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German Pages 283 Year 1999
WOLFRAM HERTEL
Supranationalität als Verfassungsprinzip
Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann, Hans v. Mangoldt Wernhard Möschel, Wolfgang Graf Vitzthum sämtlich in Tübingen
Band 47
Supranationalität als Verfassungsprinzip N onnativität und Legitimation als Elemente des Europäischen Verfassungsrechts
Von
Wolfram Hertel
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Dertel, Wolfram: Supranationalität als Verfassungsprinzip : Normativität und . Legitimation als Elemente des Europäischen Verfassungsrechts / von Wolfram Hertel. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht; Bd. 47) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09698-3
021 Alle Rechte vorbehalten
© 1999 Ouncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Pririted in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 3-428-09698-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
e
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1998 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Für die Druckfassung konnte noch die bis September 1998 veröffentlichte Literatur und Rechtsprechung berücksichtigt werden. Der Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997 war bei Drucklegung noch nicht in Kraft getreten; auf die durch den Vertrag geänderten künftigen Bezeichnungen der Vertragsnormen wird durch Zusätze in eckigen Klammem hingewiesen. Meinem Doktorvater, Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfga'1g Graf Vitzthum, LL.M., danke ich in ganz besonderem Maße filr die Vergabe des faszinierenden Themas, die hilfreiche Kritik und die vielflUtigen Anregungen zum Thema. Er stand mir immer filr Fragen und Ratschläge zur Verfllgung. Durch sein großes Vertrauen und seine Unterstützung konnte die Arbeit unter nahezu idealen Bedingungen entstehen. Ein besonderer Dank gilt auch Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Häberle filr die vielen freundlichen Nachfragen, wie es denn mit der Arbeit vorangehe. Die Besuche in seinem Seminar und die gemeinsamen Gespräche weckten jedesmal neue, kreative Ideen. Gerade er riet mir aber dazu, trotz der Nähe des Themas zu seinem "gemeineuropäischen Verfassungsrecht", einen eigenen Ansatz zu entwickeln. Weiterer Dank gebührt Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Oppermann filr die Übernahme des Zweitgutachtens. Ihm verdanke ich durch die Teilnahme an einem seiner Seminare die erste Berührung mit dem Thema. Daß die Arbeit in der von ihm betreuten Schriftenreihe erscheinen kann, freut mich daher ganz besonders. Herzlich danke ich auch der New York University fiir die großzügige finanzielle und ideelle Unterstützung. Das Hauser-Scholarship 1997 ermöglichte mir während meines Studienjahrs in New York außergewöhnliche Begegnungen und Erfahrungen. Viele der dort gewonnenen Eindrücke konnten noch in die Arbeit einfließen. Tübingen im Herbst 1998
Wolfram Hertel
Inhaltsverzeichnis Einführung: Die Forderung nach einer Verfassunggebung für Europa ......
21
A. Welcher Verfassungsbegriff für das europäische Primärrecht? ............
28
1. Der Verfassungs begriff in seinen verschiedenen Inhalten - eine begriffliche Entwicklung ................................................ ........ ....... ... .....
29
1. Der deskriptive Verfassungsbegriff ..............................................
29
2. Der normative staatsbezogene Verfassungsbegriff: Legitimation von Herrschaft............. ..... ............... ........... ............................. .....
34
a) Die Vertragstheorien als Grundlage der normativen Staatsverfassung ..............................................................................
34
b) Die Verbindung von Verfassung und Verfassungsstaat .........
35
3. Ungeschriebenes Verfassungsrecht ..............................................
38
4. Verfassung rur Europa - notwendigerweise eine geschriebene Verfassung ....................................................................................
39
a) Der formale Aspekt der Schriftlichkeit - Die Forderung nach besserer Vermittelbarkeit .......................................................
39
b) Der materielle Aspekt der Schriftlichkeit - Errichtung einer rechtlich gesicherten Kompetenzordnung .... ........... ...... .... .....
39
c) Verfassung als höchstrangige normative Aussage ..................
41
5. Zwischenergebnis .........................................................................
43
11. Die unterschiedliche Verwendung des Verfassungsbegriffs rur Europa .....................................................................................................
44
1. Der Verfassungsbegriff als Ausdruck von Staatlichkeit ...............
46
a) Verfassunggebung als Schritt zur Staatlichkeit? ....................
46
b) Die Abhängigkeit des staatsbezogenen Verfassungsbegriffs von Staatlichkeitsmodellen ....................................................
47
aa) Die präföderalistische Forderung nach einer "Bundesverfassung" ........ ................................................... ........
47
8
Inhaltsverzeichnis bb) Europa als "Zweckverband" .........................................
50
cc) Europa als "Union" .......................................................
51
dd) Zwischenergebnis .........................................................
54
c) Die Abhängigkeit des staatlichen Verfassungsbegriffs von staatlichen Verfassungsinhalten .............................................
55
d) Die mangelnde Leistungsflihigkeit der Gleichsetzung von "Verfassung" und "Staatsverfassung" ....................................
59
2. Nichtstaatliche Verfassungsverständnisse ....................................
61
a) Die Verfassung der Völkergemeinschaft ................................
61
aa) Alfred Verdross ............................................................
63
bb) Rudolf Bindschedler ............................................ .........
65
cc) AlfRoss ........................................................................
65
dd) Verfassungsrechtliche "checks and balances" im Völkerrecht .........................................................................
67
ee) Zwischenergebnis .........................................................
68
b) Die Rechtsprechung des EuGH zum Verfassungscharakter der Gemeinschaftsverträge .....................................................
68
aa) Die Verwendung des Verfassungsbegriffs rur das Primärrecht ........................................................................
69
bb) Der normative Anspruch der Verwendung des Verfassungsbegriffs durch den EuGH .....................................
72
c) Die Resonanz auf die Rechtsprechung des EuGH zum Verfassungscharakter .............. .... ........ .......................... ...............
73
3. Bilanz: Die Notwendigkeit eines abstrakten normativen Verfassungsbegriffs ................................................................................
75
III. Elemente eines abstrakten normativen Verfassungsbegriffs ... ............
77
I. Verfassung als Grundentscheidung? ............................................
77
a) Der dezisionistische VerfassungsbegriffCarl Schmitts ..........
77
b) Der notwendige Staatsbezug der Theorie Carl Schmitts ........
78
2. Verfassung als Grundlage einer autonomen Rechtsordnung? ......
80
a) Der notwendige Staatsbezug des Kriteriums der Herrschaftsbegründung ............................................................................
81
b) Autonome Geltung der europäischen Herrschaft? ..................
82
Inhaltsverzeichnis
9
aa) Die Kontroverse zwischen EuGH und BVerfG ............
82
bb) Die Irrelevanz des Merkmals "autonome Geltung" rur den nichtstaatlichen Verfassungsbegriff .......................
85
(I) Keine Herrschaftsbegründung auf europäischer Ebene ...................................................................
85
(2) Kooperation statt Konfrontation ................. ...... ...
86
(3) Zwischenergebnis ................................................
92
3. Normativität als Grundlage des Verfassungsbegriffs ...................
92
a) Die Herrschaftsordnung als Bezugsgegenstand von Verfassungsrecht ....... ................ .............. ....... ..... ....... ................... ...
93
b) Die Möglichkeit einer überstaatlichen Normativität ..............
94
aa) Rechtsunterworfenheit trotz Souveränität der Staaten ..
94
(1) Normativität von Staatenverbindungen ...............
94
(2) Souveränitätsverzicht als Grundlage der rechtlichen Bindung .......................................................
95
bb) Recht und Herrschaft als Anknüpfungspunkte nichtstaatlicher Verfassungsbindung ....................................
97
c) Die Ergänzung der Normativität durch Legitimation ....... ......
99
aa) Legitimation als Verfassungselement ...........................
100
bb) Die Notwendigkeit verschiedener Legitimationsinhalte
102
IV. Ergebnis................................... ...........................................................
104
B. Europa als Verfassungsordnung ...............................................................
106
I. Europa - eine normative Ordnung? ........................ ....... ......................
106
1. Die rechtliche Bindung der Staaten ..............................................
106
a) Eine historische Zäsur durch rechtliche Bindung ...................
107
b) Der gemeinsame Souveränitätsverzicht ........................... .......
109
2. Dauerhaftigkeit und Unumkehrbarkeit der vertraglichen Einigung ..............................................................................................
112
a) Dauerhaftigkeit? .....................................................................
112
b) Unumkehrbarkeit? ..................................................................
113
c) Irrelevanz theoretischer Austrittsmöglichkeiten .....................
114
Inhaltsverzeichnis
10
3. Europa im Spannungsfeld zwischen rechtlicher und politischer Steuerung .. ...................................................................................
115
a) Eine funktionsfähige Herrschaftsordnung? ............................
115
aa) "Plan of government" ...................................................
116
bb)
Umfassender Geltungsanspruch des Herrschaftssystems .............................................................................
117
b) Herrschaft des Rechts oder der Politik? .................................
119
aa) Herrschaft über die Verträge .........................................
119
bb) Herrschaft im Vertragssystem ................ .......................
121
(1) Rechtliche Steuerung im Vertragssystem ............
121
(2) Politische Steuerung im Vertragssystem .............
126
cc) Zwei Grundprinzipien der europäischen Rechtsordnung ..............................................................................
129
c) Gefahren rur die europäische Normativität ............................
129
aa) Aufbrechen der kohärenten Strukturen .........................
130
bb)
Politischer Ausgleich statt rechtlicher Steuerung .........
131
cc) Eingeschränkte Funktion der Judikative .......................
131
d) Bilanz .....................................................................................
133
H. Europa - eine legitimierte Ordnung? ..................................................
136
I. Der Dualismus von Legitimationsträgern als Grundlage des supranationalen Herrschaftsmodells ................................................
136
a) Staaten und Individuen als Elemente der Gemeinschaftsrechtsordnung ............ ......... ............ ..................... ...................
136
b) Staatswerdung durch Einbeziehung der Individuen? .............
140
c) Zwischenergebnis ...................................................................
144
2. Zwei Legitimationsträger - zwei Legitimationskonzepte ..............
145
a) Formelle staatenbezogene Legitimation .................................
145
b) Formelle individuenbezogene Legitimation ...........................
146
III. Problemfelder der supranationalen Verfassung ..................................
147
1. Die gegenseitige Abhängigkeit von Legitimationsverfahren und Entscheidungsstrukturen ..............................................................
147
2. Integration von Staaten und Individuen .......................................
148
Inhaltsverzeichnis
II
C. Stärkung europäischer Normativitlt und Legitimation ..........................
151
I. Grundbedingungen staatenbezogener Legitimation in Europa...........
151
l. Die Erhaltung der Dynamik der europäischen Idee ......................
151
2. Der offene Prozeß .........................................................................
153
3. Die "Spill-over-Technik" .............................................................
154
4. Zwischenergebnis .........................................................................
155
11. Grundbedingungen individuenbezogener Legitimation...... ...... .... ......
156
l. Welches Demokratiekonzept rur Europa? ....................................
158
a) "Organische Einheit" als Grundlage identitätsbezogener Demokratie.............. ...............................................................
158
b) "Staatsvolk" als Grundlage staatsbezogener Demokratie .......
159
c) "Bevölkerung" als Grundlage situationsbezogener Demokratie ......................................................................................
161
d) Der Dualismus als Grundbedingung supranationaler Demokratie ......................................................................................
165
aa) Die Idee der Legitimationsvermittlung über ein Europäisches Parlament ........................................................
165
bb) Die Auffassung des Gerichtshofs zur Vermittlung demokratischer Legitimation über das Parlament .............
167
ce) Die vertragliche Konzeption des Parlaments als Ausdruck des supranationalen Dualismus .... ......... ..............
168
2. Demokratievermittlung ohne Homogenität? .............. ...................
173
a) Die Forderung nach Homogenität als Demokratievoraussetzung ........................................................................................
173
b) Die Anknüpfung an das Homogenitätskriterium im Maastricht-Urteil und im Euro-Beschluß des BVerfD ....................
175
c) Homogenität oder Konsens? ..................................................
178
3. Zwischenergebnis: Der Konsens der Unionsbürger als Grundlage individuenbezogener europäischer Demokratie................ .......
181
III. Vorschläge zur Verbesserung individuenbezogener Legitimation .....
184
1. Die Verstärkung individuenbezogener Integrationsfaktoren ........
184
a) Die inhaltliche Erweiterung der Freiheitsrechte im gegenwärtigen Gemeinschaftsrecht .................................................
184
12
Inhaltsverzeichnis b) Die europaweite Gleichheitsverwirklichung durch das Gemeinschaftsrecht .....................................................................
187
aa) Das Fehlen eines allgemeinen Gleichheitssatzes ..........
188
bb) Gleichheitsdefizite bei der politischen Mitwirkung ......
189
c) Verstärkung europäischer Freiheit und Gleichheit ............ ;....
192
d) Der Vorschlag, eine Kompetenzordnung nach Sachbereichen einzufilhren ............................................................................
196
e) Die vorgeschlagene Verbesserung der europäischen Wertordnung..................................................................................
198
aa) Mangelnde Rechtsverbindlichkeit der Präambeln .........
199
bb) Kein individuenbezogenes Gesamtsystem europäischer Werte ............................................................................
200
cc) Die mangelnde Erfaßbarkeit europäischer Werte ..........
202
2. Die vorgeschlagene Verbesserung von Transparenz und Kommunikation ...................................................................................
203
a) Die Forderung nach Verbesserung der Transparenz ..............
203
b) Die Forderung nach Schaffung von Verbänden und Parteien.
204
c) Die Forderung nach einer Vereinheitlichung des Kommunikationssystems ........................................................................
206
aa) Die mangelnde Einheitlichkeit von Kommunikation und Sprache ..................................................................
206
bb) Erhaltung statt Beseitigung der Sprachenvielfalt ..........
207
3. Zwischenergebnis .........................................................................
210
IV. Die gegenseitige Zuordnung von Staaten und Individuen als Basis europäischen Verfassungsrechts .........................................................
211
I. Normativitätsverlust bzw. Verstaatlichung als Konsequenz einer
jeweils einseitigen Weiterentwicklung Europas ...........................
211
a) Normativitätsverlust durch isolierten Ausbau der staatenbezogenen Legitimationsgrundlagen Europas ...........................
212
b) Verstaatlichung durch isolierten Ausbau der individuenbezogenen Legitimationsgrundlagen Europas ...........................
212
c) Die Unnötigkeit einer Entscheidung in der Finalitätsfrage ....
215
2. Grundlage europäischer Normativität: Dynamik durch Recht ......
215
Inhaltsverzeichnis 3. Grundlage europäischer Legitimation: Die gegenseitige Zuordnung der bei den Legitimationsebenen ............... ..... ......................
D. Neukodifikation oder Vertragsfortschreibung? ......................................
13 216 220
I. Die erneute Verfassungs initiative des Europäischen Parlaments im Vorfeld der Maastricht-II-Verhandlungen ..........................................
220
11. Der Verfassungsentwurf des Institutionellen Ausschusses vom 9.2.1994 ..............................................................................................
222
l. Einbau in den Maastricht-II-Reformprozeß ..................................
223
2. Ziele und Grundsätze der Verfassunggebung ...............................
223
3. Einzelne Reformvorschläge im Entwurf .......................................
225
a) Die von der Union verbürgten Menschenrechte .......... ...........
225
b) Die Zuständigkeiten der Union .. .... .................................... ....
226
c) Die Weiterentwicklung des institutionellen Rahmens ............
227
aa) Mehr Einfluß fiir das Parlament ....................................
227
bb) Der Rat als Regierung der EU .......................................
228
cc) Zurückstufung der Kommission ....................................
229
d) Die Aufgaben der Union ........................................................
230
e) Differenzierte Integration, Beitritt und Inkrafttreten ..............
231
4. Wertung ........................................................................................
232
III. Der "Entwurf eines konsolidierten Vertrages über die Europäische Union" im Auftrag des Europäischen Parlaments ..............................
233
l. Grundzüge und methodischer Ansatz...........................................
234
2. Der Aufbau des Vertragsentwurfs ................................................
235
3. Wertung ........................................................................................
236
IV. Der Entwurf einer einheitlichen und vereinfachten Version der Verträge durch das Europäische Hochschulinstitut ..................................
239
l. Grundzüge und methodischer Ansatz ..... .................... ........ ..........
240
2. Ergebnisse.................... ...... ..... ........................... .... ......................
240
3. Gesamtbewertung .........................................................................
243
V. Der Beitrag des Vertrags von Amsterdam zur Reform des Primärrechts ..................................................................................................
244
14
Inhaltsverzeichnis VI. Schlußfolgerungen......... .............................. ................ ....... .... ...........
250
Zusammenfassung ................................................................................................
255
Literaturverzeichnis .............................................................................................
259
Sachverzeichnis ....................................................................................................
279
Abkünungsveneichnis a.A.
anderer Ansicht
a.a.O.
am angegebenen Ort
AbI.
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
Abs.
Absatz
a.E.
am Ende
a.F.
alte Fassung
AmstV
Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte vom 2.10.1997
anno
annotation
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
Art.
Artikel
aRV
Verfassung des Deutschen Reichs vom 16.4.1871
BAG
Bundesarbeitsgericht
BayrVerf
Verfassung des Freistaates Bayern vom 2.12.1946
BayVBI.
Bayerische Verwaltungsblätter
BB
Der Betriebs-Berater
BelgVerf
Koordinierte Verfassung Belgiens vom 17.2.1994
BGBI.
Bundesgesetzblatt
BR-DR
Bundesrats-Drucksachen
Bull.EG
Bulletin der Europäischen Gemeinschaften
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
bzw.
beziehungsweise
CDU
Christlich Demokratische Union
CMLR
Common Market Law Review
16
Abkürzungsverzeichnis
CSU
Christlich Soziale Union in Bayern
DänVerf
Verfassung des Königreichs Dänemark vom 5.6.1953
DDR
Deutsche Demokratische Republik
ders.
derselbe
Diss.
Dissertation
DJT
Deutscher Juristentag
DöV
Die öffentliche Verwaltung
DVBI.
Deutsches Verwaltungsblatt
ebd.
ebenda
EEA
Einheitliche Europäische Akte vom 28.2.1986
EG
Europäische Gemeinschaft
EGKS
Europäische Gemeinschaft rur Kohle und Stahl
EGKSV
Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft rur Kohle und Stahl vom 18.4.1951
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25.3.1957
EMRK
Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950
EP
Europäisches Parlament
EU
Europäische Union
EuGH
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
EUI
European University Institute, Florenz
EuR
Europarecht
EuratomV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25.3.1957
EUV
Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992
EVG
Europäische Verteidigungsgemeinschaft
EVP
Europäische Volkspartei
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25.3.1957
Abkürzungsverzeichnis
17
EWR
Europäischer Wirtschaftsraum
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FinVerf
Finnische Regierungsform vom 17.7.1919
Fn
Fußnote
FranzVerf
Verfassung der Republik Frankreich vom 4.10.1958
FS
Festschrift
GG
Grundgesetz rur die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949
ggf.
gegebenenfalls
GriechVerf
Verfassung der Republik Griechenland vom 9.6.1975
GS
Gedenkschrift
GZT
Gemeinsamer Zolltarif
Herv. d. V.
Hevorhebung des Verfassers
Hrsg.
Herausgeber
hrsg. von
herausgegeben von
HStR
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland
ICJ-Rep.
International Court of lustice: Reports of Judgements, Advisory Opinions and Orders / Cour Internationale de Justice: Receuil des Arrets, Avis Consultatifs et Ordonnances
IGH
Internationaler Gerichtshof
IrlVerf
Verfassung der Republik Irland vom 26.11.1992
i.S.d.
im Sinne des
ItalVerf
Verfassung der Republik Italien vom 27.12.1947
i.V.m.
in Verbindung mit
JöRNF
Jahrbuch des öffentlichen Rechts - Neue Folge
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
KAS
Konrad-Adenauer-Stiftung
KonsVE
Entwurf eines konsolidierten Vertrages über die Europäische Union
KritV
Kritische Vierteljahresschrift rur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft
2 Honel
Abkürzungsverzeichnis
18 LS
Leitsatz
LuxVerf
Verfassung des Großherzogtums Luxemburg vom 17.10.1868
n.F.
neue Fassung
NJ
Neue Justiz
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NLVerf
Verfassung des Königreiches der Niederlande vom 17.2.1983
NSdAP
Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei
NYU
New York University
NZZ
Neue Züricher Zeitung
m.a.W
mit anderen Worten
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
ÖsterrVerf
Bundesverfassungs-Gesetz 10.11.1920
PE
Parlement Europ~en
PortVerf
Verfassung der Republik Portugal vom 2.4.1976
RabelsZ
Rabels Zeitung für ausländisches und internationales Privatrecht
Rec.
Receuil de la Jurisprudence de la Cour et du Tribunal de premiere instance
RGBI.
Reichsgesetzblatt
RL
Richtlinie
Rn
Randnote
Rs.
Rechtssache
RSC
Robert-Schuman-Center des Europäischen Hochschulinstituts, Florenz
S.
Seite
SchwedVerf
Verfassung des Königreiches Schweden vom 1.1.1975
S. Ct.
Supreme Court
SED
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
Sgl.
Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz
SowjetVerf 1918
Verfassung der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (1918)
der
Republik
Österreich
vom
Abkürzungsverzeichnis
19
Sp.
Spalte
SpanVerf
Verfassung des Königreiches Spanien vom 29.12.1978
SPE
Sozialdemokratische Partei Europas
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
UA
Unterabsatz
UdSSR
Union der sozialistischen Sowjetrepubliken
UN
Vereinte Nationen
UN-Charta
Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945
UNO
United Nations Organization
U.S.
U.S. Reports
USA
Vereinigte Staaten von Amerika
US-Verfassung
Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 17.9.1787
VE 1994
Entwurf einer Verfassung der Europäischen Union vom 9.2.1994, Institutioneller Ausschuß des Europäischen Parlaments
vgl.
vergleiche
VO
Verordnung
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WiSt
Wirtschaftswissenschaftliches Studium
WRV
Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8.1919
WVRK
Wien er Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969
ZaöRV
Zeitschrift rur ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
ZIP
Zeitschrift rur Wirtschaftsrecht (vormals Zeitschrift rur Insolvenzpraxis)
ZRP
Zeitschrift rur Rechtspolitik
Einführung: Die Forderung nach einer Verfassunggebung für Europa 1. Die Idee europäischer Einigungs- und Friedenspläne läßt sich in Ansätzen bis in das 14. Jahrhundert zurückverfolgen, als sich das mittelalterliche Weltbild mit seinen eher dynastischen Einheitsvorstellungen aufzulösen begann 1. Diese frühen Vorschläge zielten jedoch meist auf staatenbündische Konzepte2 • Erst ab dem 19. Jahrhundert kam es vermehrt zur Forderung nach einer föderalen Staatenunion als Gegenmodell zu einem Europa der Nationalstaaten. Solchen föderalen Projekten lag dabei oft die Idee einer "europäischen Verfassung" als Grundlage überstaatlicher Bindung der Nationalstaaten zugrunde; so verlangten etwa Claude Henri de Saint-Simon und Augustin Thierry 1815, anläßlich des Wiener Kongresses: "Jede Vereinigung der Völker bedarf, wie jede Vereinigung von Menschen, gemeinschaftliche Anstalten, bedarf einer Gliederung; sonst wird Alles durch die Gewalt entschieden. Wollen, daß Europa durch Verträge und Kongresse im FriedensZustande sey, heißt wollen, daß ein gesellschaftlicher Körper durch Konventionen und Vergleiche bestehe; ... Europa (würde) die bestmögliche Verfassung haben ... , wenn alle Nationen, die es in sich faßt, jede von einem Parlament regieret würden, und wenn diese die Obergewalt eines allgemeinen Parlaments anerkennten, welches Ober alle National-Regierun:ren gestellt, und mit der Macht versehen wäre, ihre Streitigkeiten zu schlichten."
Auf dem Wiener Kongreß kam es freilich nicht zur Verwirklichung dieser Einheitsprojekte, sondern zur Wiederherstellung und Stärkung der Nationalstaaten. Die Idee "Vereinigter Staaten von Europa,,4 blieb Utopie. Erst 140 Jah1 So Capotorti / Hilf / Jacobs / Jacque: Der Vertrag zur GrUndung der Europäischen Union, 1986, S. 17; vgl. hierzu Foerster: Europa, Geschichte einer politischen IdeeMit einer Bibliographie von 182 Einigungsplänen aus den Jahren 1306 bis 1945, 1967. 2 Dies gilt insbesondere rur die bekanntesten Einigungspläne von AbM de Saint Pierre (Memoire pour rendre la paix perpetuelle en Europe, 1713) und Immanuel Kant (Zum ewigen Frieden, 1795). 3 Claude Henri de Saint-Simon und Augustin Thierry: Von dem Wiederaufbau der europäischen Staaten-Gesellschaft, 1815, nachgewiesen bei Lützeler: Europa - Analysen und Visionen der Romantiker, 1982, S. 283 (286/292). 4 Die Forderung nach "Vereinigten Staaten von Europa" wurde während des 19. Jahrh,underts immer wieder von der "Ligue Internationale Permanente de la Paix" und ihrem Präsidenten Charles Lemonniers erhoben (dargestellt von Wehberg: Ideen und Projekte betr. die Vereinigten Staaten von Europa in den letzten 100 Jahren (1941), 1984, S. 24 ff.). Die 1923 in Wien von Coudenhove-Kalergi gegrUndete Pan-euro-
22
Einführung
re später, nach der Erfahrung verheerender Weltkriege und der Gefahr eines Verfalls Europas in die Bedeutungslosigkeit, hatte die Vision einer rechtlich gesicherten europäischen Einigung wieder eine Chance. Heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, ist sie als vielleicht letztes politisches Ideal übriggeblieben. Die Forderung, Europa eine Verfassung zu geben, ist Teil der "Europäischen Idee"; immer wieder hat es Vorschläge filr eine "verfassungsartige" Systematisierung und Festschreibung des zugrundeliegenden Primärrechts gegeben; seit 1945 lassen sich drei Hauptphasen europäischer Verfassungsinitiativen feststellen: zunächst zu Beginn der europäischen Einigung in den frühen filnfziger Jahrens, eine zweite Phase ab Mitte der siebziger Jahre, angesichts der nach dem Beitritt Großbritanniens, Dänemarks und Irlands drohenden Stagnation6 und, drittens, die erneuten Initiativen im Vorfeld des Maastrichter EU-Vertrags sowie während der Regierungskonferenz 1996/19977 • Insbesondere das Euro-
päische Bewegung übte ebenfalls auf die Politik der zwanziger Jahre und auf die Wiedergeburt der Europäischen Bewegung nach 1945 Einfluß aus. 5 Zu nennen sind insbesondere der Verfassungsentwurf der Ad-hoc-Kornrnission vom 10.3.1953 (abgedruckt bei SchwarzelBieber (Hrsg.): Eine Verfassung für Europa, 1984, S.397), nach dem Scheitern der EVG der französische Fouchet-Plan vom 15.3.1962 und der Gegenentwurf der Delegationen der fünf anderen Mitgliedstaaten (synoptisch abgedruckt bei SchwarzelBieber (Hrsg.): Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 435). 6 Über den Kornrnissionsbericht vom 26.6.1975 (BulI. EG, Beilage 5/1975) und den Tindemanns-Bericht vom 29.12.1975 (BulI. EG, Beilage 1/1976) kam es am 14.2.1984 zu einer engagierten Verfassungsinitiative des Europäischen Parlaments (der nach seinem Initiator benannte Spinelli-Entwurf). Etwa zeitgleich (am 26.9.1983) schlug die EVP-Fraktion des Europäischen Parlaments einen Alternativentwurf vor. Wenngleich sich diese Entwürfe nicht durchsetzen konnten, beeinflußten sie jedoch die pragmatischere Initiative der Außenminister Genscher und Colombo zur Weiterentwicklung des Primärrechts, welche letztlich zur Verabschiedung der EEA führte. 7 Von 1989 bis 1994 setzte sich der Institutionelle Ausschuß des Parlaments mit der erneuten Initiative zu einer europäischen Verfassung auseinander; es kam zu mehreren Entschließungen des Plenums des Europäischen Parlaments: Entschließungen vom 12.4.1989 (AbI. C 1989/120, S.51), 11.7.1990 (AbI. C 1990/231, S. 91), 22.11.l990 (AbI. C 1990/324, S. 219) und 12.12.1990 (AbI. C 1991119, S. 65). Schließlich arbeitete der Institutionelle Ausschuß einen vollständigen Verfassungsentwurf aus und legte ihn am 10.2.1994 dem Plenum des Parlaments vor (BR-DR 182/94). Die in Art. N [48] Absatz 2 EUV vorgesehene "VertragsüberprUfungskonferenz" 1996 gab erneut Anlaß, Initiativen zur Bereinigung des europäischen Primärrechts vorzuschlagen. In diesem Zusammenhang stehen insbesondere die Vorschläge der "Europäischen Strukturkornrnission" unter Werner Weidenfeld (Europa '96 - Reformprogramm für die Europäische Union, in ders.: Reform der Europäischen Union, 1995, S. 11), das sogenannte Schäuble I Lamers-Papier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (teilweiser Abdruck in FAZ vom 8.9.1994) und der integrationskritische Vorschlag der "European Constitutional Group", eine Arbeitsgemeinschaft europäischer Wirtschaftsprofessoren (FAZ vom 28.8.1993, S. 11; NZZ vom 4.15.6.1994, S. 29). Das Europäische Parlament setzte sich in einer Entschließung vom 17.5.1995 nochmals mit der Frage einer Reform der Verträge im Rahmen der Regierungskonferenz auseinander (EuGRZ 1995, S.323). Eine Arbeitsgruppe des Generalsekretariats des Europäischen Parlaments (Task-force "Regierungs-
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päische Parlament versuchte mehrfach durch ausgearbeitete Vorschläge einen Prozeß europäischer Verfassunggebung in Gang zu setzen. Doch sahen sich auch andere europäische Institutionen, politische Entscheidungsträger der Mitgliedstaaten, unabhängige Gruppen und selbst PrivatleuteB zu Verfassungsentwürfen aufgerufen. Dies zeigt, daß es sich bei dieser Frage um mehr handelt, als um ein akademisches "Glasperlenspiei" oder den verzweifelten Versuch eines einfluß losen Parlaments, nennenswerte Zuständigkeiten zu erlangen9 . Ein Ende der "unendlichen Geschichte" europäischer Verfassungsinitiativen ist daher nicht abzusehen. 2. Den dargestellten Verfassungsinitiativen lag meist die Auffassung zugrunde, die bisherige vertragliche Grundlage der europäischen Einigung sei mangelhaft oder dem Stand der Integration nicht mehr angemessen. Oft vermischen sich daher die Forderungen nach europäischer Verfassunggebung mit inhaltlichen Reformansätzen; es wird erhoffi:, über Verfassunggebung politischfunktionale Mängel des Primärrechts ausgleichen zu können. So wie im 19. Jahrhundert die Idee der staatlichen Verfassungsordnung mit der Forderung nach Herstellung eines bürgerlichen Rechtsstaats vermengt wurde 10, werden auch europäische Verfassungsinitiativen mit der Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der europäischen Ordnung begründet: Mit europäischer Verfassunggebung soll der tiefen Akzeptanzkrise der Union begegnet werden, denn nur im Wege einer grundlegenden Reform der europäischen Verträge könnten die strukturellen Defizite der europäischen Ordnung beseitigt werden. Bereits die Anzahl der Gemeinschaftsverträge, noch mehr aber deren redaktionelle Verschachtelung und terminologische Konfusion in der Benennung der Europäischen Organe lälune den Umgang mit dem Gemein-
konferenz") erstellte einen "Entwurf eines konsolidierten Vertrages über die Europäische Union", mit dem die verschiedenen vertraglichen Grundlagen des bisherigen Primärrechts zu einem einheitlichen und vereinfachten Dokument zusammengefaßt werden sollen (EP Arbeitsdokumente W-17/rev.). Eine ähnliche redaktionelle Vereinheitlichung des geltenden Primärrechts legte am 21.9.1996 - ebenfalls im Auftrag des Europäischen Parlaments (Appel d'oft're No. IV/95/59 vom 7.9.1995) - das Robert-Schuman-Center des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz vor (EUIIRSC: Rapport pour le Parlement europeen). 8 Neben den dargestellten Vorschlägen etwa die Initiativen von Cromme (Verfassungsvertrag der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten - Ein realistischer Entwurf, 1987) und Koch (Das Ende des Selbstbetrugs: Europa braucht eine Verfassung, 1997). 9 So aber Möschel: Europäische Integration am Wendepunkt? Perspektiven nach Maastricht, WiSt 1994, S. 123 (129). 10 Wie Carl Schmitt darstellt, war der Verfassungsbegriff stets ein "Kampfbegriff"; nur eine den jeweiligen politischen Forderungen entsprechende Verfassung wurde als "wahre Verfassung" anerkannt (Verfassungslehre (1928), 1993, S. 36-41 und 43).
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schaftsrechtli. Insbesondere im EUV sei eine "fast perverse Zersplitterung,,12 des Primärrechts festzustellen. Noch problematischer sei die Inhomogenität aus gemeinschaftsrechtlichen und intergouvernementalen Formen der Zusammenarbeit und der teilweise abgestuften Teilnahme der Mitgliedstaaten an einzelnen Politiken, sowie die unterschiedlichen Beteiligungsformen des Europäischen Parlaments. Diese diffuse Kompetenzstruktur verhindere eine präzise Trennung von gemeinschaftlichen und mitgliedstaatlichen Aufgaben 13 . Reformbedarf sei darUberhinaus gegeben, da die Organisations- und Entscheidungsprozesse fi1r eine "Gemeinschaft der 6" und nicht fi1r eine "Union der 15,20 oder 24" konzipiert seien l4 . Der institutionelle Umbau der Union sei daher das Kemproblem bei der Frage, ob eine Vertiefung der Gemeinschaft trotz künftiger Erweiterungen überhaupt gelingen kann IS. Dieser Umbau könne jedoch nur im Rahmen einer grundlegenden Verfassungsreform verwirklicht werden. Die EU bedürfe der Modemisierung mit den Zielen einer transparenten und effizienten Struktur sowie einer klaren Führungsfunktion l6. Trotz einiger Reformansätze im EUV sei nämlich die Auseinandersetzung mit dem politischen Prozeß in Europa fi1r den Bürger nach wie vor nur sehr beschränkt möglich. Dies filhre zu Unverständnis, Kritik und letztlich zu Loyalitätsverlust l7 . Die Verfahren seien langwierig und in einzelnen Bereichen zum Teil ohne Einblicksmöglichkeit fi1r die Öffentlichkeit lB . Insbesondere das Verfahren der Ko11 So heißt es in der Begrllndung des Verfassungsentwurf des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments von 1994: "Die Komplexität der Gemeinschaftsverfahren, das Durcheinander der Befugnisse und Verantwortlichkeiten, die Undurchsichtigkeiten des Gemeinschaftsrechts, die Unverständlichkeit des Vertragstextes, nichts hat dazu beigetragen, die Unterstützung der Bevölkerung rur das Unternehmen Europa zu fördern." (Europäisches Parlament - Institutioneller Ausschuß - Arbeitsdokument über die Verfassung der Europäischen Union, PE 203.601/8, S. 5); ähnlich Hilf Eine Verfassung rur die Europäische Union, Integration 1994, S. 68 (69); Berend: Statement zu einer europäischen Verfassung, 1996, S. 41 (41). 12 Hilf Die Richtlinie der EG - ohne Richtung, ohne Linie?, EuR 1993, S. 1 (19). 13 von Bogdandy: Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, 1993, S.97 (121); Katsigiannis/Piepenschneider: Verfassung der Europäischen Union, 1994, S. 13. 14 CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Überlegungen zur europäischen Politik, 1.9.1994, FAZ vom 8.9.1994. 15 Klaus Hänsch zitiert in FAZ vom 5.5.1994, S. 6. 16 So Weidenfeld: Innere Herausforderungen rur die Europäische Union, FS Everling 1995, S. 1641 (1645). 11 Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität, 1992, S. 632 (645); Katsigiannis / Piepenschneider: Verfassung der Europäischen Union, 1994, S. 14. 18 von Bogdandy: Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, 1993, S. 97 (121).
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mitologie l9 sei ein "Phänomen, das seine ureigene Wissenschaft erfordere und das bisher noch keine Einzelperson gemeistert" habe20• Transparenz und Demokratie seien im Vergleich zum greifbareren Geschehen auf nationaler Ebene evidentermaßen unterentwickelf l . Der Rechts- und Grundrechtsschutz sei außerdem fUr den Bürger mangels schriftlicher Verankerung kaum erfaßb~. Nur ein greifbarer Verfassungstext, in dem die europäischen Ziele und Verfahren so übersichtlich wie möglich dargestellt werden, könne die wesentlichen Elemente der EU fUr den Bürger nachvollziehbar machen23 • Schließlich wird die Notwendigkeit einer europäischen Verfassung mit grundsätzlichen Reformüberlegungen verbunden: Die Idee einer reinen "Marktgemeinschaft" sei spätestens mit dem Maastrichter Vertrag und dem Wandel in Osteuropa am Ende 24 • Nötig sei nun eine "Rückpolitisierung"; hierfUr sei eine Verfassung als Grundlage der zu schaffenden politischen Ordnung einer übernationalen politischen Gesellschaft unabdingb~S, denn nur über eineVerfassung, nicht aber über das "Marktmodell" könne eine politische Gesellschaft der Europäer heranwachsen26 • Solange sich die beteiligten Akteure nicht mit den spezifischen Aufgaben und Funktionen einer Unionsverfassung auseinandersetzen, könne die europäische Integration zu keinem auch fUr den Bürger greifbaren Ergebnis fiihren 27• Zumindest aus kontinentaleuropäischer Sicht benötige Europa daher als identitätsstiftende Basis einen "europäischen Verfassungspatriotismus" (Habermas 28 ) und eine geschriebene Verfassung. 3. Das der Debatte um die Notwendigkeite einer europäischen Verfassung zugrunde liegende Rechtsproblem wird von Werner von Simson veranschaulicht: "Die Europäische Gemeinschaft gleicht allmählich einem Wanderer, der sich in den Bergen verstiegen hat. Sie hat eine Gestalt gewonnen, in der sie einer Verfassung bedarf. Es fehlen ihr aber einige notwendige Voraussetzungen filr eine solche Verfassung. Sie ist in ihrem verfassungsrechtlichen Zustand auf Höhen angelangt, in denen 19 Vgl. den Komitologie-Beschluß des Rates vom 13.7.1987; schaubildartige Darstellung der verschiedenen Komitologieverfahren bei Streinz: Europarecht, 1996, Rn 462. 20 So Weiler: Der Staat "über alles", JöR NF 44 (1996), S. 91 (108). 21 Dargestellt von KatSigiannis / Piepenschneider: Verfassung der Europäischen Union, 1994, S. 12/13. 22 Hilf. Eine Verfassung filr die Europäische Union, Integration 1994, S. 68 (69). 23 Berend: Statement zu einer europäischen Verfassung, 1996, S. 41 (41); Sälzer: Die politische Union wird Wirklichkeit, KAS Auslandsinformationen 1/1994, S. 133 (143). 24 So auch Kluth: Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S.102. 2S Koch: Das Ende des Selbstbetrugs: Europa braucht eine Verfassung, 1997, S. 193. 26 Ähnlich Koch: ebd., S. 13 und 195. 27 Ähnlich Kluth: ebd., S. 102. 28 Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität, 1992, S. 632 (651).
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Einfiihrung es kein weiteres Vorwärtskommen, in denen es aber auch kein Zurück zu geben scheint. ,,29
Im Kern der Arbeit steht daher die Frage nach der Leistungsfiihigkeit von europäischer Verfassunggebung zur Weiterentwicklung der europäischen Einigung. Mit der Problematik, einen bislang hauptsächlich auf den Staat bezogenen Rechtsbegriff auf ein völkerrechtliches bzw. gemeinschaftsrechtliches Modell zu übertragen, ist bereits ein Schwerpunkt der Untersuchung vorgegeben. Zu fragen ist, in weIchem Rahmen die an der Verfassungsentwicklung im Nationalstaat erarbeiteten Prinzipien überhaupt auf den europäischen Kontext übertragbar sind, denn Verfassunggebung filr Europa kann nicht das gleiche sein wie Verfassunggebung im Nationalstaat. Grundlegend ist deshalb zu analysieren, weIchen spezifischen Bedingungen europäische Verfassunggebung unterworfen ist und welche inhaltlichen Vorstellungen dem Verfassungsbegriff zugrundeliegen: Ist dieser nur auf Staaten bezogen oder läßt sich ein spezifisch europäisches Verfassungsmodell erarbeiten? Thema dieser Arbeit ist nicht der Ausbau von nationalem "Europaverfassungsrecht" oder die Analyse der Europaoffenheit der verschiedenen nationalen Verfassungsordnungen. Die Arbeit verfolgt insbesondere nicht das Ziel, die mitgliedstaatIichen Verfassungen rechtsvergleichend zu untersuchen und über die Rezeption bestehender Verfassungsentwicklungen in den Mitgliedstaaten ein "gemeinsames europäisches Verfassungsrecht" oder "gemeineuropäisches Verfassungsrecht" (Häberle30 ) herauszuarbeiten. Gegenstand der Untersuchung ist somit nicht die Entwicklung von "Verfassungsrecht in Europa" oder die "Verfaßtheit der Gemeinschaft europäischer Staaten,,31, sondern die rechtliche Analyse des Versuchs, Europa durch einen Akt der Verfassungsschöpfung einen Verfassungsrahmen zu geben. Dabei ist die Fragestellung ausdrücklich nicht auf Vorbilder aus der Geschichte der Nationalstaaten verengt. 4. Zunächst ist (A.) zu klären, welche Verfassungskategorien einem Versuch, das Primärrecht zu ordnen, zugrundezulegen sind. Auf die historische Entwicklung und die verschiedenen Bedeutungsinhalte des Verfassungsbegriffs soll eingegangen werden, um herauszuarbeiten, auf welche der unterschiedlichen historischen und systematischen Erfahrungen bei einer Verfassunggebung filr Europa zurückgegriffen werden kann. Daran anschließend (B.) soll der gegenwär29 von Simson: Wachstumsprobleme einer europäischen Verfassung, FS Kutscher, 1981, S. 481 (481). 30 Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261; Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe - der Ausbau von nationalem "Euro paverfassungsrecht", FS Everling 1995, S. 355. 31 Diese Fragestellung liegt der Arbeit A. Schmitt G/aesers zugrunde (Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, 1996, vgl. insbes. S. 19/20).
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tige Zustand des Primärrechts als "Verfassung" untersucht werden; zu analysieren ist insbesondere, ob einer solchen Qualifikation des Primärrechts strukturelle Defizite entgegenstehen. Ausgehend von dieser Bestandsaufuahme können (C.) die Aufgabenfelder europäischer Verfassunggebung entwickelt werden, um aufzuzeigen, welchen Beitrag europäische Verfassunggebung filr eine Weiterentwicklung des Primärrechts leisten kann. Dabei ist vor allem von Bedeutung, welche Bedingungen eine Weiterentwicklung der rechtlichen Grundlagen Europas berücksichtigen muß. Abschließend (D.) werden einige ausgewählte Vorschläge zur Reform des europäischen Primärrechts und zur Idee einer europäischen Verfassunggebung untersucht, die seit Inkrafttreten des EUV entworfen wurden.
A. Welcher Verfassungsbegriff f"ür das europäische Primärrecht? Der Begriff der Verfassung bzw. der Konstitution l gehört zu den ältesten Themen der Rechtswissenschaft. Seit der Antike ist er Gegenstand rechtsphilosophischer und staatsrechtlicher Erörterungen und gilt noch heute als eine der "härtesten Nüsse der Rechtswissenschaft',2. Erst recht bereitet es Schwierigkeiten, einen europäischen Verfassungsbegriff herauszuarbeiten. Europa verfUgt zwar mit den europäischen Verträgen3 bereits über geschriebene Ordnungen, fraglich ist aber, ob diese den spezifischen Anforderungen an eine Verfassung gerecht werden. Umstritten ist daher, ob nicht schon eine europäische Verfassung bzw. ein europäisches Verfassungsrecht existiert. Dieler Grimm stellt pointiert dar: "Einerseits werden die völkerrechtlichen Verträge, auf denen die Existenz der Union beruht, immer selbstverständlicher als ihre Verfassung bezeichnet. Andererseits wird die vertragliche Grundlage in wachsendem Maß als unzureichend empfunden und das Fehlen einer europäischen Verfassung beklagt. Indessen kann nicht beides gleichzeitig stimmen. Entweder ist die Verfassung in Gestalt der Verträge schon vorhanden oder diese erftlllen gerade nicht die Anforderungen, die an eine Verfassung gestellt werden ...4
1 Die Begriffe sind weitgehend synonym (Mohnhaupt: Verfassung I - Konstitution, Status, Leges fundamentales von der Antike bis zur Aufklärung, 1995, S. 1). 2 Erstmals Kastari: Über die Normativität und den hierarchischen Vorrang von Verfassungen, FS Leibholz 1966, Band 2, S. 49; ebenso Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 1984, § 3 11 I, S. 70. J Zum Primärrecht gehören neben den Gründungs- und Änderungsverträgen (EGV, EGKS-Vertrag, Euratom-Vertrag, EEA, EU-Vertrag) einschließlich der jeweiligen Vertragsannexe auch einige sonstige Abkommen von fundamentaler Bedeutung: u.a. Abkommen über gemeinsame Organe rur die Europäischen Gemeinschaften vom 25.3.1957; Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 8.4.1965; Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8.4.1965; Protokoll über die Satzung des Gerichtshofs der· Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 17.4.1957; Vertrag zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Fusionsvertrags vom 22.4.1970; bei Drucklegung der Arbeit noch nicht in Kraft getreten war der Vertrag von Arnsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte (AbI. C 19971340, S. 1= BRIDR 784/97). 4 Grimm: Braucht Europa eine Verfassung?, 1994, S. 11.
I. Der Verfassungs begriff in seinen verschiedenen Inhalten
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Grimm spricht hier das Grundproblem in der Auseinandersetzung um "europäisches Verfassungsrecht" an. In Europa fmden sich je nach Diskursmilieu unterschiedliche Prämissen, so daß die Voraussetzung der Beantwortung von Notwendigkeit, Chancen und Risiko europäischer Verfassunggebung fehlt: die Klärung der Begrifflichkeit und die Herausarbeitung der normativ-dogmatischen Grundlagen einer Verfassunggebung. Erst nach einer KlarsteIlung des zugrundeliegenden Verfassungsbegr@ kann die Frage beantwortet werden, ob es einer Verfassunggebung bedarf, welche Verfassungs funktionen und Verfassungsinhalte zu berücksichtigen sind und welcher Beitrag insgesamt durch "Verfassunggebung" fUr die europäische Integration geleistet werden kann.
I. Der Verfassungs begriff in seinen verschiedenen Inhalten - eine begriffliche Entwicklung Unter das Bedeutungsfeld des Begriffs "Verfassung" lassen sich verschiedene Inhalte fassen. Einmal beschreibt "Verfassung" Zustand und Funktionieren. In diesem medizinisch-organologischen5 Sinn hat jedes Gemeinwesen schon durch seine Existenz eine Verfassung6 • Ein solches Verständnis wird auch in Bezeichnungen wie "Gerichtsverfassung" oder "Finanzverfassung" deutlich. Hingegen hat der Verfassungsbegriff als rechtliche Grundlage des modemen Staats normativen Anspruch. Herauszuarbeiten ist, welche Erkenntnisse aus der historischen Entwicklung des normativen Staatsverfasssungsbegriffs auf die Frage europäischen Verfassungsrechts übertragen werden können. 1. Der deskriptive Verfassungsbegriff7 a) Die Entwicklung zum heutigen Verfassungsverständnis beginnt in der antiken Staatstheorie8 . Der von Aristoteles gebrauchte Ausdruck ,,1tOAL'tEL