Symbol und Gefühl: Ernst Cassirers kulturphilosophische Gefühlstheorie 9783787328840, 9783787328833

In Cassirers Werk ist an einer Vielzahl von Stellen vom »Ichgefühl« die Rede ebenso wie vom »Weltgefühl«, »Selbstgefühl«

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German Pages 228 [230] Year 2015

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Symbol und Gefühl: Ernst Cassirers kulturphilosophische Gefühlstheorie
 9783787328840, 9783787328833

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CASSIR ER-FORSCHUNGEN

CASSIR ER-FORSCHUNGEN

Band 17

FELIX MEINER VER LAG HAMBURG

Yosuke Hamada

Symbol und Gefühl Ernst Cassirers kulturphilosophische Gefühlstheorie

FELIX MEINER VER LAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.   ISBN 978-3-7873-2883-3   ISBN eBook: 978-3-7873-2884-0

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Bookfactory, Bad Münder. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I.  Grundzüge der Philosophie der symbolischen Formen . . . . . . . . 19 1.

Die Philosophie der symbolischen Formen als Kulturphilosophie . 19

1.1

Die Philosophie der symbolischen Formen als Erweiterung der Kantischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Forderung einer einheitlichen Übersicht über die gesamte ­Systematik – Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften . . 25

1.2 2. 2.1 2.2 2.3

Symbolische Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Symbolische Form als Energie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Symbolische Form als heuristisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Vielfalt der symbolischen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

3.

Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie der symbolischen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

4.

Begriffs- und Klassenbildung im philosophischen Denken Cassirers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

II. Ausdrucksphänomen als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. 1.1 1.2 1.3

Vorbemerkungen zum Gefühlsbegriff Cassirers . . . . . . . . . . . . . . . 47 Kleine Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Cassirers Diskussion der Problematik des Gefühls in der klassischen Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Symbolische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Ausdrucksphänomen . 55 Grundzüge der reinen Ausdrucksfunktion und des reinen Ausdrucksphänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.1.1 Eine kleine Vorbemerkung zur Unterscheidung zwischen Ausdrucksfunktion und Ausdrucksphänomen . . . . . . . . . . . . . . 55 2.1.2 Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit der reinen Ausdrucksfunktion und des reinen Ausdrucksphänomens . . . . 56

2. 2.1

6 Inhalt

2.2

Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Ausdrucksphänomen als Organisches bzw. Vorkulturelles . . . . . . . . . . . . . . 61 2.2.1 Die Stellung der reinen Ausdrucksfunktion und des reinen Ausdrucksphänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.2.2 Der grundsätzliche Charakterzug des Gefühls . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. 3.1 3.2

Grundzüge des menschlichen Gefühlslebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Die Befreiung von der biologischen Schranke beim Menschen . 69 Zur Möglichkeit der Behandlung des menschlichen Gefühls – Gefühl als subjektiv bedingt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

III.  Mythisches und religiöses Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 1.2.1 1.2.2

Mythos und Sprache – gefühlsbezogene und begriffliche Symbolisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Symbolische Objektivierung des Gefühls als Hauptfunktion des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Mythische Objektivierung des Gefühls als vergöttlichende bzw. dämonisierende Externalisierung des Gefühls . . . . . . . . . . 81 Das Staunen als früheste symbolische Objektivierung des Gefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Sprache und Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Verschlungenheit von Mythos und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Sprachliche Darstellungsfunktion und Gefühl . . . . . . . . . . . . . . 92

2.3

Bildung des mythisch-religiösen Kulturgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Verteilung der Akzente des Heiligen und des Profanen . . . . . . . 94 Unterschiede zwischen Mythos und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Religiöse Setzung der geistigen Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Unterschiede zwischen dem mythischen und dem religiösen Kultur- bzw. Zeitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Vielfalt des religiösen Kulturgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

3.

Ethische Kraft der monotheistisch-prophetischen Religionen . . . . 105

4.

Unterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Die Befreiung des religiösen vom mythischen Gefühl . . . . . . . . 112 Die Besonderheit der religiösen im Unterschied zu den mythischen Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2

4.1 4.2

Inhalt 7

IV.  Ästhetisches Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1.

Vorbemerkungen zu Cassirers Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

2. 2.1 2.2 2.3

Kant, Schiller und Goethe – nach Cassirers Verständnis . . . . . . . 123 Goethe und Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Goethes Kunst und Schillers Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Kants und Schillers Ästhetik – Ästhetische Welt als Welt des Scheins und des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Die ästhetische Lehre Cassirers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Zum Ausgangspunkt der philosophischen Ästhetik Cassirers . 133 Dialektik des mythischen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Versöhnung zweier entgegengesetzter Momente – das ästhetische Gleichgewicht zwischen dem Gefühlsmäßigen und dem Theoretischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.2 Eine Prämisse der Ästhetik Cassirers – Verhältnis von ästhetischer Produktion und Rezeption . . . . . . . 138 3.3 Die Kernthese der Ästhetik Cassirers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.3.1 Zum Bedeutungswandel der ästhetischen Versöhnung von ­entgegengesetzten Momenten – reine Betrachtung bzw. Reflexion in Cassirers Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.3.2 Reine sinnliche Formen (pure sensuous forms) . . . . . . . . . . . . . . 142 3.3.3 Ästhetische Offenbarung des Lebenssinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. 3.1 3.1.1 3.1.2

4. 4.1 4.2 4.3

Freiheit des ästhetischen Gefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Ästhetische Transformation des Gefühls in der Welt der reinen sinnlichen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Katharsis in der Dichtkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Das Werther-Fieber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

V.  Moralisches Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. 1.1 1.2 2. 2.1

Cassirers Ansichten zur Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Eine kleine Vorbemerkung zum Begriff des moralischen Gefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Grundprinzipien der Ethik nach Cassirer – monotheistische ­Religion und philosophische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Mythos des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Cassirers Ansichten zur Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

8 Inhalt

2.2 Sichtbarmachung des modernen Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2.2.1 Analyse der Entstehung des modernen Mythos . . . . . . . . . . . . . . 180 2.2.2 Manipulation der Handlung durch das Denken und das Wollen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2.2.3 Manipulierte Erweckung der heftigen Emotionen . . . . . . . . . . . 188 3. 3.1 3.2

Das moralische Gefühl als Gegenmittel gegen den modernen politischen Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Ethik und Gefühl – um die Kantische Ethik herum . . . . . . . . . 191 Ethische Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Exkurs: Änderung der Einstellung Cassirers gegenüber den Sprachformen . . . 209 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Einleitung

 W

er sich mit Cas­si­rers gesamter Philosophie beschäftigt, dem ist es unmöglich zu übersehen, dass der Begriff »Gefühl« bzw. »Emotion« sowohl in der Kulturphilosophie Cas­si­rers als auch in dessen Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte allenthalben immer wieder auftaucht. Wenn wir Beispiele dafür aufzählen, sind es folgende; »Ichgefühl«, »Selbstgefühl« »Weltgefühl«, »Sprachgefühl«, »Gesellschaftsgefühl«, »Staatsgefühl«, »Naturgefühl«, »Lebensgefühl«, »Formgefühl«, »Stilgefühl« usw.1 Was versteht Cas­si­rer unter solchen Gefühlsbegriffen? Wenn wir sie zu interpretieren versuchen, scheint es sich in den meisten Fällen um eine Sensi­bilität bzw. eine Vorliebe für Etwas zu handeln; und in anderen Fällen scheint der Begriff des Gefühls durch den Begriff der Ansicht bzw. der Meinung ersetzt werden zu können. Doch im Grunde genommen ist es in philosophisch-systematischer Hinsicht schwer herauszuarbeiten, was genau Cas­ si­rer in jenen einzelnen Fällen unter der Begrifflichkeit »Gefühl« versteht. Cas­si­rer scheut sich in der Durchführung seiner philosophischen Argumentation nicht davor, alltägliche Begriffe – darunter den Begriff »Gefühl« bzw. »Emotion«  – ohne definitorische Präzision zu verwenden. 2 Aber dies bedeutet keinesfalls den notwendigen Verzicht auf die philosophisch-­ systematische Analyse des Problems des Gefühlsmäßigen bzw. Emotionalen bei Cas­si­rer. Ganz im Gegenteil besitzt dieses Problem unverkennbar einen wichtigen Platz im systematischen Aufbau seiner Philosophie. Cas­si­rer hat einmal Des­cartes’ Ansicht zum Gefühl  – bzw. mit Des­ cartes’ Wort zu den Leidenschaften (passions) –, auf welche sich Des­cartes’ Spätschrift Leidenschaften der Seele gründet, folgendermaßen formuliert: »Jede körperliche Einwirkung erregt das Blut in bestimmter Weise und pflanzt sich von hier auf die ›Lebensgeister‹ fort; und jedes derartige Ge-

Zum Ichgefühl vgl. z. B. ECW 12, 184 u. 232; ECN 1a, 90. Zum Selbstgefühl vgl. z. B. ECW 8, 305; ECW 11, 206; ECW 12, 205 u. 232; ECN 1a, 63. Zum Weltgefühl vgl. z. B. ECW 9c, 359; ECW 14a, 42; ECN 2, 141. Zum Sprachgefühl vgl. ECW 11, 206; ECW 14a, 185. ECW 16e, 184. Zum Gesellschaftsgefühl vgl. ECW 12, 205. Zum Staatsgefühl ECW 9c, 434; ECN 9, 94. Zum Naturgefühl vgl. ECW 7, 88; ECW 14a, 165 f. Zum Lebensgefühl vgl. z. B. ECW 9b, 266, 359 u. 391; ECW 12 205 f.; ECW 13, 489; ECW 14a, 185; ECW 17d, 171; LKW, 471 u. 474. Zum Form- und Stilgefühl (bei Petrarca) vgl. ECN 6a, 1

111 f. 2 Zum Grundzug der Cas­si­rerschen Begriffsbildung vgl. unten I. 4.

10 Einleitung

schehen muß von der Seele in einer Art beantwortet werden, über die sie selbst keine Macht hat. Die Leidenschaften sind L ebensphänomene, und ihre Unterdrückung käme daher einer Auslöschung des Lebens gleich.«3

Gewiss sind Cas­si­rers Erklärung des Gefühls und diejenige Des­cartes’ voneinander verschieden: Cas­si­rer geht im Unterschied zu Des­cartes nicht vom Leib-Seele-Dualismus, sondern – mit Bezug auf die ursprüngliche sinnliche Phase der Wahrnehmung – von der Leib-Seele-Einheit aus. 4 Zudem distanziert sich Cas­si­rers Analyse des menschlichen Gefühls von der Cartesianischen physiologischen Erklärung.5 Jedoch stimmt Cas­si­rer mit Des­cartes darin überein, dass das Gefühl ein unentbehrliches Element des menschlichen Lebens ist. Mit Des­cartes’ (leicht modifizierten) Worten zu sprechen, ist Cas­si­rers Philosophie »nicht so barbarisch und wild«, dass sie die Wirklichkeit des Gefühls ablehnt. 6 Nicht nur, dass Cas­si­rer der Welt des Gefühls Wirklichkeit beimisst, gleichzeitig gesteht er dem Gefühl »eine strukturierende weltbildende Kraft«7 zu. Ohne diese Kraft müsse das menschliche Leben bzw. dessen Beschreibung mangelhaft sein. Denn das Gefühl sei, so betont Cas­si­rer, ein notwendiger, konstruktiver »Faktor zum Aufbau unseres (empirischen!) Weltbildes«8 . So behandelt Cas­si­rer das Gefühl bzw. das Phänomen des Fühlens als eine unentbehrliche Komponente des menschlichen Bewusstseins – als eine der drei Hauptkomponenten der menschlichen Erkenntnisweise.9 Daher gibt es nicht den geringsten Zweifel an der Wichtigkeit der Problematik des Gefühls in Cas­si­rers Philosophie. In der Tat wurde diese Thematik in den bisher publizierten Cas­si­rer-Forschungen nicht vernachlässigt. Vielmehr ist es kaum möglich, irgendein Werk der Cas­si­rerForschung zu finden, das daran vorbeigeht, sofern es auf die überblickshafte systematische Darstellung der Philosophie Cas­si­rers abzielt.10 Das heißt, die Problematik des Gefühls bei Cas­si­rer wurde bereits in vielen Forschungen beleuchtet. Nichtsdestotrotz besteht der Zweck der vorliegenden Arbeit, wie ECW 20, 177 f. Vgl. unten II. 2.1.2.   5 Vgl. unten II. 3.   6 Die originale Übersetzung Cas­si­rers lautet: »Die Philosophie, die ich vertrete […] ist nicht so barbarisch und wild, daß sie den Gebrauch der Leidenschaften verwirft; vielmehr besteht nach mir die ganze Süßigkeit und Glückseligkeit des Lebens in ebendiesem Gebrauch« (ECW 20, 77). Übersetzt ist die Passage aus Des­cartes (1974), 135. Cas­si­rer benennt wohl aus Versehen Pierre-Hector Chanut als Empfänger des Briefes.   7 Recki (2004a), 94. Vgl. Plümacher (2003), 98.   8 ECN 4e, 200.   9 Vgl. unten II. 1.3. 10 Vgl. z. B. Krois (1987), 57 f.; A. Graeser (1994), 117 f.; Schwemmer (1997), 71 f.; Recki, (2004a), 91 f.; Recki (2013), 57 f.; Paetzold (2002), 45 f.; Skidelski (2008), 115 f.   3   4



Einleitung

11

ihr Titel bereits verrät, darin, die Grundrichtung dieses Problems im System der Philosophie der symbolischen Formen ausführlich herauszuarbeiten. Obwohl es bereits Untersuchungen zum Problem des Gefühls bei Cas­si­ rer gibt, nämlich zum Problem des Aus­drucks­phäno­mens als Kennzeichen eines gefühlsmäßigen bzw. emotionalen Phänomens, kann die folgende Ausarbeitung in folgenden zwei Punkten eine Bedeutung für die Cas­si­rerForschung besitzen: Erstens werden die Grundzüge des Gefühls(erlebens) in der Kontinuität zwischen der phänomenologischen Analyse, welche Cas­ si­rer vor allem in der PsF III unternimmt, und seinem anthropologischen Verständnis, welches sich besonders im MS klar zeigt, sichtbar gemacht. Zweitens wird das Gefühlsproblem bei Cas­si­rer – im Hinblick auf den kulturellen Bewusstseinsmodus, d. h. auf die symbolische Form – nicht allein im Rahmen des mythischen Bewusstseins behandelt, in dessen Beschreibung dieses Problem deutlich am häufigsten in den Vordergrund rückt. Vielmehr wird das Problem auch im Rahmen anderer Arten des menschlichen Bewusstseins näher behandelt, ohne dabei die systematisch gemeinsamen Grundlagen der Erklärung zu untergraben. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass in dieser Arbeit auf die Positionierung der impliziten Gefühlstheorie Cas­si­rers in der Geschichte der philosophischen Emotionstheorie oder auf die Beurteilung ihrer Bedeutung in der heutigen wissenschaftlichen Emotionstheorie nicht abgezielt wird. Eine solche philosophiegeschichtliche Positionierung der Cas­si­rerschen Gefühlstheorie sowie die Frage nach ihrer Aktualität könnten eine interessante Aufgabe sein. Jedoch versteht es sich von selbst, dass es zuvor der ausführlichen Herausarbeitung und Darstellung dieser Gefühlstheorie bedarf: Allein eine solche Herausarbeitung und Darstellung ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Aber entgegen dieser Beschränkung des Arbeitsziels drängt sich eine Frage zu Recht auf; nämlich die Frage, ob der Versuch der Bearbeitung der systematischen Gefühls- bzw. Emotionstheorie bei Cas­si­rer von Bedeutung ist, oder direkter formuliert, ob die Darstellung jener Theorie überhaupt möglich ist. Diese Frage ist angebracht, weil Cas­si­rers Beschäftigung mit dem Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen auf die Beschreibung der basalen Grundzüge jenes Phänomens beschränkt ist. Cas­si­rer selbst hat (anders als z. B. Des­cartes in den Leidenschaften der Seele) nirgends eine Gefühls- bzw. Emotionstheorie entwickelt, die in systematischer Übersicht einzelne Emotionsarten behandelt. Es ist also nicht von Bedeutung und gar unmöglich, anhand von Cas­si­rers Schriften eine klar systematische und konkrete Theorie der Emotionsarten zu konstruieren. Eine planvolle Auseinanderlegung verschiedener Emotionsarten bzw. ihrer Zusammenhänge kann man also von Cas­si­rers Schriften und auch von dieser Arbeit nicht erwarten. Aber dies besagt nicht, dass wir den Ansatz bzw. die Grundrichtung

12 Einleitung

seiner Emotions- bzw. Gefühlstheorie nicht anschaulich machen könnten. So sind die Hauptaufgaben dieser Arbeit die zwei folgenden: Erstens ist der philosophisch-theoretische rote Faden der Gefühlsproblematik überhaupt sowie der Grundcharakter des menschlichen Gefühlslebens bei Cas­si­rer herauszuarbeiten.11 Zweitens sind verschiedene Weisen des menschlichen Fühlens, welche auf unterschiedliche Typen des menschlich-symbolischen Bewusstseins bezogen sind, hervorzuheben.12 Dabei ist die Notwendigkeit der zweiten Aufgabe erklärungsbedürftig. Der Mensch lebt in der geistig-kulturellen, d. h. für Cas­si­rer symbolischen Welt. Ihm zufolge ist das Gefühlsleben, wie Christian Möckel hervorhebt, keine Ausnahme.13 Das heißt, auch das Gefühl ist beim Menschen – im Unterschied zum tierischen Gefühl – symbolisch gestaltet. Folglich kann Cas­si­rers Verständnis des menschlichen Gefühls erst unter Bezugnahme auf die spezifisch menschliche Symbolisierungskraft erschlossen werden: Die Beleuchtung jenes Verständnisses soll entsprechend dem System seiner Kulturphilosophie, d. h. dem Aufbau der Philosophie der symbolischen Formen, versucht werden. Cas­si­rers pluralistische Ansicht zur Kultur setzt voraus, dass jede typische kulturgestaltende, symbolische Form ihre eigene Struktur und Charakteristik besitzt – wenngleich dies freilich keinesfalls die Verneinung der gemeinsamen Züge aller symbolischen Formen bzw. die der Analogien zwischen zwei oder mehreren symbolischen Formen besagt. Da Cas­si­rer zufolge auch das Gefühl im menschlichen Leben symbolisiert wird, muss die Pluralität der Symbolisierungsarten auch diejenige des menschlichen Gefühls mit sich führen. Diesbezüglich heißt es in der PsF III: »Sicherlich wird diese Schicht [die Urschicht des Aus­drucks­phäno­mens als gefühlsmäßiges bzw. emotionales Phänomen Y. H.], sobald wir von der mythischen Welt zur ästhetischen, von der ästhetischen Welt zu der der theoretischen Erkenntnis fortgehen, sehr erheblich modifiziert und umgestaltet […].«14

Zwar hat Cas­si­rer diese Konzeption der spezifischen »Art und […] Richtung […] des Fühlens«15 je nach der symbolischen Form nicht thematisiert, doch wird die vorliegende Arbeit anhand von in seinen Werken verstreut liegenden Aussagen zum Gefühl zeigen, dass solch eine Konzeption nicht Vgl. Kap. II. Vgl. Kap. III, IV und V. 13 Vgl. Möckel (2012b). 14 ECW 13, 98 f. 15 LKW, 457. 11

12



Einleitung 

13

bloß ein theoretischer Einfall bleibt, sondern dass sie, wenngleich keineswegs systematisch, so doch in gewisser Hinsicht ausgeführt wird. Deshalb gehört die Herausarbeitung der speziellen Art des Fühlens entsprechend jeder wichtigen symbolischen Form – Mythos, Religion und Kunst – zu einer der Hauptaufgaben der vorliegenden Arbeit. Hierzu, d. h. mit Bezug auf die in der vorliegenden Arbeit vorgenommene Auswahl der symbolischen Formen bzw. der Typen des symbolischen Bewusstseins ist noch einiges vorauszuschicken. Gewiss spielt Cas­si­rer in der soeben zitierten Aussage auf die symbolische Modifizierung des Gefühls in der Welt der »theoretischen Erkenntnis« an. Doch in der vorliegenden Arbeit wird die symbolische Modifizierung bzw. Gestaltung des Gefühls vermittels der theoretischen Erkenntnis im Sinne der exakten Wissenschaft als einer symbolischen Form nicht behandelt oder, genauer gesagt, sie kann nicht behandelt werden. Denn Cas­si­rer geht im Grunde davon aus, dass die exakten Wissenschaften das Anthropomorphe, d. h. das Gefühlsmäßige, nicht (um)gestaltet, sondern aus ihrer symbolischen Welt gänzlich ausschließen.16 Zudem wird die symbolische Modifikation bzw. Gestaltung des Gefühls vermittels der symbolischen Form der Sprache (oder genauer, vermittels ihrer begrifflich-logischen Funktion) in sehr kompakter Form dargestellt, weil Cas­si­rer selbst den einschlägigen Sachverhalt nur im Vorbeigehen erklärt.17 Dagegen wird in dieser Arbeit versucht, die von Cas­si­rer konzipierte spezifische Art des Fühlens im (rein) moralischen Bewusstsein zu erklären; d. h. hier im Sinne des Bewusstseins, welches sich auf die philosophische Ethik gründet. Zwar ist die philosophische Ethik an sich – die philosophische Begründung der Moral – nicht als eine symbolische Form zu verstehen, da Cas­si­rer unter Ethik im Unterschied zu einer »symbolischen Form« keine universelle Kulturform, sondern eine abendländische und somit kulturspezifische Wissenschaft versteht. Doch dies ändert nichts daran, dass Cas­si­rer jenes moralische Bewusstsein als ein besonderes weltsymbolisierendes Bewusstsein deutet und auch auf die besondere Gestaltungsweise des Gefühls in diesem Bewusstsein aufmerksam macht. Solch ein (rein) moralisches Gefühl soll in dieser Arbeit dargestellt werden, da dieses eine Sonderstellung in Cas­si­rers (späterem) Verständnis des menschlichen Gefühls einnimmt; eine Sonderstellung als wirksames, philosophisches Instrument gegen die ethisch und politisch gefährliche Gefühlslage.18 Daher sind die Typen des menschlichen Gefühls, mit welchen sich die vorliegende Arbeit hauptsäch Vgl. ECW 6, 332 f.; ECW 10, 111 f.; ECW 13, 389 f.; ECW 17g, 261 f.; ECW 19, 249 f. Vgl. unten III. 1.2. 18 Vgl. unten V. 3.2. 16 17

14 Einleitung

lich beschäftigt, die folgenden: das mythische, das religiöse, das ästhetische und schließlich das moralische Gefühl. Nunmehr ist nochmals zu betonen, dass Cas­si­rer zufolge das menschliche Gefühl durch die geistig-symbolische Kraft des Menschen gestaltet (d. h. objektiviert, orientiert bzw. modifiziert) ist. Das wiederum heißt, dass wir nicht zum Verständnis der unterschiedlichen Arten des menschlichen Gefühls gelangen können, wenn wir nicht zuerst eine klare Einsicht in die Charakteristik jeder symbolischen Form bzw. jedes Bewusstseins gewinnen. Daher wird in jedem Kapitel (Kapitel III, IV und V), welches sich mit der spezifischen Art des menschlichen, d. h. symbolisch gestalteten Fühlens beschäftigt, ein großer Teil der Erklärung der jeweils entsprechenden symbolischen Form (und der ethischen und politischen Ansichten Cas­si­rers) gewidmet werden. Dieser Sachverhalt fordert von der Arbeit die skizzenhafte Erklärung einiger Grundzüge der Philosophie der symbolischen Formen, d. h. die der hervorzuhebenden gemeinsamen Basis aller symbolischen Formen, denn ohne ein Verständnis dieser Basis kann man die sichere Einsicht in jedwede symbolische Form nicht erwarten. Werden die zwei oben dargestellten Hauptaufgaben der vorliegenden Arbeit und die soeben erklärte Notwendigkeit der Erläuterung der Charakteristik jeder symbolischen Form sowie der gemeinsamen Grundzüge aller symbolischen Formen in Betracht gezogen, sollte die Struktur der Arbeit folgendermaßen aussehen. Im ersten Kapitel (»Grundzüge der Philosophie der symbolischen Formen«) werden einige Grundzüge der Philosophie der symbolischen Formen in kompakter Form erklärt. Aber dabei ist zu berücksichtigen, dass eine umfassende und lückenlose Auslegung der Philosophie Cas­si­rers in diesem Kapitel nicht unternommen wird und werden kann. Es handelt sich allein um einige wichtige Grundzüge der Kulturphilosophie Cas­si­rers, welche für das Ganze der folgenden Argumentation von unerlässlicher Bedeutung sind. In diesem Kapitel kann man keine Auseinandersetzung mit der Gefühlsproblematik bei Cas­si­rer erwarten. Insofern dient das erste Kapitel als eine Heranführung an den thematischen Schwerpunkt dieser Arbeit und fungiert damit als theoretischer Hintergrund der vorliegenden Arbeit bzw. als lange Einleitung zur Hauptthematik des Gefühlsbegriffs bei Cas­si­rer. Im zweiten Kapitel (»Aus­d rucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)«) werden die Grundzüge des Gefühls(erlebnisses) herausgearbeitet. Unter den Vorbemerkungen zu Beginn dieses Kapitels ist die Erläuterung des Cas­si­rerschen Terminus »symbolische Funktionen« für das Verständnis der gesamten Arbeit in systematischer Hinsicht sehr wichtig (II. 1.3 »Symbolische Funktionen«). Eine der drei symbolischen Funktionen, die Ausdrucksfunktion, hängt direkt mit der Gefühlsproble-



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matik zusammen und die Bedeutung und Stellung dieser Funktion wird anhand der Trias der symbolischen Funktionen, d. h. in einem wichtigen Bezugssystem der Philosophie Cas­si­rers, klar. Nach solch einer systematischen Verortung der Gefühlsproblematik wird Cas­si­rers Verständnis der grundsätzlichen Charakterzüge des Gefühlsphänomens (des Aus­drucks­phäno­mens) in phänomenologischer Hinsicht einerseits und in anthropologischer Hinsicht andererseits sichtbar gemacht (II. 2 »Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Aus­drucks­phäno­men«). In phänomenologischer Hinsicht wird erläutert, was die Ursprünglichkeit und die Unmittelbarkeit des Gefühlserlebnisses bei Cas­si­rer bedeuten. In anthropologischer Hinsicht wird darauf hingewiesen, dass Cas­si­rer den gene­ tischen Ursprungs des Gefühls im Biologischen erblickt. Aber zugleich wird mit aller Schärfe betont, dass Cas­si­rer die Charakteristik des menschlichen Gefühlslebens qualitativ scharf von der des biologischen bzw. tierischen trennt, dass für Cas­si­rer das menschliche Gefühlsleben durch die symbolische Gestaltungskraft (Objektivierungs-, Orientierungs- bzw. Umgestaltungskraft) des Gefühls von der festen biologischen Beschränkung befreit ist (II. 3 »Grundzüge des menschlichen Gefühlslebens«). Vom dritten bis fünften Kapitel wird jene symbolische Gestaltung des Gefühls anhand der Beispiele der oben genannten symbolischen Formen – der mythischen, religiösen und ästhetischen – und des (rein) moralischen Bewusstseins exemplarisch dargestellt. Dabei fangen wir mit der symbolischen Form des Mythos an, da er die Ausgangsbasis aller Kultur bedeutet und daher die geistesgeschichtlich früheste symbolische Gestaltung des Gefühls darstellt. Aufgrund der von Cas­si­rer konzipierten geistesgeschichtlichen Entwicklungslinie des Bewusstseins gehen wir weiter vom Mythos zur Religion und von der Religion zur Kunst über.19 Anschließend wird auf die (reine) Moral eingegangen. Im dritten Kapitel (»Mythisches und religiöses Gefühl«) werden nicht allein der Mythos, sondern auch die Religion behandelt, weil Cas­si­rer diese zwei symbolischen Formen oft als Mythisch-Religiöses – weniger im religiösen, sondern vielmehr im mythischen Sinne – pauschal analysiert. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Cas­si­rer gleichwohl eine Unterscheidung zwischen diesen beiden symbolischen Formen trifft. Diese Unterscheidung wird von uns nicht vernachlässigt. Die Schwerpunkte dieses Kapitels sind daher die folgenden: Erstens wird Cas­si­rers Auffassung dargestellt, dass die Charakteristik der mythischen Gestaltung des Gefühls zugleich die symbolische Objektivierung des Gefühlserlebnisses bedeutet, und anschließend erklärt, wie sich Cas­si­rer zufolge diese Objektivierung in der geistesgeschichtlich 19

Zu dieser Entwicklungslinie vgl. unten I. 3 u. IV. 3.1.1.

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frühesten Schicht des menschlichen Bewusstseins vollzieht (III. 1.1 »Symbolische Objektivierung des Gefühls als Hauptfunktion des Mythos«). Zweitens wird die von Cas­si­rer konzipierte basale Art und Weise der Gestaltung des mythisch-religiösen Gefühls beschrieben. Nach der Beschreibung der allgemeinen Züge jener Gestaltung (III. 2.1 »Bildung des mythisch-religiösen Kulturgefühls – Verteilung der Akzente des Heiligen und des Profanen«) wird der Unterschied zwischen Mythos und Religion hervorgehoben (III. 2.2 »Unterschied zwischen Mythos und Religion«). Noch wichtiger ist die Auffassung Cas­si­rers zur Sonderstellung der monotheistischen Religionsform gegenüber den anderen Religionsformen. Denn erst dadurch wird klar, dass Cas­si­rer das eigentlich Religiöse, das ethisch Religiöse in der monotheistischen Religionsform verortet (III. 2.3 »Verschiedenheit des religiösen Kulturgefühls – religiöse Zeitgefühle und Zeitgefühl der griechischen Philosophie« und III. 3 »Ethische Kraft der monotheistisch-prophetischen Religionen«). Folglich wird der eigentliche Unterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl als Unterscheid zwischen dem mythischen und dem monotheistischen Gefühl herausgearbeitet (III. 4 »Unterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl«). Das vierte Kapitel (»Ästhetisches Gefühl«) beschäftigt sich damit, die Besonderheit des ästhetischen, künstlerischen Gefühls klar zu machen. Zuvor wird zu Cas­si­rers Herangehensweise an das Problem des Ästhetischen – die Kunst als symbolische Form – angemerkt, dass sich diese vom Umgang mit den anderen symbolischen Formen wie Mythos, Religion und Sprache dadurch unterscheidet, dass er sich ohne intensive Analyse des kulturwissenschaftlichen – d. h. hier kunstwissenschaftlichen bzw. kunstgeschicht­ lichen – Materials mit dem Wesen der Kunst beschäftigt (IV. 1 »Vorbemerkung zu Cas­si­rers Ästhetik – die besondere Herangehensweise Cas­si­rers an die Kunst im Unterschied zu den anderen symbolischen Formen«). Nach dieser Vorbemerkung wird der philosophiegeschichtliche Hintergrund der allgemeinen Sicht Cas­si­rers auf die Ästhetik – auf die Besonderheit des Künstlerischen – anhand seiner Kant-Schiller-Interpretation erläutert, wobei zugleich erklärt wird, warum wir uns diesbezüglich nicht hauptsächlich auf Goethe, in dem Cas­si­rer den vorbildlichsten Künstler erblickt, stützen werden (IV. 2 »Kant, Schiller und Goethe – in Cas­si­rers Verständnis«). Dann wird vor diesem Hintergrund der Ausgangspunkt von Cas­si­rers eigener ästhetischer Lehre – hauptsächlich anhand seiner Schriften der zwanziger Jahre – sichtbar gemacht (IV. 3.1 »Der Ausgangspunkt der philosophischen Ästhetik Cas­si­rers«). Aufgrund dieser Ausgangsbasis werden der Leitfaden der Ästhetik, mit welcher Cas­si­rer sich erst in hohem Alter direkt beschäftigt, und dadurch die Besonderheit des ästhetischen Ge-



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fühls bei Cas­si­rer ersichtlich (IV. 3.3 »Kernthese der Ästhetik Cas­si­rers« und IV. 4 »Ästhetisches Gefühl«). Im fünften Kapitel (»Moralisches Gefühl«) wird die Charakteristik des moralischen Gefühls hervorgehoben. Es versteht sich von selbst, dass es dabei zuerst gilt, Cas­si­rers ethische Sichtweise aufzuzeigen. Cas­si­rer ist ein großer Kantianer, doch, im großen Unterschied zu Kant, hat er keine Ethik geschrieben. Aber dies bedeutet nicht, dass wir den Kern der ethischen Ansichten Cas­si­rers nicht fassen könnten. So wird jener Kern dargestellt, welchen Cas­si­rer der Kantischen Ethik entnimmt, wenn auch nur in groben Zügen (V. 1.2 »Grundprinzipien der Ethik Cas­si­rers – monotheistische Religion und die philosophische Ethik«). Zudem gilt es Cas­si­rers spätere politische Anschauung zu erläutern, die sich in seiner Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistisch-totalitären Staat zeigt. Denn erst dadurch kann die Charakteristik des moralischen Gefühls bei Cas­si­rer wahrhaft erschlossen werden. Cas­si­rer zufolge erschuf der totalitäre Staat mit dem absichtlichen Missbrauch der symbolischen Kraft des Menschen eine ethisch und politisch bedenkliche mythische Gefühlslage, d. h. eine vernunftwidrig angeheizte Gefühlslage bei seinen Staatsbürgern. Wie kurz erwähnt, konzipiert Cas­si­rer das moralische Gefühl als das einzige (philosophische) Mittel gegen eine solche Gefühlslage. Das heißt, um die besondere Charakteristik und Wirksamkeit des moralischen Gefühls in vollem Maß zu verstehen, muss man sich zuerst diese mythische Gefühlslage klar machen. Da zudem Cas­si­rer diese Lage bezogen auf den modernen totalitären Staat beschreibt, wird näher auf seine Analyse dieses Staates eingegangen (V. 2 »Mythos des Staates«). Zum Schluss werden die Auffassung des moralischen Gefühls in der klassischen Philosophie nach Cas­si­rer einerseits und seine eigene Ansicht zum moralischen Gefühl als philosophischem Instrument gegen die mythische gefährliche Gefühlslage andererseits beleuchtet. Dabei dreht sich die Argumentation im ersteren Fall um Cas­si­rers Kant-Interpretation und im letzteren um seine Spinoza-Interpretation (V. 3 »Moralisches Gefühl«). Der Verfasser hofft, dass die oben dargestellte Struktur der vorliegenden Arbeit dazu beiträgt, die Grundrichtung der Gefühlstheorie Cas­si­rers und die jeder symbolischen Form bzw. jedem symbolischen Bewusstsein entsprechende besondere Art des Fühlens, die er konzipierte, zu verdeutlichen, so dass die Essenz der gesamten Philosophie Cas­si­rers unter dem Blickwinkel der Problematik des Gefühls beleuchtet wird.

I.  Grundzüge der Philosophie der symbolischen Formen 1. Die Philosophie der symbolischen Formen als Kulturphilosophie 1.1 Die Philosophie der symbolischen Formen als Erweiterung der Kantischen Philosophie Im Jahr 1934 schrieb Cas­si­rer anlässlich der Entgegennahme der Festschrift zu seinem sechzigsten Geburtstag einen Dankesbrief an seine jüngeren Freunde und Schüler, in dem er von sich selbst spricht: »Ich selbst bin vielleicht niemals ein guter und eigentlicher philosophischer ›Lehrer‹ gewesen – denn mir fehlte der Glaube an die Möglichkeit und Notwendigkeit schulmässiger Bindungen im Gebiet der Philosophie. Die Gemeinschaft, die mich mit meinen Schülern verband, habe ich stets, weit mehr denn als eine blosse Gemeinschaft in bestimmten feststehenden Ergebnissen, als eine Gemeinschaft des philosophischen Wollens, des Forschens und Fragens betrachtet und empfunden.«1

Eine solche Skepsis bezüglich der schulmäßigen Bindungen spricht Cas­si­ rer bereits in dem kleinen Text »Von Hermann Cohens geistigem Erbe« (1926) – mit Bezug auf die sogenannte Marburger Schule (Hermann Cohen und Paul Natorp) – aus. Dabei macht er darauf aufmerksam, dass ein Schlagwort wie »Marburger Schule« die Gefahr der Ablenkung vom philosophischen Sachverhalt oder Problem in sich birgt.2 Nichtsdestoweniger versteht es sich von selbst, dass Cas­si­rer, wenn er von Cohens geistigem Erbe spricht, nicht auf die Hervorhebung des Schwerpunktunterschieds zwischen Cohen und Natorp, sondern auf die ihnen gemeinsame Denkfigur hinzielt. Cohens und Natorps Philosophie besäßen, so Cas­si­rer, eine Gemeinsamkeit darin, dass sie nicht die Frage nach dem gegebenen Sein, sondern die nach dem lebendigen »Akt des Produzierens«3 aufwerfen. Dies gilt auch für Cas­ si­rers grundlegende Fragestellung, die sich weniger auf »forma formata«, sondern auf »forma formans« richtet. 4 Den gleichen Sachverhalt betont Natorp in einem Aufsatz, auf den sich Cas­si­rer in der Vorrede von Deter Brief an Paul Oskar Kristeller, Leo Strauss und andere, 29. Juli 1934, in: ECN 18, 139. Vgl. ECW 16h, 480 f. 3 Ebd., 485. 4 Vgl. ECN 1a, 18 u. 30. 1 2

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minismus und Indeterminismus (1937) stützt, um die eigentliche Deutung des Marburger Neukantianismus zu erklären.5 Für die Marburger Schule, so Natorp, sei einerseits Kant kein unantastbarer Kodex und andererseits Cohens Philosophie nicht schlechthin, sondern hinsichtlich ihrer Methode des Philosophierens von großer Wichtigkeit. Weiter heißt es: »So hat besonders auch das sich ungesucht von selbst ergeben, daß über die not wendigen Korrekturen a n der L ehre K ants unter uns, trotz mancher Unterschiede der Formulierung im einzelnen, doch eine große sachliche Übereinstimmung obwaltet. […] / Der feste Ausgangspunkt, der unverrückbare Leitgedanke unseres ganzen Philosophierens ist […] die ›transzendentale Methode‹.«6

In diesem Sinne ist Cas­si­rer zweifelsohne Kantianer. Die Frage aber, ob er Neukantianer ist, erweist sich als komplizierter. Zur Klärung der Position Cas­si­rers lohnt es sich hier, einen kurzen Blick auf die Bedeutung des Neukantianismus zu werfen. Denn der Terminus »Neukantianismus« bereitete Cas­si­rer Unbehagen, er birgt zudem die Gefahr einer gänzlich verfehlten Auffassung seiner Philosophie: »[V]iele der Lehren, die in der philosophischen Literatur der Gegenwart dem ›Neukantianismus‹ zugeschrieben werden, sind«, so Cas­si­rer, »mir nicht nur fremd, sondern meiner eigenen Auffassung diametral entgegengesetzt.«7 Die erste Frage, die Cas­si­rer in der Davoser Disputation (1929) an Heidegger – welcher ihn als Neukantianer ansieht – richtet, lautet: Was versteht Heidegger unter Neukantianismus? Cas­si­rer fährt sogleich »(möglicherweise verschmitzt)«8 fort: »Der Neukantianismus ist der Sündenbock der neueren Philosophie. Mir fehlt aber der existierende Neukantianer.«9 Heideggers Antwort zufolge gälten als Neukantianer alle, die Kants KrV als »Theorie der Erkenntnis mit Bezug auf die Naturwissenschaft«10 auslegen. Aber wenn Heidegger den neukantianischen Zug in der allein an der Naturwissenschaft orientierten Erkenntniskritik sieht, trifft dieser Zug freilich auf Cas­si­rer nicht zu. Deswegen erwidert Cas­si­rer, dass er »die Stellung der mathematischen Naturwissenschaft« anerkannt habe, aber dass sie »nur als ein Paradigma«, »nicht als das Ganze des Problems« verstanden werden dürfe.11 Vgl. ECW 19, 6 f. Natorp (1912), 196. Zum Verhältnis von Cas­si­rer zur Marburger Schule und zum Neukantianismus vgl. Renz (2002); Ferrari (2003).   7 ECW 22e, 169.   8 Ferrari (2003), 265.   9 Cas­si­rer/Heidegger (1991), 274. 10 Ebd., 275. 11 Ebd.   5   6



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Man kann sich jedoch, um Heidegger gerecht zu werden, fragen, ob er in der Davoser Disputation nicht lediglich eine Abbreviatur seines Begriffs vom Neukantianismus gegeben hat. Denn Heidegger, der die PsF II – Cas­ si­rers Hauptwerk zum Mythos – rezensiert hatte, wusste freilich, dass Cas­ si­rer über die Sphäre der mathematischen Naturwissenschaft hinausgegangen war.12 In dieser Rezension – und auch in der Anmerkung in Sein und Zeit  – lautet Heideggers Kritik an Cas­si­rers Untersuchung des Mythos folgendermaßen: Die transzendentale Methode, die der Neukantianer der Auslegung der KrV zugrunde lege, könne nicht das Fundament der Kritik der Kultur sein, da ihr die ontologische Fundierung fehle.13 Unabhängig von der ontologischen Fundierung der Philosophie und der Behauptung einer Notwendigkeit derselben bei Heidegger wird deutlich, dass für ihn all diejenigen als Neukantianer gelten, welche ihre Philosophie ausgehend von einer transzendentalen Erkenntnistheorie ähnlich derjenigen der KrV gründen und entwickeln. Folgt man dieser Interpretation des Neukantianismus durch Heidegger, dann kann Cas­si­rer als Neukantianer dargestellt werden, eben weil er jenes transzendentale Vorgehen als Paradigma der Kantischen Methode anerkennt. Dies bezeugt Cas­si­rer selbst in Davos: »Ich bleibe bei der Kantischen Fragestellung des Transzendentalen stehen, wie sie Cohen immer wieder formuliert hat.«14 Cas­si­rer räumt eigentlich ein, dass es einen gemeinsamen Grundzug innerhalb des sogenannten Neukantianismus gibt; im Artikel zum Neukantia­ nismus, den Cas­si­rer zur Encyclopedia Britannica (1929) beitrug, wird der gemeinsame Zug der Neukantianer in der Suche nach der Möglichkeit der Philosophie als Wissenschaft ausgewiesen.15 Dies tritt zwei Jahre später in einem Aufsatz, den Cas­si­rer als Ergänzung zur Davoser Debatte verfasste, klarer hervor: »[…] alle namhaften Vertreter des ›Neukantianismus‹ stimmen zumindest in dem einen Punkt überein: daß der Schwerpunkt von Kants System in seiner Erkenntnislehre zu suchen sei, daß das ›Faktum der Wissenschaft‹ und seine ›Möglichkeit‹ Anfang und Ziel von Kants Problemstellung bilde. In dieser Fragestellung und in ihr allein lag für sie der wissenschaftliche Charakter und der wissenschaftliche Vorrang der Kantischen Lehre begründet.«16

Vgl. Heidegger (1991), 255 f. Vgl. außerdem Heidegger (1977), 69, Anm. 1. Vgl. Heidegger (1991), 264 f. 14 Cas­si­rer/Heidegger (1991), 294. 15 Vgl. ECW 17i, 308. 16 ECW 17f, 222. 12 13

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Dass Cas­si­rer selbst in diesem Sinne – und in diesem allein – Neukantianer ist, gesteht er noch später (1939) nachdrücklich zu: »Ich selbst bin oft als ›Neukantianer‹ bezeichnet worden, und ich nehme diese Bezeichnung in dem Sinne an, daß meine Arbeit im Gebiete der theoretischen Philosophie die methodische Grundlegung voraussetzt, die Kant in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ gegeben hat.«17 Dass sich die methodische Grundlage auf die transzendentale Methode der KrV gründet, heißt keineswegs, dass auch für die anderen Sphären mathematisch-physikalische Prinzipien angewandt werden sollten, sondern dass es in jeder besonderen Erkenntnissphäre je besondere Prinzipien gibt. Wie Natorp im oben angeführten Aufsatz zur Marburger Schule betont, wird auch Cas­si­rer nicht müde, darauf aufmerksam zu machen, dass die Verwendungssphäre und Verwendungsweise der Kantischen transzendentalen Methode, je nachdem, welcher sogenannte Neukantianer sie in Anschlag bringt, sehr variieren; dass die neukantianische Gemeinsamkeit nicht im Inhalt der Kantischen Lehre, sondern in ihrer Form liegt.18 Kants Philosophie ist für Cas­si­rer, Natorp und auch Cohen19 kein unantastbares Gesetzbuch, sondern sie bedarf der Revision. So sieht Cas­si­rer seine Philosophie der symbolischen Formen als eine Erweiterung der Kantischen Philosophie, 20 wobei er sich nicht scheut, für ihre Revision auch Kantkritiker wie u. a. Hegel heranzuziehen.21 In einem Brief an Moritz Schlick von 1920 gesteht Cas­si­rer hinsichtlich der Kantischen Erkenntniskritik zu, »daß Kant zwischen dem allgemeinen Grundsatz und seiner besonderen Erfüllung nicht streng genug unterschieden hat und daß seine Lehre in dieser Hinsicht der Revision bedarf«.22 Aber damit ist selbstverständlich nicht das Problem des Kantischen erkenntniskritischen Grundsatzes, sondern allein die Problematik dessen Verhältnisses zu den verschiedenen, konkreten Wissenschaftsprinzipien gemeint. Nicht zu übersehen ist dabei Cas­si­rers Bekenntnis, dass diese Problematik ihm »erst aus dem Fortschritt der wissenschaftlichen Erfahrung«, 23 den Kant nicht erleben konnte, entgegentrat. Diese unausweichliche historische Beschränkung gilt nicht allein für den theoretischen Bereich, sondern für die ECW 22e, 169. Darauf folgt aber Cas­si­rers oben zitierte Klage darüber, dass viele Auffassungen des Neukantianismus seiner Philosophie eigentlich völlig entgegengesetzt seien. 18 Vgl. ECW 17f, 222; ECW 17i, 308 f.; ECW 19, 6 f. 19 Vgl. ECW 24c, 161. 20 Vgl. ECW 11, 7 f.; ECW 12, 35 f. 21 Vgl. Möckel (2004); Kreis (2010), 307 f. 22 Brief an Moritz Schlick, 23. Oktober 1920, in: ECN 18, 51. 23 Ebd. 17



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gesamte Systematik. Beispielsweise hat Kant, so Cas­si­rer, versucht, die Anthropologie im System seiner Philosophie in den Mittelpunkt zu rücken, konnte dies aber aufgrund der Beschränkung bzw. des Ungenügens des empirischen, anthropologischen Materials nicht durchführen.24 Cas­si­rer nennt zwei historische Zeitbedingungen, unter denen Kant stand: »Es drückt sich in ihr [in der Feststellung des philosophischen Aufbaus, Y. H.] auf der einen Seite die besondere geschichtliche Problemlage der einzelnen Wissenschaften, auf der anderen Seite die besondere wissenschaft­liche Interessenrichtung des philosophischen Kritikers aus. Auch Kants Entwurf und Kants methodischer Aufbau des Systems der wissenschaftlichen Erkenntnis ist von solchen individuellen Einschränkungen nicht frei.«25

Somit sind die Schwerpunkte jener Revision klar. Erstens sollen neue Forschungs- und Studienergebnisse verschiedener Einzelwissenschaften philosophisch in Betracht gezogen werden. Aufgrund dessen soll zweitens Kants wissenschaftliche Interessenrichtung überprüft werden; d. h. die Interessenrichtung der zwei großen Problemkreise: der mathematisch-theoretische Kreis der Natur und der Kreis der Freiheit und Ethik, zu dem der Geschichts- und Entwicklungsbegriff gehört. Was den letzteren Problemkreis angeht, ist es nicht leicht festzustellen, ob bzw. inwieweit Cas­si­rer ihn erneut gründlich überprüft hat.26 Nichtsdestoweniger ist es unumstritten, dass er in mehreren Hinsichten einen Schritt über Kant hinaus machte. Anhand der Entwicklung der modernen exakten Wissenschaften unternahm Cas­si­ rer die Erneuerung der transzendentalen Erklärung der mathematisch-physischen Weltsicht, die bei Kant an die Newtonsche Physik gebunden war. Aufgrund neuer ethnologischer, religionswissenschaftlicher und linguistischer Forschungsergebnisse führte Cas­si­rer die philosophischen, kritischen (transzendentalen) Untersuchungen einiger kultureller Sphären, d. h. der Sprache, des Mythos und der Religion ein. In einem bekannten Brief an Reinhold schrieb Kant, dass er »jetzt drey Theile der Philosophie erkenne deren jede ihre Principien a priori hat die man abzählen und den Umfang der auf solche Art moglichen Erkenntnis sicher bestimmen kann […].«27 Wenngleich Kant dabei die apriorische Begründung der ästhetischen (bzw. teleologischen) Prinzipien im Vergleich zu jener der theoretischen bzw. der praktischen als die ärmsten beschreibt, Vgl. ECN 1a, 32 f. Cas­si­rer spielt auf Kants Aussagen in der »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen 1765/1766« an. Zum damaligen Ungenügen des empirischen Materials vgl. außerdem ECN 6c, 397. 25 ECW 16c, 106. 26 Vgl. unten V. 1.2. 27 Kant (1900/1922), 514 f. Cas­si­rers Erwähnung findet sich in: ECW 8, 293, Anm. 25. 24

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ist es für Cas­si­rer wichtig, dass Kant darin doch die Kritik jedes mensch­ lichen Vermögens des Gemüts – Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust, Begehrungsvermögen – unternahm; dass er die Struktur und die Prinzipien je nach den besonderen Bereichen suchte. An diese pluralistische Weise der Suche nach Prinzipien schließt Cassirer seine Philosophie der symbolischen Formen an. Diese Philosophie beschäftigt sich – statt mit den Kantischen Vermögen des Gemüts – in erster Linie mit typischen Formen des geistig-kulturellen Weltbilds. 28 Die systematische Aufgabe der Philo­ sophie Cas­si­rers besteht folglich darin, »die immanente Ganzheit der Sinngebiete zu durchlaufen und jeder von ihnen ihre bestimmte charakteristische ›Stelle‹ in diesem Ganzen zu bestimmen. Sowenig hierbei der Versuch gemacht werden kann, die Erkenntnis gewissermaßen aus ihren Angeln zu heben, so genügt es nicht, die Struktur des logisch-theoretischen Sinnes einfach als solche hinzunehmen und auf sich beruhen zu lassen: Sie muß […] mit den anderen Bedeutungsstrukturen – wie etwa mit der Form der ästhetischen, der mythischen, der religiösen ›Sinngebung‹ – verglichen werden, um erst darin in ihrer Besonderheit und in ihrer eigentümlichen Bedeutungsprägnanz erkannt zu werden.«29

Jedes kulturelle Sinngebiet, d. h. jede symbolische Form, muss auf Grundlage der ganzen Systematik der symbolischen Formen und des Vergleichs einzelner symbolischer Formen herausgearbeitet werden. Hierzu ist jedoch zu wiederholen, dass eine Gesamtsystematik, die Cas­si­ rer für die Philosophie fordert, keineswegs eine geschlossene, ein für allemal festgestellte sein soll. Unabhängig davon, ob Kant selbst seinen philosophischen Aufbau wirklich als ideal und provisorisch zugleich ansah, versteht Cas­si­rer ihn in eben diesem idealen und provisorischen Sinne. Zur Feststellung der philosophischen Systematik Kants sagt er: »Wo […] eine solche Feststellung versucht wird, da trägt sie notwendig, neben ihren allgemeingültigen Bestimmungen, gewisse provisorische und hypothetische Züge.«30 An dieser Stelle interessiert weniger, ob Cas­si­rers Kantinterpretation gefolgt werden kann, sondern vielmehr, dass Cas­si­rers Ausführungen auf seine eigene philosophische Systematik zutreffen. In einem Brief an Ludwig Binswanger von 1925 schreibt Cas­si­rer, der mit der Ausarbeitung der PsF III beschäftigt war: Ihm komme »im Fortschritt der Arbeit von Tag zu Tag mehr zum Bewusstsein […], daß die Fragen, um die es sich hier handelt, nur dann einer Lösung entgegengeführt Vgl. ECW 12, 35. ECW 17a, 74, Anm. 112. Vgl. ECW 10, 113 f.; ECW 11, 12; ECN 5b, 96 f. 30 ECW 16c, 106. 28 29



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werden können, wenn sie gleichzeitig von der Philosophie u. von der Einzelforschung in Angriff genommen werden.«31 Die Fülle der empirischen, anthropologischen Tatsachen bedinge nicht per se eine Fülle des Denkens. Die unorganisierte Masse der Tatsachen könne für die Wissenschaft gar schädlich sein.32 Doch im scharfen Unterschied zum fundamentalontologischen Ansatz Heideggers braucht die Philosophie der symbolischen Formen unbedingt die Zusammenarbeit mit Einzelwissenschaften. Philosophie kann, so Cas­si­rer, »nicht mehr den Versuch machen, eine feste und fertige dogmatische Formel aufzustellen, mit der sie ein für alle Mal der Arbeit der Forschung ihren Gang vorschreibt und ihr ihr Ziel weist. Sie muss sich statt dessen entschliessen, den vielverschlungenen Wegen der Forschung selbst zu folgen, um in ihnen das Gesetz zu suchen, dem die Bewegung der Forschung folgt.«33

Für den zukünftigen Fortschritt der Einzelwissenschaften, oder noch allgemeiner, für die Möglichkeit der zukünftigen neuen Modi des menschlich-kulturellen Verfahrens muss die Philosophie der symbolischen Formen offen bleiben. So sind Cas­si­rers Versuche der Erweiterung der Kantischen Philosophie ihrerseits nichts anderes als »Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie«.34 1.2 Forderung einer einheitlichen Übersicht über die gesamte ­Systematik – Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften Es ist schwierig zu erkennen, inwiefern Cas­si­rer den klaren Unterschied zwischen Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft, welch Letztere das Gegenstück zur Naturwissenschaft ist, für notwendig hielt. Wenn Cas­si­rer diesen Unterschied noch deutlicher hätte erklären können, wäre dies für die Forschung von großem Interesse. Aber der Grund, warum Cas­si­rer keine genaue Differenzierung vorlegt, liegt nicht in einer bloßen Vernachlässigung, sondern in Cas­si­rers Verständnis von Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft. Die Vagheit des Unterschieds zeigt sich deutlich in einer Passage aus LKW (1942). Dort stellt Cas­si­rer drei unentbehrliche, gleichberechtigte Analysearten der Kulturwissenschaft dar: Werdensanalyse, die sich mit der Brief an Ludwig Binswanger, 11. März 1925, in: ECN 18, 78. »[…] the wealth of the facts is not necessarily a wealth of thoughts. An unorganized mass of facts is in a certain sense much more dangerous than the scarcity of empirical evidence« (ECN 6c, 397). Vgl. ECN 4d, 149; ECN 6b, 211; ECN 6c, 404. 33 ECN 8a, 133 f. 34 ECW 22c, 137. Vgl. ECN 3a, 110 f. 31

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historischen Kausalität – Ursache und Wirkung – beschäftigt, Werkanalyse, die uns, indem sie den Sinn jedes einzelnen Werks hermeneutisch sichtbar macht, einen Überblick über verschiedene Werke verschafft, und Formanalyse, die Formen bzw. Klassen der Werke herausarbeitet. Merkwürdig ist, dass Cas­si­rer, der mit der Erklärung der Werdensanalyse und Werkanalyse in der Kulturwissenschaft anfängt, mit der Formanalyse plötzlich, ohne diesen Sprung zu explizieren, die Rede auf die Kulturphilosophie, die Philosophie der symbolischen Formen lenkt.35 Die Kontinuität bzw. die Überlappung zwischen der Aufgabe der Kulturphilosophie und der Formanalyse der Kulturwissenschaften ist bei Cas­ si­rer jedoch in positivem Sinne unvermeidbar.36 Einerseits hindert den Kulturwissenschaftler nichts daran, nach dem geistigen Wesen der raumzeitlich spezifischen – d. h. für je eine Gruppe spezifischen – oder gar nach der universellen Kulturform – d. h. nach jeder symbolischen Form – zu fragen.37 Nichts hindert andererseits den Kulturphilosophen Cas­si­rer daran, nach dem geistigen Wesen der raumzeitlich spezifischen Kulturform zu fragen, wie er dies tatsächlich in Bezug auf Sprache und Religion tut.38 In solchen Fällen haben die Kulturphilosophie und die Formanalyse der Kulturwissenschaft den gleichen Gegenstand und die gleiche Frage. Aber trotz dieser Gemeinsamkeiten zwischen Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft ist daran zu erinnern, dass die Aufgabe der Philosophie darin besteht, verschiedene Kulturformen zu vergleichen und jene einzelnen aus dem ganzen Aufbau der Kultur heraus zu betrachten, indem sie sich nicht oberhalb der Einzelwissenschaften positioniert, sondern indem die Philosophie sich innerhalb derselben frei bewegt. 39 Die Beschäftigung allein mit der einzelnen Kulturform genügt den Ansprüchen der Philosophie folglich nicht. Demgemäß ist der qualitative Stufenunterschied zwischen Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft unverkennbar. Die Kulturwissenschaft hat hauptsächlich die Aufgabe, sich mit einer raumzeitlich spezifischen Kulturform (z. B. mit Stilbegriffen wie Gotik, Klassizismus, Barock im Fall der Kunstwissenschaft oder einer einzelnen Sprache wie Englisch, Deutsch usw. im Fall der Sprachwissenschaft) zu beschäftigen, obgleich sie, wie gesagt, auch eine universelle Kulturform – d.h. eine symbolische Form – wie Mythos, Sprache, Religion usw. behandeln kann. Hingegen ist es eine unentbehrliche Aufgabe der Kulturphilosophie, Vgl. LKW, 455 f. Vgl. Recki (2005). 37 Die Kulturwissenschaftler können freilich auch als Historiker der Naturwissenschaften die geistige Bedeutung der Naturwissenschaften behandeln. 38 Vgl. unten III. 2.3 u. Exkurs. 39 Vgl. ECW 17j, 358 f. 35

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verschiedene spezifische Kulturformen auf eine universelle Kulturform (symbolische Form) und diese wiederum auf den systematischen Überblick über alle universellen Kulturformen zu beziehen: Bei der Philosophie muss das Interesse auf allgemeine begriffliche und prinzipielle Erkenntnisse gerichtet werden. Selbst wenn sich der Philosoph mit den raumzeitlich spezifischen Kulturformen beschäftigt, soll er dies nicht für jene Beschäftigung an sich, sondern für das Verständnis der gesamten Struktur von Kultur überhaupt unternehmen. Kurzum, die Philosophie der symbolischen Formen darf auch in ihren analytischen Beschäftigungen auf keinen Fall den synthetischen Überblick über das Kulturganze aus dem Auge verlieren. In einer wohlbekannten Passage im vierten Band des Erkenntnisproblems heißt es: »Die Zeit der großen konstruktiven Entwürfe, in der die Philosophie hoffen durfte, das Ganze des Wissens […] zu systematisieren und zu organisieren, ist für uns dahin. Aber die Forderung der Synthesis und Synopsis, der Überschau und Zusammenschau bleibt nach wie vor bestehen, und nur aus einer solchen Art des systematischen Überblicks läßt sich das wahre geschichtliche Verständnis der Einzelphänomene gewinnen.«40

2. Symbolische Form 2.1 Symbolische Form als Energie des Geistes Nach seiner wohlbekannten Definition im EM (1944) ist der Mensch »animal symbolicum«, 41 das Symbole gebrauchende Tier. Der Mensch schafft die symbolische Form, genauer gesagt: das menschliche Bewusstsein ist nichts anderes als symbolische Formung. So lebt der Mensch von seiner Natur her unausweichlich in einer symbolischen Welt. »He [man, Y. H.] has so enveloped himself in linguistic forms, in artistic images, in mythical symbols or religious rites that he cannot see or know anything except by the interposition of this artificial medium. His situation is the same in the theoretical as in the practical sphere.«42

Aber was ist die symbolische Form? An einer wohlbekannten und oft zitierten Stelle gibt Cas­si­rer folgende Definition der »symbolischen Form«: ECW 5, 21. ECW 23, 31. 42 Ebd., 30. 40 41

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»Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.«43

Es geht in der Philosophie der symbolischen Formen um »Energ ien des Bildens«, 44 um geistige Energien, »durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte ›Bedeutung‹, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt«. 45 Die werdende und vergehende Lebensfülle wird durch menschliche Symbolisierungskraft in einem konkreten sinnlichen Zeichen – z. B. Wort, Bild, Ding, Gebärde 46 usw. – als sinngeladenes Invariantes geformt. 47 Jede symbolische Form  – Mythos, Religion, Kunst, Sprache, Wissenschaft usw. – bezeichnet dabei eine je besondere Weise der geistigen Gestaltung der Weltbedeutung. Ein Linienzug kann, so erläutert ein bekanntes Beispiel Cas­si­rers, einmal als eine geometrische Figur, ein andermal als ein mythisches Wahrzeichen des Heiligen und einmal als ein ästhetisches Ornament wahrgenommen werden. 48 Materie ist gleich dem Linienzug in der Wahrnehmungserfahrung mit einer bestimmten Sinnmodalität erfüllt. Materie und Form sind dabei nicht trennbar, weil Materie dem Bewusstsein immer in einer geistigen Form, d. h. in einer symbolischen Form – in »einer bestimmten einheitlichen Blickrichtung der Erkenntnis«49 – erscheint; und Form immer nur in geformter Materie bzw. als Form von Materie vorkommt.50 (Dies schließt jedoch nicht aus, dass ver ECW 16b, 79. Ebd., 104. 45 ECW 11, 7. 46 Die Nachahmung in der Gebärdensprache ist Cas­si­rers Ansicht nach nicht als rein passive Nachbildung, sondern als geistige Heraushebung des prägnanten Moments der Weltphänomene, d. h. als »symbolische[-] Gebärden« zu verstehen (vgl. ECW 11, 127 f. Zitat aus ebd., 128). 47 Vgl. ECN 1a, 15. Zum gleichen Gedanken bei Des­cartes und bei Leibniz vgl. ECW 1, 54 f. 62 f. u. 251 f. Zur Invariantentheorie bei Cas­si­rer vgl. Ihmig (1997). 48 Vgl. ECW 13, 228 f.; ECW 17g, 256 f.; ECW 22c, 120 f. 49 ECW 13, 4. 50 Dominic Kaegi macht darauf aufmerksam, dass hierbei die Frage auftaucht, ob Cas­ si­rer, da er dabei von ein und demselben Linienzug als Materie spricht – und sprechen kann –, die Substantialität der Materie, d. h. die Trennbarkeit der Materie von der Form (von der symbolischen Sicht) nicht in widersprüchlicher Weise voraussetzt (Kaegi (1995), 79 f.). Aber der eine Linienzug als gleichbleibende Materie ist, wie Martina Plümacher zu Recht festhält, für Cas­si­rer keineswegs substantielle Materie, sondern wird auch in erkenntniskritischer Perspektive, d. h. aus einer besonderen Sicht betrachtet und interpretiert. In diesem Sinne ist der Linienzug als Materie bereits an die Sicht, an die Form gebunden. Die Materie ist, wie Cas­si­rer nachdrücklich sagt, nicht als »reales Sein«, sondern als 43

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schiedene Arten symbolischer Sinnmodalität in einer Erfahrung zugleich im Gang sein können.51) Die menschliche Erfahrung ist symbolisch konstruiert, strukturiert. Aufgrund dieses erkenntniskritischen Grundgedankens sucht die Philosophie der symbolischen Formen, Struktur und Prinzipien jeglicher spezifischen »geistigen Blickform«52 herauszuarbeiten. Wichtig dabei ist erstens zu verstehen, dass das Geistige bei Cas­si­rer vom Psychologischen, Sozialen oder Empirisch-Geschichtlichen zu unterscheiden ist, dass die geistigen Prinzipien sozusagen der Unterbau aller empirischen Erscheinungen der menschlichen Kultur sind.53 So kann auch das MenschlichPraktische Cas­si­rer zufolge nicht durch das Lebenspraktische, sondern erst durch die geistigen Prinzipen verstanden werden; der menschliche Wille ist kein Wille zum Leben, sondern nichts anderes als der geistige Wille, d. h. der unabhängig vom Lebenspraktischen geistig begründete bzw. strukturierte Wille.54 Wie Cas­si­rer in seiner eigenen Darstellung seine Kulturphilosophie als »kritischen Idealismus« erhellt, ist der geistige, idealistische Zug für seine Denkfigur charakteristisch.55 Der kritische Idealist ist kein dogmatischer Empirist, der alle Weltphänomene auf die empirische Materie zu reduzieren versucht, doch er muss sich auf empirische Tatsachen, auf empirische Erfahrungen beziehen. So fasst Cas­si­rer seine Grundeinstellung in der PsF damit zusammen, »daß die Frage nach dem Gegenstand der Erkenntnis nur vom Standpunkt der Erfahrungserkenntnis gestellt und daß sie nur unter den Bedingungen der Erfahrungserkenntnis beantwortet werden kann.«56 In einem Vorlesungstext von 1942 betont Cas­si­rer gar, dass wir alle, also auch die Idealisten, empirische Realisten sind. Er folgt erkennbar auch in dieser Bestimmung dem Kantischen Vorbild: Es war Kant, der seine eigene Vernunftkritik zugleich als transzendentalen Idealismus und empirischen Realismus charakterisierte. Zum Verhältnis von Subjektivismus und Objektivismus, von Idealismus und Realismus sagt Cassirer: »The metaphysical realist and the metaphysical idealist may answer them [the problems with which Cas­si­rer’s philosophy of culture is concerned, Y. H.] in the same way. For the fact of human culture is after all an empirical methodischer Begriff, als »Grenzbegriff« zu verstehen (vgl. Plümacher (2003), 97; ECW 22c, 121 f. Zitate aus ebd., 121). 51 Vgl. unten I. 2.2. 52 ECN 7a, 36. 53 Vgl. ECW 12, 14. 54 Vgl. ECW 11, 125. ECW 12, 241; ECW 13, 208 u. 320; ECW 16f, 260 f.; ECW 23, 30, 39 u. 124. 55 Vgl. ECN 7c. 56 ECW 22e, 169 f. Vgl auch ebd., 189.

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fact that has to be investigated according to empirical methods and principles. And all of us, I think, are empirical Realists – whatever metaphysical or epistemological theory may assume. The Ego, the individual mind can not create reality. Man is surrounded by a reality that he did not make – that he has to accept as an ultimate fact.«57

Aber mit dem darauf folgenden Satz greift Cas­si­rer sogleich auf die kritischidealistische Interpretation der Realität zurück: »But it is for him [man, Y. H.] to interpret reality, to make it coherent, understandable, intelligible – and this task is performed in different ways in the various human activities, in religion and art, in science and philosophy.«58

Kant selbst betont, dass der transzendentale Idealismus einen empirischen Realismus bedinge und folglich »der transscendentale Idealist ein empirischer Realist«59 sei. Im Kontext jener Passage führt Cas­si­rer zur Kantischen Realität aus: »Die empirische Realität heißt ›unmittelbar‹, sofern es, um uns ihrer zu versichern, nicht nötig ist, über das Bewußtsein hinweg zu einer völlig anderen Seinsart zu greifen; aber es ist deutlich, daß sie zugleich im logischen Sinne durch die Bedingungen des Denkens wie durch die der reinen Anschauung als vermittelt angesehen werden muß.«60

Realität ist – sowohl für Kant als auch für Cas­si­rer – nicht das Außer-unsExistierende, nicht das Substantielle, sondern das, was durch das menschliche Vermögen konstruiert wird. Die Fähigkeit zur Variierung der symbolischen Perspektiven, das Vermögen auch der Änderung von Realitätsarten gehört zwar zur Charakteristik des menschlichen Wesens. 61 Doch dieser Charakteristik widerspricht es nicht, dass die Strukturen und die Prinzipien jedweder Realitätsart, d. h. jeder symbolischen Form, objektiv bzw. empirisch realistisch sind, weil sie als solche invariant und somit von jeder subjektiv-willkürlichen Vorstellung unabhängig sind. Dementsprechend geht es in der Philosophie der symbolischen Formen um die Herausarbeitung der objektiven Prinzipien jedweder geistigen – z. B. mythischen, religiösen, sprachlichen, wissenschaftlichen usw. – Realitätsart bzw. Sinnmodalität. ECN 7f, 184. Ebd. 59 KrV (1), 233. 60 ECW 3, 609. 61 »It is characteristic of the nature of man that he is not limited to one specific and single approach to reality but can choose his point of view and so pass from one aspect of things to another« (ECW 23, 184). 57

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Hierbei muss aber nochmals betont werden, dass die Energie des Geistes ausschließlich in den empirischen Fakten erkennbar ist. Die Aktivität und die Wesenheit des Geistes kann sich, so Cas­si­rer, »für uns nur dadurch darstellen, daß sie sich in der Gestaltung des sinnlichen Materials betätigt.«62 Die Philosophie der symbolischen Formen verneint daher keinesfalls die Anwesenheit des sinnlichen Materials in der symbolischen Welt, doch sie befragt nicht die Bedeutung der sinnlichen Materie, sondern sie versucht, in ihr die geistige, strukturgebende Leistung des Menschen hervorzuheben. 2.2 Symbolische Form als heuristisches Prinzip Insofern es um die Herausstellung der geistigen Struktur geht, sieht Cas­ si­rer – wie zuvor festgehalten wurde – keinen wesentlichen Unterschied zwischen Kulturphilosophie und Formanalyse der Kulturwissenschaft. So sollen hier aus dem, was Cas­si­rer zu den kulturwissenschaftlichen Formen sagt, wichtige Hinweise zur symbolischen Form gezogen werden. In einer nachgelassenen Passage zum Problem der Kulturphilosophie erkennt Cas­si­ rer die Wichtigkeit der Formanalyse als »die Grundlegung der Kulturphilosophie« an. Unmittelbar darauf greift er die Formen der Kulturwissenschaften auf und schreibt: »[…] die Grundbegriffe der Kulturwissenschaft sind nicht Begriffe von Ursachen, sondern von Formen, Typen[,] (›Idealtypen‹ im Sinne Max Webers)[.]«63 Obgleich Cas­si­rer einerseits in der Philosophie der Aufklärung (1932) bei Montesquieu die erste Anlage und Durchführung der politischen und soziologischen Idealtypen sieht, benennt er andererseits in den nachgelassenen Manuskripten Max Weber als denjenigen, welcher eine eigentliche, geschichtlich-soziologische Formenlehre aufschloss. 64 Wenngleich dies in den veröffentlichten Werken nicht in den Vordergrund gerückt wird, hat der Webersche Begriff des Idealtypus demzufolge eine paradigmatische Bedeutung für die symbolische Form; allerdings ist damit nicht gemeint, dass der Webersche Begriff als Vorbild direkten Einfluss auf die Bildung des Cas­si­rerschen Begriffs der symbolischen Formen gehabt hätte, sondern allein, dass jener eine erklärende Funktion für diesen besitzt. 65

ECW 11, 19. Vgl. ECW 22c, 119; ECN 3a, 177; ECN 4a, 41. ECN 5b, 94. Vgl. ECN 5c, 161 f.; ECN 3a, 71 f. 64 Vgl. ECW 15, 220 u. 254; ECN 3a, 67, 70 f. u. 182. 65 Für Cas­si­rer besitzen im Hinblick auf die Formanalyse viele weitere wissenschaft­ lichen Untersuchungen paradigmatischen Charakter; z. B. Wölfflins kunstwissenschaft­ liche Analyse der zwei bildkünstlerischen Arten, Humboldts Untersuchung der Spracharten, Uexkülls biologische Analyse der spezifischen Struktur einer jeden Spezies usw. Zu 62 63

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Weber beschreibt den Idealtypus, der als einheitliches Gedankenbild bzw. als rein idealer Grenzbegriff zu verstehen ist, auf folgende Weise: »Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine ›Hypothese‹, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine  Darstel lung  des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen.« 66

Deshalb ist der Idealtypus »in seiner begrifflichen Reinheit« »nirgends empirisch vorfindbar«. 67 Es sei auch »höchst selten«, dass eine reale Gesellschaft nur zu einem Idealtypus gehört, so dass Letztere fast immer eine Mischform der Idealtypen ist. 68 Cas­si­rer geht nicht auf das Problem der Verflechtung bzw. Vermischung der symbolischen Formen ein, doch dass er es als solches erkannte, zeigt sich an mehreren Stellen in nachgelassenen Manuskripten. Beispielsweise erwähnt er, wenngleich sehr kurz und schlicht, 69 Velasquez’ Portrait von Papst Innocenz X. Dort heißt es: »Velasquez gibt uns in seinen Portraits des spanischen Hofes ein echtes Stück spanischer Geschichte – / und sein ›Portrait‹ von Innocenz X lässt sich einem der großen Porträts der röm[ischen] Päpste, die Ranke gegeben hat, oder Mommsens Cäsar[-]Porträt durchaus an die Seite stellen – / Besonders in dieser Kunst des Porträts begegnen sich Kunst und Geschichte«.70

Mithin weist Cas­si­rer bereits darauf hin, dass eine Erfahrung beim Betrachten eines solchen Kunstwerks zugleich eine ästhetische und geschichtliche ist. Diesen Sachverhalt hebt er, den sensualistischen Gedanken kritisierend, noch deutlicher in einer anderen Schrift hervor: Alle symbolischen Bedeutungskreise lägen in der Wahrnehmung »selbst noch ganz undifferenziert« ineinander, d. h.: »Jede Wahrnehmung hat zug leich theoretischen, religiösen, mythischen, ästhetischen Charakter.«71 »Die Voll-Wahrnehm[ung] in ihrer konkreten Totalität«, so lautet Cas­si­rers andere Formulierung, »umfaßt wie das theoretische, so auch das Aesthet[ische] u[nd] Mythische als notwendiges Moment«.72 den analogischen Grundzügen zwischen Cas­si­rers Ansicht zu den kulturwissenschaft­ lichen Formproblemen und jener zu den biologischen vgl. Möckel (2012a). 66 Weber (1988), 190. 67 Ebd., 191. 68 Weber (1972), 153. Vgl. ebd., 124, Anm. 2. 69 Es ist dies einer der seltenen Fälle, in welchen Cas­si­rer die bildende Kunst überhaupt mit konkreten Beispielen analysiert. 70 ECN 3a, 20 f. 71 ECN 4a, 8. 72 Ebd., 10.



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Cas­si­rers Philosophie unternimmt keine Untersuchung der konkreten, alltäglichen Erfahrungen. Jedoch war sich Cas­si­rer, ebenso wie Weber mit Bezug auf die gesellschaftlichen Idealtypen, dessen bewusst, dass alltäg­liche Erfahrungen fast immer nicht allein von einer symbolischen Modalität, sondern von verschiedenen symbolischen Modalitäten erfüllt sind. Dementsprechend dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass die Einordnung der Wahrnehmung in eine symbolische Modalität »selbst erst das Produkt einer Abstraktion«73 ist. Jede symbolische Form, jede Art symbolischer Erfahrung, stellt einzig einen rein hypothetischen Idealtypus der Symbolisierungsart und selbstverständlich keine Beschreibung realer Erfahrungen dar. Cas­si­rer erläutert in diesem Zusammenhang: »[…] die Abstraktion von a l len Formen der Objektivierung ist unmöglich – / wohl aber die Konzentration auf je eine von ihnen – dies ist method isch möglich u[nd] method[isch] wertvoll[.]«74 Sei es mit Blick auf die Kulturphilosophie, sei es hinsichtlich der Kulturwissenschaft, stets beharrt Cas­si­rer auf diesem Versuch wissenschaftlicher Hypothesenbildung. Demzufolge sieht er den Fehler des historischen Materialismus Marx’ darin, dass dieser die Wirtschaftsformen zu physischen Kräften, zu materialen Kausalketten hypostasiert hat. Cas­si­rer leugnet keineswegs das Verdienst des historischen Materialismus, der die Bedeutung der historischen Ökonomie für die Geschichtsschreibung hervorgehoben hat. Aber eine solche Beschreibung könne nur ein echtes Verdienst sein, sofern sie nicht als eine sachliche Beschreibung der physisch-materialen Folgen, sondern als eine der ideellen Formen, d. h. der Idealtypen aufgefasst wird.75 Wenn man eine solch produktive Leistung aus dem historischen Materialismus heraus entwickeln wolle, müsse man davon ausgehen, dass es ihm nicht um »ein einfaches ›Was‹«, sondern um »ein ›Als-Ob‹« gehe.76 Doch »[w]orin liegt das Recht dieses ›Als-Ob‹?« So fragt Cas­si­rer und setzt fort: »Es kann nicht direkt, durch Aufweisung von Einzeltatsachen oder Tatsachengruppen, sich erweisen – / es muss sich indirekt in der Fruchtbarkeit der ›Regel‹, in der Entdeckung von Tatsachen – / aufweisen lassen. […] Als metaphysisch-dogmatische T heorie hat er [der historische Materialismus, Y. H.] unverkennbare Schwächen – / aber als «heuristisches Prinzip” hat er sich durchaus bewährt – / indem er ganz neue Korrelationen sichtbar Ebd., 8. ECN 4e, 186. 75 Vgl. ECN 3a, 65 f. Cas­si­rer weist diesbezüglich lobend auf Georg Simmels Probleme der Geschichtsphilosophie hin. 76 ECN 3a, 66 f. Vgl. ECN 3c, 238 f. 73 74

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gemacht hat, die vorher unbeachtet geblieben waren oder doch nicht in ihrer ganzen Bedeutung erfasst waren – / Korrelationen zwischen den Formen der Wirtschaft einerseits u[nd] den Formen des Rechts, des Staates – auch der Kunst u[nd] Wissenschaft[.] / […] Bei Ma x Weber erst ergiebt sich eine eigentliche Korrelations-Lehre«.77

Bei Weber ist die methodische, heuristische Bedeutung der Formen (Typen) derart deutlich, dass er für eine »wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung« der Idealtypen nur einen Maßstab anerkennt; den Maßstab »des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung.« Weber resümiert: »Nicht als Ziel, sondern als Mittel kommt mithin die Bildung abstrakter Idealtypen in Betracht.«78 Dies gilt auch für die Cas­si­rersche Bildung der symbolischen Formen, die »nicht einmal ein Wegweiser sein« kann, »[der] Rahm[en] u[nd] Ziel im voraus kennt«, sondern »ein Suchen nach neuen Wegen« ist.79 Die Legitimität des Begriffs der symbolischen Form als eines regulativen, heuristischen Prinzips der Philosophie gründet in seiner »Fruchtbarkeit«. Oder wir können anhand von Leibniz’ Beschreibung des Differentials (bzw. der infinitesimalen Qualitäten), die Cas­si­rer in Leibniz’ System (1902) erwähnt, symbolische Formen auch als gut begründete Fiktionen (»fictions bien fondées«) oder als nützliche Fiktionen (»fictions utiles«) bezeichnen. 80 Die Fruchtbarkeit der symbolischen Formen darf nicht als lebens- bzw. sozialpraktische Nützlichkeit, deren Bedeutung für Cas­si­rers Menschenbild irrelevant ist, 81 verstanden werden. Jedoch kann man sagen, dass das methodische oder sachliche Recht des Begriffs der symbolischen Form in der wissenschaftlichen, philosophischen Nützlichkeit für die Begründung des Weltverständnisses, in der wissenschaftlichen, philosophischen Fruchtbarkeit besteht. In diesem Sinne können wir hier an Goethes Wort für die Wahrheit appellieren, auf das sich Cas­si­rer im Zuge der Verteidigung der Goetheschen Farbenlehre stützt: »Was fruchtbar ist, allein ist wahr.«82 Was die Fruchtbarkeit des Ansatzes für eine Theorie der symbolischen Form ausmacht, wird sogleich näher betrachtet werden.

ECN 3a, 66 f. Weber (1988), 193. 79 ECN 4c, 106. 80 Leibniz (1859), 110; Leibniz (1995), 629. Cas­si­rers Erwähnung findet sich in: ECW 1, 187. 81 Vgl. unten II. 3.1. 82 Goethe (1988), 686. Zu Cas­si­rers Erwähnung vgl. ECN 11b, 211. 77 78



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2.3 Vielfalt der symbolischen Formen Als symbolische Formen werden im EM Mythos, Religion, Sprache, Kunst, Geschichte und Wissenschaft dargestellt. 83 Dazu kommen noch Technik, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Recht und Sittlichkeit, wenngleich Cas­si­rer diese symbolischen Formen kaum oder nicht gründlich thematisiert hat. 84 Die Frage, wie viele symbolische Formen denkbar sind, ist von geringer Bedeutung, da die Philosophie der symbolischen Formen für den zukünftigen Verlauf der Kulturtätigkeiten offen bleibt und bleiben soll. 85 Aber es lohnt Cas­si­rers Behandlung der Geschichte als eine symbolische Form scheint problematisch zu sein, weil er dort nur das besondere zeitlich-geschichtliche Bewusstsein behandelt, welches im Rahmen der europäischen Geschichtswissenschaft erst am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts heranzureifen begann (vgl. ECW 23, 186 u. 206 f. Zur näheren Analyse der notwendigen Unterscheidung der Cas­si­rerschen Geschichtsbegriffe vgl. Bast (2000), 234 f.). Es ist fragwürdig, ob Geschichte – im Sinne der modernen Geschichtswissenschaft – als eine symbolische Form betrachtet werden kann. Vielmehr scheint die Anerkennung einer solchen Geschichtswissenschaft als symbolische Form eine Gefahr in sich zu bergen. Denn in diesem Fall könnte die Geschichtsschreibung, die keiner der modernen geschichtswissenschaftlichen Konzeptionen entspricht, als eine bloß mythische Tätigkeit erachtet werden; oder aber solch eine Geschichtsschreibung wäre aus der Philosophie der symbolischen Formen auszuschließen. 84 Vgl. ECW 12, XI u. 4; ECW 16f, 266; ECW 23, 181, ECN 3a, 67; ECN 5a, 21 f.; ECN 5b, 100; ECN 6b, 239. Die Technik, die an den praktischen Zweck gebunden ist, ist Cas­si­rer zufolge nicht das Wesen des menschlichen Intellekts, sondern allein ein Teil des menschlichen Intellekts. So lehnt er die Bergsonsche Definition des Menschen als homo faber dezidiert ab (vgl. ECN 1a, 57 f.). Dementsprechend versucht er im Aufsatz »Form und Technik«, die Technik – die Schaffung der technischen Werkzeuge – als eine besondere und folglich von Mythos, Sprache, Kunst usw. grundlegend unterschiedene Tätigkeit des Menschen zu behandeln. 85 Es wirft sich die Frage auf, wo die Philosophie als Wissensform steht. Kann auch sie als eine symbolische Form betrachtet werden? An mehreren Stellen scheint Cas­si­rer dies zu bejahen. In einer Passage stellt er die Philosophie in eine Reihe mit anderen symbolischen Formen (vgl. ECN 6b, 239). Zudem denkt er in Bezug auf die geschichtliche Perspektive, dass die Philosophie wie alle anderen symbolischen Formen aus dem geistigen Mutterboden des Mythos allmählich herausgetreten ist (vgl. ECW 12, 1 f.; ECW 16e, 165 f.). Betrachtet man aber die Philosophie nicht vom (geistes)geschichtlich, sondern vom systematischen Standpunkt aus, besitzt die Philosophie – zumindest die Philosophie der symbolischen Formen – eine andere Stellung als die anderen symbolischen Formen. Aus systematischer Perspektive darf die Philosophie (der symbolischen Formen) nicht in eine Reihe mit anderen symbolischen Formen gestellt werden, sondern soll Letztere aus übergeordneter Perspektive heraus übersichtlich vergleichen. Dies lässt sich aus ihrer Aufgabe, d. h. der Gewinnung der Übersicht über die symbolischen Formen und der systematische Vergleich derselben, schließen. Die Philosophie der symbolischen Formen ist, wie Thomas Göller sagt, auf einer Metaebene der symbolischen Formen zu verorten (vgl. Göller (1988), 148, Anm. 4. Vgl. außerdem Orth (2004b), 37 f.; Orth (2004d), 356). Ein solcher Charakter der Philosophie zeigt sich deutlich in der folgenden Passage Cas­si­rers: »Philosophy as 83

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sich, nach den Bedingungen der symbolischen Form zu fragen. Das Charakteristikum der symbolischen Form legt Cas­si­rer folgendermaßen dar: »Like poetry and art, myth is a ›symbolic form‹, and it is a common characteristic of all symbolic forms that they are applicable to any object whatsoever. There is nothing that is inaccessible or impermeable to them: the peculiar character of an object does not affect their activity.«86

Anders formuliert, ist die universelle Anwendbarkeit als eine Bestimmung der symbolischen Form zu sehen. Selbst wenn ein Modus der Weltanschauung eine einheitliche Struktur besitzt, ist er insofern keine symbolische Form, als er auf ein spezifisches Gegenstandsgebiet, etwa, so die Beispiele John Michael Krois’, auf »›das Mineralogische‹ oder ›das Arabische‹«87 beschränkt ist. Cas­si­rers Philosophie ist eine Philosophie der Kultur überhaupt bzw. eine Kulturanthropologie, wenngleich Cas­si­rers praktisches Interesse nicht so sehr auf die Weltkultur, als vielmehr auf die europäische Kultur gerichtet ist. Eine symbolische Form findet sich weder nur in diesem oder jenem Individuum noch ausschließlich bei diesem oder jenem Volk, sondern in jeder Kultur, welche sich vollständig entfaltet hat. Sie ist also allen Menschen potentiell zugänglich. Cas­si­rer meint zwar, dass die (von ihm oft so genannten) primitiven Menschen nicht die symbolische Form der Religion, der Geschichte, geschweige der Wissenschaft kennen. 88 Er deutet mit Bezug auf das ästhetische (künstlerische) Bewusstsein an, dass es auch in der modernen europäischen Gesellschaft Menschen geben kann, die ihre Fähigkeit zur eigentlichen, ästhetischen Erfahrung nicht entfalten. 89 Hinzu kommt, dass er pathologische Fälle berücksichtigt, in denen der Mensch die Fähigkeit zur Symbolisierung bzw. einen Teil von ihr verliert.90 Grundsätzlich jedoch sollen wir davon ausgehen, dass eine symbolische Form von der Fähigkeit bzw. der Möglichkeit her für alle Menschen zugänglich ist. Aber freilich folgt daraus nicht, dass allein dieses Merkmal eine Kulturform schon zur symbolischen Form macht. Diesbezüglich ist auf zwei Punkte hinzuweisen. the highest and most comprehensive mode of reflexion strives to understand them all [all symbolic forms, Y. H.] [.] It cannot comprise them in an abstract formula, but it strives to penetrate into their concrete meaning« (ECN 7f, 183). 86 ECW 25, 37. 87 Krois (1988), 19. 88 Religion ist in Relation zum Mythos immer als eine höhere Stufe des Bewusstseins dargestellt (vgl. unten IV. 3.1.1). Zur Abwesenheit der echten geschichtlichen Erkenntnis im Mythos vgl. ECW 11, 176 f.; ECW 12, 124 f.; ECW 16a, 46 f.; ECN 3a, 10 f. 89 Vgl. unten S. 145. 90 Vgl. PsF III, 2. Teil, Kap. IV »Zur Pathologie des Symbolbewußtseins« (ECW 13, 119 f.).



Symbolische Form 37

Erstens müssen wir uns davor hüten, jede Natur- und Kulturwissenschaft vorbehaltlos als eine paradigmatische symbolische Form zu betrachten. Cas­ si­rer hebt zwar in mehreren Passagen hervor, dass Naturwissenschaften wie Mathematik, Physik, Chemie usw. je einen spezifischen Gesichtspunkt der Fragestellung, je ein besonderes Einheitsideal mit sich bringen.91 Sofern das Weltbild einer solchen Wissenschaft universell anwendbar und allen Kulturen zugänglich ist, wäre es theoretisch möglich, jede dieser Wissenschaften als symbolische Form zu behandeln. Doch dabei ist im Sinne zu haben, dass die Philosophie der symbolischen Formen mehr als eine Kritik der Wissenschaften, nämlich eine Kritik der Kultur überhaupt ist.92 Zweitens gilt, wie erwähnt wurde, dass z. B. eine sprachliche Struktur wie Englisch oder Deutsch nicht als eine symbolische Form zu verstehen ist, selbst wenn sie auf jeden Gegenstand anwendbar und für alle Menschen zugänglich ist. Eine symbolische Form darf keine raumzeitlich spezifische Kulturform, sondern muss eine universelle Kulturform sein. Cas­si­rer zielt nicht darauf ab, interkulturelle Unterschiede herauszuarbeiten, sondern ihm ist in erster Linie daran gelegen, pluralistische Weltansichten der menschlichen Kultur zu erörtern; nicht jede geistige Form einer Kultur (z. B. den spezifischen Grundzug einer Mythologie oder das spezifische Prinzip einer Sprache) zu verfolgen, sondern das Grundprinzip jeder symbolischen Form (z. B. den gemeinsamen Zug aller Mythen oder das gemeinsame geistige Prinzip aller Sprachen) herauszuarbeiten. Diesen Zusammenhang beschreibt Cas­ si­rer folgendermaßen, wobei die »einzelne Form« als eine für eine Kultur besondere Form zu verstehen ist: Die Form-Analyse »darf nicht als eine Analyse einer einzelnen Form verstanden [werden], sondern muß auf das Ineinanderg reifen der Totalität der Formen gerichtet sein – / – Sprache, Mythos, Sitte, Gesellschaft, Wirtschaft, Religion – / dieses Ideal ist am besten durchgeführt in Max Weber’s religionssoziolog[ischen] Untersuchungen, die nunmehr nicht […] bei einer einzelnen Kultur, beim Aufbau der antiken Polis stehen bleiben, sondern die Betrachtungsweise, das ›neue‹ Organ, auf a l le Kulturen (China, Indien, …) anwenden u[nd] für ihre Erkenntnis fruchtbar machen.«93

Eine symbolische Form kann also als eine besondere geistige Struktur beschrieben werden, die – der interkulturellen Verschiedenheit ihrer Erscheinungsweisen entgegen – in gleicher Weise universell vorliegt.94 Dabei dürfen Vgl. ECW 11, 5; ECW 16a, 11; ECN 8a, 133. Vgl. u. a. ECW 12, 35. Dazu noch vgl. ECW 11, 9. 93 ECN 3a, 183. 94 Hinsichtlich solch einer anthropologischen Formulierung erscheint Cas­si­rers Unter91

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Grundzüge der Philosophie der symbolischen Formen

wir freilich nicht vergessen, dass sie nirgends substantiell existiert. Sie ist eine ideell konstituierte Struktur, eine aufgrund empirischer Tatsachen hypothetisch gesetzte Sinngebungsart des menschlichen Geistes. Die bisher genannten Bedingungen können die latente Vielfalt der symbolischen Formen zwar beschränken, doch nicht tilgen. Beispielsweise deutet Cassirer an manchen Stellen an, dass die Einzelkünste wegen ihrer Prinzipien- und Strukturverschiedenheit als verschiedene symbolische Formen betrachtet werden können, obwohl er die diese Thematik nicht vertieft hat.95 Obwohl Cassirer unter »Kunst«im Prinzip das Genus proximum der verschiedenen Künste in ihren spezifischen Differenzen versteht, spricht er auch im generischen Singular von dieser Kunst als einer symbolischen Form. In der oben bereits zitierten Passage aus dem MS stellt Cas­si­rer neben Mythos und Kunst auch die Dichtung (poetry) als symbolische Form dar. Zudem kann auf eine bemerkenswerte Passage aus dem Nachlass verwiesen werden, in welcher die einzelnen Künste als je einzelne symbolische Form aufgeführt werden. Dort heißt es: »Die adaequate Manifestation [eines sprachlichen Sinns, Y. H.] liegt in der ›Form‹ / z. B. in der Synta x der Sprache / Und es giebt eine solche ›Syntax‹ für jede symbol[ische] Form – / eine ›Syntax‹ der Poesie, / der Malerei, / der Plastik, / der Architektur«.96

Damit ist nicht gemeint, dass die Einzelkunst als eine symbolische Form betrachtet werden soll; nicht jede Kunst scheint einer Bedingung dieser Form, d. h. der universellen Anwendbarkeit, zu genügen. Es wird hier nur behauptet, dass Cassirer der Gedanke vorschwebte, die Einzelkunst als eine symbolische Form zu betrachten. Diesbezüglich ist noch zu beachten, dass dieser Gedanke der festgelegten Abgrenzung zwischen Einzelkünsten in ähnlicher Weise eine Absage erteilt, wie Goethes Gedanken zur Dichtkunst gegen die Aufrechterhaltung der sogenannten genres tranchés Position beziehen.97 Sollten wir uns erlauben, jede Kunstgattung als eine symbolische suchung einiger weniger symbolischer Formen – wie z. B. Kunst und Geschichte – unzureichend, insbesondere da er sich auf örtlich wie zeitlich äußerst begrenztes Material stützt. Diese Begrenztheit des Materials trifft teilweise auch auf die symbolische Form der Wissenschaft zu, insofern Cas­si­rer mit ihr hauptsächlich die mathematisch-geometrischen bzw. mathematisch-physischen exakten Wissenschaften meint. 95 Vgl. ECW 9b, 306; ECW 10, 124; ECW 23, 167; LKW, 374 f. u. 475 f.; ECN 1a, 77; ECN 3d, 250 f.; Cas­si­rer (1995), 122 f. Darüber hinaus unternimmt Cas­si­rer als Ergänzung des Ansatzes bei Lessing den orientierenden Versuch, die Verschiedenheit der Zeitkonstruktionen in den Gedichtarten (Epos, Lyrik, Drama) zu profilieren (vgl. ECW 17k, 424 f.). 96 ECN 5c, 129 (kursive Hervorh. Y. H.). 97 Vgl. ECN 6c, 550 f.; ECW 18h, 378 f.



Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie der symbolischen Formen 39

Form zu betrachten, so gälte auch hier das Prinzip, dem zufolge der Aufbau und die Gliederung der gesamten Systematik zugunsten der Aneignung der zukünftigen Lage der Einzelkünste provisorisch und methodisch bleiben sollen: Aufgrund der Forderung nach Empirie muss die Anzahl der symbolischen Formen offen bleiben, solange bis unsere Welt – inklusive ihrer Zukunft – in allen Ecken und Winkeln ausgeleuchtet ist. 3. Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie der symbolischen Formen Wir haben bereits erwähnt, dass Cas­si­rer in Bezug auf die Kulturwissenschaft drei Grundanalysen – Werdensanalyse, Werkanalyse und Formanalyse – als gleichberechtigt darstellt.98 Cas­si­rer benennt dabei zwar die Werkanalyse, die durch ihre hermeneutische Arbeit auf die Übersicht von heterogenen Werken hinzielt, als »die eigentliche tragende Grundschicht«99 der Kulturwissenschaft. Jedoch ist diese Analyse für Cas­si­rers kulturphilosophische und kulturwissenschaftliche Argumentation von geringer Bedeutung. Denn an anderen Stellen und in anderen Schriften ist immer allein von der Entgegensetzung von Werdensanalyse und Formanalyse die Rede. Wie ein Kapitel (aus LKW), in dem diese drei kulturwissenschaftlichen Grundanalysen dargestellt werden, tituliert ist, besteht der eigentliche Problemkreis aus »Kausalproblem (Werdensproblem) und Formproblem«. Cas­si­rer betont wiederholt, dass Formproblem (Strukturproblem) und Kausalproblem (genetisches, geschichtliches Problem von Ursache und Wirkung) klar zu unterscheiden sind.100 Die Frage nach dem Formpro­blem lautet, wie das Phänomen oder das Werk ist, was für eine Struktur es besitzt oder auf welchen Strukturprinzipien es basiert. Hingegen lautet die Frage nach dem Kausalproblem, aufgrund welcher Ursachen es geschichtlich entstanden ist oder unter welchen Bedingungen es erschienen ist bzw. erscheinen wird. Formproblem und Kausalproblem sind sozusagen scharf entgegengesetzte Idealtypen der Fragerichtung, d. h. methodisch zu unterscheidende Gesichtspunkte der Problemstellung.101 Wie soeben hervorgehoben wurde, erkennt Cas­si­rer diesen beiden methodischen Problemstellungen rein theoretisch eine gleiche Gewichtung zu. Doch freilich besitzt Vgl. oben S. 25 f. LKW, 456. 100 Vgl. u. a. LKW, vierte Studie, »Kausalproblem und Formproblem« (LKW, 446 f.). Des Weiteren vgl. ECW 12, XIf.; ECW 23, 128; ECN2, 7 f.; ECN3, 231 f.; ECN 6b, 245. 101 Vgl. ECN 3c, 238 f. 98

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Grundzüge der Philosophie der symbolischen Formen

das Formproblem in der Philosophie der symbolischen Formen den Primat gegenüber dem genetischen, historischen Kausalproblem. Den Primat des Formpro­blems bestätigt Cas­si­rer sowohl in der PsF II als auch im EM unzweideutig. In Letzterem notiert er: »The question as to what language, myth, and religion ›are‹ cannot be answered without a penetrating study of their historical development. / But even if it were possible to answer all these psychological, sociological, and historical questions, we should still be in the precincts of the properly ›human‹ world; we should not have passed its threshold. All human works arise under particular historical and sociological conditions. But we could never understand these special conditions unless we were able to grasp the general structural principles underlying these works. In our study of language, art, and myth the problem of meaning takes precedence over the problem of historical development.«102

So beschäftigt sich die Philosophie der symbolischen Formen nicht vorrangig mit dem Kausalproblem, d. h. dem Problem von Ursache und Wirkung der historischen Geschehnisse. Jedoch bedeutet dies nicht, dass die Philosophie der symbolischen Formen kein historisches Moment kennt. Denn die primäre Fokussierung des Formproblems schließt die Frage nicht aus, welche Formen entwicklungsgeschichtlich früher oder später sind. Dieser Umstand wird durch Cas­si­rers Verständnis der Formanalyse in Wölfflins Kunstwissenschaft beleuchtet. Cas­si­rer zitiert – mit der Absicht, seine eigene Position darzustellen – die folgende Passage Wölfflins, in der dieser zwei bildkünstlerische Grundarten – die malerische Art und die lineare –, anders gesagt, zwei grundlegende bildkünstlerische Idealtypen erklärt: »Die malerische Art ist die spätere und ohne die erste nicht wohl denkbar, aber sie ist nicht die absolut höherstehende. Der lineare Stil hat Werte entwickelt, die der malerische Stil nicht mehr besitzt und nicht mehr besitzen will. Es sind zwei Weltanschauungen, anders gerichtet in ihrem Geschmack und ihrem Interesse an der Welt und jede doch imstande, ein vollkommenes Bild des Sichtbaren zu geben.«103

Hier liegt die Betonung auf der Gleichwertigkeit jeder künstlerischen Art. Jedoch ist kaum zu übersehen, dass Wölfflin ein geschichtliches »Früher« oder »Später« jener künstlerischen Arten keineswegs leugnet. Dies gilt ECW 23, 76 f. (Hervorh. Y. H.). Hier ist freilich mit »the problem of meaning« das Formproblem und mit »the problem of historical development« das Kausalproblem gemeint. Vgl. ebd. 129; ECW 12, XI f. 103 Wölfflin (1991), 33. Vgl. LKW, 422; ECN 5d, 233. 102



Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie der symbolischen Formen 41

auch für Cas­si­rers Kulturphilosophie, welche sich wiederholt mit der Entwicklung innerhalb einer symbolischen Form bzw. mit derjenigen von einer symbolischen Form zu einer anderen befasst. Wichtig dabei sind die zwei folgenden Punkte, welche an Hegel erinnern: Die kulturelle Historizität ist als aufsteigende Stufenentwicklung konzipiert und dieser kulturelle Entwicklungsprozess wird als Selbstbefreiungsprozess des Geistes von der Unmittelbarkeit des Sinnlich-Leiblichen verstanden.104 Am Ende der zwanziger Jahre beschreibt Cas­si­rer die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins als fortschreitenden Prozess des Geistes vom Mythos zur Religion, von der Religion zur Kunst, wozu sich noch der Übergang von der Kunst zur Wissenschaft hinzufügen lässt, obwohl dieser letzte Übergang normalerweise lediglich implizit angedeutet wird. (Die Sprache als eine symbolische Form besitzt eine besondere Stellung, d. h. sie kann als eine ubiquitäre Symbolisierungskraft an allen anderen symbolischen Formen teilnehmen.105) Diese Entwicklung, deren ersten Schritt Cas­si­rer als Dialektik des mythischen Bewusstseins bezeichnet, wird im Kapitel zum mythischen und religiösen Gefühl und – bezüglich der Entwicklung von der Religion hin zur Kunst – im Kapitel zum ästhetischen Gefühl näher dargestellt. Hier soll lediglich festgehalten werden, dass Cas­si­rers philosophisches System einen schrittweisen Stufenaufbau inkludiert. Obwohl Cas­ si­rer diesen geschichtsphilosophischen Entwicklungsgedanken in späteren Jahren kaum mehr thematisierte, gab er ihn nicht auf. Beispielsweise stellt er in einer in Yale gehaltenen Vorlesung (1941/1942) seinen philosophischen Versuch folgendermaßen dar: »We must try to follow up, step by step, the gradual evolution that leads from the first dawnings of symbolic thought to its achievement, to its most perfect and refined forms. By slowly and patiently pursing this way we may hope to Vgl. ECW 23, 244. Zu Hegelianischen Elementen bei Cas­si­rer vgl. Möckel (2004); Kreis (2010), 307 f. 105 Zur Rolle der Sprache in der Geschichte und in der Religion vgl. ECN 6b, 286 f.; ECN 7b, 89. Vgl. außerdem den folgenden Satz Cas­si­rers: »Man cannot breath outside this medium [of language, Y. H.]; for it is like a spiritual atmosphere which pervades his thought and his feelings, his perceptions and his concepts« (ECN 7e, 141. Vgl. ECW 16f, 234; ECN 6b, 305). Zweifelsohne ist diese Aussage Wilhelm von Humboldt, welcher für Cas­si­rer der vorbildhafteste Sprachphilosoph ist, entlehnt. In anderen Schriften zitiert Cas­si­rer den folgenden Satz Humboldts: »Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschliesslich so, wie die Sprache sie ihm zuführt« (Humboldt (1963), 434. Cas­si­rers Zitat findet sich in: ECW 16c, 125; ECW 16f, 234). Zur Ubiquität der Sprache im System Cas­si­rers vgl. zudem Göller (1988), 147. Zu Cas­si­rers Unsicherheit in der Verortung der Grundschicht der Kultur im Mythos oder in der Sprache vgl. Recki (1999), 145 f.; Recki (2004b), 126 f.; Recki (2013), 29 f. 104

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Grundzüge der Philosophie der symbolischen Formen

reach our aim: to come to a philosophical concept of man that comprises the whole of his fundamental faculties and his most characteristic activities.«106

Auch in den Spätwerken treten zumindest folgende Ansichten klar hervor: Mythos sei die ursprüngliche, niedrigste Stufe der symbolischen Formen. Aus dem Mythos entwickle sich die Religion;107 und die Wissenschaft bilde die höchste Stufe der symbolischen Aktivitäten.108 Dabei ist nicht zu vergessen, dass solch eine geistesgeschichtliche Stufenfolge, m. a. W. »eine Art ›ideelle Geschichte‹«109 allein aus der Perspektive des Abstraktionsgrads des Bewusstseins angeordnet wird. Das heißt, jene geistesgeschichtliche Stufenfolge ist, sehr verkürzt ausgedrückt, als der Übergang vom SinnlichAffektiven zum Abstrakt-Theoretischen gedacht.110 Diese Perspektive macht für Cas­si­rer keineswegs den einzigen Maßstab der Bewusstseins- bzw. Lebensqualität an sich aus. Zudem muss betont werden, dass Cas­si­rers Entwicklungsgedanken zufolge niedrigere Symboltätigkeiten nicht aufgegeben werden, selbst wenn das menschliche Bewusstsein auf die höchste Form der Symbolisierung, d. h. auf die exakte Naturwissenschaft gestoßen ist. Die Charakteristik des menschlich-symbolischen Wesens liegt für Cas­si­rer eben in der Wahlmöglichkeit zwischen den vorhandenen vielfältigen Perspektiven auf die Realität.111 4.  Begriffs- und Klassenbildung im philosophischen Denken Cas­si­rers Ein Grundzug, der bereits anhand der symbolischen Form und ihres historischen Stufenaufbaus erkannt wurde, betrifft die gesamte Begriffsbildung Cas­si­rers. Wie bisweilen anklang, zeichnet sich seine philosophische Terminologie weniger durch eindeutige definitorische Festlegungen aus, sondern weist oftmals eine heuristische, orientierende Funktion auf. Dies darf jedoch nicht als ein passiv gewonnenes Resultat gesehen werden, sondern zeigt gerade Cas­si­rers aktive Herangehensweise.112 Cas­si­rer selbst äußert zum ter ECN 6b, 251. Vgl. ECW 23, 80 f.; ECN 6c, 431. 108 Vgl. ECW 23, 223. 109 Krois (1988), 20. Vgl. Fetz (1988), 182 f. 110 Dieser Übergang kann – mit Cas­si­rers Terminologien – auch als der von der Ausdrucksfunktion über die Darstellungsfunktion zur Bedeutungsfunktion bezeichnet werden. Hierzu vgl. unten II 1.3. 111 Vgl. ECW23, 184. 112 Ernst Wolfgang Orth erklärt solche definitorisch offenen Termini, wie sie sich bei Cas­si­rer oftmals finden, mit einem Wort Eugen Finks als operative Begriffe, unter denen Folgendes zu verstehen ist: »Man darf sie [operative Begriffe, Y. H.] einerseits nicht beim 106 107



Begriffs- und Klassenbildung im philosophischen Denken Cas­si­rers 43

minologischen Problem bei Des­cartes z. B., dass der reife Des­cartes die Termini »Tier- und Pflanzenseele« verwendet, obwohl er die Existenz der Seele bei Tieren und Pflanzen leugnet: »[…] auch die größten und konsequentesten Denker [pflegen, Y. H.] in ihrer Terminologie keineswegs allzu streng und ängstlich zu sein […]. Nicht nur Des­cartes, sondern auch Leibniz und Kant haben sich in dieser Hinsicht oft sehr weitgehende Freiheiten erlaubt, und sie haben es nicht verschmäht, sich dem herrschenden Sprachgebrauch anzupassen.«113 In diesem Sinne gehört auch Cas­si­rer zu jenen »großen und konsequenten« Denkern. Seine methodologische Absicht mit solchen offenen Termini offenbart sich anhand von Begriffspaaren bzw. Begriffskreisen wie Materie-Form, SubjektObjekt, Besonderes-Allgemeines, Kausalproblem-Formproblem, den drei symbolischen Funktionen – Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion – usw. Sie sind, um hier eine Reflexion aus Cas­si­rers Kantinterpretation auf seinen eigenen Begriffsgebrauch zu übertragen, »nicht […] zwei Pole des Seins, die in einer unaufhebbaren Realopposition einander gegenüberstehen, sondern sie sind die Glieder einer methodischen Opposition, die zugleich methodische Korrelation ist.«114 Cas­si­rer betont diese methodische Bedeutung des terminologischen Gegensatzes seit dem frühen Text Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) immer wieder.115 Dessen Unentbehrlichkeit tritt besonders in den drei Aufsätzen hervor, die Cas­si­rer in den dreißiger Jahren – im Exil in Schweden – mit der Absicht der Widerlegung der Uppsala-Schule verfasst hat; d. h. gegen jene schwedische Philosophieschule, die ähnlich dem Wiener Kreis, allein das rein Formal-Logische bei der Grundlegung der Wahrheit anerkannte.116 Konrad Marc-Wogau, einer der Vertreter der Uppsala-Schule, sehe, so Cas­si­rer, den ausschlaggebenden Fehler aller traditionellen Begriffslehren – einschließlich Cas­si­rers – darin, dass sie von einer Beziehung zwischen Begriffsinhalt (d. h. allgemeiner Begriffsbedeutung) und Begriffsumfang (d. h. unter jene Begriffsbedeutung Wort nehmen, obwohl man ohne sie gar nicht in die Verständigung eintreten kann; andererseits eröffnen sie die Bahn für die interpretierende oder auch bloß assoziierende Phantasie« (Orth (2004c), 104). Lehrreich ist zudem seine weiterführende Bemerkung, »daß thematische Begriffsbildung ein Ideal ist und daß demzufolge vielen, vielleicht den meisten thematischen Begriffen operative Momente eigen sind« (Ebd., 105). 113 ECW 22b, 83. 114 ECW 13, 11. Im Kantischen Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand, von Materie und Form erblickt Cas­si­rer zwar das Problematische, weil es sich bei Kant bisweilen anhöre, als ob jene zwei Sphären substantiell voneinander unabhängig wären (vgl. ECW 13, 220 f.). Nichtsdestoweniger betont Cas­si­rer, dass der Kantische Wesenszug eine solche substantielle Trennung zwischen Materie und Form nicht kennt (vgl. ECW 3, 603 f.). 115 Vgl. ECW 6, 292 f. 116 Vgl. ECW 22e, 167 f. u. 189 f.

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Grundzüge der Philosophie der symbolischen Formen

fallende Einzelnen) – zwischen Intension und Extension – ausgehen. Er sei der Ansicht, dass diese Doppelung der Begriffsfunktion nichts anderes als die begriffliche Verworrenheit zum Ausdruck bringe und dass die sichere Begriffslehre sich allein mit dem Begriffsinhalt befassen müsse, indem sie ihn von der schädigenden Beziehung zum Begriffsumfang befreit. Aber für Cas­si­rer bedeutet eben diese Befreiung der allgemeinen Begriffsbedeutung nichts anderes als einen reinen Irrtum, weil der Begriff damit leer oder tot wäre. Der Begriff, der sich auf nichts anwenden lässt, hätte keine Bedeutung, keinen Inhalt. Das Wesen des »Begriffs« bestehe eben in der unzertrennbaren Beziehung zwischen Inhalt und Umfang, in der nicht substantiellen, sondern methodischen Zweiheit von Allgemeinem und Besonderem.117 Die Korrelationen wie Materie-Form, Präsentes-Repräsentiertes, Subjekt-Objekt usw. sind, in einer anderen Formulierung Cas­si­rers, eine methodische »ideelle Scheidung, eine ›distinctio rationis‹«.118 Dies ist ein Grundzug des Philosophierens Cas­si­rers, unabhängig davon, inwiefern sich die anderen Begriffslehren, die Marc-Wogau kritisiert, dieser methodischen Idealität der Begriffsunterscheidung klar bewusst sind, inwiefern diese Idealität für sie unentbehrlich und entscheidend ist. Cas­si­rer geht davon aus und sein Hauptgedanke liegt darin, dass das menschliche Bewusstsein eine symbolische Weltstruktur schafft, dass es in jeder symbolischen Form je eine besondere Korrelationsart zwischen Subjekt und Objekt, Materie und Form, Ich und Wirklichkeit (Welt) usw. gibt. Deshalb ist die methodische Offenheit dieser Begriffe ein Muss für die Philosophie der symbolischen Formen. Zum Verhältnis von solchen Begriffspaaren vermerkt Cas­si­rer, die wesentliche Leistung der einzelnen symbolischen Formen bestehe darin, »daß in ihnen und durch ihre Vermittlung die beiden Momente des ›Innen‹ und ›Außen‹, des ›Ich‹ und der ›Wirklichkeit‹ erst ihre Bestimmung und ihre gegenseitige Abgrenzung erhalten.« Weiter paraphrasiert Cas­si­rer diesen Zusammenhang: »[…] die entscheidende Leistung jeder symbolischen Form [liegt, Y. H.] eben darin, daß sie die Grenze zwischen Ich und Wirklichkeit nicht als ein für allemal feststehende im voraus hat, sondern daß sie diese Grenze selbst erst setzt – und daß jede Grundform sie verschieden setzt.«119 Vgl. ECW 22a, 3 f. Näheres zu Cas­si­rers Auseinandersetzung mit Marc-Wogau vgl. Hansson/Nordin (2006), 121 f. 118 ECW 22c, 120. In einem anderen Text stellt Cas­si­rer jene ›distinctio rationis‹ als »analytische Scheidung« dar (ECW 13, 227). Zur methodischen Scheidung zwischen Präsentem und Repräsentiertem vgl. ECW 22c, 119 f. Zu der zwischen Subjekt und Objekt vgl. ECW 6, 292 f.; ECW 22e, 171 f. 119 ECW 12, 182. Vgl. ebd., 36 f. u. 241; ECW 10, 113 f.; ECW 13, 44; LKW, 408 u. 117



Begriffs- und Klassenbildung im philosophischen Denken Cas­si­rers 45

Die offene, ideelle Grenzsetzung der Terminologie, die mit dem Grund­ begriff der symbolischen Form zusammenhängt, erfährt eine gänzlich posi­ tive Deutung, sofern wir auf Cas­si­rers pluralistische Weltsicht vertrauen. Aber dies besagt selbstverständlich nicht zugleich, dass die methodische Zulassung der Offenheit in den Begriffsbedeutungen unproblematisch wäre. Denn wenn die gleichen Termini je nach der symbolischen Form etwas anders bedeuten, dann scheint der Autor dafür verantwortlich, ihre Bedeutungsunterschiede sorgfältig zu erklären. Den Versuch, diesem Anspruch gerecht zu werden, unterlässt Cas­si­rer zwar nicht gänzlich, doch hinsichtlich einiger wichtiger Begriffe versäumt er ihn. Deshalb muss der Leser der Philosophie Cas­si­rers – also auch der Leser der vorliegenden Arbeit – um so mehr im Gedächtnis behalten, dass Cas­si­rer keineswegs an einer unverrückbaren, definitorischen, sondern an einer ideellen, methodischen Begriffsund Klassenbildung gelegen ist.

466; ECN 8b, 159.

II.  Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)

1. Vorbemerkungen zum Gefühlsbegriff Cas­si­rers 1.1 Kleine Vorbemerkungen In diesem Kapitel werden die Bedeutung und die Stellung der Problematik des Gefühls im systematischen Aufbau der Philosophie der symbolischen Formen thematisiert. Dabei ist daran zu erinnern, dass Cas­si­rer mit seiner Verwendung des Begriffs »Gefühl« oft nicht auf ein fest definiertes philosophisches Konzept referiert: Um die philosophisch-systematische Grundbedeutung des Gefühlsphänomens herauszuschälen, gilt es, sich zuallererst dem Begriff des Aus­drucks­phäno­mens (bzw. der Ausdrucksfunktion, der Ausdruckswahrnehmung,1 des Ausdruckserlebnisses) zuzuwenden. Hierbei könnte sich die Frage aufdrängen, ob die Beschreibung des »Aus­ drucks­phäno­mens« als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen) in Cas­si­rers Terminologie zulässig ist. Sie wird jedoch dadurch gerechtfertigt, Das Aus­drucks­phäno­men (die Ausdruckswahrnehmung) bedeutet bei Cas­si­rer zugleich die Wahrnehmung des »Fremdpsychischen«. Deshalb stellt er jenes Phänomen an manchen Stellen als Du-Wahrnehmung im Gegensatz zur nicht gefühlsbezogenen EsWahrnehmung dar (vgl. ECW 13, 68 f. 79. 89. 137 u. 323; ECN 4e, 184). Sofern Cas­ si­rer mit der Erfahrung des Fremdpsychischen oder der Du-Wahrnehmung ein spezifisch emotionserregendes Phänomen meint, ist die Gleichsetzung des Aus­drucks­phäno­mens mit dem Phänomen des Fremdpsychischen nicht problematisch. Doch indem Cas­si­rer in LKW unter dem Fremdpsychischen alles Innerliche eines anderen Individuums, d. h. nicht allein das Gefühl, sondern auch das Denken und den Willen eines anderen versteht, ist dort mit der Ausdruckswahrnehmung bisweilen auch die Wahrnehmung alles Innerlichen eines anderen Individuums gemeint. In diesem Fall ist z. B. auch die Wahrnehmung dessen, was eine andere Person theoretisch und begrifflich denkt, als Ausdruckswahrnehmung zu deuten (LKW, 406 f.). Diese Verwirrung scheint einerseits aus Cas­si­rers Auseinandersetzung mit dem Wiener Kreis zu resultieren, in welcher er die von diesem Kreis problematisierte Bedeutung alles Fremdpsychischen unter dem einen Begriff der Ausdruckswahrnehmung pauschal behandelt. Sie scheint andererseits daher zu rühren, dass Cas­si­rer, um die Besonderheit der Kulturwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften hervorzuheben, alles Innere der Schaffenden der Kulturwerke in die eine Terminologie der Ausdruckswahrnehmung einordnet. Aber was auch immer die Gründe für diese Erweiterung der Bedeutung der Ausdruckswahrnehmung sein mögen, wollen wir in der vorliegenden Arbeit eine solche erweiterte Bedeutung nicht aufnehmen. Denn wir gehen davon aus, dass das rationale, begriffliche Denken nicht zur Ausdruckssphäre im Sinne der Sphäre des Gefühls, sondern zur begrifflichen Darstellungssphäre gehört. 1

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Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)

dass Cas­si­rer das Aus­drucks­phäno­men nicht anders denn als gefühlsmäßiges, emotionales oder affektives Phänomen bezeichnet. Dass er zudem in der PsF III die Unmittelbarkeit des Ausdruckphänomens, welche im Nachhinein erklärt werden wird, als »die Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit des ›Gefühls‹«2 beschreibt, kann als weiterer Rechtfertigungsgrund für die Beschreibung des Aus­drucks­phäno­mens als Gefühlsphänomen gelten. (Dem ist freilich nicht zu entnehmen, dass Cas­si­rer dem Gefühlsbegriff immer die systematische Bedeutung des Aus­drucks­phäno­mens zuschreiben würde. Gemeint und wichtig dabei ist nur, dass diese Beschreibung seiner Ansicht keineswegs widerspricht.) In diesem Zusammenhang bedarf es noch terminologischer Erklärungen in zweierlei Hinsicht. Zum einen gilt es, einen kurzen Blick auf das Begriffsfeld Gefühl, Affekt, Emotion (in Englisch: feeling, affection und emotion) zu werfen, zum anderen, den Begriff des Ausdrucks in Betracht zu ziehen. In Hinsicht auf die ersteren Begriffe ist anzumerken, dass Cas­si­rer keine erkennbare Unterscheidung trifft.3 Daher wird auch in der vorliegenden Arbeit zwischen diesen drei Begriffen nicht definitorisch unterschieden. Jedoch wird der Emotionsbegriff – unabhängig von Cas­si­rers Wortverwendung – nicht konsequent, aber der Tendenz nach zur Bezeichnung einzelner Gefühlsarten, wie etwa Freude, Angst, Scheu usw., verwendet werden. Hinsichtlich des Begriffs des Ausdrucks ist darauf zu achten, dass Cas­si­ rer ihn nicht immer für das Gefühlsphänomen, für das Aus­drucks­phäno­ men reserviert. Wenn er der tierischen Ausdrucksweise die menschliche entgegensetzt und wenn er in diesem Zusammenhang vom menschlichen Ausdruck (expression) spricht, meint er nicht nur den gefühlsbezogenen Ausdruck, sondern die allgemeine menschliche Fähigkeit dazu, etwas symbolisch auszudrücken. 4 Also müssen wir uns davor hüten, Cas­si­rers Rede vom Ausdruck in jedem Fall auf das Gefühlsphänomen, d. h. auf das Aus­ drucks­phäno­men, zu beziehen. Hingegen scheint der Unterschied zwischen Begriffen wie »Aus­drucks­phäno­men«, »Ausdruckswahrnehmung« und »Ausdruckserlebnis« nicht erkennbar zu sein. So verwenden wir sie im Folgenden wesentlich synonym. Auch in Bezug auf das Verhältnis von Aus­ ECW 13, 93. Vgl. ECN 2, 93 f.; ECN 4e, 151 f.; ECN 5c, 145 f. Beispielsweise beschreibt Cas­si­rer die Ausdruckssphäre auch als »Sphäre des Affekts« (ECN 2, 93) oder »Sphaere des Emotionalen« (ECN 1a, 74). Darüber hinaus kann man z. B. im folgenden Satz gut sehen, dass Cas­si­rer solche Begriffe nicht klar distinguiert. »For side by side with conceptual language there is an emotional language; side by side with logical or scientific language there is a language of poetic imagination. Primarily language does not express thoughts or ideas, but feelings and affections.« (ECW 23, 30 [Hervorh. Y. H.]). 4 Vgl. ECW 23, 87 u. 126; LKW, 408 u. 476; ECW 25, 44 f.; ECN 4g, 278; ECN 7f, 165. 2 3



Vorbemerkungen zum Gefühlsbegriff Cas­si­rers 49

drucks­phäno­men (Ausdruckswahrnehmung, Ausdruckserlebnis) und Ausdrucksfunktion gibt Cas­si­rer keine Erklärung. Dennoch scheint in diesem Fall eine inhaltliche Unterscheidung nicht nur möglich, sondern auch gewissermaßen von Bedeutung zu sein. Es wird demzufolge auf jene mögliche Unterscheidung später hingewiesen werden. 1.2 Cas­si­rers Diskussion der Problematik des Gefühls in der ­k lassischen Ästhetik Bevor wir uns der Bedeutung des Aus­drucks­phäno­mens als Gefühlsphänomen in der PsF zuwenden, gilt es Cas­si­rers Verständnis der Problematik des Gefühls in der Philosophiegeschichte, in der klassischen deutschen Ästhetik, zu beleuchten. Für Cas­si­rer bildet die europäische Geistesgeschichte der Ästhetik ein eng verschlungenes Gewebe. Wie hinsichtlich vieler anderer Problemkreise seien hier deutsche, englische und französische Kultur zu einem kaum unterteilbaren Ganzen zusammengeflossen. Einen spezifischen Beitrag des deutschen Denkens findet er jedoch darin, der ästhetischen Problematik eine systematische Stellung zugewiesen zu haben. Cas­si­rer stellt diesen Sachverhalt folgendermaßen dar: »Es gibt kaum einen Begriff und kaum irgendein Theorem, zu dem sich nicht ein Analogon oder eine Parallele in der französischen oder und englischen Literatur aufweisen ließe. Und doch werden all die Anregungen, die von hier ständig einströmen, in einem neuen Sinne ver wendet und auf ein neues Ziel hingelenkt. Zum erstenmal stellt sich jetzt die gesamte Problematik des Ästhetischen unter die Leitung und gewissermaßen unter die Obhut der systematischen Phi losophie.«5

Sowohl den systematischen Geist der deutschen Philosophie betreffend als auch hinsichtlich der im Gebiet der Ästhetik liegenden Fundamente der Problematik des Gefühls exponiert Cas­si­rer die Rolle von Leibniz als unübersehbar. In seinem frühesten Buch Leibniz’ System schreibt er über das Problem des Gefühls bei Leibniz. Dieser gewinne die Einsicht der ästhetisch reinen Kontemplation, so Cas­si­rer, »in einer psychologischen Unterscheidung der Grade von Lust und Unlust: Dieses Gegensatzpaar aber bezeichnet seit alters her ein eigenes Gebiet des Bewußtseins, das dem Verstande wie dem Willen gegenübergestellt wird. 5

ECW 15, 346.

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Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)

In den psychologischen Theorien der deutschen Aufklärung erhält dieses Gebiet die Bedeutung des ›Gefühls‹ im auszeichnenden und prägnanten Sinne. Leibniz ist der Urheber dieser Bedeutung, indem er die ästhetische Stimmung zunächst vom Logischen abtrennte und sie in das Gebiet der ›dunklen‹ Seelenkräfte verwies […].«6

Bei Leibniz werde so die Kunst »zur reinen Symbolik des Gefühls«.7 Leibniz, der Urheber der Bedeutung des Gefühls, habe jenes im Gebiet der Ästhetik, im Gebiet der Kunst verankert. Dieses von Leibniz begründete Gebiet ist, so Cas­si­rer, in der Folge insbesondere durch die Schweitzer (Johann Jakob Breitinger, Johann Jakob Bodmer), Christian Wolf, Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier vertiefend bearbeitet worden, wobei Begriffe wie Genie, Einbildungskraft, Dichtkraft eine zentrale Bedeutung gewannen. 8 Einen dieser Begriffe, »Dichtkraft«, findet Cas­si­rer bei Johannes Nikolaus Tetens zu Ende gedacht. Er schreibt hierzu: »Zu seiner Vollendung und Reife ist dieser Begriff der Dichtkraft bei dem bedeutendsten Psychologen der Zeit, bei Tetens, gelangt, in dessen System er eine zentrale und beherrschende Stellung gewinnt.«9 Die philosophische Dreiteilung in Logik, Physik und Ethik, welche Kant zu seinen Zeiten noch »als gültig anerkannt« habe, sei bereits in der Antike, bei den Stoikern, vollzogen worden.10 Doch die moderne psychologische Dreiteilung in Denken, Fühlen und Wollen sei erst bei Tetens entstanden. »Seit Tetens hat das Gefühl«, so Cas­si­rer, »in der empirischen Psychologie seinen festen und bestimmten Platz. Es gilt als ein eigenes selbständiges ›Seelenvermögen‹, das neben Denken und Wollen steht.«11 Gemäß einer solchen Lehre Tetens’ bzw. allgemeiner: gemäß der Grund­ linie der deutschen Aufklärungsphilosophie12 finde das Gefühl, das Fühlen, auch bei Kant im selbständigen Gebiet der Ästhetik seinen Ort. Hier lohnt es sich, statt der weiteren Entwicklung der deutschen Ästhetik zu folgen, bei der Kantischen Ästhetik haltzumachen. Denn Cas­si­rer zufolge exponiert Kant mit seiner systematischen Ästhetik den »geistigen Zielpunkt« der bisher dargestellten Entwicklung, welche aus dieser Perspektive nunmehr als Vorgeschichte der Vollendung der klassischen Ästhetik erscheint.13 Die ECW 1, 414. Ebd., 419.   8 Vgl. ECW 3, 474 f.; ECW 7, 69 f.; ECW 15, 346 f.   9 ECW 3, 476. 10 Vgl. ECW 22d, 140. ECN 5a, 3, Anm. 1 u. 2; ECN 6a, 3. Zitat aus ECW 22d, 140. 11 ECW 21b, 162. Vgl. ECN 1b, 143. 12 Vgl. ECW 15, 131 f. 13 Vgl. ECW 15, 290 f. Zitat aus ebd., 291. Im Kapitel zum Ästhetischen (Kap. IV) werden wir versuchen, weniger von der Kantischen als vielmehr von der Schillerschen Ästhetik   6   7



Vorbemerkungen zum Gefühlsbegriff Cas­si­rers 51

in diesem Zusammenhang einschlägige Passage Kants, welche Cas­si­rer in KLL (abkürzend) zitiert, lautet: »Ein regelmäßiges, zweckmäßiges Gebäude mit seinem Erkenntnisvermögen (es sei in deutlicher oder verworrener Vorstellungsart) zu befassen, ist ganz etwas anders, als sich dieser Vorstellung mit der Empfindung des Wohlgefallens bewußt zu sein. Hier wird die Vorstellung gänzlich auf das Subjekt, und zwar auf das Lebensgefühl desselben unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust bezogen: welches ein ganz besonderes Unterscheidungs- und Beurteilungsvermögen gründet, das zum Erkenntnis nichts beiträgt, sondern nur die gegebene Vorstellung im Subjekte gegen das ganze Vermögen der Vorstellungen hält, dessen sich das Gemüt im Gefühl seines Zustands bewußt wird.«14

Diese Passage ist von Bedeutung, weil Cas­si­rer damit die Unentbehrlichkeit und die Wichtigkeit des subjektiven (Lebens-)Gefühls in der Kunst betont:15 Cas­si­rer stellt dar, dass das Gefühl in der deutschen klassischen – d. h. der Kantischen – Philosophie zunächst hauptsächlich auf dem Boden der Ästhetik thematisiert wurde – in jenem Gebiet also, welchem sowohl die Gefühle der Lust und Unlust als auch die künstlerische Schönheit zugehören. (Damit ist freilich nicht gemeint, dass Kant die Frage nach dem Gefühl auf jenen Kontext beschränkt hätte.) Cas­si­rer ist kein bloßer Interpret, sondern ein Erneuer der Kantischen Philosophie. So untersucht Cas­si­rers Ästhetik im Unterschied zu derjenigen Kants nicht das Problem des Gefühls der Lust und Unlust bzw. des Wohlgefallens und des Missfallens als solches, sondern allein jenes der künstlerischen Erfahrung. Im Zusammenhang damit ergibt sich ein Unterschied der philosophischen Stellung des Gefühls bei Kant einerseits und bei Cas­si­rer andererseits. Die systematische Behandlung des Gefühls der Lust und Unlust, d. h. der gefühlsmäßigen Zu- und Abneigung, ist für Cas­si­rer nicht Teil der Ästhetik, sondern einem größeren Zusammenhang zuzuordnen. Das Thema rührt ihm zufolge an der Urschicht der Kultur. Für die Untersuchung jener Stellung der Problematik des Gefühls im Aufbau der Philosophie Cas­si­rers wird sich die folgende Vorbemerkung als lohnend erweisen, welche zur Erklärung der »symbolischen Funktionen« dienen soll. ausgehend, derjenigen Cas­si­rers näherzukommen. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass dies die Wichtigkeit der Kantischen Ästhetik für Cas­si­rer nicht schmälern kann und soll, denn, wie dort festgehalten wird, erachtet Cas­si­rer Schiller, wie auch jener sich selbst, als den wahrhaften Interpreten der Kantischen Ästhetik (vgl. unten IV. 2.3). 14 KU, 204. Zu Cas­si­rers abgekürztem Zitat vgl. ECW 8, 304 f. 15 Birgit Recki schreibt, Cas­si­rer gehöre »zu den wenigen Kantinterpreten«, die den »Zusammenhang der Kunst mit dem Leben von Anfang an betonen« (Recki (2002), 214).

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Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)

1.3 Symbolische Funktionen Um die Besonderheit einer Wissensform festzuhalten, gilt es – so Cas­si­rer im Vorwort der PsF III – einen Blick auf die Systematik zu werfen, welcher diese Wissensform zuzuordnen ist.16 Das Aus­drucks­phäno­men bzw. die Ausdrucksfunktion als basale Wissensform gehört zur Systematik der »symbolischen Funktionen«, welche Cas­si­rer in den um 1930 erarbeiteten Schriften (u. a. in der PsF III ) behandelt. Neben seinem Aufbau der symbolischen Formen (Mythos, Religion, Kunst, Naturwissenschaft usw.) konzipierte Cas­si­rer – von Karl Bühlers Begriff der »Darstellungsfunktion« inspiriert17 – um die dreißiger Jahre ein weiteres Bezugssystem. Er differenziert hier »drei verschiedene Dimensionen der symbolischen Formung«,18 d. h. drei symbolische Funktionen: die Ausdrucks-, die Darstellungs- und die Bedeutungsfunktion. Es sind, so Cas­si­rer, diese triadischen Funktionen, »[…] kraft deren uns die Anschauung einer gegliederten Wirklichkeit erst möglich wird.«19 Zuallererst ist zu betonen, dass auch die Begriffstrias der symbolischen Funktionen – dem Grundcharakter der Cas­si­rerschen Begriffsbildung folgend – nichts anderes als »eine Art ideellen Bezugssystems«20 oder »einen allgemeinen Plan der ideellen Orientierung«21 bedeutet. Dies impliziert, dass keine symbolische Funktion eins zu eins einer symbolischen Form entspricht. Mit Ausnahme der Bedeutungsfunktion, welche ausschließlich der exakten Wissenschaft vorbehalten ist, ist eine symbolische Funktion in der Regel nicht unbedingt auf eine einzige symbolische Form beschränkt. Die Bedeutung des neuen Bezugssystems liegt nun in der Beleuchtung der geistigen Weltstrukturierung unter einer die Systematik der symbolischen Formen ergänzenden Perspektive.22 Vgl. ECW13, VIIIf. Vgl. ECW 13, 122, Anm. 6. Christian Bermes lenkt die Aufmerksamkeit zu Recht darauf, dass sich Cas­si­rers Begriff der Darstellungsfunktion nicht gänzlich mit demjenigen Bühlers deckt. In dessen Aufsatz »Über den Begriff der sprachlichen Darstellung«, auf den Cas­si­rer verweist, entspricht teilweise die Darstellungsfunktion der Cas­si­rerschen Bedeutungsfunktion (vgl. Bermes (1997), 159. Anm. 87). Die »drei Dimensionen des Sprachsinnes« werden in jenem Aufsatz Bühlers als »Auslösung, Kundgabe und Darstellung« beschrieben. Als Auslösung richtet Sprache sich auf den Hörer, als Kundgabe bezieht sie sich auf das Gefühl und die Stellungnahme des Sprechers und als Darstellung weist sie auf Gegenstände oder Sachverhalte hin. Dieser Darstellungsfunktion ordnet Bühler Symbole und »Ordnungszeichen« zu, welche bei Cas­si­rer eher der Bedeutungsfunktion angehören (vgl. Bühler (1923), 283 u. 292). 18 ECW 17g, 260. 19 ECW 13, 114. 20 ECN 1a, 6 (Hervorh. Y. H.). 21 ECW 17g, 262 (Hervorh. Y. H.). 22 Es ist für jede symbolische Form, so Cas­si­rer, »bezeichnend, daß sie in verschiedenen 16 17



Vorbemerkungen zum Gefühlsbegriff Cas­si­rers 53

Dennoch ändert dies nichts daran, dass Cas­si­rer jede symbolische Funktion paradigmatisch an eine bestimmte symbolische Form – die Ausdrucksfunktion an den Mythos, die Darstellungsfunktion an die Sprache und die Bedeutungsfunktion an die (exakte) Wissenschaft – bindet. Folglich können wir davon ausgehen, dass es eine wenngleich nicht genaue, so doch eine gewisse Parallelität zwischen der Entwicklung der symbolischen Formen einerseits und jener der symbolischen Funktionen andererseits gibt. Die Ausdrucksfunktion ist, ähnlich dem Staus des Mythos, die geschichtlich früheste Schicht der symbolischen Funktionen. »Das ›Verstehen von Ausdruck‹ ist«, so Cas­si­rer, »wesentlich früher als das ›Wissen von Dingen‹.«23 Noch deutlicher notiert Cas­si­rer in einem nachgelassenen Manuskript: »Sie [die Ausdrucksfunktion, Y. H.] ist genetisch früher als die Funktion der Wahrnehmung«, 24 d. h. die Darstellungs- bzw. Bedeutungsfunktion. Präziser formuliert, geht die Ausdrucksfunktion nicht allein geschichtlich, sondern auch entwicklungspsychologisch der Darstellungsfunktion voraus: Erstere sei bereits beim Kind zu beobachten, letztere hingegen breche sich »[e]rst allmählich« »im Laufe der Sprachentwicklung« Bahn.25 Die Bedeutungsfunktion ist als die weitere Entwicklung der Darstellungsfunktion zu verstehen, wenngleich Cas­si­rer in diesem Zusammenhang die Entwicklungspsychologie nicht in Erwägung zieht. Für das Verständnis der symbolischen Funktionen im Allgemeinen täten wir besser daran, sie in der hiermit etablierten Folge, also von der früheren Funktion ausgehend und bei der späteren endend zu beschreiben. Doch mit Blick auf unser Anliegen, d. h. auf die Herausstellung der Ausdrucksfunktion beginnen wir mit der Darstellungsfunktion. Zur wesentlichen Charakterisierung der Darstellungsfunktion reicht es hier aus, unabhängig von Cas­si­rers umfassenderer Verwendung des Begriffs auf die sprachliche Darstellungsfunktion einzugehen. Denn Cas­si­rer geht davon aus, dass die Darstellungsfunktion »erst von der Sprache aus ganz verstanden und gewürdigt werden kann.«26 Dabei darf freilich wiederum nicht vergessen werden, dass Cas­si­rer zufolge nicht »a l le Weisen der sprachlichen Äußerung in gleicher Weise« 27 dem Anspruch der Darstellungsfunktion genügen, dass es sich hier vielmehr um eine Art der sprachlichen Äußerung, Phasen ihrer Entwicklung, in den verschiedenen Stadien ihres geistigen Aufbaues, sich zu den drei Grundpolen [drei symbolischen Funktionen, Y. H.], die wir hier auszuzeichnen versuchten, verschieden verhält« (ECW 17g, 262). 23 ECW 13, 69. 24 ECN 4e, 190 (Hervorh. Y. H.). Vgl. ECW 23, 85; ECN 5b, 81. 25 ECW 13, 122. 26 ECW 13, 121. Vgl. ebd., 335. 27 Ebd., 121.

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Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)

um die »der Sprache innewohnende Kraft zur Vergegenständlichung, zur ›objektiven‹ Bestimmung und Abhebung« handelt.28 Die Darstellungsfunktion der Sprache verweist – unabhängig von der Erregung des sinnlichen, subjektiven Gefühls – auf begriffliche, propositionale bzw. konzeptuelle Bedeutungen.29 Wenn wir im Folgenden von der Darstellungsfunktion sprechen, so ausschließlich in diesem sprachlich begrifflichen Sinne: Mit dieser Darstellungsfunktion ist die Kraft, in einem konkreten Laut bzw. Zeichen eine Bedeutung durch Sprache begrifflich zu repräsentieren, gemeint. Die Bedeutungsfunktion, welche paradigmatisch in der reinen Mathematik, Geometrie und Physik zum Tragen kommt, kann als weitere Entwicklung oder Verfeinerung der Darstellungsfunktion verstanden werden. Sie ist von einer größeren Freiheit geprägt als die Darstellungsfunktion, sofern sie Cas­si­rer zufolge nicht allein das Ausdrucksmäßige, d. h. das Gefühlsmäßige, aus der Zeichenbedeutung gänzlich ausschließt, sondern mit der Notwendigkeit jeglichen Verweises auf das Sinnliche überhaupt bricht.30 Im rein mathematischen System konstituiert sich z. B. die Bedeutung der Zahlen 1,2,3 usw. nicht etwa in Hinblick auf die Anzahl konkreter Gegenstände, sondern eben allein im Rahmen jenes Systems. Noch deutlicher tritt der gemeinte Sachverhalt anhand Cas­si­rers Beispiel der imaginären Elemente in der mathematischen und geometrischen Ordnung zutage. Jene Elemente – wie die imaginäre Zahl in der Mathematik und der imaginäre Punkt in der Geometrie – seien »der unmittelbaren Anschauung unzugänglich«,31 aber sie hätten Bestand, sofern sie »eine logisch unentbehrliche Funktion«32 im System der mathematischen oder geometrischen Sätze erfüllten. Folglich ist die Bedeutungsfunktion »von der Sphäre der Darstellung dadurch getrennt, daß sie sich von dem Grunde der anschaulichen Gestaltung, in welchem die Darstellung wurzelt und aus dem sie fort und fort ihre beste Kraft zieht, gelöst hat – daß sie sozusagen im freien Äther des reinen Gedankens schwebt.«33 Sie ist die mathematische und rein logische Funktion »im Sinne einer bloß abstrakten Zuordnung«.34 Die reine Bedeutungsfunktion bzw. die sie gebrauchenden exakten Wissenschaften haben daher

Vgl. Cas­si­rer (1995), 134. Zu den verschiedenen Funktionen der Sprache vgl. unten S. 88 f. u. 189 f. 29 Vgl. ECW 23, 34 f. u. 124 f. 30 Vgl. ECW 6, 332 f.; ECW 10, 111 f.; ECW 13, 389 f.; ECW 17g, 261 f.; ECW 19, 249 f. 31 ECW 6, 88. 32 ECN 2, 64. 33 ECW 17g, 261. 34 Ebd. 28



Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Aus­drucks­phäno­men 55

Cas­si­rer zufolge mit dem Gefühlsmäßigen nichts zu tun.35 So brauchen wir hier auf jene Funktion nicht näher einzugehen.36 Wir wenden uns nun also der Ausdrucksfunktion zu, welche für unser Anliegen von zentraler Bedeutung ist und auch in Cas­si­rers Systematik einen exponierten Platz einnimmt: Seinem ideellen Aufbau der symbolischen Funktionen gemäß macht die Ausdruckfunktion die früheste und basale Stufe des menschlichen Bewusstseins bzw. die »›Grundschicht‹ des Kultursinns«37 aus. Die Ausdrucksfunktion erschafft die Weltordnung im Zusammenhang mit dem Gefühlsmäßigen, während die Darstellungsfunktion jene Ordnung im Zusammenhang mit dem Begrifflichen erschafft. Die Ausdrucksfunktion bzw. das Aus­drucks­phäno­men wird im Folgenden en détail herausgearbeitet werden. 2. Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Aus­drucks­phäno­men 2.1 Grundzüge der reinen Ausdrucksfunktion und des reinen ­Aus­drucks­phäno­mens 2.1.1 Eine kleine Vorbemerkung zur Unterscheidung zwischen Ausdrucksfunktion und Aus­drucks­phäno­men Wenn wir einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis der PsF III werfen, so bemerken wir, dass Cas­si­rer mit »Aus­drucks­phäno­men« und »Ausdrucksfunktion« je ein Kapitel (»Das Aus­drucks­phäno­men als Grundmoment des Wahrnehmungsbewußtseins« und »Die Ausdrucksfunktion und das Vgl. wie Anm. 16 in der Einleitung. Dabei erübrigt es sich nicht anzumerken, dass Cas­si­rer nichtsdestotrotz nicht behauptet, Mathematik, Geometrie und Physik hätten in ihren höchst entwickelten, höchst abstrakten Formen gar nichts mit der sinnlichen Welt zu tun. Obwohl er, wie er in einem Brief an Albert Einstein zugesteht, die reine Begrifflichkeit der Mathematik, der Geometrie und der Physik stark – und vielleicht etwas zu stark – betont, räumt er ein, dass das Sinnliche bzw. die sinnliche Anschauung – zumindest als Anlass, Gelegenheitsursache oder Ausgangspunkt für die Konstruktion jener Begrifflichkeit – unentbehrlich ist (vgl. Brief an Albert Einstein, 16. Juni 1920, in: ECN18, 47. Vgl. zudem ECW 6, 110 f.; ECN2, 76). Noch ein Aspekt ist hier zu beachten: Selbst wenn die (reine) Bedeutungsfunktion eines Zeichens nicht auf das konkret Sinnliche verweist, muss das Zeichen selbst – wenngleich nicht gefühlserregend – unausweichlich sinnlich und anschaulich sein. Die Bedeutungsfunktion schwebt im freien Äther – aber im freien Äther des Gedankens, der erst mit Hilfe von symbolischen Zeichen »als konkret-anschaulichen Gebilden« (ECW 13, 439) ermöglicht wird. 37 Möckel (2008), 182. 35

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Leib-Seelen-Problem«) tituliert. Bereits dies scheint eine terminologische Unterscheidung der beiden Begriffe durch Cas­si­rer nahezulegen. Allerdings werden die beiden Begriffe nicht in einer klaren Argumentation differenziert und erscheinen im Text durchwegs synonym. Dementsprechend verwenden auch wir die beiden Begriffe ohne eine scharfe terminologische Unterscheidung. An dieser Stelle soll jedoch, wie bereits angekündigt, auf eine mögliche Unterscheidung hingewiesen werden: Ohne auf eine weitergehende konzeptuelle Differenz zu zielen, ist in tautologischer Weise festzuhalten, dass einerseits das Aus­drucks­phäno­men das gefühlsmäßige bzw. emotionale Phänomen und andererseits die Ausdrucksfunktion eine in diesem Phänomen wirkende Funktion bezeichnen könnte. Das Aus­drucks­ phäno­men wird, so kann man interpretieren, erst durch das Vermögen der Ausdrucksfunktion möglich.38 Auf diese Weise werden beide Begriffe als zwei Seiten des gleichen Geschehnisses in der vorliegenden Arbeit unterschieden. Selbstverständlich handelt es sich dabei – Cas­si­rers charakteristischer Begriffsbildung gemäß – allein um eine ideelle Scheidung. 2.1.2 Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit der reinen Ausdrucksfunktion und des reinen Aus­drucks­phäno­mens Wir werden im nächsten Abschnitt – zwar unabhängig von Cas­si­rers eigener Definition, doch nicht ohne Grund – dem adjektivischen Gebrauch des Begriffs »rein« mit Bezug auf die Ausdrucksfunktion und auf das Aus­ drucks­phäno­men eine bestimmte Bedeutung beilegen. Deshalb soll an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht werden, dass es auch in diesem Abschnitt um das Aus­drucks­phäno­men bzw. um die Ausdrucksfunktion in seiner bzw. ihrer Reinheit geht. Ohne diesen Sachverhalt aus den Augen zu verlieren, widmen wir uns im Folgenden der Charakteristik des reinen Aus­ drucks­phäno­mens bzw. der reinen Ausdrucksfunktion. Im Gegensatz zur Darstellungs- bzw. Bedeutungsfunktion als Wahrnehmungsfunktion, die auf das »Was« des Gegenstands bezogen ist, beschreibt Cas­si­rer die Charakteristik der Ausdrucksfunktion in der folgenden Passage. Die Ausdruckswahrnehmung geht, so Cas­si­rer,

Die Ausdrucksfunktion ist, so vermerkt Cas­si­rer in einem nachgelassenen Manuskript, »eine Urfunktion, durch die sich für uns ›Psychisches‹ [d. h. hier Aus­drucks­ phäno­men als gefühlbezogenes Phänomen, Y. H.] erschliesst, zugänglich macht« (ECN 4e, 190). 38



Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Aus­drucks­phäno­men 57

»niemals in einem bloßen Komplex sinnlicher Qualitäten – wie hell oder dunkel, kalt oder warm – auf, sondern ist je auf einen bestimmten und spezifischen Ausdruckston gestimmt; sie ist niemals ausschließlich auf das ›Was‹ des Gegenstands gerichtet, sondern erfaßt die Art seiner Gesamt­ erscheinung – den Charakter des Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden, der in dieser Erscheinung, rein als solcher und unabhängig von ihrer gegenständlichen Deutung, liegt.«39

Die Wahrnehmung der sinnlichen Qualitäten wie Helligkeit, Dunkelheit usw. ist keine der gefühlsmäßigen, physiognomischen Qualitäten, sondern sie birgt ein (Gegenstände) identifizierendes Moment, d. h. die Darstellungsfunktion oder zumindest den »Keim und Anfang zu jeder Form von ›Begriffsbildung‹«, 40 in sich. Hierzu ist das Argument Adhémar Gelbs und Kurt Goldsteins zur Farbennamenamnesie erhellend, auf das sich Cas­si­rer stützt: »Die Farbe wird aus dem anschaulich gegebenen Verbande herausgelöst und nur als Repräsentant für eine bestimmte Farbkategorie, als Repräsentant für Röte, Gelbe, Bläue usw. hingenommen. Dieses ›begriffliche‹ Verhalten wollen wir […] als ›kategoriales Verhalten‹ bezeichnen./ Den Kranken fehlt nun mehr oder weniger jedes Zuordnungsprinzip deshalb, weil ihnen dieses kategoriale Verhalten unmöglich oder erschwert ist.«41

Unter Berufung auf Gelbs und Goldsteins Begrifflichkeit kann das Erkennen bestimmter sinnlicher Qualitäten, wie etwa Helligkeit, Dunkelheit, Wärme oder Kälte, als »kategoriales Verhalten« bezeichnet werden. Das Aus­drucks­phäno­men kennt solche begrifflichen Kategorien nicht, sondern in ihm erfährt das Bewusstsein alle Welterscheinung gefühlsmäßig bzw. physiognomisch, d. h. die Welt erscheint ihm freundlich oder unfreundlich, lockend oder drohend, gütig oder schädlich usw.: Ein Phänomen ist insofern als Aus­drucks­phäno­men zu verstehen, als es das Bewusstsein gefühlsmäßig, d. h. als anziehend oder abstoßend erfährt bzw. wahrnimmt. Die Ausdrucksfunktion, welche in einem solchen Aus­drucks­phäno­men im Gang ist, ist – so wurde bereits festgehalten – in genetischer Hinsicht ›früher‹ als die Darstellungs- bzw. Bedeutungsfunktion. Die Ursprünglichkeit der Ausdrucksfunktion bzw. des Aus­drucks­phäno­mens können wir auf der einen Seite in diesem genetischen, geschichtlichen Sinne verstehen. Aber auf der anderen Seite meint Cas­si­rer mit jener Ursprünglichkeit nicht vor ECW 13, 74. Vgl. ebd., 71 f.; ECW 23, 84 f. ECW 13, 128. 41 Gelb/Goldstein (1971), 87 (Hervorh. gemäß Cas­si­rers Zitat in: ECW 13, 259). 39

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rangig den genetisch-geschichtlichen Urzustand, sondern vielmehr die phänomenologische Unmittelbarkeit;42 dabei ist die Phänomenologie nicht im hegelianischen, sondern im modernen Sinne – insbesondere entsprechend Max Schelers Phänomenologie der Sympathie, welche die Schwäche der Theorie, der zufolge das Gefühl eines Fremden allein durch Analogieschluss bzw. Einfühlung konstruiert wird, aufdeckt – zu verstehen. 43 Allerdings darf diese phänomenologische Unmittelbarkeit der Ausdrucksfunktion, die Cas­si­rer mit aller Schärfe behauptet, nicht als eine absolute betrachtet werden. Denn ihre Bedeutung muss in der ganzen Skala der symbolischen Funktionen, d. h. im Vergleich zur Darstellungs- bzw. Bedeutungsfunktion, erforscht werden. Tatsächlich betont Cas­si­rer, dass nicht allein die Darstellungs- bzw. Bedeutungsfunktion, sondern auch die Ausdrucksfunktion über die »Unmittelbarkeit« des bloßen Daseins hinausgreift, »sofern beide nicht im Kreis der bloßen ›Präsenz‹« verharren, »sondern aus der Grundfunktion der ›Repräsentation‹« entspringen. 44 Ohne dies außer Acht zu lassen, wenden wir uns nun der Ursprünglichkeit bzw. der Unmittelbarkeit der Ausdrucksfunktion bzw. des Aus­drucks­phäno­mens zu, welche Cas­si­ rer bereits in der PsF I erwähnt, 45 doch erst in der PsF III thematisiert und ausführlich behandelt. Im reinen Aus­drucks­phäno­men besteht eine unmittelbare Korrelation, eine untrennbare, unzerlegbare Korrelation zwischen Sinnlichem und Sinn, Bild und Sache, Zeichen und Bezeichnetem, äußerer Erscheinung und innerem Gefühl. Zu unterstreichen ist, dass das Aus­drucks­phäno­men selbst jene Korrelation als solche nicht anzuerkennen weiß. Es ist nicht notwendig, so Cas­si­rer, »daß beide Momente als solche schon scharf auseinandergetreten sind, daß sie in ihrer Andersheit und Gegensätzlichkeit gew ußt werden. Diese Form des Wissens bezeichnet nicht den Anfang, sondern erst das Ende der Entwicklung. Die Doppelheit beider Momente ist zwar in jeder noch so primitiven Erscheinung des Bewußtseins a ngeleg t; aber diese Potenz ist keineswegs von Anfang an zur Aktualität entfaltet. […] Das reine Aus­ drucks­phäno­men kennt noch keine derartige Form der Entzweiung. In ihm ist eine Weise, ein Modus des ›Verstehens‹ gegeben, der nicht an die Bedingung der begrifflichen Interpretation geknüpft ist: Die einfache Darleg ung Beispielsweise schreibt Cas­si­rer: »Der Ausdruckssinn haftet […] an der Wahrnehmung selbst; er wird in ihr erfaßt und unmittelbar ›erfahren‹« (ECW 13, 76; vgl. ebd., 80 u. 104 f.). 43 Vgl. ECW 13, 96. 44 ECW 13, 326. Zum Begriff der Repräsentation bei Cassirer vgl. Plümacher (2012). 45 Vgl. ECW 11, 124. 42



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des Phänomens ist zugleich seine Ausleg ung , und zwar die einzige, deren es fähig und bedürftig ist.«46

Das Aus­drucks­phäno­men muss daher so verstanden werden, dass in ihm die anschauliche Gegebenheit unmittelbar, untrennbar mit dem gefühlsmäßigen, physiognomischen Charakter verbunden ist. Solch eine ursprüngliche, untrennbare Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem gilt auch für die Beziehung zwischen Leib (ÄußerlichLeiblichem) und Seele (Innerlich-Gefühltem). Cas­si­rer betrachtete das Gefühl in Des­cartes’ und Herders Lehre sowie in Goethes künstlerischer Kraft als den ursprünglichen Ort, an dem sich Leib und Seele vereinigen47 – eine ähnliche Anschauung offenbarte bereits seine Auseinandersetzung mit der Einheit des Psychischen und des Physischen in der Lehre Leibniz’ und Shaftesburys. 48 Ähnlich zu solchen Betrachtungen erblickt Cas­si­rer selbst im Gefühl, im Aus­drucks­phäno­men die ursprüngliche Verbindung zwischen Leib und Seele; d. h. jene Verbindung, die er »rein s ymbol ische Relation«49 nennt. Demgemäß stellt er sich entschieden gegen die These, der zufolge die innere Seele nur aus äußeren, leiblichen Bewegungen nachträglich hineingelegt bzw. gefolgert werden kann. Im reinen Aus­drucks­phäno­ men bilden Leib (Äußerlich-Leibliches) und Seele (Innerlich-Gefühltes) eine voneinander untrennbare, ursprüngliche Relation. »Hier gibt es«, so Cas­si­rer, »ursprünglich weder ein Innen und Außen noch ein Vorher oder Nachher, ein Wirkendes oder ein Bewirktes; hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sondern die primär ein sinnerfülltes Ganze ist, das sich selbst interpretiert – das sich in eine Doppelheit von Momenten auseinanderlegt, um sich in ihnen ›auszulegen‹. Der eigentliche Zugang zum Leib-Seelen-Problem wird erst gefunden, wenn einmal generel l erkannt ist, ECW 13, 105. Zu Cas­si­rers diesbezüglicher Auseinandersetzung mit Herder vgl. ECW 21b, 171 f. Bei Goethe formuliert Cas­si­rer die betreffende Verbindung nicht als ursprüngliche Korrelation zwischen Leib und Seele im Gefühl, sondern als Verschmelzung von Subjekt und Objekt im Gefühl (vgl. ECW 7, 182 u. 185). Des­cartes wird von Cas­si­rer in der PsF III noch als Vertreter des Dualismus von Leib (extensio) und Seele (cogitatio) betrachtet, dessen Lehre lediglich »die Transzendenz des göttlichen Urgrundes« als die Lösung des Dualismus erlaubt (ECW 13, 116). Jedoch liegt Cas­si­rers Betonung später nicht mehr so sehr auf Des­cartes’ berüchtigtem Dualismus, als vielmehr auf dem Versuch der Überwindung dieses Dualismus, den Des­cartes im Spätwerk Leidenschaften der Seele unternahm. In Des­cartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung (1939) schreibt Cas­si­rer: Des­cartes »will die ›Natur‹ der Leidenschaft als solche verstehen und sie auf ihren letzten metaphysischen Grund, auf die Vereinigung zwischen Seele und Körper, zurückführen« (ECW 20, 65). 48 Vgl. ECW 7, 87 u. 91 f. 49 ECW 13, 113. 46 47

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daß Sinnverknüpfungen d ieser Art es sind, auf denen auch alle Dingverknüpfungen und alle ursächlichen Verknüpfungen letzthin beruhen. Nicht sie sind es, die innerha lb der Dingverknüpfungen und Kausalverknüpfungen eine besondere K la sse bilden; vielmehr sind sie die konstitutive Voraussetzung, die Conditio sine qua non, auf der auch diese letzteren selbst beruhen.«50

Entsprechend dem Gedanken einer solchen ursprünglichen Korrelation bestätigt Cas­si­rer in Anlehnung an Nikolai Hartmann, dass »wir weder die Seele ohne den Leib noch den Leib ohne die Seele kennen«,51 wenngleich diese Art der Kenntnis selbstverständlich keineswegs als begriffliche Erkenntnis verstanden werden darf. Bisher wurde mit der Ursprünglichkeit bzw. Unmittelbarkeit des Aus­ drucks­phäno­mens hauptsächlich auf die ursprüngliche Untrennbarkeit von Zeichen und Bezeichnetem, Leib und Seele abgezielt. Nun ist zudem hervorzuheben, dass jene Ursprünglichkeit bzw. Unmittelbarkeit zugleich die Unhinterfragbarkeit bzw. die Unbeweisbarkeit des Aus­drucks­phäno­mens anschaulich macht. Diesbezüglich gibt die folgende Passage eine exemplarische Erläuterung: »In dem reinen Phänomen des Ausdrucks, in der Tatsache, daß eine bestimmte Erscheinung in ihrer einfachen ›Gegebenheit‹ und Sichtbarkeit sich zugleich als ein innerlich Beseeltes zu erkennen gibt, stellt sich uns die Art, wie das Bewußtsein, rein in sich selbst verbleibend, zugleich eine andere Wirklichkeit erfaßt, zuerst und unmittelbar dar. Woher diese Tatsache selbst stammt und wie sie zu erklären ist: diese Frage kann hier nicht mehr gestellt werden; denn ihre Lösung müßte sich notwendig in einem Zirkel bewegen. Wie ließe sich auch das schlichte Aus­drucks­phäno­men aus etwas ihm selber Transzendentem begreifen und ableiten, da es doch vielmehr das Vehikel ist, das uns zu jeglicher Art von ›Transzendenz‹, von Realitätsbewußtsein erst hin leitet? Die skeptische Bestreitung dieses ursprünglichen ›Symbolcharakters‹ der Wahrnehmung würde somit all unser Wissen von Wirklichkeit an der Wurzel abschneiden – aber andererseits versagt freilich auch jeder dogmatische Versuch, ihn selbst noch zu begründen.«52 Ebd. Ebd., 108. Cas­si­rer stützt sich auf Hartmanns Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. Ausgehend von einer Reflexion über die Idee der »symbolischen Relation zwischen Leib und Seele« vertritt Krois, dass die Originalität der Philosophie Cas­si­rers nicht nur im »linguistic turn«, sondern auch darin liege, dass jene über die Sprache hinausgegangen sei und das Nicht-Verbale und Nicht-Propositionale als Element und Gegenstand des Symbolismus inkludiere (vgl. Krois (2012), 91). 52 ECW 13, 104. Vgl. ebd., 96 f. 50 51



Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Aus­drucks­phäno­men 61

Diese Unbegründbarkeit, diese »Nicht-beweisbarkeit« bedeutet »keinerlei Unsicherheit«, sondern im Gegenteil »Gewissheit, die über allen blossen Beweis hinausgeht«.53 Die Evidenz des reinen Aus­drucks­phäno­ mens ist nicht hinterfragbar, nicht ableitbar, sondern gegeben.54 In diesem Sinne bezeichnet Cas­si­rer im Anschluss an Goethe das reine Aus­drucks­ phäno­men bzw. die reine Ausdrucksfunktion als »echtes Urphänomen«55 oder als »Grundphänomen des ›Lebendigen überhaupt‹«.56 Phänomenologisch betrachtet, ist das reine Aus­drucks­phäno­men folglich in doppelter Hinsicht ursprünglich bzw. unmittelbar. Seine Ursprünglichkeit bzw. Unmittelbarkeit bedeutet einerseits die untrennbare, unzerlegbare Verknüpfung zwischen Zeichen und Bedeutung, Leib und Seele, Physischem und Psychischem; sie verweist andererseits auf die nicht ableitbare, nicht hinterfragbare Evidenz einer solchen Beziehung. 2.2 Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Aus­drucks­phäno­men als Organisches bzw. Vorkulturelles 2.2.1 Die Stellung der reinen Ausdrucksfunktion und des reinen ­Aus­drucks­phäno­mens Im Folgenden wird die Stellung der reinen Ausdrucksfunktion bzw. des reinen Aus­drucks­phäno­mens aus anthropologischer Perspektive erklärt. Wie Cas­si­rer unter einer symbolischen Form eine Energie des menschlichkulturellen Geistes versteht, bezeichnet er die drei symbolischen Funktionen als »die geistige Trias«57 und auch die Ausdruckssphäre als eine »geistige Region«.58 Dennoch geht die Bedeutung der reinen Ausdrucksfunktion (bzw. des reinen Aus­drucks­phäno­mens) über das rein Menschlich-Kulturelle hinaus. Dies gesteht Cas­si­rer zwar nicht ausführlich, doch ausdrücklich zu: ECN 5c, 107. »Der Realitäts›grund‹ […] des Ausdruckserlebnisses kann freilich nicht bew iesen werden / – denn das würde einen regressus in infinitum ergeben – / Dieser Grund ist ­›gegeben‹« (ebd.). 55 ECW 13, 98. Vgl. ebd., 104. Zu Goethes Suche nach Urphänomenen vgl. ECW 7, 270.; ECW 9, 281; ECN 1b, 130; ECN 10b, 92 f. Zu Cas­si­rers Thematisierung der Basisphänomene als Urphänomene vgl. ECN 1b, 126 f.; Krois (1995a), 302 f.; Möckel (2005a), 309 f.; Möckel (2010). 56 ECW 13, 99. 57 Ebd., 114. 58 Ebd., 86. 53

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Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)

»Erst von dieser Grundauffassung aus, von der Anerkennung des nicht mittelbaren, sondern ursprünglichen Charakters der reinen Ausdruckserlebnisse, läßt sich, wenn überhaupt, eine Brücke zu den Phänomenen des tierischen Bewußtseins schlagen. Denn auch dieses scheint, insbesondere auf den höheren Stufen, eine große Fülle und eine erstaunlich feine Nuancierung solcher Erlebnisse in sich zu schließen. ›Was […] an Ausdrucksbewegungen vorhanden ist‹, so stellt z. B. Wolfgang Köhler für den Schimpansen fest, ›stellt eine überaus große Mannigfaltigkeit dar‹, durch die die Tiere untereinander ›sich verstehen‹, ohne daß hier von irgendeiner Art Sprache zwischen ihnen, von einer Zeichen- und Darstellungsfunktion bestimmter Bewegungen oder Laute die Rede sein könnte.«59

Eine solche Deutung des reinen Aus­drucks­phäno­mens sozusagen als ein biologisches bzw. animalisches findet in der PsF III selten Erwähnung. Jedoch bezeichnet Cas­si­rer dort an manchen anderen Stellen die reine Ausdrucksfunktion zwar nicht direkt als organische, doch als vorkulturelle Funktion. Hinsichtlich des Versuchs, die reine Ausdrucksfunktion aus einer bestimmten geistigen Kraft abzuleiten, notiert er: »Aber was hierbei verkannt wird, ist dies, daß der Sinn und Gehalt der reinen Ausdrucksfunktion als solcher nicht erst auf dem Umweg über eine ei nzel ne geistige Gestaltungssphäre beg laubig t werden kann, weil sie vielmehr, als eine wahrhaft allgemeine und gewissermaßen weltumspannende Funktion, der Differenzierung in die verschiedenen Sinngebiete, dem Auseinandertreten von Mythos und Theorie, von logischer Betrachtung und ästhetischer Anschauung vorausliegt. Ihre Sicherheit und ihre ›Wahrheit‹ ist sozusagen eine noch vormythische, vorlogische und vorästhetische; bildet sie doch den gemeinsamen Boden, dem alle jene Gestaltungen in irgendeiner Weise entsprossen sind und dem sie verhaftet bleiben.«60

Dass Cas­si­rers Deutung des Aus­drucks­phäno­mens in der PsF III eine unerklärte Zweideutigkeit besitzt, d. h. dass es ohne klare Erklärung der Unterscheidung als vorkulturell einerseits und als menschlich-kulturell andererseits beschrieben ist, wird am deutlichsten, wenn wir auf die Stellen aufmerksam machen, an denen Cas­si­rer die reine Ausdruckssphäre mit der untersten Schicht der Kultur, d. h. mit dem Mythos vergleicht. Man kann schwerlich sagen, dass Cas­si­rer in der PsF III das Verhältnis vom reinen, organischen bzw. vorkulturellen Aus­drucks­phäno­men und der mythischen Symbolisierung klar und deutlich dargestellt hätte. Deshalb ECW 13, 72 (Köhler-Zitat aus Köhler (1922), 27). Vgl. ECW 13, 85; ECN 1a, 67; ECN 2, 86. 60 ECW 13, 91 (kursive Hervorh. Y. H.). 59



Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Aus­drucks­phäno­men 63

hört es sich an gewissen Stellen so an, als ob die Hauptfunktion des Mythos eine reine, d. h. eine vorkulturelle wäre. Aber nicht zu vergessen ist, dass der Mythos laut Cas­si­rer nichts anderes als eine kulturelle Symbolisierungskraft ist. Cas­si­rer sagt zwar z. B., dass im Mythos »noch, unbefangen und fast unumschränkt, der reine Ausdruckssinn waltet«, 61 dass Mythos in der Ausdruckssphäre »vor allem heimisch«62 ist oder dass sie »das ursprüngliche Quellgebiet des Mythischen«63 ist. Jedoch bedeutet all dies allein, dass die mythische Symbolisierungskraft vor allem an die emotionale Sphäre gebunden ist. Hierzu ist noch an den Grundcharakter von Cas­si­rers Begriffsbildung, d. h. an den ideellen und methodischen zu erinnern. Cas­ si­rer beschreibt – in den um die dreißiger Jahre oder etwas früher verfassten Schriften – die mythische Welt als die »des reinen Gefühls«64 oder die mythische Ausdrucksbewegung als »unmittelbare Lebensbewegung«. 65 Aber dabei dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass Cas­si­rer dort von der mythischen Reinheit des Gefühls bzw. der mythischen Unmittelbarkeit zum Leben im Vergleich zur ästhetischen Welt spricht. Das heißt, wir müssen um der Folgerichtigkeit der Grundansicht Cas­si­rers willen interpretieren, dass Cas­si­rer dort die Charakteristik des Mythos nicht als Reinheit des Gefühls bzw. als Unmittelbarkeit zum Lebensboden als solche, sondern als Annäherung daran in Relation zum Ästhetischen, zur Kunst, darstellen möchte. In der PsF III heißt es: »Schon das my thische Weltbi ld hat hier den Bruch vollzogen; schon in ihm setzt jener Dua l ismus [von Leib und Seele, Y. H.] ein, der die Doppelheit der Momente zu einer substantiellen Trennung zweier Wesenheiten verschärft. In seinen Anfängen freilich scheint sich der Mythos zwischen den beiden geistigen Haltungen noch nicht klar entschieden zu haben – scheint er noch mitten innezustehen zwischen der Auffassung, die sich vom Standpunkt des reinen Aus­drucks­phäno­mens und zwischen der, die sich vom Standpunkt der theoretischen, der ›metaphysischen‹ Interpretation ergibt. Die Scheidung von Seele und Leib ist hier zwar eingeleitet, aber sie besitzt bei weitem noch nicht jene radikale Schärfe, in der sie später heraustreten wird.«66

Zwar liegt Cas­si­rers Betonung hier an der Nähe des mythischen Bewusstseins zum reinen Aus­drucks­phäno­men, dennoch ist Cas­si­rers Unterschei Ebd., 76. Ebd., 86. 63 Ebd., 90. Vgl. ebd., 69. 64 ECW 16f, 311. 65 ECW 17k, 422. 66 ECW13, 114 f. Vgl. ECW 11, 18; ECW 12, 93; ECW 13, 120. 61

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dung zwischen dem mythischen Bewusstsein und dem reinen Aus­drucks­ phäno­men unverkennbar. Wir dürfen daher die mythische Symbolisierung nicht in der reinen, vorkulturellen Ausdruckfunktion aufgehen lassen, sondern müssen, wie Cas­si­rer an einer Stelle klarstellt, »die reinen Aus­ drucks­phäno­mene auf der einen Seite, die mythischen Gestaltungen auf der anderen Seite« als zwei verschiedene »Gebiete« verstehen. 67 Die mythische Kraft ist nicht die reine Ausdrucksfunktion schlechthin, sondern die »Substantiierung«68 des Gefühls(erlebnisses), welches im Aus­drucks­ phäno­men entsteht. In einem zur Publikationszeit der PsF III entstandenen Text beschreibt Cas­si­rer diesen Zusammenhang folgendermaßen: »Wir fanden im Verlauf der Analyse der mythischen Denkform immer aufs neue, wie sehr auch sie in ursprünglichen Ausdruckserlebnissen wurzelt und in ihnen gebunden bleiben. Aber die Mannigfaltigkeit der mythischen Gestalten entspringt nicht unmittelbar aus diesen Erlebnissen selbst, sondern aus der eigentümlichen ›Verdichtung‹, die sie erfahren. Die Welt des Ausdrucks wird rein als solche zunächst noch nirgends überschritten: aber in ihr selbst findet eine Konzentration, eine Sammlung um bestimmte Einheitspunkte statt. In dieser Sammlung und Zusammenfassung erst wird sie zur dämonischen Welt […].«69

Ein solcher Gedanke, der in der PsF III noch nicht akzentuiert wurde, tritt in seiner Spätschrift MS am klarsten zu Tage: Dort stellt Cas­si­rer die Funktion (bzw. das Phänomen) des Ausdrucks und der Empfindung des Gefühls explizit als eine ursprünglich organische Funktion dar. Das heißt, er beschreibt dort nachdrücklich die reine Ausdrucksfunktion als die Ausdrucksfunktion im bloß organischen bzw. vorkulturellen Sinne – wenngleich er zur Zeit jener Spätschrift (die Terminologien der »drei symbolischen Funktionen« und daher auch) den Begriff der »Ausdrucksfunktion« nicht mehr verwendet. Zu Darwins Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren schreibt Cas­si­rer: »Darwin has written a classical book about the expression of emotions in men and animals. We learn from this book that the fact of expression has a very broad biological basis. It is by no means a privilege of man; it extends over the whole animal world. If we ascend to the higher stages of animal life,

ECW 13, 83. »Das ursprüngliche Erleben fasst«, so heißt es mit Bezug auf das Problem des Aus­ drucks­phäno­mens, »die ›Welt‹ als ein Ganzes von Ausdruckswerten – Die mythische Welt ist die Substantiierung dieser Ausdruckswerte« (ECN 4e, 190). 69 ECN 1a, 67 f. Vgl. ECW 12, 85. 67

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Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Aus­drucks­phäno­men 65

it constantly wins in strength and variety. […] Also the emotions of lower animals, and their corresponding expressions, are of very wide range.«70

Hierbei ist erstens darauf zu achten, dass sich Cas­si­rers Wertschätzung jener Arbeit nicht aus Darwins allgemeiner Überzeugung von der Art und Weise der Evolution ableitet, sondern allein in dem Umstand zu finden ist, dass die evolutionäre Basis (des Gefühls bzw. dessen Ausdrucks) als Tatsache präsentiert wird.71 Zweitens ist viel wichtiger zu betonen, dass, wenn Cas­si­ rer hier von der Kontinuität zwischen Mensch und Tier spricht, dies allein mit Blick auf die Existenz des Gefühlsphänomens gedeutet wird. Wie sich unten näher zeigen wird, grenzt Cas­si­rer die Bedeutung des menschlichen Gefühlserlebnisses von der des tierischen deutlich ab. Im Kontext dieses Abschnitts ist hervorzuheben, dass Cas­si­rer im MS mit Emphase verkündigt, dass das Wesen des mythischen Bewusstseins als des menschlichen primitivsten Bewusstseins nicht im Gefühl bzw. in den Emotionen an sich, sondern in der Objektivierung des Gefühls bzw. der Emotionen (the »objectification of feelings«72) liegt: »For even here [in the mythical world, Y.  H.]«, so Cas­si­rer, »emotions are not simply felt. They are ›intuited‹; they are ›turned into images‹. These images are crude, grotesque, fantastic. But it is just for this reason that they are understandable to uncivilized man because they can give him an interpretation of the life of nature and of his own inner life.«73

Cas­si­rer geht also im MS unverkennbar davon aus, dass das Gefühl, auch das menschliche Gefühl, eine ursprünglich biologische Basis hat. Dennoch stellt er zugleich fest, dass im menschlichen Leben, auch im mythischen Leben – verstanden als das primitivste Leben des Menschen – das Gefühl geistig-kulturell symbolisiert ist. Deshalb ist m. E. die reine Ausdrucksfunktion (bzw. das reine Aus­drucks­phäno­men), deren Sicherheit und Wahrheit Cas­si­rer in der PsF III als vormythisch beschreibt, als rein organisch (tierisch) bzw. vorkulturell zu verstehen: Im Folgenden wird daher unterschieden zwischen der reinen Ausruckfunktion, welche das organische Gefühlsphänomen ermöglicht, und der geistig-symbolischen Substantiierungsfunktion dieses Gefühlsphänomens.74 ECW 25, 45. Vgl. außerdem folgende Sätze: »Expression is not in itself an aesthetic process; it is a general biological process« (ECN 7e, 151). »Expression when taken in an unspecific and indiscriminable sense is a general biological phenomenon« (ECN 7g, 194). 71 Vgl. unten S. 66 f. 72 ECW 25, 47. 73 Ebd., 49. Vgl. ECW 12, 85; ECW 13, 120; ECW 25, 47 f.; ECN 1a, 67 f.; ECN 6b, 294; ECN 7f, 165; ECN 9f, 196. 74 Dabei könnte diese geistig-symbolische Substantiierungsfunktion – der »reinen 70

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Auf diese symbolische Objektivierung des Gefühls wird im nächsten Kapitel (zum mythisch-religiösen Gefühl) näher eingegangen werden. Nachfolgend wird der biologische Ursprung des Gefühls, welchen Cas­si­rer insbesondere in seinen späteren Lebensjahren hervorhob, in sehr kompakter Form beschrieben, womit der grundsätzliche Charakterzug des Gefühls herausgestellt werden soll. 2.2.2  Der grundsätzliche Charakterzug des Gefühls Da Cas­si­rer im reinen Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen eine ursprüngliche Korrelation zwischen Leib und Seele erkennt, ist es nicht verwunderlich, dass er im MS – zumindest als Basis bzw. Hintergrund des menschlichen Gefühlslebens – der bekannten physiologischen These William James’ folgt. Dieser These zufolge reagiert man nicht physiologisch, weil man ›sich fühlt‹, sondern man ›fühlt sich‹, weil physiologische Änderungen eingetreten sind;75 ohne einen Körper und ohne physiologische Änderungen fühlt man nichts. Es ist ebenso wenig verwunderlich, dass Cas­si­rer im MS das Gefühlsphänomen in der biologischen – also nicht-menschlichen – Welt in evolutionärer Hinsicht erklärt. Denn er hält, wenn auch nur im Vorbeigehen, bereits in der PsF I die Evolution des Gefühls in der biologischen Welt als eine Tatsache fest.76 Bemerkenswert ist jedoch, dass sich Cas­si­rer im MS direkt mit der bio­ logischen Ursprünglichkeit des Fühlens auseinandersetzt. Hier heißt es: »It is […] obvious that, biologically speaking, feeling is a much more general fact and belongs to an earlier and more elementary stratum than all the cognitive states of mind. To explain states of feeling in terms that belong to the latter sphere was, therefore, in a sense a hysteron proteron. In the case of feeling the motor states or impulses are primary; the affective manifestations are secondary. As Ribot points out, the basis, the root of the affective life, is to be sought in motor innervation and impulses not in the consciousness of pleasure and pain.«77 Ausdrucksfunktion« gegenüber – »(eigentlich) symbolische Ausdrucksfunktion« genannt werden. 75 Vgl. ECW 25, 30 f.; James (2007), 450. 76 »Schon bei den niederen Tieren begegnet uns eine Fülle ursprünglicher Gefühlsund Empfindungslaute, die sich sodann im Fortgang zu den höheren Arten mehr und mehr differenzieren, die zu bestimmt artikulierten und gegeneinander abgegrenzten ›Sprachäußerungen‹, zu Angst- oder Warnrufen, Lock- oder Paarungsrufen, sich entfalten« (ECW 11, 136). 77 ECW 25, 31. Vgl. Ribot (1897), 3.



Die reine Ausdrucksfunktion und das reine Aus­drucks­phäno­men 67

Cas­si­rer vertritt in Anlehnung an den französischen Psychologen und Philosophen Théodule Ribot, welcher von Darwin und Spencer fasziniert ist,78 die These, dass der Urquell des Fühlens nicht in der Bewusstheit der Emotionen, sondern im unbewussten Reflex auf sinnliche Stimuli liegt. Auch der niederste Organismus in der evolutionären Entwicklung habe, so führt Cas­si­rer weiterhin unter Bezugnahme auf Ribot aus, eine unbewusste Form des Gedächtnisses und zudem eine vitale, organische Sensibilität, welche die Vorbereitung und der Grundriss des höheren, bewussten emotionalen Lebens sei.79 Einfache Emotionen in niedrigsten Lebewesen werden, so Cas­si­rer, in höheren Lebewesen ausdifferenziert. So erkennt er bei höheren Tieren, wie Schimpansen, eine feine Differenzierung unterschiedlicher Emotionen an. 80 Allerdings zieht Cas­si­rer eine scharfe Grenze zwischen solch einer hochentwickelten animalischen Differenzierungsfähigkeit verschiedener Emotionen und den menschlich-symbolischen Aktivitäten. Mit Blick auf die animalische Welt schreibt Cas­si­rer: »If, in the higher animals, consciousness intervenes and begins to play a predominant role, we cannot describe it in an anthropomorphic way, in terms of perception or ›ideas‹. The animal’s behavior seems rather to be determined by some ›emotional qualities‹ that awake in it the feeling of ›familiarity‹ or ›uncanniness‹, of attraction or repulsion.«81

Wie an dieser Stelle bereits deutlich ist – und wie im nächsten Abschnitt ausführlich dargestellt werden wird –, gilt es mit aller Schärfe zu betonen, dass Cas­si­rers Anliegen immer in der Hervorhebung des Unterschieds zwischen dem menschlich-symbolischen und dem tierischen Gefühlserleben liegt, selbst wenn er das Ursprungsproblem des Gefühls aus biologischer Perspektive beschreibt. Dennoch ist wiederum anzumerken, dass – trotz der scharfen Unterscheidung zwischen dem menschlichen und tierischen Gefühl – beide Erlebensweisen durch Cas­si­rers Gesamtverständnis des Gefühls umfasst und ausgedrückt werden können. Hierfür ist sein Spätwerk MS von Bedeutung. Dort heißt es zu den Ursprüngen des Gefühls: »Also the emotions of lower animals, and their corresponding expressions, are of very wide range. […] It is […] clear that even the lowest organisms must have some means of distinguishing between certain stimuli and reacting differently to them. They would not be able to survive if they could not discrim Vgl. Staum (2011), 85 f. Vgl. ECW 25, 45 f. Vgl. Ribot (1897), 3 f. 80 Vgl. u. a. ECW 25, 45 f. Vgl. außerdem ECW 11, 136; ECW 13, 72. 81 ECW 25, 46. 78

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inate, in their behavior, between what is advantageous and disadvantageous, beneficial or harmful. Every organism ›seeks‹ certain things and ›avoids‹ certain things. An animal seeks its prey and flees from its enemies. All this is regulated by a complicated network of instincts and motor impulses which do not require any conscious activity.«82

Das rein organische Gefühl ist also ursprünglich ein lebensnützlicher Handlungsmotor der Organismen bzw. ihre primitivste Orientierungshilfe für das Überleben. Es gilt hierbei zu beachten, dass wir besser daran täten, jene pragmatische Argumentationslinie Cas­si­rers nicht als gewissermaßen nachträgliche Übernahme von Ribots (oder Darwins) Position zu lesen. Denn wenngleich Cas­si­rer nicht auf die Frage eingeht, wie sich das biologische, ursprüngliche Gefühl im Verlauf der Evolution entwickelt hat, verwirft und lehnt er mit Bezug auf die Evolutionstheorie im Allgemeinen Darwins Lehre der natürlichen Selektion – ihre Perspektive der Stetigkeit, der Anpassung (bzw. Lebensnützlichkeit) und Cas­si­rer zufolge der reinen Zufälligkeit – ab. 83 So vertritt Cas­si­rer selbst die (vitalistische) Saltations- bzw. Mutationstheorie, der zufolge zwischen biologischen Arten in evolutionärer Hinsicht – unabhängig von der natürlichen Selektion, d. h. unabhängig vom Anpassungsgrad – eine sprunghaft bzw. mutativ qualitative Diskontinuität besteht, wie unscheinbar sie auch sei. 84 Wird solch einem Verständnis Cas­si­rers gefolgt, ist auf Folgendes zu achten: Cas­si­rer sieht zwar die biologisch praktische Leistung des Gefühls in dessen Funktion für das Überleben, aber Letzteres bedeutet hier implizit nicht das Überleben eines Tieres in der Welt der Anpassungskonkurrenz zwischen individuellen Organismen, sondern allein das (Über-)Leben in seiner eigenen Umwelt im Sinne des vitalistischen Biologen Jakob Johann von Uexküll; d. h. im Sinne einer festen Weltordnung, welche jedes Tier – entsprechend dem Bauplan seiner Spezies – um sich selbst herum von sich aus bildet. 85 Wichtig ist uns dennoch weniger die Bedeutung des biologisch Praktischen im Gefühl, die Cas­si­rer für das menschliche Leben zurückweist, als Ebd., 45. Vgl. ECN 2, 83 f. Vor seinen Exiljahren in den USA kritisiert (bzw. beschreibt) Cas­si­rer in etwas verwirrender Weise Darwins Lehre als extrem, d. h. als übermäßig teleologische Lehre einerseits und als reine Zufallstheorie andererseits (vgl. ECW 5, 190 f. u. 224 f. LKW, 460 f.; ECN 5b, 60 f.; Cas­si­rer (1993), 83 f.). Aber in jenen Exiljahren verwirft Cas­si­rer Darwins These der natürlichen Selektion – also inklusive ihrer Perspektive der Stetigkeit und der Anpassung – lediglich als reine Zufallstheorie, welche er als den Kern jener These ansah (vgl. ECW 23, 23 f. u. 132; ECN 6b, 250 u. 257 f.; ECN 6c, 380 f. u. 405). 84 Vgl. ECW 5, 204 f.; LKW, 460 f.; ECN 5b, 60 f.; ECN 6b, 257 f. 85 Vgl. ECW 23, 28 f.; LKW, 378 f.; ECN1, 40 f. u. 60 f.; ECN 2, 84 f. 82 83



Grundzüge des menschlichen Gefühlslebens 69

vielmehr die grundsätzliche Charakteristik des Gefühls, welche Cas­si­rers Beschreibung jener Bedeutung in sich birgt. In dieser Hinsicht sind die Aussagen, die wir in den bereits zitierten Passagen besonders hervorheben müssen, die folgenden: Erstens beschreibt Cas­si­rer den biologisch ursprünglichen Vorgang des Fühlens so: »Every organism ›seeks‹ certain things and ›avoids‹ certain things.«86 Zweitens beschreibt Cas­si­rer den Charakter des animalischen Verhaltens wie folgt: »The animal’s behavior seems […] to be determined by some ›emotional qualities‹ that awake in it the feeling of ›familiarity‹ or ›uncanniness‹, of attraction or repulsion.«87 Aufgrund solcher Beschreibungen wollen wir ein handlungsmotivierendes Gefühl der Lust und Unlust, m. a. W. ein Hingezogen- und Abgestoßenwerden des PsychoPhysischen bzw. des Leib-Seelischen, als Wesenszug des Gefühls ansehen. Dies ist nicht von geringer Bedeutung. Denn Cas­si­rer versteht den Wesenszug des menschlich-kulturellen Gefühlserlebens, wie sich zeigen wird, als geistig-symbolisch gestaltetes bzw. orientiertes Hingezogen- bzw. Abgestoßenwerden des Leib-Seelischen. Dies ist der Fall, wenngleich seine Argumentation – mit Blick auf das menschliche Leben überhaupt und daher auch auf das menschliche Gefühlserlebnis – (keinesfalls die Anwesenheit des PhysischLeiblichen, 88 so doch) die biologisch praktische Bedeutung jenes Hingezogen- und Abgestoßenwerdens zurückweist. Dabei ist zu betonen, dass für Cas­si­rer eine solche symbolische Gestaltung des Gefühlslebens keineswegs eine quantitative Änderung des Gefühlserlebnisses, sondern eine qualitativ radikale Wandlung seines Charakters darstellt. »Der Mensch ist ein Wesen«, so fasst z. B. Recki Cas­si­rers Ansicht des anthropologischen Grundzugs, »das von vornherein über natürliche Determinanten hinausgeht.«89 Dass diese Maxime auch für das Gefühlsleben gilt, wird im Folgenden näher herausgestellt. 3. Grundzüge des menschlichen Gefühlslebens 3.1 Die Befreiung von der biologischen Schranke beim Menschen In der PsF I (1923) äußert Cas­si­rer mit Nachdruck, dass seine Philosophie nur insofern mit dem Leben zu tun hat, als das Leben aus der Sphäre des biologischen Daseins heraustritt, wenn es sich zur »Form des ›Geistes‹« ECW 25, 45. Ebd., 46. 88 Vgl. Hartung (2003), 300 u. 308; Gerhardt (2012), 618 f.; Müller (2012), 684 f. 89 Recki (2009), 47. 86

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erhebt. Seine Philosophie frage allein nach dem Grundprinzip der symbolischen Formung, doch nicht nach seinem biologischen Grund.90 In einem nachgelassenen Manuskript (ca. 1921-1927) formuliert Cas­si­rer dies als Kritik an der modernen Lehre des Lebens: »Die modernen Theorien des ›Lebens‹ sind völlig ungenügend, weil sie am Leben […] nur das negative, das bloss Naturhafte, das biolog ische Element herauslösen«.91 Aufgrund dieses nachgelassenen Fragments dürften wir vermuten, können aber nicht belegen, dass Cas­si­rer das biologische Element im menschlichen Leben immer als negativ deuten würde. Aber zumindest steht fest, dass er in den Schriften der zwanziger Jahre die biologische Beschreibung der menschlichen Tätigkeit zurückweist. Einmal mehr in der PsF III (1929) heißt es bezüglich der allein dem Menschen eigentümlichen Kraft der Distanznahme zur rein sinnlichen Welt: »Das tierische Verhalten kennt diese Distanz noch nicht: Das Tier lebt in seiner Umwelt, ohne sie sich in dieser Weise gegenüberzustellen und sie, kraft dieser Gegenüberstellung, ›vorzustellen‹. Diese Gewinnung der ›Welt als Vorstellung‹ ist vielmehr erst das Ziel und der Ertrag der symbolischen Formen – das Resultat der Sprache, des Mythos, der Religion, der Kunst und der theoretischen Erkenntnis. Jede von ihnen baut ein eigenes, ein intelligibles Reich innerer Bedeutsamkeit auf, das sich von allem bloß zweckhaften Verhalten innerhalb der biologischen Sphäre klar und scharf abhebt.«92

Diese Betrachtung Cas­si­rers ändert sich nicht, auch nachdem seine Beschäftigung mit dem biologisch-anthropologischen Problem intensiver geworden ist.93 Das heißt, er hebt kaum Analogien, sondern fast einseitig Unterschiede zwischen Mensch und Tier hervor. Es sind, so Cas­si­rer z. B. im Jahr 1932, »vor allem die grundlegenden Forschungen Uexkülls gewesen, die den Gegensatz von menschlicher und tierischer Vorstellungswelt in helles Licht gerückt haben«.94 Die tierische Weltordnung sei – durch den Bauplan jeder Spezies, durch den dementsprechenden Funktionskreis, d. h., die Korrelation zwischen Merkwelt (Rezeptorsphäre bzw. -struktur) und Wirkwelt (Effektorsphäre bzw. -struktur) – fest bestimmt. Hingegen sei die menschli Vgl. ECW 11, 47 f. Zitat (»Form des ›Geistes‹«) aus ebd., 49. ECN 1d, 266. Näheres zum Begriff des Lebens bei Cas­si­rer vgl. Möckel (2005a). 92 ECW 13, 320 (kursive Hervorh. Y. H.). Vgl. ECW 16f, 260 f. 93 Vgl. Plessner (1983), 243; Hartung (2003), 357 f.; Meuter (2006), 129 f.; Möckel (2009b), 210 f. 94 Cas­si­rer (1995), 127. Zu Cas­si­rers Auseinandersetzung mit Uexkülls These vgl. u. a. ECW 5, 231 f. Zu Cas­si­rers Appell an Uexküll und Volkelt um 1930 vgl. z. B. ECW 13, 172, Anm. 69; ECN 1a, 40 f., 60 f. u. 74 f. 90 91



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che frei von einer solchen Bestimmtheit, indem der Mensch zwischen jenen zwei Sphären ein freies, geistiges Bindeglied, d. h. für Cas­si­rer eine symbolische Vorstellung bzw. ein Symbolsystem, einfügt. Dies bedeutet, dass die menschliche Tätigkeit von der biologischen Bestimmtheit bzw. vom biologisch Praktischen befreit ist.95 Diese Behauptung findet sich in vielerlei Passagen; die folgende Passage aus einer Spätschrift zeigt Cas­si­rers diesbezügliche Entschlossenheit: »Die organische Schranke, die ihm [dem Menschen, Y. H.] wie jedem anderen Lebewesen gesetzt ist, kann er nicht überwinden und durchbrechen. Aber innerhalb derselben, ja auf Grund ihrer, schafft er sich eine Weite und eine Selbständigkeit der Bewegung, die nur ihm zugänglich und erreichbar ist. Uexküll sagt einmal, daß der Bauplan jedes Lebewesens und das durch ihn bestimmte Verhältnis zwischen seiner ›Merkwelt‹ und ›Wirkwelt‹ dieses Wesen so fest umschließt wie die Mauer eines Gefängnisses. Diesem Gefängnis entrinnt der Mensch nicht dadurch, daß er die Mauern niederreißt, sondern dadurch, daß er sich ihrer bewußt wird. Hier gilt das Hegelianische Wort, daß der, der um eine Schranke weiß, bereits über diese Schranke hinaus ist. Die Bewußtwerdung ist der Anfang und das Ende, ist das A und O der Freiheit, die dem Menschen vergönnt ist; das Erkennen und Anerkennen der Notwendigkeit ist der eigentliche Befreiungsprozeß, den der ›Geist‹ gegenüber der ›Natur‹ zu vollbringen hat.«96

Merkwürdig ist hierbei nicht allein Cas­si­rers Behauptung, das Wissen von der Schranke sei zugleich die Befreiung von ihr, sondern auch sein Rekurs auf Hegel. Eigentlich verweist Cas­si­rer in dieser Passage nicht explizit auf eine konkrete Stelle bei Hegel, doch vermutlich bezieht er sich auf jene in der Wissenschaft der Logik, an der Hegel, die Kantische Begrenzung des theo­ retischen Erkennens kritisierend, die Schrankenlosigkeit des Wissens bzw. Erkenntnis der Vernunft feststellt.97 Hiermit ist aber keinesfalls behauptet, Vgl. ECW 23, 28 f., 39 u. 124; ECN 1a, 38 f.; ECN 6b, 286; ECN 6c, 408 u. 634; ECN 7f, 162 f. 96 LKW, 381. Cas­si­rer interpretiert Goethes Ansicht in gleicher Weise (vgl. ECN 10a, 28). 97 »Es ist […] die größte Inkonsequenz, einerseits zuzugeben, daß der Verstand nur Erscheinungen erkennt, und andererseits dies Erkennen als etwas Absolutes zu behaupten, indem man sagt, das Erkennen könne nicht weiter, dies sei die natürliche, absolute Schranke des menschlichen Wissens. Die natürlichen Dinge sind beschränkt, und nur natürliche Dinge sind sie, insofern sie nichts von ihrer allgemeinen Schranke wissen, insofern ihre Bestimmtheit nur eine Schranke für uns ist, nicht für sie. Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist. […] Schranke, Mangel des Erkennens ist ebenso nur als Schranke, Mangel bestimmt durch die Vergleichung mit der vorhandenen Idee des Allgemeinen, eines Ganzen und Vollendeten. Es ist daher nur Bewußtlosigkeit, nicht einzusehen, daß eben die Bezeichnung von etwas als einem 95

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Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)

dass Cas­si­rer damit über das Kantische Prinzip hinausgeht. Sondern aus jener Passage ist allein Cas­si­rers unverrückbares Vertrauen in die menschliche Freiheit, d. h. hier in die Befreiung der menschlichen Tätigkeit vom biologisch Praktischen, von biologischen Bedürfnissen und Nützlichkeiten abzulesen. Im Unterschied zur tierischen Aktivität, welche eine Unmittelbarkeit der Lebensbedürfnisse offenbart, schreibt Cas­si­rer zum menschlichen Handeln: »Statt unmittelbar durch einen wirklichen Reiz bewegt zu werden, blickt er auf ›mögliche‹ Bedürfnisse hin, zu deren Befriedigung er die Mittel im voraus bereitstellt. […] Der Antrieb entstammt nicht allein dem Drang der Gegenwart, sondern er gehört der Zukunft an, die, um in dieser Weise wirksam zu werden, in irgendeiner Weise ›vorweggenommen‹ werden muß.«98

Die menschlich-kulturellen Bedürfnisse bedeuteten keine unmittelbaren Lebensbedürfnisse, sondern symbolisch vermittelte, geistig erschaffene Bedürfnisse als »idealen Entwurf«.99 Der Wille des Menschen ist, so Cas­si­ rer, kein »Wille[-] zum Leben«, sondern »der geistige, der geschichtliche Wille«.100 Deshalb positioniert sich Cas­si­rer – nur dann – gegen den Pragmatismus, wenn er die These kritisiert, dass das menschliche Verhalten aus der lebenspraktischen Perspektive der Nützlichkeit heraus zu erklären ist.101 Dies gilt auch für das menschliche Gefühlsleben. Das heißt, das menschliche Gefühl ist auch von der biologischen Bestimmtheit befreit. Selbst wenn Cas­si­rer James’ physiologische Erläuterung des Gefühls mit Bezug auf die biologische Sphäre anerkennt, gilt diese Anerkennung keinesfalls für das menschliche Gefühl. Selbst wenn Cas­si­rer mit Darwin (und mit Ribot) darin übereinstimmt, dass auch das menschliche Gefühl ursprünglich eine biologische Basis hat, weist er die Ansicht zurück, dass diese Ursprünglichkeit eine aktive Bedeutung für das menschliche Leben besitzt. Zu Darwins Buch Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren schreibt Cas­si­rer: »[…] alles, was wir hier feststellen können, ist und bleibt pa ssiver Ausdruck. Im Bereich des menschlichen Daseins und der menschlichen Kultur aber begegnet uns plötzlich ein Neues. Denn alle Kulturformen, so verschieEndlichen oder Beschränkten den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschränkten enthält, daß das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenzte diesseits im Bewußtsein ist« (Hegel (1986), 143 f.).   98 LKW, 382.   99 ECW 13, 208. 100 Ebd. 101 Vgl. ECW 9a, 175 f.; ECW 11, 124 f.; ECN 1a, 37 f. u. 57 f.; ECN 1c, 233.



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den sie voneinander auch sein mögen, sind a ktive Ausdrucksformen. Sie sind nicht, wie die Röte der Scham, das Runzeln der Stirn, das Ballen der Faust, bloße unwillkürliche Reaktionen, sondern Aktionen. Sie sind nicht einfache Geschehnisse, die sich in uns und an uns abspielen, sondern sie sind sozusagen spezifische Energ ien, und durch den Einsatz dieser Energien baut sich für uns die Welt der Kultur, die Welt der Sprache, der Kunst, der Religion auf.«102

In vielen Schriften wiederholt Cas­si­rer einen solchen Gedanken: Das tierische Verhalten ist »passiv«, d. h. rein affektiv (emotional bzw. gefühlsmäßig), triebhaft und pragmatisch, während das menschliche Verhalten »aktiv«, d. h. von jener tierischen Passivität frei, ideell und theoretisch ist.103 Jedoch versteht es sich von selbst, dass dies die Abwesenheit des Gefühlsphänomens beim Menschen keinesfalls impliziert. Sondern das bedeutet – bezüglich des menschlichen Gefühls –, dass in der menschlichen Welt die Symbolisierung des Gefühlserlebnisses dieses Erlebnis von seiner biologisch praktischen Bedeutung befreit. In paradigmatischer Weise heißt es zur Metamorphose der Angst bzw. der Furcht als eines biologischen Instinkts im menschlich primitivsten d. h. mythischen Bewusstsein: »Fear is a universal biological instinct. It can never be completely overcome or suppressed, but it can change its form.«104 In allgemeiner Hinsicht betont Cas­si­rer diesen Zusammenhang: »Myth cannot be described as bare emotion because it is the expression of emotion. The expression of a feeling is not the feeling itself – it is emotion turned into an image. This very fact implies a radical change. What hitherto was dimly and vaguely felt assumes a definite shape; what was a passive state becomes an active process.«105

Da auf den Angstbegriff sowie auf die mythische Objektivierung der Emotionen unten näher eingegangen werden wird, genügt es hier, Cas­si­rers Ansicht anzuführen, der zufolge in allen symbolischen Aktivitäten des Menschen – inklusive der mythischen – organische Emotionen kulturellsymbolisch verdichtet, orientiert bzw. umgestaltet werden. Cas­si­rers Ver LKW, 408 f. Vgl. ebd., 486; ECW 11, 125; ECW 25, 46; ECN 7e, 151; ECN 7f, 165; ECN 7g, 194. Um genau das gleiche Verhältnis zu bezeichnen, verwendet Cas­si­rer in anderen Schriften das Begriffspaar physischer Ausdruck (»physical expression«) und symbolischer Ausdruck (»symbolic expression«) (vgl. ECW 25, 45 u. 47 f.; ECN 9f, 196). 103 Vgl. ECW 11, 125; ECW 12, 30 f.; ECW 23, 124 f. u. 142 f.; LKW, 408 f.; ECW 25, 44 f.; ECN 1a, 41 f. u. 67 f.; ECN 1c, 233; ECN 7f, 162 f. 104 ECW 25, 49 (Hervorh. Y. H.). Vgl. ECN 6c, 431. Zu Cas­si­rers Beschreibung der Angst (und der Freude) als biologisch universelles Phänomen vgl. außerdem ECN 5b, 98; ECN 6c, 560. 105 ECW 25, 45. 102

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Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)

ständnis nach wird das organische Gefühl, welches beim Tier allein an das Praktische, das Lebensnützliche gebunden ist, beim Menschen – vermittels der Symbolisierung – einer geistig-kulturellen Gestaltung, d. h. einer Befreiung von der biologisch-praktischen Schranke, unterzogen. Deshalb kann – was betont werden muss – die Charakteristik des menschlichen Gefühls erst aufgrund des Verständnisses der menschlichen Symbolisierung beleuchtet werden. Dieser Sachverhalt wird sogleich anhand von Cas­si­rers erkenntniskritischer Analyse des menschlichen Gefühls klar gemacht. 3.2 Zur Möglichkeit der Behandlung des menschlichen Gefühls – ­Gefühl als subjektiv bedingt Die Unmittelbarkeit der Evidenz des Aus­drucks­phäno­mens als gefühls­ bezogenes Phänomen wurde bereits erklärt. Aber hier ist nochmals auf eine diesbezügliche Aussage Cas­si­rers hinzuweisen: »Die reine Basis des Aus­ drucks­phäno­mens lässt sich durch keine theoretischen Zweifel und keine dogmatischen Machtsprüche ›aus der Welt schaffen‹, weil sie zu den Konstituentien [sic!] eben dieser ›Welt‹ gehört«.106 Mit der Passage Diderots, welche Cas­si­rer in der Philosophie der Aufklärung zitiert, kann der Punkt noch eloquenter formuliert werden: »Si le goût est une chose de caprice, s’il n’y a aucune règle du beau, d’où viennent donc ces émotions délicieuses qui s’élèvent si subitement, si involontairement, si tumultueusement au fond de nos âmes qui les dilatent ou qui les serrent, et qui forcent de nos yeux les pleurs de la joie, de la douleur, de l’admiration, soit à l’aspect de quelque grand phénomène physique, soit au récit de quelque grand trait moral? Apage, Sophista!: Tu ne persuaderas jamais à mon coeur qu’il a tort de frémir; à mes entrailles, qu’elles ont tort de s’émouvoir.«107 ECN 2, 138 f. Mit diesem Satz kritisiert Cas­si­rer den Physikalismus des Wiener Kreises, insbesondere von Rudolph Carnap. Zwar vertritt Carnap mit Bezug auf das Verstehen des Fremdpsychischen im Unterschied zu Cas­si­rer die Einfühlungs- bzw. Analogieschlusstheorie (vgl. Carnap (2004), 37 f.). Aber sofern Carnap, wie Cas­si­ rer selbst anmerkt, die Existenz des Gefühls keinesfalls ablehnt (vgl. ECN 4e, 201) und sofern Cas­si­rer, wie sich sogleich zeigen wird, ähnlich Carnap davon ausgeht, dass die Bedeutung der Gefühlserfahrung an sich vollkommen subjektiv ist, erkennt man keine deutlichen Unterschiede zwischen Cas­si­rer und Carnap hinsichtlich der Existenz und der Subjektivität der Gefühlserfahrung per se (vgl. Graeser (1994), 124). Deshalb gehen wir hier nicht auf Cas­si­rers diesbezügliche Auseinandersetzung mit Carnap ein. 107 Diderot (1876), 517. Cas­si­rer beginnt sein Zitat mit »Apage, Sophista« (ECW 15, 312). 106



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Anzumerken ist, dass es in dieser Passage Diderots um die unleugbare Existenz der Emotionen sowie um die Regeln der Schönheit geht, gemäß welcher jene entstehen. Wenngleich wir uns hier nicht mit den Regeln der Schönheit beschäftigen wollen, ist es von großer Bedeutung, die Frage danach auf unseren Problemkreis zu übertragen und herauszufinden, ob es Cas­si­rer zufolge Regeln des Aus­drucks­phäno­mens bzw. Gefühlsphänomens geben kann, ob eine objektive Wissenschaft des Gefühls möglich ist. Dafür beginnen wir mit Cas­si­rers Auseinandersetzung mit Ludwig Klages, da Cas­si­rer Klages als »Führer und Wegbereiter«108 der Untersuchung des Aus­drucks­phäno­mens anführt – wenngleich Cas­si­rer dessen einseitige Hervorhebung der Ausdruckssphäre, dessen Zurückweisung des Rationalen und Intellektuellen (d. h. der Darstellungs- bzw. Bedeutungssphäre) freilich nicht beistimmen kann.109 Seelenfindung bzw. Wesensfindung – mit Cas­ si­rers Wort, die Ausdruckswahrnehmung – könne, so Klages, weder durch die sensualistische, mechanistische Theorie noch durch die Analogieschlusstheorie des Fremdpsychischen begründet, sondern allein als Urphänomen, als »Urcharakteristik« des Organischen bestätigt werden.110 Wir wissen bereits, dass Cas­si­rer Klages in dieser Hinsicht Recht geben wird: Cas­si­rer ist sich mit Klages darin einig, dass die Existenz des Aus­drucks­phäno­mens nicht durch irgendeine Theorie bewiesen, sondern lediglich bestätigt werden kann. Allerdings bezweifelt Cas­si­rer den Sinn von Klages’ Suche nach wissenschaftlichen Prinzipien in jenem Urphänomen. In einem vermutlich um 1937/1938 geschriebenen Manuskript erwähnt Cas­si­rer Klages’ Suche nach der »Wissenschaft vom Ausdruck« und fährt fort: »Und doch ist die ›Ausdruckskunde‹ von Kl[ages] keine strenge Wissenschaft vom Ausdruck[.] / Die Graphologie beruht immer mehr oder weniger auf ›subjektiver‹ Deutung, die je nach der subjektiven ›Begabung‹ verschieden ausfällt – Selbst die Häufung und die systematische Klassifikation der Phaenomene genügt hier nicht – und auf diesem Wege allein können wir nicht hoffen, die Graphologie zu einer ›Wissenschaft‹ zu machen / […] damit hat man sie nicht wiederholbar und nicht nachprüf bar gemacht – / und d ies ist der Charakter der wissenschaftlichen Erfahrung[.]«111

Auch wenn es sich hier lediglich um Nachlassfragmente handelt, ist es bemerkenswert, dass Cas­si­rer nicht allein an Klages’ Versuch, sondern an der ECW 13, 90. Vgl. ECW 17e, 187 f.; ECN 1a, 23 f. Zu Cas­si­rers Auseinandersetzung mit Klages’ Metaphysik vgl. Fetz (2008), 21 f. 110 Vgl. Klages (1950), 41 f. Zitat aus ebd., 47. 111 ECN 5c, 148. 108

109

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Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)

Möglichkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung des reinen Aus­drucks­ phäno­mens überhaupt Zweifel hegt. Auf das obige Zitat folgt die Passage: »Eine unmittelbare ›wissenschaftliche‹ Erfassung und Beschreibung von Ausdruckserlebnissen ist daher stets nur in beschränktem Maße möglich – / der ›subjektiven‹ Deutung bleibt hier stets ein weiter Spielraum – ja sie scheint das Beste und Eigentliche leisten zu müssen  – die ›Erkenntnis‹ bleibt auf die subjektive ›Intuition‹ beschränkt / […] wir müssen uns damit bescheiden, sie [die subjektive Intuition, Y. H.] zu üben, statt sie zu ›begründen‹ – das λόγον διδόναι [die Rechenschaftsablegung, Y. H.] steht hier, wie es scheint, an einer Grenze«.112

Der hier artikulierte Zweifel an der Möglichkeit einer objektiven Wissenschaft des reinen Ausdruckphänomens als Gefühlsphänomen besitzt eigentlich nichts Überraschendes, da für Cas­si­rer die Gefühlserfahrung an sich subjektiv ist. Wenn Cas­si­rer selbst dem Aus­drucks­phäno­men ausführliche philosophische Untersuchungen widmet – wie etwa in der PsF III und in einer einerseits verkürzten, andererseits aber erweiterten Weise in LKW –, so stellen jene keine wissenschaftliche Behandlung des Aus­drucks­phäno­mens dar, sondern eine philosophisch-kritische. In Cas­si­rers Worten formuliert, gehören sie zur »eingehenden Kritik der Ausdrucksfunktion, einer Kritik, die uns lehrt, in welchem Sinne und wie weit wir ihr trauen dürfen«.113 Im Kantischen Sinne der Kritik erarbeitet Cas­si­rer eine Charakteristik der Ausdrucksfunktion, zugleich prüft und umreißt er ihre Anwendungssphäre.114 Dabei entspricht Cas­si­rers Kritik des Gefühls in wichtigen Punkten der in der KU dargelegten Kritik des Gefühls der Lust bzw. Unlust. Ohne die Feinheiten der Kantischen Klassifizierung der Gefühlsarten unterschlagen zu wollen, können wir die folgende Aussage zum Gefühl der Lust am Schönen als repräsentativ für seine Einschätzung jeglicher Lust- bzw. Unlust­ gefühle erachten: »Es giebt weder eine Wissenschaft des Schönen, sondern nur Kritik, noch schöne Wissenschaft, sondern nur schöne Kunst. Denn was die erstere betrifft, so würde in ihr wissenschaftlich, d. h. durch Beweisgründe ausgemacht werden sollen, ob etwas für schön zu halten sei oder nicht; das Ur­ theil über Schönheit würde also, wenn es zur Wissenschaft gehörte, kein Geschmacksurtheil sein.«115

Ebd. ECN 4e, 197 (Hervorh. Y. H.). Vgl. ebd., 200. 114 Vgl. ebd. 115 KU, 304 f. Vgl. ebd., 231 f. u. 354 f. 112 113



Grundzüge des menschlichen Gefühlslebens 77

Da das Gefühl als solches auf nichts anderes als das Subjektive bezogen ist, kann es keiner regelrechten Wissenschaft, sondern lediglich einer kritischen Prüfung und Eingrenzung unterzogen werden. Davon geht nicht allein Kant, sondern auch Cas­si­rer aus. Sowohl im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte als auch zur Erläuterung seiner eigenen Philosophie hebt Cas­si­rer den Unterschied zwischen der Objektivität der Darstellungs- bzw. Bedeutungsfunktion einerseits und der Subjektivität des Gefühlsphänomens (des Aus­drucks­phäno­mens) andererseits beständig hervor.116 In der PsF III charakterisiert er z. B. das reine Aus­drucks­phäno­men im Vergleich zur sprachlichen Bestimmungskraft – der repräsentativen Kraft der Darstellungsfunktion – folgendermaßen: »Dem reinen Ausdruckserlebnis ist eine derartige Bestimmung fremd: Es lebt im Augenblick und geht in ihm auf.«117 Etwas weiter im Text formuliert er denselben Punkt noch einmal mit anderen Worten: »[…] in der Ebene des sinnlichen Erlebens selbst gibt es keine ›Wiederkunft des Gleichen‹. Jeder sinnliche Eindruck besitzt, rein als solcher, eine ihm eigene, nie wiederkehrende ›Tönung‹ oder ›Färbung‹.«118 Die Unmittelbarkeit des reinen Aus­drucks­phäno­mens geht dabei für Cas­si­ rer mit dem, was er als »Chaos der Affekte«119 bezeichnet, einher. Er meint damit, dass vom Gefühl die Wiederholbarkeit und Nachprüfbarkeit, welche jegliches wissenschaftliche Herangehen fundieren, nun einmal nie und nim Vgl. ECW 11, 280; ECW 12, 42 f.; ECW 13, 353 f. u. 489; ECW 14a, 183, u. 196 f.; ECW 15, 131 f.; ECW 16a, 17 f.; ECW 16f, 260 f.; ECW 21a, 61 f. u. 104 f.; ECW 23, 126 u. 143; LKW, 389 f.; ECN 2, 83 u. 85; ECN 3a, 51; ECN 4f, 257; ECN 6b, 336; ECN 7b, 49. 117 ECW 13, 128. 118 Ebd., 134. 119 ECN 1a, 68. Wenn dieses »Chaos« die begriffliche Unbestimmbarkeit, die reine Subjektivität bzw. die Unwiederholbarkeit der Erfahrung bedeutet, so ist damit nicht die Unordnung der Erfahrung gemeint. Gewiss spricht Cas­si­rer von der mythischen Lichtung des betreffenden »Chaos der Affekte« (ebd.) oder von der sprachlichen Lichtung und Gliederung des »Chaos der unmittelbaren Eindrücke« (ECW 11, 18). Aber die hier zugrunde gelegte Bedeutung des Chaos der sinnlichen Wahrnehmung erschließt sich, wie üblich, nur in relativem Sinne. Denn wie Recki – anhand von Cas­si­rers Verwendung des Begriffs der Repräsentation im Sinne der Grundfunktion aller Wahrnehmung  – bemerkt, hat Cas­si­rers Rede vom Chaos der Affekte bzw. der unmittelbaren Eindrücke »nur provisorischen Sinn« (Recki (2001), 279; Recki (2004a), 61). Einschlägig ist hier außerdem, dass Cas­si­rer mit Uexküll der Meinung ist, selbst die tierische Welt, welche für Cas­si­rer eine rein affektive Welt darstellt, sei fest strukturiert: »Auch die Welt des Tieres lässt sich«, so Cas­si­rer, »nicht, im Sinne eines strikten dogmatischen Sensualismus, als eine blosse ›Rhapsodie von Wahrnehmungen‹ beschreiben. Sie bildet kein Aggregat, sondern ein Gefüge. Sie ist kein blosses Bündel von Sinneseindrücken, sondern weist, in den verschiedenen Funktionskreisen, eine eigentümliche Struktur auf« (ECN 2, 85. Vgl. oben II. 3.1). 116

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Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen (emotionales Phänomen)

mer zu erwarten sind, da es durch die Charakteristik der unwiederholbaren, unbestimmbaren Subjektivität geprägt wird.120 Aber selbst wenn die Gefühlserfahrung per se auf solche Weise rein subjektiv und wissenschaftlich bzw. philosophisch unbestimmbar ist, bleibt Cas­si­rer zufolge die Möglichkeit einer Wissenschaft des Aus­drucks­phäno­ mens bestehen. Denn wie gesehen, setzt Cas­si­rer voraus, dass das Aus­drucks­ phäno­men in der menschlichen Welt durch die objektivierende Symbolisierungskraft gestaltet wird. Das heißt, Cas­si­rer schreibt der Symbolkraft die Vermittlerrolle des subjektiven Gefühls zu. Dieser Gedanke der Vermittlung des Gefühls durch Symbolisierung findet seine Vollendung in LKW. In dieser Schrift betont Cas­si­rer immer wieder, dass in Kulturwerken das Ausdruckshafte ihrer Urheber objektiv symbolisiert wird. Ihm zufolge werden eben aufgrund dieser menschlichen Kraft der symbolischen Objektivierung nicht allein Übertragbarkeit und Mitteilbarkeit, sondern auch Bildung und Erhaltung des Gefühls (bzw. des Subjektiven überhaupt) eines Individuums erst möglich.121 In Anlehnung an August Weismann weist er die Erblichkeit erworbener Eigenschaften in der organischen Welt zurück und fügt mit Blick auf die menschliche Welt an: »Der ›Geist‹ hat geleistet, was dem ›Leben‹ versagt blieb. […] Was die Individuen fühlen, wollen, denken, bleibt nicht in ihnen selbst verschlossen; es objektiviert sich im Werk. Und diese Werke der Sprache, der Dichtung, der bildenden Kunst, der Religion werden zu den ›Monumenten‹, zu den Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der Menschheit.«122

Vor dem Hintergrund dieses Gedankens erblickt Cas­si­rer den spezifischen Zweck der Kulturwissenschaft: Sie lehre uns, »Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen.«123 Da Cas­si­rer das Gefühlsphänomen als rein subjektiv erachtet, impliziert dies, dass auch die Kulturwissenschaft keinesfalls das Leben der Kulturwerke, hier in unserem Zusammenhang die Gefühlserfahrung des Schaffen Gewiss hat Cas­si­rer einmal in einer Anmerkung einer Nachlassschrift  – gegen Carnap – eine gewisse Objektivität des reinen Aus­drucks­phäno­mens behauptet, indem er sich an Goethes Lehre über die ›sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe‹ anlehnt; d. h. die Lehre, der zufolge jede Farbenart einen objektiv bestimmbaren besonderen Eindruck auf die menschliche Gemütsstimmung erzeugt, wodurch »ihr Wesen sowohl dem Auge als Gemüt« offenbart wird (vgl. ECN 2, 137, Anm. 1. Zitat aus Goethe (1991), 282). Aber wie die vorliegende Argumentation zeigt, geht Cas­si­rer im Grunde genommen davon aus, dass das reine Aus­drucks­phäno­men subjektiv bedingt ist. 121 Vgl. LKW, 410 f. 122 LKW, 485. 123 LKW, 435. Vgl. ECN 5c, 153. 120



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den der Kulturwerke, nicht als solche sichtbar machen kann. »Denn«, so Cas­si­rer, »wir, die Aufnehmenden, messen nicht mit den gleichen Maßen, mit denen der Schaffende sein Werk mißt.«124 Mit Bezug auf die Übertragung des Inhalts der Kulturwerke handelt es sich für Cas­si­rer nicht um die bloße Rezeption des Gefühls (bzw. der Innenwelt überhaupt) eines kommunikativen Subjekts, sondern um die Interpretation bzw. aktive Aneignung jenes Gefühls. »Ihr Gehalt besteht«, so Cas­si­rer, »für uns nur dadurch, daß es ständig von neuem angeeignet und dadurch stets aufs neue geschaffen wird.«125 Wenn Cas­si­rer die allgemeine menschliche Tätigkeit als symbolische Tätigkeit versteht, trifft dieses Verständnis auch für das menschliche Gefühl zu; auch die Möglichkeit der Behandlung des menschlichen Gefühls besteht Cas­si­rer gemäß allein im objektivierenden Symbolakt des Geistes. Im Folgenden wollen (und sollen) wir daher die für jede typische symbolische Form (Mythos, Religion und Kunst) und für einen anderen spezifischen Symbolisierungsmodus (nämlich die philosophisch begründete Moral) charakteristische Gestaltungsweise des Gefühls herausarbeiten. Dazu werden noch, sofern möglich, die für jede Symbolisierungsart spezifischen Emotionsarten herausgearbeitet werden. Dabei beginnen wir mit der spezifischen Art des geistesgeschichtlich frühesten Typus des menschlich-symbolischen Bewusstseins, mit dem mythischen Bewusstsein.

LKW, 469. Ebd., 470.

124 125

III.  Mythisches und religiöses Gefühl

1. Mythos und Sprache – gefühlsbezogene und begriffliche ­Symbolisierung 1.1 Symbolische Objektivierung des Gefühls als Hauptfunktion des Mythos 1.1.1 Mythische Objektivierung des Gefühls als vergöttlichende bzw. dämonisierende Externalisierung des Gefühls In diesem Kapitel wird auf die Erläuterung der Charakteristik des mythischen Gefühls einerseits und des religiösen Gefühls andererseits abgezielt. Aber da Cas­si­rer sehr oft Mythos und Religion pauschal – im Sinne weniger des Religiösen, als vielmehr des Mythischen – behandelt, muss zunächst der Grundzug des mythisch-religiösen Gefühls herausgearbeitet werden: Zuerst muss Cas­si­rers Grundgedanke zur Hauptfunktion des Mythisch-Religiösen, d. h. zur Symbolisierung des Gefühlserlebnisses, beleuchtet werden. Die mythische Welt ist ihm zufolge durch die Anerkennung der emotionalen Merkmale strukturiert. »Überall sind es«, so Cas­si­rer zur mythischen Klassenbildung, »bestimmte konkrete Unterscheidungen, insbesondere deren subjektiv-­ gefühlte und affektive Unterschiede, die für die Teilungen und Trennungen, wie für die Verknüpfungen und Zuordnungen der Wahrnehmungs- oder Anschauungsinhalte entscheidend sind.«1

Diesen Zusammenhang erläutert Cas­si­rer auch folgendermaßen: »Wie in unserer Wahrnehmungswelt die Dinge eine andere Farbe erhalten, sobald sie in eine neue Beleuchtung rücken, so ändern in der magisch-mythischen Anschauung die Gegenstände ihr Wesen, wenn sie von einem anderen Strahl des Affekts getroffen werden. […] So sind hier die empirischen Grenzen, die die Sinneswahrnehmung zwischen den einzelnen Gegenständen setzt, zwar nicht aufgehoben – aber sie sind weit flüssiger und flüchtiger, als sie in der rein theoretischen Haltung erscheinen. Jeder innerlich-erfüllte,

1

ECN 7b, 51 (Hervorh. Y. H.).

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Mythisches und religiöses Gefühl

jeder von Hoffnung oder Furcht, von Freude oder Schreck beseelte Moment kann die Gestalt der Dinge ändern […].«2

Eigentlich treffen solche Erklärungen der Weltorganisation bzw. der Gesichtsänderung der Gegenstände vermittelst affektiver Unterschiede nicht allein auf die mythische Welt zu, sondern auch auf die tierische Welt, welche für Cas­si­rer eine rein affektive Welt darstellt. Deshalb ist diesbezüglich wiederholt in aller Deutlichkeit zu betonen, dass die mythische Welt nicht durch die Herrschaft des Gefühls, sondern eigentlich durch die symbolische Objektivierung des Gefühls geprägt wird. Bezüglich der mythischen Gebilde äußert Cas­si­rer: »Sofern der Mythos sich zu bleibenden Gebilden verdichtet, sofern er den festen Umriß einer ›objektiven‹ Welt von Gestalten vor uns hinstellt – so wird doch die Bedeutung dieser Welt für uns erst faßbar, wenn wir die Dynamik des Lebensgefühls verspüren, aus der sie ursprünglich erwächst. Nur wo dieses Lebensgefühl von innen her erregt ist, wo es sich in Liebe und Haß, in Furcht und Hoffnung, in Freude und Trauer äußert, kommt es zu jener Erregung der mythischen Phantasie, die aus ihr eine bestimmte Vorstellungswelt erwachsen läßt.«3

Dabei ist Cas­si­rers Ansicht herauszustreichen, dass das Gefühlsphänomen erst dadurch zum mythisch-symbolischen Gebilde wird, dass es in einem konkreten Zeichen symbolisch objektiviert wird: Diese konkreten Zeichen sind, so Cas­si­rer, die »primären mythischen Gestaltungen«, welche – gleich einem Laut der Sprache – »die Lösung einer inneren Spannung, die Darstellung seelischer Regungen und Erregungen in bestimmten objektiven Bildungen und Gebilden« repräsentieren. 4 Um die moralisch-ethische, reflexive Einstellung gegenüber dem bloßen Affekterlebnis hervorzukehren, schreibt Cas­si­rer zum reinen Gefühlserlebnis: »Ein Gefühl der Trauer, der Angst usf. nimmt ›mich‹ ein; ich bin ihm hingegeben, und in diesem Hingegebensein ist alles andere für mich wie versunken und ausgelöscht.«5 In dem von einer Emotion ergriffenen Bewusstsein kommen nur einige Dinge bzw. einige Seiten der Welterscheinungen zum Vorschein und die übrigen verschwinden jenseits seiner Welt. Ein solches Hingegebensein in Emotionen zeichnet zwar Cas­si­rers Beschreibung des Mythos aus. Doch wie erwähnt, besteht die Charakteristik des Mythos nicht bloß darin, dass er in der emotionalen Welt lebt, ECN 2, 94. Vgl. ebd., 93; ECW 13, 78 f. ECW 12, 85. 4 ECW 16f, 303. 5 ECW 21a, 62. 2 3



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sondern in der »Spontaneität und d[er] innere[n] Freiheit der mythischen Funktion«, 6 d. h. darin, dass er eben diese gefühlsmäßig gegliederte Welt, wenn auch unreflektiert, von sich aus erschafft. »Myth does not«, so Cas­ si­rer in einer späten Nachlassschrift, »reach nor does it aspire to a definite system of concepts. But what it attains is a first order, a ›hierarchy‹ of feelings and emotions […].«7 Dies kann vor dem Hintergrund von Cas­si­rers Anthropologie folgendermaßen formuliert werden: Wenn das Gefüge des affektiven Lebens in der tierischen Welt biologisch-praktisch fest vorherbestimmt ist, schafft der Mensch als geistiges Wesen – unabhängig von biologisch-praktischen Werten – ein symbolisiertes Gefüge. Das menschliche Gefühlsleben, auch das primitivste, d. h. das mythische, wird durch die vom Menschen geschaffenen, symbolischen Vorstellungen organisiert. 8 Diesen Sachverhalt, welcher insbesondere in den Spätschriften wiederholt hervorgehoben wird, formuliert Cas­si­rer z. B. folgendermaßen: »The social atmosphere surrounds him [primitive man, Y. H.] from all sides. […] It is the source of the most powerful emotions. / Myth is the expression of these emotions. They are objectified by the myth-making function; they are projected to the outward world. By this process they change their nature; they are no longer mere feelings, they become ›images‹. But these images have, to the primitive mind, a full objective validity.«9

Solch eine symbolische Objektivierung bzw. Externalisierung des Gefühls wird von Cas­si­rer vor allem als objektivierende Hineinlegung eines Gefühls in ein dämonisches oder göttliches Gebilde verstanden. In Anlehnung an die Formulierung Hermann Useners (aus Götternamen10) nennt Cas­si­rer die frühesten Bilder solcher Art, d. h. die »ersten und primitivsten Gebilde[-] des Mythos«,11 Augenblicksgötter – welche Cas­si­rers konkreten Beispielen zufolge »Elementargeister, die den Wald bevölkern«, wie z. B. »Waldmänner und Waldfrauen«, »Alben und Elbinnen«, »Baum- und Windgeister«, sind.12 Wesentlich sei in solchen Augenblicksgöttern die Personifika ECW 11, 18. ECN 6c, 431. Vgl. ECW 25, 47.   8 Vgl. ECW 23, 30.   9 ECN 9f, 196. Vgl. ECW 12, 85; ECW 13, 120; ECW 25, 47 f.; ECN 1a, 67 f.; ECN 6b, 294; ECN 7f, 165. 10 Wie Cas­si­rers Formgedanke nahelegt, ist für ihn Useners Versuch weniger in seinen Einzelheiten, als vielmehr in seiner methodologischen Grundform wichtig (vgl. ECW 16f, 244 f.; ECN 6a, 28). 11 ECN 1a, 68. Vgl. ECW 12, 236. 12 ECW 12, 237. In »Sprache und Mythos« zitiert Cas­si­rer Useners Aussage, der zufolge nicht nur ein beliebiger Gegenstand, sondern auch ein beliebiger Begriff – wie Ver  6   7

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tion bzw. die »Objektivationen einzelner Eindrücke«;13 »[d]ie Gegenwart des Affekts schafft die Gegenwart des Gottes« ,14 d. h. den Augenblicksgott. Noch konkreter heißt es: »[…] wenn das äußere Sein nicht einfach betrachtet und angeschaut wird, sondern wenn es den Menschen jählings und unvermittelt, im Affekt der Furcht oder Hoffnung, im Affekt des Schreckens oder des befriedigten und gelösten Wunsches, überfällt, dann springt gewissermaßen der Funke über: Die Spannung löst sich, indem die subjektive Erregung sich objektiviert, indem sie als Gott oder Dämon vor den Menschen hintritt. Hier stehen wir vor jenem mythisch-religiösen Urphänomen, das Usener durch den Begriff und den Ausdruck des ›Augenblicksgottes‹ festzuhalten versucht hat.«15

Das menschliche Bewusstsein hat, geistesgeschichtlich betrachtet, also erst in der Bildung der Augenblicksgötter das reine Aus­drucks­phäno­men zu konkreten, bestandhaften und dauerhaften Gebilden gebracht. 16 Wichtig ist hierbei Cas­si­rers Ansicht, die mythischen Gebilde wirkten als äußere selbständige Existenz auf das mythische Bewusstsein zurück. Anders formuliert: Diesem Bewusstsein erscheint sein spontanes Erzeugnis gar nicht als solches, sondern als ein von ihm gänzlich unabhängiges, selbständiges Wesen, als äußere autonome Macht.17 Aus diesem Gedanken ist zu schließen, dass ein Augenblicksgott, ein mit einer bestimmten Emotionslage geladenes Gebilde, seinerseits jene spezifische Emotionslage beim mythischen Bewusstsein rückwirkend erregt. In der frühesten Stufe der mythischen Götterbildung bzw. Dämonisierung schafft der Mensch auf solche Weise die Struktur des mythischen Weltbildes bzw. des mythischen affektiven Lebens. Die Schaffung einer solchen Gefühlswelt  – der Welt der imaginären Emotionen (»imaginary emotions«18) – basiert auf der Hauptfunktion des Mythos, d. h. auf der Funktion der symbolischen Objektivierung des Gefühlserlebnisses. Wir sahen gerade diesen Sachverhalt im Anschluss an Cas­ si­rers Erklärung der Augenblicksgötter als mythisch-religiöses Urphänomen stand und Vernunft, Reichtum usw. – auch zu einem Augenblicksgott erhoben werden kann (vgl. ECW 16f, 22). Dennoch wollen wir hier von solch einer Aussage Useners absehen. Denn Begriffe wie Verstand, Vernunft oder Reichtum müssen Cas­si­rers Grundansicht nach als begriffliche Konzepte, die nicht mit der Ausdrucksfunktion, sondern mit der Darstellungsfunktion zusammenhängen, verstanden werden. 13 ECW 12, 236. 14 ECN 2, 94. 15 ECW 16f, 257. Vgl. ebd., 241 f. u. 259; ECW 12, 235 f. 16 Vgl. ECW 16f, 259; ECN 1a, 68. 17 Vgl. ECW 16e, 193; ECW 16f, 278 f.; ECW 19, 14 f. 18 ECW 23, 30.



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bzw. als die frühesten und primitivsten Gebilde des Mythos. Nichtsdestotrotz erkennt Cas­si­rer eigentlich ein noch tieferes, früheres Phänomen des Mythos als die früheste Bildung der Götter bzw. Dämonen; ein eigentliches Urphänomen des Mythos, welches jener Bildung »vorausliegt«.19 Infolgedessen müssen wir nun mit Cas­si­rer weiter diese mythische eigentliche Urschicht untersuchen. 1.1.2 Das Staunen als früheste symbolische Objektivierung des Gefühls Das mythische Phänomen, welches wir bei Cas­si­rer als das eigentliche Urphänomen des Mythos verstehen können und müssen, ist die Bildung der mythischen Vorstellungen bzw. Begriffe wie Mana bei den Melanesiern, Orenda bei den Irokesen und Wakanda bei den Sioux und Manitu bei den Algonkin usw. Cas­si­rer zufolge ist der Augenblicksgott zwar nicht die »Personifikation allgemeiner Naturkräfte«, 20 so doch bereits eine Personifikation eines einzelnen emotionserregenden Eindrucks.21 Hingegen bedeuten die frühesten mythischen Vorstellungen wie Mana, Orenda usw. keine Personifikationen, sondern sie bezeichnen lediglich eine gänzlich unpersönliche und anonyme, d. h. nicht animistische Kraft.22 Diese Vorstellungen sind, so Cas­si­rer, »der Begriff und die Anschauung der gesteigerten, über alle bloß ›natürlichen‹ Grenzen hinausgehenden Wirksam keit sch lechthin«.23 Diesbezüglich sagt Cas­si­rer: Am Beginn der mythischen Welt »scheinen durchweg Bildungen zu stehen, die noch ohne feste Begrenzung und Individualisierung sind. Solche Bildungen […] sind nicht selbst Dämonen, sondern gleichsam Bezeichnungen für das Dämonische überhaupt – für das Verehrungswürdige oder Furchtbare, das Schreckhafte, das Übermächtige, das Gefahr- und Unheildrohende, das Fremdartige und Unheimliche schlechthin.«24

Cas­si­rer gibt hierfür ein konkretes Beispiel anhand des Manitu der Algonkin:

Vgl. ECW 16f, 288 f. Zitat aus ebd., 288. ECW 12, 236. 21 »[…] der Augenblicksgott ist«, so Cas­si­rer, »bei all seiner Flüchtigkeit doch immer schon eine individuelle, eine persönliche Gestalt […]« (ECW 16f, 288). 22 Vgl. ECW 12, 90 f. u. 185 f.; ECW 16f, 281 f.; ECN 1a, 69. 23 ECW 12, 185. 24 ECN 1a, 69. 19

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Es wird »insbesondere von dem Manitu der Algonkin berichtet, daß der Ausdruck überall angewandt wird, wo die Vorstellung und die Einbildungskraft durch irgend etwas Neues, Außergewöhnliches erregt wird: Wird etwa beim Fischen zum erstenmal eine bisher unbekannte Fischart gefangen, so stellt sich für sie alsbald der Ausdruck des ›Manitu‹ ein […].«25

Ein Ausdruck wie Mana, Manitu usw. tritt nicht allein bei der Begegnung mit einer neuen Fischart, sondern auch bei jener mit englischen Schiffen, großen Gebäuden, Pflügen des Feldes, Büchern, Briefen, Regenbogen usw. auf. 26 Denn er ist nicht an einen bestimmten Gegenstand bzw. Vorgang, sondern an den bestimmten Eindruck, den »Eindruck des Außerordent­ lichen, des Ungewöhnlichen, des ›Ungemeinen‹ überhaupt«, 27 d. h. an die Emotion des Staunens gebunden. Zu Mana und Tabu – dem mythischen Verbot28 – schreibt Cas­si­rer: »In beiden Begriffen handelt es sich in der Tat sozusagen um primäre Interjektionen des mythischen Bewußtseins. Sie haben noch keine selbständige Bedeutungs- und Darstellungsfunktion, sondern sie gleichen einfachen Erregungslauten des mythischen Affekts. Sie bezeichnen jenes Staunen, jenes Θαυμάζειν, mit dem ebensowohl der Mythos wie die wissenschaftliche Erkenntnis und die ›Philosophie‹ anhebt. Indem der bloße tierische Schrecken zum Staunen wird, das sich in doppelter Richtung bewegt, das aus entgegengesetzten Zügen, aus Furcht und Hoffnung, aus Scheu und Bewunderung gemischt ist, indem auf diese Weise die sinnliche Erregung zum erstenmal einen Ausweg und einen Ausdruck sucht, steht der Mensch damit an der Schwelle einer neuen Geistigkeit.«29

Das Staunen ist also die ursprüngliche und erste Emotion, die der Mensch zum symbolischen Ausdruck brachte, d. h. symbolisch externalisierte. Mana, Tabu, Manitu, Orenda usw. sind die frühesten Resultate bzw. sozusagen die Urprodukte der Objektivierung des Gefühls bzw. der Emotionen. Der Grund für solch eine Sonderstellung des Staunens liegt aller Wahrscheinlichkeit nach darin, dass Cas­si­rer gemeinsam mit Platon im Staunen, ECW 12, 93, Anm. 7. Vgl. ECW 16f, 288. Vgl. ECW 12, 93, Anm. 7.; ECW 16f, 288, Anm. 84. 27 ECW 12, 92. Vgl. ECW 16f, 288. 28 Cas­si­rer beschreibt einmal Tabu als die dem Mana »negativ entsprechende Vorstellung« (ECW 12, 92). Aber da die Mana-Vorstellung Cas­si­rers Ansicht nach, wie sich sogleich zeigen wird, sowohl aus Hoffnung als auch aus Furcht besteht, kann man solch eine Entgegensetzung von Mana und Tabu nicht leicht akzeptieren. Um der Konsequenz willen wäre es besser zu sagen, dass die Tabu-Vorstellung der negativen Seite von Mana entspricht. 29 ECW 12, 93 (kursive Hervorh. Y. H.). Vgl. ECW 16f, 281 f. 25

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im Θαυμάζειν den »eigentlich philosophische[n] Affekt«, 30 d. h. nicht so sehr das Gefühlsmäßige, als vielmehr das Intellektuelle sah. Erst aufgrund dessen lässt sich gut verstehen, warum Cas­si­rer im obigen Zitat dem Staunen die Kraft zur Anhebung der Wissenschaft sowie der Philosophie zuweist und warum er in einer anderen Schrift das Staunen nicht lediglich als »das mythische ›Staunen‹«,31 sondern als das »mythisch-philosophische ›Staunen‹«32 bezeichnet. Das Staunen bringt – Cas­si­rers Verwendung des Begriffs zufolge – die »Warum-Frage« und die »Welt›erklärung‹« mit sich und führt anschließend zum philosophischen Gedanken.33 Wenn der Mythos in sich »die ersten Anfänge und Versuche einer Erkenntnis der Welt«34 birgt, werden solche Versuche erst durch das Staunen ausgelöst. Die frühesten mythischen Begriffe wie Mana, Manitu usw. sind also bei Cas­ si­rer objektivierte, symbolisierte Zeugen der entwicklungsgeschichtlichen Auslösungsphase des mythischen Weltinterpretierens. Die Sonderstellung des Staunens als Emotionsart kann auch noch unter einem anderen Aspekt beleuchtet werden, wenn wir ins Auge fassen, dass Cas­si­rer das Staunen als eine Gefühlslage darstellt, welche »aus entgegengesetzten Zügen, aus Furcht und Hoffnung, aus Scheu und Bewunderung gemischt ist«, 35 d. h. dass das Staunen für Cas­si­rer nicht eine eindeutige Emotionsart bedeutet. In einem späteren Vorlesungstext benennt Cas­si­rer sechs fundamentale Emotionen des Menschen (the »fundamental emotions of man«); Furcht (fear), Angst (terror), Sorge (anxiety), Liebe (love), Hass (hate) und Wohltätigkeit (charity).36 Anhand einer solchen – im Vorbeigehen gegebenen – Aufzählung der fundamentalen Emotionen wollen wir keinesfalls behaupten, dass Cas­si­rer diese sechs Emotionen sozusagen als primäre bzw. Basisemotionen feststellen möchte. In ihnen dürfen wir hingegen allein eine Grundrichtung dessen, was Cas­si­rer unter den fundamentalen Emotionen versteht, erblicken: Das Staunen kann keineswegs im gleichen Rahmen der fundamentalen Emotionen behandelt werden, da es aus diesen LKW, 357. Vgl. ECN 1b, 127. Vgl. außerdem den folgenden Satz Platons: »[…] dies ist der Zustand eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes, das Erstaunen; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie […]« (Platon (1994), 170 (155d)). 31 ECW 16f, 283; ECN 2, 92. 32 ECN 2, 87. 33 Vgl. ebd., 87 f. Zitat aus ebd., 87. Vgl. noch ECW 16g, 320. Aber daraus ist freilich nicht zu schließen, dass die mythische und die philosophische Welterklärung für Cas­si­rer von der gleichen Art wären. Die mythische Erklärung sei bloß die Erzählung des Weltgrundes und des Werdens, während die philosophische Erklärung des Griechen auf das Schauen des ewigen Bestands abziele (vgl. ECW 16g, 320 f. u. 459 f.). 34 ECW 16e, 191. 35 ECW 12, 93. 36 Vgl. ECN 6c, 431. 30

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Emotionen komponiert ist. Das Staunen enthält sowohl die positive als auch die negative Emotionsrichtung. Dies scheint anzudeuten, dass der Cas­si­ rersche Begriff des Staunens – auch wenn von seiner Implikation des Intellektuellen abgesehen wird – bereits eine menschenspezifische Gefühlslage konnotiert. Denn die Mischung der positiven wie der negativen Emotionsrichtung impliziert zugleich die Unbestimmtheit einer Emotionsrichtung. Demzufolge können wir den oben dargestellten Übergang vom tierischen Schrecken zum menschlichen Staunen als jenen vom tierischen, richtungsbestimmten Gefühl – hier der bloßen Abneigung wie bei der Angst bzw. der Furcht – zum menschenspezifischen, richtungsunbestimmten Gefühl interpretieren. Anders formuliert: In der menschenspezifischen Emotion des Staunens wird der Mensch sich von der biologischen Bestimmtheit der Emotionsrichtungen – m. a. W. von der organisch bestimmten Struktur des Hingezogen- und Abgestoßenwerden des Leib-Seelischen – zu befreien wissen. Infolgedessen kann das mythische Staunen als das Befreiungsmoment von der biologischen Bedingtheit des Gefühls sowie als der Geburtsmoment der symbolischen Objektivierung des Gefühlserlebens und der menschlichintellektuellen Tätigkeit ausgedrückt werden. 1.2 Sprache und Gefühl 1.2.1  Verschlungenheit von Mythos und Sprache Das hiesige Hauptanliegen ist die Untersuchung der Hauptfunktion des Mythos. Aber dafür können wir der Analyse der sprachlichen Funktion nicht entkommen. Denn laut Cas­si­rer stehen Sprache und Mythos im »ständigen Zusammen- und Ineinanderwirken«.37 In den auf Englisch gefassten Spätwerken formuliert Cas­si­rer die zwei Arten der Sprache als die emotionale Sprache (emotional language) und die propositionale oder begriffliche Sprache (propositional or conceptual language). Im EM lautet es: »Language has often been identified with reason, or with the very source of reason. But it is easy to see that this definition fails to cover the whole field. […] For side by side with conceptual language there is an emotional language; side by side with logical or scientific language there is a language of poetic imagination. Primarily language does not express thoughts or ideas, but feelings and affections.«38 37

ECW 16f, 310. ECW 23, 30. Vgl. ECW 17g, 262 f.

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Anhand dieser Beschreibung scheint Cas­si­rer die primäre, emotionale Sprache mit der ästhetischen, künstlerischen Sprache zu identifizieren. Aber wir täten entgegen einer solchen Formulierung Cas­si­rers besser daran, davon auszugehen, dass er hierbei nur sagen möchte, die Sprache enthalte nicht allein ein logisches, sondern auch ein dem Menschen und dem Tier gemeinsames emotionales Moment, welches für die Dichtkunst unentbehrlich sei. Denn im Grunde genommen versteht Cas­si­rer unter der emotionalen Sprache den passiven, tierischen Ausdruck des Gefühls. Dies wird offensichtlich, wenn Cas­si­rer allein der propositionalen Sprache das dem Menschen Spezifische zuschreibt. »The difference between propositional language and emotional language is«, so heißt es im EM, »the real landmark between the human and the animal world.«39 Aufgrund dieses Gedankens beschreibt er an der einen oder anderen Stelle die emotionale Sprache als einen tierischen Emotionsausdruck, gleich einem Schrei. 40 Kurz, die Funktion der emotionalen Sprache (emotional language) ist in unserer Terminologie als vorkulturelle, organische Funktion, d. h. als reine Ausdrucksfunktion zu verstehen. Da die emotionale Sprache die reine, organische Ausdrucksfunktion und die propositionale Sprache die Darstellungsfunktion als begrifflich-logische Funktion bedeutet, drängt sich eine Frage auf: Konzipierte Cas­si­rer nicht die symbolische Objektivierung des Gefühlsphänomens mittels der Sprache? Diese Objektivierung wird zwar nicht in der direkten Analyse der Sprache selbst, doch in jener des Mythos mitbehandelt. 41 Dies ist keinesfalls überraschend, da Sprache in allen anderen symbolischen Formen ubiquitär ist, zumal Sprache und Mythos in ihrem Ursprung als Zwillinge betrachtet werden. »Language and myth are«, so Cas­si­rer, »near of kin. In the early stages of human culture their relation is so close and their cooperation so obvious that it is almost impossible to separate the one from the other. They are two different shoots from one and the same root. Whenever we find man we find him in possession of the faculty of speech and under the influence of the myth-making function. […] / […] for the primitive mind myth and language are, as it were, twin brothers.«42 ECW 23, 34 f. Vgl. ebd., 124 f. Vgl. ebd., 34 f.; ECN 7e, 143 f.; ECN7f, 171 f. 41 Cas­si­rer bezeichnet daher die sprachliche Objektivierung der Emotionen als magische Funktion der Sprache (vgl. unten S. 189 f.). 42 ECW 23, 119 f. Vgl. ECW 16f, 302 f. Dazu behauptet Cas­si­rer noch die ursprünglich korrelierte Trias von Mythos, Sprache und Kunst (vgl. ECW 16f, 310; ECW 23, 119; ECN 1a, 87 f.). Allerdings lässt er uns nicht verstehen, wie Kunst in der frühesten Phase, d. h. in 39

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Selbst wenn Cas­si­rer das »Grundphänomen alles Sprechens« im »Phäno­ men des Satzes«, 43 d. h. im propositionalen, begrifflichen Charakter erblickt, ist daraus nicht zu schlussfolgern, dass die Sprache die Symbolisierung des Gefühls nicht kennt. Die affektive Erregung könne, so Cas­si­rer z. B. hinsichtlich der Augenblicksgötter  – der frühesten konkreten Objektivierung der Gefühlserfahrung –, ihre Gestalt und Dauer sowohl »im mythischen Bild«, »im Gebilde des Mythos« als auch »im Wort«, »im Gebilde der Sprache« gewinnen. 44 Wenn die Sprache auf solche Weise nicht allein die Darstellungsfunktion, sondern auch die symbolische Objektivierung bzw. Verdichtung des Gefühlserlebnisses kennt, fehlt auch dem Mythos, dessen Charakteristik durch jene symbolische Objektivierung geprägt wird, nicht gänzlich die Darstellungsfunktion. Cas­si­rer sagt hinsichtlich der frühesten mythischen Vorstellungen wie Mana, Manitu usw., dass sie nicht »die Möglichkeit der sprachlichen Bestimmung« kennt, d. h. noch vor »der sprachlichen Bestimmung« steht.45 Nichtsdestotrotz ist Cas­si­rer im Grunde genommen der Ansicht, dass der Mythos bereits, wenngleich sehr karg, die sprachliche Darstellungsfunktion kennt: Jede »noch so primitive sprachliche Erscheinung enthält«, so Cas­si­rer, »schon die ganze Sprache in sich, weil sie die Funktion des ›Bedeutens‹ und ›Meinens‹ in sich schließt.«46 Eine Beschreibung in einem nachgelassenen Manuskript zeigt zudem sogar Cas­si­rers Versuch, im Mythos alle drei symbolischen Funktionen zu finden. Dort heißt es: »Der Mythos als Gesamterscheinung umfasst schon die drei Dimensionen von Ausdruck, Darstellung u. Bedeutung – / Zum letzteren: es giebt auch ›abstrakte Mythen‹ /  – die römischen ›Sondergötter‹ abstrakter Art[,] Götter der ›Gelegenheit‹ etc.[,] […]«. 47

Selbstverständlich muss man sich davor hüten, allein aufgrund dieses nachgelassenen Vermerks Cas­si­rers allgemeine Definition der Bedeutungsfunktion als eine rein logisch-mathematische Funktion zu bezweifeln. Wichtig ist uns hingegen, allein Folgendes zu bestätigen: Dass die Hauptfunktion des der mythischen Phase, aussieht. Übrigens, mit Blick auf die betreffende Trias von Mythos, Sprache und Kunst referiert Cas­si­rer auf Giambattista Vico (vgl. ECW 12, 4; ECW 16e, 168). Hierzu macht Donald Phillip Verene darauf aufmerksam, dass Vico eine solche Formulierung nirgends zum Ausdruck bringt, wenngleich sie im Prinzip in Vicos Gedanken gefunden werden kann (vgl. Verene (2011), 33). 43 LKW, 457. 44 ECW 16f, 259. Vgl. ebd., 277; LKW, 435. 45 ECW 16f, 296. Vgl. ECW 12, 92 f. 46 LKW, 458. 47 ECN 1c, 234.



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Mythos die symbolische Verdichtung der Gefühlserfahrung ist, besagt nicht, dass er ausschließlich diese Funktion inne hat, sondern lediglich, dass »der Nachdruck, der Accent« im Mythos »auf der Ausdrukssphaere« liegt. 48 Da für Cas­si­rer Sprache, oder genauer, ihre begriffliche Darstellungsfunktion nichts anderes als ein »Vehikel des intellektuellen Fortschritts«49 bzw. ein »Vehikel des Denkens«50 ist, können wir auch die Anwesenheit jener Funktion im Mythos unter Bezugnahme auf den Begriff des Intellektuellen beleuchten. Das mythische Denken sei, so Cas­si­rer, gewiss anders als das logisch-wissenschaftliche, aber es fasse neben den »Antrieben der Phantasie oder des bloßen Affekts« »ganz bestimmte intellektuelle Momente in sich«.51 Mit Bezug auf das Kausalprinzip des Mythos schreibt Cas­si­rer: Für das Denken der Naturvölker ist z. B. »ein Unglück, das über das Land hineinbricht, eine Verletzung, die sich ein Mensch zuzieht, so sind Krankheit und Tod niemals ›zufällige‹ Ereignisse, sondern sie gehen stets auf magische Einwirkungen als ihre eigentlichen Ursachen zurück.«52

Der Ablauf der Welt sowie die Entwicklung jedes Lebewesens ist – laut Cas­si­rers Verständnis des allgemeinen Charakters der mythischen Erklärung – unveränderlich bestimmt, d. h. nichts anderes als Schicksal.53 Es versteht sich von selbst, dass es eines Intellekts, d. h. einer gewissen sprachlichen Darstellungsfunktion bedarf, um ein solch schicksalhaftes, notwendiges Kausalprinzip zu erklären. Die Anteilnahme der sprachlich-begrifflichen Erklärungs- bzw. Darstellungsfunktion am Mythos wird in Cas­si­rers Beschreibung der Entwicklung der mythischen Erzählweise deutlicher; d. h. in jener der Entwicklung vom Kult der Helden bzw. der Ahnen über die Mythenmärchen bzw. Sagen hin zum Epos. Im Verlauf dieser Entwicklung fingen laut Cas­si­rer mythische Götter bzw. Dämonen an, sich in der Zeit zu bewegen. Anders gesagt, beginne der Mythos, ein geschichtliches Bewusstsein zu entwickeln. Der Kult der Helden und jener der heroischen Ahnen seien im Wesentlichen noch an die reine Gegenwart, an die jetzige Kulthandlung gebunden. Der Kult, dieser rein gegenwärtige Akt, werde erst durch die Bildung des zeitlichen Elements zu einem Mythenmärchen, zu einer Sage oder zu einer Göttergeschichte bzw. Göttererzählung. 54 Solche Märchen und Ebd. ECW 11, 268. 50 ECW 16f, 310. 51 ECW 16b, 96. Vgl. ECW 23, 89; ECW 25, 11 f. u. 278. 52 ECW 12, 59. 53 Vgl. ebd., 59 f.; ECN 6a, 42; ECN 9f, 217. 54 Vgl. u. a. ECN 1a, 83 f. Vgl. außerdem ECW 12, 123 f.; ECN 2, 87 f. 48 49

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Sagen schlossen eine Form in sich ein, »die letzten Endes aus der Grundform des ›Sagens‹, der sprachlichen Darstellung selbst quillt«.55 Auf diese Weise überschreite der Mensch, so Cas­si­rer weiter, im Prozess der Entwicklung des mythischen Bewusstseins den mythischen Kreis und gelange »unvermerkt in eine neue geistige Ebene«. Denn es sei nun »die Sprache, die an diesem Prozess der ›Theogonie‹ entscheidenden Anteil ha[be].«56 Je weiter sich der Mythos entwickelt, umso mehr tritt die Kraft des Logos, die Darstellungsfunktion hervor. So erschließt sich langsam der Weg zur Religion, zur Kunst, zur Geschichte, zur Wissenschaft usw. In der Gestaltung der mythischen Welt sind, so kann nun festgestellt werden, nicht allein die symbolische Verdichtung des Gefühlserlebnisses, sondern auch die begriffliche Darstellungsfunktion tätig. Dabei ist weiterhin nicht zu vergessen, dass im Mythos überwiegend die Ausdrucksfunktion waltet. »Myth and primitive religion are«, so Cas­si­rer, »by no means entirely incoherent, they are not bereft of sense or reason. But their coherence depends much more upon unity of feeling than upon logical rules.«57 1.2.2  Sprachliche Darstellungsfunktion und Gefühl Vor der direkten Inangriffnahme des mythisch-religiösen Gefühls ist es zum Schluss dieses Unterkapitels zum Verhältnis von Sprache und Gefühl nicht belanglos, einen Blick auf die Einwirkung der sprachlichen Darstellungsfunktion auf das Gefühl zu werfen. Die Analyse einer solchen Einwirkung ist für das Interesse der vorliegenden Arbeit gar so bedeutsam, dass sie eigentlich ein selbständiges Kapitel der Arbeit bilden sollte. Doch wegen der Knappheit und der ungenügenden Ausführlichkeit der einschlägigen Erklärung Cas­si­rers müssen wir uns mit einem kurzen Hinweis auf die Modifizierung des Emotionscharakters mittels der begrifflichen bzw. Darstellungsfunktion der Sprache begnügen. Um die Kraft der sprachlichen Darstellungsfunktion zu betonen, bemerkt Cas­si­rer einmal in LKW: »Alles Denken muß die Probe der Sprache bestehen; und selbst die Kraft und die Tiefe des Gefühls beweist und bewährt sich erst im Ausdruck des Gefühls.«58 Damit wird angedeutet, dass das innere Gefühl erst dadurch zum eigentlichen Besitz des menschlichen Bewusstseins wird, dass der Mensch es im sprachlich-begrifflichen ECN 1a, 88 (Hervorh. Y. H.). Ebd., 69. Vgl. ECW 13, 120. 57 ECW 23, 89. Vgl. ECW 25, 39; ECN 6c, 501 f. 58 LKW, 411. 55

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Ausdruck zu fassen weiß. An der betreffenden Stelle schreibt Cas­si­rer bezüglich der Vertiefung bzw. Verstärkung der Kraft des Gefühls vermittels der sprachlichen Darstellungsfunktion nur jenen einzigen Satz. Allerdings erklärt Cas­si­rer in einer anderen Schrift diesen Zusammenhang etwas ausführlicher: »Die ersten lautlichen Ausdrücke stehen«, so Cas­si­rer, »noch ganz im Zeichen des Affekts. Sie werden durch eine Einwirkung hervorgerufen, die der Organismus durch irgend einen äußeren Reiz erfährt, und sie drücken unmittelbar die Erschütterung aus, in die er durch diesen Reiz versetzt wird. Der Affekt entlädt sich im Schrei, im Schmerz- oder Jubellaut; aber bleibt, indem er in dieser Weise nach außen dringt, zunächst in seinem eigenen Wesen noch unverändert. […] Dies aber scheint in eben dem Moment anders zu werden, als sich die Sprache selbst zu ihrer höchsten geistigen Form erhebt: – als sie vom Stadium der bloßen ›Kundgabe‹ in das Stadium der ›Aussage‹, der eigentlichen ›Darstellung‹ übergeht. Denn der sprachlich aufgefaßte und dargestellte Affekt ist schon nicht mehr das, was er anfangs war; er hat, im Medium der Darstellung, gewissermaßen eine Metamorphose und eine Metempsychose erfahren.«59

Indem man sein Gefühl im Begriff zum Ausdruck bringt, d. h. für das Gefühl einen Namen findet, wird man sich der sprachlich-objektiven Bedeutung dieses Gefühls bewusst. Der Mensch sieht bzw. empfindet damit sein Gefühl nun aus der Perspektive jener objektiven Bedeutung heraus. 60 Anhand dieser – sozusagen objektiven – Betrachtung des eigenen Gefühls erlangt man die Möglichkeit, das Gefühl zu beherrschen. Hierzu erzählt Cas­si­rer – wenngleich in einer Anmerkung – eine für ihn untypische, nämlich persönliche Beobachtung, in welcher es um ein Kind geht, das beim Anblick eines Unbekannten unausweichlich Angst bekommt. Auf diese Angst habe, so Cas­si­rer, die Aussage der Erwachsenen, es brauche keine Angst davor zu haben, keinen Effekt. »Dies wurde jedoch anders«, so berichtet Cas­si­rer weiter, »als das Kind […] selbständig zu sprechen begann. Beim Anblick eines Unbekannten begann es jetzt jedesmal sich selbst die Worte ›keine Angst‹ wiederholt vorzusagen: – und hierdurch war es sichtlich der Situation Herr geworden. Der Ausspruch dieser Worte wirkte deutlich als eine Art von ›Zuspruch‹, durch den das Kind dem unmittelbaren Ausbruch des Affekts zu wehren und sich nach kurzer Zeit völlig zu beruhigen vermochte.« 61 Cas­si­rer (1995), 134  f. Vgl. ECN 6b, 335 f. 61 Cas­si­rer (1995), 136, Anm. 11. 59

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Die Darstellungsfunktion besitzt eine der Ausdrucksfunktion fremde Freiheit, aufgrund derer das Gefühlte bewusst geändert werden kann. Die Gewalt der Affekte soll, so Cas­si­rer in Anlehnung an Sokrates’ und Platons ethische Grundansicht, »dadurch beschränkt werden, daß der Affekt genötigt wird, sich selbst auszusprechen und sich damit dem Gericht der Sprache zu unterstellen.«62 Die »Wandlung und ›Umstimmung‹«63 des Charakters des Gefühls vermittels der rationalen Kraft der sprachlichen Darstellungsfunktion ist für Cas­si­rer daher nichts anderes als eine ethische Einwirkung des Symbolisch-Kulturellen auf das Gefühl. 2. Bildung des mythisch-religiösen Kulturgefühls 2.1 Verteilung der Akzente des Heiligen und des Profanen Wie festgehalten, liegt das Wesen des Mythos (bzw. des Mythisch-Religiö­ sen) darin, dass er eine Ordnung des affektiven Lebens erschafft – d. h. eine Weltordnung, in welcher ein bestimmter Gegenstand – als ein bestimmtes Symbolzeichen – eine bestimmte Emotion erweckt. Cas­si­rer macht die mythisch-religiöse Organisierung des Gefühls am Beispiel der Gegenüberstellung des Heiligen und des Profanen, d. h. am Beispiel eines Grundcharakters des Mythos, deutlich. Nachfolgend wird anhand dieses Beispiels der universelle fundamentale Zug der mythisch-religiösen Organisation des emotionalen Lebens dargelegt. Der Mythos erweist sich, so Cas­si­rer in der PsF II, »als form- und sinngebend, indem er das Einerlei und die Gleichartigkeit der Bewußtseins­ inhalte unterbricht – indem er in dieses Einerlei bestimmte Unterschiede der ›Wertigkeit‹ hineinlegt«. 64 Sofern man hierbei Cas­si­rers Ansicht, es gebe feste Unterschiede der Wertigkeit auch in der tierischen Welt, folgt, ist diese Aussage folgendermaßen umzudeuten: Statt des biologisch Bedeut­ samen, statt der biologisch-praktischen Werte, treten das »mythisch-religiös ›Bedeutsame[-]‹«65 bzw. die mythischen Symbolwerte in der frühesten Phase des menschlichen Bewusstseins hervor. Mit Bezug auf Begriffs- und Klassenbildung im mythischen Denken, welche sich in den im mittleren und südlichen Afrika gesprochenen Sprachen (Bantusprachen) und in den meisten amerikanischen Sprachen findet, schreibt Cas­si­rer: Ebd., 138. Ebd., 136, Anm. 11. 64 ECW 12, 89. 65 ECW 16f, 302. 62 63



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»Die Klassen der Nomina sind ebenso ursprünglich Wertklassen, als sie Sachklassen sind: Es prägt sich in ihnen nicht sowohl die objektive Beschaffenheit des Gegenstandes als die gefühlsmäßige und affektive Stellung, die das Ich ihm gegenüber einnimmt, aus. […] Es ist eine bekannte Erscheinung, daß ein und derselbe Gegenstand je nach der Bedeutung, die er besitzt, und je nach dem Wert, der ihm zugemessen wird, bald der Personenklasse, bald der Sachenklasse zugeordnet werden kann. Nicht nur wechselt in amerikanischen und afrikanischen Sprachen der Ausdruck für eine bestimmte Tierart seine Klasse, wenn das Tier in der mythischen Erzählung als persönliches, selbständig handelndes Wesen auftritt, sondern die gleiche Wandlung vollzieht sich auch, wenn ein Gegenstand durch irgendein besonderes Wertmerkmal, insbesondere durch seine Größe und seine Bedeutsamkeit, aus der Gesamtheit der übrigen herausgehoben erscheint.«66

Diese Passage beschreibt zwar den Grundcharakter der mythischen Klassenbildung. Aber Cas­si­rer zufolge ist die grundlegendste mythische Klasseneinteilung nicht jene Unterteilung in Personenklasse und Sachenklasse, sondern die Abgrenzung des Heiligen vom nicht-Heiligen – die mythische »primäre Teilung«, durch welche alle »abgeleiteten und mittelbaren Formen der mythischen Weltauffassung« »irgendwie mitbedingt« bleiben. 67 Aufgrund dieser grundlegendsten Klassenbildung des Mythos können wir in anthropologischer Hinsicht Cas­si­rers Verständnis des Grundzugs des mythischen Gefühls folgendermaßen beschreiben: Das organische Gefühl, das biologisch bedingte Hingezogen- und Abgestoßenwerden wird im menschlich frühesten, d. h. im mythisch-religiösen Bewusstsein durch die »mythischen Grundaffekte von Hoffnung und Furcht, […] [das] magische[-] Hingezogen- und Abgestoßenwerden, […] [die] Begier des Ergreifens des ›Heiligen‹ und […] [das] Grauen vor der Berührung mit dem Verbotenen und Unheiligen«68 abgelöst. Es wäre interessant präziser zu sehen, wie Cas­si­rer solch einen Gegensatz von mythischem Hingezogen- und Abgestoßenwerden versteht. Jedoch müssen wir auf die weitere Analyse dieses Verhältnisses verzichten, da Cas­si­ rer diesbezüglich nicht weiter argumentiert. Stattdessen ist darauf hinzuweisen, dass die Formulierung des Gegensatzes von Heiligem und Verbotenem bzw. Unheiligem problematisch ist. Einerseits ist es problematisch, wenn er das Unheilige dem Verbotenen gleichsetzt. Denn das Unheilige wird bei ihm prinzipiell als das Profane gefasst, welches keine hinziehende oder abstoßende Wertigkeit für das mythische Bewusstsein besitzt. Andererseits ist ECW 16a, 17 (Hervorh. Y. H.). Vgl. ECW 11, 277 f.; ECN 7b, 49. ECW 12, 94. 68 ECW 17k, 422 f. 66 67

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Mythisches und religiöses Gefühl

Cas­si­rers Entgegensetzung von Heiligem als Hinziehendem und Verbotenem als Abstoßendem verwirrend. 69 Denn diese Deutung des Heiligen entspricht keinesfalls Cas­si­rers Grundverständnis des Heiligen. Im Grunde genommen versteht er unter dem Heiligen nicht das Gegenstück zum Verbotenen, sondern zum Profanen. Anders formuliert geht es Cas­si­rer vor allem um den grundlegenden mythischen Wertgegensatz, d. h. um den Durkheimschen Gegensatz des Heiligen – des mythisch Bedeutsamen – und des Profanen – des Alltäglichen bzw. des mythisch Unbedeutenden.70 Das Heilige als die dem Profanen entgegengesetzte Sphäre enthält Cas­si­rers Grundansicht zufolge nicht allein die Bedeutung des Hinziehenden, sondern auch die des Abstoßenden. »Noch im lateinischen ›sacer‹ oder im griechischen ἅγιος, ἅζεσθαι [heilig, sich fürchten, Y. H.] spricht sich«, so Cas­si­rer, »dieser Doppelsinn, diese eigentümliche ›Ambivalenz der Bedeutungen aus – indem beide sowohl das Heilige wie das Verfluchte, Verbotene, in jedem Falle aber das in irgendeiner Weise ›Geweihte‹ und Herausge­hobene bezeichnen.«71 Daraufhin stellt Cas­si­rer jenen mythischen Grundgegensatz als Teilung »zwischen dem Heiligen und Profanen, dem Geweihten und Ungeweihten«72 dar. Dementsprechend wird der Begriff des Heiligen bei Cas­si­rer im Prinzip nicht als dem Verbotenen Entgegengesetztes, sondern im Sinne von sacer, ἅγιος oder ἅζεσθαι verstanden. In »Sprache und Mythos« schreibt Cas­si­rer: »Wenn der ›Augenblicksgott‹ die erste a ktuel le Bildung ist, in der das mythisch-religiöse Bewußtsein sich lebendig und schöpferisch erweist, so liegt doch dieser Aktualität gewissermaßen die allgemeine Potentialität der mythisch-religiösen Empfindung zugrunde. In der Scheidung einer Welt des ›Heiligen‹ und einer Welt des ›Profanen‹ überhaupt ist erst die Voraussetzung für die Bildung einzelner bestimmter Göttergestalten geschaffen.«73

Cas­si­rer, dem an der Analyse der praktisch-pragmatischen Bedeutung im menschlichen Leben nicht gelegen ist, versäumt auch die Untersuchung des Profanen, des Alltäglichen.74 Folglich geht es ihm eigentlich nicht um die Entgegensetzung von Heiligem und Profanem, sondern um die Absonderung des Heiligen vom Profanen, d. h. dem »gewöhnlichen, allgemein

Cas­si­rer hebt diese Entgegensetzung auch noch an einer anderen Stelle hervor (vgl. ECW 16f, 281). 70 Vgl. PsF II, 2. Abschnitt, Kap. I »Der Grundgegensatz« (ECW 12, 87 f.). 71 ECW 12, 94. 72 Ebd. 73 ECW 16f, 289 (kursive Hervorh. Y. H.). 74 Vgl. Verene (1966), 561; Graeser (1994), 43. 69



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zugänglichen«75 Bezirk. Wenn Cas­si­rer vom mythischen Gefühl spricht, handelt es sich dabei also um ein Gefühl, das man gegenüber etwas – im positiven wie negativen Sinne – Heiligem hegt. Dies lässt sich folgendermaßen formulieren: Das mythische Bewusstsein wird vom – positiv oder negativ – Heiligen hingezogen bzw. abgestoßen. Eigentlich haben wir uns bereits mit einer solch grundlegenden mythischen Scheidung des Heiligen vom Profanen befasst. Denn es geht mit Bezug auf diese Scheidung um die mythische Vorstellung des Außergewöhn­lichen, d. h. um eine Vorstellung wie z. B. Mana bei den Melanesiern. Diese Vorstellung bedeutet nichts anderes als die früheste und basale Absonderung des Heiligen vom Profanen.76 Im Folgenden wird dargestellt, wie sich diese Absonderung, die Schaffung der »Unterschiede der mythischen Valenz«77 Cas­si­rer zufolge auf der höheren Ebene des Mythisch-Religiösen vollzieht und wie dadurch die Verschiedenheit des Kulturgefühls entsteht. Allerdings gilt es zuvor, den Grundunterschied zwischen Mythos und Religion klar zu machen, da wir uns dabei hauptsächlich mit Cas­si­rers Beschreibung des religiösen Bewusstseins – als ein fortgeschrittenes Bewusstsein im Vergleich zum mythischen – beschäftigen werden. 2.2 Unterschiede zwischen Mythos und Religion 2.2.1  Religiöse Setzung der geistigen Mitte Wie gesehen, setzt Cas­si­rer die Kontinuität der Kulturentwicklung voraus. Dies gilt freilich auch für die Entwicklung des Mythos zur Religion. Gegen Bergsons These der Unentbehrlichkeit des Sprungs von der statischen (geschlossenen) Religion zur dynamischen (universellen) Religion schreibt Cas­si­rer Folgendes: »In the development of human culture we cannot fix a point where myth ends or religion begins. In the whole course of its history religion remains indissolubly connected and penetrated with mythical elements. On the other hand, myth, even in its crudest and most rudimentary forms, contains some motives that in a sense anticipate the higher and later religious ideals. Myth is from its very beginning potential religion. What leads from one stage to the other is no sudden crisis of thought and no revolution of feeling.«78 ECW 12, 100. Vgl. ebd., 93 f.; ECW 16f, 302. Vgl. u. a. ECW 12, 90 f. Vgl. außerdem ECW 16f, 281 f. 77 ECW 12, 94. 78 ECW 23, 96. 75 76

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Mythisches und religiöses Gefühl

Cas­si­rer verneint damit freilich weder die Möglichkeit noch die Bedeutsamkeit der Unterscheidung zwischen Mythos und Religion als zwei verschiedenen symbolischen Formen. Ganz im Gegenteil trifft Cas­si­rer jene Unterscheidung, wenngleich er oft Mythos und Religion als Mythisch-Religiöses pauschal behandelt. Das mythische Bewusstsein kenne Cas­si­rer zufolge noch keine Zeichenfunktion als Bedeutungsindikator, keine Trennung zwischen Bild und Bedeutung. Ein Zeichen erscheine diesem Bewusstsein nicht als Verweis auf einen bestimmten Gegenstand, sondern »als der substantielle Inbegriff der Wirkungen, die von ihm ausgehen, als eine Art dämonischer Doppelgänger des Gegenstandes«.79 Für das mythische Bewusstsein existiere jedes Zeichen als Reales, d. h. hier mit der gleichen Existenzberechtigung, wie sie ein von ihm bezeichneter Gegenstand besitze. Solch eine mythische Anschauung beherrsche und durchdringe das gesamte Gebiet des Daseins überhaupt. Da das religiöse Bewusstsein nirgends anders als aus dem mythischen Bewusstsein heraustrete, da auch die anfängliche religiöse »Anschauung der Wirklichkeit in die mythische Vorstellungs-, Gefühls- und Glaubenswelt noch wie eingeschmolzen« sei, müsse auch die Stellung, welche das religiöse Bewusstsein einnehme, nicht auf einen Teil des Daseins, sondern »auf die Gesamtansicht des Daseins überhaupt zurückwirken«. 80 Cas­si­rer fährt fort: »Die Idealität des Religiösen setzt daher nicht nur das Ganze der mythischen Gestaltungen und Kräfte zu einem Sein niederer Ordnung herab, sondern sie richtet diese Form der Negation auch gegen die Elemente des sinnlich-natürlichen Daseins selbst.«81

Im religiösen Bewusstsein wird das Sinnliche überhaupt, wie sich z. B. am Bildverbot zeigt, 82 herabgesetzt. Von einer anderen Seite aus betrachtet, wird die Wertigkeit im religiösen Bewusstsein allein auf das Übersinnliche gesetzt. Hier ergibt sich sozusagen die religiöse Umwertung aller mythischen Werte – für Cas­si­rer – in völlig positivem Sinne. Eine solch radikale geistige Umwertung durch die Religion bedeutet zugleich »ein neues freies Verhältnis« des Geistes »zu der Welt der ›Bilder‹ und ›Zeichen‹«. 83 Denn jene Umwertung setzt voraus, dass das religiöse Bewusstsein die dem Mythos fremde Trennung von Zeichen und Bedeutung, von Sinnlichem und Sinn resp. Übersinnlichem kennt. Erst im reli ECW 12, 278. Ebd., 280. 81 Ebd. 82 Vgl. ebd., 280 f. 83 ECW 16e, 193. 79

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giösen Bewusstsein entstehen, so Cas­si­rer, diese Trennung und das dadurch ermöglichte »Ineinander und Gegeneinander von ›Sinn‹ und ›Bild‹«, welches zu »den Wesensbedingungen des Religiösen« gehört. 84 Wichtig ist hierbei, dass das religiöse Bewusstsein im Unterschied zum mythischen eine Reflexion kennt, dass es ein Bild bzw. ein Zeichen als Sinnträger der jenseitigen Bedeutung anzuerkennen weiß. 85 »Jede Religion sieht sich«, so Cas­si­rer, »in ihrer Entwicklung an einen Punkt geführt, an welchem sie diese ›Krisis‹ [von Bild und Sinn, von Diesseitigem und Jenseitigem, Y. H.] bestehen, an dem sie sich von ihrem mythischen Grund und Boden lösen muß. Aber in der Art dieser Loslösung verfahren die verschiedenen Religionen nicht gleichartig – sondern hierin eben bekundet jede ihre besondere geschichtliche und geistige Eigenart.«86

Cas­si­rer beschreibt diese verschiedenen religiösen Wege als unterschiedliche Negationsweisen des diesseitigen Daseins. Mit Bezug auf diese Beschreibung gilt es hier allein zu beachten, dass Cas­si­rer in der Verschiedenheit jener religiösen Wege einen gemeinsamen Grundzug erblickt. Die religiöse Lösung gegenüber der Krisis von Sinn und Bild, d. h. der Trennung zwischen ihnen als einer Wesensbedingung des Religiösen, impliziert seine andere Wesensbedingung, nämlich die Bestimmung der geistigen Mitte des Weltalls. Das religiöse Denken ist, so Cas­si­rer, im Vergleich zum mythischen dadurch gekennzeichnet, dass »alles Sein, das der Dinge wie das des Ich, das der inneren wie das der äußeren Welt, hier nur insofern Bestand und Bedeutung hat, als es sich auf den religiösen Prozeß und seinen Mittelpunkt bezieht.«87 Diesen Zusammenhang erklärt Cas­si­rer noch konkreter: »Jede wahrhaft selbständige Religion schafft gleichsam eine neue geistige Mitte des Seins, um die sich ihr fortan alles natürliche und seelische Dasein und Geschehen gruppiert und von der aus es erst seinen eigentlichen ›Sinn‹ erhält. Welcher Art diese Mitte ist, das hängt von der spezifischen Qualität und Grundrichtung des religiösen Interesses ab – die Art aber, in der nun die gesamte Peripherie des Daseins mit dem religiösen Zentrum in Beziehung gesetzt wird, ist eine Leistung des vermittelnden Denkens, die als solche einer logischen Bestimmung und Charakteristik fähig und zugänglich ist.«88 ECW 12, 305. Vgl. ebd., 279 f. Vgl. ebd., 280 f. 86 Ebd, 280. 87 Ebd., 288 (Hervorh. Y. H.). Vgl. ECN 7a, 32 f.; ECN 7b, 87 f. 88 ECW 16a, 57 f. Cas­si­rers hier angeführten Beispielen nach besteht jene Mitte in der vedischen Religion in Opfer und Gebet, in der persischen Religion im Wertgegensatz des Guten und des Bösen und bei Luther und Calvin in Gnadenwahl (vgl. ebd.). 84 85

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Die religiöse Trennung von Sinn und Bild birgt in sich die religiöse Setzung der geistigen Mitte. In eben dieser freien, reflektierten religiösen Setzung des geistigen Mittelpunkts, in der Art dieser Setzung, liegt die Verschiedenheit der Religionsformen. Das Wesen des Religiösen ist Eins. 89 Doch die Erscheinungsweisen des Religiösen sind heterogen. Unten wird auf solch eine Verschiedenheit der religiösen Setzung der geistigen Mitte unter einem spezifischen Aspekt, d. h. unter Bezugnahme auf das religiöse Kulturgefühl in zeitlicher Perspektive eingegangen. Zuvor aber wird unter diesem Aspekt der gemeinsame Charakter des Religiösen im Vergleich zum Mythischen hervorgehoben. 2.2.2 Unterschiede zwischen dem mythischen und dem religiösen Kultur- bzw. Zeitgefühl Zur Absonderung des Heiligen als eines mythischen Grundbegriffs schreibt Cas­si­rer: »Der gesamte Reichtum und die gesamte Dynamik der mythischen Lebensformen beruht darauf, daß die ›Akzentuierung‹ des Daseins, die sich im Begriff des Heiligen ausspricht, sich voll auswirkt und daß sie fortschreitend immer neue Gebiete und Inhalte des Bewußtseins ergreift.«90

Nun wollen wir Cas­si­rers Argumentation folgen und sichtbar machen, wie sich die mythische Absonderung des Heiligen vom Profanen auf einer höher entwickelten Stufe, auf der Stufe der Religion vollzieht. Cas­si­rer versucht Grundzüge der mythisch-religiösen Wertsetzung des Heiligen und des Profanen in drei Perspektiven zu beschreiben. Diese Perspektiven sind »drei wesentliche Hauptphasen im Prozeß der mythischen ›Apperzeptionen‹«,91 d. h. Raum, Zeit und Zahl. Innerhalb dieser drei Hauptphasen sieht Cas­si­rer den grundlegenderen Charakter der Zeit und des Raums gegenüber der Zahl. Dabei ist seine Position zu der Frage, ob die zeitliche oder die räumliche Ansicht grundlegender sei, nicht eindeutig.92 Aber uns ist hier allein wichtig festzuhalten, dass bei Cas­si­rer die Vgl. ECW 23, 81. ECW 12, 94. 91 Ebd., 97. 92 An einer anderen Stelle in der PsF II behauptet Cas­si­rer, dass der Mythos als solcher »seiner Grundbedeutung nach keine räumliche, sondern eine rein zeitliche Ansicht in sich« schließe (ebd., 123). Aber in den anderen Schriften legt Cas­si­rer den Primat des mythischen Raumbegriffs gegenüber dem Zeitbegriff fest (vgl. ECW 16a, 46 f.; ECN 7b, 71 f.). Deshalb täten wir besser daran, uns auf Cas­si­rers versöhnende Meinung zu stützen, 89

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Zeit­ansicht zumindest eine der basalen mythisch-religiösen Grundansichten ist, dass er am Beispiel jener Zeitansicht die Bildung der interkulturellen mythisch-religiösen Ordnungsweisen der Gefühle erläutert. Zur mythischreligiösen Wertsetzung hinsichtlich der Zeit schreibt Cas­si­rer: »Was sich für den mythischen Raum ergab, das gilt auch für die mythische Zeit – ihre Form hängt von der eigentümlichen, mythisch-religiösen Akzentuierung, von der Art der Verteilung der Akzente des ›Heiligen‹ und ›Unheiligen‹ ab. […] Im konkreten mythisch-religiösen Zeitbewußtsein lebt immer eine bestimmte Dynamik des Gefühls – eine verschiedene Intensität, mit der das Ich sich der Gegenwart, der Vergangenheit oder Zukunft hingibt und sie, im Akt dieser Hingebung und durch ihn, zueinander in ein bestimmtes Zugehörigkeits- oder Abhängigkeitsverhältnis rückt.«93

Jene »Verteilung der Akzente des ›Heiligen‹ und ›Unheiligen‹« hinsichtlich der Zeit ist das, was Cas­si­rer das mythisch-religiöse »Zeitgefühl« nennt.94 Wir können es auch »Kulturgefühl« hinsichtlich der Zeit nennen, weil Cas­si­rer am Beispiel der taoistischen Zeitansicht den gleichen Zusammenhang so formuliert: »Wie sich in dieser religiösen Gestaltung des Zeitbegriffs wiederum ein ganz bestimmtes und spezifisches Kulturgefühl ausspricht, bedarf kaum der besonderen Darlegung.«95 Wir werden solche spezifischen Kultur- bzw. Zeitgefühle herausarbeiten, aber davor muss noch einiges zur Unterscheidung von mythischem und religiösem Kultur- bzw. Zeitgefühl erklärt werden. Mit Blick auf die Bildung des Kulturgefühls im Allgemeinen, d. h. die Wertsetzung des Heiligen und des Unheiligen, ist der folgende Punkt zu betonen: Da das religiöse Bewusstsein im Unterschied zum mythischen ein Moment der Reflexion besitzt, vollzieht sich jene Wertsetzung auch reflektiert. Während die mythische Symbolisierung vor allem durch emotionale Erregungen ausgelöst wird, wird die religiöse Symbolisierung durch die Reflexion ausgeführt. Hinsichtlich des Zeitgefühls liegt der Grundunterschied zwischen Mythos und Religion darin, dass dem Mythos eine klare Zeitstruktur fehlt. Cas­si­rer räumt zwar ein, dass das mythische Bewusstsein die »Form des zeitlichen Werdens, des Früher oder Später«96 kennt, dass in diesem Bewusstsein das geschichtliche Bewusstsein zu wachsen beginnt. Allerdings spricht er dem mythischen Bewusstsein die klare Struktur der der zufolge das mythische Raumgefühl und das mythische Zeitgefühl miteinander untrennbar verbunden sind (vgl. ECW 12, 76; ECN 6b, 280; ECN 6c, 465). 93 ECW 12, 140 f. 94 Ebd., 176. Vgl. ebd., 141 u. 147. 95 Ebd., 148 (Hervorh. Y. H.). 96 ECW 16g, 459.

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geschichtlichen Zeitmomente – d. h. die Bestimmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – ab. 97 Dies impliziert, dass nicht das mythische Bewusstsein, sondern erst das religiöse die mythisch-religiöse Wertsetzung auf jene geschichtlichen Zeitmomente anzuwenden vermag. Die unterschiedlichen Weisen, wie solch ein – gegenüber dem Mythos fortgeschrittenes – religiöses Zeitgefühl erscheint, werden nachfolgend dargestellt. 2.3 Vielfalt des religiösen Kulturgefühls Zur mythisch-religiösen Qualifizierung jeder einzelnen Zeitdimension wie »Früher«, »Später« oder »Jetzt« schreibt Cas­si­rer: »[…] ebendiese Qualifizierung der Zeit ist es, in der die verschiedenen Epochen und Kulturen sowie die verschiedenen Grundrichtungen der religiösen Entwicklung sich in höchst charakteristischer Weise voneinander absondern.«98 Hierzu äußert er weiter: »Es wäre eine reizvolle Aufgabe, diese Verschiedenheiten und Wandlungen des Zeitgefühls durch das Ganze der Religionsgeschichte hindurch zu verfolgen und zu zeigen, wie ebendieser wechselnde Aspekt der Zeit, die Auffassung ihres Bestandes, ihrer Dauer und ihres Wandels, eine der tiefsten Differenzen im Charakter der einzelnen Religionen ausmacht.«99

Es wurde bereits festgehalten, dass eine solche Aufgabe weniger die Aufgabe der Kulturphilosophie Cas­si­rers, sondern die der Kulturwissenschaften ist; dass sein Hauptinteresse nicht in den interkulturellen Verschiedenheiten, Vgl. ECW 23, 187 f.; ECW 12, 123 f. ECW 12, 140. 99 Ebd., 141. Cas­si­rer hatte hier möglicherweise Aby Warburgs Versuch der »[h]is­to­ rische[n] Phänomenologie der energetischen Ausdruckswertbildung« (Warburg (2010b), 644) im Kopf; d. h. den Versuch, in der bildenden Kunstgeschichte (u. a. der Europas) die geschichtliche Entstehung sowie Wandlung der »Pathosformeln« als »wandernde antike Superlative der Gebärdensprache« (Warburg (2010a), 181) – oder noch allgemeiner die der »gedächtnismässig aufbewahrten Ausdruckswerte als sinnvolle geistestechnische Funktion« (Warburg (2010b), 631) – sichtbar zu machen. Cas­si­rer schreibt in direkter Anlehnung an Warburg z. B.: »Der ›Ausdruck‹ ersta rr t gewissermassen in einem objektiven Gebilde – / aber diese Erstarrung bedeutet nicht, daß er etwas Festes, Unbewegliches wird – / Im Gegentei l: diese ›erstarrten‹ Gebilde tragen selbst noch ein eigentümliches ›Leben‹, d. h. eine Permanenz und Wandlungsfähigkeit in sich« (ECN 5c, 127. Vgl. LKW, 476). Wenngleich wir in Betracht ziehen müssten, dass Cas­si­rer es in einem Brief an den Leiter der Bibliothek Warburg, Fritz Saxl schrieb, nannte Cas­si­rer einmal die Bibliothek Warburg den »Archimedischen Punkt« seiner »wissenschaftlichen Arbeit« (Brief an Fritz Saxl, 11. September 1936, in: ECN 18, 152). 97 98



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sondern in den universellen symbolischen Formen liegt.100 Nichtsdestoweniger ist seine Auseinandersetzung mit der Verschiedenheit des religiösen Zeitgefühls »an einigen großen typischen Beispielen«101 der Religionsform von unverzichtbarer Bedeutung. Denn zunächst können wir erst dadurch konkret verstehen, wie sich die religiöse Symbolisierung des Gefühls in typi­ scher Weise vollzieht; und erst danach wird Cas­si­rers Verständnis der eigentlichen Religionsform und der eigentlichen Kraft des Religiösen augenscheinlich. Cas­si­rer führt in der PsF II vier typische Religionsformen an; vier typische religiöse Akzentuierungsweisen der heiligen Zeitdimensionen (bzw. Setzungsweisen der geistigen Mitte in zeitlicher Hinsicht), nämlich die Heiligung der Zukunft, die der Vergangenheit, die der Gegenwart sowie die Negation der Zeit überhaupt. Zu der Religionsform, welche die geistige Mitte in die Zukunft legt, zählt Cas­si­rer die monotheistischen bzw. monotheistisch-prophetischen Religionen; die zoroastrische Religion,102 das Judentum und das Christentum.103 »Das Hervortreten des Gedankens des reinen Monotheismus bildet«, so Cas­si­rer, »auch für die Gestaltung und die Auffassung des Zeitproblems im religiösen Denken eine wichtige Grenzscheide.«104 Das »religiöse Gefühl« des Monotheismus wurzele »nicht in der Anschauung des Gegebenen«, sondern sein Akzent ruhe auf dem zukünftigen Endziel, auf dem Telos der Welt.105 Eine andere Religionsform, welche den Akzent der Heiligkeit auf die Vergangenheit lege, zeige sich paradigmatisch in den chinesischen Religionen. Nicht nur Konfuzianismus, sondern auch Taoismus – der im Rahmen der chinesischen Gedankenwelt oft dem traditionalistischen Charakter des Konfuzianismus ent Vgl. oben I. 2.3. ECW 12, 141. 102 Die zoroastrische Religion zeichnet sich, so Cas­si­rer, durch ihre Idee des Kampfes zwischen Gut und Böse aus. Diesbezüglich vergleicht Cas­si­rer in einem nachgelassenen Manuskript Ahura Masda, den höchsten Gott jener Religion, mit dem Gott »in den Religionen des Monotheismus, im Judentum und Christentum« und hebt hervor, dass jener Ahura Masda nicht so allmächtig ist wie der jüdische bzw. christliche Gott (ECN 11b, 228). Doch einer solchen Beschreibung entgegen gehört die zoroastrische Religion bei Cas­ si­rer zweifelsohne zur monotheistischen Religionsform. Denn jene Religion ist, so Cas­ si­rer, im Grunde genommen monotheistisch, da der höchste Gott »zuletzt auch seinen Gegner überwinden und vernichten wird« (ECW 12, 284). 103 In diesem Zusammenhang findet das Christentum im Vergleich zur zoroastrischen Religion und zum Judentum nur selten Erwähnung. (Zu Cas­si­rers diesbezüglicher Erwähnung des Christentums vgl. ECW 23, 118; ECN 11b, 228.) Übrigens, der Islam, eine der bekanntesten monotheistischen Religionen, scheint nirgends zur Sprache zu kommen, es sei denn, es geht um »Mahomet« in Goethes West-Östlichem Divan (vgl. ECW 7, 193 f.). 104 ECW 12, 141. 105 Vgl. ebd., 143 f. u. 161. Zitat aus ebd., 143. 100 101

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gegengesetzt wird – seien als strenger »Traditionalismus«106 zu verstehen; die beiden chinesischen Religionen richteten sich auf »die Bewahrung und Erhaltung des Bestehenden«,107 d. h. auf eine »einfache Fortsetzung«, ein »genaues und getreues Abbild des Vergangenen«.108 In der ägyptischen Religionsform gehe es, ähnlich wie bei den chinesischen Religionen, um »die einfache Fortsetzung des Bestehenden«.109 Allerdings werde der religiöse Akzent in der ägyptischen Religion nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Ewigkeit der Gegenwart, auf eine einfache »Verlängerung des empirischen Daseins« gelegt, »das in allen seinen Einzelzügen, in unmittel­ barer physischer Konkretion, bewahrt werden soll[e]«.110 Das letzte typische Beispiel des religiösen Zeitgefühls ist die indische Religionsform, als deren Paradigma der Buddhismus gilt. Dieser ziele darauf ab, dass »die Zeit als Ga nzes samt allem, was in ihr ist und was in ihr ›Gestalt und Namen‹ empf[ange], für den religiösen Blickpunkt verschwind[e]«,111 um das Leiden und das Tun des werdenden Lebens zu vernichten. Kurz, die buddhistische bzw. indische Religionsform legt die Wertigkeit nicht auf eine Zeitrichtung, sondern auf die Vernichtung der Zeitform überhaupt. Neben den soeben dargestellten Grundtypen des religiösen Zeitgefühls behandelt Cas­si­rer im gleichen Rahmen noch das griechische, philosophische Zeitgefühl. Wenn das Zeitgefühl in den vier typischen Religionsformen, so Cas­si­rer, durch die Abstraktion bzw. die Negation der Zeit gewonnen wird, »bleibt zuletzt noch ein anderer Weg übrig, der sich außerhalb dieser bloßen Abstraktion und Negation hält«.112 Dieser übriggebliebene Weg sei der Weg der griechischen Philosophie, in welchem alle Grund­ momente der Zeit bejaht würden. Cas­si­rer fährt fort: »Sobald einmal dieser Weg beschritten wird, tritt damit die Entwicklung des Zeitbewußtseins und des Zeitgefühls in eine neue Phase ein. Jetzt beginnt die Loslösung der Anschauung der Zeit und des Schicksals von ihrem mythischen Urgrund: Der Zeitbegriff geht in eine neue Form, in die Form des philosophischen Denkens ein. Auch für diese große Wandlung – vielleicht eine der bedeutsamsten und folgenschwersten, die die Geschichte des Ebd., 149. Ebd., 148. 108 Genauer gesagt, schreibt Cas­si­rer Folgendes: »Die Zukunft hat ihr religiöses Recht nur, sofern sie sich als einfache Fortsetzung, als genaues und getreues Abbild des Vergangenen zu legitimieren vermag« (ebd., 149). 109 Ebd., 151. 110 Ebd. 111 Ebd, 146. 112 Ebd, 151. 106 107



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menschlichen Geistes kennt – hat erst die Ph i losoph ie der Griechen den Boden bereitet und die grundlegenden Voraussetzungen geschaffen.«113

Cas­si­rer beschreibt diesen »inneren geistigen Befreiungsprozeß«114 in der griechischen Zeitansicht, wenn auch nicht in geschichtlicher Hinsicht, so doch aus formaler Perspektive heraus als hegelianische Aufhebung des indischen und des chinesischen Zeitgefühls. Diesbezüglich heißt es: »Wenn […] das indische Denken wesentlich auf die Vergänglichkeit des Zeitlichen hinblickt, wenn das chinesische Denken auf die Anschauung seines Bestands gerichtet ist – wenn jenes das Moment des Wandels, dieses das Moment der Dauer einseitig betont, so sind hier beide Momente in ein reines inneres Gleichgewicht gesetzt. Der Gedanke der Variabilität und der der Substantialität schließen sich miteinander in eins zusammen. Und aus diesem Zusammenschluß entspringt ein neues Gefühl, das man das rein spekulative Zeit- und Gegenwartsgefühl nennen könnte.«115

Hierbei ist uns Cas­si­rers Ansicht wichtig, dass jenes Zeit- und Gegenwartsgefühl – die Idee der Gleichförmigkeit von Jetzt, d. h. der Zeit überhaupt116 – erst in der griechischen Philosophie erzielt wurde und dass es nicht allein über das indische und chinesische Zeitgefühl, sondern über alle religiösen Zeitgefühle hinausgeht. Wie wir sehen werden, reserviert Cas­si­rer auf solche Weise das rein Logisch-Rationale sowie das rein spekulativ Ethische bzw. Moralische für die Philosophie, die im griechischen Denken wurzelt.117 Nicht zu übersehen ist dennoch die moralische bzw. moralisch-rationale Sonderstellung einer Religionsform, d. h. der monotheistischen Religionsform gegenüber den anderen. Denn Cas­si­rer erblickt, wie sich sogleich zeigen wird, in eben dieser Religionsform die eigentliche Kraft und das eigentliche Gefühl des Religiösen. 3. Ethische Kraft der monotheistisch-prophetischen Religionen Cas­si­rer hat im amerikanischen Exil seine frühere Bestätigung der logischtheoretischen Überlegenheit der europäischen Sprachform gegenüber den anderen Sprachformen, wenngleich ohne Erwähnung seiner Einstellungs-

Ebd, 152. Ebd, 157. 115 Ebd, 161. 116 Vgl. ebd., 161 f. 117 Vgl. unten V. 1.2. 113 114

106

Mythisches und religiöses Gefühl

änderung, widerrufen.118 Im scharfen Kontrast dazu ist Cas­si­rer dem Gedanken des moralischen bzw. – mit dem von ihm vorwiegend verwendeten Wort – des ethischen Primats der monotheistischen Religionsform sowohl in der PsF II als auch in den Spätschriften treu geblieben. In diesem Zusammenhang gilt es zuvorderst zu betonen, dass Cas­si­rer unter der monotheistischen Religion eigentlich die monotheistisch-prophetische Religion versteht. 119 In der PsF II ist mit Bezug auf diese Religionsform hauptsächlich vom Judentum und von der zoroastrischen Religion – oder noch allgemeiner, der persisch-iranischen Religion120  – die Rede, wenngleich Cas­si­rer hier – hinsichtlich der Überwindung des Mythos – den geistigen Fortschritt des Judentums gegenüber der persisch-iranischen Religion hervorhebt.121 In Cas­si­rers Erklärung zu solchen monotheistisch-prophetischen Religionen spielen zwei dem Mythos fremde Begriffe, die für Cas­si­rer unentbehrliche Komponenten des ethisch-moralischen Denkens sind – Ich­ bewusstsein und Zukunftsgedanken –, eine entscheidende Rolle.122 Sofern sich das Zeitgefühl der monotheistisch-prophetischen Religionsform durch ihre Heiligung der Zukunft von den anderen religiösen Zeitgefühlen abhebt, ist es selbstredend, dass die monotheistische Religionsform bezüglich des Zukunftsgedankens einen Primat vor den anderen Religionsformen besitzt. Mit Bezug auf das Ichbewusstsein bestätigt Cas­si­rer auch den Vorrang der monotheistischen Religionsform gegenüber den anderen Religionsformen. Denn der Mensch konnte, so Cas­si­rer, erst in der Gestaltung eines persönlichen Gottes als handelndes Subjekt – bzw. in der Gegenüberstellung des individuellen Bewusstseins vor solch einem Gott – sein Ichbewusstsein wahrhaft erschließen.123 Diese Form der Erschließung des Ichbewusstseins trete am reinsten und am direktesten in der monotheistischen Religion auf. Im Kontrast zur buddhistischen Herabsetzung des Ichbewusstseins schreibt Cas­si­rer: In den »ethisch-monotheistischen Religionen wird sowohl das Ich des Menschen wie die Persönlichkeit Gottes in höchster Prägnanz und Schärfe herausgebildet.«124 Vgl. unten Exkurs. Näheres zu Cas­si­rers Argumentation des Monotheismus vgl. Vogl (1999), 160 f. u.

118 119

175 f.

Zur persisch-iranischen Religion schreibt Cas­si­rer: »Hier ist in der Tat dieselbe ethisch-religiöse Grundtendenz wie bei den Propheten wirksam gewesen, denn wie der Gott der Propheten, so wird auch Ahura Masdah, der persische Schöpfergott, durch keine anderen Prädikate als durch die des reinen Seins und der sittlichen Güte bezeichnet« (ECW 12, 282). 121 Vgl. ebd., 280 f. 122 Vgl. unten V. 1.2. 123 Vgl. ECW 12, 265 f.; ECW 16f, 292 f. 124 ECW 12, 265. Cas­si­rer hebt, wenngleich nicht im direkten Zusammenhang, auch 120



Ethische Kraft der monotheistisch-prophetischen Religionen 107

Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Cas­si­rer den Primat der monotheistischen Religion – hinsichtlich des Zukunftsgedankens einerseits und des Ichbewusstseins andererseits – nicht voneinander isoliert behauptet. Denn ihm zufolge kann die Bildung des Ichbewusstseins erst durch den Zukunftsgedanken wahrhaft vollendet werden. Anders formuliert, bedeutet der Primat des Monotheismus bezüglich des Zukunftsgedankens zugleich denselben bezüglich des Ichbewusstseins. Es ist alles andere als leicht, Cas­si­rers Argumentation der Entstehung und der Bildung des Ichbewusstseins mit Akribie zu rekonstruieren. Denn Cas­si­rer konzipiert verschiedene geistesgeschichtliche Wege jener Bildung; das Ichbewusstsein hat sich durch unterschiedliche Momente bzw. Gelegenheiten – wie den Wunsch oder das Vertrauen in der mythisch-magischen Welt, Technik (Werkzeuggebrauch), Sprache, Kunst, Philosophie usw. – entwickelt.125 Auf eine solch komplexe Thematik können wir hier nicht eingehen, sondern nur feststellen, dass Cas­ si­rer der monotheistischen Religion die Kraft der vollen Potenzierung des Selbstbewusstseins zuweist.126 Das mythische Bewusstsein kennt Cas­si­rers Verständnis zufolge kein echtes Ichbewusstsein, da es ein kollektives Bewusstsein ist. In der frühesten Phase des mythischen Bewusstseins finden wir, so Cas­si­rer, »das Selbstgef ü h l überall noch unmittelbar verschmolzen mit einem bestimmten mythisch-religiösen Gemeinscha f tsgef ü h l. Das Ich fühlt und weiß sich nur, sofern es sich als Glied einer Gemeinschaft faßt, sofern es sich mit anderen zur Einheit einer Sippe, eines Stammes, eines sozialen Verbandes zusammengeschlossen sieht.«127

hervor, dass »das Problem des individuellen Ich«, im Gegensatz zum Buddhismus, im Mittelpunkt des Christentums steht (vgl. ebd., 293, Zitat aus ebd.). 125 Cas­si­rer spricht dem Mythos zwar eigentliches Selbstbewusstsein ab, doch räumt er in ihm den Keim oder den ersten Schritt hin zu jenem Bewusstsein ein. Bezüglich der mythisch-magischen Welt schreibt Cas­si­rer: »Die erste Kraft, mit der der Mensch sich als ein Eigenes und Selbständiges den Dingen gegenüberstellt, ist die Kraft des Wunsches« (ebd., 183. Vgl. ECW 23, 101). Zur eigentümlichen Verstärkung des Ichbewusstseins durch den Werkzeuggebrauch vgl. ECW 17d, 156 f. u. 166 f.; Zur Entstehung des Ichbewusstseins durch die Sprache vgl. ECW 11, 212 f.; ECW 13, 78 f.; Cas­si­rer (1995), 134 u. 137 f. Zur Gestaltung des Ichgefühls bei den Griechen durch die bildenden Kunst und die Tragödie vgl. ECW 12, 205 f. u. 230 f.; ECN 1a, 87 f. Zur Überwindung des Mythos durch die philosophische – sokratische – Selbsterkennung vgl. ECW 16g, 394 f.; ECW 25, 60. 126 Im EM erkennt Cas­si­rer, wenn auch beiläufig, an, dass man nicht allein im Mono­ theismus, sondern in den Geschichten aller Religionen das Erfordernis der Selbsterkennung finden kann (vgl. ECW 23, 7). 127 ECW 12, 205. Vgl. ECW 23, 114 f.; ECN 9f, 210 f.

108

Mythisches und religiöses Gefühl

Das Ichbewusstsein gestalte sich allmählich im Vehikel des Mythos, d. h. durch den Entwicklungsprozess des mythischen Bewusstseins.128 Dies­ bezüglich ist unter dem Aspekt der religiösen Verstärkung des Ichbewusstseins Cas­si­rers Erklärung der mythischen Göttergestaltung aufschlussreich. Im Anschluss an die Erklärung Useners über die Götterarten schreibt Cas­ si­rer, dass es für die Entstehung eines echten Ichbewusstseins – statt der Vorstellung von Schutzgeistern bzw. Sondergöttern  – der Bildung eines persönlichen Gottes bedarf: »Indem der Gott aus der Gestalt des bloßen Sondergottes, der an ein bestimmtes eng begrenztes Gebiet der Tätigkeit gebunden bleibt, in die Gestalt des persönlichen Gottes übergeht, bedeutet dies einen neuen Schritt auf dem Wege zur Anschauung der freien Subjektivität schlechthin.«129 Doch dieser persönliche Gott steht nach Cas­ si­rers Verständnis nicht am Ende der Entfaltung des Ichbewusstseins. Die echte Entdeckung des Ich entstehe erst aus den prophetischen Gedanken der ­Zukunft: »In der Tat hängt«, so Cas­si­rer bezüglich der zoroastrischen bzw. persischen Religion, »das neue Persönlichkeitsgefühl, das hier zum Durchbruch kommt, mit dem neuen Zeitgefühl zusammen, das in der Religion Zarathustras herrscht. Aus den ethisch-prophetischen Gedanken der Zukunft heraus kommt es zu einer wahrhaften Entdeckung der Individualität, des persönlichen Selbst des Menschen […].«130

Die Stellung dieses Gedankens der Zukunft ist bei Cas­si­rer eigentlich verwirrend, da er mal dem Mythos diesen Gedanken abspricht, mal ihn als eines der wesentlichen anthropologischen, d. h. dem Menschen überhaupt eigentümlichen Momente beschreibt.131 So ist hier lediglich Cas­si­rers folgende Ansicht hervorzuheben; das echte Selbstbewusstsein kann erst im Zeitgefühl der monotheistischen Religionen, im auf das zukünftige Endziel gerichteten Zeitgefühl, erlangt werden.132 Die monotheistisch-­prophetische Vgl. PsF II, 3. Abschnitt, Kap. I »Ich und die Seele« u. Kap. II »Die Herausbildung des Selbstgefühls aus dem mythischen Einheits- und Lebensgefühl« (ECW 12, 181 f. u. 205 f.); ECW 13, 78 f. 129 ECW 12, 241. 130 Ebd., 200 f. 131 Vgl. unten S. 185 f. 132 Hier dürfte der starke Einfluss von Cohens Religionsphilosophie auf Cas­si­ rers zur Geltung gekommen sein. Cas­si­rer fasst den Gedanken Cohens bezüglich des Monotheismus im Unterschied zum Pantheismus und Polytheismus folgendermaßen zusammen: »[…] erst der Monotheismus dringt bis in den Kern des Ich, bis zum Prinzip und Urgrund des menschlichen vor, um in ihm erst den Sinn und Gehalt des Göttlichen zu entdecken« (ECW 9c, 490 [Hervorh. Y. H.]). Zum Zukunftsgedanken des Judentums schreibt Cas­si­rer: Cohen »sieht den eigentlichen Kern des Judentums in der Religion der 128



Ethische Kraft der monotheistisch-prophetischen Religionen 109

Religionsform ist daher aus der Perspektive der zwei eng miteinander zusammenhängenden ethisch-moralischen Elemente  – des Zukunftsgedankens und des Ichbewusstseins – günstiger bzw. mächtiger als alle anderen Reli­g ions­formen. Dementsprechend verbindet Cas­si­rer hinsichtlich der Religion das Adjektiv »ethisch« (fast) ausschließlich mit monotheistischprophetischen Religionen.133 Dies impliziert, dass die monotheistischen Religionen für Cas­si­rer zugleich durch einen höchst rationalen Charakter geprägt sind, weil das Ethische bzw. das Moralische für ihn, den großen Aufklärer, das Vernünftige, m. a. W. das Rationale, darstellt. Im EM sagt Cas­si­rer, die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, welche Kant konzipierte, sei eine Abstraktion bzw. ein Schatten des echten religiösen Lebens.134 Aber Cas­si­rers Verständnis der Religion entspricht insofern jenem Kantischen Konzept der Religion, als es um die monotheistische Religionsform geht. Gewiss ist zu beachten, dass Cas­si­rer mit Kant, für welchen das Christentum die vorbildhafteste Religion bedeutet, keinesfalls die kritische Auseinandersetzung mit dem Judentum teilt,135 sondern dass das Judentum für Cas­si­rer neben der zoroastrischen Religion Propheten – und das heißt ihm: in der Idee des Messianismus« (ECW 17b, 112). Eine solche Religion der Propheten sei – so hebt Cas­si­rer die Behauptung Cohens hervor – »die Religion der Vernunft als die Religion der Zu ku n f t« (ebd., 113. Vgl. ECW 18f, 255 f.; Renz (2002), 245 f.). Heinz Petzold macht hierzu noch darauf aufmerksam, dass Cas­si­ rers kritische Bemerkung, dass Kant das Judentum nicht richtig verstanden habe, auch von Cohen beeinflusst ist (vgl. Paetzold (1995), 44; ECW 8, 373 f.). Aber entgegen einem solchen Einfluss von Cohens Religionsdenken auf Cas­si­rer dürfen wir den Unterschied zwischen Cohens und Cas­si­rers Einstellung hinsichtlich des Judentums nicht außer Acht lassen. In einer unveröffentlichten Schrift von 1916 äußert Cas­si­rer sich zum Judentum folgendermaßen: »Auch nachdem der Streit über Cohens Schrift ›Deutschentum und Judentum‹ immer krassere und bedenklichere Formen angenommen hatte, hat es mich niemals gelockt in diese Arena [die Arena der Debatte um das Verhältnis vom Deutschentum und Judentum, Y. H.] herabzusteigen, in die sich Cohens Kämpfersinn von Anfang an mutig und entschlossen gewagt hatte. Nicht als Jude, sondern als wissenschaftlicher Forscher, der vor allem ein fest umschriebenes, sachliches Problem vor sich sehen muss, habe ich hiergegen Bedenken getragen« (ECN 9a, 29 f. [Hervorh. Y. H.]). Toni Cas­si­rer, Ernst Cas­si­rers Frau, berichtet, dass sich Cas­si­rer, im Gegensatz zu Cohen, nicht als deutscher Jude, sondern als jüdischer Deutscher verstand (vgl. T. Cas­si­rer (2003), 95). Übrigens, Orth weist neben Cohen auch auf Jacobis, Schellings und Schleiermachers Einflüsse auf Cas­si­rers Religionsphilosophie hin (vgl. Orth (2004c), 104). 133 Vgl. ECW 12, 141, 143, 150, 161, 166, 200, 225, 265 f. 282 f. u. 299; ECW 23, 109 f. u. 117 f. Zu Cas­si­rers beiläufigen Erwähnungen der ethischen Bindung des Handelns im Taoismus und der ethischen Ordnung der ägyptischen Religionsform vgl. ECW 12, 135 u. 151. 134 Vgl. ECW 23, 30 f. 135 Vgl. Kant (1907/1911), 125 f. Cas­si­rers, wenngleich schlichte, einschlägige Erwähnung findet sich: in ECW 8, 373 f.

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Mythisches und religiöses Gefühl

und dem Christentum eine »höhere« Religion bildet; so stimmen Cas­si­rer und Kant nicht darin überein, welche Religionen das Vorbild des Religiösen sind. Nichtsdestoweniger ändert dies nichts daran, dass Cas­si­rer, wie Kant (und Cohen), das eigentlich Religiöse, d. h. für Cas­si­rer die monotheistische Religionsform, als Vernünftiges versteht. Cas­si­rer schreibt: »These religions [the great monotheistic religions, Y. H.] are the offspring of moral forces; they concentrate upon a single point, upon the problem of good and evil. […] No religion could ever think of cutting or even loosening the bond between nature and man. But in the great ethical religions this bond is tied and fastened in a new sense. The sympathetic connection that we find in magic and in primitive mythology is not denied or destroyed; but nature is now approached from the rational instead of from the emotional side.«136

Dieser rationale Charakter bedeutet für Cas­si­rer zugleich den universellen Charakter. Es wurde bereits festgestellt, dass Cas­si­rer zwar Bergsons Behauptung der Unerlässlichkeit des Sprungs von der statischen in die dynamische Religion ablehnt, doch solch eine Unterscheidung an sich, sofern sie als eine methodische bzw. formale verstanden wird, keineswegs in Zweifel zieht. Bergsons Verständnis der dynamischen Religionsform als die – die universelle Liebe eröffnende, nicht rationale bzw. supraintellektuelle – wahre Mystik, welche sich am prägnantesten in der christlichen Mystik realisiert,137 ist von Cas­si­rers Auslegung der höheren Religion – d. h. des Monotheismus als eine ethisch-rationale bzw. moralisch-rationale Religion – weit entfernt oder gar dieser entgegengesetzt. Nichtsdestotrotz stimmt Cas­si­rer mit Bergson darin überein, dass es einen Grundunterschied zwischen der statischen, d. h. kollektiv geschlossenen Religion des Zwangs und der dynamischen, d. h. universellen Religion des Appells gibt und dass die statische (bzw. mit Cas­ si­rer gesprochen: niedrige) Religion zur Stabilisierung der Tradition neigt, während die dynamische (bzw. bei Cas­si­rer: höhere) Religion den starren Traditionalismus, welchen Cas­si­rer paradigmatisch im chinesischen Religionsgedanken (Konfuzianismus sowie Taoismus) erblickt, bricht.138 Hierzu ist aber anzumerken, dass Cas­si­rer der Ansicht ist, es sei das Griechentum gewesen, das zuerst gegen das Mythisch-Religiöse die »Selbstbejahung des Wissens«139 – die Bejahung des von Gott unabhängigen, theoreti ECW 23, 108 f. Vgl. Bergson (1992), 163 f., 177 u. 184 f. 138 Vgl. ECW 23, 96 f. u. 240 f. Zum Traditionalismus des chinesischen Gedankens vgl. oben S. 103 f. 139 ECW 5, 1. 136 137



Ethische Kraft der monotheistisch-prophetischen Religionen 111

schen Denkens – vollzogen hat. Sokrates sei, so Cas­si­rer im MS, überzeugt gewesen, dass jedes Individuum mit Hilfe der (sokratischen) Dia­lektik seinen Weg selbst finden müsse. Folglich gebe es für Sokrates keine religiöse Offenbarung der Wahrheit. Hierin liege der Unterschied zwischen Griechentum und Judentum, d. h. der Grundunterschied zwischen der Philosophie und der Religion.140 Dieser Unterschied zwischen Philosophie und Religion wird unten im Kapitel zum moralischen Gefühl näher erklärt. Deswegen ist hier allein Folgendes festzustellen: Obwohl die monotheistisch-prophetische Religionsform keine rationale Ethik schlechthin ist, birgt sie in sich die Kraft der hohen Rationalität und somit zugleich den hoch moralischethischen Charakter. Im EM schreibt Cas­si­rer zum Monotheismus (hier zum Judentum): »What is really new is not the contents of this prophetic religion but its inner tendency, its ethical meaning. One of the greatest miracles that all the higher religions had to perform was to develop their new character, their ethical and religious interpretation of life, out of the crude raw material of the most primitive conceptions, the grossest superstitions.«141

Als höhere ethische Religionen (»the higher ethical religions«) führt Cas­ si­rer das Judentum, die zoroastrische Religion und das Christentum, d. h. monotheistisch-prophetischen Religionen auf.142 Diese Cas­si­rersche Verortung der eigentlich ethischen Kraft des Religiösen bzw. der höheren Religionen im Monotheismus übt direkten Einfluß aus auf Cas­si­rers Auseinandersetzung mit dem mythischen Gefühl einerseits und dem religiösen Gefühl andererseits. Denn wenn Cas­si­rer das religiöse Gefühl mit dem mythischen vergleicht, handelt es sich dabei eigentlich um den Vergleich zwischen dem Gefühl in den niedrigen (mythischen) Religionen und dem Gefühl in der monotheistischen Religion. Vgl. ECW 25, 90 f. In einem Aufsatz von 1944 schreibt Cas­si­rer im Exil in den USA: »They [the Jews, Y. H.] are the first to conceive the ideal of a purely ethical religion« (ECW 24d, 199. Vgl. ebd., 197 u. 201). Damit meint Cas­si­rer sogar den jüdischen Verdienst um die weltgeschichtlich erste Konzeption der ethischen Ideale überhaupt (vgl. ebd., 208). Aber entgegen solch einer in jenem Aufsatz wiederholten Behauptung des – nicht monotheistischen, sondern allein – jüdischen Verdiensts müssen wir uns davor hüten, sie unbefangen als seine endgültige Meinung zu erachten. Denn es gilt Cas­si­rers damalige schwierige Situation sowie die Tatsache in Anschlag zu bringen, dass jener Aufsatz für eine Zeitschrift des American Jewish Commitee, Contemporary Jewish Record, verfasst wurde. Der Aufsatz wäre daher nicht so sehr um der Philosophie willen, als vielmehr um der Ermutigung willen geschrieben worden. 141 ECW 23, 113. 142 Vgl. ebd., 118. Zitat aus ebd. 140

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Mythisches und religiöses Gefühl

4. Unterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl 4.1 Die Befreiung des religiösen vom mythischen Gefühl Cas­si­rer beschreibt »Hoffnung und Furcht« als »mythische[-] Grund­ affekte[-]«143 bzw. als wirkende Kräfte, die »in der mythischen Weltauffassung bestimmend«144 sind. Aber es ist nicht zu übersehen, dass seine Beschreibung des mythischen Gefühls eigentlich einseitig die negative Emotion, nämlich die Emotionsrichtung der Furcht, betont. In einem Vorlesungsmanuskript stellt er beispielsweise das »Urgefühl des Mythos«145 als Scheu und Furcht vor den mythischen Mächten dar. Solch eine einseitige Hervorhebung ergibt sich unverkennbar mit Blick auf den Vergleich zwischen dem mythischen und religiösen Gefühl. Zur bereits erwähnten kulturellen oder, noch genauer, mythisch-religiösen Metamorphose der biologischen Angst schreibt Cas­si­rer im MS: »Myth, and religion in general, have often been declared to be a mere product of fear. But what is most essential in man’s religious life is not the fact of fear, but the meta morphosis of fear. Fear is a universal biological instinct. It can never be completely overcome or suppressed, but it can change its form. Myth is filled with the most violent emotions and the most frightful visions. But in myth man begins to learn a new and strange art: the art of expressing, and that means of organizing, his most deeply rooted instincts, his hopes and fears. / This power of organization appears in its greatest strength when man is confronted with the greatest problem – that of death. To ask for the causes of death was one of the first and most urgent questions of mankind. Myths of death are told every where – from the lowest to the highest forms of human civilization.«146

Cas­si­rer spricht hier zwar von der symbolischen – mythisch-religiösen – Überwindung bzw. von der Metamorphose der biologischen Furcht.147 Aber dabei ist darauf zu achten, dass Cas­si­rer seiner Beschreibung der Emotionen – sowohl hinsichtlich der Besonderheit einzelner Emotionsarten als auch in anthropologischer Hinsicht – keine Genauigkeit schenkt, dass er in ECW 17k, 422 f. ECN 4b, 79. 145 ECN 6a, 28. 146 ECW 25, 49. 147 Cas­si­rer beschreibt auch die Emotion des Unbehagens (»uneasiness«), welche John Locke als Hauptansporn der menschlichen Aktivität darstellt, als eine biologische (vgl. ECN 7f, 162 f.). Im Übrigen erachtet Locke die Emotion der Furcht (fear) als eine Unterart jenes Unbehagens (vgl. Locke (1981), 271 f.). 143

144



Unterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl 113

einer anderen Schrift die Todesangst als eine spezifisch menschliche Art der Angst darstellt.148 Hinzufügend ist anzumerken, dass aus Cas­si­rers Ansicht, das mythische Bewusstsein kenne kein Ichbewusstsein, Folgendes zu schließen ist: Die Todesangst im Mythos, die anfängliche Todesangst des Menschen soll bei Cas­si­rer nicht, wie etwa in Heideggers ontologischer Analyse, die Angst vorm Tod meines Daseins, sondern die Angst vor der Tatsache des Todes schlechthin heißen. Aber wichtiger ist uns, dass Cas­si­rer das Heilmittel gegen jene anfäng­ liche Todesangst im beginnenden menschlichen, d. h. mythischen Bewusstsein findet. Der erste Teil vom MS, in dem das Wesen des Mythos behandelt wird, endet mit dem folgenden Satz: »In mythical thought the mystery of death is ›turned into an image‹ – and by this transformation death ceases being a hard unbearable physical fact; it becomes understandable and supportable.«149 Diesen Zusammenhang erklärt Cas­si­rer etwas näher im EM: »The feeling of the indestructible unity of life is so strong and unshakable as to deny and to defy the fact of death. […] By virtue of this conviction of the unbroken unity and continuity of life myth has to clear away this phenomenon.«150 Folgt man dieser Beschreibung, muss man Cas­si­rers Ansicht folgendermaßen interpretieren: Für die Überwindung der Todesangst braucht die Religion keine Rolle zu spielen. Aber dies bedeutet weder, dass der Mythos die Emotion der Angst überhaupt überwinden würde, noch, dass die Religion zur Überwindung der allgemeinen Angstemotion nichts beitragen würde. Zur Angstanalyse Sören Kierkegaards schreibt Cas­si­rer: »Fear may create demons; but it does not create the higher Gods; nor can we derive from it the doctrine of Monotheism, the doctrine of a unique God. […] Kierkegaard thinks that all religious thought, especially all Christian thought, has one of its deepest roots in our feeling of anxiety. […] He has written a special treatise about the concept of anxiety in which he declares that the more original the human being is, the deeper his anxiety is. But I do not think that we can accept this doctrine. I do not deny that in a genetic sense fear and anxiety may be regarded as one of the first and the most important phenomena of our religious consciousness. But in the evolution and in the progress of religion they give room to other and very different feelings and emotions. […] It is not longer fear and anxiety, and it is no longer

»Fear of death is undoubtedly one of the most general and most deeply rooted human instincts« (ECW 23, 95 f. [Hervorh. Y. H.]). 149 ECW 25, 51. 150 ECW 23, 92 f. 148

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Mythisches und religiöses Gefühl

mere submission, mere passive obedience that is the principle of the higher religions.«151

Legt man diese Passage nach Kierkegaard aus, geht es hier um die Angst nicht als eine biologische Emotion, sondern als eine dem Menschen – dem spezifischen Wesen als »Synthese von Seele und Leib«152 – eigentüm­liche Emotion. Aber da Cas­si­rer hier an einer solch anthropologischen bzw. existenzialistischen Bedeutung der Angst keinesfalls gelegen ist, ist Cas­si­ rers Ansicht, unabhängig von jener Bedeutung, wie folgt darzustellen: Die Emotion der Angst bzw. Furcht, welche eine entscheidende Rolle im Mythos bzw. in den anfänglichen Religionen spielt, wird in den höheren, d. h. monotheistischen Religionen durch eigentlich religiöse Emotionen abgelöst bzw. bewältigt.153 Im EM führt Cas­si­rer als paradigmatisches Beispiel für die mythische Angst das mythische Verbotssystem, d. h. das Tabusystem, an. Bezüglich dieses Systems heißt es: »What we find here are inhibitions and prohibitions, not moral or religious demands. For it is fear that dominates the taboo system; and fear knows only how to forbid, not how to direct. It warns against the danger but it cannot arouse a new active or moral energy in man. The more the taboo system develops the more it threatens to congeal the life of man to a complete passivity.«154

Aber bei allen seinen Defekten sei das Tabusystem das unentbehrliche und einzige System der sozialen Regulierung gewesen. Cas­si­rer fährt fort: »It was impossible for religion to abrogate this complex system of interdictions. To suppress it would have meant complete anarchy. Yet the great religious teachers of mankind found a new impulse by which, henceforward, the whole life of man was led to a new direction. They discovered in themselves a positive power, a power not of inhibition but of inspiration and aspiration. They turned passive obedience into an active religious feeling. The taboo system threatens to make the life of man a burden that in the end becomes unbearable. Man’s whole existence, physical and moral, is smothered under the continual pressure of this system. It is here that religion intervenes. All the higher ethical religions – the religion of the prophets of Israel, Zoroastrianism, Christianity – set themselves a common task. They relieve the ECN 7f, 167 f. Kierkegaard (1984), 49, 87 usf. 153 In diesem Sinne kann man sagen, dass die religiöse Stellung zur Todesangst, die Stellung, welche Cas­si­rer in Heideggers Sein und Zeit erblickt, für Cas­si­rer eine Stellung der niedrigen Religion ist (vgl. ECN 1c, 223). 154 ECW 23, 117. Vgl. ECW 13, 80; ECN 9f, 211. 151

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Unterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl 115

intolerable burden of the taboo system; but they detect, on the other hand, a more profound sense of religious obligation that instead of being a restriction or compulsion is the expression of a new positive ideal of human freedom.«155

Da jene höheren ethischen, d. h. monotheistischen Religionen durch ihre volle Verstärkung des Ichbewusstseins (sowie des Zukunftsgedankens) gekennzeichnet werden, liegt es klar auf der Hand, dass jene religiöse Überwindung des Tabusystems bzw. des Mythos zugleich zur Erlangung der vollen Selbstverantwortung führt, welche das mythische Bewusstsein nicht kennt.156 Im Vergleich zur mythisch-religiösen Sympathie, welche sich auf alle Gegenstände der Welt erweitert, schreibt Cas­si­rer bezüglich der wahrhaft religiösen Sympathie: »The belief in the ›sympathy of the Whole‹ is one of the firmest foundations of religion itself. But religious sympathy is of a different kind from the mythical and magical. It gives scope for a new feeling, that of individuality.«157

Das Gefühl der Individualität ist freilich nicht im Rahmen besonderer Emotionen wie Furcht, Freude usw. zu verstehen. Doch dieses Gefühl besagt nicht allein die Anerkennung der moralisch-ethischen Individualität bzw. die Sensibilität für sie, sondern die Setzung der Wertakzente auf die moralisch-ethische Persönlichkeit, d. h. das Hingezogenwerden von ihr bzw. die Lust auf sie. Es ist dieses Gefühl für die Individualität, welches das religiöse Gefühl wahrhaft vom mythischen absondert. Dies wird im Folgenden unter dem Aspekt der einzelnen Emotionsarten noch klarer gemacht werden.

ECW 23, 117 f. »[…] in all primitive societies ruled and governed by rites individual responsibility is an unknown thing. What we find here is only a collective responsibility. Not the individuals but the group is the real ›moral subject‹« (ECW 25, 280. Vgl. ECW 23, 113 f. u. 240 f.). Die englische Anthropologin Mary Douglas findet in diesem von Cas­si­rer vollzogenen Ausschluss des Moralischen aus dem Mythos den damals verbreiteten schädlichen Einfluss von James Frazers Entwicklungsgedanken, der – nach ihr – auf der »Selbstgefälligkeit und unverhohlene[n] Verachtung« »gegenüber der primitiven Gesellschaft« beruhe (vgl. Douglas (1988), 39 f. Zitat aus ebd., 39). 157 ECW 23, 105 (Hervorh. Y. H.). Im Entwurf zum EM schreibt Cas­si­rer diesbezüglich: »It is this form of a universal ethical sympathy which in monotheistic religion gains the victory over the primitive feeling of a natural or magical solidarity of life« (ECN 6c, 525). 155

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Mythisches und religiöses Gefühl

4.2 Die Besonderheit der religiösen im Unterschied zu den ­mythischen Emotionen Wie wir soeben gesehen haben, argumentiert Cas­si­rer gegen Kierkegaard, dass die Angst keine (eigentlich) religiöse Emotion sei. Dabei benennt Cas­ si­rer die für die Religion charakteristischen Emotionen: »It is not longer fear and anxiety, and it is no longer mere submission, mere passive obedience that is the principle of the higher religions. What we find here are other affections: the affections of confidence and hope, of love and gratitude and it is on these affections that religions belief depends.«158

Die eigentlich religiösen Emotionen sind daher laut Cas­si­rer die folgenden: Vertrauen (confidence), Hoffnung (hope), Liebe (love) und Wohltätigkeit (gratitude). Es ist für uns nicht von Bedeutung, jede hier dargestellte einzelne Emotionsart näher zu prüfen, da Cas­si­rer – gemäß seinem eigenen Anspruch – der Analyse bzw. Beschreibung der unterschiedlichen Emotionsarten keine Genauigkeit schenkt. Deshalb wollen wir hier allein die Grundrichtung von Cas­si­rers Verständnis der religiösen Emotionsarten herausschälen. Dafür ist es von Belang, im Sinne zu haben, dass Cas­si­rer in einem Vorlesungstext als fundamentale Emotionen des Menschen die folgenden Emotionen darstellt: Furcht (fear), Angst (terror), Sorge (anxiety), Liebe (love), Hass (hate) und Wohltätigkeit (charity).159 Unabhängig von einer hier nicht bedeutsamen Frage, ob wir »charity« mit »gratitude« gleichsetzten dürften, ist zunächst nicht zu übersehen, dass Cas­si­rer Liebe mal als eine spezifisch religiöse Emotion, mal als eine fundamentale Emotion des Menschen überhaupt beschreibt. Diesbezüglich ist es nicht schwer, den anscheinenden Widerspruch aufzuheben, sofern wir unter den fundamentalen Emotionen die wesentlichen Emotionen des Menschen verstehen. Denn Cas­si­rer bräuchte nicht zu postulieren, dass die wesentlichen Emotionen des Menschen die geistesgeschichtlich ältesten Emotionen wären. Obwohl er den Mythos als die früheste Phase der menschlichen Kultur (d. h. für Cas­ si­rer des menschlichen Bewusstseins) ansieht, bedeutet dies keinesfalls, dass der Mythos das Wesen der Kultur (bzw. des menschlichen Bewusstseins) ist. Ganz im Gegenteil: Das Wesen der Kultur liegt Cas­si­rer zufolge in der Pluralität der symbolischen Formen. Aus dieser Sicht heraus betrachtet, gibt es keinen guten Grund dafür, dass entwicklungsgeschichtlich später entstandene Emotionen aus dem Bereich der wesentlichen Emotionen des Menschen ausgeschlossen werden sollten. ECN 7f, 167 f. Vgl. ECN 6c, 431.

158 159



Unterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl 117

Wichtiger und etwas schwieriger ist jedoch die Frage nach dem Verhältnis zwischen mythischen Emotionen und religiösen Emotionen. Denn Cas­si­rer beschreibt neben der Furcht die Hoffnung als eine der mythischen Grund­ emotionen. Zudem stellt er neben dem Hass auch die Liebe als eine andere mögliche Ausprägung des mythischen Gefühls dar.160 Noch hinzuzufügen ist, dass sich das Vertrauen – Cas­si­rers Grundansicht nach – eigentlich auch im Mythos finden sollte, da er davon ausgeht, dass das mythische Bewusstsein auf die mythische Weltstruktur, z. B. auf die ununterbrochene, unzerstörbare Einheit des Lebens vertraut.161 Dies bedeutet, dass die Emotionen der Hoffnung, der Liebe und des Vertrauens, welche Cas­si­rer als religiöse Emotionen darstellt, nicht allein in der Religion, sondern auch im Mythos heimisch sind. Wie können wir solch eine Verflechtung auflösen? Was zunächst wichtig und – aufgrund des Vergleichs von Cas­si­rers Beschreibung der mythischen Emotionen mit jener der religiösen Emotionen – direkt zu erkennen ist, lässt sich wie folgt darstellen: Cas­si­rer erblickt im mythischen Gefühlsleben die entgegengesetzten Emotionslagen; die positive und die negative, m. a. W. das Hingezogenwerden und das Abgestoßenwerden. Dabei ist an den soeben festgestellten Sachverhalt zu erinnern, dass Cas­si­rer mit Bezug auf den Mythos eigentlich überwiegend negative Emotionen wie z. B. Furcht hervorhebt. Hingegen zählt er hinsichtlich des religiösen Gefühlslebens allein positive Emotionen, d. h. allein Emotionen als Hingezogenwerden des Leib-Seelischen, auf. Dieser Beschreibungsunterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl deutet eine wichtige Ansicht Cas­si­rers zum religiösen Gefühl an: nämlich die Ansicht, dass die religiösen Emotionen durch ihre Positivität, durch ihre Hingezogenheit gekennzeichnet werden. Allerdings bleibt noch die Frage offen, wie sich die Hoffnung bzw. die Liebe im Mythos und jene in der Religion zueinander verhalten. Der Schlüssel zur möglichen Lösung dieser Frage liegt in Cas­si­rers Ansicht, dass die (monotheistische) Religion im Gegensatz zum Mythos das echte Ich­bewusst­sein gegenüber dem Du bzw. das Gefühl für die Individualität kennt. Hierzu ist Cas­si­rers Darstellung der Dankbarkeit als spezifisch religiöse Emotion erhellend. Denn die Dankbarkeit setzt m. E. die freie Handlungsmöglichkeit bzw. den freien Willen eines anderen voraus. Anders formuliert, dankt man, weil Ich weiß, dass Du aufgrund deiner Wahlfreiheit das Gute für mich tust. Wenn wir das Danken derart verstehen dürfen, ist es selbstredend, Vgl. ECW 12, 45 u. 85. »What he [man in the earliest and lowest stages of civilization, Y. H.] opposed to the fact of death was his confidence in the solidarity, the unbroken and indestructible unity of life« (ECW 23, 95). 160 161

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Mythisches und religiöses Gefühl

dass die wahrhafte Dankbarkeit Cas­si­rers Verständnis nach erst im religiö­ sen Bewusstsein des Monotheismus zum Vorschein kommen kann. Denn es ist Cas­si­rer zufolge keine andere als die monotheistische Religion, die die Bildung des Ichbewusstseins und daher der »Entscheidungsfreiheit«162 vollendet. Wenn wir die Besonderheit der religiösen Emotionen bei Cas­si­rer verstehen wollen, müssen wir daher davon ausgehen, dass jede religiöse Emotion auf dem Ichbewusstsein beruht bzw. aus ihm quillt: Die mythische Hoffnung, das mythische Hingezogenwerden ist von der religiösen Hoffnung dadurch zu unterscheiden, dass die religiöse Hoffnung auf dem Ichbewusstsein, auf der freien, reflektierten bzw. rationalen Stellungnahme des Ichs basiert. Die religiöse Liebe ist kein unreflektiertes Hingezogenwerden, sondern die Liebe, die aus dem freien, rationalen Ich heraus quillt und auf einen persönlichen Gott bzw. eine andere freie Persönlichkeit gerichtet wird. Das religiöse Vertrauen ist kein bloßer Glauben an eine mythische Weltordnung, sondern das selbstgewollte Sich-Verlassen auf jenen Gott bzw. jene Persönlichkeit. Kurz, im Unterschied zum mythischen Gefühl besteht das Wesen des religiösen Gefühls in seiner Positivität und in seinem Selbstbewusstsein bzw. Bewusstsein für die freie Persönlichkeit, welches mit dem Zukunftsgedanken unlösbar verbunden ist. Das mythische Bewusstsein lebt zwar in der stark emotionalen Welt, doch es weiß nicht, wer sich wie fühlt. Hingegen weiß das religiöse Bewusstsein als selbstbewusster und zukunftsorientierter Glaubens- und Gefühlsträger, wer sich wem gegenüber wie fühlt, oder noch präziser, wer zu wem hingezogen wird: Das mythische Bewusstsein wird unbewusst vom – positiv oder negativ – Heiligen hingezogen oder abgestoßen, während das religiöse Bewusstsein selbst- und zukunftsbewusst weiß, dass es zur freien Persönlichkeit hingezogen wird.

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Plümacher (2008), 97.

IV.  Ästhetisches Gefühl

1. Vorbemerkungen zu Cas­si­rers Ästhetik Der Cas­si­rerschen Entwicklungslinie des menschlichen Bewusstseins folgend, gehen wir nun von der Sphäre des Mythisch-Religiösen zu jener des Ästhetischen über. Hierbei muss zuallererst beachtet werden, dass das Ästhetische bei Cas­si­rer und daher in den folgenden Abschnitten nicht im Sinne von aisthesis, d. h. nicht im Sinne der sinnlichen Wahrnehmung überhaupt, sondern im Sinne des Künstlerischen bzw. der künstlerischen Schönheit verstanden wird. Es ist unumstritten, dass Cas­si­rer mit der gleichen Berechtigung wie beim Mythos, der Religion, der Sprache usw. die Kunst als eine symbolische Form – als »an independent ›universe of discourse‹«1 – begreift. 2 Aber in Cas­si­rers Beschreibung des Ästhetischen bzw. der Kunst findet man sehr wenig Kulturmaterial, was Cas­si­rer aber von der Kulturphilosophie verlangt.3 Wenngleich Cas­si­rer z. B. anhand der Untersuchung Wölfflins die kunstwissenschaftliche Methodologie in geringem Umfang behandelt und wenngleich er viel über die Geschichte der philosophischen Ästhetik schreibt, ist die erhebliche Begrenztheit des Kulturmaterials für seine Kunstdarstellung unverkennbar. Selbst wenn wir davon absehen, dass sich Cas­si­rers Kunstdarstellung überwiegend auf die Dichtkunst (inklusive Drama) konzentriert, werden kunstwissenschaftliche bzw. kunstgeschichtliche Untersuchungen – im Unterschied zur Beschreibung der anderen wichtigen symbolischen Formen – kaum beachtet. Zudem ist die Breite der behandelten Kunstwerke sehr begrenzt. Der achtzehnjährige Cas­si­rer, welcher vor seiner Hinwendung zur Philosophie noch Deutsche Literatur studierte und an seiner »glänzenden ECW 23, 164. Als Cas­si­rer zum ersten Mal (1920) in der kulturphilosophischen Deutung den Begriff der »symbolischen Form« verwandte, konzipierte er bereits die ästhetische Sphäre als eine besondere symbolische Form (vgl. ECW 10, 112 f.). Im Spätwerk EM (1943) widmet Cas­ si­rer der Kunst als einer symbolischen Form ein Kapitel. 3 Diesbezüglich heißt es in einem Vermerk paradigmatisch: »Diese ›Form‹ [jede einzelne symbolische Form, Y. H.] kann nur durch Versenkung in das empirische Material gefunden werden – / und dieses ist uns – darin ist diese Analyse mit Dilthey einig – nicht anders als in geschichtlicher Form zugänglich[.] / […] Sprachgeschichte, Mythengeschichte, Religionsgeschichte, Kunstgeschichte, Wissenschaftsgeschichte [:] / sie bilden die ›Materie‹ der Ph[ilosophie] der symb[olischen] F[ormen] […]« (ECN 1b, 164). 1 2

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Ästhetisches Gefühl

Begabung für die Literaturgeschichte« nicht (mehr) zweifelte, berichtete in einem Brief, dass er in seinen »Erholungsstunden« »immer mit der größten Vorsicht« zeitgenössische Autoren – wie Strindberg, Huysmans und Maeterlinck – las. 4 Wie diese »größte Vorsicht« des jungen Cas­si­rer, die man wohl als Ablehnung deuten könnte, bereits andeutet, lässt seine Auseinandersetzung mit der Kunst die Kunstwerke seiner Zeit beinahe gänzlich außer Acht.5 Noch ausschlaggebender für die Kargheit des Kunstmaterials ist Cas­si­rers Vernachlässigung der nicht-europäischen Kunst – während er verschiedenartigste, weltweite Mythen, Religionen und Sprachen behandelt. Hierfür muss jedoch betont werden, dass Cas­si­rer erst in seinen späten Lebensjahren eine eingehende Beschäftigung mit der symbolischen Form der Kunst in Angriff nahm. Da er noch viele andere Arbeiten fertigzustellen hatte, 6 fehlte ihm die Zeit, aufs Neue empirisch-geschichtliche Kunstuntersuchungen in seine Argumentation einzubeziehen. Nichtsdestoweniger bleibt die Frage, wie Cas­si­rer anhand solch eines begrenzten kunstgeschichtlichen Materials, ohne zu zögern, das universelle Wesen der Kunst darstellen bzw. darzustellen versuchen konnte. Hierzu ist Cas­si­rers Vermerk zum Unterschied zwischen der kulturwissenschaftlichen Formenanalyse und der philosophischen Ästhetik lehrreich. Zu Wölfflins Begriffen wie »malerisch« und »plastisch«, »klassisch« und »barock« usw. heißt es: »In all diesen ›Grundbegriffen der Kulturwissenschaft‹ handelt es sich um etwas völlig anderes, als um ›idiographische‹ Beschreibungen und ebensowenig handelt es sich um ›Wertbeg rif fe‹ (Wertbegriffe sind ›schön‹, [›]häss­lich‹ etc.[)] aber von ihnen wird hier ja kein Gebrauch gemacht – das ist Sache der philosophi[schen] Aestheti k , nicht der Kunstwissenschaft oder Kunstgeschichte«.7

Damit ist nicht angedeutet, dass Cas­si­rer das Wertproblem als wesentliche Aufgabe der philosophischen Ästhetik betrachtete. 8 Ebenso wenig ist darauf hingewiesen, dass eine Maxime der Philosophie der symbolischen Formen verlangt, ästhetische Wertkriterien fürs Geschmacksurteil festzusetzen. Brief an Bruno Cas­si­rer, 10. Juli 1893, in: ECN18, 3 f. Vgl. Naumann (2012), 538 f.; Lauschke (2007), 17; Mattenklott (2012), 564. 6 Toni Cas­si­rer berichtet von Cas­si­rers ungewöhnlich schnellem Arbeitstempo und seinem »Bestreben ›fertig‹ zu werden« in der Zeit seiner letzten Lebensjahre (T. Cas­si­rer (2003), 274). In diesem Zeitraum schrieb Cas­si­rer neben vielen Aufsätzen wichtige Spätwerke, wie z. B. LKW, den vierten Band des Erkenntnisproblems, den EM und den MS . 7 ECN 5c, 133. 8 Beispielsweise stellt Cas­si­rer in einer anderen Nachlassschrift die »Aufgabe der systematischen Aesthetik« (ECN 1a, 77) als Aufweisung des besonderes Prinzips bzw. des besonderen Charakters jeder Kunstgattung dar, obschon er diese Aufgabe nicht unternommen hat. 4 5



Vorbemerkungen zu Cas­si­rers Ästhetik 121

Cas­si­rers ästhetische Lehre kennt zwar keine wertbezogene Entgegensetzung von Schönem und Hässlichem, denn das Schöne bedeutet bei Cas­ si­rer nicht das Pendant zum Hässlichen. Oder anders ausgedrückt, ist ihm an der Bedeutung des Hässlichen und daher am Verhältnis des Schönen und Hässlichen nicht gelegen. Aber dies ändert nichts daran, dass Cas­si­rers Kunstdarstellung zugleich die Bestimmung der ästhetischen Wertkriterien impliziert. Im EM heißt es: »To be sure, a great many ostensible works of art are very far from satisfying this requirement [the requirement for the genuine artistic activity, Y. H.]. It is the task of the aesthetic judgment or of the artistic taste to distinguish between a genuine work of art and those other spurious products which are indeed playthings, or at most ›the response to the demand for entertainment‹.«9

Solch ein ästhetisches Urteil (»the aesthetic judgment«) liegt Cas­si­rers ästhetischer Lehre zugrunde: In ihr geht es nicht darum, welches Wesen die universellen Kunstwerke bzw. Kunsttätigkeiten gemeinsam haben, sondern darum, was die Bedingungen für das echt Schöne, das echte (oder große) Kunstwerk bzw. die echte Kunsterfahrung sind. So impliziert Cas­si­ rers ästhetische Lehre seine Antwort auf eine traditionelle Frage der Ästhetik, nämlich auf die Frage, was gerechtfertigte Kriterien für das ästhetische Geschmacksurteil sind. Susanne K. Langer beendet Feeling and Form, ihr Werk zur Ästhetik, welches Cas­si­rer gewidmet ist, mit dem folgenden Satz: »It was Cas­si­rer – though he never regarded himself as an aesthetician – who hewed the keystone of the structure, in his broad and disinterested study of symbolic forms; and I, for my part, would put that stone in place, to join and sustain what so far we have built.«10

Langer meint damit, dass sie in diesem Werk nicht im Besonderen Cas­si­ rers ästhetische Sym­bol­theo­rie, sondern vielmehr seine allgemeine Sym­bol­ theo­rie fokussiert auf ihre ästhetische Untersuchung in überarbeiteter Weise überträgt.11 Dies besagt jedoch nicht, dass Cas­si­rer selbst keinen konkreten ECW 23, 178. Langer (1967), 410. 11 Langers Deutung der Kunsttätigkeit als symbolische Objektivierung bzw. Mitteilung der Ideen des Gefühls (»ideas of feeling«) (ebd., 59) erinnert an die symbolische Objektivierung des Gefühlserlebnisses bei Cas­si­rer. Aber diese Funktion wird bei Cas­ si­rer hauptsächlich im Rahmen des Mythos behandelt. In seiner Ästhetik geht es weniger um die symbolische Objektivierung bzw. Mittteilung des Gefühls (bzw. seiner Ideen), als vielmehr um die Modifikation der Charaktere des Gefühls. Übrigens, Nelson Goodmans   9

10

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Ästhetisches Gefühl

Ansatz zur Ästhetik kennen würde. Zudem ist uns hier freilich nicht an Langers Versuch, sondern an Cas­si­rers eigener Verwendung seines theoretischen Schlusssteins im ästhetischen Bereich gelegen. Eigentlich hat Cas­si­ rer in der ursprünglichen Planung der PsF, d. h. um 1920, einen besonderen Band zur Kunst konzipiert. Jedoch stellte er in der Tat erst mehr als zwanzig Jahre später seine eigene ästhetische Ansicht dar. Diesen Sachverhalt erklärt Cas­si­rer in einem Brief von 1942: »Inhaltlich würde sie [eine neue zusammenfassende Darstellung der PsF, d. h. EM, Y. H.] insofern neu sein, als ich hier zum ersten Mal eine eingehende Darstellung meiner ästhetischen Theorie geben würde. Schon im ersten Entwurf der Phil. d. s. F. [PsF, Y. H.] war ein besonderer Band über Kunst vorgesehen – die Ungunst der Zeiten hat aber seine Ausarbeitung immer wieder hinausgeschoben. Nun aber hoffe ich so weit zu sein, daß ich mich daran wagen kann.«12

Dies impliziert: Obgleich Cas­si­rer also den Mangel an den detaillierten Ausführungen im EM unterstreicht und die Leser für die näheren Pro­ blem­analysen um die Lektüre der PsF bittet,13 muss sich die Untersuchung der Ästhetik Cas­si­rers auf das Kunstkapitel im EM – sowie die anderen im gleichen Zeitraum verfassten, inhaltlich sehr ähnlichen nachgelassenen Vortrags- bzw. Vor­lesungs­texte14 – gründen. Wenn wir uns aber dem Kunst­kapi­tel nähern, bekommen wir den Eindruck, dass es weniger leicht erfassbar ist als die Kapitel zu den – zuvor in den anderen Schriften ausgearbeiteten – anderen symbolischen Formen: Die Argumentationslinie zur Kunst scheint etwas durcheinander geraten zu sein. Tatsächlich stellen einige Cas­si­rer-Forschungen bereits fest, dass seine Ästhetik, die er in seinen späten Lebensjahren ansetzte, keine vollendete ästhetische Theorie darstellt, sondern sich erst auf dem Weg zu der Vollendung befand.15 Uns ist hier daher daran gelegen, seine ästhetische Theorie so weit wie möglich jener Vollendung zu nähern und anschließend auf die Zielfrage zu antworten: Was ist die Besonderheit des ästhetischen Gefühls? Oder anders gefragt, wie fühlt man sich in der eigentlich ästhetischen Erfahrung? Sym­bol­theo­rie, deren Ausgangsbasis auch Cas­si­rer viel verdankt, lehnt solch eine ästhetische Modifikation des Gefühlscharakters ab. (Zu Goodmans Anerkennung des Einklangs zwischen seinem philosophischen Grundzug und dem Cassirers vgl. Goodman (1990), 13 f. Zu Goodmans Ablehnung der Spezifizität des ästhetischen Gefühls vgl. Goodman (1976), 226 f. 12 Brief an Paul Arthur Schilpp, 13. Mai 1942, in: ECN 18, 223. Vgl. Verene (1979), 25. 13 Vgl. ECW 23, 2. 14 Vgl. ECN 7e, ECN 7f u. ECN 7g. 15 Vgl. Recki (2004a), 111; Lauschke (2007), 183.



Kant, Schiller und Goethe – nach Cas­si­rers Verständnis 123

Für die Beantwortung dieser Zielfrage gilt es zuerst, den Ausgangspunkt des Weges von Cas­si­rers ästhetischer Theorie herauszuarbeiten, indem sein Verständnis der deutschen klassischen Ästhetik näher analysiert wird. 2. Kant, Schiller und Goethe – nach Cas­si­rers Verständnis 2.1 Goethe und Cas­si­rer Es sind drei Denker, in deren Werken Cas­si­rer das Paradigma der klassischen Ästhetik verwirklicht sah: Kant, Schiller und Goethe.16 Es ist nicht schwer zu vermuten, dass Kant und Schiller in philosophisch-systematischer Hinsicht für die Bildung der ästhetischen Theorie Cas­si­rers musterhafter sind als Goethe. Allerdings ist dies nicht der Hauptgrund dafür, dass wir Goethes Einfluss auf Cas­si­rers Ästhetik nicht in den Vordergrund rücken werden. So wird in diesem und nächsten Unterkapitel erläutert, warum wir uns in diesem Kapitel nicht so sehr auf Goethe, als vielmehr auf Kant und Schiller berufen. Cas­si­rer hat »als junger Student der Literaturgeschichte« begonnen, sich »mit Goethe-Problemen zu beschäftigen«.17 Fast fünfzig Jahre später sagte Cas­si­rer bezüglich der Goethevorlesungen, die er in Göteborg 1939 hielt: »Ich bin in der Tat an diesen Vorlesungen innerlich besonders beteiligt; denn Goethe gehört zu den geistigen Mächten, die am stärksten auf meine Bildung gewirkt haben. Nach und nach ist er für mich zu einer Art welt­ licher Bibel geworden.«18 Cas­si­rer hält, so Massimo Ferrari hierzu, »immerfort an der Auffassung einer wesentlichen Kontinuität der Linie Kant-Schiller-Goethe fest, die schon für den Marburger Neukantianismus eine unbestrittene These ist« (Ferrari (2002), 177. Vgl. Ferrari (2003), 61). Dabei weist Ferrari dazu noch darauf hin, dass sich Cas­si­rers Auseinandersetzung mit jener Kontinuität Kant-Schiller-Goethe auf Karl Vorländers Buch Kant-Schiller-Goethe (1906) stützt (vgl. Ferrari (2002), 77, Anm. 8.; Ferrari (2003), 61, Anm. 114). Vgl. außerdem Hinsch (2001), 24 f. 17 ECN 11c, 236. John Michael Krois, der Herausgeber des Bands zu Cas­si­rers GoetheVorlesungen, berichtet: »Schon im Sommersemester 1893 besuchte Cas­si­rer eine Goethe-Vorlesung von Kuno Fischer in Heidelberg: Kritische Vorträge über Goethe’s Faust« (ECN 11, 430. Anm. 411). 18 ECW 22f, 324. Noch später (1941) stellt Cas­si­rer die Größe Goethes anhand einer religiösen Metapher dar. »Heute […] ist«, so Cas­si­rer im Exil in Schweden, »uns das große Drama, das sich ständig zwischen Licht und Finsternis abspielt, näher gerückt als je zuvor. Niemals haben wir so deutlich gefühlt, daß unsere gesamte Kultur noch mitten in jener Zeit steht, die der alte persische Glaube die ›Kampfzeit‹ nannte« (ECN 11b, 230). »Versetzen wir uns in diese schöne religiöse Vorstellungsweise [der Religion Zarathustra, 16

124

Ästhetisches Gefühl

Obschon sich Cas­si­rers Symbolphilosophie also nicht allein unter Goethes Einfluss entwickelt hat, ist es unumstritten, dass sie Goethe vieles zu verdanken hat. Um mit Krois zu sprechen, steht das Goethebild im »ideellen Mittelpunkt« des philosophischen Gedankengangs Cas­si­rers.19 Goethe wirkte – das ist der entscheidende Punkt – nicht sowohl als Künstler, als vielmehr qua Denker breit auf Cas­si­rers allgemeines Philosophieren ein.20 Oder besser formuliert, bedeutet Goethes künstlerische Kraft und Sicht für Cas­si­rer die Kraft des Erkennens überhaupt. Cas­si­rer sieht Goethes Vortrefflichkeit in der Widerspruchlosigkeit seines Kunstschaffens sowie seiner Naturforschung, ohne zugleich deren jeweilige Eigenständigkeit zu vernichten.21 So interpretiert Cas­si­rer im Vergleich zur mathematischen, berechenbaren Formel die allgemeine Formel Goethes als darauf ausgerichtet, die Erscheinungen überhaupt ohne mathematische Zerstückelung zu veranschaulichen. Er setzt fort: »Goethe hat diesen Zusammenhang mit Vorliebe am ästhetischen Problem, am Phänomen der Schönheit entwickelt und erläutert. […] Aber wieder ist dieser Sachverhalt für Goethe nicht auf die Schönheit und auf die künstlerische Anschauung beschränkt, sondern greift auf das Gesamtgebiet des Wissens über. Denn auch alles Wissen geht letzten Endes auf Gestaltung der Wirklichkeit zurück: so daß die Auflösung der Gestalt auch das Ende des Wissens bedeuten müßte.«22

Obgleich die Naturforschung und das Kunstschaffen unterschiedlich voneinander seien, basiere Goethes Naturforschung oder gar sein Wissen überhaupt auf eben jener künstlerischen Anschauung bzw. Einbildungskraft.23 Cas­si­rer formuliert diesen Zusammenhang in einem anderen Text: »Goethes Grundkraft ist gleichsam die ›bildende‹ Kraft schlechthin, die ›produktive‹ Einbildungskraft als solche, noch bevor sie sich in die verschie-

Y. H.], so müssen wir sagen, daß G[oethe] einer der Grössten aus dieser erlesenen Schar, aus der Schar der Streiter für das Licht ist[.] Von ihm geht eine Licht k ra f t aus, wie sie nur wenigen Gestalten der Weltgeschichte eigen ist« (ebd., 228). Folgendermaßen schließt Cas­si­rer die Vorlesung ab: »Das Licht, das von ihm [Goethe, Y. H.] ausstrahlt, kann und wird nicht verlöschen – Sol invictus!« (ebd., 231). 19 Krois (1995a), 320. 20 Vgl. Naumann (2002), 9 u. 18. 21 Vgl. ECW 9b, 311. 22 Ebd., 312 f. 23 Goethe erwähnend, erklärt Cas­si­rer auch Leonardo da Vincis Einstellung gegenüber Kunst und Naturwissenschaft auf gleiche Weise (vgl. ECW 14a, 182 f.; vgl. außerdem ECW 17d, 174 f.).



Kant, Schiller und Goethe – nach Cas­si­rers Verständnis 125

denen Einzelrichtungen und Einzelbetätigungen getrennt hat, auf denen jede wissenschaftliche oder künstlerische Gestalt beruht.«24

Die Ansicht, Goethes Verständnis der künstlerischen Einbildungskraft gelte nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Naturforschung und sogar für alle Erkenntnisart, findet sich allenthalben in Cas­si­rers Schriften zu Goethe. 25 Wichtig ist dabei, dass Cas­si­rer jene Goethesche Einbildungskraft als Symboltätigkeit an sich versteht. In den Begriff des Symbols »schließt sich«, so Cas­si­rer, für Goethe »der geistige Ring seines Daseins; so faßt sich in ihm nicht nur das Ganze seines künstlerischen Strebens, sondern geradezu das Ganze der ihm eigentümlichen Lebens- und Denkform zusammen.«26 Auf eine solche Weise lässt Cas­si­rer die Einbildungskraft Goethes – dessen »Symbolik des großen Künstlers«27 bzw. dessen »echte dichterische Symbolik«28 – paradigmatisch als die Charakteristik der allgemeinen Symbolisierungskraft bezeichnen. 29 Nicht allein im Kunstwerk, sondern »[i]mmer und überall, wo der Mensch bedeutend auftritt, verhält er sich« – so interpretiert Cas­si­rer Goethes Anschauung – »gesetzgebend: Und diese Gesetzgebung beherrscht und umspannt das gesamte Gebiet seines Daseins.«30 Cas­si­rers Aussage in einem Brief, er habe, um Goethes Werke zu deuten, keine dichterische Gabe, sondern allein »eine gelehrte oder philosophische Gabe«,31 sollten wir als Bescheidenheit verstehen. Doch unabhängig davon steht fest, dass das Goethebild nicht so sehr Cas­si­rers künstlerische Theorie, als vielmehr seine allgemeinen philosophischen Gedanken prägt. Hierin liegt der Grund dafür, dass Goethes Anschauungsweise nicht direkt auf Cas­si­rers Versuch über die Profilierung des Ästhetischen eingewirkt hat.32 ECW 7, 259. Vgl. ECW 18h, 380; ECW 24h, 562 f.; ECN 3a, 8; ECN 10b, 86 u. 92. 26 ECW 16b, 79. 27 ECW 17h, 304. »Das ist«, so zitiert Cas­si­rer hier eine Maxime Goethes, »die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen« (Goethe (1993a), 33). 28 ECW 9b, 255. 29 Vgl. Lauschke (2007), 12 f., 76 f. u. 120 f. 30 ECW 18b, 136. 31 Brief an Gerhardt Hauptmann, 10. Juni 1932, in: ECN 18, 126. Hier vergleicht Cas­ si­rer seine Gabe mit der des Empfängers, d. h. des Schriftstellers Gerhardt Hauptmann. 32 In diesem Zusammenhang ist der Aufsatz »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923) anregend. Dieser Aufsatz besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil sucht Cas­si­rer, »die Aufgabe einer a l lgemei nen Systemati k der s ymbol ischen Formen« (ECW 16b, 78) klar zu machen; im zweiten Teil versucht er hingegen, »innerhalb dieser [allgemeinen, Y. H.] Typik die besonderen und spezifischen 24 25

126

Ästhetisches Gefühl

Goethes Bedeutung ist bei Cas­si­rer, auch wenn es sich paradox anhört, für die Profilierung des Ästhetischen zu groß. Deshalb wollen wir im Folgenden nicht so sehr anhand von Cas­si­rers Auseinandersetzung mit Goethe, sondern in erster Linie anhand von Cas­si­rers Auseinandersetzung mit der Ästhetik Kant-Schillers seine ästhetische Position verdeutlichen. Man sucht dennoch – dies muss betont werden – vergebens Stellen, in denen Cas­si­rer seine Ästhetik seiner Goetheinterpretation gegenüberstellt, da die Kunst nur im Ganzen seiner Symbolphilosophie, welches viel dem Goethebild verdankt, ihren Platz hat. Zudem darf Folgendes nicht vergessen werden: Selbst wenn Cas­si­rers Goethebild für die Profilierung des Ästhetischen in der gesamten Struktur seiner Philosophie nicht von großer Bedeutung ist, ist Goethe ohne Zweifel für Cas­si­rer der vorbildhafteste Künstler und sieht Cas­si­rer in Goethes Werken die Paradigmen echter Kunstwerke. Hierzu ist ergänzend hervorzuheben, dass unsere Fokussierung der Argumentation auf Kant-Schillers Ästhetik keinesfalls die Vernachlässigung von Cas­si­rers Verständnis der Kunstwerke bzw. Kunsttätigkeit Goethes bedeutet, sondern ganz im Gegenteil, erklärt sie zugleich diese Tätigkeit. Denn Cas­si­rer ist, gemeinsam mit Wilhelm Windelband, der Meinung, dass die Goethesche Dichtung zusammen mit der Kantischen Philosophie letztlich ein und denselben »geistigen Zielpunkt«33 der deutschen Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts bildet. Was in Goethe »als Leistung und Tat sich darstelle«, werde in Kant, so Cas­si­rer, »aus der reinen Notwendigkeit des philosophischen Denkens begründet und gefordert«.34 Dass Cas­si­rer im Verhältnis von Schillers Ästhetik zu Goethes Kunstleistung bzw. -ansicht Ähnliches sieht, wird im Folgenden sichtbar gemacht. 2.2 Goethes Kunst und Schillers Ästhetik In FF beschreibt Cas­si­rer den Unterschied zwischen Schillers Neigung zum theoretisch-praktischen Postulat und Goethes Neigung zur Anschauung der Lebendigkeit in der Natur folgendermaßen:

Züge jeder einzelnen Grundrichtung zu bestimmen« (ebd., 91). Dabei erwähnt Cas­si­rer Goethe häufig im ersten Teil, in dem es um den Grundzug der Symbolisierung überhaupt geht. Hingegen bringt er im zweiten Teil, in welchem er ihre Differenzierung angeht, die Rede nicht mehr auf Goethe, obwohl es sich dort auch um Kunst als eine symbolische Form handelt. Dies wäre kein bloßer Zufall und könnte durch die breite Einwirkung des Goe­ the­bildes auf Cas­si­rer erklärt werden. 33 ECW 15, 291. 34 Ebd. Vgl. Windelband (1880), 171.



Kant, Schiller und Goethe – nach Cas­si­rers Verständnis 127

»Der Imperativ des Sollens wird [bei Schiller, Y. H.] zum Schlüssel, der uns auch den Zusammenhang und die Harmonie des Seins erst wahrhaft aufschließt. Für Goethe hingegen gilt der umgekehrte Weg. Er rückt nicht die Momente des natürlichen Werdens unter das abstrakte Postulat des Sittlichen – sondern er sucht sich die Natur als ein Ganzes, das sich selbst genug ist, in reiner Anschauung zu vergegenwärtigen.«35

Aber trotz dieser unterschiedlichen Wege, welche Goethe und Schiller eingeschlagen hätten, träfen sich die beiden, so Cas­si­rer, am Ende ihrer jeweiligen Wege. Aus der Sicht Schillers betrachtet, vollziehe sich dieses Treffen in der Idee des Spieltriebs und im Begriff der »lebenden Gestalt« (oder mit Cas­si­rer »lebendigen Gestalt«) 36 – einem Begriff, welcher in der folgenden Argumentation eine unentbehrliche Rolle spielt. Schiller erkenne in diesem Begriff, wie der reife Goethe, die Vereinbarkeit der Mannigfaltigkeit der Natur mit der Einheit der Vernunft, der Naturnotwendigkeit mit der Vernunftfreiheit und des flüchtigen Lebens mit der festen Form.37 Der­ gestalt begegnet man in Cas­si­rers Auseinandersetzung mit Schillers Ästhetik sogar einer Formulierung, welche die allgemeine Sym­bol­theo­rie Cas­si­rers antizipieren lässt. Diese Formulierung lautet: »Das Einzelne wird uns zum Ganzen, das Sinnliche wird uns zum Symbol, sobald wir es mit dem Gesetz der künstlerischen Gestaltung durchdringen.«38 Aber wichtiger für uns ist, dass Cas­si­rer in Schillers Begriff der »lebenden Gestalt« die theoretische Darstellung von Goethes Kunstschaffen sieht: »Was Goethe durch die Tat geleistet hatte: die Vereinigung des ›plastischen‹ und des ›dynamischen‹ Formbegriffs, das stellt sich hier [im Begriff der »lebenden Gestalt«, Y. H.] in der reinen Theorie dar.«39 ECW 7, 306. Dies bedeutet – zumindest in einer späteren Schrift – nicht, dass Cas­ si­rer der Ansicht wäre, der junge Schiller hätte keine Liebe zur Natur gekannt. Cas­si­rer macht auf die Liebe zur Natur beim jungen Schiller aufmerksam, um die Korrelation zwischen Schiller und Shaftesbury hervorzuheben (vgl. ECW 18g, 345 f.). 36 Cas­si­rer selbst benutzt immer das Wort »lebendige Gestalt« sowohl in FF als auch in »Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften« (vgl. ECW 7, 317; ECW 9b, 336). Jedoch ist Schillers eigentlicher Begriff die »lebende Gestalt« (Schiller (1962), 355 u. 359). Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Cas­si­rer diese kleine Änderung mit der Absicht, Schillers Wortverwendung zu korrigieren oder dem Wort einen neuen Sinn hinzuzufügen, gemacht hat. Denn in diesen zwei Texten geht es nicht um Cas­si­rers Ästhetik, sondern um Schillers Philosophie. Außerdem erwähnt Cas­si­rer diesen Unterschied nicht. Daher wird in der vorliegenden Arbeit je nach dem Zitat und Kontext mal Schillers Wort »lebende Gestalt«, mal Cas­si­rers »lebendige Gestalt« gleichbedeutend verwendet. 37 Zu Goethe vgl. ECW 7, 189 f. u. 221 f. Zu Schiller vgl. ebd., 311 f. 38 Ebd., 312. 39 Ebd., 316. Hier meint Cas­si­rer mit dem plastischen Formbegriff den Begriff von Winckelmann und mit dem dynamischen jenen von Herder. 35

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Ästhetisches Gefühl

Cas­si­rer stellt damit bereits 1916 fest, dass sich Schiller in solch einem »›klassischen‹ Formprinzip[-]« »nunmehr mit Goethe innerlich eins weiß«. 40 Cas­si­rer behält diese Behauptung der Einigkeit der Konklusionen von Goethes ästhetischer Leistung bzw. Ansicht und Schillers ästhetischer Theorie bis hin zu seinem Alterswerk bei. 41 Beispielsweise bringt Cas­si­rer – um 1940/1941 – deutlich zu Papier: »Schönheit ist nach einer Definition Schi l lers in seinen aesthetischen Briefen lebendige Gestalt [–] / und in Goethe durchdringen sich diese beiden Momente [des Lebendigen und der Gestalt (der Form), Y. H.][.]«42 Auch wenn sich daher – anscheinend zu Unrecht – wenige Erwägungen zu Goethe in der folgenden Argumentation finden, bedeutet dies nicht eine Vernachlässigung von Cas­si­rers GoetheInterpretation, geschweige denn eine Abweichung davon. Denn die Erläuterung von Cas­si­rers Auseinandersetzung mit Schillers Ästhetik entlarvt zugleich sein Verständnis der Kunstleistung Goethes. Hierzu wäre noch anzumerken, dass Cas­si­rer den Einklang zwischen der Ästhetik Schillers und der Kunstleistung Goethes als Resultat des Einflusses Goethes auf Schiller verstehen möchte. In einer Vorlesung (1940) beschreibt Cas­si­rer Goethes eigenen, individuellen Entwicklungsprozess als »das Geschick der gesamten deutschen Geistesgeschichte«43 von damals und sagt zu Goethes Stilwandlung nach seiner Reise in Italien: »Der rein innere Entwicklungsprozess G[oethe]’s bedeutet zugleich für diese [die deutsche, Y. H.] Dichtung einen Stilwandel von fundamentaler Bedeutung: aus der Epoche des ›Sturm und Drang‹ ist sie in die Epoche des klassischen Stils der deutschen Literatur eingetreten. Jetzt muss auch Schi l ler ein anderer werden. […] Was anfangs lediglich als ein Moment in Goethes eigener, individueller Entwicklung erschien – das gewinnt plötzlich universelle Bedeutung: es führt zu einem Wendepunkte der deutschen, ja europäischen Geistesgeschichte.«44

Cas­si­rer macht solch einen Einfluss Goethes auf Schiller nicht allein für den künstlerischen Stilwandel, sondern auch für die Bildung der Ästhetik geltend. »Schiller hätte«, so Cas­si­rer, »ohne Goethe nicht den Schritt von den Räubern und dem Carlos zum Wa l lenstein und zu den Briefen über die ästhetische Erziehung vollziehen können – / er verdankt hier Goethe ebenso viel als er Kant verdankt«. 45 Abgesehen davon, inwiefern dieser Aus Ebd. Vgl. ECW 24h, 568 f. 42 ECN 11e, 335. 43 ECN 11a, 20. 44 Ebd., 27. 45 Ebd., 20 (kursive Hervorh. Y. H.). 40 41



Kant, Schiller und Goethe – nach Cas­si­rers Verständnis 129

sage Cas­si­rers Recht zu geben ist, lässt sich Cas­si­rers Ansicht in der Formel zusammenfassen, dass Schillers ästhetische Lehre neben Kants Ästhetik vieles Goethes Kunstleistung bzw. -ansicht verdankt, dass Schillers (bzw. Kants) Ästhetik und Goethes Kunsttätigkeit bzw. -ansicht eine unzerlegbare Einheit bilden. 2.3 Kants und Schillers Ästhetik – Ästhetische Welt als Welt des Scheins und des Spiels Bekanntermaßen ist Schiller ein großer Kantianer, so dass seine ästhetische Theorie – wie Schiller selbst in der Blüte jener Theorie, d. h. in »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, ausspricht – »größtentheils« auf Kantischen Grundsätzen beruht. 46 Deshalb ist es unmöglich, Schillers ästhetische Lehre von derjenigen Kants klar zu unterscheiden. Doch da Schiller kein bloßer Epigone Kants ist, wird hier aufgezeigt, warum wir uns in der folgenden Herausarbeitung von Cas­si­rers eigener Ästhetik nicht sowohl auf Kant, als vielmehr auf Schiller beziehen. In Idee und Gestalt stellt Cas­si­ rer hinsichtlich der Problemlösung des Gegensatzes von Stoff (Sinnlichem) und Form (Intelligiblem) Kant als »transzendentalen Analytiker«, Fichte als »absoluten Ethiker« und Schiller als »Dramatiker« dar. Es ist kaum zu über­sehen, dass Cas­si­rer hier jede Sphäre der Kantischen Dreiteilung (von Logik, Ethik, Ästhetik) einem der drei Denker zuweist. Damit ist jedoch freilich nicht gemeint, dass Kant ein rein theoretischer Denker wäre. Denn alle drei Sphären machen eben Kants Grundforschungsgebiete aus. 47 Worauf Cas­si­rer mit jenem Schema hinaus will, ist allein, dass Fichte von der Kantischen Ethik ausgeht48 und Schiller Kants Ästhetik vertieft. Dass Cas­si­rer auf die Authentizität von Schillers Vertiefung der Kantischen Ästhetik vertraut, zeigt sich an Cas­si­rers Wesensbeschreibung der ästhetischen Welt bei Kant. Cas­si­rer notiert in KLL in Hinsicht auf Kants ästhetische Lehre: »Nur die ästhetische Funktion fragt nicht danach, was das Objekt sei und wirke, sondern was ich aus seiner Vorstel lung in mir mache. Das Wirkliche tritt nach seiner reellen Beschaffenheit zurück, und an seine Stelle tritt die ideelle Bestimmtheit und die ideelle Einheit des reinen ›Bildes‹. / In die Schiller (1962), 309. Zum Vergleich zwischen den drei Denkern vgl. ECW 9b, 336. In einem Beitrag zu einer Enzyklopädie betont Cas­si­rer sogar, dass man, um Kants Gedanken richtig zu verstehen, zuallererst nicht die KrV, sondern die KpV lesen soll (vgl. ECW 18i, 442). 48 Vgl. ECW 4, 190 f.; ECW 9b, 333. 46 47

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sem Sinne – aber auch nur in diesem – ist die ästhetische Welt eine Welt des Scheins. Der Begriff des Scheins will nur den falschen Begriff einer Wirklichkeit abwehren, die uns wieder in die Wirksamkeit des theoretischen Naturbegriffs oder des praktischen Vernunftbegriffs zurückversetzen würde. Er hebt das Schöne aus dem Bezirk der K ausa lität heraus – denn auch die Freiheit ist nach Kant eine eigene Art der Kausalität –, um es rein unter die Regel der inneren Gesta ltung zu stellen. Von dieser freilich empfängt auch der Schein sein Gesetz […].«49

Hört man in dieser Betonung der vollkommenen Autarkie der ästhetischen Welt als Welt des Scheins nicht eigentlich die Stimme Schillers? Oder aber hat Cas­si­rer Schillers Scheinbegriff anders verstanden als in der gerade zitierten Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Schein bei Kant? Dass dies keineswegs der Fall ist, so lässt sich aus Cas­si­rers Auseinandersetzung mit dem Schein bei Schiller verstehen. Cas­si­rer äußert sich darüber folgendermaßen: »Die Welt des ästhetischen Scheins hat sich völlig losgelöst von jener Wirklichkeit, wie sie die unmittelbar sinnliche Ansicht der Dinge und wie sie die metaphysische Reflexion und die Begriffe der theoretischen Wissenschaft vor uns hinstellen – aber sie hat damit zugleich in sich selbst erst wahren Bestand und wahre Dauer gewonnen.« 50

Sofern man in dieser Beschreibung des Scheins bei Schiller keinen theoretischen Unterschied zu jener oben dargestellten Interpretation des Scheins bei Kant findet, kann man zu Recht in Cas­si­rers Darstellung des Kantischen Scheins als Wesen des Ästhetischen Cas­si­rers Anlehnung an Schiller sehen. Denn auch wenn Schillers ästhetische Lehre größtenteils von Kant entlehnt ist, ist es bekanntermaßen Schiller, der den Begriff des Scheins ins Zentrum der ästhetischen Diskussion setzt. Gewiss findet man in Kants KU eine, wenngleich kurze, so doch markante Passage, welche mit dem Schein- und Spielbegriff den Kern der Ästhetik Schillers ankündigt.51 Jedoch geht es dabei nicht um das Schöne überhaupt, sondern allein um die Dichtkunst, wenngleich sie nach Kant »den obersten Rang«52 in der Kunst einnimmt. Zudem ist es, wenn an die ECW 8, 300. ECW 9b, 329. 51 Kant schreibt bezüglich der Dichtkunst: »Sie spielt mit dem Schein, den sie nach Belieben bewirkt, ohne doch dadurch zu betrügen; denn sie erklärt ihre Beschäftigung selbst für bloßes Spiel, welches gleichwohl vom Verstande und zu dessen Geschäfte zweckmäßig gebraucht werden kann« (KU, 326 f.). 52 Ebd., 326. 49

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Schlichtheit jener Passage gedacht wird, kaum glaublich, dass der Schein­ begriff bei Kant eine derart besondere Stellung einnimmt, wie Cas­si­rer hervorhebt.53 Das Herausheben der ästhetischen Welt durch den Scheinbegriff ist ein zentraler Punkt nicht in Kants, sondern in Schillers späterer Lehre. Folglich wäre es keine Übertreibung, wenn wir in Cas­si­rers Auseinandersetzung mit der Kantischen Ästhetik die Stützung von Schillers Erweiterung dieser Ästhetik sehen. Als weiteren Beleg dafür kann noch ein Satz Cas­si­rers zu Kants Ästhetik angeführt werden: »Das ästhetische Bewußtsein erschafft sich seine eigene Welt und erhebt sie über alle Kollision und über alle Verwechslung mit der empirischen ›Wirklichkeit‹, indem es sie als eine Welt des ›Spiels‹ und des ›Scheines‹ aufstellt.«54

Bekanntermaßen beschreibt Kant das Schöne als freies Spiel von Einbildungskraft und Verstand.55 Allerdings ist es nicht Kant, sondern Schiller, der, von Kants Ästhetik ausgehend, nicht allein den Scheinbegriff, sondern auch den Spielbegriff in die Mitte der ästhetischen Lehre setzt und die ästhetische Welt ausdrücklich als »Reiche des Spiels und des Scheins«56 definiert. Folglich ist kaum zu überhören, dass Cas­si­rers Interpretation der Kantischen Ästhetik durch Schillers Fortsetzung dieser Ästhetik beeinflusst wird. Oder anders ausgedrückt, sieht Cas­si­rer Schillers Ästhetik als eine authentische Vertiefung der Ästhetik Kants an: »Die eigentliche Wirkung der ›Kritik der teleologischen Urteilskraft‹ ist«, so Cas­si­rer, »erst durch die Vermittlung von Goethes organischer Natur­ ansicht erfolgt, wie sich der tiefere Gehalt der Kantischen Lehre vom Schönen erst in Schillers Ästhetik geschichtlich wahrhaft erschlossen hat.«57

Hierin liegt der Grund, warum wir im Folgenden die Ästhetik Cas­si­rers nicht so sehr aus Kants, als vielmehr aus Schillers Ästhetik heraus zu erklären versuchen werden. Kant äußert sich folgendermaßen über den Unterschied zwischen der Plastik und der Malerei: »[…] die Gestalt […], welche den Ausdruck derselben ausmacht […], wird entweder in ihrer körperlichen Ausdehnung (wie der Gegenstand selbst existiert) oder nach der Art, wie diese sich im Auge macht (nach ihrer Apparenz in einer Fläche), gegeben […]« (ebd., 322). Dabei nennt er die Plastik die Kunst der Sinnenwahrheit und die Malerei die des Sinnesscheins (vgl. ebd.). Es liegt jedoch klar auf der Hand, dass dieser Scheinbegriff nicht unter Bezugnahme auf das Schöne schlechthin zu verstehen ist. 54 ECW 8, 327. 55 Vgl. KU, 217 f. u. 242 f. 56 Schiller (1962), 410. Zu Cas­si­rers Darstellung der ästhetischen Welt als Welt des Scheins und des Spiels bei Schiller vgl. ECW 17e, 197. 57 ECW 17d, 179 (Hervorh. Y. H.). 53

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Zum Schluss muss aber nochmals darauf aufmerksam gemacht werden, dass sich die meisten Leitmotive der ästhetischen Lehre Schillers auf die Kantische Ästhetik gründen. Darüber hinaus weist Cas­si­rer, wie bereits skizziert, auf die Vorläufer von Kants Ästhetik  – Leibniz, Wolf, Baumgarten, Meier, Tetens, Mendelssohn usw. – hin.58 Die »Ideengeschichte«, so Cas­si­rer im Zusammenhang mit der klassischen ästhetischen Lehre, »gleicht jenem Webemeisterstück, wo, nach Goethes Wort, ›[…] Ein Tritt tausend Fäden regt, / Die Schifflein herüber hinüber schießen, / Die Fäden ungesehen fließen, / Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt‹. Der Philosoph soll nicht in dieses Webemeisterstück eintreten, um es zu zer­stücken […].«59 Demgemäß wollen wir Schillers Lehre nicht von jenem Webemeisterstücke absondern und auf keinen Fall behaupten, dass Cas­si­rers Ästhetik allein unter dem Einfluss der ästhetischen Lehre Schillers stünde. Allerdings ändert dies nichts daran, dass Schiller in Cas­si­rers Verständnis der klassischen Ästhetik eine Sonderstellung einnimmt. Denn selbstredend ist es keine Willkür, dass der Untertitel des Schillerkapitels in FF »Freiheitsproblem und Formproblem in der klassischen Ästhetik« lautet. Der Untertitel heißt so, weil Cas­si­rer Schillers Fragestellung nach »der Bedeutung und dem Wert des ›Ästhetischen‹ schlechthin« als diejenige erachtet, welche auf dem »Gipfelpunkt einer bestimmten ästhetisch-humanistischen Cas­si­rer weist als Quelle einer Schillerschen Kernthese, welche ein sehr wichtiges Motiv der Ästhetik Cas­si­rers bildet, – d. h. als Quelle der These der ästhetischen Versöhnung zwischen dem Sinnlichen und dem Vernünftigen – nicht allein auf Kants, sondern auf Fichtes, Mendelssohns und insbesondere Shaftesburys Philosophie hin. (Zu Fichtes Einwirkung vgl. ECW 7, 307 f. Zu Mendelssohns vgl. ECW 17c, 129 f. Zu Shaftesburys vgl. ECW 18c, 175; ECW 18g, 333 f. u. 348 f.) Cas­si­rer vergisst auch nicht anzugeben, dass auch Kants und Shaftesburys Lehre ihrerseits unter den Einflüssen der vorangehenden Denk­ figuren standen. Beispielsweise weist Cas­si­rer hinsichtlich eines wichtigen ästhetischen Begriffs, des Begriffs des reinen, interesselosen Wohlgefallens, mal auf Leibniz’ Entdeckung, mal auf die tiefere geistesgeschichtliche Entwicklungslinie hin; d. h. die Entwicklungslinie von Platon über Shaftesbury zu Mendelssohn und Kant einerseits und diejenige von Shaftesbury über Mendelssohn und Karl Philip Moritz hin zu Kant andererseits (vgl. ECW 1, 414; ECW 7, 297; ECW 8, 314; ECW 14b, 367f; ECW 18c, 169 f.). Hinsichtlich eines anderen ästhetischen Gedankens, welcher nicht allein für die Ästhetik Cas­si­rers, sondern für seine gesamte Philosophie gilt, nämlich hinsichtlich des Gedankens der (künstlerischen) Schaffung der »inneren Form«, stellt Cas­si­rer wieder den Einfluss Shaftesburys auf Winckelmann, Herder, Goethe, Humboldt, Schelling, Hegel und auch Schiller dar (vgl. ECW 14b, 377 f.; ECW 15, 88 f.; ECW 24i, 633). Diesen letztgenannten Gedanken führt Cas­si­rer auf einen noch älteren Ursprung zurück: Der Gedanke der künstlerischen inneren Form entstamme ursprünglich aus Platons Lehre vom Eros im Symposion, d. h. aus der Lehre von der Erzeugung in der Schönheit, welche via Plotin, Augustin, Marsilio Ficino, Pico della Mirandola, Giordano Bruno, Michelangelo zu Shaftesbury gelangt sei (vgl. ECW 8, 268; ECW 16d, 161 f.; ECW 24a, 112). 59 ECW 18g, 351. Zu Cas­si­rers Goethezitat vgl. Goethe (1994a), 83. 58



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Kulturepoche« steht;60 weil er in Schillers »Briefe über die ästhetische Erziehung« die Vervollkommnung des Webemeisterstückes der klassischen Ästhetik, d. h. die »methodische Rechtfertigung« und den »klassischen Abschluß« des »ästhetischen Humanismus« sieht. Für Cas­si­rer ist demnach jene Schrift Schillers »für die Deutsche Ästhetik des 18. Jahrhunderts kennzeichnend«. 61 3. Die ästhetische Lehre Cas­si­rers 3.1 Zum Ausgangspunkt der philosophischen Ästhetik Cas­si­rers 3.1.1  Dialektik des mythischen Bewusstseins Die direkte Berechtigung, den Ausgangspunkt der Ästhetik Cas­si­rers in Schillers ästhetischer Lehre zu verorten, ergibt sich, wenn wir auf Cas­si­rers Auseinandersetzung mit der Entwicklung des mythischen bzw. des religiö­ sen Bewusstseins hin zum ästhetischen Bewusstsein blicken, welche Cas­ si­rer in seiner Endformulierung als Dialektik des mythischen Bewusstseins betitelt. Die erste kurze Beschreibung der Entwicklung des mythischen Bewusstseins findet sich in einer Passage des Aufsatzes »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923). Hier wird die Kunst als eine solche dargestellt, in deren Anschauung der das mythischreligiöse Bewusstsein auszeichnende Wettkampf zwischen zwei Neigungen – einerseits der Neigung zur einheitlichen Betrachtung von Bedeutung und Zeichen und andererseits derjenigen zur Trennung davon – zur Ruhe kommt bzw. diese zwei Neigungen in »ein reines Gleichgewicht«62 münden. Die ästhetische Anschauung ermögliche dieses Gleichgewicht, indem sie von der mythisch-religiösen Wirkung des Bildes absehe und sich somit in die reine Form des Bildes versenke. So stellt Cas­si­rer zusammenfassend die künstlerische Welt als »eine Welt des ›Scheins‹ […], aber eines Scheines, der seine eigene Notwendigkeit und somit seine eigene Wahrheit in sich trägt«63 dar. Eine ähnliche und kurze Konzeption nimmt Cas­si­rer wieder im Aufsatz »Zur ›Philosophie der Mythologie‹« (1924) auf. Er stellt hier am Ende des ECW 17d, 165. ECW 17c, 131. 62 ECW 16b, 94. 63 Ebd. 60 61

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Aufsatzes – d. h. nach einer langen Erklärung der Philosophie der Mythologie – die ästhetische Welt in schlichter Weise dar. Dabei wird die ästhetische Welt – hier wegen ihrer Befreiungskraft vom Mythos als »Sphäre der Wirk sa m keit« einerseits und von der Sprache als »Sphäre der Bedeutung« andererseits – nochmals als »Welt des ›Scheines‹« beschrieben. 64 Der genau gleichen Erklärung bezüglich der ästhetischen Befreiung folgend, streicht Cas­si­rer in »Sprache und Mythos« (1925) die ästhetische Welt wiederholt als die des Scheins (und des Spiels) heraus; dabei ist bemerkenswert, dass jene Erklärung wieder in der allerletzten Passage – d. h. hier nach einer langen Untersuchung der Sprache und des Mythos – in kompakter Form gegeben ist. 65 Diese Linie ähnlicher Erklärungen der ästhetischen Welt gipfelt im Kapitel »Dialektik des mythischen Bewusstseins« in der PsF II (1925). Hier bringt Cas­si­rer ein weiteres Mal eine neue Erklärungsvariante zur Entwicklung des mythischen Bewusstseins hin zum ästhetischen Bewusstsein. Wie bereits im vorangehenden Kapitel erklärt wurde, hebt Cas­si­rer nun den Unterschied zwischen Mythos und Religion – zwischen der Konkreszenz von Bedeutung und Zeichen im Mythos einerseits und der scharfen Ent­ gegensetzung von diesen zwei Momenten in der Religion andererseits – hervor. 66 Zu dieser Entgegensetzung als einer Wesensbedingung des Religiösen schreibt Cas­si­rer: »Könnte an Stelle dieses In- und Gegeneinander jemals das reine und völlige Gleichgewicht treten, so wäre damit auch die innere Spannung der Religion aufgehoben, auf der ihre Bedeutung als ›symbolische Form‹ beruht. Die Forderung dieses Gleichgewichts weist somit in eine andere Sphäre.«67

Diese Sphäre ist nach Cas­si­rer die ästhetische Sphäre. In dieser Sphäre sei die religiöse Spannung, »wenn nicht aufgehoben, so doch gewissermaßen beruhigt und beschwichtigt«, indem in ihr »das Bild rein als solches anerkannt bleibt«. 68 Dabei ist uns wichtig, dass Cas­si­rer auch hier betont, ein solches Gelangen zum ästhetischen Bewusstsein sei nichts anderes als durch den Schein möglich: »Das ästhetische Bewußtsein erst läßt«, so Cas­si­rer, »dieses Problem [des Sinn- und Wahrheitsgehalts bzw. der Existenz, Y. H.] wahrhaft hinter sich. Indem es sich von Anfang an der reinen ›Betrachtung‹ überläßt, […] gewin ECW 16e, 194. Vgl. ECW 16f, 310 f. 66 Vgl. oben III. 2.2.1. 67 ECW 12, 305. 68 Ebd. 64 65



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nen nunmehr die Bilder, die in diesem Verhalten des Bewußtseins entworfen werden, erst eine rein immanente Bedeutsamkeit. Sie bekennen sich der empirisch-realen Wirklichkeit der Dinge gegenüber als ›Schein‹: Aber dieser Schein hat seine eigene Wahrheit, weil er seine eigene Gesetzlichkeit besitzt. In dem Rückgang auf diese Gesetzlichkeit ersteht zugleich eine neue Freiheit des Bewußtseins: Das Bild wirkt jetzt nicht mehr als ein Selbständig-Dingliches auf den Geist zurück, sondern es ist für ihn zum reinen Ausdruck der eigenen schöpferischen Kraft geworden.«69

Es ist m. E. kaum zu übersehen, dass die Schillersche Lehre der ästhetischen Welt als Welt des Scheins (und des Spiels) bzw. Cas­si­rers Interpretation der Kantisch-Schillerschen Ästhetik in diesem Passus sowie in den oben dargestellten einschlägigen Passagen aus anderen Schriften widerhallt. Zudem ist zu beachten, dass Cas­si­rer in der PsF II – sehr ähnlich wie in »Zur ›Philosophie der Mythologie‹« und in »Sprache und Mythos« – nach einer langen ausführlichen Untersuchung des mythisch-religiösen Bewusstseins in der allerletzten Passage des Buches die Charakteristik des ästhetischen Bewusstseins in sehr wenigen Sätzen erklärt. Dementsprechend geht es dort – und auch in den anderen Erklärungen der fraglichen Entwicklung des mythischen Bewusstseins – weniger um die Erschließung des ästhetischen Bewusstseins, als vielmehr um den Prozess zur Erreichung dessen. So ist es m. E. eine gerechtfertigte Vermutung, dass sich der von Cas­si­rer konzipierte, aber nicht realisierte Kunstband der PsF eben an diesen Endpunkt der »Dialektik des mythischen Bewusstseins« anschließen sollte: Man könnte den Abschnitt »Dialektik des mythischen Bewusstseins« in der PsF II als Postludium der Untersuchung der symbolischen Form(en) des Mythisch-Religiösen einerseits und als Präludium der symbolischen Form des Ästhetischen andererseits verstehen. Tatsächlich findet man in diesem Präludium die Grundzüge der späteren ästhetischen Lehre Cas­si­rers: Erstens wird das Ästhetische als versöhnende Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Sphären bzw. Erkenntnisvermögen Ebd., 306. Diese Passage Cas­si­rers erinnert an die folgende Passage Schillers: »Insofern also das Bedürfniß der Realität und die Anhänglichkeit an das Wirkliche bloße Folgen des Mangels sind, ist die Gleichgültigkeit gegen Realität und das Interesse am Schein eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein entschiedener Schritt zur Kultur. Fürs erste zeugt es von einer äußern Freyheit: […] erst wenn das Bedürfniß gestillt ist, ent­wickelt sie ihr ungebundenes Vermögen. Es zeugt aber auch von einer innern Freyheit, weil es uns eine Kraft sehen läßt, die unabhängig von einem äußern Stoffe sich durch sich selbst in Bewegung setzt, und die Energie genug besitzt, die andringende Materie von sich zu halten. Die Realität der Dinge ist ihr (der Dinge) Werk; der Schein der Dinge ist des Menschen Werk, und ein Gemüt, das sich am Scheine weidet, ergötzt sich schon nicht mehr an dem, was es empfängt, sondern an dem, was es thut« (Schiller (1962), 399). 69

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dargestellt. Zweitens wird die ästhetische Welt als eine vollkommen selbständige Welt, d. h. als eine Welt verstanden, welche ihre eignen Grundprinzipien besitzt. Drittens wird die ästhetische Betrachtung als Betrachtung der reinen Formen des Bildes bezeichnet. Im Folgenden wird sichtbar gemacht werden, wie Cas­si­rer in späteren Jahren jene der Kantisch-Schillerschen Ästhetik entlehnten Grundzüge auf den Weg zur Gestaltung seiner eigenen Ästhetik brachte. Davor gilt es jedoch genauer zu betrachten, welche systematische Stellung Cas­si­rer vor seiner direkten Beschäftigung mit der Ästhetik – d. h. vor den vierziger Jahren – dem Ästhetischen als versöhnender Mitte zugeschrieben hat. Denn wie wir soeben mit Blick auf die Entwicklung des mythischen Bewusstseins zum ästhetischen sahen, nimmt die ästhetische Mitte bei Cas­si­rer von Anfang an darum eine andere Stellung als bei Kant und Schiller ein, weil er einen anderen philosophischen Aufbau konstruierte als seine beiden Vorgänger. 3.1.2 Versöhnung zweier entgegengesetzter Momente – das ästhetische Gleichgewicht zwischen dem Gefühlsmäßigen und dem Theoretischen Den gerade dargestellten Erklärungen zufolge, welche sich mit der Entwicklung des mythischen Bewusstseins auf ähnliche und doch verschiedene Weise beschäftigen, wird das Ästhetische in zweierlei Sinne als Mittleres zwischen zwei verschiedenen Momenten dargestellt. Einerseits wird das Ästhetische – in »Zur Philosophie der Mythologie« sowie in »Sprache und Mythos« – als Mittleres zwischen Mythos (mythisch-magischer Wirksamkeit) und Sprache (Logos) beschrieben. Andererseits wird das Ästhetische – in »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« sowie in »Dialektik des mythischen Bewusstseins« – als Mittleres zwischen Sinn und Bild präsentiert. Diesbezüglich können wir noch auf Cas­si­rers andere Deutungen der ästhetischen Mitte hinweisen. Im nachgelassenen Entwurf zum vierten Band der PsF (1928) geht es um die Entwicklung vom Mythisch-Religiösen hin zum Ästhetischen (hier besonders zur bildenden Kunst) und vom Ästhetischen hin zur Naturwissenschaft, verstanden als das rein Theoretische. Dabei erklärt Cas­si­rer, dass sich das Ineinander von Innerem und Äußerem bzw. von subjektiver und objektiver Wahrheit erst aufgrund der Entstehung des Selbstbewusstseins vollzieht, welche wiederum durch die Kunst ermöglicht wird. 70 Kunst steht dort Vgl. ECN 1a, 89 f. Hier spricht Cas­si­rer von der Entstehung des Subjektbewusstseins durch die bildende Kunst, d. h. von der Bildung des Ichbewusstseins durch Anerkennung 70



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also in der Mitte zwischen dem Mythisch-Religiösen und dem rein Theoretischen einerseits und zwischen dem Subjekt und dem Objekt andererseits. Die Bedeutung des Ästhetischen als das Mittlere zwischen zwei verschiedenen Momenten ist daher bei Cas­si­rer mehrdeutig. Diese Mehrdeutigkeit des Begriffs findet dennoch ihren konvergenten Punkt, wenn wir das Begriffsproblem anhand des Bezugsschemas der symbolischen Funktio­ nen angehen. In »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927) stellt Cas­si­rer die Kunst (bzw. die Schönheit) als das Gleichgewicht der Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion dar, während er sie in »Form und Technik« (1930) als das ideale Gleichgewicht zwischen der Ausdrucksfunktion und der reinen Bedeutungsfunktion beschreibt.71 Hier kann sich die Frage aufdrängen, ob die Kunst für Cas­si­ rer zwischen der Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion oder zwischen der Ausdrucksfunktion und der Bedeutungsfunktion steht. Die Suche nach einer eindeutigen Antwort wäre jedoch vergebens. Denn die hier getroffene Klassifizierung der Wahrnehmungsfunktionen ist, wie des Öfte­ ren betont, kein fester Aufbau, sondern ein methodischer, ideeller.72 Deshalb müssen wir uns mit der Aussage begnügen, dass Kunst – verstanden als Realisierungsinstanz des idealen Gleichgewichts – mittig zwischen dem Gefühlsmäßigen (Ausdruckshaften) und dem Theoretischen (Begrifflichen) lokalisiert ist. Eine solche Formulierung des Ästhetischen als Mittleres kann alle anderen Versionen dessen in sich enthalten. Denn das Gefühlsmäßige impliziert bei Cas­si­rer das Subjektive und das für den Mythos Charakteristische, während das Objektive bzw. Theoretische die Wissenschaft bzw. die Sprache charakterisiert. Zusammenfassend gesagt, liegt das Ästhetische im systematischen Aufbau der Philosophie Cas­si­rers zwischen dem Gefühlsmäßigen (dem Mythischen, dem Subjektiven) und dem Theoretischen (dem Sprachlichen, dem Wissenschaftlichen, dem Objektiven). Dieses Motiv spielt in etwas modifizierter Form in Cas­si­rers später Beschäftigung der Ästhetik eine wichtige Rolle.

der räumlichen Begrenzung des eigenen Leibs. Dabei fügt Cas­si­rer hinzu, dass die räumliche Begrenzung eine zeitliche Differenzierung in sich birgt und das menschliche Bewusstsein erst somit die Trennung (sowie die Verknüpfung) von Vergangenheit und Gegenwart erkennt. 71 Vgl. ECW 17d, 180; ECW 17g, 267 f. 72 ECW 17g, 262.

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3.2 Eine Prämisse der Ästhetik Cas­si­rers – Verhältnis von ästhetischer Produktion und Rezeption Für die Herausarbeitung der ästhetischen Kernthese Cas­si­rers ist Folgendes voranzustellen: Hinsichtlich der ästhetischen Erfahrung unterscheidet Cas­si­rer nicht zwischen der wesentlichen Charakteristik der Einstellung des Künstlers und der des Rezipienten.73 Folglich bezieht sich Cas­si­rers ästhetische Lehre im Grunde genommen auf die künstlerische Schöpfung wie auch auf die künstlerische Rezeption. Jedoch bedeutet dies nicht, dass Cas­ si­rer keine Unterscheidung zwischen dem Künstler und dem Rezipienten träfe. So wird in diesem Abschnitt Cas­si­rers Verständnis der künstlerischen Schaffung und Rezeption skizziert. Cas­si­rer verneint nicht, dass z. B. die Gemälde Raffaels nicht allein aus seiner Seele, sondern auch aus der »›Seele‹ einer ganzen Epoche«,74 d. h. aus der Seele der italienischen Renaissance, quillt. Aus dem geschichtlichen Nichts heraus entstünden keine Künstler und keine Kunstwerke.75 Kultur entwickle sich allein in der ständigen Wechselwirkung zwischen Tradition und Innovation. Die gesellschaftliche Tradition, das kulturelle »Beharrungsgesetz«, sei demzufolge eine unentbehrliche Voraussetzung für die Geburt der Künstler und somit der Kunstwerke.76 Doch hinsichtlich der Quelle der Kunstwerke liegt Cas­si­rers Betonung nicht sowohl auf jener Tradition, als vielmehr auf der Innovation, welche ihm zufolge nichts anderes als durch die Kraft der Individualität vollzogen wird. Es seien, so Cas­si­rer, die individuellen großen Künstler, die nicht allein große Kunstwerke schaffen, sondern eine neue Epoche bahnen.77 Hierbei ist allerdings mit Blick auf die künstlerische Rezeption zu betonen, dass diese für Cas­si­rer kein bloß passiver Empfang jener Anschauungsform des Künstlers bedeuten kann. Denn wie bereits festgehalten, ist Cas­si­rer der Überzeugung, der Gehalt nicht allein der Kunstwerke, sondern aller Kulturwerke bestehe uns nur dadurch, dass es vom Rezipienten »stän Vgl. Graeser (1994), 49 u. 86 f. ECN 5b, 87. 75 Vgl. ECW 23, 242 f.; LKW, 473 f.; ECN 5b, 67 f.; ECN 7e, 154 f.; ECN 11b, 209; ECN 11c, 241. 76 Vgl. LKW, 475 f. Zita aus ebd., 476. Zu Cas­si­rers Behauptung, dass ein Genie wie Goethe auch erst in bestimmten kulturellen Konditionen erscheinen konnte, vgl. ECN 5b, 67 f.; ECN 11c, 241. 77 Vgl. u. a. ECW 23, 242 f. Vgl. außerdem LKW, 473 f. u. 485 f.; ECN 7e, 154 f. Cas­si­rer deutet zwar hinsichtlich der monotheistisch-prophetischen Reform der Religion die Kraft des Individuums (des individuellen Propheten) an (vgl. ECW 23, 111 f.). Jedoch kann man die starke Betonung jener Kraft erst in seiner Auseinandersetzung mit der Kunst finden. 73 74



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dig von neuem angeeignet und aufs neue geschaffen wird«.78 Der Rezipient müsse, um Kunstwerke wahrhaft zu verstehen, das Sehen des Künstlers miterleben, indem er den schaffenden Prozess des Künstlers aktiv rekonstruiert: »Like the process of speech«, so Cas­si­rer, »the artistic process is a dialogical and dialectic one. Not even the spectator is left to a merely passive role. We cannot understand a work of art without, to a certain degree, repeating and reconstructing the creative process by which it has come into being.«79

Kurz gesagt, sind es die individuellen großen Künstler, die neue ästhetische Weltordnungen schaffen; und die individuellen Rezipienten müssen, um sich jenen Ordnungen anzueignen, aktiv am schaffenden Prozess der Künstler teilnehmen: Der Begriff der Individualität ist dabei zu betonen, da für Cas­si­rer die ästhetische Aktivität beim Künstler sowie beim Rezipienten zugleich Selbstreflexion, Bewusstwerdung, impliziert. 80 Auf Basis der gerade skizzierten Voraussetzungen werden wir uns nun der Kernthese der späten ästhetischen Lehre Cas­si­rers zuwenden. 3.3 Die Kernthese der Ästhetik Cas­si­rers 3.3.1 Zum Bedeutungswandel der ästhetischen Versöhnung von ­entgegengesetzten Momenten – reine Betrachtung bzw. ­Reflexion in Cas­si­rers Ästhetik In Cas­si­rers Ästhetik spielt der Begriff der Reinheit eine markante Rolle. Hierbei ist aber darauf aufzupassen, dass der Begriff der Reinheit, der reinen Form oder der reinen Betrachtung bei Cas­si­rer nicht eindeutig definierbar ist. Beispielsweise schreibt Cas­si­rer das reine Schauen (bzw. die reine Betrachtung), d. h. die Betrachtung der reinen Formen, auch der Sprache, dem spekulativen Denken bei den Griechen und der Geschichtswissenschaft zu. 81 Darüber hinaus weitet er gar die Bedeutung der reinen Betrachtung in Kants Ästhetik (sowie der im gleichen Sinne verstandenen ästhetischen Reflexion bei Schiller) auf alle menschliche Tätigkeit aus. 82 Demgemäß beschreibt er, wenngleich in einem nachgelassenen Text, seine Philosophie der symbolischen Formen, seine kritisch-transzendentale Methode a ls »reine LKW, 470. ECW 23, 161. Vgl. ebd., 163 u. 175; ECN 3a, 31 f.; ECN 7g, 198. 80 Vgl. Recki (2004a), 124 f. 81 Zum altgriechisch-spekulativen Denken vgl. ECW 12, 161 f.; ECW 21a, 89. Zur Geschichtswissenschaft vgl. LKW, 434 f.; ECN 3b, 219 u. 222. Zur Sprache vgl. ECN 1a, 27 f. 82 Vgl. ECN 1a, 44. 78

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›Kontemplation‹[,] nicht einer Einzelform, sondern der Allheit, des Kosmos der reinen Formen –«. 83 Nichtsdestotrotz ändert dies alles nichts daran, dass an vielerlei Stellen Cas­si­rer die reine Betrachtung nachdrücklich als die dem Ästhetischen eigentümliche Betrachtungsweise darstellt. Sowohl in Cas­si­rers Auseinandersetzung mit der klassischen Ästhetik – also mit Leibniz, Shaftesbury, Kant und Schiller – als auch in seiner eigenen ästhetischen Theorie wird die ästhetische Betrachtung – durch alle Zeiten hindurch – oft als reine Betrachtung (reines Schauen, reine Sehe, reine Kontemplation usw.) ausgezeichnet. Dementsprechend wird die ästhetische Welt als die Welt der reinen Formen bzw. Gestalten bezeichnet. Die ästhetische Reinheit bei Cas­ si­rer bedeutet – mit Kant – die ruhige (reine) Kontemplation, die Interesselosigkeit des Wohlgefallens bzw. die Indifferenz »in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes«;84 oder – mit Schiller – »die Gleichgültigkeit gegen« »das Bedürfniß der Realität und die Anhänglichkeit an das Wirkliche«. 85 Wenn man wie hier voraussetzt, dass Cas­si­rers ästhetische Lehre von der Ästhetik Kant-Schillers stark beeinflusst wurde, ist es kaum zweifelhaft, dass das, was Cas­si­rer – vor dem Einstieg in die direkte Beschäftigung seiner ästhetischen Lehre – als die ästhetische Betrachtung der »reine[n] Form des Bildes«86 bezeichnet, in jenem Kantisch-Schillerschen Sinne zu verstehen ist. Eine solche Bedeutung der Reinheit bleibt in Cassirers eigener Ästhetik unverändert, doch nicht die Stellung des Ästhetischen. Das Ästhetische steht bei dem späten Cas­si­rer nicht mehr, wie bei Schiller, zwischen dem Gefühlsmäßigen und dem Theoretischen (dem Intelligiblen). Im EM heißt es: »Aesthetic contemplation or reflection, according to Schiller, is the first liberal attitude of man toward the universe.«87 Dieser Satz ECN 1b, 195. KU, 209. Der Begriff »reine Kontemplation« stammt nicht von Kant, sondern ist m.W. in diesem Zusammenhang als von Schopenhauer stammend bekannt (vgl. Schopenhauer (1993), 264 f.). Aber es versteht sich von selbst, dass sich die hier von Cas­si­rer gemeinte »reine Kontemplation« von der Schopenhauerischen unterscheidet, welche die »ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt« umfasst (ebd., 265). Wenn Cas­si­rer den Begriff der »reinen Kontemplation« in seiner ästhetischen Lehre erwähnt, meint er immer die Kantische Erklärung der ästhetischen Betrachtung (vgl. ECW 23, 158; ECN 7f, 177). Kant erwähnt in der KU nicht die reine, sondern »ruhig[e] Contemplation« (KU, 247, 258 u. 263) oder sagt, dass die Lust im ästhetischen Urteil »bloß contemplativ« (ebd., 222) ist. Also ist die »reine Kontemplation«, um die es in Cas­si­rers eigener Ästhetik geht, im Sinne der Kantischen »ruhigen Kontemplation« bzw. »bloßen Kontemplation« zu verstehen. 85 Schiller (1962), 399. 86 ECW 16b, 94. 87 ECW 23, 180 (Hervorh. Y. H.). 83

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ist die Übersetzung des folgenden Satzes von Schiller: »Die Betrachtung (Reflexion) ist das erste liberale Verhältniß des Menschen zu dem Weltall, das ihn umgiebt.«88 Hierbei ist bemerkenswert, dass »Betrachtung« bzw. »Reflexion« an jener Stelle bei Schiller eigentlich nicht die ästhetische Betrachtung, sondern die freie Betrachtung der intelligiblen Form bedeutet, welche erst die ästhetische Betrachtung ermöglicht. Bei Schiller steht die freie Betrachtung der (theoretischen bzw. moralischen) Form dem sinnlichen, lebenden Gefühl gegenüber. 89 Also ersetzt Cas­si­rer die intelligible Betrachtung bei Schiller durch eine ästhetische. Und damit verschiebt sich bei Cas­si­rer kaum merklich die ästhetische Mitte zu einem anderen Ort als bei Schiller. Das Ästhetische, die eigentlich ästhetische Erfahrung erscheint in Cas­si­rers ästhetischer Lehre nicht mehr als Versöhnung zwischen der übersinnlichen Betrachtung und dem sinnlichen Gefühl, sondern als Versöhnung zwischen der ästhetischen Betrachtung – d. h., wie sich sogleich zeigen wird, Betrachtung der reinen sinnlichen Formen – und dem sinnlichen Gefühl. Wenngleich der späte Cas­si­rer keineswegs das Motiv der ästhetischen Versöhnung zwischen Subjektivem und Objektivem aufgegeben hat,90 so hat er doch – im Ganzen genommen – bei der unvollendeten Gestaltung seiner Ästhetik den Gegenpol zum Subjektiven bzw. Gefühlsmäßigen vom theoretischen auf den ästhetischen Bereich verschoben. In einer Passage, in der sich Cas­si­rer gegen Bergsons Erklärung der ästhetischen Erfahrung als eine Art Hypnose wendet, heißt es: »By hypnosis we may prompt a man to certain actions or we may force upon him some sentiment. But beauty, in its genuine and specific sense, cannot be impressed upon our minds in this way. In order to feel it one must cooperate with the artist. One must not only sympathize with the artist’s feelings but also enter into his creative activity. […] For beauty depends both on feelings of a specific kind and on an act of judgment and contemplation.«91

Dass Cas­si­rer hier mit dem »act of judgement and contemplation« – als einem der zwei Komponenten der Schönheit – nicht die theoretische, sondern die ästhetische Urteilskraft bzw. Reflexion meint, ergibt sich klar an seiner Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen entgegengesetzten ästhetischen Lehren, d. h. der Lehre von »l’art pour l’art« und der realistischnaturalistischen Lehre. Die erstgenannte Lehre, die von Stéphan Mallarmé Schiller (1962), 394. Cas­si­rers Erwähnung dieses Satzes findet sich auch in: ECW 9b, 336. Im nachgelassenen Text macht Cas­si­rer eine ähnliche Bemerkung, wenngleich er dabei nicht Schiller erwähnt (vgl. ECN 7d, 121). 89 Vgl. Schiller (1962), 394 f. 90 Vgl. LKW, 388; ECN 6c, 543 f.; ECN 7f, 180 f. 91 ECW 23, 175 (Hervorh. Y. H.). 88

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und Ortega y Gasset unterstützt wurde, mache laut Cas­si­rer geltend, dass die Kunst vom Vulgären und Alltäglichen, d. h. von der banalen Lebens­ realität, unabhängig sein solle. Die letztgenannte Lehre, die vom englischen Literaturkritiker Ivor Armstrong Richards vertreten wurde, behaupte, dass die alltägliche Erfahrung und die ästhetische Erfahrung nicht von grundlegend verschiedener Art sind. Bezüglich dieser Lehren ergreift Cassirer nicht Partei für eine der beiden Seiten. Sondern er hebt mit Schiller die Entgegensetzung der beiden Lehren auf: »But this theoretical antagonism«, so Cas­si­rer, »is no real antinomy. If beauty according to Schiller’s definition is ›living form‹ it unites in its nature and essence the two elements which here stand opposed.«92 Dabei ist nicht zu übersehen, dass Cas­si­rer Schillers Definition zwar nicht der Form nach, aber dem Inhalt nach modifiziert. Cas­si­rer teilt an der betreffenden Stelle zwar dem realistisch, naturalistischen Motto das Moment des Lebenden und dem Motto »l’art pour l’art« das Moment der Form zu. Diese Form ist dennoch offenkundig nicht die moralische bzw. intelligible Form, welche bei Schiller gemeint ist, sondern sie ist die Form der sinn­lichen Melo­dien, Rhythmen usw., welche Cas­si­rer die reine(n) sinnliche(n) Form(en) nennt.93 Diese Formen seien gewiss ohne das lebende Gefühl leere Formen (»empty forms«94). Nichtsdestoweniger seien jene reinen sinn­lichen Formen als wahrhaftes Merkmal der echten Kunst anzusehen. Das wird im nächsten Abschnitt deutlich. 3.3.2  Reine sinnliche Formen (pure sensuous forms) Im MS fasst Cas­si­rer die Charakteristik jeder symbolischen Form folgendermaßen zusammen: »Art gives us a unity of intuition; science gives us a unity of thought; religion and myth give us a unity of feeling. Art opens to us the universe of ›living forms‹; science shows us a universe of laws and principles; religion and myth begin with the awareness of the universality and fundamental identity of life.«95

Hinsichtlich der Kunst scheint es unumstritten zu sein, dass Cas­si­rer den hier dargestellten englischen Begriff der »living forms« Schillers »lebender Ebd., 180. Vgl. ebd., 180 f. 94 ECN 7e, 150. Cas­si­rer betont auch, dass »das Ideal ›l’art pour l’art‹« für Goethe, welcher die Kunst nie vom Ganzen des menschlichen Lebens losgelöst hat, »ganz fremd« ist (ECN 11c, 258). 95 ECW 25, 39. 92 93



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Gestalt« entnimmt. Aber wenngleich Cassirers Ästhetik an Schillers Definition des Schönen als »living form« (sowie diejenige der ästhetischen Welt als Welt des Scheins)96 appelliert, verwendet Cas­si­rer den Begriff »living forms« in einem anderen Sinne als Schiller. Bei Cas­si­rer werden »living forms«97 bzw. »moving and living forms«98 als »pure sensuous forms«99 (oder oft lediglich bloß als »pure forms« bzw. »sensuous forms«) genannt.100 Aber was sind diese »pure sensuous forms« (die reinen sinnlichen Formen) bzw. »living forms«? In Hinsicht auf die ästhetische Kontemplation schreibt Cas­si­rer: »It [the artistic imagination and contemplation, Y. H.] gives us a world of moving and living forms – a balance of lights and shadows, of rhythms and melodies, of lines and contours, of patterns and designs.«101

»Living forms« bzw. die reinen sinnlichen Formen sind die Disposition bzw. der Kontrast der Linien, Konturen, Farben usw. sowie die Harmonie in Rhythmen und Melodien des Schalls, der Wörter usw.102 Hier handelt es sich um das Sinnliche im Sinne dessen, was Cas­si­rer bereits in der PsF I darunter versteht, d. h. das Sicht-, Hör- oder Tastbare.103 Er hebt die Unentbehrlichkeit des Sinnlichen in der Kunst im Vergleich zu den anderen symbolischen Formen hervor: »Science gives us order in thoughts; morality Vgl. ECW 23, 177. Cas­si­rer verwendet eigentlich den Begriff der »living forms« auch für die Ge­ schichtswissenschaft: »What the historian is in search of is rather the materialization of the spirit of a former age. He detects the same spirit in laws and statutes, in charters and bills of right, in social institutions and political constitutions, in religious rites and ceremonies. To the true historian such material is not petrified fact but living form« (ECW 23, 191 [Hervorh. Y. H.]. Vgl. ECN 7c, 108). Aber es ist augenscheinlich, dass es hierbei mit dem Begriff der »living form« nicht um die ästhetische Reinheit geht.   98 ECN 7g, 200.   99 ECW 23, 177; ECN 7g, 194. 100 Der Begriff der Reinheit, verstanden als ästhetische Interesselosigkeit, ist für Cas­si­rers Verständnis der Kunst unentbehrlich. Bezüglich der ästhetischen Betrachtung geht es zudem weder um die rein intelligible Betrachtung noch um die bloß sinnliche Wahrnehmung. Um diesen Sachverhalt nicht außer Acht zu lassen, benutzen wir den Begriff der reinen sinnlichen Formen (pure sensuous forms) auch dort, wo Cas­si­rer die ästhetischen Formen bloß als reine Formen (pure forms) oder als sinnliche Formen (sensuous forms) beschreibt. 101 ECN 7g, 200. 102 Vgl. ECW 23, 167 u. 178; ECN 7e, 150; ECN 7f, 177 u. 182. 103 Vgl. ECW 11, 40. Cas­si­rer schreibt im EM der Wissenschaft die Tiefe des Begriffs (der Konzeption) und der Kunst die der Vision zu (vgl. ECW23, 183 f.). Doch es liegt klar auf der Hand, dass die ästhetische Betrachtung, d. h. die »Vision«, welche Cas­si­rer mit Blick auf die Kunst betont, nicht allein mit dem Sichtbaren, sondern mit dem Sinnlichen überhaupt zu tun hat. Vgl. ECN 7f, 181 f.   96

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gives us order in actions; art gives us order in the apprehension of visible, tangible, and audible appearances.«104 Hierbei ist dennoch wichtig zu betonen, dass Cas­si­rer hier nicht vom Sinnlichen an sich, sondern von der Ordnung der sinnlichen Erscheinungen spricht. Die ästhetischen Formen sind die reinen sinnlichen Formen. Das heißt; sie sind zwar sinnlich, doch an den sinnlichen sowie moralischen Bedürfnissen interesselos. Jene Formen sind daher, zusammenfassend gesagt, die sichtbare, hörbare und tastbare Gestalt per se des Gegenstands.105 Hierzu ist noch auf Cas­si­rers Ansicht hinzuweisen, dass verschiedene, reine sinnliche Formen in einem Kunstwerk, in einer ästhetischen Erfahrung einheitlich zusammenwirken. Wie Cas­si­rer es – in Lessings und Kants Begriff des Genies, das von sich aus Gesetzlichkeit und Zweckmäßigkeit in Kunstwerke hineinlegt, als auch in Kunstwerken Goethes und anderer großer Künstler – hervorhebt,106 soll ein Kunstwerk die Einheit der Stimmung des Künstlers besitzen. »Im echten Kunstwerk herrscht«, so Cas­si­rer in einem nachgelassenen Manuskript, die »›Determination‹ alles Besonderen, Einzelnen durch die Einheit des aesthet[ischen] ›Sinnes‹ des Ganzen – / hier soll schlechthin nichts ›zufällig‹ sein, sondern irgendwie mit dem Ganzen ›verwoben‹ sein«.107 In der echten ästhetischen Erfahrung sollen alle reinen sinnlichen Formen in einem Kunstwerk (– z. B. in der Bildhauerei – Kontrast der Farben bzw. des Schattens und des Lichts, Proportionen der einzelnen Teile, Konturen usw.) unter einer einheitlichen, gesamten Ordnung stehen. In diesem Sinne sollten wir den folgenden Satz Cas­si­rers im EM verstehen: »It is the structure, the balance and order of these forms [(pure) sensuous forms, Y. H.] which affects us in the work of art.«108 Dabei ist zu beachten, dass dies nicht bedeutet, dass der Künstler dem Kunstwerk jede beliebige Struktur der reinen sinnlichen Formen geben könnte. Denn da jede Einzelkunst, wie Lessing als Erster es ergründet hat,109 ihre eigene

ECW 23, 181. Im Vorlesungsmanuskript (1941/1942), d. h. in dem nachgelassenen Text, welcher ein wenig früher als Cas­si­rers direkte Auseinandersetzung mit seiner eigenen ästhetischen Lehre verfasst worden war, wurden einmal die reinen sinnlichen Formen nicht in diesem Sinne, sondern als Indikatoren des inneren Gefühls bzw. als Ausdrücke der inneren Emotionen dargestellt (vgl. ECN 6b, 333). Allerdings beziehen wir uns, statt auf diese einmalige, frühere Beschreibung, auf Cas­si­rers späteres, wiederholtes Verständnis der reinen sinnlichen Formen. 106 Vgl. ECW 7, 233; ECW 8, 304 f.; ECW 23, 243; ECN 4b, 79 u. 82 f.; ECN 7e, 154 f. 107 ECN 4b, 82. 108 ECW 23, 167. 109 Vgl. ECW 17k, 423 f. Zur Wichtigkeit von Lessings ästhetischer Lehre für Cas­si­rer vgl. Krois (2012), 100. 104 105



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sinnliche Beschränkung besitzt, hat jede Art der Kunst ihre eigene, besondere Struktur der reinen sinnlichen Formen: »There are so many different kinds of art as there are different modes of constr uctions of sensuous forms. Poetry and paintings, music, sculpture, architecture speak not only a special technical but also a special structural language[.]«110

Doch dies ändert nichts daran, dass alle Kunstarten das gemeinsame Prinzip des Ästhetischen überhaupt besitzen.111 Dieses Prinzip hat der späte Cas­si­rer im Begriff der reinen sinnlichen Formen erblickt. Solch eine Betonung der reinen sinnlichen Formen in Cas­si­rers Ästhetik könnte als eine Übertreibung erscheinen. Doch wenn man die späten Schriften Cas­si­rers zur Kunst genauer liest, fällt auf, wie wichtig die Bedeutung jener Formen ist. Beispielsweise sagt Cas­si­rer: »The sphere of art is a sphere of pure forms. […] It is not a language of verbal symbols, but of intuitive symbols[.] He who does not understand these intuitive symbols, who can not feel the life of colours, of shapes, of spatial forms and patterns, of harmony and melody, is secluded from the works of art – and by this he is not only deprived of aesthetic pleasure, but he loses the approach to one of the deepest aspects of reality.«112

Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, dass es Menschen gibt, die von Natur aus keine Möglichkeit für die Wahrnehmung der reinen sinnlichen Formen besitzen würden, sondern es geht hier allein um die der Kunst eigentümliche Einstellung, die für alle Menschen potentiell möglich ist. Mit Bezug auf die entwicklungsgeschichtliche Verstärkung jener Einstellung schreibt Cas­si­rer einmal: »In ihrer weiteren Entwicklung tritt sodann die bildende Kunst mehr und mehr aus diesem Kreis [der religiösen Idee der Unsterblichkeit, die sich z. B. in der Plastik der Ägypter findet, Y. H.] heraus: die Darstellung der Gestalt wird zum Selbstzweck und zum ästhetischen Selbstwert.«113

In diesem Sinne dürfen wir, um Cas­si­rers Ansicht klarer zu verstehen, an den folgenden Satz Schillers appellieren: »Soweit wir auch die Geschichte befragen, es ist dasselbe bey allen Völkerstämmen, welche der Sklaverey des ECN 6c, 550. Vgl. ECW 9, 306; ECW 23, 167; LKW, 374 f. u. 475 f.; Cas­si­rer (1995), 122 f.; ECN 1a, 77; ECN 3d, 250 f.; ECN 5c, 129. 111 Vgl. ECW 10, 124. 112 ECN 7f, 177. 113 ECN 1a, 89 (Hervorh. Y. H.). 110

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thierischen Standes entsprungen sind: die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiele.«114 Aber wichtiger als solch eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise, an welcher Cas­si­rers späterer Versuch der Bildung seiner Ästhetik vorbeigeht, ist der folgende Punkt: das Gefallen an den äußeren, sinnlichen Gestaltungen per se, die Wahrnehmung der reinen sinnlichen Formen ist bei ihm das wesentliche Merkmal der ästhetischen Erfahrung. Im Vergleich zur Sprache, zur begrifflichen Funktion der Sprache hebt Cas­si­rer die Besonderheit der Kunst hervor: »[…] we should not forget that besides the world of language there is another human world which has a meaning and structure of its own. There is, as it were, another symbolic universe beyond the universe of speech, of verbal symbols. This universe is the world of arts – of music and poetry, of painting, of sculpture and architecture.«115

Dichtkunst bedarf selbstverständlich der Sprache. Doch die Darstellungsfunktion der Sprache bedeutet nicht zugleich das Ästhetische, selbst wenn sie hoch entwickelt ist.116 Denn das Wesen der Kunst liegt – sei es in der Dichtkunst, sei es in der bildenden Kunst, sei es in der Musik usw. – nicht in der konzeptuellen Klarheit der Darstellung, sondern in den reinen sinnlichen Formen: »To live in this sphere – in colors or sounds, in lines or contours, in tones and meters –«, so Cas­si­rer, »that is the beginning of art, in a certain sense, the end of a truly artistic life. […] As soon as I loose these sensuous forms from sight, I loose the ground of my aesthetic experience.«117

Die Wahrnehmung, das Genießen der reinen sinnlichen Formen ist die Wesensbedingung des Ästhetischen. Folglich liegt eben in der Erzeugung, der Erfindung der reinen sinnlichen Formen eines der unentbehrlichen Kriterien des ästhetischen Geschmacksurteils. In der bereits teilweise zitierten Passage schreibt Cas­si­rer: »The child plays with things, the artist plays with forms, with lines and designs, rhythms and melodies. […] the artist dissolves the hard stuff of things Schiller (1962), 399. ECN 7e, 146. 116 Cas­si­rer beschreibt in einer Passage das emotionale Element als ästhetisches Moment. Er führt dort aus, dass sich dieses ästhetische Moment auch in der alltäglichen Sprache findet (ECN 7f, 179). Allerdings verwendet Cas­si­rer das Wort »ästhetisch« im Grunde genommen nicht, wie in jener Passage, im Sinne des bloß emotionalen Moments, sondern im Sinne des Künstlerischen. 117 ECN 7e, 150 f. 114 115



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in the crucible of his imagination, and the result of this process is the discovery of a new world of poetical, musical, or plastic forms. To be sure, a great many ostensible works of art are very far from satisfying this requirement. It is the task of the aesthetic judgment or of the artistic taste to distinguish between a genuine work of art and those other spurious products which are indeed playthings, or at most ›the response to the demand for entertainment‹.«118

Was er also auf dem Weg der Konkretisierung seiner ästhetischen Theorie als das Wesensmerkmal des Ästhetischen betrachtet, ist die Wahrnehmung der reinen sinnlichen Formen.119 Die künstlerische Fixierung der höchsten Momente der Phänomene wird – so interpretiert Cas­si­rer die Ansicht des für ihn vorbildlichsten Künstlers, d. h. die Ansicht Goethes, als Bestätigung des Kunstwesens – nicht durch das Medium des Denkens, sondern durch das der reinen sinnlichen Formen vollzogen.120 Aber nicht zu vergessen ist, dass das Ästhetische auch in Cas­si­rers späterer Ansicht als Versöhnendes der zwei verschiedenen Momente bestehen bleibt. Es bedarf für Cas­si­rer sowohl der Betrachtung der reinen sinnlichen Formen als auch eines anderen Moments, d. h. des Moments des Gefühls bzw. des Lebensgefühls. Oder genauer gesagt, das Gefühl muss in den bzw. durch die reinen sinnlichen Formen ästhetisch umgestaltet werden. Unser Hauptanliegen ist die Darstellung dieser ästhetischen Umgestaltung des Gefühls. Dennoch gilt es zuvor, um seine ästhetischen Anschauungen nicht ECW 23, 177 f. Die Hervorhebung dieser Formen in Cas­si­rers Spätschriften zur Kunst könnte dadurch erklärt werden, dass die Kunsttheorie Konrad Fiedlers, mit welcher sich Cas­si­rer in nachgelassenen Texten auseinandersetzt, – worauf Paetzold aufmerksam macht – einen Anteil an der Konkretisierung der ästhetischen Lehre Cas­si­rers gehabt hat (vgl. Paetzold (1997)). Cas­si­rer konnte sich an Fiedlers Kunsttheorie leicht anschließen, da er Fiedlers (und Adolf von Hildebrandts) Hervorhebung des »theoretischen« Moments in der Kunst als Erweiterung, Konkretisierung der Lehre Kants (und Lessings) betrachtet (vgl. ECN 1a, 79; ECN 3a, 29 f.). Cas­si­rer schreibt, dass nach Fiedler der Gegenstand der bildenden Kunst nicht als »Objekt der Erken ntn is , der mit den wissenschaftlichen Mitteln des Begreifens und Urteilens aufgebaut wird«, sondern er ihn als Gegenstand »des reinen Schauens« erachtet (ECN 1a, 80). Für Fiedler sei – so Cas­si­rer – das reine Schauen nichts anderes als das Organ, das »einen neuen Umriss, eine andere Zeichnung und Kontur der Welt deutlich« macht (ECN 3d, 255). Aber selbst wenn Cas­si­rer Fiedlers Kunsttheorie die Konkretisierung seiner ästhetischen Theorie etwas verdankt hätte, ist es zu betonen, dass Cas­si­rer der Kunsttheorie Fiedlers ständig vorwirft, dass sie einseitig allein die theoretische Objektivität (d. h. hier die reine Sichtbarkeit) der Kunst betont (vgl. ECN 1a, 79 f.; ECN 3a, 38; ECN 3d, 264). 120 »It [the fixation of the highest moments of phenomena, Y. H.] is an interpretation of reality – not by concepts but by intuitions; not through the medium of thought but through that of sensuous forms« (ECW 23, 159). 118 119

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einseitig zuzuspitzen, konkret darauf aufmerksam zu machen, dass Cas­si­ rer in seiner Ästhetik neben dem Moment der reinen sinnlichen Formen auch auf ein anderes Moment als ein für die Kunst wesentliches hinweist; dass Cas­si­rer – insbesondere im Fall der Dichtkunst – die Offenbarung des Sinns des Lebens als eine wesentliche Komponente der Kunst darstellt, obwohl diese Darstellung weniger konkret ausgearbeitet ist als die der reinen sinnlichen Formen. 3.3.3  Ästhetische Offenbarung des Lebenssinns Cas­si­rers Betonung der Unverzichtbarkeit der reinen sinnlichen Formen – der Proportion der Melodien, Rhythmen usw. – in der Kunst ist so stark, dass er – in Anlehnung an den englischen, Romantikdichter Percy Bysshe Shelly – die Unmöglichkeit und die Vergeblichkeit der Übersetzung (»the vanity of translation«) der Dichtkunst feststellt. So erachtet Cas­si­rer diese Unmöglichkeit gar als echte Verteidigung gegen Croces, Tolstois und Platons Betonung des emotionserregenden Moments in der Kunst überhaupt.121 Das Wesen der Kunst, hier der Dichtkunst, geht, so behauptet Cas­si­rer, bei der Übersetzung unausweichlich verloren, da es in den reinen sinnlichen Formen, in den Melodien und Rhythmen der originalen Sprache liegt. Auch in einer Goethe-Vorlesung (1940-1941), in der Cas­si­rer ein Gedicht von Leopardi ins Deutsche übersetzt und vorliest, macht er die Unmöglichkeit der Übersetzung in der Dichtkunst geltend.122 Das gleiche behauptet Cas­si­rer bereits 1906 hinsichtlich des italienischen Textes in Mozarts Musik in einem Brief.123 Solch eine wiederholte Behauptung der Vergeblichkeit der Übersetzung bedeutet jedoch für Cas­si­rer nicht, dass alle ästhetischen Werte in der Dichtkunst durch die Übersetzung verloren gingen. Diesen Sachverhalt zeigt paradigmatisch die folgende Aussage Cas­si­rers: »Tolstoi is a great and incomparable poet who in his novels gave one of the deepest and richest descriptions of modern life.«124 Es ist kaum anzunehmen, dass Cas­si­rer Russisch gekonnt und Tolstois Werke auf Russisch gelesen hat. Gesetzt, dass er sie auf Vgl. ECN 7e, 155. Der Ausdruck »the vanity of translation« ist zitiert aus Shelly (1904), 24. 122 »Ich muss hierbei freilich bemerken,« so Cas­si­rer, »daß bei einer solchen Übersetzung der küntl[erische] Wert des Gedichts notwendig verliert – seine eigentümliche Schönheit kann man nur dann ganz empfinden, wenn man es im italienischen Original liest« (ECN 11b, 149). 123 Vgl. Brief an Albert Görland, 21. April 1906, in: ECN18, 11. 124 ECN 7g, 188 f. 121



Die ästhetische Lehre Cas­si­rers 149

Deutsch (oder in einer anderen Sprache als Russisch) gelesen hat, liegt es klar auf der Hand, dass Cas­si­rers Hochschätzung von Tolstoi als Künstler nicht auf den Proportionen der Melodien und Rhythmen, d. h. nicht auf den reinen sinnlichen Formen, sondern auf der dargestellten Geschichte selbst fußt. Das heißt, Cas­si­rer geht dabei implizit davon aus, dass der Inhalt der Geschichte – unabhängig vom Moment der reinen sinnlichen Formen – als das Wesentliche der Kunst betrachtet werden kann oder muss, wie z. B. auch Gadamer– in Bezug auf russische (und englische) Romane – betont.125 Der ästhetische Wert des Bedeutungsinhalts der Geschichte wird von Cas­si­rer eigentlich nicht nur implizit, sondern auch – unter bestimmten Umständen – explizit anerkannt: Er hebt neben der Offenbarung der reinen sinnlichen Formen die des Lebenssinns als ein ästhetisch wichtiges Element hervor, wenn es um die Dichtkunst geht. Beispielsweise schreibt Cas­si­rer hinsichtlich Goethes Dichtung und Wahrheit: »Sie ist […] eine symbolische Darstel lung seines Lebens: symbolisch, weil sie nicht lediglich vom Inha lt des Lebens erzählen, sondern den Sinn dieses Lebens sichtbar machen will.«126 Cas­si­rer schreibt eine solche Sichtbarmachung des inneren Lebenssinns nicht lediglich der Dichtkunst, sondern auch der bildenden Kunst zu.127 Doch dass dies in erster Linie für die Dichtkunst (inklusive Drama) gilt, wird durch den folgenden Passus bezeugt: »The plastic arts make us see the sensible world in all its richness and multifariousness. […] Poetry is, similarly, the revelation of our personal life. […] Such art is in no sense mere counterfeit or facsimile, but a genuine manifestation of our inner life.«128 Darüber hinaus sagt er im Entwurf zum EM, bezugnehmend auf die Tragödie – Orestie von Aischylos und Orestes von Euripides –, dass der Sinn der Schönheit (»the sense of beauty«) immer auf dem Sinn des Lebens (»the sense of life«) bzw. dem Lebensgefühl (»the feeling of life«) basiert.129 Be Gadamer betont im Vergleich zur lyrischen Poesie die Kraft des Erzählens in den großen englischen und russischen Romanen. »Die Kunst des großen Erzählens ist«, so Gadamer, »ein eigenes Wunder, das selbst in Übersetzungen fast ungeschmälert bleibt« (Gadamer (1993), 283). 126 ECN 11a, 47. Vgl. ECW 18h, 385. 127 Mit Bezug auf die »Schule von Athen« von Raffael hebt Cas­si­rer neben der Dimension des physikalischen Daseins wie der Farben noch zwei andere Dimensionen – die des gegenständlichen Daseins wie der dargestellten Personen (Platon, Aristoteles usw.) und die des persönlich Ausgedrückten von Raffael – hervor. Unter diesen letzten zwei Dimensionen legt er wahrhaft ästhetischen Wert auf das persönlich Ausdruckshafte und sagt: »Das Gemälde ist nicht einfach die Darstellung einer historischen Szene, eines Gesprächs zwischen Platon und Aristoteles. Denn nicht Platon und Aristoteles, sondern Raffael ist es, der hier in Wahrheit zu uns spricht« (LKW, 400). 128 ECW 23, 183. Vgl. ECN 6c, 571. 129 Vgl. ECN 6c, 545. 125

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merkenswerter daran ist, dass er dabei – auf eine etwas an Heideggers Sein und Zeit erinnernde Weise – das Hinausblicken über »den durchschnittlichen Menschen« als die ästhetische Offenbarung des inneren Lebens beschreibt: »In the work of art this inner life becomes, so to speak, transparent. What do we know of man as long as we follow the ordinary way of our immediate experience or the methods of our scientific psychology? What we find here is the ›average man‹[,] the man of our practical and social intercourse. It is the great achievement and the great privilege of art to show us, behind the mask, the features of the individual, and that means of the real man[.] In the works of the great dramatists and novelists […] we see human nature, human characters, human passions and emotions in a new light.«130

So betont Cas­si­rer speziell in Hinsicht auf die Dichtkunst nicht allein die Schaffung der reinen sinnlichen Formen, sondern auch die der neuen außergewöhnlichen Perspektive des inneren Lebens. Für die Beleuchtung dieses Sachverhalts ist Cas­si­rers Auseinandersetzung mit der Komödie von Belang, wenngleich wir die Kernthese der Ästhetik Cas­si­rers in seiner Auseinandersetzung mit der Tragödie erblicken.131 »Der hochmütige Ernst wird« – so schreibt Cas­si­rer in der Studie Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932) hinsichtlich Shakespeares Humor – »vor ihm [dem Humor, Y. H.] zur bloßen Gravität, die vorgebliche Größe wird zur ›Grandezza‹.«132 Humor exponiere die Lächerlichkeit der angemaßten Würde, welche der Lebensfreude widersteht, und zeige dadurch, dass weder Wissenschaft noch Religion der Lebensfreude entgegenstehen müsse. Diese Argumentation schließt Cas­ si­rer an Shaftesburys Lehre an, welche laut Cas­si­rer den Humor »in dem Grundsinne, den die Renaissance ihm gegeben hatte: als eine befreiende, lebenspendende und lebensgestaltende Potenz der Seele« fasst.133 Es sei der Humor, welcher den Menschen vom blinden und falschen Glauben befreit. Solch eine Auseinandersetzung mit Shakespeares und Shaftesburys Bejahung des Humors klingt als Cas­si­rers eigene Lehre im EM nach, wobei die Befreiungskraft des Komischen in der Offenbarun des Lebenssinns verortet ist. Laut Cas­si­rer zeigt die große Komödie auch eine große Bitterkeit des ECN 6c, 571. Eine ähnliche Behauptung findet sich auch im veröffentlichten Essay on Man. Aber dort wird sie als gemeinsame Charakteristik der Geschichte und Kunst im Kapitel zur Geschichte dargestellt (vgl. ECW 23, 222). 131 Krois hält Cas­si­rers Argumentation über die Komödie für das Tiefste in Bezug auf die ästhetische Befreiung (vgl. Krois (1987), 133). 132 ECW 14b, 362. 133 Ebd., 364 f. 130



Freiheit des ästhetischen Gefühls 151

Lebens, 134 doch diese Bitterkeit wird zugleich durch die Grundcharakteristik der Komödie, d. h. »a praise of folly«,135 überwunden: Alles Bittere bzw. alles Fehlerhafte wird dabei als lächerlich bloßgelegt. Indem man die Lächerlichkeit und die Beschränktheit des Lebens in allen Details erkennt und darüber lacht, wird man von solch einer lächerlichen und beschränkten Welt entlastet. »Things and events«, so Cas­si­rer, »begin to lose their material weight; scorn is dissolved into laughter and laughter is liberation.«136 In der Komödie ist es nicht die Betrachtung der reinen sinnlichen Form, sondern das durch den Humor, durch die Bloßlegung des komischen Lebenssinns entstandene Lachen, das die Befreiung von der Last des Lebens ermöglicht. Dieser der Komödie eigentümliche Befreiungscharakter ist das, was Cas­si­rer – im Unterschied zur tragischen Katharsis – »the peculiar character of the comic catharsis«137 nennt. In bisher dargestellter Art und Weise betont Cas­si­rer die Bedeutung der Eröffnung der neuen Perspektive des Lebenssinns für Dichtkunst und Drama. Wenn sich Cas­si­rers Ästhetik also weiter auskristallisiert hätte, wäre der Begriff des Lebenssinns neben dem der reinen sinnlichen Formen einer von zwei Kernen dieser Kristallisation gewesen. Allerdings ändert dies nichts daran, dass es nicht die Offenbarung des Lebenssinns ist, sondern die Schaffung und die Wahrnehmung der reinen sinnlichen Formen sind, die Cas­si­rer in seinen Spätschriften wiederholt eindeutig als das eigentlich Entscheidende des Ästhetischen darstellt: Er weist eben jener Schaffung und Wahrnehmung die Funktion der Transformation der organischen bzw. alltäglichen Emotionen zu, wobei nicht die komische, sondern die tragische Katharsis in den Vordergrund der Argumentation gerückt wird. 4. Freiheit des ästhetischen Gefühls 4.1 Ästhetische Transformation des Gefühls in der Welt der reinen sinnlichen Formen Im Folgenden wird auf das ästhetische Gefühl eingegangen. Dafür lohnt es sich nochmals zu wiederholen, dass sich die hiesige Argumentation darum dreht, wie man sich im eigentlich (bzw. echt) Ästhetischen überhaupt, in der eigentlich (bzw. echt) ästhetischen Erfahrung fühlt. Vgl. ECW 23, 162 f.; ECW 14b, 366 f. ECW 23, 163. 136 Ebd. 137 Ebd. (Hervorh. Y. H.). 134 135

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Der achtzehn- bzw. neunzehnjährige Cas­si­rer behauptete in einem Referat die Notwendigkeit der Mitteilung des Gefühls in der Kunst. Der junge Cas­si­rer kritisiert dabei die Szenen in den Betschwestern, im Lustspiel von Christian Fürchtegott Gellert, und sagt: In dessen Szenen »ist die Sprache Gellerts unfähig, Affecte darzustellen. Sie ist immer so rationalistisch, so kalt reflexiv, daß sie es von vorn herein als ganz unglaubhaft erscheinen lässt, daß der Sprechende innerlich erregt sei. Die Sprache stellt sich immer über den Affect, sie geht nie aus ihm hervor.«138

Dieser Gedanke der Notwendigkeit des Gefühls in der Kunst blieb bis in die späten Schriften Cas­si­rers erhalten. Aber wie bereits betont, ist das Gefühl neben der ästhetischen Reflexion der reinen sinnlichen Formen allein eine der zwei wichtigsten Komponenten des Ästhetischen. Mit Blick auf die Betonung einer dieser beiden Komponenten stellt Cas­si­rer in der Philosophie der Aufklärung (1932) die philosophiegeschichtliche Entgegensetzung zwischen der ästhetischen Lehre Jean-Baptiste Dubos’ und der Shaftes­ burys dar. Dubos’ Akzentuierung der Dynamik »des Leidens und der Leidenschaften«139 beim Rezipienten der Kunstwerke stehe Shaftesburys Hervorhebung der »Dynamik des reinen Bildens und Formens«140 beim Schöpfer der Kunstwerke entgegen. Dass Cas­si­rer, der Erforscher der symbolischen bzw. kulturellen Formen ist und zugleich Shaftesburys Einfluss auf die klassische deutsche Ästhetik hoch einschätzt, für diesen Partei ergreift, liegt klar auf der Hand. Aber dabei ist zu beachten, dass Cas­si­rer die Dynamik des Formens bei Shaftesbury betont. Hinsichtlich der Lehre Shaftesburys schreibt Cas­si­rer: »Schönheit ist ›Form‹ – aber sie ist nicht statische, sondern dynamische Form. Sie ist einem bestimmten Gebilde eigen, sofern in ihm der Prozeß des Lebens, aus dem es herauswächst, nicht erloschen ist, sondern noch durch seine festen Begrenzungen hindurchscheint. So wird für die künstlerische Betrachtung alle äußere Form zum Symbol einer inneren[…].«141

Der Lebensprozess ist für die Schönheit unentbehrlich, aber er wird erst in äußeren Formen symbolisch erschlossen. In der Linie eines solchen Gedankens stehend, übt Cas­si­rer Kritik an der zeitgenössischen ästhetischen Lehre, die, wie Dubos, allein die Seite des Gefühls betont. ECN 11f, 368. ECW 15, 340. 140 Ebd., 338. 141 ECW 7, 90. 138 139



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In diesem Zusammenhang ist es paradigmatisch Benedetto Croces Philosophie, gegen die Cas­si­rer ankämpft. Im Vorwort der PsF I richtet Cas­ si­rer bereits die Kritik auf Croces Verständnis der Sprache, d. h. auf seine Zurückführung des Sprachlichen auf das Ästhetische.142 Aber als Cas­si­rer seine eigene Ästhetik aufzubauen anfing, sollte er nun unter dem Aspekt der Ästhetik, um die Besonderheit der Kunst zu sichern, gegen Croces Zurückführung des Ästhetischen auf das Emotionale, gegen dessen Ignorierung bzw. Minimierung der Bedeutung des Formmoments in der Kunst, ankämpfen. Dabei betrachtet Cas­si­rer Tolstoi und teilweise auch Platon als Anhänger einer solchen Ästhetik, obgleich Platon – zumindest der späte Platon – im Gegensatz zu den zuvor genannten eben wegen dieser künstlerischen Kraft der emotionalen Erregung die Kunst kritisiert.143 Gegenüber dieser Partei behauptet Cas­si­rer, dass die Stärke des Gefühls bzw. der Emotionen kein ästhetisches Moment ausmachen kann. Der Mythos, seine Objektivierung des reinen Gefühls, ist seinem Wesen nach keine Kunst. Denn mit der Kraft der universellen Beseelung, d. h. der emotionalen Mythisierung, stehe ein Mann, so Cas­si­rer, nur im Vorraum der Kunst.144 Darüber hinaus hält er die Klage Schillers (und mancher modernen Dichter), die goldene Zeit für die Kunst, in der noch die Welt mit den mythischen Kräften und Göttern in vollem Maß beseelt war, sei vorbei, für grundlos. Denn Cas­si­rer glaubt – sehr optimistisch zumindest in Hinsicht auf die Kunst –, dass die emotionale, mythische Quelle für die künstlerische Imagination nie verschwindet, sondern sie sich zu allen Zeiten in allen Nationen findet.145 Zwar muss der Künstler auch für Cas­si­rer große Emotionen kennen und haben; sie und ihr Ausdruck seien, wie bereits mehrfach betont, eine Voraussetzung der Kunst. Jedoch seien die Stärke der Emotion und auch ihr geschickter Ausdruck kein Merkmal des Ästhetischen.146 Demnach lehnt Cas­si­rer dezidiert die Ansicht Croces ab, dass »ein Brief […] ein Kunstgegenstand nicht weniger als ein Roman«147 sei, gesetzt den Fall, dass der Brief von Emotionen erfüllt sei. Das echte Kunstwerk ist deshalb für Cas­ si­rer vom leidenschaftlichsten Brief – einem Liebesbrief in Cas­si­rers Beispiel – qualitativ unterschieden, selbst wenn ein Brief den echten Ausdruck des wahren und herzlichen Gefühls des Schreibers trägt. 148 In dieser Weise Vgl. ECW 11, VIII. Vgl. ECN 7e, 155; ECN 7g, 185 f. u. 196. 144 Vgl. ECW 23, 167. 145 Vgl. ebd., 166 f. 146 Vgl. ECN 7e, 149 f.; ECN 7f, 180 f.; ECN 7g, 192 f. 147 Croce (1929), 45. 148 Vgl. ECN 7e, 141 f. u. 155.; ECN 7g, 185 f. u. 196. 142 143

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kämpft Cas­si­rer gegen all jene an, die in der Kunst die Übertragung der Emotionen einseitig betonen und die nur in der Imagination und der Beseelung die Charakteristik der Kunst sehen. Hier ist daran zu erinnern, dass Cas­si­rer selbst den Begriff des Gefühls bzw. der Emotionen nicht genau präzisiert hat. So ist dies auch der Fall in seiner Ästhetik. Cas­si­rer stellt gewiss an manchen Stellen die ästhetische Gefühlserfahrung als die ästhetisch symbolische Transformation der organischen Gefühlserfahrung dar.149 Aber wir täten hier besser daran, nicht die symbolische Gestaltung bzw. Umgestaltung des organischen Gefühls zu betonen. Denn wenn Cas­si­rer die Besonderheit des Ästhetischen hervorhebt, geht es fast immer um den Vergleich dessen mit der Erfahrung bzw. dem Gefühl im realen Leben (»in real life«150) im Sinne des alltäglichen Lebens: Er trifft hier keine Unterscheidung zwischen dem organischen und dem alltäglichen Gefühl. Folglich müssen wir uns damit begnügen, Cas­ si­rers Meinung folgendermaßen zusammenzufassen: Das organische bzw. alltägliche Gefühl kann insofern auf ästhetische Weise gestaltet bzw. transformiert werden, als es in den reinen sinnlichen Formen erlebt wird: »Artistic emotion is«, so Cas­si­rer, »creative emotion; it is that emotion which we feel when we live the life of form. Every form has not only a statistic being; it has a dynamic force and a dynamic life of its own. Light, colour, mass, weight are not experienced in the same in a work of art as in our common experience. […] We see reality in a new light, in a medium of living forms.«151

Diesen Zusammenhang erläutert Cas­si­rer im EM aufgrund des Unterschieds zwischen der organischen Schönheit der Natur und der ästhetischen noch konkreter:

Vgl. ECN 6c, 560; ECN 7e, 151; ECN 7g, 194. In den letzteren zwei Schriften stützt sich Cas­si­rer auf Darwin und schreibt, die Darwinische Emotionstheorie zeige deutlich, dass es eine scharfe Demarkationslinie zwischen dem biologischen Ausdrucksakt und dem ästhetischen gibt. 150 ECW 23, 161. 151 ECN 7e, 152 f. Cas­si­rer deutet diesen Gedanken bereits 1923 folgendermaßen an: »Alle ästhetische Auffassung räumlicher Formen mag in sinnlichen Elementargefühlen wurzeln, alles Gefühl für Proportion und Symmetrie mag unmittelbar auf das Gefühl unseres eigenen Körpers zurückgeführt werden können  – und doch gibt es für uns andrerseits ein wahrhaftes Verständnis räumlicher Formen, eine plastische oder architektonische Anschauung nur dadurch, daß wir diese Formen in uns selbst zu erzeugen und uns der Gesetzlichkeit dieser Erzeugung bewusst zu werden vermögen« (ECW 16b, 82). 149



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»There are many natural beauties with no specific aesthetic character. […] I may walk through a landscape and feel its charms. I may enjoy the mildness of the air, the freshness of the meadows, the variety and cheerfulness of the coloring, and the fragrant odor of the flowers. But I may then experience a sudden change in my frame of mind. Thereupon I see the landscape with an artist’s eye – I begin to form a picture of it. I have now entered a new realm – the realm not of living things but of ›living forms‹. No longer in the immediate reality of things, I live now in the rhythm of spatial forms, in the harmony and contrast of colors, in the balance of light and shadow. In such absorption in the dynamic aspect of form consists the aesthetic experience.«152

Die Lust an der bloß reizenden, wohlwollenden Landschaft in der Natur sei nicht echt ästhetisch. Die Schönheit der Natur, die man im Alltag, im realen Leben fühlt, sei von der ästhetischen Schönheit, vom ästhetischen Gefühl dadurch zu unterscheiden, dass die ästhetische Schönheit in den reinen sinnlichen Formen entsteht. Es versteht sich von selbst, dass das Gefühl des Angenehmen, welches aus der Empfindung der natürlichen Schönheit stammt, im künstlerischen Schauen jener Formen nicht vergessen oder beseitigt, sondern allein modifiziert bzw. transformiert wird.153 Nicht direkt mit Bezug auf die organische Schönheit der Landschaft, jedoch mit Bezug auf die Freude schreibt Cas­si­rer: »All our activities – not only our mental but also our bodily activities – give us a definite feeling of pleasure. That is a general phenomenon of our orga nic life, but it is quite insufficient for a real characterisation of our aesthetic life. In our aesthetic life we experience a radical transformation. Pleasure itself develops into a new form; it ceases being a passive state[.] It is no longer a mere ›affection‹; it becomes a function.«154

Solch eine ästhetische Transformation des organischen bzw. alltäglichen Gefühls wird sogleich anhand der Auseinandersetzung Cas­si­rers mit der ästhetisch-tragischen Katharsis in noch konkreterer Weise erklärt.

ECW 23, 164. »In this picture [produced by an artistic eye, Y. H.] none of its former qualities is forgotten or effaced« (ECN 7g, 199 f.). 154 ECN 6c, 560. 152 153

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4.2 Katharsis in der Dichtkunst Cas­si­rer setzt sich in verschiedenen Passagen mit der Bedeutung des Aristotelischen Begriffs der (tragischen) Katharsis auseinander. Jedoch ist zu beachten, dass Cas­si­rer, wie er an einigen Stellen deutlich sagt, mit der Erläuterung der Katharsis nicht versucht, die Bedeutung des Aristotelischen Begriffs in einzelnen Problemen zu interpretieren.155 Folglich handelt es sich hier nicht um Cas­si­rers philosophiegeschichtliche Auseinandersetzung mit jenem Begriff, sondern um seine freie Auslegung für die Erläuterung seiner eigenen Ästhetik. Die Katharsis, welche wir in der Tragödie erfahren, solle, so Cas­si­rer, weder im moralischen noch im physiologischen Sinne, sondern in dem Sinne verstanden werden, dass unsere Emotionen auf eine neue Ebene gehoben werden.156 Im kathartischen Effekt überträgt der Künstler auf den Rezipienten nicht direkt bloße Emotionen, sondern umgestaltete und somit beherrschte Emotionen, d. h. in der Welt der reinen sinnlichen Formen ästhetisch transformierte Emotionen. Das Miterleben des Rezipienten mit dem schaffenden Prozess des Künstlers impliziert daher zugleich sein Mitfühlen mit ihm. Die folgende Passage stellt paradigmatisch das dar, was Cas­si­rer in Bezug auf die Katharsis bzw. auf die ästhetische Transformation der Emotionen an der einen und anderen Stelle hervorhebt: »The tragic poet is not the slave but the master of his emotions; and he is able to transfer this mastery to the spectators. In his work we are not swayed and carried away by our emotions. Aesthetic freedom is not the absence of passions, not Stoic apathy, but just the contrary. It means that our emotional life acquires its greatest strength, and that in this very strength it changes its form. For here we no longer live in the immediate reality of things but in a world of pure sensuous forms. In this world all our feelings undergo a sort of transubstantiation with respect to their essence and their character. The passions themselves are relieved of their material burden. We feel their form and their life but not their encumbrance.«157

Indem man in der Welt der reinen sinnlichen Formen lebt, überfallen uns Emotionen bzw. Leidenschaften nicht mehr, wie dies im Alltag geschieht, zwangsläufig und unmittelbar. Sondern sie sind – ähnlich der These Schil Vgl. ECW 23, 160; ECN 7e, 156. Catharsis »means that our emotions are elevated to a new state« (ECN 7e, 156). Diesbezüglich ist zu bemerken, dass Cas­si­rer im Kontext der Kritik am modernen Mythos, d. h. am nationalsozialistischen Regime, den Begriff der Katharsis in einem anderen Sinne verwendet als im ästhetischen (vgl. unten S. 189). 157 ECW 23, 161 (Hervorh. Y. H.). Vgl. ebd., 167 f.; ECN 7e, 156; ECN 7g, 196 f. 155

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lers –, ohne ihren ursprünglichen Charakter zu verlieren, von der realen Last befreit.158 Wichtig dabei ist, dass Cas­si­rer hier – wohl oder übel – keine Unterscheidung zwischen der Wirkung des direkten Fühlens beim Betroffenen und der des Mit-fühlens beim Zuschauer, zwischen der des Leidens und der des Mit-leidens trifft. Erst aufgrund dessen kann man die folgende Ansicht Cas­si­rers wahrhaft verstehen: Wenn die ästhetische Erfahrung, wie Croce und Tolstoi betonen, hauptsächlich in der Erregung, der direkten Übertragung der Emotionen bestünde, wenn der Zuschauer tatsächlich die Emotionen der Personen in der Tragödie erfahren sollte, wäre es für ihn sehr schwer oder unmöglich, so grausame Erfahrungen zu überleben. Der Zuschauer könne dennoch jene Erfahrungen überleben, weil er die Emotionen, die tragische Personen erleben, nicht als solche, sondern durch die kathartische Änderung erfahre, weil sich die Emotionen – in der Rekonstruierung des schaffenden Prozesses der reinen sinnlichen Formen – einer Transsubstantiation unterziehe: »We cannot understand a work of art without, to a certain degree, repeating and reconstructing the creative process by which it has come into being. By the nature of this creative process the passions themselves are turned into actions. If in real life we had to endure all those emotions through which we live in Sophocles’ ›Oedipus‹ or in Shakespeare’s ›King Lear‹ we should scarcely survive the shock and strain. But art turns all these pains and outrages, these cruelties and atrocities, into a means of self-liberation, thus giving us an inner freedom which cannot be attained in any other way.«159

In der ästhetischen Katharsis verlieren die Emotionen ihren organischen bzw. alltäglichen Sinn und treten in den Zustand der Freiheit ein. Cas­ si­rer erklärt diese Freiheit des ästhetischen Gefühls  – wenngleich nicht mit direkter Bezugnahme auf die Tragödie  – auch als Transparenz des Gefühls: »The aesthetic experience – the experience of contemplation – is a different state of mind from the coolness of our theoretical and the sobriety of our moral judgment. It is filled with the liveliest energies of passion, but passion Schiller schreibt zu Tragödien: »[…] kein wahrer Kunstkenner [wird, Y. H.] läugnen, daß Werke, auch selbst aus dieser Klasse, um so vollkommener sind, je mehr sie auch im höchsten Sturm des Affekts die Gemütsfreyheit schonen. Eine schöne Kunst der Leidenschaft gibt es; aber eine schöne leidenschaftliche Kunst ist ein Widerspruch, denn der unausbleibliche Effekt des Schönen ist Freyheit von Leidenschaften« (Schiller (1962), 382). 159 ECW 23, 161. 158

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itself is here transformed both in its nature and its meaning. Wordsworth defines poetry as ›emotion recollected in tranquility‹. But the tranquility we feel in great poetry is not that of recollection. The emotions aroused by the poet do not belong to a remote past. They are ›here‹ – alive and immediate. We are aware of their full strength, but this strength tends in a new direction. It is rather seen than immediately felt. Our passions are no longer dark and impenetrable powers; they become, as it were, transparent.«160

Dieses Sehen der transparenten Emotionen bzw. Leidenschaften, ist im Verständnis des ästhetischen Gefühls bei Cas­si­rer wichtig, weil er das »ZuSehen-Wissen« (»saper vedere« – das Motto Leonardo da Vincis) als die höchste Gabe des Künstlers überhaupt versteht.161 In der ästhetischen Erfahrung fühlt man nicht seine eigenen Emotionen, vielmehr schaut man seine Emotionen selbstreflektiert.162 Hierbei ist auch wichtig zu betonen, dass Cas­ si­rer die Charakteristik der ästhetischen Emotionen nicht in der Stille, sondern in der Regsamkeit erblickt. Dies könnte paradox erscheinen, da Cas­si­rer jene Emotionen im obigen Zitat als ruhig (tranquil) bezeichnet. Aber Cas­si­ rer ist sich nicht nur dieses Paradoxons völlig bewusst, sondern er erklärt es als Grundzug der tragischen Katharsis: »What seems to be clear and what is now generally admitted is that the cathartic process described by Aristotle does not mean a purification or a change in the character and quality of the passions themselves but a change in the human soul. By tragic poetry the soul acquires a new attitude toward its emotions. The soul experiences the emotions of pity and fear, but instead of being disturbed and disquieted by them, it is brought to a state of rest and peace. […] The highest intensification of our emotional life is thought of as at the same time giving us a sense of repose. We live through all our passions feeling their full range and highest tension. But what we leave behind when passing the threshold of art is the hard pressure, the compulsion of our emotions. […] The calmness of the work of art is, paradoxically, a dynamic, not a static calmness. Art gives us the motions of the human soul in all their depth and variety. But the form, the measure and rhythm, of these motions is not comparable to any single state of emotion. What we feel in art is not a simple or single emotional quality. It is the dynamic process of life itself – Ebd., 159. Vgl. ebd., 160. 162 In diesem Sinne ist der folgende Passus Cas­si­rers zu verstehen: »Wenn es dem lyrischen Dichter gelingt, dem Schmerz ›Melodie und Rede‹ zu geben, so hat er damit nicht nur eine neue Hülle um ihn geworfen; er hat ihn damit innerlich gewandelt. Durch das Medium des Affekts läßt er uns in eine seelische Tiefe hineinblicken, die ihm selbst und uns bisher verschlossen und unzugänglich war« (LKW, 389). 160 161



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the continuous oscillation between opposite poles, between joy and grief, hope and fear, exultation and despair. To give aesthetic form to our passions is to transform them into a free and active state. In the work of the artist the power of passion itself has been made a formative power.«163

Damit ist es unverkennbar, dass die Ruhe (tranquillity bzw. calmness) des ästhetischen Gefühls nicht im Sinne der Unbeweglichkeit des emotionalen Zustands, sondern im Sinne seiner Freiheit bzw. Transparenz zu verstehen ist. Aufgrund dieses Verständnisses sieht man kein Paradox mehr darin, dass die ästhetischen Emotionen zugleich ruhig ( frei bzw. transparent) und aktiv, stark bzw. intensiv sind. Denn erst indem sie vom organischen bzw. alltäglichen Zwang frei werden, können sie – so wird impliziert – einen neuen Freiheitsgrad, einen freien Spielraum für ihr Auf- und Abtreten, für ihre Beweglichkeit erhalten. Die Freiheit des ästhetischen Gefühls bedeutet daher seine aktive regsame Beweglichkeit. Kunst gebe uns – so schließt sich Cas­si­rer im soeben zitierten Passus, ohne explizite Erwähnung, an die Kantische Erklärung des schönen Spiels als eine spezifische Unterart der Kunst an164 – nicht bloß eine Emotion, sondern eine Motion des inneren Lebens, einen dynamischen Prozess des Lebens selbst, d. h. die Bewegung der verschiedenen Emotionen. Was wir in der Kunst fühlen, sind nicht einzelne Emotionen, sondern das Metrum und der Rhythmus der Bewegungen der menschlichen Seele (»the measure and rhythm« of the »motions« of »the human soul«165), d. h. die Proportionen der Motionen verschiedener, ständig sich wandelnder Emotionsarten. Also in der Dynamik der reinen sinnlichen Formen werden die Melodien und Rhythmen der freien Bewegung der Emotionen selbstreflektiert gefühlt, oder noch besser, selbstreflektiert gesehen. In Bezug auf solch eine freie, rege Beweglichkeit der Emotionen im Ästhetischen weist der betreffende Passus auf einen anderen wichtigen Punkt hin: Das ästhetische Gefühl besteht unausweichlich aus verschiedenen ECW 23, 160 f. Vgl. ebd., 167 f.; ECN 7e, 156; ECN 7g, 196 f. Es ist darauf aufzupassen, dass es dabei Kant nicht um die »schöne Kunst« schlechthin  – also nicht um das freie Spiel im transzendentalen Sinne des Spiels der Einbildungskraft mit dem Verstand –, sondern allein um eine Unterart der Kunst, um die Kunst des schönen Spiels (Musik und Stoff zum Lachen) geht, welche bei Kant den niedrigsten Rang in schönen Künsten besitzt (vgl. KU, 320 f.). Hinsichtlich jener Kunst des schönen Spiels sagt Kant: »[…] die Affekten der Hoffnung, der Furcht, der Freude, des Zorns, des Hohns, spielen dabei, indem sie jeden Augenblick ihre Rolle wechseln, und sind so lebhaft, daß dadurch, als eine innere Motion, das ganze Lebensgeschäft im Körper befördert zu sein scheint, wie eine dadurch erzeugte Munterkeit des Gemüts es beweist, obgleich weder etwas gewonnen noch gelernt worden« (ebd., 331 f. [Hervorh. Y. H.]). 165 ECW 23, 161. 163

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Emotionsarten, so dass es keine für das Ästhetische spezifischen Emotionen gibt. Die Heterogenität des ästhetischen Gefühls ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich zwischen zwei entgegengesetzten Polen bewegt; zwei Polen des positiven und des negativen Emotionsspektrums. Anhand der oben gegebenen Beschreibung des Wesenszugs des Gefühls lässt sich dieser Umstand folgendermaßen ausdrücken: Das ästhetische Bewusstsein schaut selbstreflektiert, wie es auf unterschiedliche Art und Weisen ständig abwechselnd hingezogen und abgestoßen wird. Hierbei ist anzumerken, dass das ästhetische Gefühl – wie dies allenthalben in Cas­si­rers Deutung des Ästhetischen der Fall ist – als Mittleres hervortritt, welches in diesem Zusammenhang zwischen der erfreulichen und der unerfreulichen Emotion steht. Cas­si­rer behauptet nicht, die (echte) Kunst könne sowohl die positive als auch die negative Emotionsrichtung bzw. die ganze Skala der menschlichen Emotionen im Rezipienten hervorrufen, sondern dies sei der Kunst tatsächlich inhärent: »In every great poem […] we must indeed pass through the whole gamut of human emotions. […] We may speak of the individual temperament of the artist, but the work of art, as such, has no special temperament. We cannot subsume it under any traditional psychological class concept. To speak of Mozart’s music as cheerful or serene, of Beethoven’s as grave, somber, or sublime would betray an unpenetrating taste. Here too the distinction between tragedy and comedy becomes irrelevant. The question whether Mozart’s ›Don Giovanni‹ is a tragedy or an opera buf fa is scarcely worth answering. Beethoven’s composition based on Schillers ›Hymn to Joy‹ express the highest degree of exultation. But when listening to it we do not for a moment forget the tragic accent of the Ninth Symphony. All these contrasts must be present and they must be felt in their full strength. In our aesthetic experience they coalesce into one indivisible whole. What we hear is the whole scale of human emotions from the lowest to the highest note; it is the motion and vibration of our whole being.«166

Ein Kunstwerk enthalte die entgegengesetzten emotionalen Stimmungen bzw. die Gesamtskala der emotionalen Stimmungen, welche Cas­si­rer einmal das »Gesamtbild«167 des Lebens nannte. Es ist aber nochmals zu betonen, dass für Cas­si­rer das Wesensmerkmal des Ästhetischen nicht der Umfang bzw. die Stärke der Emotionen, sondern das Formmoment – d. h. die reine sinnliche Form – ist. In den nach Ebd., 162. ECW 24f, 294. Zur näheren Darstellung dieses Begriffs vgl. Krois (1987), 133; Krois (1995b), 24. 166 167



Freiheit des ästhetischen Gefühls 161

gelassenen Spätschriften Cas­si­rers zur Kunst gibt es eine, deren Titel »The Educational Value of Art« bereits an Schillers »Ästhetische Erziehung« erinnert. Zwar unterscheidet sich diese Schrift Cas­si­rers in Argumentation und Ausführung von derjenigen Schillers völlig, doch erinnern Cas­si­rers allerletzte Sätze auffallend an Schillers Theorie: »[…] the forms that I behold [in the artistic imagination, Y. H.] are not only my state, but my acts. It is the character of aesthetic experience which to my mind gives to art its special place in human culture and makes it an essential and indispensable element in the system of liberal education. Art is a way to freedom, the process of the liberation of the human mind which is the real and ultimate aim of all education; it has to fulfill a task of its own, a task that cannot be replaced by any other function.«168

Cas­si­rers Philosophie kennt keine Schillersche Spitzenstellung der ästhetischen Freiheit.169 Dennoch vertritt Cas­si­rer, gemeinsam mit Schiller, die Ansicht, dass das Ästhetische bzw. die ästhetisch aktive Tätigkeit eine besondere – und für die Erziehung des Menschen höchst wichtige – Freiheit besitzt bzw. lehrt, welche durch die anderen Mittel, d. h. durch andere symbolische Formen nicht ersetzt werden kann. Diese Unersetzbarkeit des ästhetischen Freiheitscharakters liegt bei Cas­si­rer im Wesentlichen im Moment der reinen sinnlichen Formen; in diesen reinen sinnlichen Formen bewahrt auch das Gefühl seine Freiheit. Daher hätte Cas­si­rer nicht gezögert, den Satz Schillers zur Schönheit, auf den er sich oft stützt, nicht nur auf die Schönheit schlechthin, sondern auf das ästhetische Gefühl zu verwenden und zu formulieren: das ästhetische Gefühl ist »zugleich unser Zustand und unsere Tat«.170 Das ästhetische Gefühl ist insofern unser Zustand, als wir die Bewegung der Emotionen selbst fühlen. Doch es ist zugleich unsere Tat, weil wir – Künstler sowie Rezipient – es sind, die organische bzw. alltägliche Emotionen durch die reinen sinnlichen Formen in eine intensive, freie Bewegung der Gesamtskala der Emotionen umgestalten.

ECN 7g, 200. Zur Spitzenstellung der ästhetischen Freiheit bei Schiller vgl. Schiller (1962), 355 f., 383 f. u. 410 f. 170 Schiller (1962), 396. Zu Cas­si­rers Erwähnung dieser ästhetischen Formulierung Schillers vgl. ECW 7, 316; ECW 9b, 335; ECN 7g, 198. 168 169

162

Ästhetisches Gefühl

4.3 Das Werther-Fieber Das ästhetische Gefühl bei Cas­si­rer wurde bereits erläutert. Aber um des klareren Verständnisses willen schließen wir dieses Kapitel mit einem konkreten Beispiel, d. h. mit der Frage, die sich mit dem bekannten sogenannten Werther-Fieber auftut. Die Frage ist die: Wenn wir davon ausgehen, dass Goethes Werk Die Leiden des jungen Werthers mehr oder weniger eine Suizidwelle ausgelöst hat, wie kann man diesen Sachverhalt aus der Perspektive der Cas­si­rerschen Ästhetik heraus verstehen? Danach ist zu fragen. Denn das Werther-Fieber, jene Suizidwelle, bedeutet, dass jenes Werk Goethes in einigen Lesern Leidenschaften, m. a. W. heftige und überfallartige, d. h. nicht freie Emotionen auslöste. Wenn eine solche Erweckung der Leidenschaften zu den künstlerischen Kräften Goethes – des für Cas­si­rer vorbildlichsten Künstlers – zugeordnet wäre, würde Cas­si­rers wiederholte Kritik an Croces, Tolstois und Platons Deutung des Kunstwesens im Sinne des – positiv oder negativ zu verstehenden – Auslösens der Emotionen an Plausibilität einbüßen. Weist das Werther-Fieber unausweichlich auf eine Widerlegung von Cas­si­rers Theorie des ästhetischen Gefühls hin? Wenn nicht, wie kann diese Theorie jenes Fieber erklären? Auf diese Frage wird im Folgenden anhand von einigen Nachlassschriften eingegangen. Für die Beantwortung dieser Frage gilt es zuvorderst, darauf aufmerksam zu machen, dass Cassirer der Ansicht ist, es gebe unter dem, was man üblicherweise Kunst nennt, eine »unechte« Kunst: »Die ›unechte‹ Kunst, der ›Kitsch‹ ist, ist / substantiell und dadurch sensationell – / er versucht[,] die ›Lösung‹ von der Wirk- / lichkeit, die ›Erlösung‹ vom ›Alltag‹ / dadurch zu erreichen, daß er uns in / eine stofflichveränderte Welt versetzt / – eine Welt[,] in der das ›Neue‹, / ›Wunderbare‹, ›Aufregende‹ vorherrscht – / Er verändert nicht uns; er lässt uns / wie wir waren; er nimmt nicht uns selbst / in Anspruch und fordert, daß wir organisch / andere werden – / daß wir mit dem Blick des Künstlers sehen / lernen und dadurch in seine ›Welt‹ eingehen«.171

Darüber hinaus vermerkt Cassirer noch, dass solch eine »unechte« Kunst die Gefahr in sich birgt, uns dazu zu verführen, »›Wirkliches‹ und ›Phantastisches‹ zu vermischen« und daher uns für »den Ernst der theoretischen Wahrheitsforderung« und für »den sittlichen Ernst des Lebens« unfähig zu machen.172 Diesbezüglich heißt es: »Daß es eine gewisse Art ›Kunst‹ gibt, der dieser Vorwurf mit Recht gemacht werden kann, leidet k­ einen 171

Ebd., 32. ECN 3a, 42.

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Freiheit des ästhetischen Gefühls 163

Zweifel – / es ist die bloße ›Stoffkunst‹, die Kunst der ›Sensation‹«.173 Die Frage ist also zunächst einmal, ob der Werther für Cassirer solch eine unechte Kunst, solch eine bloße Stoffkunst ist, die jene sittliche Gefahr in sich birgt. Anders gefragt: Liegt die Ursache des Werther-Fiebers im Werk selbst, weil es aus der Zeit des Sturm und Drang hervorging? Ist es für Cas­ si­rer ein unreifes Werk? Solche Fragen müssen negativ beantwortet werden, da Cas­si­rer folgendermaßen denkt: »Ein schöneres, ein kräftiges und zartes, ein gedrungeneres und reicheres Deutsch als in ›Werthers Leiden‹ ist meinem Gefühl nach niemals geschrieben worden – / und wird vielleicht nie wieder geschrieben werden.«174 Darüber hinaus ist Cas­si­rers Vergleich von Goethe mit Rousseau ein sichererer Beleg für die ästhetische Echtheit der Leiden des jungen Werthers. Mit Bezug auf Goethes künstlerische Vortrefflichkeit gegenüber Rousseau hebt Cas­si­rer in FF hervor, dass Goethe aus der Reinheit seines eigenen Lebensgefühls heraus, d. h. rein künstlerisch Kunst schafft, während Rousseaus »Gefühlsenthusiasmus« nicht rein künstlerisch, sondern moralisch bzw. sozialkritisch geprägt ist.175 Doch in einem nachgelassenen Text versucht Cas­si­rer, in einer anderen Hinsicht Goethes künstlerische Vorzüglichkeit gegenüber Rousseau zu bezeichnen. Dort stellt er Goethes Werther Rousseaus Nouvelle Héloïse gegenüber. Er räumt dabei gewiss ein, dass jenes Werk in tiefgehender Beziehung zu diesem steht. Doch während Rousseaus Nouvelle Héloïse bei seiner echten Erfüllung der Leidenschaften, so Cas­si­ rer, dennoch zum »Typus der ›sentimentalistischen‹ Dichtung«176 gehöre und daher allein »blosse Vorstel lung sk ra f t« besitze, verfüge Goethes Werther über »die echte, grosse, künstlerische Gestaltungskraft«.177 Demzufolge besteht das problematische Ereignis des Werther Fiebers nach Cas­si­rer weder im Künstler noch im Werk. Wurde es dann von den Lesern verursacht? Dies bejaht Cas­si­rer. Cas­si­rers ästhetische Lehre zeigt uns nicht, was Kunst bzw. ästhetische Erfahrung ist, sondern was echte Kunst bzw. echte ästhetische Erfahrung ist, d. h. wie Kunst bzw. ästhetische Erfahrung sein soll. Und dieses Was der echten ästhetischen Erfahrung impliziert die Anweisung, wie sich der Rezipient auf ein Kunstwerk einstellen soll. Bezüglich der Einstellung des Theaterzuschauers gibt Cas­si­rer uns eine konkrete Erläuterung. Er hebt hervor, dass die echte ästhetische Erfahrung für den »kühlen, gleichgültigen«178 Zuschauer nicht zugänglich ist, wel Ebd. ECN 11d, 318. 175 Vgl. ECW 7, 184. Zitat aus ebd. 176 ECN 11d., 321. 177 Ebd., 322. 178 ECN 3a, 46. 173 174

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Ästhetisches Gefühl

cher ein Schauspiel nur als bloßes Spiel auf dem Brettergerüst ansieht oder welcher eine Schauspielerin bzw. einen Schauspieler nicht als eine Figur in der dramatischen Handlung, sondern bloß als eine bekannte Frau oder einen bekannten Herrn betrachtet. Ohne die Handlung des Schauspiels ernst zu nehmen bzw. ohne das Auf und Ab der dramatischen Figuren mitzufühlen, könne der Zuschauer das Schauspiel allein »unkünstlerisch, widerästhetisch«179 empfinden. Jedoch sei es auch eine falsche ästhetische Einstellung, das Schauspiel als »Wirklichkeit« aufzunehmen: »Der Zuschauer von der Gallerie [sic!], der auf die Bühne springt, um dem Helden in seinem Kampf mit dem Verbrecher zu Hülfe zu eilen – / er durchbricht«, so Cas­si­rer, »die aesthetische Illusion – / er fällt aus seiner Rolle als aesthetisch-Betrachtender heraus – er handelt ›wider-aesthetisch‹ / weil er pra ktisch handelt – / weil er aus der Bi ldebene, in die ihn das Kunstwerk versetzen und in der es ihn festba nnen wollte, plötzlich herausspringt in die Wirklichkeits-Ebene – / weil er dem magischen Z auber des Kunstwerkes sich entzieht und wieder in die ›gewöhnliche‹ (empirisch-dingliche) Wirkungswelt zurückfällt«.180

Dieser naive Zuschauer sei jenem kühlen, gleichgültigen dadurch »weit überlegen«, dass Ersterer mitten in der Handlung steht.181 Doch dies ändert nichts daran, dass es eine wider-ästhetische Erfahrung sei, das Schauspiel als Wirklichkeit zu betrachten. Der Zuschauer erkennt das ästhetische Geschehen erst, wenn »er zum Mitspieler in dem Drama wird – / ›Mitspieler‹ aber nicht im stofflichen Wirkungs-Sinne, sondern im Sinne des reinen Mit-Lebens unter Enthaltung von Mit-Wirken«.182 Die Erfahrung wird Cas­si­rer zufolge erst zur ästhetischen Erfahrung, wenn sie, ohne der dramatischen Handlung bzw. den dramatischen Figuren gegenüber teilnahmslos zu sein, von der Überwältigung der Emotionen befreit ist. Goethe hat sich einmal so geäußert: »Wer sie [meine Schriften, Y. H.], und mein Wesen überhaupt, verstehen gelernt, der wird doch bekennen müssen, daß er eine gewisse innere Freiheit gewonnen.«183 Dazu sagt Cas­ si­rer: »Dieses Wort ist so wahr, daß man es auch umkehren kann – wer am Werk Goethes diese innere Befreiung nicht erlebt hat, der kann auch nicht sagen, daß er Goethe wirklich verstanden hat.«184 Also wird jene Befreiung erst durch das Miterleben bzw. die aktive Rekonstruktion des schaf Ebd., 45. Ebd. 181 Ebd., 46. 182 Ebd. 183 Goethe (1993b), 356. 184 ECN 11a, 13. Vgl. ECN 11c, 240. 179

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Freiheit des ästhetischen Gefühls 165

fenden Prozesses des Künstlers möglich. Dies gilt freilich auch für die Lektüre, die Rezeption der Leiden des jungen Werthers. Zu Byron, Baudelaire und Leopardi sagt Cas­si­rer, dass ihre Gedichte am Überdruss oder am Ekel des Lebens leiden. Hingegen leide Werther nicht am Lebensüberdruss, sondern »an der Fü l le des Lebens, deren er nicht Herr zu werden vermag, und die ihn zu zersprengen droht«.185 Werther sei zugrunde gegangen, weil er die Welt geliebt habe. So bestehe Werthers Leiden besonders in zweierlei Liebe – der Liebe zu Lotte und zur Kunst. Dabei liegt Cas­si­rers Interesse und Betonung vorrangig auf Werthers Liebe zur Kunst: »Das Leiden Werthers besteht«, so Cas­si­rer, »nicht allein in seiner unglücklichen Liebe – es besteht in dieser innerlich-zwiespältigen Haltung zur Kunst[, d. h. in der Freude und in der Qual des künstlerischen Schaffens, Y. H.]. Denn Werther ist nicht Goethe. Er ist von der leidenschaftlichsten Liebe zur Kunst erfüllt – aber er besitzt nicht die wahrhaft grosse Gestaltungsgabe. An diesem Widerspruch leidet er – und an ihm geht er zuletzt zu Grunde. Für Goethe bedeutet die Kunst immer wieder die einzige Rettung – für Werther wird auch sie zu einer zerstörenden Kraft.«186

Hier ist wichtig zu betonen, dass Cas­si­rer uns ermahnt, Werther nicht mit Goethe selbst zu identifizieren. Werther kenne die Intensität des Gefühls, aber nicht das künstlerische Gestaltungsvermögen, nicht die künstlerische »Schaf fensfreude«,187 welche der echte Künstler, d. h. Goethe kennt. In dieser Hinsicht vermerkt Cas­si­rer zusammenfassend: »Der tiefste Grund dieser Tragik liegt darin, daß Goethe im Werther den fühlenden Menschen dargestellt hat, dem, bei aller Kraft und Intensität des Gefühls, doch das Glück des Scha f fens versagt ist.«188 Goethe, der sich in einer ähnlichen Lage wie Werther befunden habe, habe durch seine künstlerische Schaffung des Romans – der Leiden des jungen Werthers – sein eigenes Leben gerettet. Für die Erklärung des Genesungsprozesses, welchen Goethe bei der Arbeit an jenem Werk erlebt hat, zitiert Cas­si­rer die Passage Goethes aus Dichtung und Wahrheit: »[…] ich hatte mich durch diese Komposition, mehr als durch jede andere, aus einem stürmischen Elemente gerettet, auf dem ich durch eigne und fremde Schuld, durch zufällige und gewählte Lebensweise, durch Vorsatz und Übereilung, durch Hartnäckigkeit und Nachgeben auf die gewaltsamste

ECN 11b, 146. Ebd., 147. 187 Ebd. 188 Ebd., 148. 185

186

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Ästhetisches Gefühl

Art hin und wider getrieben worden. Ich fühlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, und zu einem neuen Leben berechtigt.«189

Goethe, jedoch nicht Werther, kenne, so setzt Cas­si­rer fort, diese Selbstbefreiung durch die künstlerische Gestaltung. Wenngleich sich Cas­si­rers hiesiges Argument lediglich um die Persönlichkeit bzw. Fähigkeit des Werthers dreht und sein Goethe-Zitat damit endet, geht Goethes Wort eigentlich nicht auf Werther, sondern auf die Leser des Werkes ein: »Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen; und was hier im Anfang unter wenigen vorging, eignete sich nachher im großen Publikum, und dieses Büchlein, was mir so viel genützt hatte, ward als höchst schädlich verrufen.«190

Aufgrund von Cas­si­rers oben dargestellter Auslegung der echt ästhetischen Einstellung des dramatischen Zuschauers versteht es sich von selbst, dass man Goethes hiesige Aussage gänzlich als die Cas­si­rers gelten lassen kann: »Dichtung ist«, so Cas­si­rer, »Selbstgestaltung – und in diesem Prozess der Selbstgestaltung liegt für den Künstler selbst und für den, der ihn zu verstehen [sic!], der diesen Prozess mit ihm erleben kann, eine große innere Selbstbefreiung eingeschlossen.«191

In diesem Abschnitt wird die Frage gestellt, wie Cas­si­rers Ästhetik das Werther-Fieber erklären kann. Wir können nunmehr die Antwort darauf geben: Die Leser, die, genau wie Werther, von den Leidenschaften überfallen wurden und Selbstmord begangen haben, hatten auf eine nicht ästhetische Weise die Leiden des jungen Werthers gelesen. Solche Leser sind Cas­si­rers Ansicht zufolge zwar den kühlen, gleichgültigen Lesern überlegen, welche Werther als eine bloß fiktive Figur in der Erzählung betrachten und daher durch Werther zu keiner noch so winzigen Emotion erregt werden. Doch sie kennen keine Freiheit des ästhetischen Gefühls, da sie nicht am Schaffensprozess des Künstlers, sondern allein am Lebensprozess einer künstlerischen Figur teilnehmen. Auf die Aussage von Lord Bristol, Bischof von Derby, der Werther sei »ein ganz unmoralisches, verdammungswürdiges Buch«,192 erwiderte Goethe einmal – möglicherweise um der Widerlegung willen –, Goethe (1986), 639. Cas­si­rers Zitat findet sich in: ECN 11b, 148. Goethe (1986), 639 f. 191 ECN 11b, 209. 192 Eckermann (1999), 718. 189

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Freiheit des ästhetischen Gefühls 167

dass jenes Werk »durch einige beschränkte Geister falsch aufgefaßt«193 wurde. Der nicht so spitze Cas­si­rer würde solche Geister nicht, wie Goethe, ein Dutzend »Dummköpfe[-] und Taugenichste[-]«194 nennen. Aber Cas­ si­rer ist sich mit Goethe darin einig, dass die Leser, welche wegen Werther Selbstmord begangen haben, auf nicht ästhetische Weise das Werk rezipiert haben. Das echt ästhetische Gefühl ist für Cas­si­rer nichts anderes als ein intensiviertes, doch zugleich freies. Mit Cas­si­rers späterer eigener ästhetischer Lehre gesprochen, ist diese freie ästhetische Einstellung erst durch die ästhetische Wahrnehmung der reinen sinnlichen Formen ermöglicht. In dieser Hinsicht ist es unerlässlich, wieder auf die bereits zitierte Stelle zu referieren: »He who does not understand these intuitive symbols, who can not feel the life of colours, of shapes, of spatial forms and patterns, of harmony and melody, is secluded from the works of art – and by this he is not only deprived of aesthetic pleasure, but he loses the approach to one of the deepest aspects of reality.«195

Auch wenn man ein Kunstwerk rezipiert, seinen Inhalt versteht und dadurch Emotionen hegt, bedeutet dies alles Cas­si­rer zufolge keine echt ästhetische Erfahrung. Der Mensch kennt die ästhetische Erfahrung erst, wenn er die reinen sinnlichen Formen wahrzunehmen bzw. zu gestalten und sich dadurch rein ästhetisch, d. h. im ästhetischen Sinne frei zu fühlen weiß.

Ebd. Ebd. 195 ECN 7f, 177. 193

194

V.  Moralisches Gefühl

1. Cas­si­rers Ansichten zur Ethik 1.1 Eine kleine Vorbemerkung zum Begriff des moralischen Gefühls In diesem Kapitel soll erläutert werden, wie man sich Cassirers Verständnis zufolge im moralischen Bewusstsein fühlt. Dafür gilt es zuvorderst in schlichter Weise zu erklären, was im Folgenden unter dem »Moralischen« verstanden wird. Da Cassirer aufgrund des gleichen Arguments, d. h. wegen der Abwesenheit des Ichbewusstseins und der darauf basierenden Selbstverantwortung – im Vergleich zur (monotheistisch-)religiösen Bewusstsein –, dem mythischen Bewusstsein den Begriff »ethisch« sowie den Begriff »mo­ra­lisch« abspricht,1 scheint es keinen Grund dafür zu geben, den Begriff des Ethischen und den des Moralischen (also nicht den der »Ethik« und den der »Moral«) voneinander zu unterscheiden. Damit drängt sich die Frage auf, warum wir in diesem Kapitel das moralische Gefühl bei Cas­si­rer untersuchen wollen. Denn wie hervorgehoben wurde, bedeutet die (höhere) Religion, d. h. für Cas­si­rer die monotheistische Religion, nichts anderes als eine ethische; das religiöse Gefühl, welches bereits ausführlich analysiert wurde, besagt daher das »ethische« bzw. moralische Gefühl. Wenn dem so ist, warum wollen wir hier nochmals das moralische Gefühl thematisieren? Da die monotheistische Religion von Cas­si­rer als höchst ethisch bzw. moralisch gefasst wird, versteht es sich von selbst, dass sich das (eigentlich) Religiöse in großem Umfang mit dem rein Moralischen bzw. Ethischen deckt. Aber Cas­si­rer unterscheidet gleichwohl das Ethische bzw. das Moralische in der monotheistischen Religion vom rein, d. h. hier philosophisch Ethischen bzw. Moralischen: Das (monotheistische) religiöse Gefühl ist höchst ethisch bzw. moralisch, doch es ist nicht genau das Gefühl im rein philosophisch-spekulativ ethischen bzw. moralischen Bewusstsein.2 So ist dieses Kapitel der Herausarbeitung dieses auf dem philosophisch-ethischen Gedanken basierenden Gefühls gewidmet. Im Folgenden wird dieses Gefühl »moralisches Gefühl« genannt, wobei anhand von Cas­si­rers eigenem Terminus – im Fall der einzelnen moralischen Emotionen – statt des Begriffs »moralisch« der Begriff »ethisch« verwendet wird. 1 2

Vgl. ECW 23, 113 f., 240f; ECW 25, 280; ECN 6b, 297 f.; ECN 6c, 529 f.; ECN 9f, 210 f. Vgl. unten V. 1.2.

170

Moralisches Gefühl

1.2 Grundprinzipien der Ethik nach Cas­si­rer – monotheistische Religion und philosophische Ethik Moral bzw. Moralität bildet für Cas­si­rer – zumindest potentiell – einen besonderen Bereich der menschlichen Aktivität, d. h. eine symbolische Form.3 Die Besonderheit dieser möglichen symbolischen Form besteht darin, dass sie auf die menschliche Handlung fokussiert ist. Dies ergibt sich klar aus dem folgenden Satz: »Science gives us order in thoughts; morality gives us order in actions; art gives us order in the apprehension of visible, tangible, and audible appearances.«4 »Cas­si­rer begreift«, so Recki diesbezüglich, »[…] ganz im Sinne seines Begriffs von der symbolischen Form die Handlung als Symbol, als die sinnliche Verkörperung eines geistigen Gehalts. Deutlicher kann es nicht werden: An einer systematischen Fußangel im Begriff des Symbolischen liegt es nicht, daß die Moral nicht genannt und nicht abgehandelt wird. Moral wäre auf der theoretischen Grundlage Cas­si­rers prinzipiell als symbolische Form explizierbar.«5

Cas­si­rer hat diese mögliche symbolische Form nicht ausführlich erörtert. Nichtsdestoweniger wissen wir, dass Cas­si­rer dem Mythos bzw. der »primitiven« Gesellschaft den ethisch-moralischen Charakter abspricht und dass er jenen Charakter beinahe ausschließlich in der monotheistischen Religion oder, noch genauer, in der monotheistischen Bildung des Ichbewusstseins erblickt. 6 Daraus ist zu schließen, dass der geistige Übergang vom Mythos bzw. der niedrigen Religion zur höheren, d. h. monotheistischen Religion für Cas­si­rer zugleich die geistesgeschichtliche Gestaltung der Moralität bedeutet. Wichtig ist dabei anzumerken, dass solch eine Moralität nicht allein auf das Geistige, sondern auf das soziale Handeln bezogen ist, da für Cas­si­rer die geistigen Prinzipien des Religiösen (und des Mythischen) die sozialen Handlungsprinzipien implizieren: 7 Die geistigen Prinzipien Vgl. ECN 6b, 239. ECW 23, 181. 5 Recki (2004a), 164. 6 Vgl. oben III. 3 u. III. 4.1. 7 Die eigentlichen Gründe der menschlichen Tätigkeit bestehen für Cas­si­rer in den geistigen, symbolischen Prinzipien. So kritisiert Cas­si­rer in der PsF II scharf Durkheims soziologische Erklärung des Mythisch-Religiösen und behauptet gegen diesen, dass die geistigen Prinzipien des mythisch-religiösen Bewusstseins grundlegender sind als die sozialen Gründe (vgl. ECW 12, 225 f.). Zwanzig Jahre später (im EM) übt Cas­si­rer solch eine Kritik an Durkheim nicht mehr, sondern schätzt vielmehr Durkheims soziologische Untersuchungen zum Mythos bzw. zur »primitiven« Gesellschaft hoch ein. Aber dies bedeutet nicht, dass Cas­si­rer dabei zugestünde, jene Untersuchungen seien grundlegender als seine eigenen (vgl. ECW 23, 87 f.). 3 4



Cas­si­rers Ansichten zur Ethik 171

der monotheistischen Religion sind zugleich die hochmoralischen sozialen Handlungsprinzipien. Daher würde die monotheistische Religionsform in der möglichen Beschreibung der symbolischen Form der Moral eine höchst wichtige Rolle spielen. Hierzu ist dennoch mit Emphase zu sagen, dass die monotheistische Religion, so ethisch bzw. moralisch sie auch ist, von der Ethik, d. h. von der philosophischen Begründung der Moral, zu unterscheiden ist. Für die Untermauerung seiner eigenen Ansicht stellt Cas­si­rer Kants Geschichtsphilosophie – Kants Ansicht in »Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« – folgendermaßen dar: »Kant geht in seiner Geschichtsphilosophie davon aus, daß der ›Antagonismus‹ der menschlichen Triebe es ist, der zuletzt zur Schaffung einer sozialen Ordnung überhaupt und innerhalb derselben zu immer weiteren und umfassenderen Einheiten führt. Die philosophische Ethik schließt diese Entwicklung ab, indem sie es wagt, die Frage nach einem universellen Bezugssystem aufzustellen. Sie greift damit nichts ins Leere; sie verläßt den Weg nicht, den das ›natürliche‹ Bewußtsein eingeschlagen hat; aber sie sucht ihn bis zu Ende zu gehen und ihm sein eigentliches Ziel zu weisen. Die Idee einer ›Einheit des Willens‹ bezeichnet freilich nichts, was unmittelbar verwirklicht ist; sie ist gewissermaßen nur der ›unendlich ferne Punkt‹, auf den wir die Rechtserfahrung und die soziale Erfahrung beziehen.«8

Wenn diese – für die Rechtsbegründung von Cas­si­rers eigener Argumentation angeführte – affirmative Kant-Interpretation auf Cas­si­rers eigenen philosophischen Aufbau übertragen wird, ist der ethische Charakter der monotheistischen Religion bei Cas­si­rer wieder auffallend. Denn auch sie ist durch ihren universellen Anspruch geprägt. Doch selbst wenn Cas­si­rer davon ausgeht, dass sie geistesgeschichtlich das fundamentale Element der Moralität, d. h. das Selbstbewusstsein in vollem Maß gestaltete, dass somit die monotheistische Religion in der Menschheitsgeschichte eine höchst wichtige ethische Rolle spielte, ist es für ihn erst die philosophische Ethik, welche kritisch die Frage nach dem universellen Bezugssystem stellte. Wenngleich Cas­si­rer die Rationalität der monotheistischen Religionsform im Vergleich zu den anderen Religionsformen betont, nivelliert er hinsichtlich der rationalen Kraft nicht den Unterschied zwischen jener ethischen Religionsform und der Philosophie. Zum Verhältnis von Judentum, d. h. einer der paradig­matischen monotheistischen Religionen, und Griechentum schreibt Cas­si­rer:

8

ECW 21a, 75 (Hervorh. Y. H.).

172

Moralisches Gefühl

»God [the God of Judaism, Y. H.] is not comparable to any object of thought nor can his essence be described by the act of pure thought. His essence is his will; his only revelation is the manifestation of his personal will. Such a personal revelation which is an ethical and not a logical act is quite alien to the Greek mind. The ethical law is not ›given‹ or proclaimed by a superhuman being; we have to find and to prove it ourselves by rational and dialectic thought. That is the real difference between Greek and Jewish religious thought – and this difference is insurmountable and ineffaceable.«9

Die monotheistische Religion ist für Cas­si­rer der Ausfluss moralischer Kräfte10 und bedingt höchst ethisch bzw. moralisch normierend das, was sein soll. Nichtsdestoweniger liegt der unüberbrückbare Unterschied zwischen der monotheistischen Religion und der philosophischen Ethik darin, dass die philosophische Ethik im Unterschied zur religiösen Gesetzgebung eine rein spekulative Grundlegung der sozialen Normen sucht. In Determinismus und Indeterminismus heißt es: »Die philosophische Sittenlehre begnügt sich nicht damit, gleich der religiösen, Moral zu lehren; sie will Moral beg r ünden.« 11 Cas­si­rer hat trotz seines Bedauerns bzw. seiner Selbstkritik keine syste­ matische Ethik geschrieben.12 Zudem gesteht der späte Cas­si­rer zu, dass die damalige Lage der Ethik (und auch die Politik) »von dem Ideal einer wirklichen wissenschaftlichen Begründung« noch entfernt ist.13 Aber es ist unverkennbar, dass Cas­si­rer glaubte, zumindest in basaler Hinsicht seien die moralischen Prinzipien bereits in Kants Ethik fest begründet: »I think […]«, so Cas­si­rer zur moralischen Freiheit, »that the best and, in a sense, the classical definition of this concept has been given by Kant. As Kant pointed out in his Critique of Practical Reason, freedom is not an exemption from binding rules; it is, on the contrary, a rule which the moral

ECW 25, 90 f. (Hervorh. Y. H.). Vgl. ECW 23, 108 f. 11 ECW 19, 238. Cas­si­rer scheint auch in Bezug auf das Recht eine ähnliche Entwicklungslinie vom Mythos zur Religion, von der Religion zur Philosophie konzipiert zu haben. Er schreibt z. B.: »Der historische Ursprung des Rechts – so weit sich über ihn etwas aussagen lässt – liegt nicht in der Erkenntnis, nicht in der Philosophie – sondern er liegt in der Religion und noch weiter zurück im Mythos« (ECN 9d, 114). Zum Mythos als Ursprung des Rechts vgl. noch ECW 21a, 74 f. u. 86 f. 12 Zu Cas­si­rers Bedauern über die Abwesenheit seiner systematischen Ethik vgl. Brief an David Baumgardt, 24. Juli 1943, in: ECN 18, 227. Zu Cas­si­rers Selbstkritik vgl. ECN 9e, 156. Zur Abwesenheit der systematischen Ethik bei Cas­si­rer vgl. Habermas (1997), 101; Rudolph (2003), 202; Recki (2004a), 151 f. 13 Zur Ethik vgl. ECW 21a, 60. Zitat aus ebd. Zur Politik vgl. ECW 25, 289 f.   9

10



Mythos des Staates 173

will gives to itself. It means ›autonomy,‹ that is to say, it means self-control and individual responsibility.«14

Also sind die zwei moralischen – aneinander gebundenen – Grundprinzipien für Kants sowie für Cas­si­rers Ethik die zwei auf dem Selbstbewusstsein beruhenden Prinzipien: Selbstgesetzgebung bzw. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. 15 Hierbei ist begrifflich sehr wichtig, dass auf solchen Prinzipien, m. a. W. auf einer solchen Fähigkeit des »Sich-selbst-Befehlens«, »das, was man sittliche ›Persönlichkeit‹, was man die Einheit, die Geschlossenheit, die innere Konsequenz des Charakters nennt[,]«16 fußt. Kurz, die Grundmaxime der Cas­si­rerschen Ethik lautet; der Mensch soll rational selbstbestimmen und selbstverantworten. Aufgrund dieser Maxime wird im Folgenden Cas­si­rers Verständnis des moralischen Gefühls erläutert. Aber zuvor gilt es Cas­si­rers Auseinandersetzung mit dem totalitären Staat – moderner (politischer) Mythos bzw. Mythos des Staates genannt – hervorzuheben. Denn da der Mythos, wenngleich er der unentbehrliche Mutter­boden der Kultur ist, – Cas­si­rers später politischer Analyse zufolge – zugleich der gefährlichste Feind (the »most dangerous enemy«) des rationalen, d. h. des ethisch-moralischen Gedankens ist,17 ist der Mythos auch der gefährlichste Feind des moralischen Gefühls. 2. Mythos des Staates 2.1 Cas­si­rers Ansichten zur Politik Während Cas­si­rer sich von seiner Frühzeit an mit der Ideengeschichte der Politik befasste, hinterließ er doch, wie im Fall der Ethik, keine ausgearbeitete, systematische politische Theorie.18 Dieser Sachverhalt scheint eine Binsenwahrheit zu sein, da Cas­si­rer davon ausgeht, dass die Maxime der Casirrer (1979b), 257 (Hervorh. Y. H.). Vgl. ECW 7, 159 f. u. 178 f.; ECW 8, 235 f.; ECW 19, 243 f. 15 Vgl. Recki (2004a), 209. 16 ECW 21a, 104. Hier stützt sich Cas­si­rer auf eine Maxime Goethes: »Pflicht; wo man liebt was man sich selbst befiehlt« (Goethe (1993a) 102). Cas­si­rer verortet das Wesen der Ethik Goethes, welcher für jenen neben Kant der wichtigste Denker ist, auch im Begriff der Persönlichkeit. »›Selbstgestaltung‹ ist […]«, so Cas­si­rer, »die oberste Forderung von Goethes ›Ethik‹« (ECN 10a, 29). Goethe sei kein Individualist und nicht blind gegen die soziale Ethik. Aber seine Ethik sei die »Persönlichkeits-Ethik«, der er die »Gemeinscha f ts-Ethik« unterordnet (vgl. ECN 11c, 259 f. Zitat aus ebd., 260). 17 Vgl. ECW 25, 7. Zitat aus ebd. Vgl. außerdem ECN 9f, 203. 18 Vgl. Möckel (2009a), 169. 14

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Politik auf der Ethik basieren soll. Das politische Leben soll ihm zufolge auf der Vernunftidee, auf der philosophischen Ethik fußen.19 Er sagt z. B., die Gleichheitsidee und daher die Demokratie ruhten »ethisch auf dem Prinzip der Selbstgesetzgebung als Selbst vera nt wor tung«, 20 oder, die geistig-sittliche Idee des Naturrechts als ungeschriebenes Grundgesetz solle den geschriebenen Staatsgesetzen vorausgehen.21 Wenn die Politik auf der Ethik basieren soll, liegt klar auf der Hand, dass die Abwesenheit der systematischen Ethik zugleich diejenige der systematischen Politik bedeuten dürfte. Aber selbst wenn Cas­si­rer keine systematische politische Theorie entworfen hat, selbst wenn sein Hinweis auf die Möglichkeit der Behandlung des Politischen bzw. des Staatlichen als eine symbolische Form nicht realisiert wurde, hat er einige politische Schriften geschrieben.22 Volker Gerhardt machte einmal auf Cas­si­rers Bemerkung zu Platon aufmerksam: »Von Platon sagt Cas­si­rer, er sei ein politischer Denker ›nicht durch Neigung, sondern aus Pflichtgefühl‹ geworden. Ob diese Aussage für Platon wirklich gilt, darf man bezweifeln. Aber sie lässt sich treffend auf Cas­si­rer selbst anwenden.«23 Wenn die einheitsstiftende Beschreibung der europäischen Ideengeschichte in FF (1916) vom ersten Weltkrieg motiviert wurde, 24 ist MS, welchen wir hier ins Zentrum der Argumentation rücken, von der Entstehung des Totalitarismus in Deutschland angetrieben worden.25 So untersucht MS (und andre politische Spätschriften) nicht die allgemeine Weltpolitik, sondern bietet nur die Analyse einer spezifischen politischen, d. h. hier totalitären Lage in Deutschland. Diese Lage wird von Cas­si­rer als moderner Mythos bezeichnet, weil er in jener Lage den Wiederausbruch der vollen Kraft des Mythos, des archaischen, primitiven Zustands des Menschen inmitten der höchst kultivierten Gesellschaft sah.26 Vgl. Möckel (2005), 58 f. Vgl. ECN 9b, 74 f. Zitat aus ebd. 74. Zur ähnlichen Erklärung des Kant-Fichteschen Staatsgedankens vgl. ECW 7, 339. 21 Vgl. ECW 18d, 224 f. 22 Zur Möglichkeit der Behandlung des Politischen als eine symbolische Form vgl. ECN 3a, 66 f.; ECN 5a, 21 f.; ECN 5b, 100. 23 Gerhardt (1988), 227. Die betreffende Bemerkung Cas­si­rers zu Platon findet sich in: ECW 25, 63. 24 Vgl. Ferrari (2003), 32 f. u. 57; Recki (2004a), 145. 25 In einem 1944 (höchstwahrscheinlich) vor den Politikstudenten des Connecticut College gehaltenen Vortrags zu Philosophie und Politik sagt Cas­si­rer: »[…] the subject, you are studying is of high importance, and to me it is not only interesting for general reasons, but also for many personal reasons« (Cas­si­rer (1979a), 219. Anm. 1). 26 In Bezug auf die politische Deutung des Mythosbegriffs im Zusammenhang mit der sozialen Analyse wurde bereits die Aufmerksamkeit auf die Analogie (und die Differenz) zwischen Cas­si­rer und Adorno/Horkheimer gelenkt (vgl. Recki (2004a), 107 f.; Bevc (2005), 362 f.). Des Weiteren gibt es eine markante Analogie zwischen Cas­si­rers Analyse 19

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Vor der näheren Erläuterung von Cas­si­rers Auseinandersetzung mit jenem modernen Mythos gilt es Folgendes anzumerken: Cas­si­rer versteht die wesentliche Aufgabe der Philosophie, oder besser: seiner Philosophie, nicht als direkten Kampf gegen den modernen Mythos, sondern als die Vorbereitung auf diesen Kampf. In einem Vortrag formuliert Cas­si­rer das politische Potential der Philosophie folgendermaßen: »[…] to speak of philosophy not only as a mainspring of human thought but also of human conduct seems to be an exaggerated view. […] Philosophy is too abstract, too far remote from this [practical, Y. H.] sphere of immediate needs. […] Philosophy is, to be sure, a great power of organization; but this power seems to stop shortsighted and to be paralyzed when we pass from the field of thought to the field of action. / Nevertheless the history of political and social thought shows us that this view of the role of philosophy is a rather shortsighted and inadequate one. Every great crisis in man’s thoughts used to be accompanied by deep crisis in his moral and social conduct.«27

Cas­si­rer lehnt also nicht die politische Kraft der Philosophie ab, schreibt jedoch seiner eigenen Philosophie eine bescheidenere Aufgabe zu. Diese Aufgabe lässt sich in der folgenden Passage paradigmatisch verstehen. Cas­si­rer fragt zum modernen Mythos: »What can philosophy do to help us in this struggle against the [modern, Y. H.] political myths?« Darauf antwortet er: »It is beyond the power of philosophy to destroy the political myths. A myth is in a sense invulnerable. It is impervious to rational arguments; it cannot be refuted by syllogisms. But philosophy can do us another important service. It des modernen Mythos und Gustave Le Bons Analyse der Masse (1895), welche durch Freud Adorno beeinflusst hat – wenngleich Cas­si­rer nirgends Le Bon erwähnt und jene Analyse nicht gekannt zu haben scheint. (Zu Le Bons Einfluss auf Adorno vgl. Bevc, ebd., 318 f.) Bei Le Bon wird die Massenpsychose auch als ein modernes, doch nach dem Primitiven bzw. dem Wilden zurücktretendes Bewusstsein verstanden. Zudem ist die Massenpsychose, sehr ähnlich dem modernen mythischen Bewusstsein bei Cas­si­rer, dadurch gekennzeichnet, dass die Individualität verloren geht, dass sie stark emotional und gegen die Rationalität immun ist und dass sie auf (mythisch-)religiöse Weise von den Führern leicht kontrolliert wird. (Dagegen gibt es auch eine Differenz: Die Analyse der Masse ist für Cas­si­rer ausschließlich in Bezug auf die totalitäre Politik von der Bedeutung, während bei Le Bon das Problem der Masse ein Problem der modernen Zeit überhaupt ist. Zudem vertritt Le Bon eine fatalistische Ansicht zur Gefahr der modernen Zeit der Masse; eine Ansicht, die Cas­si­rer in Bezug auf Heidegger und Spengler stark kritisiert.) (Vgl. Le Bon (1982). Zu Cas­si­rers Kritik am Fatalismus Heideggers und Spenglers vgl. unten S. 180 f.) 27 Cas­si­rer (1979a), 219 f. (Hervorh. Y. H.). Zu Hegels starkem Einfluss auf das faktische politische Leben vgl. ECW 25, 245 f.; ECN 16a, 17 f.

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can make us understand the adversary. In order to fight an enemy you must know him. That is one of the first principles of a sound strategy. To know him means not only to know his defects and weaknesses; it means to know his strength. All of us have been liable to underrate this strength. When we first heard of the political myths we found them so absurd and incongruous, so fantastic and ludicrous that we could hardly be prevailed upon to take them seriously. By now it has become clear to all of us that this was a great mistake. We should not commit the same error a second time. We should carefully study the origin, the structure, the methods, and the technique of the political myths. We should see the adversary face to face in order to know how to combat him.«28

Die Aufgabe der Kulturphilosophie Cas­si­rers sei nicht der direkte Kampf gegen die Herrschaft des totalitären Staates, sondern die Vorbereitung dieses Kampfes durch die Sichtbarmachung des politischen Gefüges des totalitären Staates. So formuliert Cas­si­rer in einem Brief an Susanne Langer die Hauptfrage vom MS als die Frage, »wie es möglich war, daß das mythische Denken, das allgemein als ›primitiv‹ oder ›prälogisch‹ angesehen wurde, plötzlich einen so enormen Einfluss auf die Gestaltung unseres politischen und sozialen Lebens gewinnen konnte.«29 Hierbei ist noch einmal zu betonen, dass es Cas­si­rer auch im Zusammenhang mit dem modernen Mythos um die Analyse des geistigen Bewusstseins bzw. der geistigen Probleme geht. Denn Cas­si­rers Beschreibung des Mythos überhaupt (also nicht spezifisch des modernen Mythos) erfuhr etliche Änderungen zu dem Zweck, welcher ihn früher nicht interessiert hatte, d. h. gegenwärtige politische und soziale Probleme direkt zu erklären. Man findet solche Änderungen besonders in Cas­si­rers Erklärung der mythischen Riten. In der Einleitung der Hauptschrift zum Mythos (PsF II ) wird die Hauptfrage der Schrift folgendermaßen formuliert: »[…] nach einer ›Form‹ des mythischen Bewusstseins fragen heißt weder nach seinen letzten metaphysischen Gründen noch nach seinen psychologischen, seinen geschichtlichen oder sozialen Ursachen suchen: Vielmehr ist damit lediglich die Frage nach der Einheit des geistigen Prinzips gestellt, von dem all seine besonderen Gestaltungen, in all ihrer Verschiedenheit und in ihrer unübersehbaren empirischen Fülle, sich zuletzt beherrscht zeigen.«30

ECW 25, 290 f. Vgl. Cas­si­rer (1979a), 266 f. Brief an Susanne K. Langer, 8. April 1944, in: ECN 18, 232. 30 ECW 12, 14. 28 29



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Diese Maxime gilt freilich auch für die mythischen Riten. Folglich sind in der PsF II jene Riten (Kultus und Opfer) für Cas­si­rer nichts weiter als positive geistige Tätigkeiten, durch die ein klares Ichbewusstsein gegenüber dem Gott (als Du), d. h. das fundamentale moralische Element des Geistes, entsteht.31 Aber in den im amerikanischen Exil verfassten Spätschriften beschreibt Cas­si­rer die mythischen Riten – aus der psycho-physiologischen bzw. massenpsychologischen Perspektive heraus  – als ethisch negativen Zwang auf das kollektive Handeln und Denken.32 Im MS finden wir diesbezüglich eine höchst bedenkenswerte Passage. Vor dem Verweis darauf ist jedoch eines zu erklären: In jener Passage trennt Cas­si­rer – auf etwas verwirrende Weise – den Begriff des Ritus vom Begriff des Mythos. Doch diese Trennung bedeutet nicht die Ausschließung des Ritus aus dem Mythos, sondern sie referiert allein auf den Mythos im Sinne der mythisch intellektuellen, weltinterpretierenden Leistung und auf den Ritus im Sinne des mythisch psycho-physiologischen Handlungsfaktors. Aufgrund dieser Voraussetzung ist die fragliche Passage zu deuten. Dort heißt es: »In the traditional psychology which had placed the whole emphasis on the ideational aspect of the states of mind, anthropology could find little help for its new interest in rites rather than in myths. Rites are, indeed, motor manifestations of psychic life. What they disclose are some fundamental tendencies, appetites, needs, desires; not mere ›representations‹ or ›ideas‹. And these tendencies are translated into movements – […] into orderly and regular ritual actions, or violent orgiastic outbursts. Myth is the epic element in primitive religious life; rite is the dra matic element. We must begin with studying the latter in order to understand the former.«33

In bemerkenswerter Weise scheint Cas­si­rer hier Folgendes einzuräumen: Erstens ist seine frühe idealistische Geistesanalyse des Mythos zumindest für das anthropologische Interesse kaum ausreichend. Zweitens ist die psychologische Fragestellung, welche Cas­si­rer in der PsF II nachdrücklich aus seiner Aufgabe ausschließt, für die Grundlegung der Untersuchungen der mythischen Prinzipien unentbehrlich. Aber wir müssen uns davor hüten, daraus zu schließen, dass Cas­si­rer bezüglich des Mythos seine kritisch-idealistische Analyse des Geistes aufgegeben hätte. Vgl. PsF II, 3. Abschnitt, Kapitel III »Kultus und Opfer« (ECW 12, 258 f.). Beispielsweise sagt Cas­si­rer zu den verschiedenen Formen des Opfers: »Wir betrachten diese verschiedenen Formen hier nur ihrer ideellen Bedeutung nach: als mannigfache Ausprägungen und Momente der einheitlichen ›Idee‹, die dem Opferdienst zugrunde liegt« (ebd., 263. Anm. 128). 32 Vgl. ECW 23, 87; ECW 25, 27 u. 279 f. 33 Vgl. ECW 25, 31 (kursive Hervorh. Y. H.). 31

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Gewiss appelliert Cas­si­rer im MS an die psychologische bzw. massenpsychologische Erklärung. Man könnte sogar sagen, dass er daran appellieren sollte, um die soziale und politische Gefahr hervorzuheben, mit der sich seine frühere Auseinandersetzung mit dem Mythos nicht beschäftigt hatte. Aber Cas­si­rers Rekurs auf die psychologische bzw. massenpsychologische Erklärung geschieht in beschränkter Weise, d. h. nur in einigen wenigen Aspekten. Cas­si­rer hat keineswegs den Boden der kritisch-idealistischen Analyse verlassen. Ganz im Gegenteil: Im Grunde genommen bleibt auch der späte Cas­si­rer dieser Analyse treu. Obwohl er der psychologischen bzw. massenpsychologischen Analyse eine gewisse Bedeutung beimisst und in gewissem Maß an diese Analyse appelliert, sieht er immer noch die grundlegende Ursache nicht im Psychologischen, sondern im Geistigen begründet. Dies wird deutlich, wenn wir auf das Verhältnis von den empirischen und geistigen Ursachen in Cas­si­rers Verständnis des modernen Mythos blicken. Es ist Cas­si­rer nicht unbekannt, dass die instabile wirtschaftliche Lage etwas mit dem Ausbruch des Totalitarismus zu tun hat. Der primitive Mensch nehme – so der späte Cas­si­rer in Anlehnung an eine Lehre Malinowskis – Rekurs auf mythische Aktivitäten wie Magie und Ritual erst dort, wo das Wissen fehle, wo er keine sichere Umgangsweise mit der Welt kenne.34 Daher erwachse auch der Totalitarismus, der moderne Mythos, auf dem Boden der wirtschaftlichen Unsicherheit: »In the times of inflation and unemployment«, so Cas­si­rer, »Germany’s whole social and economic system was threatened with a complete collapse. The normal resources seemed to have been exhausted. This was the natural soil upon which the political myths could grow up and in which they found ample nourishment.«35

Also erkannte Cas­si­rer die empirisch-wirtschaftliche Lage in gewisser Weise als Grund für die Entstehung des totalitären Staates an. Doch jene Lage ist Cas­si­rer zufolge keine eigentliche Ursache für diesen Staat: »Undoubtedly economic conditions had«, so Cas­si­rer, »a large share in the development and rapid growth of the National-Socialistic movement. But the deepest and most influential causes are not to be sought in the economic crisis which Germany had to pass [through]. They belong to another field which in a sense was inaccessible to the socialistic leaders. When they began to see the danger, it was too late; the force of the political myths had become irresistible.«36 Vgl. ECW 23, 89; ECW 25, 273 f.; Bevc (2005), 138 f. ECW 25, 273. Vgl. ECN 9f, 201. 36 ECN 9h, 270. 34 35



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Diese seine eigene Meinung kann auch durch seine Auseinandersetzung mit Albert Schweitzer bestätigt werden, mit dem Cas­si­rer »in den grundlegenden philosophischen und ethischen Fragen« »sehr« übereinstimmt.37 Dabei geht es eigentlich um Schweitzers allgemeine Kulturkritik (von 1923) – also nicht um die Kritik am Nationalsozialismus –, aber Cas­si­rer sieht in jener Kritik die paradigmatische Beschreibung der gegenwärtigen totalitären Lage und schreibt: »Which are the reasons for the present crisis? Schweitzer refuses to accept those reasons which are commonly alleged for the explanation of the phenomenon. He rejects the historical and economic materialism of the nineteenth century; and he does not expect the real help from an improvement of the social and economic conditions. Of course he does not underrate the importance of these factors. But according to him they are rather necessary than sufficient conditions.«38

Daraufhin zitiert Cas­si­rer die eigenen Sätze Schweitzers: »In der Sphäre des Geschehens, das über das Schicksal der Menschheit entscheidet, besteht die Wirklichkeit in den Gesinnungen, nicht in den vorgefundenen äußeren Tatsachen. Der feste Boden unter den Füßen ist in ethischen Vernunftidealen gegeben.«39 Diesem Gedanken Schweitzers konnte Cas­si­rer in vollem Maß zustimmen, da er den tiefsten Boden der menschlichen Welt weder in empirisch-materiellen, noch in psycho-physiologischen Zuständen, sondern in den geistigen, symbolischen Funktionen verortet. »Our modern politicians know very well«, so Cas­si­rer mit seinen eigenen Worten, »that great masses are much more easily moved by the force of imagination than by sheer physical force. And they have made ample use of this knowledge.«40 Auch in sozialer und politischer Hinsicht ist Cas­si­rer also im Grunde genommen der Maxime der idealistischen Philosophie bzw. der Philosophie des Geistes treu geblieben. So soll im Folgenden Cas­si­rers Versuch der Sichtbarmachung der geistigen Struktur des modernen Mythos hervorgehoben werden.

Brief an Albert Schweitzer, 30. Januar 1936, in: ECN 18, 143. ECW 24g, 323. Vgl. ECN 9e, 154 f. 39 Schweitzer (1923), 37. 40 ECW 25, 284 (Hervorh. Y. H.). 37

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2.2 Sichtbarmachung des modernen Mythos 2.2.1  Analyse der Entstehung des modernen Mythos Cas­si­rer widmet der Beschreibung der Vorgeschichte des modernen Mythos einen großen Teil vom MS, wobei es, wie dies bei ihm immer der Fall ist, gar nicht um die empirisch-historische Politikgeschichte, sondern um die Ideengeschichte der Politik geht. Im Zug der Darstellung jener Ideenvorgeschichte des modernen Mythos erachtet Cas­si­rer einige Denkfiguren – d. h. den modernen Heldenmythos bei Thomas Carlyle, den modernen Rassenmythos bei Arthur de Gobineau, den modernen Staatsmythos bei Hegel – als ideen­ geschichtliche Vorbereitungsstadien für den Boden des politischen Mythos. 41 Allerdings muss beachtet werden, dass Cas­si­rer zumindest in Hinsicht auf Carlyle und Hegel betont, dass die Lehren beider Denker in einigen Punkten vom Denken des Nationalsozialismus verschieden sind. Carlyles Heldenverehrung sei, so Cas­si­rer, nicht bloß die Verehrung des mächtigen Mannes, sondern die der moralischen Kraft. 42 Hegels Philosophie differiere von der totalitären Staatsverabsolutierung erstens darin, dass jene Philosophie oberhalb des Staates noch drei höhere Instanzen (Kunst, Religion und Philosophie) kenne; zweitens, dass sie die Kraft eines Staates nicht in seiner äußeren, materiellen Macht, sondern in seiner Geschichte und in dem ihm innewohnenden Geist erblicke; und drittens, dass sie im Staat – als realer organischer Einheit – nicht die Gleichschaltung, sondern die Mannigfaltigkeit erkenne. 43 Cas­si­rer meint also nicht, dass die Gedanken jener Denker – inklusive Gobineau – der direkte Ursprung des modernen Mythos gewesen wären, aber dass sie, gleich ob absichtlich oder nicht, den moralischen Boden der Kultur untergruben und somit spekulative Mittel für den Totalitarismus vorbereiteten. 44 Diese Einsicht Cas­si­rers zeigt sich paradigmatisch in seiner Erwähnung der pessimistisch-fatalistischen Denkfigur in Heideggers Sein und Zeit und Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. »I do not mean to say«, so Cas­si­rer, »these philosophical doctrines had a direct bearing on the development of political ideas in Germany. Most of Mit Bezug auf Hegels politischen Einfluss schreibt Cas­si­rer in einer Nachlassschrift: »I think […] that Hegel’s philosophy is to a very large degree responsible for our modern theories of the omnipotent state« (ECN 16b, 187). Aber Cas­si­rer übersieht freilich nicht den Einfluss Hegels auf Marx’ politische Theorie. Auf dem obigen Satz folgt der Satz: »But on the other hand we cannot overlook the opposite movement« (ebd.). 42 Vgl. ECW 25, 219 f. 43 Vgl. u. a. ebd., 271 f. Vgl. außerdem ECN 16a, 54 f. 44 Vgl. ECW 25, 273. 41



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these ideas arose from quite different sources. They had a very ›realistic‹ not a ›speculative‹ purport. But the new philosophy did enfeeble and slowly undermine the forces that could have resisted the modern political myths. A philosophy of history that consists in somber predictions of the decline and the inevitable destruction of our civilization and a theory that sees in the Geworfenheit of man one of his principal characters have given up all hopes of an active share in the construction and reconstruction of man’s cultural life. Such philosophy renounces its own fundamental theoretical and ethical ideals. It can be used, then, as a pliable instrument in the hands of the political leaders.«45

Die spekulative bzw. philosophische Untergrabung des moralischen Bodens der Kultur sei zwar keine aktive Bildung des modernen Mythos, aber doch die entscheidendste und tiefgreifendste Vorbereitung für die vollkommene Wiederentfaltung des Mythischen. Denn Cas­si­rer geht davon aus, dass der Mythos im Fall einer kulturell-geistigen, moralisch-rationalen Degradierung, woher auch immer sie kommen mag, unausweichlich wieder die Kultur beherrscht. Myth is, so Cas­si­rer, »always there, lurking in the dark and waiting for its hour and opportunity. This hour comes as soon as the other binding forces of man’s social life, for one reason or another, lose their strength and are no longer able to combat the demonic mythical powers.«46

Auf ähnliche Weise schreibt Cas­si­rer zur Kultur im Sinne des MoralischRationalen in der allerletzten Passage im MS: »The world of human culture […] could not arise until the darkness of myth was fought and overcome. But the mythical monsters were not entirely destroyed. They were used for the creation of a new universe, and they still survive in this universe. The powers of myth were checked and subdued by superior forces. As long as these forces, intellectual, ethical, and artistic, are in full strength, myth is tamed and subdued. But once they begin to lose their strength, chaos is come again. Mythical thought then starts to rise anew and to pervade the whole of man’s cultural and social life.«47

Allerdings muss hierbei betont werden, dass die moralische Degradierung der Kultur und somit der Ausbruch der vollen Kraft des Mythischen, Cas­ si­rer gemäß zwar der unentbehrliche, so doch nicht der hinreichende Grund für den modernen (politischen) Mythos ist. Denn Cas­si­rer unterscheidet den Ebd., 288. Vgl. ECN 9f, 220. ECW 25., 275 (Hervorh. Y. H.). 47 Ebd., 294 (Hervorh. Y. H.). Vgl. ECN 9f, 222. 45

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Mythos an sich vom modernen politischen Mythos, d. h. vom totalitären Staat. Hierzu schreibt Cas­si­rer: »In the whole history of human civilization there is perhaps no sadder, no more disconcerting and depressing spectacle than this deliberate and methodical process of [the, Y. H.] poisoning [of religious and ethical ideals through National Socialism, Y. H.]. History never was an idyll. It was at all times a tragedy filled with the greatest horrors. But as long as the crimes of history were an outbreak of violent human emotions – of ambition, of greed, of revengefulness, of envy and jealousy – they could be at least understood. But what happened in Germany was something new and unprecedented. The fiercest and most terrible things were done in cold blood. They were ordered, regulated, calculated. These crimes were no longer crimes of passion; they were methodical crimes.«48

Wichtig ist dabei Cas­si­rers Ansicht, dass die totalitäre Situation in Deutschland darum als (vielleicht) das traurigste Ereignis in der gesamten Geschichte der menschlichen Zivilisation betrachtet werden kann, weil der moderne Mythos in Deutschland das Produkt des ersten geplanten politischen Verbrechens seit Menschengedenken ist. Der moderne Mythos ist kein sozusagen natürlicher Mythos, welcher die primitiven Gemeinschaften beherrscht, sondern eine künstliche politische Organisierung des Mythos. 49 Der moderne politische Mythos ist ein neues Artefakt, welches aufgrund der geistigen, moralischen Degradierung der Kultur und der neuen modernen Techniken zur Manipulation des menschlichen Bewusstseins produziert wird:50 »Myth has always been«, so Cas­si­rer, »described as the result of an unconscious activity and as a free product of imagination. But here we find myth made according to plan. The new political myths do not grow up freely; they are not wild fruits of an exuberant imagination. They are artificial things fabricated by very skillful and cunning artisans. It has been reserved for the twentieth century, our own great technical age, to develop a new technique of myth. Henceforth myths can be manufactured in the same sense and according to the same methods as any other modern weapon – as machine guns or airplanes.«51

Das Irrationale im modernen politischen Mythos sei mit Hilfe der rational vorbereiteten Technik für ein bestimmtes Ziel aufgebaut worden, wobei die ECN 9f, 206. Vgl. Krois (1997), 130; Plümacher (2003), 189; Recki (2004a), 102 f. 50 Näheres zur Technik des modernen Mythos vgl. Krois (1987), 191 f. 51 ECW 25, 277. 48 49



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Rationalität freilich mit der humanitätsidealistischen, aufklärerischen Rationalität nichts zu tun hat.52 Also ist der Mythos an sich für (den späten) Cas­si­rer zwar gefährlich, aber nicht böse. Hier kann man an das Kantische Kriterium der Bosheit appellieren. Der Mensch sei, so Kant, moralisch böse oder gut, weil er sich des moralischen Gesetzes bewusst ist, weil er aufgrund dessen frei selbstbestimmen kann.53 Da Cas­si­rer dem Mythos an sich die Reflexionsinstanz und die Freiheit der Selbstbestimmung, d. h. die Möglichkeit der ethisch-moralischen Handlung abspricht, kann das mythische Bewusstsein moralisch weder böse noch gut sein. Die Bosheit des modernen Mythos liegt nicht im Mythos selbst, sondern in der klaren Bewusstheit der Führer des totalitären Staates, in ihrer wohlbewussten Absicht der Verwendung der mythischen Elemente für die Fundierung jenes Staates. Da Cas­si­rer gar nicht fragt, warum die Führer des totalitären Staates auf eine solche Staatsform abzielten oder abzielen wollten (bzw. sollten), müssen wir auf die Frage nach den Hintergründen jener Bosheit verzichten und uns nun Cas­si­rers Versuch der Sichtbarmachung der Prinzipien des modernen Mythos zuwenden. Im Zentrum unseres Interesses steht Cas­si­rers Erklärung der totalitären Organisierung des Emotionalen. Aber weil das Gefühl als Hingezogen- bzw. Abgestoßenwerden des Leib-Seelischen mit dem Denken und dem Wollen zusammenhängt, können wir diese zwei Elemente für die Analyse jener emotionalen Manipulation nicht vernachlässigen. So werden wir im Folgenden die Manipulationstechnik des modernen Mythos hauptsächlich vor dem Horizont des Denkens und des Wollens betrachten und anschließend zur kontrollierten Erweckung der Emotionen im modernen Mythos greifen. 2.2.2  Manipulation der Handlung durch das Denken und das Wollen Wie erwähnt, appelliert der späte Cas­si­rer im amerikanischen Exil – im Unterschied zu seiner früheren Maxime – ein wenig an die Erklärung des Mythos aus psychologischer Perspektive. Der Mensch neige, so der späte Cas­ si­rer, von seiner psychologischen Natur her nicht zur Aufrechterhaltung der Freiheit, sondern – besonders in schwieriger Situation – zu ihrer Aufhebung.54 Zudem behauptet er, dass der Mensch als solcher neben der Liebe Vgl. ECN 9f, 200 u. 206. Vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1. Stück »Von der Einwohnung des bösen Princips neben dem guten: oder über das radicale Böse in der menschlichen Natur« (Kant (1907/1914), 17 f.). 54 Vgl. ECW 25, 283. Vgl. Cas­si­rer (1979a), 231 f. 52 53

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zur Freiheit noch die tiefe Angst vor ihr besitzt.55 Aber nicht zu vergessen ist, dass auch der späte Cas­si­rer den tiefsten Grund des modernen Mythos nicht in der psychologischen Natur des Menschen, sondern im symbolisierenden Geist des Menschen sieht. Das heißt, auch bezüglich jener freiheitsfeindlichen Natur des Menschen geht es ihm eigentlich nicht um den gefährlichen Charakter der psychologischen Natur des Menschen an sich, sondern um den absichtlichen Missbrauch dieser Natur für die totalitäre Orientierung des menschlich-symbolischen Geistes bzw. Bewusstseins. Die Organisatoren des modernen Mythos nutzten laut Cas­si­rer die freiheitsfeindliche Natur des Menschen aus und führten ihn zum rein mythischen Bewusstsein hin fort, welches kein Ichbewusstsein und daher keine Selbstverantwortung kenne. In diesem Zusammenhang verwendeten jene Organisatoren eine Technik, d. h. neu geschaffene regulierte monotone Riten, welche die mythische bzw. primitive Gesellschaft kennzeichnen. In den zwingend monotonen Riten wurde der Verlust an Ichbewusstsein und daher auch an Kraft des diskursiven Selbstdenkens, d. h. an Rationalität befördert. 56 Hierbei ist zu beachten, dass Cas­si­rer dennoch eine hochentwickelte intellektuelle Fähigkeit des dem modernen Mythos verfallenen Menschen nicht verneint und dass er zudem auch in dieser Fähigkeit ein gefährliches Moment erblickt. Zur mythischen Personifikation des kollektiven Willens in einem Führer schreibt Cas­si­rer: »It is […] clear that the personification of a collective wish cannot be satisfied in the same way by a great civilized nation as by a savage tribe. Civilized man is, of course, subject to the most violent passions, and when these passions reach their culminating point he is liable to yield to the most irrational impulses. Yet even in this case he cannot entirely forget or deny the demand of rationality. In order to believe he must find some ›reasons‹ for his belief; he must form a ›theory‹ to justify his creeds. And this theory, at least, is not primitive; it is, on the contrary, highly sophisticated. / We easily understand the assumption in savage life that all human powers and all natural powers can be condensed and concentrated in an individual man. […] if modern man no longer believes in a natural magic he has by no means given up the belief in a sort of ›social magic‹. If a collective wish is felt in its whole strength and intensity, people can easily be persuaded that it only needs the right man to satisfy it. At this point Carlyle’s theory of hero worship made its influence felt.«57 »Obviously there is not only a love for freedom, but also a deep fear of freedom in human nature« (ECN 9f, 212). 56 Vgl. ECW 25, 279 f. 57 Ebd., 276. 55



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Es scheint etwas problematisch zu sein, dass Cas­si­rer hier – um die Gefahr des Mythos hervorzuheben – suggeriert, der »wilde« bzw. »primitive«, d. h. rein mythische Mensch kenne keinen Anspruch auf die Theoriebildung zur Rechtsfertigung seines Glaubens. Denn wie in Bezug auf den Zusammenhang von Mythos und Sprache dargestellt, war Cas­si­rer früher der Ansicht, dass der Mythos an sich eine intellektuelle Fähigkeit zum Fragen nach der Weltentstehung bzw. der Welterklärung kennt.58 Also wollen wir Cas­si­rers Aussage in der soeben zitierten Passage so deuten, dass der dem modernen Mythos verfallende, zivilisierte Mensch einen viel größeren Bedarf an intellektueller Rechtfertigung der Macht des Führers hatte und dass aufgrund dessen z. B. Carlyles Heldenverehrung unabhängig von ihrer romantischen Deutung politisch missbraucht wurde.59 Dabei wird – so könnte man interpretieren – die missbräuchliche Durchsetzung der »Theorie«, welche den modernen Mythos favorisiert, durch die Betäubung des Selbstdenkens mittels monotoner Riten erleichtert. Neben einer solchen Manipulation des Denkens – der Betäubung des Selbstdenkens und der Durchsetzung der »spekulativen« totalitären Theo­ rie – hebt Cas­si­rer noch eine totalitäre Manipulation des Wollens hervor. Das heißt, Cas­si­rer weist auch auf eine mögliche Gefahr hin, welche die spezifisch menschliche Fähigkeit zur zukünftigen Zielsetzung, zum Wollen in sich birgt. 60 Wichtig ist hierbei erstens, dass mit jener Fähigkeit nicht der bloß tierische Akt für die Zukunft, sondern der Zukunftsgedanke gemeint ist, der es ermöglicht, die Zukunft als Ideal darzustellen. 61 Zweitens ist Cas­ si­rers Ansicht zu beachten, dass jene Fähigkeit nicht vermeidbar ist; »[…] gleichviel ob«, so Cas­si­rer, »man die Kraft zum Rückblick und zum Vorblick, die dem Sein des Menschen ihr Gepräge giebt, segnen oder ob man ihr fluchten mag: sie ist und bleibt für ihn ein unentrinnbares Schicksal.«62 Der Zukunftsgedanke, die zukünftige Zielsetzung – und als korrelierendes Pendant dazu auch der Vergangenheitsgedanke, die Rückbesinnung – 63 ist für den Menschen unentrinnbar. Diese Unentrinnbarkeit wurde laut Cas­ Vgl. oben III. 1.2.1. Vgl. ECW 25, 276 f. 60 »Die Richtung auf die Zukunft, die ein konstruktives Moment in allem mensch­ lichen Bewußtsein bildet, läßt sich durch den Ausdruck des ›Willens‹ bezeichnen« (ECW 21a, 102). 61 Vgl. ECW 13, 207 f.; ECW 23, 56 f.; ECN 6b, 290. 62 ECN 4c, 91. Vgl. LKW, 382 f. Vgl. ECN 6a, 5. 63 Die tierische Erinnerung sei, so Cas­si­rer, von der menschlichen Er-innerung dadurch unterschieden, dass die menschliche Er-innerung die vergangenen Erfahrungen in den strukturierten Zeitfolgen einordnet und rekonstruiert, während die tierische Erinnerung eine bloße Vorstellung oder Wiederholung der Vergangenheit bleibt (vgl. ECW 23, 56 f.; ECN1a, 74 f. u. 83 f.; ECN 6b, 282 f.). 58 59

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si­rer von den totalitären Führern ausgenutzt: Der Zukunftsgedanke ist eine nicht zu übersehende Komponente des modernen Mythos. Mit Blick auf die politische Gefahr in solch einem Zukunftsgedanken ist Cas­si­rers Ansicht zu beachten, dass das mythische Bewusstsein, wenn überhaupt, lediglich eine höchst vage Vorstellung von der Zeitenteilung in Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit und daher einen höchst spärlichen Zukunftsgedanken besitzt. Dies impliziert, dass die politische Manipulation des Wollens, d. h. des Zukunftsgedankens, nicht beim primitiven bzw. rein mythischen Menschen, sondern erst beim zivilisierteren Menschen wahrhaft möglich ist. Cas­si­rer beschreibt den Führer des modernen Mythos als homo faber, sofern er Techniker des totalitären Systems ist; und zugleich als homo magus, sofern er als ein Magier erscheint, welcher genau wie in einer rein mythischen Gesellschaft durch seine magische Kraft gesellschaftliche Probleme auflöst bzw. gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllt. 64 Hierzu fährt Cas­si­rer fort: »The homo magus is, at the same time, the homo divinans. He reveals the will of the gods and foretells the future.«65 In diesem Sinne nennt Cas­si­ rer den Führer des modernen Mythos »the priest of a new, entirely irrational and mysterious religion«. 66 In dem vom Herausgeber nicht editierten Manuskript zum dritten Teil vom MS heißt es: »One of the oldest and most widespread of motives in all mythologies is the thought of the ›millennium‹ – of the period of thousand years in which all hopes shall be fulfilled and all evils shall be removed. Such a millennium was promised to German race – and, in those times of general despair, the promise was easily and eagerly accepted. It is true that what was prophesized here was no longer, as in former times, a millennium of peace, but of war. For war was declared to be the true ideal and the only permanent thing in man’s social and political life.«67

Gewiss beschreibt Cas­si­rer hier die Idee des Versprechens des Millenniums als Charakteristik nicht der monotheistischen Religion, sondern aller Mythologien. Dennoch spüren wir darin Cas­si­rers Versuch, alle gefährlichen Elemente des totalitären Staates etwas hastig auf den Mythos zu beziehen: etwas hastig, weil Cas­si­rer m.W. hier und auch zuvor weder Belege noch Argumente für die Universalität des prophetischen Millenniumsgedankens in allen Mythologien beibringt und weil er zudem im EM die wahre Er Zur näheren Beschreibung des homo magus vgl. ECW 25, 283; ECN 9f, 213. ECW 25, 283 (Hervorh. Y. H.). Vgl. ECN 9f, 213. 66 ECW 25, 277. 67 ECN 9f, 197 (Hervorh. Y. H.). 64

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schließung dieses Gedankens ausdrücklich als Verdienst der monotheistischen oder, genauer, der jüdischen Religion darstellt. 68 Wenn wir demzufolge Cas­si­rers Ansicht derart interpretieren dürfen, dass der Millenniumsgedanke und die Prophetie die Charakteristiken der monotheistischen Religion sind, könnten wir daraus folgern: Die monotheistisch-prophetische Offenbarung des vollkommenen Zukunftsgedankens in der Menschheitsgeschichte brachte die Gefahr mit sich, sich totalitär missbrauchen zu lassen. Aber eine solche Suggestion ist bei Cas­si­rer eigentlich auszuschließen. Denn jene monotheistisch-prophetische Offenbarung ist für ihn nichts anderes als die des Zukunftsgedankens, welcher mit dem rationalen Ichbewusstsein einhergeht, d. h. nichts anderes als eine ethische Offenbarung ist, 69 während der totalitäre Millenniumsgedanke eben jenes Ichbewusstsein abschafft. Sowohl die monotheistische als auch die totalitäre Prophezeiung sind ein Versprechen des Millenniums, des zukünftigen idealen Endzieles, welches über das empirisch Mögliche hinausgeht. Was die beiden unterscheidet, ist also nicht die Fähigkeit der Prophezeiung an sich, sondern ihre Grundrichtung. Wenn der jüdische bzw. monotheistische Prophet das universelle, moralische und friedliche Endziel setzt, setzt der Führer des modernen Mythos im Gegensatz dazu das völkische bzw. rassistische, antimoralische und kriegerische. So dürfen wir nicht den Unterschied zwischen dem monotheistischen, moralischen und dem totalitären, antiethischen Zukunftsgedanken einebnen. Doch immerhin gilt Cas­si­rers Ansicht, dass der (entfaltete) Zukunftsgedanke an sich, m. a. W. die (entwickelte) Fähigkeit des Wollens an sich, im modernen Staat missbräuchlich manipuliert wurde. Zusammenfassend gesagt, manipulieren die Führer des modernen Mythos das Denken und das Wollen der Dazugehörigen: die theoretische Begründung des politischen Weltbildes und die Richtung der zukünftigen Zielsetzung. Neben solchen Manipulationstechniken der menschlichen Vermögen bleibt noch eine wichtige, d. h. eine Manipulationstechnik mit Bezug auf das Gefühl bzw. die Emotionen. Zwar enthält die bereits erwähnte Argumentation vom Missbrauch der psychologisch-natürlichen Angst vor der individuellen Freiheit ein emotionales Moment. Jedoch steht solch eine Argumentation nicht im Zentrum der Cas­si­rerschen Analyse der Vgl. ECW 23, 61. Dabei unterscheidet Cas­si­rer zwischen der mythischen Vorhersage und der eigentlich religiösen Zukunftsprognose, die erst bei den jüdischen Propheten klar hervortritt, d. h. zwischen der bloßen Vorhersage (soothsaying bzw. fortelling) und der Prophezeiung als Versprechen (promise) des Millenniums. Solch eine klare Unterscheidung findet sich jedoch im MS nicht. 69 Vgl. oben III. 3. 68

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Emotionen im modernen Mythos. Denn wie oftmals hervorgehoben wird, geht es Cas­si­rer in erster Linie nicht um die psychologische, sondern um die geistige Analyse; und dies gilt auch für die Betrachtung der menschlichen Emotionen. Deshalb wird im Folgenden die totalitäre Manipulation des Gefühls unter dem geistigen Aspekt herausgestellt. 2.2.3  Manipulierte Erweckung der heftigen Emotionen Das Gemeinschaftsgefühl eines Staates stammt – so Cas­si­rer 1930 anlässlich der akademischen Feier zum Gedenken an die Verfassung der Weimarer Republik – aus dem Willen zum Staat, zum Ganzen, d. h. aus dem Willen zum gemeinsamen zukünftigen Endzweck.70 Da der Endzweck des modernen politischen Mythos laut Cas­si­rer das Millennium des Krieges ist, müssen wir zu jenem Mythos sagen, dass sich sein Gemeinschaftsgefühl auf jenes Millennium gründet. Da Cas­si­rer zudem – wenngleich er dies nur schlicht erklärt – davon ausgeht, dass das Denken bzw. das begriffliche Verständnis auf das Gefühl einwirkt, könnten wir außerdem sagen, dass auch die Rassentheorie, die Heldentheorie usw. an dieser Richtungsbestimmung des Gefühls teilnehmen. Aber eine solche mögliche Thematik der Bildung bzw. Kanalisierung des Gefühls wird in Cas­si­rers Analyse des modernen Mythos nicht behandelt, sondern in ihr geht es um die Technik der Auslösung der heftigen Emotionen aller Art. Cas­si­rer verortet, wie gesehen, den Grundcharakter des Mythos darin, dass in ihm statt des Rational-Begrifflichen (der Darstellungs- bzw. Bedeutungsfunktion) das Emotionale (die Ausdrucksfunktion) waltet. Da zudem die geistige Degeneration des Moralisch-Rationalen die eigentliche Ursache für die Entstehung des Mythischen ausmacht, ist jene Degeneration zugleich der Urgrund des Waltens des Emotionalen. Folglich erkennt Cas­si­rer an, dass ein solches Walten bereits vor der Entstehung des totalitären Staates stattgefunden hat: »German life after the war [World War I, Y. H.] had«, so Cas­si­rer, »reached its critical stage. It was in a state of highest tension. The whole gamut of human passions, from the lowest to the highest notes, burst forth. And all this, love and hatred, self-exaltation and dejection, pride and despondency had their share in the origin of the ›myth of the twentieth century.‹«71

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Vgl. ECN 9c, 93 u. 108 f. ECN 9f, 196 f.



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Eine solche Argumentation, die besagt, dass ein bereits stattgefundener emotionaler Ausbruch zur Entstehung eines totalitären Staates beitrug, tritt m.W. nur an dieser Stelle hervor. Im Prinzip argumentiert Cas­si­rer umgekehrt, nämlich, dass es die Organisatoren des totalitären Staates sind, die jenen Ausbruch der Emotionen mit ihrer Technik ausgelöst haben. Nichtsdestotrotz wollen wir – um der theoretischen Konsequenz willen – Cas­ si­rers Ansicht so auslegen, dass die Herrschaft der Emotionen parallel mit der Degeneration der Rationalität bereits vor der Entstehung des modernen Staates angelaufen ist und dass die Organisatoren des modernen Mythos jene Herrschaft aufgrund der neuen Technik fortgesetzt haben. Jene Organisatoren haben eine Fortsetzung unternommen, während sie sich – so analysiert Cas­si­rer – der psychologischen Tatsache bewusst waren, dass der Ausdruck von starken Emotionen zugleich eine Erleichterung bedeutet. Cas­si­rer nennt diesen psychologischen Erleichterungseffekt »Katharsis«, welche jedoch freilich nicht im ästhetischen Sinne zu verstehen ist. »They«, so Cas­si­rer bezüglich der Führer des modernen Mythos, »stirred the fiercist emotions; – and they felt sure, that in these times of general unrestfulness this stirring up could still be felt as beneficial – as a sort of cure or ›catharsis‹.«72 Hierbei ist wichtig, Cas­si­rers Ansicht zu verstehen, dass jene psychophysiologische Explosion heftiger Emotionen erst vermittelst der auf das Geistige einwirkenden Technik ausgelöst werden kann. Diesbezüglich ist Cas­si­rers Analyse der Sprache am konkre­testen. Im MS führt er – neu formuliert – zwei Funktionen der Sprache ein: »the semantic and the magical use of the word«.73 Diese magische Funktion bedeutet die symbolische Objektivierung des Gefühls, die hinsichtlich des mythischen Gefühls bereits näher betrachtet wurde: Diese Funktion erfüllt – im Unterschied zur semantischen bzw. begrifflichen Sprachfunktion – Wörter mit starken Emotionen, m. a.W. sie objektiviert jene Emotionen in Wörtern.74 In Bezug auf die totalitären Führer heißt es: »They attained their end, the stirring up of violent political passions, by the simplest means. A word, or even the change of a syllable in a word, was often good enough to serve this purpose. If we hear these new words we feel in them the whole gamut of human emotions – of hatred, anger, fury, haughtiness, contempt, arrogance, and disdain.«75 Ebd., 198. ECW 25, 278. 74 »Our ordinary words are charged with meanings; but these new-tangled words [the words coined or by reshaped National Socialism, Y. H.] are charged with feelings and violent passions« (ebd.). 75 Ebd., 279. Cas­si­rer führt dabei als Beispiel die Wörter »Siegfriede« und »Sieger72 73

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Hier fügt Cas­si­rer hinzu, dass solche Effekte der magischen Wörter durch die bereits erläuterten regulierten Riten als Betäubungsmittel für die Rationalität und das Ichbewusstsein vervollkommnet werden. Das für uns Wichtige am Beispiel der magischen Sprachfunktion ist, dass die allgemeine – also nicht allein die magisch sprachliche – magisch-mythische Funktion keineswegs als Effekt der bloß reinen, d. h. organischen Emotionen verstanden werden darf. Denn wie wir diesbezüglich festgehalten haben, tritt im MS (und auch in anderenen Schriften) Cassirers Ansicht unverkennbar hervor, dass die mythische Funktion überhaupt keineswegs der bloß tierische Ausdruck der Emotionen, sondern die Objektivierung bzw. Verdichtung der (organischen) Emotionen ist. In einer bereits zitierten paradigmatischen Passage heißt es: »Myth is the expression of these emotions [powerful emotions, Y. H.]. They are objectified by the myth-making function; they are projected to the outward world. By this process they change their nature; they are no longer mere feelings, they become ›images‹. But these images have, to the primitive mind, a full objective validity.«76

Das menschliche Leben ist, wie wiederholt betont, Cas­si­rer zufolge auch mit Bezug auf das Gefühl nicht durch biologisch-physische bzw. psycho-physiologische Bestimmtheit, sondern durch die davon unabhängige geistig-symbolische Funktion konstruiert. Der Mensch lebt – nicht allein beim Denken und Wollen, sondern auch beim Fühlen – unausweichlich in der symbolischen Welt. Folglich ist für Cas­si­rer auch die Auslösung der Explosion heftiger Emotionen beim Menschen erst vermittelst des geistigen, symbolischen Instruments oder, noch genauer, erst vermittelst der für den Mythos charakteristischen Funktion der symbolischen Objektivierung der Emotio­nen möglich: Unter Benutzung dieser spezifisch menschlichen geistigen Funktion realisierten totalitäre Führer die gefährliche und heftige Gefühlslage. Der Kern von Cas­si­rers Versuch der Sichtbarmachung des totalitären Staates ist seine These, dass der tiefste und eigentliche Grund für die soziale und politische Gefahr in der mythisierenden Manipulation des menschlichen Denkens, Wollens und Fühlens liegt. Das bedeutet, dass die Grundursache jener Gefahr nicht in irgendeinem empirisch-materiellen bzw. psycho-physischen Zustand, sondern in nichts anderem als im Missbrauch der symbolischen mythischen Funktion des menschlichen Bewusstseins liegt bzw. liegen kann. friede« an: »Siegfriede« bedeute den Frieden durch den Sieg der Deutschen, während »Siegerfriede« den Frieden durch den Sieg des Feindes der Deutschen bedeute. 76 ECN 9f, 196. Vgl. u. a. ECW 25, 47f.; ECN 6b, 294; ECN 7f, 165.



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In einem – bereits zitierten – Passus gibt Cassirer offen zu, dass die Philosophie, oder besser gesagt, seine Philosophie, kein Mittel für den direkten Kampf gegen den modernen Mythos besitzt.77 Dieser Behauptung braucht man m. E. aber nicht volle Gültigkeit zuzuschreiben. Denn sein Versuch der Sichtbarmachung der Struktur des modernen Mythos – als die Vorbereitung auf jenen Kampf – enthält, wenngleich schlicht und ansatzweise, die Sichtbarmachung der (moral)philosophischen Heilmethode gegen jenen Mythos oder genauer: gegen die heftigen mythischen Emotionen. Dabei behauptet Cassirer in Anlehnung an Spinoza, dass eine Emotion allein durch den Einsatz einer anderen stärkeren Emotion, mit Cassirers Worten, einer »ethischen« Emotion besiegt werden kann. Zum Schluss werden hauptsachlich anhand von Cassirers Auseinandersetzung mit Spinozas Emo­tions­ lehre jene »ethischen« Emotionen als Gegenmittel gegen den modernen Mythos herausgestellt. Allerdings gilt es zuvor, anhand seiner Darstellung von Kants Ethik den Hintergrund jener Auseinandersetzung, d. h. Cassirers Grundansicht zum moralischen Gefühl herauszustellen. 3. Das moralische Gefühl als Gegenmittel gegen den modernen ­politischen Mythos 3.1 Ethik und Gefühl – um die Kantische Ethik herum Sosehr Cas­si­rer in Bezug auf die Ästhetik Shaftesburys Lehre und ihren Einfluss auf die deutsche Ästhetik hochschätzt, er kann über die gleiche Lehre bezüglich der Ethik nicht positiv urteilen. Denn Cas­si­rer zufolge subsumiert Shaftesbury das Gute unter das Schöne und sucht das Moralproblem aus dem ästhetisch geprägten Begriff vom moralischen Gefühl (moral sentiment) heraus zu verstehen. Und eben ein solcher Versuch macht für Cas­si­rer die Schwäche der Ethik Shaftesburys aus. Cas­si­rer macht diese Schwäche nicht allein für jene Ethik, sondern auch für die allgemeinen ethischen Lehren der englischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts – wie Hutcheson, Hume und Adam Smith – geltend. Ausgehend vom Shaftesburyschen Begriff »moralisches Gefühl« hätten, so Cas­si­rer, jene englischen Philosophen ihre Ethik entwickelt; d. h. eine Gefühlsethik, welche Moral aus dem Sympathiegefühl heraus zu erklären trachtete. Das Verdienst von Kants transzendentaler Ethik (und von Rousseaus Ethik) bestehe hingegen darin, dass sie statt einer solchen Gefühlsethik eine Gesetzesethik begründet habe.78 Vgl. ECW 25, 290. Zitat findet sich auf S. 175. Vgl. ECW 8, 226 f.; ECW 9b, 432; ECW 18a, 55 f. Cas­si­rer hebt auch den gleichen

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In diesem Zusammenhang ist Cas­si­rers Auseinandersetzung mit Bergsons ethischer Lehre von Belang. Cas­si­rer schätzt das Werk Bergsons Die beiden Quellen der Moral und der Religion in dem Sinne hoch ein, dass er mit der Lehre von der universellen Liebe in der dynamischen und offenen – d. h. ethisch höheren – Moral bzw. Religion über seinen biologischen Vitalismus hinausgeht. Aber Bergsons Ethik habe ein ausschlaggebendes Defizit, weil er »an dem radikalen Urproblem der Ethik, am Problem der Pflicht«79 vorbeigehe. Bergson übersehe nicht das Problem der Pflicht, doch er versage dem Pflichtbegriff »die eigentliche, die systematisch-philosophische Legitimierung«. »Denn«, so setzt Cas­si­rer fort, »alle Pflicht bleibt nach ihm im Kreise des natürlichen Daseins gebunden, bleibt auf jene ›obligation naturelle‹ beschränkt, die Bergson nur als Druck und Stoß, […] nicht als Anspruch und Aufruf […] deutet und wertet. Damit aber wird gerade der tiefste ideel le Sinn der Pflicht, wird das, was Kant ihre intel lig ible Bedeutung nennt, verkannt und verleugnet.«80 Eigentlich geht Bergson – seiner scharfen Unterscheidung zwischen der statischen und der dynamischen Moral bzw. Religion gemäß – davon aus, dass es zweierlei Pflichtbegriffe gibt, dass eine andere Pflicht als eine natürliche in der dynamischen, offenen Moral bzw. Religion besteht, d. h. dass es in ihr sozusagen die dynamische Pflicht gibt, welche nicht auf der tierisch sozialen Natur des Menschen, sondern auf universeller Liebe zur Menschheit basiert. 81 Wenn Cas­si­rer also sagt, dass Bergson alle Pflicht auf die natürliche Pflicht beschränke, scheint jener diesem nicht gerecht zu werden. Doch dies ändert nichts daran, dass auch Bergsons dynamischer Pflichtbegriff für Cas­si­rer kein ethischer Pflichtbegriff sein kann, sofern jener Bergsonsche Pflichtbegriff auf dem Liebesgefühl basiert. »Auch nach Bergson«, so Cas­si­rer, »gibt es eine Erhebung über die rein vitale Sphäre; aber diese Erhebung wird uns nicht in der Idee, in der kategorischen Forderung der Pflicht, sondern sie wird uns im Gefühl der Liebe zuteil. Die Grenzen einer reinen Gefühlsethik hat daher Bergson nicht Zug der Gesetzesethik bzw. der rationalen Ethik bei Des­cartes, Spinoza und Leibiniz hervor (zu Des­cartes vgl. ECW 20, 66, 77 u. 178 f.; zu Spinoza vgl. ECW 21a, 77 f.; zu Leibniz vgl. ECW 1, 386). Zu Cas­si­rers Interpretation von Rousseaus Ethik lenkt Peter Gay die Aufmerksamkeit auf die deutlich spürbare kantische Lesart in Cas­si­rers Rousseau-Interpretation. Nach Gay weisen nicht allein er selber, sondern auch die mit Cas­si­rer nachsichtigen Kritiker darauf hin, dass Cas­si­rer – besonders in den Aufsätzen der dreißiger Jahre – Rousseau aus viel zu kantischer Perspektive heraus interpretierte, so dass er den Unterschied zwischen Rousseau und Kant vernachlässigte (Gay (1970), xif.). 79 ECW 18e, 252. 80 Ebd. 81 Vgl. Bergson (1992), 24 f.



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überschritten, wenngleich er, schärfer und bestimmter als man es von seinem Vitalismus hätte vermuten können, die mystische, die übersinnliche Liebe von allen Formen des Instinkts und der bloß natürlichen Sympathie scheidet.«82

Hierbei ist aber zu beachten, dass Cas­si­rer damit keinesfalls meint, die Bedeutung des Gefühls solle aus der Kantischen Ethik ausgeschlossen werden. Die eigentlich moralische Pflicht muss nach Kant nicht als Motivierung durch das universelle Liebesgefühl per se, sondern als Selbstgesetzgebung bzw. -verpflichtung verstanden werden. Aber diese Selbstgesetzgebung impliziert zugleich die »Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz«. 83 Das heißt: Nach Kant gibt es eine besondere Art des ethischen Gefühls, d. h. das Gefühl der Achtung für das universelle Sittengesetz; eine Achtung (respect), welche Bergson zu Recht als philosophischen, vernunftbezogenen Begriff vom – für Bergson wesentlichen – nicht-rationalen Gefühl der Liebe scharf unterscheidet. 84 Cas­si­rers Verständnis des Gefühls der Achtung bei Kant wird in seiner Kritik an Heideggers Interpretation der Kantischen Ethik klar. Gegen Heideggers Auslegung, gemäß der die Gründung des Sittengesetzes bei Kant im Gefühl der Achtung bestehe, schreibt Cas­si­rer: »Der Geha lt des Sittengesetzes gründet nach Kant keineswegs im Gefühl der Achtung; sein Sinn konstituiert sich nicht durch dasselbe. Dies Gefühl bezeichnet vielmehr lediglich die Art, wie das an sich unbedingte Gesetz im empirisch-endlichen Bewußtsein reprä sentier t ist. Es gehört nicht zur Grundlegung der Kantischen Ethik, sondern zu ihrer A nwendung ; es soll – wie Cohen dies Verhältnis scharf und prägnant formuliert hat – eine Antwort auf die Frage geben nicht, was das Sittengesetz sei, sondern unter welchem Begriff es ›im Horizonte des Menschen‹ erscheine.«85

Cas­si­rers hiesige Betonung liegt darin, dass die Kantische Ethik keinesfalls, wie Heidegger behauptet, eine Gefühlsethik, sondern eine reine Gesetzesethik ist. Allerdings ist es zugleich unverkennbar, dass Cas­si­rer, gemeinsam mit Cohen, die wichtige Rolle des Gefühls – des Gefühls der Achtung bei der Anwendung des intelligiblen Sittengesetzes – in Kants Ethik anerkennt. »Achtung ist ein Tribut«, so Kant selbst diesbezüglich, »den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurückhalten, so können wir doch nicht verhüten, ECW 18e, 252 f. Kant (1903/1911), 400 (Hervorh. Y. H.). 84 Vgl. Bergson (1992), 26 u. 67 f. 85 ECW 17f, 237. 82 83

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sie innerlich zu empfinden.«86 Dieses Gefühl der Achtung ist zudem nicht nur unausweichlich und verdienstvoll, sondern sogar die »einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder«. 87 Cas­si­rer hebt in einer Schrift hervor, dass das sittliche Gefühl der Achtung bei Kant vom passiven, subjektiven Gefühl zu unterscheiden ist. Weiter heißt es zu diesem Gefühl: »Hier ist das Moment bezeichnet, das für Kant, nach der ps ycholog ischen Seite hin, als die eigentliche Lösung der grundlegenden Antithese zwischen der Objektivität und Unbedingtheit des reinen Gesetzes und den subjektiven, menschlichen Triebfedern des Handelns erscheint. Die Achtung vor dem Gesetz gehört selbst der Sphäre des Gefühle an: Aber sie ist kein ›pathologisches‹, sondern ein rein ›praktisches‹ Gefühl. Sie geht nicht aus der sinnlichen Rezeptivität, sondern allein und ausschließlich aus der intellektuellen und sittlichen Spontaneität hervor. Kraft dieses ihres Ursprungs geht sie niemals auf Sachen, sondern jederzeit auf Personen.«88

Das moralische Grundgefühl, die Achtung vor dem Gesetz bei Kant überträgt sich also laut Cas­si­rer vom intelligiblen Sittengesetz unausweichlich auf die freien Personen. Die Kantische Achtung ist keine bloße Liebe für den Menschen, sondern die Achtung vor den freien, d. h. selbstbestimmenden Personen, deren Bedeutung und unverrückbare Wichtigkeit erst im Sittengesetz erschlossen und dadurch begründet wird. Diesen Sachverhalt beschreibt Cas­si­rer in KLL noch ausführlicher: »Wirklich waren alle Affekte der ›schmelzenden Art‹ – wie er selbst sie genannt hat – Kants Naturell und Wesen fremd. Aber um so reicher und feiner war in ihm der Affekt entwickelt, den er selbst als ethischen Grundaffekt ansah und in dem er die bewegende Kraft für alles konkret sittliche Handeln zu erkennen glaubte. Sein Verhältnis zu den einzelnen war geleitet und beherrscht durch die allgemeine Achtung vor der Freiheit der sittlichen Person und ihres Selbstbestimmungsrechts. Und diese Achtung blieb ihm nicht abstrakte Forderung, sondern sie wirkte in ihm als unmittelbar lebendige, jede Einzeläußerung bestimmende Triebfeder. Durch diesen Zug gewann Kant jene ›Höflichkeit des Herzens‹, die, wenn nicht mit Liebe gleichbedeutend, so doch der Liebe verwandt ist. Sein ›Gefühl der Humanität‹, das er bis in die letzten Lebenstage festhielt und bewährte, war von jedem bloß sentimentalen Untergrunde losgelöst. Eben hierdurch gewann es gegenüber KpV, 77. Ebd.,78. 88 ECW 9b, 433. 86

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seiner Zeit und Umgebung, gegenüber dem Jahrhundert der Empfindsamkeit seine besondere Eigenart. Kants Stellung zu den Menschen bestimmte sich durch das reine und abstrakte Medium des sittlichen Gesetzes: Aber eben in diesem Gesetz selbst erkannte und verehrte er zugleich die höchste Kraft der menschlichen Persönlichkeit.«89

Ohne Gefühl gäbe es keine Erscheinung oder Anwendung des intelligiblen Sittengesetztes. Doch nicht jedes menschliche Gefühl reiche dafür hin. Das passive Gefühl, das in den sinnlichen Eindrücken gefangen bleibt, d. h. das Gefühl der »schmerzenden Art«, könne keineswegs ein leitendes Mittel der Sitten sein. Das Leitende müsse nichts anderes als das intelligible, praktische Sittengesetz sein. Also sei das moralische Grundgefühl, durch das das Sittengesetz auf die sinnliche Welt angewandt werde, allein das Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz und zugleich vor den freien Personen, also vor der Humanität. Diese Kantische Deutung des ethischen Gefühls der Achtung fungiert, wie sich im nächsten (und letzten) Abschnitt zeigen wird, im Wesentlichen auch als Grundzug des moralischen Gefühls bei Cas­si­rer – wenngleich er dabei nicht direkt auf Kant, sondern auf Spinoza Bezug nimmt. 3.2 Ethische Emotionen Über das Gegenmittel gegen den Mythos (»antidote to myth«) äußert sich Cas­si­rer 1944 in einem Zeitschriftenartikel: »The deep and ardent desire to reconstruct our cultural world from its debris is now generally felt. But this aim cannot be reached at once. The modern political myths have intoxicated our thoughts and poisoned our feelings. It will be a long time before the social organism can overcome or eliminate this poison. I do not doubt that philosophy will have its share and its duty in this slow process of reconstruction. And perhaps its greatest contribution can come through a reassertion of the ethical analysis made by Spinoza at the beginning of the seventeenth century. / No philosophical thinker was more convinced of the power of rational thought than Spinoza. Nevertheless he was perfectly aware of the fact that a passion cannot be overcome by ar ECW 8, 398. Den Ausdruck »Höflichkeit des Herzens« scheint Cas­si­rer Goethe zu entlehnen. Goethe lässt Ottilie, die Hauptfigur in den Wahlverwandtschaften, Folgendes in ihr Tagebuch schreiben: »Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens« (Goethe (1994b), 432). 89

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gument. It must be destroyed by a stronger and contrary passion. But where can we find this […] [stronger, Y. H.] passion?«90

Damit ist gemeint, dass die Herrschaft des Mythos, der heftigen, mythischen Emotionen allein durch den Einsatz der sogenannten »ethischen Emotionen« überwunden werden kann. Aber welche sind die ethischen Emotionen? Cas­si­rer fährt fort: »According to Spinoza our emotional life is irrational in its very principle. It is based on dim feelings and confused ideas, on imagination rather than reason or intuitive knowledge. Yet there are two passions that, in the system of Spinoza, are declared to be exempt from this flaw. They have their origin in the active, not in the passive, part of human nature. In Spinoza’s system the distinction between ›active‹ and ›passive‹ emotions does not follow the traditional lines of thought. According to the Spinozistic theory not only hatred but also love, not only pride but also humility, not only cruelty but even pity belong to the class of passive emotions. / There remain only two active emotions: fortitude and generosit y. […] / It was perhaps never more imperative to recall these maxims of Spinoza than at the present moment. A passion can only be overcome by a stronger passion. Only if we learn to develop, to cultivate, and to intensify our active emotions can we hope to check the wild chase of our passive emotions and to remold our social and cultural life.«91

Dieses Vertrauen Cas­si­rers in Spinozas Emotionslehre, die besagt, dass eine Emotion lediglich durch eine andere, stärkere Emotion überwunden werden kann, scheint zu bedeuten, dass er – zumindest in Hinsicht auf das Gegenmittel gegen den modernen Mythos – den Boden der rationalen Ethik verlassen und an die Gefühlsethik appellieren würde. Doch dies ist keineswegs der Fall. Denn Cas­si­rer sieht den Kern der Spinozistischen Ethik nirgends anders als in der Vernunft – und in dem mit der Vernunft gleichbedeutenden Begriff der Freiheit. Die stoische Grundansicht der rationalen Bemeisterung der sinnlichen Emotionen stehe, so Cas­si­rer, bei Spinoza (und auch bei dessen Vorläufer Des­cartes) im Zentrum seiner ethischen Lehre.92 In »Axel Hägerström« heißt es: ECW 24e, 264. Eigentlich lautet der letzte Satz: »But where can we find this stranger passion?« Aber dem Kontext nach und dem Manuskript zum dritten Teil vom MS folgend wird hier das Wort »stronger« statt »stranger« angenommen. Vgl. ECN 9f, 222 f. 91 ECW 24e, 264 f. Vgl. ECN 9f, 222 f. 92 Vgl. ECW 15, 109 f. Hinsichtlich Cas­si­rers Des­cartes-Interpretation ist auf Folgendes zu achten: Cas­si­rer hebt zwar Des­cartes’ Kritik am Stoizismus hervor, der zufolge die stoische Apathie ein sinnloses und illusionäres Ziel sei, weil sie die Vernichtung der Leidenschaften und daher die des menschlichen, sinnlichen Lebens bedeute. Allerdings betont Cas­si­rer, dass es Des­cartes zwar nicht um die Vernichtung bzw. Emanzipation der Leiden90



Gegenmittel gegen den modernen ­politischen Mythos 197

»Der Einblick in ›Mechanik der Affekte‹ dient keinem bloß theoretischen, sondern einem praktischen Zweck. Denn nur durch ihn können wir in den Stand gesetzt werden, die Affekte zu meistern und zu beherrschen, statt uns von ihnen beherrschen zu lassen. Und damit erst wird das Grund- und Hauptziel der Spinozistischen Ethik erreicht. Sie gipfelt in einer Lehre von der Kraft des Intellekts und von der menschlichen Freiheit. […] Der Affekt beschränkt, aber die ›ratio‹ hebt diese Beschränkung auf; und sie bahnt damit den Weg zu jener Einheitsschau, die sich im ›Amor Dei intellectualis‹ vollzieht.«93

Da Spinozas Emotionslehre auf eine solche Weise mit seiner rationalen Ethik verbunden ist, konnte Cas­si­rer sich auf die Spinozistische Emotionstheorie verlassen. Auf einzelne Analysen der Spinozistischen Emotionslehre kann hier freilich nicht eingegangen werden. Aber um Cas­si­rers Verständnis der »ethischen Emotionen« klarer zu machen, erübrigt sich nicht eine skizzenhafte Erläuterung der aktiven Affekte bei Spinoza. Spinoza zufolge können alle verschiedenen Emotionen auf drei primäre und ursprüngliche Affekte – Lust, Unlust und Begierde – zurückgeführt werden.94 Herauszustellen ist hier allein, dass Spinoza alle anderen sekundären Affekte, welche aus jenen primären Affekten bzw. deren Kombinierung stammen, in zwei Arten teilt; passive Affekte und aktive Affekte. Passive Affekte sind diejenigen, in denen wir leiden und vom äußeren Objekt affiziert werden. Aktive Affekte sind hingegen »Affekte der Lust und der Begierde, die sich auf uns beziehen, insofern wir handeln«.95 Das Wichtige ist, dass das Handeln bzw. die Tätigkeit des Geistes bei Spinoza von nichts anderem als der Erkenntnis der adäquaten, d. h. rein begrifflichen Ideen, m. a. W. von der Natur der Vernunft abhängt.96 Aktiver Affekt, Handlung und Vernunft bilden also bei Spinoza eine untrennbare Trias. So schreibt Spinoza zu zwei aktiven Affekten, Seelenstärke (animositas; fortitude) und Edelmut (generositas; generosity), welche Cas­si­rer als zwei eigentlich »ethische« Emotionen darstellt:

schaften, wohl aber um die Meisterung eben jener Leidenschaften geht (vgl. ECW 20, 73 f. u. 177 f.). 93 ECW 21a, 77 f. 94 Vgl. Spinoza (2002), 281, 383 u. 429. 95 Ebd., 387. Vgl. ebd., 255. Damit ist nicht gemeint, dass alle aus Lust und Begierde bestehenden Affekte aktive Affekte sind. Sondern Spinoza meint allein, dass aktive Affekte den Hauptaffekt der Unlust auf keinen Fall beinhalten (vgl. ebd., 389). 96 Vgl. ebd., 257 f. Zur Erkenntnis der adäquaten Idee als Natur der Vernunft vgl. ebd., 111 u. 217 f.

198

Moralisches Gefühl

»Alle Handlungen, die aus Affekten folgen, die sich auf den Geist beziehen, insofern er erkennt, rechne ich zur Geisteskraft, die ich in Seelenstärke und den Edelmut unterteile. Unter Seelenstärke verstehe ich die Begierde, durch die ein jeder bestrebt ist, sein eigenes Sein nach dem Gebot der Vernunft allein zu erhalten. Unter Edelmut aber verstehe ich die Begierde, durch die ein jeder bestrebt ist, allein nach dem Gebot der Vernunft seinen Mitmenschen zu helfen und sie sich durch Freundschaft zu verbinden. Die Handlungen also, die allein den Nutzen des Handelnden bezwecken, rechen ich zur Seelenstärke; die den Nutzen eines anderen bezwecken, zum Edelmut.«97

Die Seelenstärke sowie der Edelmut sind für Spinoza also Geisteskräfte bzw. freie Handlungen, welche unter dem Gebot der Vernunft stehen. Dass Cas­ si­rer sich dieser Deutung Spinozas klar bewusst war, wird durch Cas­si­rers folgende Spinoza-Interpretation bezeugt. »Fortitude is the courage to be wise: to live an independent, an active and rational life. But it is not enough that we reach this goal for ourselves. We must freely communicate the good that we have acquired for ourselves to others. All this is to be done not under the impulse of passions, but under the dictate of reasons. Fortitude and generosity are the only means to attain and secure the freedom of the individual mind and of human society.«98

Gewiss scheint Cas­si­rer die Bedeutung dieser zwei aktiven Emotionen – Seelenstärke und Edelmut – bei Spinoza zu übertreiben, wenn er behauptet, dass bei diesem nicht nur der Hass, sondern auch die Liebe zur passiven Emotion gehört, dass es als aktive Emotionen bei ihm lediglich Seelenstärke und Edelmut gibt. Denn Spinoza verwendet den Begriff der Liebe genau im gleichen Sinne wie Edelmut.99 Aber dies ändert nichts daran, dass Cas­si­rer, gemeinsam mit Spinoza, die aktiven Affekte bzw. Emotionen als nichts anderes denn als vernünftige Geisteskräfte versteht. Das heißt: Auch dort, wo Cas­si­rer behauptet, eine Emotion könne allein durch eine andere stärkere Emotion überwunden werden, spricht er eigentlich nicht von der Überwindung einer Emotion durch eine andere, sondern von der Überwindung einer Emotion durch das Gebot der Vernunft. Die Herrschaft des Mythos, der passiven bzw. heftigen, mythischen Emotionen können, so meint Cas­si­rer aufgrund der sokratisch-stoischen Tradition, allein durch den Einsatz der Rationalität bzw. Vernunft aufgehoben werden. Ebd., 389. Vgl. ebd., 591 f. ECN 9f, 223 (Hervorh. Y. H.). Vgl. ECW 24e, 264. 99 »[…] wer nach der Leitung der Vernunft lebt, [wird] bestrebt sein, den Haß usw. eines anderen durch Liebe zu vergelten, d. h. durch Edelmut […]« (Spinoza (2002), 539. Vgl. ebd., 601). 97 98



Gegenmittel gegen den modernen ­politischen Mythos 199

Trotz der Einführung des Begriffs der ativen Emotionen bringt Cas­si­ rer also in Bezug auf die Überwindung der (negativen) Emotion eigentlich kein ihm zuvor fremdes, sondern ein bei ihm völlig übliches Argument ein. Denn Cas­si­rer hat zuvor in Anlehnung an Sokrates und Platon, wenngleich en passant, expressis verbis behauptet, dass Affekte durch die sprachliche Kraft des Logos als eine vernünftige gemeistert werden sollen, dass eine solche »Unterwerfung der Affekte unter das Gesetz und Gebot des ›Logos‹ […] als der eigentliche ethische Imperativ« verkündet wird.100 Die Frage, wie jene Unterwerfung der Affekte bzw. der Emotionen unter die Vernunft möglich ist, ist nicht allein in Spinozas, sondern auch in Cas­si­rers Philosophie – zumindest rein theoretisch – nicht schwer zu beantworten. Denn wenn wir zuerst von Spinoza sprechen, umfasst der Spinozistische Begriff des affectus auch die rationale Erkenntnis. »Ein Affekt kann«, so Spinoza in einem Lehrsatz, auf den sich Cas­si­rer – wenngleich ohne Verweis darauf – zweifelsohne bezieht, »nicht anders gehemmt oder aufgehoben werden als durch einen anderen, der dem zu hemmenden Affekt entgegengesetzt und stärker ist als dieser.«101 Auf diesen Lehrsatz folgt ein anderer: »Die Erkenntnis des Guten und Schlechten ist nichts anderes als der Affekt der Lust oder Unlust, insofern wir uns dessen bewußt sind.«102 Es gibt also bei Spinoza keine eigentliche Grenze zwischen Emotionalität und Ra­ tio­nalität. Aber dies bedeutet nicht, dass Spinoza die rationale Erkenntnis mit dem Affekt völlig identifiziert. Denn er meint dabei eigentlich Folgendes: Die Erkenntnis des Guten und des Schlechten sei nicht der Affekt der Lust und der Unlust an sich, sondern die geistige Idee der Lust und Unlust. Diese Idee ist für Spinoza ein Affekt, nicht weil sie der Affekt an sich ist, sondern weil sie unausweichlich mit dem leiblichen Affekt korreliert ist.103 Es ist übertrieben, wenn wir die Spinozistische, d. h. monistische, absolute Parallelität zwischen bzw. Einheit von Geist und Körper, von Erkenntnis und Affekt als Cas­si­rers eigene Ansicht darstellen würden. Denn Cas­si­ rer versucht immer, das emotionale Moment und das intellektuelle Moment als zwei zu unterscheidende zu verstehen. Jedoch ist zu betonen, dass Cas­ si­rers eigene Philosophie zwar nicht eine absolut notwendige Parallelität, so doch eine gewisse notwendige Wechselbeziehung zwischen Denken und Fühlen voraussetzt: Wenn im mythischen Bewusstsein hauptsächlich das Fühlen auf das Denken einwirkt, ist es im moralischen Bewusstsein das Denken, das wesentlich das Fühlen beeinflusst. Um den Charakter einer Vgl. Cas­si­rer (1995), 137 f. Zitat aus ebd., 138. Spinoza (2002), 457. 102 Ebd., 459. 103 Vgl. ebd., 459 f.   100

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Moralisches Gefühl

solchen Herbeiführung der Gefühlsorientierung durch die Rationalität zu beschreiben, ist die Kantische Deutung des moralischen Gefühls m. E. geeigneter als die Spinozistische. Das heißt, das moralische Gefühl bei Cas­si­ rer ist nicht so sehr, wie bei Spinoza, als die vollkommen unmittelbare Folge der Rationalität im Leiblichen dargestellt, sondern vielmehr als Folge des Einflusses der moralisch-rationalen, intelligiblen Erkenntnis auf das Sinn­ liche. Die Herrschaft der mythischen Emotionen kann – so könnte man Cas­si­rers Ansicht interpretieren – nicht direkt durch die rationale Erkenntnis als solche, so doch durch die »ethischen Emotionen«, verstanden als durch jene Erkenntnis bewirkte, sinnliche Erscheinungen, besiegt werden. Wir dürfen diesen Nuancenunterschied zwischen Cas­si­rer und Spinoza nicht vernachlässigen. Zudem ist zu betonen, dass Cas­si­rer im Gegensatz zu Spinoza der Überzeugung ist, die Ethik müsse den freien Willen des Menschen voraussetzen.104 Für Cas­si­rer ist das eigentlich ethische Leben nicht, wie bei Spinoza, das Erkennen oder das Lieben der ewigen Wahrheit Gottes.105 Die ethische Wahrheit existiert Cas­si­rer zufolge nicht als solche, sie ist nicht gegeben, sondern muss von den Menschen, vom menschlichen Willen frei geschaffen werden. »It follows from the very nature and character of ethical thought«, so Cas­si­rer, »that it can never condescend to accept ›the given‹. The ethical world is never given; it is forever in the making.«106 Aber solche Unterschiede zwischen Cas­si­rer und Spinoza ändern nichts daran, dass Cas­si­rer mit Spinoza (und freilich auch mit Kant) darin übereinstimmt, dass »ethische Emotionen« allein durch die Vernunft bzw. durch die Intensivierung der Kraft der Vernunft entstehen können. Wir haben den Wesenszug des Gefühls bei Cas­si­rer als Hingezogen- und Abgestoßenwerden des Leib-Seelischen bezeichnet. Wenn wir dieser Interpretation folgen, weist Cas­si­rers Argumentation zum moralischen Gefühl auf Folgendes hin: Indem die Philosophie, die philosophische Ethik, in Bezug auf das Handeln lehrt, was das Gute oder das Schlechte eigentlich ist, indem sie diesbezüglich die Wertverteilung des moralisch Guten und Schlechten rational und argumentativ begründet und uns davon überzeugt, kann sie bei uns eine rein moralische Welt erzeugen, in der das Bewusstsein bzw. das Leiblich-Seelische vom moralisch Guten hingezogen und vom moralisch schlechten abgestoßen wird. Das moralische Bewusstsein fühlt sich gemäß der symbolisch objektivierenden Verteilung der Wertakzente des ethisch zu Verlangenden und des ethisch Zurückzuweisenden. Dabei ist jedoch wiederholt darauf zu achten, dass das moralische Hingezogen Zu Spinoza vgl. Spinoza (2002), 77 f. Vgl. ebd., 651 f. 106 ECW 23, 67. 104 105



Gegenmittel gegen den modernen ­politischen Mythos 201

bzw. Abgestoßenwerden keinesfalls als ein passives Erlebnis zu verstehen ist. Denn es ist nichts anderes als die Selbstbestimmung, die die moralische Handlung bei Cas­si­rer bezeichnet. Im rein moralischen Bewusstsein handelt es sich Cas­si­rer zufolge nicht um Emotionen wie Freude, Trauer usw., die »mich« überfallen und einnehmen, sondern um die »Bewertung« und »Stellungnahme« des Ichbewusstseins, d. h. um die Entscheidung, welche »vom Ganzen der ›Persönlichkeit‹, von der Grundrichtung ihres Fühlens und Wollens« abhängt. 107 Allein in der selbstbestimmenden Bewertung und Stellungnahme baut sich die Verteilung der moralischen Wertakzente auf. Kurz, das moralische Bewusstsein bestimmt von sich selbst rein rational, wer sich wie, in welchem Fall, fühlen soll. Die (Moral-)Philosophie kann – so könnte man sagen – keinen Beitrag zum Kampf gegen die totalitäre Situation leisten, sofern der, wenngleich zivilisierte, Mensch im modernen politischen Mythos seine Rationalität als Kraft des selbständigen Denkens und der Selbstbestimmung völlig verliert. Aber sofern jene Rationalität beim Menschen – wenngleich in geringem Maß – bestehen bleibt, dann kann und soll die Philosophie einen fundamentalen Beitrag zur Moralisierung der Gesellschaft leisten. Cas­si­rer zufolge liegt der tiefste und eigentliche Grund für die soziale und politische Gefahr im Zustand des menschlich-geistigen Bewusstseins. Und die Philosophie bzw. die philosophische Ethik kann eben auf diesen Grund einwirken und dadurch das moralische Gefühl bzw. die »ethischen« Emotionen als Gegenmittel gegen den Ausbruch des Mythos in der Gesellschaft erscheinen lassen. »Das echte Gemeinschaftsgefühl«108 eines Staates setze sich, so einst Cas­si­rer, vom Gemeinschaftsgefühl schlechthin ab, da sich jenes echte, politische Gemeinschaftsgefühl auf den bewussten, rationalen Staatsgedanken gründen solle.109 Die mythischen, gefährlichen Elemente werden niemals verschwinden, solange der Mensch existiert. Auch eine rationalisierte Gesellschaft baue sich unausweichlich auf den vulkanischen Boden, unter welchem mythische Elemente ständig auf die Gelegenheit für die volle Entfaltung ihrer Kraft lauern.110 Der Kampf gegen den Mythos, d. h. der Versuch der Kultivie ECW 21a, 62. ECN 9c, 107 (Hervorh. Y. H.). Näheres zur »Echtheit« des politischen Gemeinschaftsgefühls vgl. Möckel (2009a), 177 f. 109 »[…] auf das Gefühl allein lässt sich die Wirkl[ichkeit] des Staatslebens nicht gründ[en]  – / er ist niemals bloss Gefühl  – er ist als bewusster Staat Gedanke u[nd] Wis[sen]! / denn er ist ein Gebilde des Willens – u[nd] der Wille wird zum Willen erst durch die Kraft u[nd] Klarheit, in der er sich selbst weiss – / Methodenlehre der praktischen Vern[unft]« (ECN 9g, 250). 110 Vgl. ECW 25, 275 u. 297 f. 107 108

202

Moralisches Gefühl

rung der Kraft der Vernunft, ist also Cas­si­rer zufolge eine unerlässliche Aufgabe der Kultur. Dabei muss die Philosophie beständig nach der rationalen Begründung der Moral trachten, damit die vernünftige Anerkennung der festen Wertverteilung des ethisch und auch politisch Guten und Schlechten in der menschlichen Gesellschaft Wurzeln schlägt. Auf Grundlage der Festigung der ethischen und politischen Wertverteilung, die sich auf die »ursprünglichen, in sich selbst gewissen und durch sich selbst bezeugten Willenswerte«111 stützt, werden auch die echten, »ethischen Emotionen« als erscheinende Antikörper gegen die mythische Gefahr in der Gesellschaft gebildet.

111

ECW 7, 154.

Fazit

Die philosophisch-systematische Erörterung der Problematik des Gefühls bei Cas­si­rer ist – seiner früheren philosophischen Terminologie folgend – im Rahmen des Problems des »Aus­drucks­phäno­mens«, verstanden als gefühlmäßiges bzw. emotionales Phänomen, zu behandeln. Die Grundcharakteristik dieses Phänomens lässt sich folgendermaßen beschreiben: Im Aus­drucks­phäno­men kommt ein Gegenstand bzw. ein Vorgang dem Bewusstsein in physiognomischer bzw. gefühlserregender Weise vor. Das heißt, im Aus­drucks­phäno­men erscheint ein Gegenstand bzw. ein Vorgang dem Bewusstsein als freundlich oder feindlich, lockend oder drohend usw. In definitorischer Hinsicht ist es dabei wichtig hervorzuheben, dass der Wesenszug dieses Aus­drucks­phäno­mens, d. h. des Gefühlsphänomens als ein handlungsmotivierendes Gefühl der Lust und Unlust, m. a. W. als ein (bewusstes oder unbewusstes) Hingezogen- und Abgestoßenwerden des PsychoPhysischen ausformuliert werden kann. Hinsichtlich der allgemeinen Charakteristiken des menschlichen Gefühls sind noch zwei andere wichtige Schwerpunkte hervorzuheben: Erstens findet sich das Gefühl keinesfalls allein beim Menschen, sondern vielmehr bezeichnet es das Wesentliche der biologischen Welt. Daher wurzelt auch das menschliche Gefühl (insbesondere dem späten Cas­si­rer zufolge) ursprünglich im Biologischen. Zweitens grenzt Cas­si­rer jedoch die Bedeutung des menschlichen Gefühlslebens von der des bloß biologischen deutlich ab. Cas­si­rers Lehre gemäß, welche bereits in der PsF III impliziert wird, doch erst in der Spätschrift MS klar hervortritt, sollten wir seine Grundansicht folgendermaßen verstehen: Selbst wenn das menschliche Gefühl im biologischen Gefüge wurzelt, wird das Gefühl im menschlichen Leben und allein in ihm – frei von der biologisch-praktischen Bedeutung des Gefühls – geistig-kulturell symbolisiert. Solch eine Symbolisierung des Gefühls, solch eine symbolische Gestaltung (Objektivierung, Orientierung und Umgestaltung) des Gefühls wurde von Cas­si­rer nicht im Zusammenhang mit der ganzen Systematik seiner Philosophie thematisiert. Allerdings bedeutet dieser Umstand nicht, dass die philosophisch-systematische Darstellung der sozusagen (geistig-)symbolischen Gefühlstheorie Cas­si­rers unmöglich ist, wenngleich allein die Grundrichtung jener Theorie sichtbar gemacht werden kann. Hierbei versteht es sich von selbst, dass die Herausarbeitung jener symbolischen Gefühlstheorie allein mittels der allgemeinen Sym­bol­theo­rie Cas­si­rers, d. h. durch die

204 Fazit

Philosophie der symbolischen Formen, zugänglich ist. In der vorliegenden Arbeit wurde demzufolge versucht, die besondere Art des menschlichen Fühlens je nach der symbolischen Form, d. h. je nach dem universellen Modus des menschlichen Bewusstseins, herauszuarbeiten. Dabei handelte es sich – der Wichtigkeit der symbolischen Formen im Gesamtwerk Cas­si­ rers entsprechend und der Möglichkeit der Herausarbeitung der Ansichten Cas­si­rers zur Symbolisierung des Gefühls gemäß – um die Grundzüge des Gefühls in den drei symbolischen Formen, d. h. in denjenigen des Mythos, der Religion und der Kunst, und dazu noch um die Grundcharakteristik des Gefühls im (rein) moralischen Bewusstsein. Das Aus­drucks­phäno­men als Gefühlsphänomen ist bei Cas­si­rer charakteristisch vor allem für den Mythos, wenngleich es nicht ausschließlich für ihn reserviert ist. In der mythischen Welt waltet nicht die reflexive Ratio­ nalität, sondern das heftige Gefühl. Aber dieses Walten des Gefühls bedeutet kein bloßes Chaos der Emotionen. Ganz im Gegenteil meint Cas­si­rer, dass die mythische Welt auf der geistigen, symbolischen Organisierung des Gefühls gründet. Cas­si­rer bezeichnet die Grundcharakteristik dieser Organisierung als Akzentverteilung des Heiligen und des Unheiligen, m. a. W. des Geweihten bzw. Außergewöhnlichen und des Profanen bzw. Alltäglichen. Dabei ist darauf zu achten, dass das Heilige und das Unheilige nicht jeweils mit dem mythischen Gefühl zusammenhängen, sondern allein das Heilige, das Außergewöhnliche, ans mythische Gefühl – sowohl das mythisch Hingezogenwerden als auch das mythisch Abgestoßenwerden des Leib-Seelischen  – gebunden ist. Das heißt, die mythisch fundamentale Gegenüberstellung des Heiligen und Unheiligen bedeutet die symbolische Organisierung des Gefühlslebens im Sinne der symbolischen Hervorhebung bzw. Abschottung der mythisch gefühlserregenden Sphäre von der mythisch nicht gefühlserregenden Sphäre. Aus der Perspektive der geistesgeschichtlichen Entwicklung verortet Cas­si­rer die früheste symbolische Organisation des Gefühls in der spezifischen mythischen Objektivierung bzw. Verdichtung des Gefühlserlebnisses, d. h. in den mythischen Ausdrücken der Emotion des Staunens – wie etwa Mana der Melanesier, Orenda der Irokesen und Wakanda der Sioux usw. Eine derartige Symbolisierung als mythischer Ausdruck des Staunens ist für Cas­si­rer die geistesgeschichtlich früheste und besitzt eine besondere Stellung, da eben die Emotion des Staunens der Auslöser des intellektuellen bzw. philosophischen Gedankens ist und dadurch das menschliche Gefühl von der biologischen Beschränkung befreit. Erst durch diese Befreiung wird die weitere freie, d. h. von der biologischen Schranke unabhängige Symbolisierung des Gefühls ermöglicht. Bereits solche mythischen Ausdrucksformen des Staunens – als die geis-



Fazit 205

tesgeschichtlich früheste mythische Symbolisierung des Gefühls – besagen nichts anderes als die symbolische Hervorhebung bzw. Objektivierung des Heiligen. Jedoch wird diese Objektivierung klarer und konkreter, wenn Cas­ si­rer sie im Zusammenhang mit der fortgeschrittenen Bewusstseinsstufe des mythischen Bewusstseins, d. h. dem religiösen Bewusstsein, behandelt. Der Grundgegensatz zwischen Heiligem und Unheiligem macht nicht allein die Grundcharakteristik des Mythos, sondern auch die der Religion aus. Dies bedeutet aber nicht, dass Cas­si­rer den Unterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl vernachlässigt. Diesbezüglich ist anzumerken, dass Cas­si­rer davon ausgeht, dass erst auf der Stufe des religiösen Bewusstseins das Zeitbewusstsein – das Bewusstsein für die Zeiteinteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – anfängt, sich wahrhaft zu entwickeln. Dies impliziert, dass erst im religiösen Bewusstsein die symbolische Objektivierung des Heiligen mit Bezug auf die Zeitdimension möglich wird. Cas­si­rer zufolge bildet die symbolische Sakralisierung der Zeitdimension das wesentliche Charakteristikum jedes Typs der Religion. Oder anders formuliert: Die Sakralisierung jeder spezifischen Zeitdimension zeugt im religiösen Bewusstsein jedes spezifische Kulturgefühl. Hierbei ist es für die Hervorhebung des Unterschieds zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl besonders wichtig, die Sonderstellung der monotheistischen bzw. monotheistisch-prophetischen Religionsform zu betonen, zu der Cas­si­rer das Judentum, das Christentum sowie die zoroastrische Religion zählt. Denn für Cas­si­rer repräsentiert eben diese Religionsform das eigentlich Religiöse, die rationale und ethische Kraft des Religiösen. Er erblickt die Charakteristik des monotheistischen Zeitgefühls in der Sakralisierung bzw. Akzentuierung der Zukunft. Eine solche Charakteristik ist als eine höchst ethische zu verstehen, weil laut Cas­si­rer das Ichbewusstsein ein unverzichtbares Element des moralischen Lebens ist und der monotheistische Zukunftsgedanke geistesgeschichtlich eine große Rolle für die volle Entfaltung des Ichbewusstseins gespielt hat. Der Monotheismus befördert zudem die vollkommene Entfaltung des Ichbewusstseins auch im Zuge der für ihn charakteristischen Bildung der Persönlichkeit Gottes als handelndes Subjekt. So wird die monotheistische Religionsform – wegen ihres auf die Zukunft gerichteten Zeitgefühls und nicht zuletzt wegen des mit diesem Gefühl zusammenhängenden, verstärkten Ichbewusstseins – als eine ethische Religionsform herausgestellt. Da zudem das Ethische bzw. das Moralische für den Aufklärer Cas­si­rer zugleich das Rationale bzw. das Vernünftige bedeutet, impliziert der hohe ethische Charakter der monotheistischen Religionsform zugleich ihre hohe Rationalität. Erst aufgrund eines solchen Verständnisses der monotheistischen Religionsform als eine höchst ethische und als das eigentlich Religiöse kann

206 Fazit

der Unterschied zwischen dem mythischen Gefühl (bzw. dem Gefühl der niedrigeren Religionen) und dem wahrhaft religiösen Gefühl beleuchtet werden. Zuerst ist zu beachten, dass sich Cas­si­rers völlig positive Einschätzung der monotheistischen Religion hinsichtlich ihres ethischen Charakters in seiner Beschreibung des religiösen Gefühls widerspiegelt: Das religiöse Gefühl wird ausschließlich durch positive Emotionen (wie Vertrauen, Hoffnung, Liebe und Dankbarkeit) bezeichnet, während das mythische Gefühl durch den Gegensatz zwischen der positiven und der negativen Emotionsrichtung – bzw. eher durch negative Emotionen (wie Angst und Furcht) – charakterisiert wird. Auch ist Folgendes hervorzuheben: Das mythische Bewusstsein lebt in einer hauptsächlich von Emotionen beherrschten Welt. Aber da es kein bzw. kaum ein Ichbewusstsein kennt, weiß es nicht, wer sich wie fühlt. Hingegen weiß das religiöse Bewusstsein, welches das rationale bzw. reflektierende Ich in Abgrenzung zum Anderen (Du) kennt, wer sich wem gegenüber wie fühlt: Darin, dass das religiöse Gefühl auf dem Ich­ bewusstsein bzw. auf der selbstbewussten Zuneigung zur (sittlich) freien Persönlichkeit basiert, liegt der Grundunterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Gefühl – wobei nicht zu vergessen ist, dass jenes Ichbewusstsein untrennbar mit dem Zukunftsgedanken verbunden ist. Das mythische Bewusstsein wird unbewusst vom – positiv oder negativ – Heiligen hingezogen oder abgestoßen, während das religiöse Bewusstsein selbstund zukunftsbewusst weiß, dass es zur freien Persönlichkeit hingezogen wird: Das religiöse Gefühl kann als das selbst- und zukunftsbewusste Hingezogenwerden des Leib-Seelischen durch die freie Persönlichkeit bezeichnet werden, während das mythische Gefühl als das wechselnde unbewusste Hingezogen- und Abgestoßenwerden beschrieben werden kann. Im Unterschied zu jenen Gefühlen ist das ästhetische Gefühl, das Gefühl in der künstlerischen – sowohl schaffenden wie rezipierenden – Erfahrung durch seine besondere Freiheit geprägt. Ausgehend von Kants und Schillers Ästhetik beschreibt Cas­si­rer schon von Anfang an eine der Kerncharakteristiken des Ästhetischen als versöhnende Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Momenten; dem Theoretischen und dem Gefühlsmäßigen oder dem Objektiven und dem Subjektiven. Eine solche Ansicht hat sich in seinen ästhetischen Spätschriften zu einer eigenen ästhetischen Lehre entwickelt, obwohl diese Lehre ungenügend ausgearbeitet wurde. Dieser ästhetischen Lehre zufolge ist das eigentlich Ästhetische, das eigentlich Schöne als eine Versöhnung zwischen dem organischen (bzw. alltäglichen) Gefühl und den reinen sinnlichen Formen (pure sensuous forms) zu verstehen. Wichtig dabei ist das letztere Moment, d. h. das Moment der reinen sinnlichen Formen, welches die interesselos von Lebens- sowie moralischen Bedürfnissen unabhängig betrachteten Proportionen bzw. Kon-



Fazit 207

trasten sinnlicher Konturen, Melodien, Rhythmen usw. darstellt, weil bei Cas­si­rer eben dieses Moment als das eigentliche Merkmal des wahrhaft Ästhetischen verstanden wird. Gewiss geht Cas­si­rer davon aus, dass das Gefühl, welches ein echtes Kunstwerk enthält bzw. erweckt, die gesamte Skala der menschlichen Emotionen umfassen soll oder dass sich die Gefühlserfahrung aktiv zwischen der positiven und negativen Emotionsrichtung bewegen soll. Aber seine Kernthese stellt dar, dass der Umfang bzw. die Stärke des Gefühls kein ästhetisches Wesen ausmacht. Sondern Cas­si­rer zufolge können die ästhetische Erfahrung und daher das ästhetische Gefühl erst dadurch entstehen, dass das Gefühl durch jene bzw. in jenen reinen sinnlichen Formen umgestaltet wird: Das alltägliche (bzw. biologische) Gefühl wird in jenen bzw. durch jene Formen zum spezifischen ästhetischen Gefühl, zum ästhetisch freien Gefühl, dessen Bewegungen nicht mehr den Fühlenden (das Bewusstsein) direkt überfallen, sondern von ihm selbstreflektiert gefühlt, oder besser, gesehen werden. Zusammenfassend ausgedrückt, schaut das ästhetische Bewusstsein selbstreflektiert, wie es selbst auf unterschiedliche Art und Weise ständig abwechselnd hingezogen und abgestoßen wird. Die besondere Art und Weise des Gefühls, welche wir bei Cas­si­rer zuletzt herausgearbeitet haben, ist das moralische Gefühl, mit dem hier das Gefühl gemeint ist, welches durch die philosophische Ethik realisiert wird bzw. werden soll. Es liegt klar auf der Hand, dass dieses Gefühl dem religiösen Gefühl ähnelt, da Cas­si­rer das eigentlich Religiöse und daher auch das religiöse Gefühl als ein höchst ethisches bzw. moralisches versteht. Nichtsdestotrotz ist anzumerken, dass Cas­si­rer ausdrücklich darauf hinweist, dass die (monotheistische) Religion nicht deckungsgleich mit der philosophischen Ethik an sich ist, welche aus dem antiken griechischen Denken stammt, d. h. dass die Religion, wenngleich sie ethische und vernünftige Merkmale aufweist, nicht in dem Maß und Sinne ethisch und vernünftig ist wie das rein spekulative Denken der philosophischen Ethik. So beschreibt Cas­si­ rer das moralische Gefühl – vor allem in Anlehnung an Spinoza – als ein völlig auf der Rationalität bzw. Vernunft basierendes Gefühl, zu dem Cas­ si­rer zwei »ethische Emotionen« – Edelmut und Seelenstärke – zählt. Im moralischen Bewusstsein ordnet die Vernunft rein rational an, wie es sich in welchem Fall fühlen soll. Das moralische Gefühl stellt also das rein ethisch organisierte Hingezogen- und Abgestoßenwerden des Psycho-Physischen dar. An dieser Stelle ist zudem nicht zu vergessen, dass bei Cas­si­rer die Erklärung des moralischen Gefühls im Rahmen der Auseinandersetzung mit der politisch totalitären Gefahr seiner Zeit präsentiert wird. Das heißt, mit Bezug auf Cas­si­rers Verständnis des moralischen Gefühls gilt es hervorzuheben, dass dieses Gefühl das einzige (philosophische) Mittel gegen

208 Fazit

die ethische und politische Gefahrenlage ist, in welcher heftige, mythische Emotionen walten. In der vorliegenden Untersuchung wurde versucht, die Grundrichtung der verborgenen Gefühlstheorie im systematischen Ganzen der Philosophie Cas­si­rers herauszuarbeiten bzw. zu rekonstruieren. Damit wird gehofft, klar zu machen, dass Cas­si­rer auch mit Bezug auf die Problematik des Gefühls seine Symbol- bzw. Kulturphilosophie nicht verlassen hat. Auch das Gefühl ist – hierin liegt der Kern der Gefühlstheorie Cas­si­rers – beim Menschen unausweichlich symbolisiert, d. h. kulturell-geistig objektiviert, orientiert bzw. umgestaltet, so dass das menschliche Gefühl allein in der Analyse der geistigen Symbolleistungskraft erschlossen werden kann: Die Symbolkraft, die kulturschaffende Energie des Geistes, ist für Cas­si­rer das A und O des menschlichen Lebens, selbst wenn es sich um das Gefühlsleben handelt.

Exkurs: Änderung der Einstellung Cas­si­rers gegenüber den Sprachformen

Zweck und Ziel dieses Exkurses ist es, Cas­si­rers nicht erwähnte, so doch unverkennbare Einstellungsänderung gegenüber verschiedenen Sprachformen, insbesondere dem logisch-theoretischen Primat der europäischen Sprachform, sichtbar zu machen, indem seine Darstellung der Unterschiedlichkeit der Sprachformen in der PsF I (1923) mit jener in Exilschriften der vierziger Jahre verglichen wird. In der PsF I stützt Cas­si­rer sich in großem Umfang auf Humboldts Analyse verschiedener Sprachformen. Gewiss zweifelt er dort am Versuch August Schleichers, Humboldts Formanalyse auf das genetische, entwicklungsgeschichtliche Problem zu übertragen, d. h. am Versuch, »eine einfach fortschreitende dialektische Reihe zu konstruieren, in der sich die isolierenden, die agglutinierenden und die flektierenden Sprachen wie Thesis, Antithesis und Synthesis zueinander verhalten sollten«.1 Zudem behauptet Cas­ si­rer, dass die starre und unverrückbare Abgrenzung jener Humboldtschen Sprachtypen nicht mehr beizubehalten sei. 2 Allerdings bleibt Cas­si­rer der Humboldtschen Ansicht treu, die flektierende Sprache präge den geistigen Gipfel der Sprache aus. Diesbezüglich schreibt Cas­si­rer: »[…] auch wenn man sich gegen die Aufstellung derartiger absoluter Wertmaßstäbe zurückhaltender und skeptischer verhält, so ist doch unverkennbar, daß für die Ausbildung des rein beziehentlichen Den kens in den Flexionssprachen in der Tat ein außerordentlich wichtiges und wirksames Organ geschaffen ist. Je mehr dieses Denken fortschreitet, um so bestimmter muß es auch die Gliederung der Rede nach sich gestalten – wie andererseits ebendiese Gliederung selbst auf die Form des Denkens entscheidend zurückwirkt.«3

Das beziehentliche, d. h. logisch-synthetische Denken entfaltete sich allein in der flektierenden Sprachform. Denn in ihr seien Sätze  – durch entwickelte Bindewörter  – rein beziehentlich aufeinander bezogen und verkettet. Erst durch einen solch rein beziehentlichen Aufbau der Sätze ECW 11, 284. Vgl. ebd. 3 Ebd., 288. 1 2

210 Exkurs

werde der »Stil« der Rede bzw. der Sprache möglich. Dieser Stil fehlt, so Cas­si­rer, »nicht nur den Sprachen der Naturvölker, sondern scheint auch in den höchstentwickelten Kultursprachen nur ganz allmählich gewonnen zu werden. […] Es gibt [in ihnen, Y. H.] noch keine perspektivische Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund in der Rede selbst. Die Sprache beweist die Kraft der Unterscheidung und Gliederung im ›Beisammen‹ der Teile des Satzes; aber sie gelangt nicht dazu, dieses rein statische Verhältnis auf ein dynamisches, auf ein Verhältnis der wechselseitigen gedanklichen Abhängigkeit zurückzuführen und es als solches zur expliziten Darstellung zu bringen.«4

»Besonders charakteristische Belege hierfür scheinen«, so merkt Cas­si­rer dazu an, »sich im Kreis der finnisch-ugrischen und der altaischen Sprache zu finden.«5 Zudem führt er als Belege hierfür noch die uralaltaischen Sprachen und die chinesische Sprache an. 6 Dies impliziert, dass Cas­si­rer sowohl in der agglutinierenden Sprache (den finnisch-ugrischen und altaischen bzw. uralaltaischen Sprachen) als auch in der isolierenden Sprache (Chinesisch) keinen »Stil« der Sprache, kein rein beziehentliches Denken, erkennt. Cas­si­rer bestätigt den logischen bzw. beziehentlichen Primat der flektierenden Sprachform auch in einer anderen Hinsicht, nämlich hinsichtlich »unserer Kopula«.7 Erst im Gebrauch der Kopula der flektierenden Sprache als »Ausdruck des ›Seins‹ als einer reinen transzendentalen Beziehungsform«8 gewinne »die logische Synthesis, die sich im Urteil vollzieht, ihre adäquate sprachliche Bezeichnung und Bestimmung«.9 Bezüglich jener Kopula schreibt Cas­si­rer weiter: »So zeigt sich in einer großen Zahl von Sprachen, daß sie eine Kopula, in unserem logisch-grammatischen Sinne, überhaupt nicht kennen und daß sie ihrer nicht bedürfen. Ein einheitlicher und allgemeiner Ausdruck dessen, was in unserm ›Verhältniswörtchen ist‹ bezeichnet wird, fehlt nicht nur den Sprachen der Naturvölker – wie den meisten Negersprachen, den Sprachen der amerikanischen Eingeborenen usf. – sondern er ist auch in anderen hochentwickelten Sprachen nicht zu finden. […] In anderen Sprachen begeg Ebd., 290. Ebd., 289, Anm. 20. 6 Vgl. ebd., 290, Anm. 21. 7 Ebd., 294. 8 Ebd. 9 Ebd., 293. Auch in anderen Schriften aus den zwanziger Jahren beschreibt Cas­si­rer das »›Ist‹ der Kopula« als »die reinste und prägnanteste Ausprägung« für die Darstellungsfunktion (ECW 13, 521. Vgl. ECN 1a, 97). 4 5



Änderung der Einstellung Cas­si­rers gegenüber den Sprachformen

211

nen zwar vielfach Wendungen, die auf den ersten Blick ganz dem Gebrauch unserer Kopula zu entsprechen scheinen, die aber in Wahrheit hinter der Allgemeinheit ihrer Funktion weit zurückbleiben.«10

Bemerkenswert ist, dass Cas­si­rer nicht allein auf eine solche Weise die Besonderheit der logischen Kraft in der flektierenden Sprachform hervorhebt, sondern auch unter den flektierenden bzw. indogermanischen Sprachen den logisch-systematischen Primat der europäischen Sprachen gegenüber dem Sanskrit behauptet: »Auch in ihnen [den indogermanischen Sprachen, Y. H.] zeigt«, so Cas­si­rer, um die logische Kraft der europäischen Sprachen hervorzuheben, »z. B. ein Vergleich zwischen dem Bau des Griechischen und dem des Sanskrit, wie die einzelnen Glieder dieser Gruppe in Hinsicht auf die Kraft und Freiheit des beziehentlichen Denkens und des rein beziehentlichen Ausdrucks auf ganz verschiedenen Stufen stehen.«11 Kurz, Cas­si­rer hält in der PsF I die flektierende Sprache, oder genauer, die europäischen Sprachen für die logischste Sprachform. Nichtsdestotrotz bricht der späte Cas­si­rer im amerikanischen Exil mit einem solchen Gedanken der logischen Überlegenheit der europäischen Sprachen, wenngleich er diese Einstellungsänderung nirgends erwähnt. Zur Humboldtschen These äußert der späte Cas­si­rer ganz gegenteilig zu seiner früheren Ansicht: »According to him the form of these languages [the Indo-European languages, Y. H.] – the method of inflexion – is, as he says ›die einzig gesetzmässige Form‹, the only linguistic type that follows perfectly clear and strict rules. This logical superiority of the inflective type depends on the fact that it is here – and here alone – that we meet with a sharp distinction between the fundamental elements of the sentence – between the subject, the predicate, the copula. / We can scarcely maintain this view of Wilhelm von Humboldt’s any longer. It has become rather doubtful whether we can construct a hierarchy of languages in which the inflective type would maintain the highest rank and could claim a logical superiority over all the other types. In this respect the evolution of logic and the evolution of linguistics seem to lead to the same result.«12

Dementsprechend ist Cas­si­rer nun zu der Meinung gekommen, dass alle Sprachen, alle Sprachformen, wenn auch in verschiedener Weise, über die gleiche logische Kraft verfügen:13 ECW11, 294. Ebd., 292. 12 ECW 24b, 118 f. Vgl. ECW 23, 141; ECW 25, 16 f.; ECN 6b, 202 f. u. 327 f. 13 Vgl. ECW 25, 17. 10 11

212 Exkurs

»In comparing types it may appear that the one has definite advantages over the other, but a closer analysis usually convinces us that what we term the defects of a certain type may be compensated and counterbalanced by other merits. If we wish to understand language, declares Sapir, we must disabuse our minds of preferred values and accustom ourselves to look upon English and Hottentot with the same cool yet interested detachment.«14

Edward Sapir, der amerikanische Linguist, kritisiert eben an der Stelle, auf die Cassirer sich hier stützt, diejeni­gen, welche aus ihrer eigenen Vorliebe heraus vorurteilshaft und unwissenschaftlich den höchsten Rang der flektierenden Sprache zu bestätigen versuchen.15 Diesbezüglich wollen wir hier die Frage dahingestellt lassen, ob die Einstellung des früheren Cas­si­ rers auch vorurteilshaft und unwissenschaftlich war oder ob Cas­si­rer mit dem Verweis auf jene Stelle Sapirs implizit Selbstkritik üben möchte. Es wird auch nicht gefragt, ob seine radikale Einstellungsänderung gegenüber den Sprachformen durch die ihn bedrängende Gefahr des nationalsozialistischen Rassismus motiviert wurde. An dieser Stelle wollen wir lediglich anschließend und zusammenfassend feststellen, dass der späte Cas­si­rer im amerikanischen Exil seine vorherige Behauptung der logisch-systematischen Sonderstellung der europäischen Sprachform als wissenschaftlich unhaltbar widerruft.

ECW 23, 141. Vgl. Sapir (1921), 130 f.

14 15

Danksagung

Das vorliegende Buch ist aus einer Dissertation hervorgegangen, die im Juni 2014 vom Fachbereich Philosophie der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg angenommen wurde. Die Fertigstellung der Arbeit und ihre Publikation waren nur möglich mit Hilfe zahlreicher Personen und Institutionen, die mir bei diesem Projekt – sei es direkt, sei es indirekt – geholfen haben. Sie alle vollständig aufzuzählen, würde viele Seiten in Anspruch nehmen, weshalb ich mich damit begnügen muss, nur diejenigen zu erwähnen, die die Konzipierung, Abfassung und Publikation meiner Dissertation am unmittelbarsten unterstützt haben. Herzlich zu danken ist der Bundesrepublik Deutschland, die mir gute Studienmöglichkeiten geboten hat, sowie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der mir für die Anfertigung meiner Promotion eine großzügige finanzielle Unterstützung gewährt hat. Mein herzlicher Dank gilt auch dem verstorbenen Herrn Prof. Dr. John Michael Krois, der mich während meines Masterstudiums (an der Humboldt-Universität) in Cassirers Philosophie eingeführt hat, und Herrn Prof. Dr. Volker Gerhardt, der mich – nach dem Tod von Prof. Krois – beim Abschluss des Masterstudiums sehr unterstützt hat. Das Gleiche gilt für Frau Prof. Dr. Martina Plümacher, die (zusammen mit Prof. Christian Möckel) die Berliner Cassirer-Arbeitsgruppe organisiert und mich dabei sehr freundlich aufgenommen hat. Meinen aufrichtigen Dank richte ich aber vor allem an die zwei Betreuer meiner Dissertation: Frau Prof. Dr. Birgit Recki, die mich als Doktoranden angenommen und immer freundlich betreut hat, und Herrn Prof. Dr. Christian Möckel, der für meine Fragen und Bitten stets zur Verfügung gestanden und mir bei der Veröffentlichung dieses Buches sehr geholfen hat. Für diese Veröffentlichung bin ich darüber hinaus Herrn Marcel SimonGadhof und Herrn Jens-Sören Mann vom Meiner Verlag zu großem Dank verpflichtet. Berlin, im Juni 2016

Yosuke Hamada

Siglenverzeichnis

AA: Kant, I., Kants Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (später von der Deutschen Akademie der Wissenschaften) Berlin, 1900 – 1955, 1966 f. ECN: Cassirer, E., Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von K. C. Köhnke, J. M. Krois, C. Möckel, O. Schwemmer u. a., Hamburg 1995f. (Vgl. einzeln im Literaturverzeichnis) ECW: Cassirer, E., Gesammelte Werke (Hamburger Ausgabe), hg. von B. Recki, Hamburg 1998 (Vgl. einzeln im Literaturverzeichnis) EM: Cassirer, E., An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (ECW 23) FF: Cassirer, E., Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (ECW 7) GSW: Goethe, J. W., Sämtliche Werke. Briefe, Tage­bücher und Gespräche, hg. von H. Birus u. a., Frankfurt am Main, 1985 f. (Vgl. ein­zelnen im Literaturverzeichnis) KLL: Cassirer, E., Kants Leben und Lehre (ECW 8)

KpV: Kant, I., Kritik der praktischen Vernunft (in AA V) KrV: Kant, I., Kritik der reinen Vernunft (2. Auflage 1787) (AA III) KrV (1): Kant, I., Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage 1781) (in AA I V) KU: Kant, I., Kritik der Urteilskraft (in AA V) LKW: Cassirer, E., Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (in ECW 24) MS: Cassirer, E., The Myth of the State (ECW 25)

PsF: Cassirer, E., Philosophie der symbolischen Formen (ECW 11 – 13) – PsF I: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (ECW 11) – PsF II: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (ECW 12) – PsF III: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (ECW 13)

Literaturverzeichnis

1. Literatur Cassirers und einzelne Siglen ECW 1: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, hg. von B. Recki, Hamburg 1998. ECW 2 – 5: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 4. Bde., hg. von B. Recki, Hamburg 1999 f. ECW 6: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchung über die Grundfrage der Erkenntniskritik, hg. von B. Recki, Hamburg 2000. ECW 7: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, hg. von B. Recki, Hamburg 2001. ECW 8: Kants Leben und Lehre, hg. von B. Recki, Hamburg 2001. ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), hg. von B. Recki, Hamburg 2001. – (ECW 9a) Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik, 139 – 200. – (ECW 9b) Idee und Gestalt. Goethe – Schiller – Hölderlin – Kleist, 243 – 435. – (ECW 9c) Hermann Cohen. Worte gesprochen an seinem Grabe am 7. April 1918, 487 – 493. ECW 10: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, hg. von B. Recki, Hamburg 2001. ECW 11 – 13: Philosophie der symbolischen Formen, 3. Bde., hg. von B. Recki, 2001f. ECW 14: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, hg. von B. Recki, Hamburg 2002. – (ECW 14a) Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 1 – 220. – (ECW 14b) Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, 223 – 380. ECW 15: Die Philosophie der Aufklärung, hg. von B. Recki, Hamburg 2003. ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), hg. von B. Recki, Hamburg 2003. – (ECW 16a) Die Begriffsform im mythischen Denken, 3 – 73. – (ECW 16b) Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, 75 – 104. – (ECW 16c) Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, 105 – 133. – (ECW 16d) Eidos und Eidolon. Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen, 135 – 163.

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