitoris sanft zu massieren. Viele Frauen haben sich noch nie selbst berührt und lernen so ihren neuen Körper zu akzeptieren und zu verstehen. Notwendig sind außerdem Informationen über die Körperhygiene. Sie dürfen und sollten nach der Operation das Genitale mit klarem Wasser ausduschen und es anschließend trocken tupfen. Jede Reibung sollte vermieden werden, um die Wundheilung nicht zu gefährden. Das Nahtmaterial ist resorbierbar. Bis zur vollständigen Wundheilung sollte auf sexuelle Aktivität verzichtet werden. Weiterhin notwendig sind Informationen bezüglich der Verwendung von oralen Analgetika. Nach der stationären Entlassung wird eine in regelmäßigen Abständen durchgeführte postoperative Nachuntersuchung angeboten, welche von den Frauen dankbar angenommen wird. Wir sehen die Patientinnen erstmals zwei Wochen nach der Operation und bestellen sie dann sechs Wochen postoperativ und drei Monate postoperativ erneut ein. Bei Bedarf können sie sich selbstverständlich in geringeren Abständen vorstellen. Auftretende Fragen können in vertrauter Umgebung von Frau zu Frau beantwortet werden. Sollten die Frauen zur Nachuntersuchung nicht nach Berlin kommen können, kann auch eine Beratung am Telefon oder per E-Mail erfolgen. Zum Teil besteht ein erheblicher Aufklärungs- und Betreuungsbedarf. Die Selbsthilfegruppe ist auch hierfür eine ideale Anlaufstelle. Wir erleben, dass sich gerade nach der Operation durch das veränderte Selbstwertgefühl ganz neue Fragen ergeben, die einfühlsam beantwortet werden müssen. Viele Frauen haben ein großes Redebedürfnis, welches oft über das eigentliche Thema der Beschneidung hinausgeht. Sollten Frauen, die im Desert Flower Center angebunden sind, schwanger werden, können sie ebenfalls zur Entbindung ins Krankenhaus Waldfriede kommen. Dieses Angebot wird von den meisten der schwanger gewordenen Frauen in Anspruch genommen. Auch den Kolleginnen und Kollegen der Abteilung für Geburtshilfe steht unser Team des Desert Flower Center fachlich und beratend zur Seite. https://doi.org/10.1515/9783110481006-009

196  9 Postoperative Betreuung und Selbsthilfegruppen

Seit Januar 2015 bieten wir einmal monatlich eine Selbsthilfegruppe an. Zu den Treffen kommen sowohl Frauen, die bereits von uns behandelt wurden, als auch jene, die noch Hilfe suchen. Es steht den Besucherinnen auch frei, anonym an den Treffen teilzunehmen. In einem geschützten Rahmen können sich die Frauen austauschen, und sie erfahren, dass sie mit ihren Ängsten und Sorgen nicht allein sind. Unter Anleitung von unserer Physiotherapeutin werden Bewegungsübungen durchgeführt. Teilweise reden betroffene Frauen über ihr Schicksal, oder bereits rückoperierte Frauen erzählen von ihren Erfahrungen. Durch diese offenen Treffen der Selbsthilfegruppe entsteht oft der Wunsch der einzelnen Frauen nach einem individuellen Termin in der Sprechstunde. Das Angebot der Selbsthilfegruppe wird dankbar angenommen, denn nicht alle Frauen wollen sich fremden Menschen gegenüber sofort offenbaren und nutzen die Samstage, um die Hilfestellungen und Angebote, aber auch die Institution und das Personal näher kennenzulernen.

 Teil III Rahmenbedingungen

10 Situation in Deutschland 10.1 Rechtliche Situation Christina Clemm Rechtliche Aspekte der FGM betreffen v. a. drei Rechtsgebiete, die im Folgenden kurz beschrieben werden: – Strafbarkeit der FGM – Familienrechtliche Konsequenzen – Aufenthaltsrechtliche Konsequenzen

10.1.1 Strafrechtliche Aspekte der FGM 10.1.1.1 Straftatbestände Seit September 2013 gibt es im deutschen Strafgesetzbuch die Regelung des § 226a StGB, „Verstümmelung weiblicher Genitalien“. Geschaffen wurde der Straftatbestand v. a. als politische Signalwirkung, um zu demonstrieren, dass es sich bei der Genitalverstümmelung um einen schwerwiegenden, menschenrechtlich geächteten Eingriff in die Belange der betroffenen Frauen handelt und somit einen wirksameren Schutz der Opfer zu gewährleisten.3 Auch die sog. Istanbul-Konvention4, die im Februar 2018 in Deutschland in Kraft getreten ist, fordert in Art. 38 ausdrücklich eine Strafbarkeit der Durchführung der Genitalverstümmelung und von Verhalten durch das jemand dem Täter bzw. Täterin hierzu Hilfe leistet und so ein Mädchen oder eine Frau dazu gebracht oder gezwungen wird, sich der FGM zu unterziehen, oder bei dem jemand dem Täter oder der Täterin die hierzu erforderlichen Mittel bereitstellt. § 226a StGB erfasst als Tathandlung die Verstümmelung durch Beschneidung oder auch auf andere Art und Weise wie etwa Verätzungen, Ausbrennungen oder teilweises Vernähen. Dabei stellen die äußeren weiblichen Genitalien das „Angriffsobjekt“ dar. Darunter ist die gesamte Vulva zu verstehen, welche die Klitoris, die äußeren und die inneren Schamlippen umfasst. Es soll sich an der von der WHO aufgestellten Liste orientiert werden.“5 Nach der Gesetzesbegründung sind Eingriffe an den inneren weiblichen Genitalien, wie z. B. an den Eierstöcken, Eileitern und der Gebärmutter, von der Strafbarkeit ausgenommen. Dasselbe gilt nach dem Willen der Gesetzgebers für kosmetische Eingriffe.6 Täter:in i. S. d. § 226a StGB kann sein, wer

3 vgl. BT-Drs. 17/13707. 4 Das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 7. April 2011. 5 www.who.int/mediacentre/factsheets/fs241/en/; vgl. BT-Drucks. 17/13707, S. 6. 6 BT-Drs. 17/13707, S. 6; strittig, vgl. z. B. Fischer, §226a StGB, Rn. 12. https://doi.org/10.1515/9783110481006-010

200  10 Situation in Deutschland

die Tathandlung entweder selbst unmittelbar ausführt oder mittelbar durch eine dritte Person ausführen lässt. Eltern(teile), die ihre Kinder zur Durchführung einer FGM in Ausübung einer Machtposition in das Herkunftsland verbringen (lassen), werden entweder als Täter oder wegen Beihilfe zu bestrafen sein. § 226a Abs. 1 StGB stellt einen sog. Verbrechenstatbestand dar, die Tat ist also mit einer Mindeststrafe von einem Jahr bedroht. Der Strafrahmen geht bis zu 15 Jahren. Für die Strafzumessung spielt insbesondere die Art, das Ausmaß der Tat, aber auch die Durchführung unter Zwang oder Motivation der Täter:in eine Rolle. Nach § 226a Abs. 2 StGB sind minder schwere Fälle vorgesehen, wenn die Schwere der Tatausführung und die Folgen der Tat vom Durchschnittsfall so stark abweichen oder die strafmildernden Faktoren die erschwerenden Faktoren derart überwiegen, dass eine Bestrafung nach dem Strafrahmen des § 226a Abs. 1 unangemessen und eine mildere Bestrafung geboten erscheint. Außerdem sind die Normen über die Körperverletzungsdelikte gem. §§ 223 ff. StGB anwendbar, da es sich bei der Genitalverstümmelung um einen Eingriff handelt, der die Betroffene „an der Gesundheit schädigt“ oder zumindest „körperlich misshandelt“. Meist wird die gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5 StGB erfüllt sein, da die Schneidewerkzeuge gefährliche Werkzeuge im Sinne der Norm darstellen, mehrere an der Tat beteiligt sein werden oder die Tat in manchen Fällen mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung erfolgen wird. Dann liegt der Strafrahmen bei sechs Monaten bis hin zu zehn Jahren. Bleiben darüber hinaus nachhaltige Schäden, wie der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit, liegt auch eine schwere Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 1, letzte Alt. StGB vor und der Strafrahmen erhöht sich auf ein Jahr bis zu zehn Jahren. Die Tathandlung stellt zudem eine Misshandlung von Schutzbefohlenen gemäß § 225 Abs. 1 StGB dar, wenn das betroffene Mädchen unter 18 Jahren ist und der Fürsorge der Täter:in untersteht oder der ausführenden Person von einem Fürsorgepflichtigen überlassen wurde. Eine Strafschärfung erfolgt gem. § 225 Abs. 3 StGB bei der konkreten Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung, die beispielsweise angenommen wird, wenn intensivmedizinische Maßnahmen oder umfangreiche und langwierige Rehabilitationsmaßnahmen zur Wiederherstellung der Gesundheit und/ oder zur sonstigen Beseitigung der (auch psychischen) Tatfolgen notwendig sind.7 Letztlich kommen bei bedingt vorsätzlich in Kauf genommener Todesfolge auch versuchte oder ggf. vollendete Tötungsdelikte in Betracht.

7 BGH NStZ-RR 2007, 304

10.1 Rechtliche Situation  201

10.1.1.2 Einwilligungsmöglichkeit Eine Einwilligungsoption in die FGM ist grundsätzlich gesetzlich nicht vorgesehen. Nach sachgerechter Auslegung des § 228 StGB sowie §§ 1627 S. 1, 1631 Abs. 2 BGB ist eine Einwilligung der Sorgeberechtigten zu Lasten der einwilligungsunfähigen Kinder wegen Sittenwidrigkeit unwirksam, es sei denn es handelt sich im Einzelfall um medizinisch eindeutig indizierte Eingriffe.8 Dies soll neben der Einwilligung der Eltern für ihr minderjähriges Mädchen, auch für eine solche einer einsichtsfähigen erwachsenen Frau nach reflektierter freier Entscheidung gelten – da die Tat gegen die guten Sitten verstoße. In Teilen der Literatur wird dies unter Hinweis auf die vielfältigen denkbaren Umstände zum Teil kritisiert.9 Auch Grundrechte, wie die durch Art. 4 GG verbürgte Religionsfreiheit, traditionelle und kulturelle Wertvorstellungen der Familie oder die Erziehungsfreiheit der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG können nicht als verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtfertigungsgründe herangezogen werden, da andernfalls gerade der Sinn und Zweck des § 226a StGB unterlaufen würde. 10.1.1.3 Verfolgbarkeit von Auslandstaten Von zentraler Bedeutung ist, dass eine Vielzahl der Tathandlungen nicht in Deutschland vorgenommen werden, sondern etwa während einer Ferienreise im Ausland. Nach § 3 StGB i. V. m. § 9 StGB greift das deutsche Strafrecht grundsätzlich nur für inländische Straftaten. Jedoch wurde der Straftatbestand der Genitalverstümmelung durch die Gesetzesänderung vom 4.11.2016 zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung in den Katalog des § 5 StGB eingeführt, so dass sich nunmehr nach § 5 Abs. 9a lit b) StGB in Fällen der Genitalverstümmelung eine Strafbarkeit auch dann ergibt, wenn die Täter:in zur Zeit der Tat Deutsche:r ist oder wenn sich die Tat gegen eine Person richtet, die zur Zeit der Tat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Andernfalls ergibt sich eine Strafbarkeit nur dann, wenn die Geschädigte die deutsche Staatsangehörigkeit hat, die Tat am Tatort selbst auch mit Strafe bedroht ist oder die Eltern deutsche Staatsangehörige sind und ihnen nachgewiesen werden kann, dass sie die Tat bereits in Deutschland geplant und organisiert haben (vgl. § 7 StGB).

8 Vgl. BT-Drs. 17/1217, 6, 8; beachtlich hier insbesondere die Diskussion um die Frage der Anwendbarkeit des § 226a StGB auf Operationen bei intersexuell geborenen Minderjährigen, siehe etwa „Situation von trans- und intersexuellen Menschen im Fokus“, Sachstandsinformationen des BMFSFJ, Oktober 2016, S. 18/19 9 Vgl. Fischer § 226a Rn. 16; Rittig JuS 2014, 499, 501; a. A.: Dettmeyer/Laux/Friedl/Zedler/Bratzke/ Parzeller Archiv für Kriminologie 2011, 1, 14 f.

202  10 Situation in Deutschland

10.1.2 Familienrechtliche Aspekte der FGM Bei einer gegenwärtigen oder zumindest unmittelbar bevorstehenden Gefährdung des Kindeswohls kann gem. § 1666 BGB in das Sorgerecht der Eltern eingegriffen werden. Eine geplante Genitalverstümmelung stellt nach ständiger Rechtsprechung eine solche Gefährdung dar, wobei der drohende Schaden als gravierend einzustufen ist.10 Da die Genitalverstümmelungen zumeist im Ausland durchgeführt werden sollen, kann bei geplanten Reisen in sog. Hochrisikoländer die elterliche Sorge für das Aufenthaltsbestimmungsrecht des Kindes bereits im Falle einer „begründeten Gefahr“, also konkreter Verdachtsmomente, allein dem anderen Elternteil übertragen werden. Steht dieses der Gefährdungssituation jedoch eher gleichgültig gegenüber oder verhält sich passiv und macht sich zum Beispiel keine Gedanken über die Gefährdungssituation, ist die Entscheidung über die Veranlassung und Durchführung von Auslandsreisen sogar gerichtlich dem Jugendamt als Pfleger zu belassen.11 Darüber hinaus sind Auswirkungen auf den Umgang denkbar, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass während eines unbegleiteten Umgangs das Kind gefährdet ist. Möglich ist auch die Einrichtung einer sog. Grenzsperre gem. § 1666 BGB i.V.m. §26 FamFG, die aufgrund einer drohenden Gefährdung im Ausland einem Sorgeberechtigten verbietet, das Kind über die Grenze zu bringen. Die Grenzbehörden werden über den Beschluss des Familiengerichts informiert und ein entsprechender Vermerk in das System eingepflegt, so dass bei der Abfrage der Personalien des Kindes an einer Grenze ein Hinweis erscheint.

10.1.3 Maßnahmen nach dem Passgesetz Gem. § 8 i. V. m. § 7 Abs. 1 Nr. 11 PassG kann einer Person der Pass entzogen werden, wenn sie beabsichtigt eine FGM vorzunehmen oder Dritte dazu zu veranlassen. Auch dies soll eine Möglichkeit schaffen, die Personen an der Durchführung einer FGM im Ausland zu hindern.

10 Vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. Mai 2009, 5 UF 224/08. 11 Vgl. etwa AG Delmenhorst, Beschluss vom 10. Juli 2012 – 18 F 146/12 –,

10.1 Rechtliche Situation  203

10.1.4 Aufenthaltsrechtliche Aspekte der FGM 10.1.4.1 Aufenthaltsrecht für die Betroffenen Nach ständiger Rechtsprechung begründet eine drohende Genitalverstümmelung im Herkunftsland einen Anspruch auf asyl- und flüchtlingsrechtlichen Schutz.12 Eine drohende Beschneidung stellt grundsätzlich eine an das Geschlecht anknüpfende politische Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, weil die zwangsweise Verstümmelung der Genitalien gerade darauf gerichtet ist, die sich weigernde Frau in ihrer politischen Überzeugung zu treffen, indem sie den Traditionen unterworfen wird und unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts zu einem verstümmelten Objekt gemacht wird.13 Auch die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist zu nennen. Der Betroffenen ist nach § 25 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Auch „soll“ eine drohende Genitalverstümmelung gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK zur Feststellung des Vorliegens eines solchen Abschiebungsverbotes führen. Zu beachten ist allerdings, dass die Betroffene die Flucht aus dem Heimatland aufgrund der drohenden Genitalverstümmelung angetreten haben muss. Zudem ist allein die Tatsache, dass ein Elternteil oder sonstige Personen im näheren Umfeld im Heimatland auf eine Genitalverstümmelung hinwirken, nicht ausreichend, als Grund für einen Schutzstatus darzustellen. Die Antragstellerin muss zusätzlich darlegen, dass für sie keine Schutzmöglichkeiten im Herkunftsland bestehen. Gibt es in einem Teil des Herkunftsstaates Schutz, ist es ihr nach der Rechtsprechung in der Regel zuzumuten innerhalb des Landes umzuziehen. Bei Herkunftsländern, in denen nach neuesten Studien ein Rückgang der rituellen Verstümmelungen zu verzeichnen ist oder deren Strafbarkeit normiert ist, werden an die vorzutragenden Gründe im Einzelfall hohe Anforderungen gestellt.14 Die Geschädigte einer bereits vollzogenen Genitalverstümmelung kann nur unter zusätzlichen Voraussetzungen aus der Tat einen Schutz herleiten. Für die Feststellung des asyl- und flüchtlingsrechtlichen Schutzes muss gegenwärtig eine begründete Furcht wegen bestimmter Verfolgungsgründe bestehen. Die Tatsache, dass eine Person bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht der Antragstellerin vor Verfolgung begründet ist. Eine Ausnahme besteht jedoch, wenn stichhaltige Gründe da-

12 Vgl. z. B. VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 13. Dezember 2010, Akz. 11 S 2359/10, Rn. 23 bei Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 14.2.2014, Akz. 1 A 1139/13.A, Rn. 80 bei Juris; VG Aachen, Urteil v. 16.9.2014, Akz. 2 K 2262/13.A, Rn. 30 bei Juris, m. w. N.; VG Würzburg, Urteil v. 5.12.2014, Akz. W 3 K 14.30001, Rn. 3 ff. bei Juris; VG Ansbach, Urteil v. 24.9.2015, Akz. AN 3 K 14.30480. 13 Vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 22.11.2017 – 9a K 5898/17.A 14 Vgl. VG Cottbus, Beschluss vom 1. Juni 2020 – 9 L 231/20.A –, VG München, B. v. 24.3.2016 – M 4 S 16.30549 – UA S. 7; VG München, B. v. 24.3.2016 – M 2 S 16.30464 – UA S. 6

204  10 Situation in Deutschland

gegensprechen, dass die Person erneut von solcher Verfolgung oder Schaden bedroht wird. Wurde die Antragstellerin bereits Opfer einer Genitalverstümmelung, muss sie nachweisen, dass ihr bei einer Rückkehr in ihr Heimatland Folgetaten drohen.15 Solche drohen möglicherweise etwa bei einer Rückkehr nach einer erfolgten Rekonstruktion. Ist nach einer bereits durchgeführten Genitalverstümmelung bei Rückkehr in das Herkunftsland mit der Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu rechnen, kommt eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach §§ 25 Abs. 3, 60 Abs. 5, 7 AufenthG in Betracht, wenn eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben der Betroffenen besteht. Eine solche ist aber gem. § 60 Abs. 7 AufenthG nur bei lebensbedrohenden oder schwerwiegenden Erkrankungen gegeben, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. 10.1.4.2 Aufenthaltsrechtliche Aspekte für Täter:innen Eine strafrechtliche Verurteilung wegen FGM wird meist zu einer Ausweisung gem. §§ 53 Nr. 1, 2; 54 AufenthG führen, da ein besonders hohes Ausweisungsinteresse angenommen wird, egal ob es sich um die Eltern der Geschädigten oder deren Verwandte handelt. Einer zwingenden Ausweisung kann nur bei besonderem Bleibeinteresse im Sinne von § 55 AufenthG entgegengetreten werden, etwa bei einem langjährigen Aufenthalt in Deutschland und entsprechender Integration.

10.2 Prävention der gefährdeten Kinder, Reisen im Urlaub Cordelia Nawroth Gesetzliche Grundlagen Kinderschutz lässt sich über verschiedene Felder bestimmen. Im juristischen Fachgebiet stützt sich die Definition auf den Schutz vor bestimmten Tätigkeiten gegen Kinder und Jugendliche, geregelt durch das 2012 in Kraft getretene Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG). Das Gesetz steht für einen umfassenden, aktiven Kinderschutz und soll sowohl Prävention als auch Intervention im Kinderschutz sichern. Kern des Gesetzes ist das durch Artikel 1 neu geschaffene „Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz“ (KKG), das im Ergebnis ein stärkeres und dichtes Netzwerk knüpfen möchte, um Kinder künftig besser vor Misshandlungen und Vernachlässigung zu schützen und in ihrer gesunden Entwicklung so früh wie möglich zu fördern (Frühe Hilfen).

15 Vgl. VG Kassel, Urteil vom 21. Juli 2016, Akz. 1 K 1953/15.KS.A.

10.2 Prävention der gefährdeten Kinder, Reisen im Urlaub  205

Die Unterstützung der Eltern, Kinder und Jugendlichen durch Angebote und Leistungen wurde durch das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) gesetzlich gesichert. Das KJGH ist das achte Sozialgesetzbuch und umfasst 24 Artikel. Als Hauptakteure dieser Leistungssicherung nach Gesetz sieht es die freien Träger, aber auch die Kommunen. Auch mit dem im Februar 2007 beschlossenem „Konzept für ein Netzwerk Kinderschutz“ in Berlin sind bereits nachhaltige Kooperationsstrukturen und Netzwerke aufgebaut worden, die ressortübergreifend die Verfahren im Interesse des Kinderschutzes weiterentwickelt bzw. neu geschaffen haben. Alle wichtigen Akteure im Kinderschutz – wie Jugendämter, Schulen, Gesundheitsämter, Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte, Schwangerschaftsberatungsstellen und Polizei werden in einem Kooperationsnetzwerk zusammengeführt. Durch das Berliner Kinderschutzgesetz wurde das Konzept für ein „Netzwerk Kinderschutz“ auf eine gesetzliche Ebene gestellt. Jugend- und Gesundheitsämter haben im Rahmen ihrer jeweiligen gesetzlichen Aufgaben darauf hinzuwirken, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen und ihre Eltern/direkten Bezugspersonen in ihrer Erziehungskompetenz zu unterstützen. Prävention (Berlin): KJGD Kinder- und Jugendgesundheitsdienste (KJGD) gibt es in allen Gesundheitsämtern der zwölf Berliner Bezirke. Sie bieten Unterstützung und Beratung in allen Gesundheitsfragen bei Kindern und Jugendlichen sowie bei Problemen, die ihre gesundheitliche Entwicklung beeinträchtigen könnten. Eltern, Kinder und Jugendliche können sich mit ihren Fragestellungen spontan an die KJGDs wenden, sich informieren und beraten lassen – ganz ohne Überweisung oder vorherige Klärung der Kostenfragen. In gleicher Weise können sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Bereich des Jugend-, Sozial-, Erziehungs- und Bildungswesens mit einschlägigen Problemen unmittelbar an den KJGD wenden (Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, Abteilung Gesundheit). Die Stärke des KJGD ergibt sich aus seiner Nähe zu anderen gesundheitlichen und medizinischen Fachdisziplinen wie Hygiene, Infektiologie, Sozialmedizin, Jugendzahnmedizin und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der KJGD arbeitet eng mit den Sozialen Diensten, dem Jugendamt, dem Sozialamt, den Kindertagesstätten, der Schulaufsicht und den Schulen zusammen. Auch steht er im direkten Austausch mit den Kinder- und Jugendambulanzen bzw. Sozialpädiatrischen Zentren, niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, Kliniken und anderen Institutionen des medizinischen Versorgungssystems. Aufgabe des KJGD ist es, die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu schützen und zu fördern, um allgemeine und individuelle Gesundheitsgefährdungen zu erkennen, zu mildern oder zu beseitigen.

206  10 Situation in Deutschland

Eine zentrale Aufgabe des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes ist der präventive gesundheitsbezogene Kinderschutz zur Vermeidung gesundheitlicher und sozialer Beeinträchtigungen. Er fungiert dabei als Verbindungspunkt von Medizin und Sozialwesen, in dem in den Räumlichkeiten des KJGD Ärzte, Kinderkrankenschwestern und Sozialarbeiter eng zusammenarbeiten (vgl. Stier und Weissenrieder, 2006: S. 405f). – bei den Vorsorgeuntersuchungen findet standardmäßig eine Genitaluntersuchung statt, nicht nur bei potenziell gefährdeten Kindern – die Untersuchungen von Jugendlichen J1 (12–14 Jahre) und J2 (16–17 Jahre) werden nicht standardmäßig durchgeführt – im KJGD Mitte haben drei Kolleginnen eine Fortbildung zum Thema FGM gemacht – Fortbildungsangebote zum Thema FGM finden im Familienplanungszentrum BALANCE im Berliner Bezirk Lichtenberg statt Schutz von Kindern Kinderschutz und damit verbunden das sogenannte „Wächteramt“ ist eine der hoheitlichen Aufgaben der Jugendämter. Der Umgang mit Kindeswohlgefährdung bedarf einer respektvollen und die Menschenwürde achtenden Haltung (Leitfaden zum Berliner Kinderschutzverfahren). Mit dem „Netzwerk Kinderschutz“ und den Ausführungsvorschriften über die Umsetzung des Schutzauftrages nach § 8a SGB VIII bei Kindeswohlgefährdung (AV Kinderschutz JugGes) wurden Verfahrensstandards definiert, die in allen Berliner Jugendämtern verbindlich zur Umsetzung kommen. Das Berliner Kinderschutzverfahren beinhaltet neben dem „1. Check für eine Mitteilung bei eventueller KWG“ die Kinderschutzbögen als ein Diagnostik-, Bewertungs- und Dokumentationsinstrument. Die altersdifferenzierten Kinderschutzbögen basieren auf den Erfahrungen der Praxis und der wissenschaftlichen Analyse von Kinderschutzfällen. Sie liegen in modularer Form für die Altersstufen von 0–18 Jahre vor und dienen – der Qualitätssicherung im Kinderschutz, – zur Unterstützung der Kommunikation und Koordination unter Fachkräften, – als Grundlage für das Gespräch mit den Betroffenen, – zur Kommunikation der Fachkräfte im Vertretungsfall, – bei Fallübergaben innerhalb und außerhalb der Jugendämter, – zur Information der Vorgesetzten, – als fachliche Grundlage für die Antragstellungen bei Gericht.

10.2 Prävention der gefährdeten Kinder, Reisen im Urlaub  207

Das zweistufige Berliner Kinderschutzverfahren Das Berliner Kinderschutzverfahren ist zweistufig aufgebaut und in der AV Kinderschutz JugGes und der AV Hilfeplanung in der jeweils geltenden Form geregelt. Die erste Stufe umfasst die verpflichtende Aufnahme jeder Information (mündlich, schriftlich, anonym) über gewichtige Anhaltspunkte einer möglichen Kindeswohlgefährdung (konkrete Hinweise, ernst zu nehmende Vermutungen) gemäß § 8 a Abs. 1 SGB VIII. Dies kann in jedem Jugendamt über eine Krisennummer erreicht werden. Nach Bekanntwerden der gewichtigen Anhaltspunkte ist im Rahmen einer Ersten Risikoeinschätzung einzuschätzen, ob eine sofortige Kontaktaufnahme innerhalb von zwei Stunden oder noch am gleichen Tag erforderlich ist (AV Kinderschutz Jug/Ges, Pkt. 4.4.3.). Nach erfolgter weiterer Prüfung, in der Regel auf der Grundlage eines Hausbesuch/Vorortbesuch, ist eine Einschätzung der Grundversorgung des Kindes/des Jugendlichen (Ernährung, Schlafplatz, Kleidung, Beaufsichtigung, medizinische Versorgung, Betreuung) altersentsprechend (siehe altersbezogene Einschätzungshilfen) und eine Sicherheitseinschätzung (Einschätzung, ob die aktuelle und kurzfristige Sicherheit des Kindes vor schwerwiegenden Schädigungen bis zum nächsten Kontakt mit einer Fachkraft bedroht ist) vorzunehmen. Die erste Stufe des Berliner Kinderschutzverfahrens endet mit einer begründeten Entscheidung zur Kindeswohlgefährdung (liegt nicht vor, ist nicht auszuschließen, liegt vor) und ggf. mit einem Hilfe- und Schutzkonzept. Alle Einschätzungen sind im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte (mind. VierAugen-Prinzip) vorzunehmen. Bei nicht auszuschließender oder vorliegender Kindeswohlgefährdung leitet das Hilfe- und Schutzkonzept in weitere standardisierte Verfahren über (Krisenintervention, Familiengerichtliches Verfahren, Hilfeplanung im Überprüfungs- oder Gefährdungsbereich). Die zweite Stufe des Kinderschutzverfahrens ist die weiterführende verfahrensgestützte Prüfung komplexer Sachverhalte im Kinderschutzfall. Die in der ersten Stufe vorgenommenen Risiko- und Sicherheitseinschätzungen sind fortzuschreiben und mit den altersdifferenzierten Kinderschutzbögen zu den Modulen „Kind“ (körperlich, psychische, kognitive Erscheinungen, beobachtbares Sozialverhalten, Einschätzung der beobachtbaren Interaktionen zwischen Kind und Bezugspersonen) „Risikofaktoren“ (materielle, soziale, familiale Situation, persönliche Situation der Hauptbezugspersonen, Hilfegeschichte) und „Prognose zur Veränderungs- und Kooperationsbereitschaft“ (Problemakzeptanz, Problemkongruenz, Hilfeakzeptanz, Kooperationsbereitschaft bzw. -fähigkeit) zu ergänzen. Die altersdifferenzierten Kinderschutzbögen sind verpflichtend bis zur ersten Hilfeplanung im Überprüfungs- oder Gefährdungsbereich (spätestens nach zwölf Wochen) zu bearbeiten. In die Bearbeitung der beobachtbaren Indikatoren einer Kindeswohlgefährdung soll das im Rahmen des Schutzkonzeptes eingesetzte Hilfesystem

208  10 Situation in Deutschland

einbezogen werden (z. B. Träger der Hilfen zur Erziehung, Kinderschutzambulanzen, Schule, Kita u. a.). Die altersdifferenzierten Kinderschutzbögen sind zu jeder Hilfeplanfortschreibung zu überprüfen und bilden die Grundlage für die Fortschreibung des Schutzkonzeptes im Hilfeplanprozess im Überprüfungs- und Gefährdungsbereich. Die zweite Stufe des Kinderschutzverfahrens endet erst, wenn die Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen werden kann.

10.3 Stand in Deutschland Sina Tonk Prävalenz von FGM in Deutschland Laut der von TERRE DES FEMMES jährlich veröffentlichten Dunkelzifferstatistik leben im Jahr 2019 etwa 74.899 von FGM betroffene Mädchen und Frauen in Deutschland. Weitere 20.182 Mädchen sind von ihr bedroht [1]. Die in der Dunkelziffer verwendeten Zahlen berufen sich auf Länderstatistiken von UNICEF [2], die auf die in Deutschland lebenden Diaspora-Communities übertragen wurden. Zwischen 2014 und 2016 stieg die Anzahl der Betroffen geschätzt um rund 37 % und die Anzahl der gefährdeten Personen um 57 %. Dieser Anstieg ist vor allem auf die erhöhte Migration aus Ländern mit hohen Prävalenzraten von FGM, wie zum Beispiel Irak, Somalia und Eritrea, zurückzuführen [3]. Hilfsangebote für Betroffene Hilfsangebote für betroffene Mädchen und Frauen gibt es auf sozialer, medizinischer und juristischer Ebene in verschiedenen Städten in ganz Deutschland. Jedoch sind diese Angebote in ihrer Anzahl viel zu gering, um den tatsächlichen Bedarf abzudecken. Eine ausführliche, bundesweite Liste mit ärztlichen, sozialen und juristischen Kontakten ist auf der Homepage von TERRE DES FEMMES zu finden [4]. Insbesondere was die medizinische Versorgung von Überlebenden weiblicher Genitalverstümmelung betrifft, mangelt es stark an ausreichend geschultem Fachpersonal, da FGM immer noch nicht verpflichtend zum Curriculum des Medizinstudiums in Deutschland gehört und viele Ärzte keine diesbezügliche Weiterbildung erhalten. Dies hat zur Folge, dass Kinderärzte Fälle von drohender Genitalverstümmelung oftmals nicht erkennen sowie Unwissenheit darüber herrscht, welche Maßnahmen in einer Gefährdungssituation ergriffen werden können und müssen. Auch sind viele Gynäkologen nicht zum Umgang mit Betroffenen und den Folgen von FGM geschult. Darüber hinaus gibt es bisher nur wenig adäquate Angebote für eventuell gewünschte oder notwendige Rekonstruktionsoperationen, welche seit 2013 von den Krankenkassen als Leistung übernommen werden. Die Suche nach medizinischer

10.3 Stand in Deutschland  209

Hilfe wird zudem dadurch erschwert, dass kein offizielles Register oder Netzwerk von auf FGM spezialisierten Medizinern besteht. Dies hindert zusätzlich den Austausch von Wissen und Behandlungsmethoden unter den medizinischen Fachkräften. Zur Information und Orientierung von Medizinern wurden offizielle Empfehlungen zum Umgang mit von FGM betroffenen Patientinnen publiziert: 1. „Empfehlungen der Bundesärztekammer zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung“ [5] 2. „Weibliche genitale Beschneidung – Umgang mit Betroffenen und Prävention“ [6] 3. „Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach Weiblicher Genitalbeschneidung/Genitalverstümmelung (Female Genital Cutting/Mutilation, FGC/ FGM) mit einem Kommentar des Arbeitskreises Frauengesundheit (AKF) und TERRE DES FEMMES“ [7] 4. Genitale Beschneidung/Verstümmelung (FGM) bei Mädchen und Frauen. Eine Handreichung für das Gesundheitswesen (Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen, 2015) 5. Für Fachkräfte in Pflegeberufen gibt es die vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe herausgegebene Publikation „Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen – Hintergründe und Hilfestellungen für professionell Pflegende“ (https://www.frauenrechte.de/online/images/downloads/fgm/DBfK-BroschuereFGM.pdf) (V. i. S. d. P. DBfK Bundesverband e. V., 2008). Diese liefert Hintergrundinformationen und bietet Auskünfte über Präventionsmaßnahmen und eine fachgerechte Behandlung und Betreuung von Betroffenen einer weiblichen Genitalverstümmelung. Außerdem gibt es für Fachkräfte aus sozialen, pädagogischen und medizinischen Berufen die im Rahmen des EU-geförderten Aufklärungsprojekts CHANGE Plus entstandene Broschüre „Weiblicher Genitalverstümmelung begegnen“ [8]. Die Broschüre informiert über die negativen Folgen von FGM und die rechtliche Situation bezüglich des Themas. Zudem klärt sie über Verantwortlichkeiten und Präventionsstrategien auf, um gefährdete Mädchen zu schützen und betroffene Mädchen und Frauen bestmöglich zu unterstützen. Für Fachkräfte, die mit Flüchtlingen arbeiten, hat Plan International relevante Informationen und Handlungsempfehlungen in der Broschüre „Weibliche Genitalverstümmelung im Flüchtlingskontext“ zusammengestellt [9]. Darstellung der Interventionskette am Beispiel Hamburg Der „Hamburger Runde Tisch gegen Genitalverstümmelung“ hat eine Handreichung für Interventionsketten im Fall von drohender weiblicher Genitalverstümmelung veröffentlicht, die für alle in die Intervention involvierten Institutionen eine eigene Handlungsabfolge empfiehlt.

210  10 Situation in Deutschland

Grundsätzlich haben Fachkräfte mit Schweigepflicht wie Lehrer, Ärzte, Psychologen und staatlich anerkannte Fachkräfte in Beratungsstellen gemäß § 4 KKG das Recht auf eine Fachberatung eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, um eine mögliche Kindeswohlgefährdung einschätzen zu lassen, wobei die übermittelten Daten pseudonymisiert werden müssen. Wird daraufhin die Jugendhilfe eingeschaltet, muss diese gemäß § 8a SGB VIII eine mögliche Kindeswohlgefährdung gemeinsam mit mehreren Fachkräften einschätzen, feststellen und versuchen diese durch praktisches, sozialpädagogisches Handeln, nach Möglichkeit gemeinsam mit der Familie, zu verhindern. Der Kinderschutz liegt vorrangig beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Jugendamts (Fachämter Jugend- und Familienhilfe). Jedes bezirkliche Jugendamt verfügt über einen Kinderschutzkoordinator. Die Person, die diese Stelle besetzt, ist der Jugendamtsleitung direkt unterstellt und ist die Ansprechperson in Sachen Kinderschutz. Sie berät und unterstützt Fachkräfte des ASD oder von angrenzenden Arbeitsbereichen in schwierigen Fällen, vernetzt unterschiedliche Fachkräfte im Kinderschutz und entwickelt fachliche Standards und Fortbildungsangebote weiter. Initiativen und Präventionsprojekte in Deutschland und Europa In Deutschland gibt es eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen die sich gegen weibliche Genitalverstümmelung einsetzen. Viele dieser Organisationen sind Teil des Integra-Netzwerks, einem Zusammenschluss aus insgesamt 28 deutschen Organisationen, die sich für die Abschaffung von weiblicher Genitalverstümmelung im Inund Ausland einsetzen. Außerdem gibt es EU-weite Bestrebungen zur Bekämpfung weiblicher Genitalverstümmelung, wie das EU-Netzwerk End FGM EU, welches aus 24 europäischen Mitgliedsorganisationen besteht, die sich gegen FGM engagieren. Viele Organisationen engagieren sich in der Prävention von weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland und weltweit. Ein Beispiel hierfür sind die seit 2013 von der EU-kofinanzierten CHANGE-Projekte: CHANGE (2013–2015), CHANGE Plus (2016–2018) und Let’s CHANGE (2018–2020), welche durch die Aufklärung und Sensibilisierung von betroffenen Diaspora-Communities weibliche Genitalverstümmelung in Europa bekämpfen. Im Rahmen dieser Projekte werden Personen aus europäischen Diaspora-Communities zu MultiplikatorInnen (sog. „CHANGE Agents“) ausgebildet, um anschließend in ihren eigenen Communities Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zu leisten. An den Projekten nehmen Organisationen aus unterschiedlichen europäischen Staaten teil. Die CHANGE-Projekte werden von TERRE DES FEMMES koordiniert. Das aktuelle Projekt „Let’s CHANGE“ wird von TERRE DES FEMMES in Berlin, von Plan International Deutschland in Hamburg, von Equilibres & Populations in Paris und Federatie Somalische Associaties Nederland in Amsterdam umgesetzt. Neu an diesem Projekt ist, dass zusätzlich zur Ausbildung und Begleitung von CHANGE

Literatur und weitere Materialien  211

Agents, erfahrene CHANGE Agents aus den Vorgängerprojekten eine Aufbauschulung absolvieren, die sie dazu qualifiziert, relevantes Fachpersonal zum Thema FGM fortzubilden. Mehr Informationen zu Let’s CHANGE und den Fortbildungen können im Internet abgerufen werden [10]. Ein weiteres Präventionsprogramm auf europäischer Ebene ist das seit 2018 laufende Projekt Gender ABC. Dieses zweijährige EU-kofinanzierte Projekt wird von den Organisationen TERRE DES FEMMES (Deutschland), End FGM European Network (Belgien), Associazione Italiana Donne per lo Sviluppo (Italien), Associação para o Planeamento da Família (Portugal) und Médicos del Mundo (Spanien) durchgeführt. Das Projekt hat zum Ziel SchülerInnen über ihre Rechte aufzuklären und für Themen wie Gleichberechtigung, Kinderrechte und geschlechtsspezifische Gewalt – mit Fokus auf FGM, sowie Frühehen und Zwangsheirat – zu sensibilisieren. Darüber hinaus sollen geschlechtsspezifische Vorurteile und stereotype Rollenbilder hinterfragt werden und eine Veränderung der Wahrnehmung der SchülerInnen bezüglich sozialer, kultureller und religiöser Normen, die diese Vorurteile verstärken, angeregt werden. Etwa 400 Berliner SchülerInnen aus Grund- und weiterführenden Schulen sollen mithilfe erfahrener PädagogInnen ein altersgerechtes Bildungsprogramm durchlaufen, wobei auch die Familien, LehrerInnen, SchulsozialarbeiterInnen der SchülerInnen miteinbezogen werden und Aufklärung erhalten. Weitere Informationen zum Gender ABC können abgerufen werden [11]. Abgesehen von Präventionsprogrammen, die den direkten Kontakt mit relevanten Personen nutzen, gibt es die europäische digitale Wissensplattform United to END FGM (UEFGM). Diese EU-finanzierte Plattform fungiert als multilinguales Bildungszentrum für Fachkräfte aus allen EU-Mitgliedsstaaten, über das länder- und kulturspezifische Informationen zu FGM abgerufen werden können. Ziel dabei ist die effektive Unterstützung von Betroffenen, der Schutz von bedrohten Mädchen und das gesellschaftliche Bewusstsein für das Thema FGM zu stärken. Auf die webbasierte Plattform können sie unter folgendem Link zugreifen: https://uefgm.org/. Literatur und weitere Materialien [1]

[2] [3] [4] [5]

[6]

https://www.frauenrechte.de/presse/aktuelle-pressemitteilungen/4326-terre-des-femmesveroeffentlicht-jaehrliche-dunkelzifferstatistik-zu-weiblicher-genitalverstuemmelung-indeutschland-sind-schaetzungsweise-20-182-maedchen-von-weiblicher-genitalverstuemmelungbedroht-und-74-899-frauen-davon-direkt-betroffen. https://data.unicef.org/wp-content/uploads/2016/04/FGMC-2016-brochure_250.pdf. https://www.frauenrechte.de/presse/pressearchiv/2017/2495-weibliche-genitalverstuemmelung-in-deutschland-zahl-betroffener-und-gefaehrdeter-steigt-weiter. https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/weibliche-genitalverstuemmelung/unterstuetzung-fuer-betroffene. https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Empfehlungen/2016-04_Empfehlungen-zum-Umgang-mit-Patientinnen-nach-weiblicher-Genitalverstuemmelung.pdf. https://www.frauenrechte.de/images/downloads/fgm/EmpfehlungenFGM-2007.pdf.

212  10 Situation in Deutschland

[7] [8]

https://www.frauenrechte.de/images/downloads/fgm/2012-02-FGC-FGM-DGGG-TDF-AKF.pdf. https://www.change-agent.eu/index.php/about-us/publications/change-publications?download=99:weiblicher-genitalverstuemmelung-begegnen-ein-leitfaden-fuer-fachkraefte-in-sozialen-paedagogischen-und-medizinischen-berufen. [9] https://lessan.eu/wp-content/uploads/2019/06/FGM-C-im-Flüchtlingskontext-Publikationfinal-.pdf. [10] https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/weibliche-genitalverstuemmelung/let-schange. [11] https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/gender-abc.

11 Finanzierung eines FGM-Behandlungszentrums Bernd Quoß Beim Aufbau und der Durchführung eines FGM-Behandlungszentrums fallen erfahrungsgemäß die nachstehend aufgeführten Kosten an, die in eine nachhaltige Kostenkalkulation einfließen sollten. Vor allem sind dies a) der Krankenhausaufenthalt (Operation, Pflege, Behandlung) b) die Gestaltung einer entsprechenden Station mit interkulturellem Flair c) die Vor- und Nachbetreuung (psychosoziale Begleitung, Aufklärung, Beratung, Prävention) d) die Integration der Frauen in eine Selbsthilfegruppe e) sonstige Leistungen (z. B. Dolmetscher, Visagebühren) Für ein FGM-Behandlungszentrums gibt es in aller Regel zwei Finanzierungsmöglichkeiten, und zwar über 1. Institutionelle Kostenträger – Krankenkassen – Privatversicherungen – Sozialhilfeträger 2.

Private Initiativen – Förderverein – Sponsoring, Fundraising

Zu 1.: Die Finanzierung der Behandlung von genitalverstümmelten Frauen ist zwischenzeitlich transparent und übersichtlich geregelt. Nach einer langjährigen Initiative der Frauenorganisation Terre des Femmes wurde ab dem Jahr 2014 die weibliche Genitalverstümmelung in den medizinischen Diagnosekatalog (ICD 1016) aufgenommen. Mit dieser Klassifizierung wurden die Kostenträger erstmalig verpflichtet, die notwendigen Behandlungskosten bei entsprechender Indikation ausnahmslos und vollständig zu finanzieren. Die Tab. 11.1 zeigt beispielsweise die Abrechnungsmöglichkeiten einer stationären Behandlung nach DRG17, sowie der daraus zu erzielenden Erlöse.

16 ICD (engl. International Classification of Diseases and Related Health Problems. Es ist das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnose-Klassifikationssystem der Medizin und wurde von der WHO herausgegeben. ICD 10 ist die aktuellste Version) 17 DRG (engl. Diagnosis Related Groups = diagnosebezogene Fallgruppe. In Deutschland seit 2003) https://doi.org/10.1515/9783110481006-011

214  11 Finanzierung eines FGM-Behandlungszentrums

Tab. 11.1: Übersicht über die Abrechnungsmöglichkeiten einer stationären Behandlung nach DRG17. DRG

Punktwert

Erlös in €

Mittlere Krankenhausverweildauer in Tagen

N 13B

0,906

3.847,67

3,8

N 62A

0,358

1.709,18

3,1

N 02B

2,34

8.603,53

11

O 01H

0,746

3.254,13

3,6

(Punktwert × Baserate = Erlös). Im Jahr 2020 beträgt die Baserate in Berlin 3.670,45 €.

In etwa 95 % aller FGM-Behandlungsfälle kann die DRG N13B abgerechnet werden. Die weiteren DRGs N62A und O01H decken die übrigen 5 % der Behandlungsfälle ab. Mit diesen Erlösen sind nur die Kosten des Krankenhausaufenthaltes abgedeckt. Alle anderen Ausgaben Buchst. b) bis e) müssen im Rahmen von Spendengeldern aufgebracht werden. Zu 2.: Für alle Patientinnen (z. B. Frauen, die im Ausland leben), wo es keinen Kostenträger gibt, hat beispielsweise das Krankenhaus Waldfriede einen Förderverein gegründet. Dieser Förderverein finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden, mit denen die gesamten Behandlungskosten von genitalverstümmelten Frauen finanziert werden. Diese können einschließlich weiterer Ausgaben, wie zum Beispiel Reisekosten, Unterbringung, Kinderbetreuung in der Regel bis zu 6.000 € betragen.

12 Initiativen 12.1 Bildung stoppt FGM Desert Flower Foundation: Bildung stoppt FGM nachhaltig! Im Jahr 2016 hat die Desert Flower Foundation (www.desertflowerfoundation.org) eine grundlegende Entscheidung getroffen. Im weltweiten Kampf gegen die grausame Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) wurde „Bildung in Afrika“ zum Schwerpunkt der Arbeit gemacht. „Ohne Bildung ist man nichts, besonders als Mädchen in Afrika“, erklärt Waris Dirie, Gründerin der Desert Flower Foundation. „Wir setzen bewusst auf Schulbildung für Mädchen und finanzielle Unabhängigkeit von Frauen. Das sind die einzig richtigen Instrumente, um FGM aus der Welt zu schaffen. Eine starke, unabhängige Frau wird sich nicht so schnell dem Druck einer Community unterwerfen lassen.“ Laut UNESCO können 38 Prozent der Afrikanerinnen und Afrikaner weder schreiben noch lesen, zwei Drittel davon sind Frauen. Traurige Tatsache: Die Länder mit der höchsten Analphabetenrate in Afrika sind nicht nur die ärmsten Länder, sondern auch die Länder mit der höchsten Verbreitung von weiblicher Genitalverstümmelung. Nach jahrelanger Aufklärungsarbeit vor Ort war es 2019 soweit: In Sierra Leone (Westafrika), wo 70 Prozent der Bevölkerung Analphabeten sind, wird die Bildungsinitiative der Desert Flower Foundation umgesetzt: – Der Bau der ersten drei „Wüstenblume Schulen“ für insgesamt 1.200 Kinder ist das Vorzeigeprojekt der Foundation. Alle drei Schulen wurden aus privaten Spenden finanziert. – Zusätzlich zu den Schulen wird ein „Safe House“ errichtet. Die Einrichtung ist Anlaufstelle für FGM-Betroffene, bietet ihnen Zuflucht und Schutz. – Weiters wird die erste „Wüstenblume Bibliothek“ mit angebundenem ComputerZentrum eröffnet. – Außerdem wurden 10.000 Desert Flower Bildungsboxen an Schulen in Sierra Leone verteilt. Eine Box enthält Lese- und Übungsheft, Buntstifte, Spitzer, Holzlineal und einen Schulrucksack. „Ja“ zu Bildung, „Nein“ zu Genitalverstümmelung! Das ist der Leitspruch der Desert Flower Foundation. Allein in Sierra Leone konnten mit dem Patenschaftsprogramm „Rette eine kleine Wüstenblume“ mehr als 1.000 Mädchen vor FGM gerettet werden. In Gemeinden, die zuvor durch gezielte Aufklärungsarbeit dazu gebracht wurden, dem schrecklichen Ritual FGM abzuschwören. Für finanzielle Unterstützung verpflichten sich Eltern und Vormunde vertraglich, ihre Mädchen weder genital beschneiden zu lassen noch zwangszuverheiraten. Zweimal im Jahr wird die körperliche Unversehrtheit der „Wüstenblumen“ von einem Arzt der Desert Flower Foundation im Rahmen eines kostenlosen Gesundheitschecks überprüft.

https://doi.org/10.1515/9783110481006-012

216  12 Initiativen

Mit der Eröffnung der ersten drei „Wüstenblume Schulen“ folgte der nächste, vor allem auch nachhaltige Schritt. „Bildung für Mädchen ist unsere stärkste Waffe im Kampf gegen FGM", sagt Waris Dirie. „Unsere Schulausbildung wird vielen Mädchen helfen, in Zukunft ein selbstbestimmteres Leben zu führen.“

12.2 NALA-Mädchengruppe Fadumo Korn Ich habe im Jahr 2014 die NALA-Mädchengruppe in München gegründet. Diese Gruppe besteht aus unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die sogenannten umFs oder junge Erwachsene, also junge allein reisende Flüchtlinge, die schon volljährig sind. Ich habe diese Gruppe aus der Not heraus gegründet. Ich habe festgestellt, dass es für junge betroffene Frauen, die von der genitalen Verstümmelung betroffen sind, überhaupt keine Beratungsstellen gibt, an die sie sich wenden können. So habe ich um Geld gebettelt und ich wurde auch ein bisschen unterstützt von der Stadt und vom Jugendamt oder von diversen privaten Leuten, die uns immer wieder etwas spenden. Die Mädchengruppe besteht aus Frauen, die aus Somalia, Eritrea, Äthiopien, Nigeria, Irak und aus dem Kurdistan kommen. Wir haben auch deutsche Mädchen, die natürlich nicht betroffen sind, aber mit der Gruppe mitarbeiten. So lernen sie zum Beispiel mit den Kindern Deutsch. Diese Mädchengruppe hat alles an Trauma, was man sich vorstellen kann: Genitale Verstümmelung mit Vergewaltigung, Vergewaltigung ohne Genitalverstümmelung, anale Vergewaltigung. Viele Frauen erzählen mir von den grausamen Übergriffen, die während der Flucht von ihren Ländern über Libyen in den Gefängnissen geschehen sind. Ich biete den Mädchen in der Gruppe Aktionen, die sie so täglich nicht erleben. So haben wir einen Bauchtanzkurs gemacht, haben einen Jongleur eingeladen und haben einen dreistündigen Jodelkurs bekommen. Zuletzt haben wir eine große Malaktion mit einem bekannten Graffitikünstler aus München (Martin Blumöhr) und gemeinsam mit Katja Riemann gemacht. Wir haben gemeinsam ein großes Gemälde aus Acrylfarben erstellt. Die jungen Mädchen haben ihre Träume und ihre Albträume auf das Papier gebracht. Das hat fünf Stunden gedauert und sie haben ohne Unterlass gearbeitet und wollten nicht aufhören, weil sie festgestellt haben, dass man durch das Malen viel Spaß hat und einfach stundenlang nicht an das denkt, was einem angetan wurde. Es ist ein wunderbares Gefühl zu sehen wie sie sich entwickeln, wie sie langsam Vertrauen zueinander und zu mir aufbauen und wie sich ihr Umfeld entwickelt. Mein Hintergrund für diese NALA-Mädchengruppe ist, dass die Integration von vielen Seiten betrieben werden kann. Für mich ist es ein Weg geworden, weil ich

12.3 Links  217

festgestellt habe, dass diese Art mit den Mädchen zu arbeiten einfach leichter für mich ist, leichter einen Zugang zu ihnen zu finden und ihnen ihre neue Heimat Deutschland zu erklären. Es ist sehr wichtig, dass man ihnen eine Grundlage schafft.

12.3 Links [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9]

[10]

[11]

[12]

[13]

[14]

[15]

[16]

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218  12 Initiativen

[17] CHANGE Plus Team. 2016. Weiblicher Genitalverstümmelung begegnen. Verfügbar unter: https://www.change-agent.eu/index.php/about-us/publications/change-publications?download=99:weiblicher-genitalverstuemmelung-begegnen-ein-leitfaden-fuer-fachkraefte-in-sozialen-paedagogischen-und-medizinischen-berufen (letzter Zugriff: 29.06.2020) [18] Plan International Deutschland e. V. 2018. FGM im Flüchtlingskontext. Verfügbar unter: www. kinderschutz-niedersachsen.de/doc/doc_download.cfm?uuid=9EF880F60EDA489AA05379 B6C1439AC1&&IRACER_AUTOLINK (letzter Zugriff: 29.06.2020) [19] Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration. 2015. Verfügbar unter: https://www.hamburg.de/opferschutz/3091566/weibliche-genitalverstuemmelung (letzter Zugriff: 29.06.2020) [20] United to End Female Genital Mutilation – UEFGM: https://uefgm.org/?lang=de (letzter Zugriff: 29.06.2020) [21] UN- Flüchtlingshilfe. Stichwort Flüchtlingsfrauen. Im Internet: www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/fluechtlingsschutz/fluechtlingsfrauen.html (letzter Zugriff: 29.06.2020)