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German Pages 357 Year 2002
HANS-MARTIN HÄNSCH
Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Erlangen-Nümberg durch die Professoren Dr. Wolfgang Blomeyer (t) und Dr. Kar! Albrecht Schachtschneider
Band 20
Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip Die gesamtwirtschaftliche Stabilität der deutschen Wirtschaftsverfassung und die Europäische Währungsunion
Von Hans-Martin Hänsch
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Hänsch, Hans·Martin: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip : die gesamtwirtschaftliche Stabilität der deutschen Wirtschaftsverfassung und die Europäische Währungsunion I Hans-Martin Hänsch. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Beiträge zum europäischen Wirtschaftsrecht ; Bd. 20) Zug!.: Erlangen, Nümberg, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10616-4
n2
Alle Rechte vorbehalten
© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0947-2452 ISBN 3-428-10616-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Vorwort Die Vollendung der Europäischen Währungsunion hebt den lntegrationsprozeß in Europa auf eine neue Stufe. Die Frage der gesamtwirtschaftlichen Stabilität, die unter staats- und europarechtlicher wie unter ökonomischer Betrachtung im Mittelpunkt dieser Schrift steht, ist entscheidend filr die Zukunft nicht nur der Währungsunion, sondern der gesamten Europäischen Union auch im Hinblick auf die künftige Integration weiterer Staaten Europas. Die Arbeit wurde von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität im Mai 200 I als Dissertation anerkannt. Der Literaturstand konnte bis Winter 2000 berücksichtigt werden. Professor Dr. Karl Albrecht Schachtschneider inspirierte mich mit seinen gelegentlich unkonventionellen und sehr konsequent, mit wenig Zurückhaltung geäußerten Positionen zur interdisziplinären wissenschaftlichen Arbeit. Herzlichen Dank fUr die Begleitung der Promotion und die Lehre mutiger kritischer Sichtweisel Professor Dr. Wolfgang Harbrecht danke ich ftlr die Erstellung des Zweitgutachtens vor allem unter ökonomischen Blickwinkeln. Der Aufnahme in die hiesige Schriftenreihe beim Verlag Duncker & Humblot haben Professor Dr. Wolfgang Blomeyer und Professor Dr. Norbert Sirnon zugestimmt. Daneben haben verschiedene Menschen ihren wichtigen Beitrag zum Gelingen der Arbeit geleistet: Nicht vergessen möchte ich hier das Lehrstuhlteam; insbesondere Frau Else Hirschmann war immer wieder verläßliche Ansprechpartnerin in jederlei Hinsicht. Größte "Mitschuld" trägt aber sicherlich mein direktes Umfeld: Enge Freunde, die - teils in gleicher Situation befindlich - die ständige Präsenz des Themas über Jahre hinweg akzeptierten und zum Teil auch die Mühe des Korrekturlesens auf sich nahmen. Meine Freundin und jetzige Ehefrau Tanja, die mit mir vor allem die permanente Belastung eines solchen Projekts teilte. Meine Eltern, die mich in der Entscheidung fUr die Promotion unterstützten, immer mit viel freundschaftlichem Verständnis zur Seite standen und gelegentlich auf die richtigen Prioritäten hinwiesen. Lieben Dank! Nürnberg, im Mai 2002
Hans-Martin Hänsch
Inhaltsübersicht
Erster Teil
Einführung und Überblick
27
Zweiter Teil
Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primär relevante Stabilitätsdimension für die Europäische Währungsunion
38
Dritter Teil
Gesamtwirtschaftliebe Stabilität als abgeleitetes Verfassungsprinzip 61 und positives Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland Vierter Teil
Auslegung des Verfassungsprinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität: Das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als Bestimmungsgröße 138 Fünfter Teil
Stabilität als Vertragsprinzip für die Europäische Wirtschaftsund Währungsunion: Die "Stabilitätsgemeinschaft" 205 Sechster Teil
Resümee und Ausblick
310
Zusammenfassung
315
Literaturverzeichnis
320
Stichwortverzeichnis
353
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil
Einführung und Überblick
27
Erstes Kapitel
Europlisehe Währungsunion und Stabilitlt - Hinführung I.
II. III. IV.
27
Der Status Quo der Währungsunion................................................................... 27 Währung und Geld der Bürger ........................................................................... 30 Die Diskussion um die Währungsunion in Deutschland .....................:.............. 31 Weiterfilhrung der Diskussion mit Fokus auf den dominanten Aspekt der "Stabilität" - der Begriff "Stabilität" in der Währungsunionsdebatte ................ 32 Zweites Kapitel
Überblick I.
II. 111. IV.
34
Zum Zweiten Teil .............................................................................................. 34 Zum Dritten Teil ................................................................................................ 35 Zum Vierten Teil ............................................................................................... 35 Zum Fünften und Sechsten Teil ......................................................................... 37 Zweiter Teil
Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primär relevante Stabilitätsdimension für die Europäische Währungsunion
38
Erstes Kapitel
"Stabilität" - Allgemeines Begriffsverständnis I.
38
Allgemeine Stabilitäts-Assoziationen und Stabilität in verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft ............................................................................. 38
10 II.
Inhaltsverzeichnis Doppelte Funktionalität im allgemeinen Begriffsverständnis - Abstrakte Stabilität als (dynamische) Eigenschaft oder (statische) Referenzsituation ....... 39 1. Stabilität als Eigenschaft und als möglicher Gegenstand im Fachkontext ................................................................................................. 40
2. Absolute oder relative materiale Stabilität- Abhängigkeit vom Zuordnungsobjekt ........................................................................................ 40 3. Stabilität als positiv bewertete Zielkonstellation ........................................ .41 Zweites Kapitel
Stabilität in der Wirtschaftswissenschaft
42
I.
Stabilität als Eigenschaft des Gleichgewichts in der Gleichgewichtstheorie..... .42
II.
Gleichgewicht im modellfunktionalen Verständnis und mit Referenzfunktion- Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht ............................. .42
III.
"Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" und "Stabilität" der Gesamtwirtschaft im Kontext der Stabilitätspolitik ........................................... 43
IV.
Gesamtwirtschaftliche Stabilität als mehrdimensionaler Zielkanon ...................45 Drittes Kapitel
Stabilität im Gemeinwesen
46
I.
Assoziationen von Staat und Stabilität- Dominanz der "politischen Stabilität" ........................................................................................................... 46
II.
Stabilität im Staat ("Staatsstabilität") als bewertete Verfassungsverwirklichung? ................................................................................................. 48
III.
Vielschichtigkeit möglicher Stabilitätsdimensionen im verfaßten Staat ............ 49 Viertes Kapitel
Stabilität als Leitaspekt in der breiten Diskussion über die Europäische Währungsunion
51
I. II.
Beschränkung auf die wirtschaftliche Dimension .............................................. 51 Wirtschaftliche Stabilitätsdimension im Fokus der Rechtswissenschaft ............ 51
III.
Unterschiedliche Begriffsinterpretationen und fehlender Rechtsbegriff ........... 53 1. "Stabilitätsgemeinschaft" und Konvergenzkriterien als "Stabilitätskriterien" .................................................................................... 54 2. "Stabilitätspakt" und "Stabilitätsprogramme" ............................................. 56 3. "Euro-Stabilität", "Stabilitätspolitik" der Europäischen Zentralbank und "Stabilitätskultur" ................................................................................. 57 4. "Weite Preisstabilität" und"Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" ......... 58
Inhaltsverzeichnis
11
Fünftes Kapitel
Wirtschaftliche Stabilität als Primäraspekt der Europäischen Währungsunion im Stabilitätsgeflecht der Europäischen Union
59
Dritter Teil
Gesamtwirtschaftliche Stabilität als abgeleitetes Verfassungsprinzip und positives Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland
61
Erstes Kapitel
Das Sozialprinzip: Strukturprinzipähnliches Grundelement des Grundgesetzes als Verfassungsgesetz Deutschlands I. II.
61
Das Sozialprinzip im Grundgesetz ..................................................................... 61 Fehlende Materialisierung- Notwendig materiale Offenheit ........................... 62 l. Fehlende Materialisierung aus Verfassungstext und -entstehung ................ 62 2. Ansätze materialer Auslegung ..................................................................... 63 a) Überblick ............................................................................................... 63 b) Makro- und mikrosozialer Realisationsansatz sowie konkrete Vergegenständlichung ........................................................................... 65
III.
3. Progressive Offenheit als Kern des Sozialprinzips ...................................... 66 a) Anpassung an die sich wandelnde Lage durch materiale Offenheit... .... 66 b) Dialektik der Offenheit: Grundsätzliche Gewißheit und materiale Unsicherheit .......................................................................................... 69 c) Ausgestaltung und Verwirklichung durch Gesetze ................................ 70 Der Prinzipiencharakter des Sozialprinzips in der Republik .............................. 71 1. Klassifizierung des Sozialprinzips als Staatszielbestimmung? .................... 71 a) b) c) d)
Interpretationsentwicklung und begriffliche Einordnungen .................. 71 Uneinheitliche Normkategorien und fehlende Systematik..................... 72 Die "Staatszielbestimmung" .................................................................. 74 Begriffsvielfalt - Zielbestimmung vs. Prinzip ....................................... 76
e) Sozialprinzip als Staatszielbestimmung? ............................................... 77 2. Das Prinzipielle des Sozialprinzips in der Republik .................................... 79 3. Verbindlichkeit und Justiziabilität ............................................................... 86
12
Inhaltsverzeichnis Zweites Kapitel
Das verfassungsimmanente Erfordernis gesamtwirtschaftlicher Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips: Das (gesamtwirtschaftliche) Stabilitätsprinzip I.
92
Ökonomische Selbständigkeit und Staat.. .......................................................... 92 1. Die staatliche Verpflichtung zu allgemeiner ökonomischer Selbständigkeit. ............................................................................................ 93 2. Subsidiarität des mikrosozialen Ansatzes des "Sozialstaats" gegenüber dem sozialprinzipgerechten makrosozialen Ansatz gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen ......................................................................... 96 a) "Soziale Marktwirtschaft" als Wirtschaftsordnung der Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes ............................................. 96 b) Mikro- und makrosoziale Verantwortung des Staats der Sozialen Marktwirtschaft ..................................................................................... 98 c) Nachrangigkeit des mikrosozialen Realisationsansatzes ....................... 99 aa) Grundsatz und Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung sowie Priorität eigens begründeter Selbständigkeit (normativ) ....... 99 bb) Sicherung von Selbständigkeit, nur begrenzte Förderung eigens begründeter Selbständigkeit, Abhängigkeit vom einzelnen (empirisch) .................................................................... IOO cc) Das offene Maß materieller Selbständigkeit als Gegenstand politischer Entscheidungstindung (formal und empirisch) ............ 102 dd) Die ökonomische Abhängigkeit des mikrosozialen Ansatzes von der gesamtwirtschaftlichen Situation (empirisch) .................. 103 d) Vorrang des makrosozialen Ansatzes zur Erlangung eigens begründeter Selbständigkeit ................................................................ l 04 aa) Prinzipgemäßheit (normativ) und makrosoziale Förderung eigens begründeter Selbständigkeit (empirisch) ............................ 104 bb) Das Problem der Bestimmung makrosozialer Gestaltung (empirisch) .................................................................................... 105
II.
Arbeit und Eigentum als Voraussetzung ökonomischer Selbständigkeit ......... 106 1. "Arbeit" im weiten Sinn als sittliches Handeln für eigens begründete Selbständigkeit. .......................................................................................... l 06 2. "Recht auf Arbeit"? ................................................................................... l 09 a) Die Diskussion um das "Recht auf Arbeit" ......................................... l 09 b) "Recht auf Arbeit" i. e. S. aus Art. 12 Abs. l GG? .............................. lll c) "Recht auf Arbeit" i. e. S. aus Art. 14 Abs. 1 GG? .............................. ll2 d) Das Problem der marktbestimmten Arbeitsmöglichkeiten .................. 114 e) Arbeit und Beschäftigung als Staatsziel .............................................. 116 3. Eigentum als rechtliche Basis eigens begründeter Selbständigkeit.. .......... ll8 4. Eigentum, Geld und Preisstabilität ............................................................ 121 a) Eigentum, Selbständigkeit und Geld ................................................... 121
Inhaltsverzeichnis
13
b) Bestands-, Gebrauchs- sowie Tauschwertschutz durch Art. 14 Abs. 1 GG und Geldeigentum ................................................. 123 c) Schutz gegen Inflation aus Art. 14 Abs. 1 GG und Geldwertschutz als Staatsziel?- Allgemeiner Meinungsstand...................................... 125 d) Schutz gegen Inflation aus Art. 14 Abs. 1 GG?Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ............................ 128 III.
Die Bedeutung des Wachstums für ökonomische Selbständigkeit... ................ 130
IV.
Zwischenergebnis: Gesamtwirtschaftliche Stabilität- Beschäftigung, Geldwertstabilität und Wachstum- als Imperativ des Sozialprinzips............. 132 Drittes Kapitel
Die Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliebe Gleichgewicht in Art. 109 Abs. 2 GG als rechtspositiver Ausfluß des sozialen Stabilitätsprinzips-Überleitung zum vierten Teil
135
Vierter Teil
Auslegung des Verfassungsprinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität: Das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht 138 als Bestimmungsgröße Erstes Kapitel
Der allgemeine Anwendungsbereich des Art. 109 Abs. 2 GG I.
138
Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht als Vorschrift der Haushaltsverfassung ........................................................................................ 138 1. Das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Grundgesetz ...................... 138
2. Haushaltswirtschaft als explizites Objekt der Vorschrift ........................... 139 II.
Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht als allgemeingültige Verfassungsvorschrift ...................................................................................... 140 Zweites Kapitel
Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtscbaftlicbes Gleichgewicht" I.
142
Das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als Staatsziel ................................. 142 1. Bezeichnungsvarianten in der Literatur ..................................................... 142 2. Einordnung als Staatsziel oder Staatszielbestimmung ............................... 143
14 II.
III.
Inhaltsverzeichnis Die Offenheit des Verfassungsbegriffs Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht .................................................................................................. 144 1. Bewußtes Offenlassen durch den Verfassungsgeber verfassungsgeforderte Offenheit ................................................................ 145 2. Verfassungsrechtlicher Kern versus Offenheit des Begriffs ...................... 146 3. Notwendige Operationalisierung- der Auftrag an den Gesetzgeber zur Ausfiillung des Begriffs in Abstimmung mit der Wirtschaftswissenschaft ......................................................................................................... 148 Die Materialisierung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als Zielsystem durch§ 1 StWG ............................................................................. 149 1. Historische Verknüpfung im Rahmen der Finanzverfassungsreform ........ 150 a) Gemeinschaftliche Entstehungsgeschichte im Überblick .................... 150 b) Der damalige wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisstand ............... 152 c) Die vorrangige Intension der fiskalpolitischen Konjunktursteuerung ............................................................................................. 153 d) Die Bedeutung der Finanzreform - Wende der Wirtschaftsverfassung? .......................................................................................... 154 2. Das Zielsystem des § 1 Satz 2 StWG als Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht?- Literaturmeinungen ....................................................... 157 a) Konkretisierungja, Definition nein- unterschiedliche Tendenzen ..... 157
IV.
V.
b) Die "Transpositions-Sichtweise" von Vogel/ Wiebel als Spezifikum ... 161 3. Die einfachgesetzliche Definition eines Verfassungsbegriffs .................... 162 4. Formulierungsunterschiede - "Erfordernisse" als "Teilziele"? ................. 164 Die Position des Bundesverfassungsgerichts: Offenheit und Verweis auf den aktuellen Erkenntnisstand der Volkswirtschaftslehre ............................... 165 1. Frühe Äußerungen des Gerichts................................................................. 165 2. Die Staatsverschuldungs-Entscheidung im Jahr 1989................................ 166 3. Bemerkungen zur Staatsverschuldungs-Entscheidung und ausgebliebene Veränderungen ................................................................... 167 Das Zielsystem des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im einzelnen .... 168 1. Die Teilziele des§ 1 Satz 2 StWG ............................................................. I68 a) Allgemeines zum Zielsystem und seinen Teilzielen ............................ l69 b) Stabilität des Preisniveaus ................................................................... 171 aa) Grundlegende Aspekte .................................................................. 171 bb) Preisniveaustabilität, Geldwert- und Währungsstabilität.. ............. 173 cc) Operationalisierung und Quantifizierung ...................................... 174 c) Beschäftigung ...................................................................................... l76 aa) Weites Begriffsverständnis............................................................ 176 bb) Operationalisierung durch Arbeitslosenquote und Quantifizierung ............................................................................. 176 cc) Unterbeschäftigungsarten und ihre Relevanz fiir die einfachgesetzliche und verfassungsmäßige Zielsetzung ................ 177 d) Außenwirtschaftliches Gleichgewicht ................................................. 178
Inhaltsverzeichnis
VJ. VII.
15
e) Wachstum ............................................................................................ l79 aa) Wachstum als Wohlstandsindikator- "angemessen" und "stetig" .......................................................................................... I 79 bb) Operationalisierung ....................................................................... 180 2. Das Verhältnis zwischen den Teilzielen .................................................... 180 a) Formale Gleichrangigkeit .................................................................... l81 aa) Gleichrangigkeit der vier Teilziele ................................................ 181 bb) Wachstum- formale Sonderstellung ja, andere Ranghöhe nein: Stabilität und Wachstum ............................................................... 182 cc) Keine Rangunterschiede durch Adjektivierung ............................. l82 dd) Vorrang der Preisniveaustabilität durch Art. 88 Satz 2 GG? ......... 183 b) Wirtschaftspraktische und -theoretische Überlegungen ....................... 185 aa) Zielkonflikte als Ansatzpunkt der Verhältnisdiskussion ............... 185 bb) Dominanz von Preisniveaustabilität und Beschäftigung als Stabilisierungsziele - Ergänzungsfunktion des außenwirtschaftliehen Gleichgewichts - Wachstum als ständige Bedingung......... l86 c) Praktische Konkordanz fiir Zielverfolgung- Gleichrangigkeit in der Zielsetzung .................................................................................... 189 3. Keine Erweiterung des Zielsystems um zusätzliche Komponenten ........... l90 Hoher Verbindlichkeitsgrad des Staatsziels und beschränkte Justiziabilität wirtschaftspolitischer Maßnahmen .................................................................. 191 Zusammenschau und Stellungnahme: Die Verfassungsverbindlichkeit des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Mindestmaterialisierung des "Magischen Vierecks" ..................................................................................... 195 I. Das "Magische Viereck" als Mindestmaterialisierung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts .................................................... 195 a) Etablierte wirtschaftspolitische Zielvorstellung- Historische "gedankliche Einheit" der Finanzreform ............................................. 195 b) Notwendige Akzeptanz der einfachgesetzlichen Begriffsbestimmung angesichts der Offenheit des Verfassungsbegriffs ..................... 196 c) Das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ohne das Stabilitätsgesetz? ................................................................................. 196 d) "Magisches Viereck" als kleinster gemeinsamer Nenner- Mindestmaterialisierung des allgemeinen wirtschaftspolitischen Staatsziels Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht... ............................................. 197 e) Gleichrangigkeit der Zielelemente - Preis und Beschäftigung als Primäraspekte - Sonderstellung des Wachstumsziels und des außenwirtschaftliehen Gleichgewichts - Deckung der Zielelemente mit den Imperativen des sozialen Stabilitätsprinzips ........................... 199 2. Die Beständigkeit der Zielvorgabe traditionellen Verständnisses .............. 199 a) Veränderte volkswirtschaftliche Theorie ............................................. 199 b) Auswirkung nur auf die Mittel zur Zielerreichung, nicht auf die Zielvorgabe: Die Beständigkeit der Zielsetzung durch das Recht.. ..... 202
16
Inhaltsverzeichnis Fünfter Teil
Stabilität als Vertragsprinzip f"ür die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion: Die "Stabilitätsgemeinschaft"
205
Erstes Kapitel
Dem Sozialprinzip verpflichtete Europlisehe Union unter dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb
206
I.
Der vertragliche Grundsatz der offenen Marktwirtschaft................................. 206
II.
1. Der Grundsatz im Vertragstext .................................................................. 206 2. Ausrichtung auf den Grundsatz und der Effizienzvorbehalt.. .................... 207 Die Verpflichtung der Europäischen Union auf das Sozialprinzip................... 208 Zweites Kapitel
Positive Regelungen einer gesamtwirtschaftlichen Stabilität in der Europliseben Union I.
211
Wirtschaftliche "Stabilität" als Zielsetzung des EU-Vertrages und des EG-Vertrages ................................................................................................... 211
1. Stabilitätsaspekte im allgemeinen Kontext des EU-Vertrages ................... 211 a) Präainbel .............................................................................................. 211 b) Art. 2 EUV .......................................................................................... 212 c) Beschäftigung, Wachstum, nachrangig Preisstabilität als Unionsziele .......................................................................................... 212 2. Stabilitätsaspekte im EG-Vertrag .............................................................. 213 a) Stabilitätsaspekte im allgemeinen Kontext des EG-Vertrages ............. 213 aa) Präambe1.. ...................................................................................... 213 bb) Art. 2 und 3 EGV .......................................................................... 213 cc) Beschäftigung, Wachstum, nachrangig Preisstabilität als allgemeine Gemeinschaftsziele ..................................................... 214 b) Stabilitätsaspekte im Kontext der Wirtschaftspolitiken ....................... 215 aa) Die operativen monetären Grundsätze des Art. 4 EGV ftlr die Wirtschafts- und Währungspolitik ................................................ 215 bb) Preisstabilität als vorrangiges Kriterium des Vertragsteils über die Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 98 EGV) .................... 218 cc) Die Zielsetzung im neuen Beschäftigungstitel .............................. 219
Inhaltsverzeichnis
17
c) Wirtschafts- und währungspolitische Ziele im vorhergehenden EWG-Vertrag ...................................................................................... 220 li.
Primärrechtliche materielle Regelung der "Stabilität" filr die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion .................................................................... 224 l. Die "notwendigen Voraussetzungen" zur Teilnahme an der Währungsunion als Kriterien im Entscheidungsprozeß ............................. 224 2. Die Konvergenzkriterien als gemeinschaftlicher Minimalausdruck gesamtwirtschaftlicher Stabilität. ............................................................... 226 a) Die Gewährleistungsfunktion der Konvergenzkriterien als Minimalkriterien .................................................................................. 226 b) Der Kriterienkatalog ............................................................................ 229 aa) Preisstabilität ................................................................................. 229 bb) Haushaltsdisziplin als Konvergenzkriterium und Vermeidung übermäßiger Defizite ..................................................................... 230 cc) Wechselkurskriterium ................................................................... 234 dd) Zinskriterium ................................................................................. 238 c) Der fragwürdige volkswirtschaftliche Imperativ ................................. 239 aa) Beschränkung auf fiskale und monetäre Kriterien ........................ 239 bb) Beschränkungtrotz weitem Fokus ................................................ 241 cc) Die Theorie optimaler Währungsräume ........................................ 242 dd) Forderung nach realwirtschaftlichen Kriterien .............................. 245 ee) Der Konvergenzstand mit Blick auf die Theorie optimaler Währungsräume ............................................................................ 245 ft) Folgen mangelnder Konvergenz, insbesondere Finanztransfers.... 249 gg) Vielschichtigkeit ökonomischer Standpunkte zur Europäischen Währungsunion ............................................................................. 253 hh) Fragwürdige Abbildungsmöglichkeit der entscheidungsrelevanten Aspekte über Kriterien ................................................. 255 d) Verbindlichkeit der Konvergenzkriterien ............................................ 256 aa) "Verbindlichkeit" und Vertragsrolle ............................................. 256 bb) Verbindlichkeit unter dem Aspekt der Terminbestimmung des Art. 121 (109j a.F.) Abs. 4 EGV n.F . ...................................... 259 cc) Verbindlichkeit und der Änderungsvorbehalt des Art. 6 des 6. Protokolls zum Maastricht-Vertrag ........................................... 261 e) Konvergenzstand zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Beginn der Währungsunion im Jahr 1998die Beurteilung der Kriterien ............................................................... 262 3. Die Europäische Zentralbank im Europäischen System der Zentralbanken als Garant gesamtwirtschaftlicher Stabilität? ..................... 267 a) Das Europäische System der Zentralbanken mit der Europäischen Zentralbank als Institution der Währungsunion ................................... 267 b) Das filr die Europäische Zentralbank spezifische wirtschaftliche Primärziel der Preisstabilität. ............................................................... 268
2 Hänsch
18
Inhaltsverzeichnis c) Preisstabilität und Unabhängigkeit einer Zentralnotenbank ................ 270 d) Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ............................ 272 e) Unabhängigkeit und demokratische Legitimation der Europäischen Zentralbank ................................................................... 278 f) Der Konvergenzstand hinsichtlich des nationalen Zentralbankrechts in den Mitgliedstaaten ............................................................... 28I
III.
Sekundärrechtlich ergänzende Stabilitätsaspekte in der Europäischen Währungsunion ................................................................................................ 282 1. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt .......................................................... 282
2. Der neue Europäische Wechselkursmechanismus ..................................... 287 Drittes Kapitel
Das Verfassungsprinzip "Gesamtwirtschaftliche Stabilität" und die Regelung wirtschaftlicher Stabilität im Gemeinschaftsrecht I.
290
Zusammenfassung des ersten und zweiten Kapitels im Hinblick auf die ökonomischen Imperative des sozialen Stabilitätsprinzips .............................. 290 I. Zielsetzungen ............................................................................................. 290 a) Übergreifende Zielsetzungen im EU-Vertrag ...................................... 290 b) Übergreifende Zielsetzungen im EG-Vertrag ...................................... 291 c) Politikbereichsspezifische Zielsetzungen im EG-Vertrag .................... 291 2. Der operative Grundsatz der Preisstabilität.. .............................................. 293 a) Preisstabilität als dominierender Grundsatz......................................... 293 b) Ausrichtung der Konvergenzkriterien am operativen Grundsatz der Preisstabilität ....................................................................................... 294 c) Ausrichtung der Zentralbankvorschriften am operativen Grundsatz der Preisstabilität ................................................................................. 295 d) Ausrichtung des Sekundärrechtsam operativen Grundsatz der Preisstabilität ....................................................................................... 295
II.
Verlorene Zielkongruenz zwischen deutschem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht .......................................................................................... 296
III.
Modifikation des Art. I09 Abs. 2 GG oder Hinfälligkeit der Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht? ................................................ 298 I. Modifikation durch europarechtskonforme Interpretation und die vorgeschlagene Verfassungstextänderung ................................................. 298 2. Keine Hinfälligkeit des nationalen Verfassungauftrags ............................. 30 I
IV.
Widerspruch des gemeinschaftsrechtlichen operativen Vorrangs der Preisstabilität zur verfassungsgeforderten Offenheit- die Unvereinbarkeit dieses Grundsatzes und des FehJens eines allgemeinen Ziels der Preisstabilität mit dem Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität.. ................... 303
Inhaltsverzeichnis
19
1. Offenheit in den Mitteln der Zielerreichung, Prinzipgebundenheit in der Zielsetzung - die Lösung des deutschen Rechts .................................. 303 2. Die Diskrepanz zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht.. ..... 305 3. Hintergrund der Diskrepanz und Überlegungen zu ihrer Auflösung.......... 306 a) Die Ranghöhe des Vertrags als Problem ............................................. 306 b) Dissens als Motivation zur Zementierung der Preisstabilität.. ............ 307 c) Kompetenzverteilung als Erklärung der Dominanz der Preisstabilität ....................................................................................... 307 d) Eine Gestaltungsalternative ................................................................. 309 Sechster Teil
Resümee und Ausblick
310
Zusammenfassung.......................................................................................... 315 Literaturverzeichnis....................................................................................... 320 Stichwortverzeichnis ...................................................................................... 353
Abkürzungsverzeichnis
a.A.
andere Ansicht
a.F.
alte Fassung
abgedr.
abgedruckt
ABI.
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft
Abs.
Absatz
Absch.
Abschnitt
AEMR
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948
AETR
Europäisches Übereinkommen über die Arbeit der im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrzeugbesatzungen
aktual.
aktualisierte
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
ARSP
Archiv filr Rechts- und Sozialphilosophie
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
AWG
Außenwirtschaftsgesetz vom 28. 4. 1961
BayVBI.
Bayerische Verwaltungsblätter
BB
Betriebsberater
BBankG
Gesetz über die Deutsche Bundesbank vom 22. I 0. 1992
Bd.
Band
Beih.
Beiheft
Beil.
Beilage
bes.
besonders
BFH
Bundesfinanzhof
BFHE
Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. 8. 1896
BGBI.
Bundesgesetzblatt
BK
Banner Kommentar zum Grundgesetz
Abkürzungsverzeichnis BMF
Bundesministerium der Finanzen
BRDrs.
Bundesratsdrucksache
BReg
Bundesregierung
BSHG
Bundessozialhilfegesetz
BTDrs.
Bundestagsdrucksache
Bull.
Bulletin
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Bundesverfassungsgerichtsentscheidung
BVerfGG
Bundesverfassungsgerichtsgesetz
BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
BVerwGE
Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung
bzw.
beziehungsweise
CMLRev
Common Market Law Review
DDR
Deutsche Demokratische Republik
demn.
demnächst
ders.
derselbe
d.h.
das heißt
Diss.
Dissertation
div.
diverse
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
DRiZ
Deutsche Richterzeitung
Drs.
Drucksache
DStZ
Deutsche Steuerzeitung
DSWR
Deutsches Steuer- und Wirtschaftsrecht
durchges.
durchgesehene
DVBI.
Deutsches Verwaltungsblatt
DZWir
Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EAG
Europäische Atomgemeinschaft
EAGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25. 3. 1957
EEA
Einheitliche Europäische Akte vom 17./28. 2. 1986
EG
Europäische Gemeinschaft
EGKS
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGKSV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. 4. 1951
21
22
Abkürzungsverzeichnis
EGVa.F.
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrages über die Europäische Union vom 7. 2. 1992 (Maastrichter Fassung)
EGV (n.F.)
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam vom 2. 19. 1997
EIB
Europäische Investitionsbank
EMRK
(Europäische) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11. 1950
endg.
endgültig
erg.
ergänzt(e)
erw.
erweiterte
ESZB
Europäisches System der Zentralbanken
etc.
et cetera
EU
Europäische Union
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EuGrZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
EuR
Europarecht
Eurostat
Statistisches Amt der EG
EUVa.F.
Vertrag über die Europäische Union vom 7. 2. 1992 (Maastrichter Fassung)
EUV (n.F.)
Vertrag über die Europäische Union, konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam vom 2. 10. 1997
EuZW
Europäische Zeitschrift fiir Wirtschaftsrecht
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. 3. 1957
EWI
Europäisches Währungsinstitut
EWS
Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht
EWU
Europäische Währungsunion
EZB
Europäische Zentralbank
f.
folgend(e)
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
ff.
fortfolgend( e)
Fn.
Fußnote
folg.
folgende(n)
Abkürzungsverzeichnis FS
Festschrift
GD
Generaldirektion
GG
Grundgesetz
Grdlfg.
Grundlieferung
GS
Gedächtnisschrift
Halbb.
Halbband
HB
Handelsblatt
HdFinW
Handbuch der Finanzwissenschaft
HdWW
Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft
Hervorh.d. Verf.
Hervorhebung durch Verfasser
Hervorh.i.Orig.
Hervorhebung im Original
HFR
Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung
HGrG
Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder vom 19. 8. 1969
Hrsg.
Herausgeber
hrsg. v.
herausgegeben von
HStR
Handbuch des Staatsrechts
HVertR
Handbuch des V erfassungsrechts
i.d.S.
in diesem Sinne
i.e.S.
im engeren Sinn
IHI
Internationales Hochschulinstitut Zittau
IHK
Industrie- und Handelskammer
i.Kr.
in Kraft (getreten)
inkl.
inklusive
insb.
insbesondere
insg.
insgesamt
IPwirtR
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Recht von 1966
i.S.
im Sinne
i.S.v.
im Sinne von
i.V.m.
in Verbindung mit
i.w.S.
im weiteren Sinn
JA
Juristische Arbeitsblätter
Jg.
Jahrgang
JuS
Juristische Schulung
23
24 JZ
Abkürzungsverzeichnis Juristenzeitung
Kap.
Kapitel
Korn.
Kommission der Europäischen Gemeinschaft
Korr. d. Verf.
Korrektur durch Verfasser
lit.
Buchstabe
lt.
laut
m.H.a.
mit Hinweis auf
m.V.a.
mit Verweis auf
m.v.N.
mit vielen Nachweisen
m.v.w.N.
mit vielen weiteren Nachweisen
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
MdB
Mitglied des Bundestages
MS
Mitgliedstaat
Nachdr.
Nachdruck
nachgedr.
nachgedruckt
neub.
neubearbeitete
neubarb.
neubearbeitete
n.F.
neue Fassung
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr.
Nummer
NVwZ
Neue Zeitschrift fiir Verwaltungsrecht
NZA
Neue Zeitschrift fiir Arbeitsrecht
o.ä.
oder ähnliche/ähnliches
OECD
Organisation fiir wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
o.J.
ohne Jahr
OLG
Oberlandesgericht
Prot.
Protokoll
RdA
Recht der Arbeit
RIW
Recht der internationalen Wirtschaft
RL
Richtlinie
Rn.
Randnummer
Rs.
Rechtssache
Rspr.
Rechtsprechung
Abkürzungsverzeichnis
s.
25
Seite
Slg.
Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft
sog.
sogenannte/-er/es/en
Spstr.
Spiegelstrich
st.
ständige
sten.
stenographischer
StWG (StabG)
Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. 6. 1967
SVRG
Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 14. 8. 1963
sz
Süddeutsche Zeitung
tw.
teilweise
u.a.
unter andere
u.ä.
und ähnliche(s)
überarb.
überarbeitete
übers.
übersetzt
UN
United NationsNereinte Nationen
Unterabs.
Unterabsatz
unveränd.
unveränderte
unveröff.
unveröffentlicht(eier/es)
u.ö.
und öfter
usw.
und so weiter
UWG
Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb vom 7. 6. 1909
V.
vom
v.a.
vor allem
verb.
verbesserte
VertragsG
Gesetz zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union
vgl.
vergleiche
vo
Verordnung
Vol.
Volume
vollst.
vollständig( e)
Vorbem.
Vorbemerkung
26
Abkürzungsverzeichnis
vs.
versus
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer
WD
Wirtschaftsdienst
wib
Woche im Bundestag
WiSt
Wirtschaft und Studium
WKM
Wechselkursmechanismus
WM
Wertpapiermitteilungen
WRV
Weimarer Reichsverfassung
WSA
Wirtschafts- und Sozialausschuß
WSI-Mitteilungen Mitteilungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes
wwu
Wirtschafts- und Währungsunion
z.B.
zum Beispiel
ZfA
Zeitschrift fiir Arbeitsrecht
ZfG
Zeitschrift fiir das gesamte Genossenschaftswesen
ZfW
Zeitschrift fiir Wirtschaftspolitik
ZgS
Zeitschrift fiir die gesamte Staatswissenschaft
Ziff.
Ziffer
zit.
zitierend
ZRP
Zeitschrift fiir Rechtspolitik
Zweitbearb.
Zweitbearbeitung
Erster Teil
Einführung und Überblick Erstes Kapitel
Europäische Währungsunion und Stabilität- Hinrührung I. Der Status Quo der Währungsunion Seit dem 1. Januar 1999 befmdet sich die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit zehn anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der dritten Stufe der Europäischen Währungsunion. 1 Vermeintlich "neben" die nationalen Währungen, in Deutschland die D-Mark, trat die neue europäische Gemeinschaftswährung, der Euro. Zu ihm, und damit auch untereinander, stehen die nationalen Währungen in festen Wechselkursverhältnissen, die vom Ministerrat bereits im Mai 1998 vorzeitig festgelegt wurden. 2 Ab dem Jahr 2002 wird der Euro die nationalen Währungen der Teilnehmerländer schließ-
Entscheidung des Rates vom 3. Mai 1998 gemäß Art. 109j Abs. 4 des Vertrags, ABI. EG 1998 L 139/30; Teilnehmerländer sind Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien; die in Maastricht vereinbarte Opting-Out-Kiausel nutzend enthalten sich zunächst das Vereinigte Königreich und Dänemark (vgl. 11. und 12. Protokoll zum Maastricht-Vertrag); wegen mangelnder Erfiillung der notwendigen Voraussetzungen nehmen Griechenland und auch Schweden (dazu unten Fn. 652, 695) anilinglich nicht teil. Für Griechenland erstatteten die Kommission sowie die Europäische Zentralbank Anfang Mai 2000 ihren Konvergenzbericht und gaben eine Empfehlung zur Aufnahme Griechenlands zum 1. 1. 2001; der Rat hat den Beitritt zwischenzeitlich beschlossen (vgl. Entscheidung des Rates vom 19. Juni 2000 gemäß Artike1122 Absatz 2 des Vertrages über die Einfilhrung der Einheitswährung durch Griechenland am 1. Januar 2001 ); in Dänemark fiel am 28. 9. 2000 ein Referendum über die Teilnahme an der Währungsunion negativ aus. Gemeinsames Kommunique der Minister und der Zentralbankpräsidenten der Mitgliedstaaten, die den Euro als einheitliche Währung einfUhren werden, der Kommission und des Europäischen Währungsinstituts vom 3. Mai 1998 zur Festlegung der unwiderruflichen Umrechnungskurse filr den Euro, ABI. EG 1998, C 160/1; Art. 123 Abs. 4 (1091 Abs. 4 a.F.) EGV sah filr diesen Vorgang als Zeitpunkt den "ersten Tag der dritten Stufe" vor.
28
l. Teil: Einfiihrung und Überblick
lieh ersetzen; erst zu diesem Zeitpunkt wird Euro-Bargeld in Umlauf gebracht, nationale Noten und Münzen werden dann dem Markt entzogen.3 Bis dahin kommt der Euro als "Parallel-Währung" und "lediglich" im bargeldlosen Bereich zum Einsatz; er konnte sich dadurch im Bewußtsein der Unionsbürger noch nicht in den Vordergrund drängen. Von vielen wird er "nur" als Rechnungseinheit angesehen, obwohl er - ganz im Gegenteil - doch die nationalen D-Mark, Lira, Franc usw. als Währung im Grunde schon jetzt ersetzt und vielmehr das jeweilige nationale Geld bereits zur "bloßen Rechnungseinheit" und auf ihre Funktion als Geldzeichen reduziert hat; denn die Finanzmärkte handeln nunmehr mit dem Euro und in Euro, und nur der Euro erfiihrt noch eine geldpolitische Verantwortung. Die Geldpolitik in Europa ist mit Beginn der Währungsunion ausschließlich auf den Euro bezogen. Verantwortet wird sie von der Europäischen Zentralbank als "Dachinstitut" des Europäischen Zentralbanksystems, dem auch die nationalen Zentralbanken - scheinbar als Niederlassungen - angehören. 4 Seit Eintritt in diese dritte Stufe üben die betroffenen Mitgliedstaaten also ihre staatliche Währungshoheit insofern gemeinschaftlich aus, als sie die Geldpolitik in die Hände des Europäischen Zentralbanksystems gelegt haben. In Europa entstand ein "einheitliches Währungsgebiet fiir mehrere staatliche Territorien"5 • Über den "Erfolg" der gemeinsamen Währung lassen sich bislang lagegemäß nur fUr die Anfangsphase einige erste Aussagen treffen, die jedoch zu keiner abschließenden Beurteilung führen können. Einem extrem sinkenden Außenwert innerhalb der ersten fast zwei Jahre ihres Bestehens, insbesondere gegenüber dem OS-Dollar, steht eine positive Grundstimmung der Wirtschaft sowie spürbare konjunkturelle Besserung entgegen. 6 Beide sind allerdings vor allem auch auf die durch die Schwäche des Euro begünstigte7 Exportwirtschaft zurückzuftlhren. Die im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehende Inflationsrate - als Indikator für die Vertragsdominante der Preisniveausta-
VO EG Nr. 974/98 des Rates vom 3. Mai 1998 Ober die Einfiihrung des Euro, ABI. EG 1998 L 139/l. 4 Dabei bleiben die nationalen Zentralbanken in der Durchfiihrung der Geldpolitik aber weitgehend eigenständig; siehe dazu unten 5. Teil, 2. Kap., II., 3.
N. Horn, Währungsunion als Instrument der Integration, in: U. lmmenga u.a. (Hrsg.): FS fiir E.-J. Mestmäcker, 1996, S. 381 ff. (S. 381 ). Vgl. zu den Wechselkursverläufen etwa Europäische Zentralbank, Statistikteil, Monatsbericht September 2000, S. 60*; zur Konjunkturlage vgl. Deutsche Bundesbank, Monatsbericht November 2000, S. 31 ff. Zur Frage der Förderbarkeit der inländischen Wirtschaft durch sinkende nominelle Außenwerte vgl. unten 5. Teil, 2. Kap., II., 2., c), bb); dort Fn. 710.
I. Kap.: Europäische Währungsunion und Stabilität- Hinfiihrung
29
bilität8 - hat sich (angesichts der Gefahr einer importierten Geldentwertung jedenfalls bislang) auf einem vergleichsweise eher niedrigen Niveau bewegt.9 Andererseits konnten sich unterschiedliche Konvergenzlagen der Teilnehmerländer und ihre vermuteten und befiirchteten Auswirkungen bei Bestehen einer gemeinsamen Währung in dieser kurzen Zeit noch nicht durchschlagend bemerkbar machen. 10 Das Verhalten mancher Teilnehmerländer in der Haushaltspolitik wird - die Leitung der Europäischen Zentralbank stellt hier eine Ausnahme dar11 - trotz Stabilitätspaktes 12 in der Gemeinschaft wohl tendenziell unkritisch beurteilt und nach außen kaschiert. 13 Die Akzeptanz der neuen Währung unter den Bürgern - so zeigt es sich auch in der zurückhaltenden optionalen Nutzung im bargeldlosen Bereich zumindest in Deutschland - ist eher gering, was sich zum Teil durch unreflektierende Trägheit, zum Teil aber auch mit mangelndem Vertrauen und begründetem Unwillen, nicht zuletzt wiederum unterstützt vom signifikanten Außenwertverfall, begründen läßt. 14 Das dänische Volk, wirtschaftlich wohl situiert, lehnte am 28. September 2000 seine Teilnahme an der Währungsunion in einem Referendum ab. Aus dem prosperierenden Großbritannien werden keine ernsthaften Bekundungen zu einem alsbaldigen Beitritt laut. Griechenlands Mitwirken ab 1. Januar 2001 ist dagegen trotz VerfehJens mindestens eines Konvergenzkriteriums 15 vom Ministerrat beschlossene Sache. Weitere Schritte zur Osterweiterung der Europäischen Union, wenngleich nicht notwendig identisch mit einer Osterweiterung auch des Euro-Währungsgebietes, stehen vor der Tilr.
Siehe dazu unten 5. Teil, 2. Kap., 1., 2., b), bb) und 5. Teil, 3. Kap., 1., 2. Vgl. zur Entwicklung der Preisindizes etwa Europäische Zentralbank, Statistikteil, Monatsbericht September 2000, S. 36*. 9
10
Siehe dazu unten 5. Teil, 2. Kap., II., 2., c).
Der Präsident der EZB, W Duisenberg, mahnte in der ersten Jahreshälfte 1999 die Haushaltspolitik in mehreren Mitgliedstaaten einige Male an. 11
12
Siehe dazu unten 5. Teil, 2. Kap., 111., I.
13
So erfolgte im Frühjahr 1999 trotz klarer Verfehlungen der vorgegebenen Haushaltsdefizitbeschränkung im Falle Italiens kein negativer Beschluß des Rates. 14 Vgl. div. Untersuchungen im Sommer/Herbst 2000, z.B. Forsa-Insititut im Auftrag des Nachrichtensenders N24, Nürnberger Nachrichten vom 4./5. II. 2000, S. 7, " Viel Lob fiir die Währungshüter", wonach 56 % der Befragten fiir einen Ausstieg aus der Währungsunion plädieren würden. 15
Siehe dazu unten 5. Teil, 2. Kap., II., 2.
30
1. Teil: Einfiihrung und Überblick
II. Währung und Geld der Bürger Bei der Europäischen Währungsunion geht es in Deutschland um die Ablösung einer alten Währung, fiir die durch über fllnf Jahrzehnte gesammelte Erfahrungen (ein gewisses Gefiihl von) Sicherheit - Vertrauen - besteht, durch eine neue, fllr die diese Erfahrung fehlt und die somit Unsicherheit hervorruft und Vertrauen erst aufbauen muß. Die Währung steht im Empfinden der Bürger synonym fllr "ihr Geld". Das Geld ist ein Fundamentalelement der Bürgergemeinschaft, also des Staates, das rationale wie irrationale Begegnung erflihrt. Des Bürgers Anliegen "Geld" umfaßt die abstrakte Währung, die physischen Zahlungsmittel sowie die private und staatliche Finanzlage. 16 Die Europäische Währungsunion berührt dieses bürgerliche Zentralthema in tiefgreifender Weise.
16 Dieser Tatsache zollt die Literatur seit jeher entsprechend Tribut. Das "oft leidenschaftliche Interesse" am Geld etwa "erklärt sich ja nur daraus, daß sich im Geldwesen eines Volkes alles spiegelt, was dieses Volk will, tut, erleidet, ist, ... Der Zustand des Geldwesens eines Volkes ist ein Symptom aller seiner Zustände.", W. Hennis, Geld oder Währung, in: FAZ vom 31. 1. 1997, S. 37, zitierend J. A. Schumpeter: Das Wesen des Geldes, erstmals veröffentlicht aus dem Nachlaß von F. K. Mann, 1970, S. I (Hervorh.i.Orig.); bereits in Badins Souveränitätslehre galt die Geldhoheit als Attribut der Staatsgewalt, J. Bodin, De Ia republique, aufgegriffen bei bei H. Beisse, Verfassungshürden vor der Europäischen Währungsunion, BB 1992, S. 645 ff. (S. 647); Bodin verstand die Finanzen auch als "Nerven des Staates", so bei K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1074, Fn. 127; sie seien "die Realität einer Verfassung", K. Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: J. Isensee!P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 1990, § 87, Rn. I; ders., Der Finanz- und Steuerstaat, in: J. lsensee/ P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, § 27, Rn. 19, spricht wie J /sensee. Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: J. lsensee!P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 1992, § 115, vom Geld als Verfassungsvoraussetzung; "Der Mensch setzt sich selbst der Einheit seines Geldes gleich. Ein Zweifel an ihr beleidigt ihn, ihre Erschütterung bringt sein Selbstvertrauen ins Wanken. In der Herabsetzung seiner Geldeinheit tritt man dem Menschen selber nahe, man erniedrigt ihn.", so betont E. Canetti, die irrational geprägte Bindung; darüber hinaus wird Geld vor allem immer wieder mit Freiheit in Zusammenhang gebracht; so liege im Geld eines der "großartigsten Werkzeuge zur Freiheit, die der Mensch je erfunden hat.", F. A. v.Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, S. 120 f.. zit. bei R. Schmidt, Geld und Währung, in: J. lsensee/P. Kirchhof(Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. lll, 1988, § 82, Fn. 15: das BVerjG BVerfGE 97, 350 (371) -,gelangte zuletzt sogar zur fragwürdigen Feststellung: "Geld ist geprägte Freiheit" (dazu unten 3. Teil, 2. Kap., II., 4., a); dort Fn. 328).
1. Kap.: Europäische Währungsunion und Stabilität- Hinfiihrung
31
111. Die Diskussion um die Währungsunion in Deutschland In Deutschland wurde von wissenschaftlicher Seite, insbesondere von Staats- und Verfassungslehre, die Debatte um eine Währungsunion in Europa im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten von jeher - so auch bereits zu Zeiten des Wemer-Pians als erstem Umsetzungsversuch Anfang der 1970er Jahre - am intensivsten geführt, wofür eine Reihe von Gründen zu fmden ist. Von ihnen sind zwei hervorzuheben: Erstens sei hier mit Blick auf die negativen Währungseinschnitte im frühen 20. Jahrhundert, aber auch auf die Wiedervereinigung, die spezifische historische Bedeutung der D-Mark für die Bürger der Bundesrepublik genannt; sie bewirkte einen noch höheren Bindungsgrad der Bürger an "ihr Geld". Zudem fungierte die D-Mark im vor dem Beginn der Währungsunion bestehenden Europäischen Währungssystem als Leitwährung 17 - ein Sinnbild für die wirtschaftliche Stärke und Prosperität Deutschlands in Europa. Mit dem formalen Vorgang der Ablösung des alten Wechselkursmechanismus durch die Währungsunion scheint dieses Sinnbild zu verfallen. So erklären sich Thesen wie "Ein Verlierer, zehn Gewinner" - Deutschland als einziger Verlierer neben allen anderen als Gewinnern. Zweitens existieren in Deutschland eine vergleichsweise mächtige Verfassungsgerichtsbarkeit und damit in praxi Möglichkeiten, mit rechtswissenschaftlieh fundierter Argumentation manche realpolitischen Entscheidungen einer verfassungsrechtlich verbindlichen Prüfung zu unterziehen, 18 was seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland immer wieder erneuten Anlaß zur heftigen Kontroverse über die strittige Frage der Wirtschaftsverfassung 19 gegeben hat. Als spezifizierte Fortführung der allgemeinen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Fragestellung erfuhr dadurch der wissenschaftliche Diskurs
17 Dazu etwa J. Schiemann, Das Europäische Währungssystem im Zielkonflikt zwischen Stabilität und Konvergenz, in: ZfW, Jg. 41 (1992), S. 271 ff; P. B. Kenen, Economic and Monetary Union in Europe. Moving Beyond Maastricht, Cambridge University Press 1995, S. 177 f.; W. Hanke/l W. Nöllingl K. A. Schachtschneiderl J. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern wird, 1998, s. 42 ff. 18
Vgl. zur Rolle der Verfassungsgerichte, exemplifiziert am Beispiel Frankreichs,
A. Emmerich-Fritsche. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000, S. 163 ff., auch S. 192; K. A. Schachtschneider,
Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, 1994, S. 819 ff. 19
Siehe dazu unten 3. Teil, 2. Kap., 1., 2., a).
32
1. Teil: Einführung und Überblick
des Themas "Europäische Währungsunion" - aber gerade auch die öffentlichkeitswirksamere Diskussion in den allgemeinen Medien - immer wieder zusätzliche Motivation. Während bereits im Vorfeld des Maastricht-Vertrags20 deutliche Meinungsverschiedenheiten aus staatsgrundsätzlichen Erwägungen ausgetragen wurden, schloß sich an das "Maastricht-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 1993 2\ über die Regierungskonferenz zur Vertragsänderung in Amsterdam22 sowie den "Euro-Beschluß" des Bundesverfassungsgerichts23 eine bis Ende des Jahres 1998 andauernde, kaum überschaubare Flut rechts-, politik- und wirtschaftswissenschaftlicher Literatur in Form von Aufsatzsammlungen und Einzelbeiträgen, aber auch Monographien an. Dieses Schrifttum erwies sich in Umfang und Qualität sowie dem Grad der realpolitischen institutionellen Motivation und teils entsprechender Ergebnisgerichtetheit als sehr differenziert. 24 Mit dem "Euro-Beschluß" des Bundesverfassungsgerichts schien die Auseinandersetzung mit dem Thema endgültig beendet zu sein. Tatsächlich werden aber Tiefpunkte in der Entwicklung der Währungsunion - real oder nur in der Öffentlichkeit suggeriert - und schwierige Fragen der künftigen Integration in Europa immer wieder neue Impulse zur staats- und verfassungsrechtlichen Überprüfung und Infragestellung des Euros geben.
IV. Weitenührung der Diskussion mit Fokus auf den dominanten Aspekt der "Stabilität" - der BegritT "Stabilität" in der Währungsunionsdebatte Die nachfolgenden Ausruhrungen stehen im Anschluß an bekannte vorangegangene Auseinandersetzungen zur Europäischen Währungsunion, fokus20 Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag) vom 7. 2. 1992, i. Kr. 1. 11. 1993.
21
BVerfGE 89, 155 vom 12. 10. 1993; Nachweise dazu siehe unten S. 62, Fn. 216.
Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, die Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte vom 2. 10. 1997, i.Kr. 1. 5. 1999; die Amsterdamer Vertragsrevisionstand insofern mit der Währungsunion in Zusammenhang, als ihr erklärtes Ziel in der Stärkung der "Politischen Union" lag, die in engstem Zusammenhang zur Währungsunion steht, und in ihrem Rahmen Modifikationen der Vorschriften über die Währungsunion hätten vorgenommen werden können, was jedoch unterblieb. 22
23 BVerfGE 97, 350 ff.; vgl. dazu die nicht ganz vollständig veröffentlichte Klageschrift bei W Hanke/lW Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998. K. A. Schachtschneider, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, IHI-Schriften 9/1998, S. 19 ff. 24 Ein Überblick auf diese Literatur kann hier nicht gegeben werden; für eine Auswahl wird auf die im Fortgang der Ausführungen verwendeten Quellen verwiesen.
I. Kap.: Europäische Währungsunion und Stabilität- Hinfiihrung
33
sieren aber nicht die Währungsunion an sich, sondern bedienen sich ihrer nur als Anlaß und Beispiel ftlr eine nähere Beleuchtung des Aspekts der "Stabilität". Materialer Gehalt, verfassungsrechtliche Begründung und die Klärung ihres Stellenwerts im Verfassungsgefilge stehen deshalb zunächst im Mittelpunkt; denn der Begriff "Stabilität" wurde regelmäßig als das entscheidende Kriterium zur Beurteilung der Währungsunion herausgestellt - zu denken ist nur an die Schlagworte "Stabilitätspakt", "Stabilitätskultur" und vor allem an die "Stabilitätsgemeinschaft"25 • Es wird sich zeigen, daß selbst der innerhalb Deutschlands geftihrten Debatte kein einheitliches Verständnis des Stabilitätsbegriffs zugrunde lag, gleichzeitig aber eine Inflationierung der Begriffsverwendung unter vielerorts zu beobachtender Außerachtlassung grundsätzlicher begrifflicher Erwägungen festzustellen war. 26 Dies hat sich bis heute nicht geändert, wenn in öffentlichen Diskussionsrunden mittlerweile die explizite Frage nach dem Gehalt von "Stabilität" aufkommt. 27 Fraglich ist dabei insbesondere, inwieweit der unter Nationalökonomen derzeit vorwiegend als reine Preisniveaustabilität verstandene Begriffmit einem in seiner Existenz und seinem Inhalt zu klärenden verfassungsrechtlichen Stabilitätsverständnis übereinstimmt. Auch stellt sich hier die grundsätzliche Frage, welches kompetenzielle Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Nationalökonomie besteht, wenn sich das Recht der wirtschaftswissenschaftlichen Termini bedient. Es geht also um den staats- und verfassungsrechtlichen Bedeutungsgehalt von "Stabilität"- um das Stabilitätsprinzip, das sich als Verfassungsprinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität herausstellen wird.28
25 BVerfGE 89, 155 (200); früh A. Müller-Armack/R. H. Hasse/V. Merx!J. Starbatty, Stabilität in Europa. Strategien und Institutionen fiir eine europäische Stabilitätsgemeinschaft, 1971 (Hervorh.d. Verf.).
26 Unterschiedliche "Stabilitäts-Auffassungen" berühren also nicht nur den unter dem Stichwort "Stabilitätskultur" bekannten Vergleich divergierender traditionell verfestigter Stabilitätsbilder in den Mitgliedstaaten.
27 So etwa in der Fernsehsendung "Sabine Christiansen" v. 30. 4. 2000 zum Thema "Euro", Teilnehmer u.a. K. Falt/hauser, 0. Graf Lambsdorff. K. A. Schach/schneider, J. Stark, M. Schreyer. 28 Das "Stabilitätsprinzip" spielte in der "Euro-Klage", die dem Bundesverfassungsgericht am 12. I. 1998 von vier Professoren der Wirtschafts- und Rechswissenschaft vorgelegt wurde, eine entscheidende Rolle; vgl. W Hanke/l W Nölling!K. A. Schachtschneider!J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 192 ff.; im Rahmen des entsprechenden Beschlusses des Gerichts - BVerfGE 97, 350 - fand dieses Prinzip schließlich auch deutliche inhaltliche Bestätigung.
3 Htinsch
34
l. Teil: Einfilhrung und Überblick
Zweites Kapitel
Überblick29 I. Zum Zweiten Teil Im allgemeinen Sprachgebrauch, so läßt es der Beginn des Zweiten Teils erkennen, verbinden sich mit "Stabilität" eine Reihe unterschiedlicher Assoziationen. Als vielgebrauchter Terminus spielt "Stabilität" zunächst in verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen eine wichtige Rolle. 30 Beim Versuch einer begriftlichen Loslösung von inhaltlichen Kontexten zeigt sich, daß der Stabilität einerseits (dynamischer) Eigenschaftscharakter, andererseits (statischer) Zielcharakter zukommt. Im Hinblick auf den gegebenen wirtschaftlichen Zusammenhang wird zunächst der wirtschaftswissenschaftliche Stabilitätsbegriff erörtert. Gedanklich ausgehend vom ursprünglichen und nach wie vor herausragenden Motiv der Friedenssicherung fiir den europäischen Integrationsprozeß31 ist anschließend auf das Thema Stabilität und Gemeinwesen einzugehen. In welch vielfliltigen Dimensionen der Begriff "Stabilität" im Kontext des Gemeinwesens Verwendung fmden kann, wurde exemplarisch im Frühsommer 1999 wieder ersichtlich, als der - kurz vorher noch voll und ganz von der Europäischen Währungsunion belegte - Terminus "Stabilitätspakt" vom deutschen Außenminister J. Fischer als Bezeichnung ftir einen Friedensplan im Kosovo gewählt wurde. In der Währungsunionsdiskussion war der Blickwinkel dagegen fast ausnahmslos auf die wirtschaftliche Dimension "Stabilität" gelegt, dort jedoch auf wenige, vorwiegend durch die Konvergenzkriterien bestimmte Teilaspekte wieder reduziert, wobei - gerade in der ökonomischen Literatur häufig - wirtschaftliche Stabilität und Preisniveaustabilität unausgesprochen synonyme Anwendung erfuhren. Auch in der rechtswissenschaftliehen Kontroverse fest etablierte "Stabilitätsschlagworte" offenbaren durch ihre offensichtlich verschiedenen "Stabilitäts-Sinngehalte" das Problem eines wohl irgendwie
29 Auf eine ausfUhrliehe Erbringung von Nachweisen wird in diesem Überblick zugunsten der später folgenden Ausfilhrungen verzichtet.
30 Dies zeigt schon der erste Blick in Brockhaus, 20., überarb. und aktual. Aufl., 1998, Stichwon "Stabilität". 31 Siehe die Präambel zum EUV, 1., 2., 5., 10. Erwägungsgrund; vgl. A. Bleckmann, Europarecht, 6., neub. und erw. Aufl., 1997. S. 20 (; zum Frieden als Staatszweck vgl. etwa Th. Hobbes. Leviathan, Il, S. 18 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2., durchges. Aufl., 1966, S. 714 ff.; Ch. Starck. Frieden als Staatsziel, in: B. Bömer, (Hrsg.): Einigkeit und Recht und Freiheit, in: FS filr K. Carstens, 1984, S. 867 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 9, 304 f.
2. Kap.: Überblick
35
existierenden, aber nicht hinreichend geklärten Rechtsbegriffs der Stabilität. Daß dieser wirtschaftliche Fokus im Hinblick auf die Währungsunion, die ein Element einer im weiten Sinn verstandenen deutschen und europäischen Wirtschaftsverfassung darstellt und unter Berücksichtigung auf das entscheidende Gewicht der Wirtschaft filr das allgemeine Leben selbstverständlich angebracht ist, jedoch umfassend auf die Gesamtwirtschaft bezogen sein muß und sich nicht nur aufWährungsfragen richten darf, ergibt das Ende des Zweiten Teils.
II. Zum Dritten Teil Der Dritte Teil entwickelt auf der Basis des Sozialprinzips das verfassungsimmanente Prinzip der gesamtwirtschaftlichen Stabilität. Das Sozialprinzip der Republik, das mehr als nur eine einfache Staatszielbestimmung darstellt, fordert, wie sich zeigen wird, als Voraussetzung allgemeiner Freiheit allgemeine ökonomische Selbständigkeit und stellt damit objektivrechtliche Anforderungen an die primär makrosozial ansetzende Gestaltung der Wirtschaft durch den Staat. Es impliziert wirtschaftliche Imperative als verbindliche Ausrichtungspunkte dieser Gestaltung, die sich in Form der ökonomischen Größen Beschäftigung, Geldwertstabilität und Wachstum ausdrücken lassen. Dieses Konglomerat erweist sich als materialer Kern des verfassungsimmanenten Prinzips "Gesamtwirtschaftliche Stabilität". Das Grundgesetz als Verfassungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland trägt dem schließlich in Art. I 09 Abs. 2 GG mit der verfassungsgesetzlichen Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Sinne einer Materialisierung der wirtschaftlichen Implikation des Sozialprinzips entsprechend Rechnung.
111. Zum Vierten Teil Versteht man das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht so als materialisierende Bestimmungsgröße des Prinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität und als diesem Prinzip folgende Staatszielbestimmung, stellt sich die wichtige Frage nach seiner inhaltlichen Auslegung. Dabei ist einerseits seine materiale Offenheit als Staatszielbestimmung sicherlich zu berücksichtigen, andererseits aber zweifellos in die Erwägungen einzubeziehen, daß die EinfUgung des die Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht begründenden Art. 109 Abs. 2 GG in einzigartiger Weise mit der Verabschiedung des Stabilitätsund Wachstumsgesetzes in Verbindung stand, das in § 1 den Begriff ebenfalls aufgreift und dort möglicherweise in Teilzielen weiter materialisiert. Der überwiegende Teil der Literatur zum Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht beschäftigte sich mit dem Thema im wesentlichen mit Blick auf konkrete, einzelne allgemeine wirtschaftspolitische und vor allem fiskalpolitische J·
36
1. Teil: Einfiihrung und Überblick
Maßnahmen zur Umsetzung eines Konzeptes der sogenannten Globalsteuerung. Beiträge erschienen eher vor "wirtschaftspolitisch-operativ" fokussierendem Hintergrund. 32 Diesbezüglich setzte sich die Meinung durch, beim Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht handle es sich letztlich nur um eine "weiche", mit "unbestimmten Rechtsbegriffen" operierende, sehr beschränkt justiziable Verfassungsvorschrift. In dieser, in der Breite recht gefestigten Denkweise lag auch der Grund, weswegen in der Debatte um die Währungsunion - trotz des zentralen Diskussionspunktes "Stabilität" - nur vereinzelt oder am Rande der Aspekt des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ins Spiel gebracht wurde. Die Begründung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und der nunmehr zurückliegende Beginn ihrer dritten (End-)Stufe erfordern jedoch, die damaligen Argumentationen nochmals aufzugreifen, allerdings mit anderem Blickwinkel, d.h. vor allem weggehend von einer an operativen ordnungspolitischen Modellen hängenden Denkweise. Zunächst beschäftigen sich die Austubrungen zu Anfang des Vierten Teils deshalb mit an sich "altbekannten" Fragestellungen und ebenso weitgehend bekannten Antworten, angefangen vom allgemeinen Anwendungsbereich des Gebots des Art. 109 Abs. 2 GG, der ja zunächst systematisch (lediglich) im X. Teil des GG an das Finanzwesen gekoppelt ist, über Verbindlichkeitsaspekte bis hin zu den einzelnen Teilzielen dessen, was unter dem Begriff "Magisches Viereck" - Preisniveaustabilität, hohe Beschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes Wachstum - als mögliche Materialisierung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts subsumiert wird. Dabei liegt hier - das wird im voraus betont - keine "neo-keynesianische" Argumentation vor. Ebensowenig wie die Betrachtung primär das Ziel verfolgt, ein Votum fUr oder gegen die Währungsunion als solche abzugeben, soll ein wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell mit jeweils bevorzugten Zielerreichungspräferenzen verfassungsrechtlich gestützt werden. Dies stände, wie sich herausstellen wird, genau gegen die in dieser Betrachtung vertretene Grundaussage; denn ganz im Gegenteil geht es im Anschluß vielmehr darum, den Aspekt der Zielsetzung von der Zielerreichung zu trennen und dadurch zu zeigen, daß das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht eine zweifache Funktionalität aufweist. Somit wird wiederum deutlich, daß "Gesamtwirtschaftliche Stabilität" als elementares Verfassungsprinzip nicht abhängig vom wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisstand sein kann, sondern unabhängig von zeitlich begrenzt präferierten wirtschaftspolitischen Theorien zu sehen ist. 32 Daneben wurde der Aspekt des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch immer wieder hinsichtlich der Frage der Erfassung des Geldwerts durch Art. 14 Abs. I GG herangezogen; vgl. dazu 3. Teil, 2. Kap., II., 4.
2. Kap.: Überblick
37
IV. Zum Fünften und Sechsten Teil Sofern ein solches verfassungsimmanentes Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität existiert, gilt es notwendig auch fiir die sich langfristig zum Status eines existentiellen Staates hin entwickelnde Europäische Union einschließlich der Wirtschafts- und Währungsunion. Es nimmt den größten Raum des Fünften Teils ein zu zeigen, wie das Gemeinschaftsrecht Aspekte dieses Verfassungsprinzips aufgreift und inwiefern es damit diesem Prinzip Folge leistet. Diese Untersuchung der einschlägigen primär- und sekundärrechtlichen Regelungen des Gemeinschaftsrechts vollzieht sich wiederum unter besonderer Berücksichtigung der wichtigen Unterscheidung von Zielerreichung und Zielsetzung. Unter diesem Differenzierungsaspekt sowie der Einbeziehung der Art der Rechtsquellen und ihrer Ranghöhe erfolgt schließlich eine vergleichende Betrachtung hinsichtlich der Bindung nationalen Rechts an das Verfassungsprinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität und dem filr die Teilnahme Deutschlands an der Wirtschafts- und Währungsunion entscheidendem Grad analoger Entsprechung des Gemeinschaftsrechts. Ein kurzes Resümee mit einem Ausblick auf die weitere Entwicklung der europäischen Integration bildet den Abschluß der Betrachtung.
Zweiter Teil
Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primär relevante Stabilitätsdimension f"dr die Europäische Währungsunion Erstes Kapitel
"Stabilität" - Allgemeines Begriffsverständnis I. Allgemeine Stabilitäts-Assoziationen und Stabilität in verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft Der Begriff "Stabilität" geht zurück auf das lateinische Substantiv "stabilitas", das Feststehen. Im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch wird Stabilität mit vielflUtigem inhaltlichen Bezug als andere Bezeichnung etwa ftlr "Haltbarkeit", "Festigkeit", "Beständigkeit" oder auch "Konstanz" gewählt. 33 Gemeinsam ist diesen weitgehend synonymen Begriffen, daß sie im Hinblick auf ein Zuordnungsobjekt dem Einzelnen ein gewisses Maß an "Sicherheit"34 und
33
So etwa in Brockhaus, 20., überarb. und aktual. Aufl., 1998, Stichwort "Stabilität".
"Sicherheit" ist in gewisser Weise als sehr allgemeiner Überbegriff eines Kanons positiv belegter Begriffe (neben den erwähnten auch z.B. Kontinuität) zu sehen, zu dem auch Stabilität gehört. F.-X Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, 1970, S. 158 f., sieht Sicherheit als gesellschaftlichen Wertbegriff und als Wertsymbol, der trotz aller begrifflichen Unschärfe und Vieldeutigkeit mit festem Verständnis verankert ist; dabei nimmt er eine Differenzierung zum einen nach auf Personen und Sachen bezogene Sicherheit - sie sind "geschützt vor Gefahr und Schaden" - , zum anderen nach Sicherheit als Zustand, der "Vertrauen erweckend", "gewiß, feststehend" und "zuverlässig" ist, vor. Zur Sicherheit als Staatszweck vgl. J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 3 ff., 21 ff.; ders. , Die Grundrechte als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht, in: J. Isensee!P. Kirchhof(Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 1992, § II I, Rn. 83, 137 ff.; Ch. Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 (1990), S. 7 ff. (S. 27 ff.); BVerfGE 49, 24 (56 f.) m.H.a. BVerwGE 49, 202 (209); vgl. auch G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987. 34
I. Kap.: "Stabilität" -Allgemeines Begriffsverständnis
39
Verläßlichkeit suggerieren, im Idealfall beide gewährleisten und damit in bestimmter Weise Berechenbarkeil zulassen. Darin dürfte jedenfalls die Kernbedeutung des Begriffs "Stabilität" in seiner ganz allgemeinen Verwendung liegen. 35 Für eine solche Deutung im Sinne des Zusammenhangs von "Stabilität" mit "Sicherheit" und "Berechenbarkeit" spricht auch seine Funktion als terminus technicus der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, deren Reihe hier nur exemplarisch sein kann36 : In der Mathematik steht Stabilität so als Ausdruck der Eigenschaft gleichbleibenden Funktionsverhaltens. Die Medizin spricht beispielsweise von der Stabilität des Blutkreislaufs des Menschen, die Psychologie kennt die Stabilität der Persönlichkeit, im statischen Sinn die Architektur die Stabilität von Gebäuden und Gegenständen. Chemie, Physik und Technik meinen mit Stabilität zum einen die zeitliche Beständigkeit eines Systems, zum anderen aber auch die Eigenschaft eines Systems, bei Störung durch systemfremde Faktoren in einen Gleichgewichtszustand zurückzukehren. Für einen genau definierten Atmosphärenzustand findet der Begriff in der Meteorologie Verwendung. Auch in den Geisteswissenschaften ist Stabilität ein gängiger Begriff, so ist etwa von "politischer Stabilität" die Rede; ebenso - wie unten noch gezeigt wird- bedient sich die Wirtschaftswissenschaft in spezifischer Weise des Terminus.
II. Doppelte Funktionalität im allgemeinen Begriffsverständnis Abstrakte Stabilität als (dynamische) Eigenschaft oder (statische) Referenzsituation Die Verwendungsvielfalt des Begriffs in so facettenreichen inhaltlichen Zusammenhängen läßt eine zutreffende allgemeingültige Definition von "Stabilität" schwierig, wenn nicht gar unmöglich erscheinen. Andererseits eröffnet sie gerade die Möglichkeit, einen durchgängigen Begriffskern sowie eine abstrakte Begriffsfunktion herauszuarbeiten.
35 Das englische Wort "stability" weicht von diesem Grundverständnis nicht ab, findet in der englischsprachigen Literatur weitgehend analoge Anwendung und trifft von daher auf die gleiche Bedeutungsvielfalt 36
Brockhaus, 20., Uberarb. und aktual. Aufl., 1998, Stichwort "Stabilität".
40
2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
1. Stabilität als Eigenschaft und als möglicher Gegenstand im Fachkontext Stabilität ist zunächst als Eigenschaft eines Betrachtungsobjekts zu sehen, die, wie oben bereits erwähnt, alternativ auch durch die Synonyme Haltbarkeit, Festigkeit, Beständigkeit, Stetigkeit, Gleichbleiben o.ä. zutreffend ausgedrückt werden könnte und das Verhalten des Betrachtungsobjekts im Zeitverlauf und/oder bei Einwirkung externer Kräfte beschreibt. 37 Spezifische Bedeutung erflihrt sie erst durch die inhaltliche Verknüpfung mit ihrem betrachteten Zuordnungsobjekt. Dementsprechend stellt Stabilität per se auch zunächst einen abstrakten Gegenstand dar. Zu einem eigenständigen Gegenstand kann sie aber in Verbindung mit der inhaltlichen Verknüpfung geraten, sofern sie- wie z.B. der bestimmte Atmosphärenzustand in der Meteorologie - mit ihrem Zuordnungsobjekt gleichgesetzt wird, sofern dieses eine bestimmte "StabilitätsAusprägung" aufweist. Ob Stabilität im jeweiligen Kontext tatsächlich solche gegenständliche Bedeutung erfährt, ist abhängig von Dauer, Art und Umfang der Begriffsgebräuchlichkeit in der jeweiligen Kontextauseinandersetzung.
2. Absolute oder relative materiale StabilitätAbhängigkeit vom Zuordnungsobjekt Zu venneiden ist das Mißverständnis, Stabilität sei material, also in ihrem jeweiligen inhaltlichem Bezug, grundsätzlich absolut oder statisch und insofern gleichbedeutend mit Stillstand. Dies kann, muß jedoch nicht so sein, denn dies ist ja abhängig vom Zuordnungsobjekt, das in Fonn einer fixen Konstellation oder einer variablen Konstellation bestehen kann. Im ersten Fall der fixen Konstellation bedeutet Stabilität deren (absolutes) Gleichbleiben, im zweiten Fall die Entwicklung der Konstellation mit gleichbleibenden Veränderungsraten und/oder gleichbleibender Veränderungsrichtung. In beiden Fällen handelt es sich um eine Bewertung, was als "Gieichbleiben" gelten kann und ab wann Abweichungen vorliegen, d.h. in welchen Ausprägungen der Konstellationen (noch) Stabilität oder (schon) Instabilität vorliegt.
37 Insofern besteht in diesem Fall eine gewisse Nähe zum in manch spezifischen fachlichen Kontexten üblichen Verständnis der "dynamischen Stabilität".
I. Kap.: "Stabilität" -Allgemeines Begriffsverständnis
41
3. Stabilität als positiv bewertete Zielkonstellation
Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß Stabilität als Begriff generell eher positiv belegt ise8, obwohl sie als Eigenschaft grundsätzlich auch ein Zuordnungsobjekt mit negativ bewerteteter Ausprägung kennzeichnen könnte. So soll eine architektonische Konstruktion stabil sein, der menschliche Kreislauf stabilisiert werden oder das seelische Befinden eines Menschen wieder in Stabilität versetzt werden - permanente soziale Unruhen etwa können dagegen zwar aufgrund der sich nicht bessernden Lage von der Sache her verfestigt und beständig, also an sich stabil sein, jedoch wird diese Situation in der Regel nicht als "stabil" bewertet, schon gar nicht wird sie mit dem Begriff "Stabilität" bezeichnet und ebenso nicht "stabilisiert" werden wollen. 39 Die oben erwähnte Assoziation mit "Sicherheit" und "Berechenbarkeit" wäre filr den Beispielfall sozialer Unruhen als Zuordnungsobjekt sicher nicht gegeben. Diesem Zuordnungsobjekt fehlte schlichtweg die genannte "Stabilitäts-Ausprägung", die sich entscheidend dadurch auszeichnet, einer allgemein positiven Bewertung zu unterliegen. Stabilität kann demnach neben ihrer Funktion als Eigenschaft auch per se positivgerichteten Zielcharakter40 und damit gegenständliche kontextabhängige Bedeutung im Sinne einer definierten Zielkonstellation41 besitzen, der im jeweiligen Sprachgebrauch möglicherweise sogar durch die anerkannte Bezeichnung dieser Konstellation als "Stabilität" (vgl. oben) direkt Rechnung getragen wird. In einigen Fachdisziplinen, so etwa in der gleich zu behandelnden Wirtschaftswissenschaft, liegt diese "Stabilitäts-Konstellation" in einem sogenannten "Gleichgewicht".
38 Dies ergibt sich schon aus der deutlich negativen Belegung des Gegenbegriffs "Instabilität". 39 So bleibt auch die Arbeitslosenquote eher "unverändert" oder "konstant", ihr Rückgang fUhrt dagegen zur "Stabilisierung" der Arbeitsmarktlage.
40 Auch § 55 UN-Charta beinhaltet den Begriff "Stabilität" als dort unbestimmte, jedenfalls aber positive Ausprägung einer Zielgröße, bringt ihn mit Wohlfahrt in unmittelbare Verbindung und nennt ihn als Friedensvoraussetzung: "Um jenen Zustand der Stabilität und Wohlfahrt herbeizuführen, der erforderlich ist, damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung der Völker beruhende Beziehungen herrschen, ...".
41 Hier liegt dann Verwandtschaft mit dem zur "dynamischen Stabilität" äquivalenten Begriff der "statischen Stabilität" vor.
42
2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
Zweites Kapitel
Stabilität in der Wirtschaftswissenschaft I. Stabilität als Eigenschaft des Gleichgewichts in der Gleichgewichtstheorie Wie erwähnt bedient sich auch die Wirtschaftswissenschaft des Terminus, der dort in den Kontexten "Gleichgewichtstheorie" oder- später zu erläutern"Stabilitätspolitik" besonderen Gebrauch fmdet. Man versteht Stabilität - zunächst differenzierend und im engeren Sinne deutend - als ein Eigenschaftskriterium eines Gleichgewichts, das als Erklärungsmodell zur Darstellung mikro- oder makroökonomischer Zusammenhänge mehrere in die Betrachtung einzubeziehende Elemente integriert und in einer bestimmten Ausprägung als Referenzsituation fungiert. Stabilität steht als Eigenschaftsaspekt des Gleichgewichts in einer Reihe mit den Kriterien der Existenz des Gleichgewichts, dessen Eindeutigkeit - ggf. sind also auch mehrere, "multiple" Gleichgewichtslagen vorstellbar- sowie seiner Optimalität.42 Ein Gleichgewicht (als Ursprungssituation) gilt dabei als stabil, wenn sich die Gleichgewichtselemente aus einer (später durch externen Anstoß verursachten) nicht-gleichgewichtigen Lage wieder zur Gleichgewichts-konstellation hin entwickeln. 43
II. Gleichgewicht im modellfunktionalen Verständnis und mit Referenzfunktion - Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht Das Gleichgewicht als Zuordnungsobjekt der Stabilität in diesem engen Sinne ist dadurch gekennzeichnet, daß es einen (idealen) Zustand repräsentiert, in dem alle beteiligten wirtschaftlichen Kräfte44 sich in einem Interdependenz42 Dazu etwa K. Jaeger, Stichwort "Gleichgewicht, ökonomisches", in: HdWW, Bd. 3, 1981, S. 671 ff. (S. 678 ff.). 43 Instabil ist es dagegen, driften die Gleichgewichtselemente aus dieser Lage auseinander; neutral, sofern sie sich nicht zur ursprünglichen, wohl aber zu einer neuen Gleichgewichtssituation hin bewegen, also mulitple Gleichgewichte im Modell existent sind; dazu K. Jaeger, Stichwort "Gleichgewicht, ökonomisches", in: HdWW, Bd. 3, 1981, S. 671 ff. (S. 684 f.), U. Fehl, Stichwort "Gieichgewichtstheorie", in: E. Dicht!/ 0. lssing (Hrsg.): Vahlens großes Wirtschaftslexikon, 2., überarb. u. erw. Aufl., 1993, S. 830 f. (S. 830); auch J. Kromphardt, Wirtschaftswissenschaft II: Methoden und Theorienbildung in der Volkswirtschaftslehre, in: HdWW, Bd. 9, 1982, S. 904 ff. (S. 922).
44 Die Art der Kräfte hängt von der Betrachtungsebene ab. Von Mikro- zu Makroebene wechselnd steigt das Aggregationsniveau der herangezogenen Elemente.
2. Kap.: Stabilität in der Wirtschaftswissenschaft
43
geflecht gegenseitig ausgleichen und keine der Kräfte Antrieb findet und sucht, sich aus dieser Lage zu entfemen. 45 Neben diesem aus der volkswirtschaftlichen Modelltheorie gegriffenen und auf das mechanisch-physikalische Gleichgewicht zurückgehenden modellfunktionalen Gleichgewichtsbegriff als analytisches Instrument zur Erklärung realer oder hypothetischer wirtschaftlicher Zusammenhänge vermag ein Gleichgewicht jedoch auch Referenzfunktion innezuhaben, d.h. ein in bestimmter Weise ausgeformtes Ziel zu verkörpem.46 Dabei kann es, muß es aber nicht unbedingt dem Gleichgewichtsbild des Kräfteausgleichs im geschlossenen Modellsystem entsprechen; vielmehr steht im Vordergrund, daß seine nebeneinanderstehenden Elemente jeweils eine positiv bewertete Ausprägung annehmen, die nach allgemeiner Einschätzung als Ziel der Verfolgung wert sind. Weniger im Sinne des modellfunktionalen Begriffs, sondern vielmehr in seiner Funktion als "wirtschaftspolitisch erwünschter Zielzustand" mit "normativem Charakter"47 ist schließlich der bekannte Terminus "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" zu verstehen.
111. "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" und "Stabilität" der Gesamtwirtschaft im Kontext der Stabilitätspolitik Differenziert die Wirtschaftswissenschaft in der allgemeinen Fachliteratur48 im Rahmen der "Gleichgewichtstheorie" zunächst also einen engeren Eigen-
45 So setzen Lexika "Gleichgewicht" mit einem "Beharrungszustand" gleich, in dem keine Veranlassung zum Dispositionswechsel besteht, vgl. Gabler Wirtschaftslexikon, 14. Aufl., 1997, Stichwort "Gleichgewicht"; zum klassischen Verständnis des wirtschaftlichen Gleichgewichts als Lage, in der "sämtliche Variablen der Gesamtwirtschaft bei gegebenen volkswirtschaftlichen Daten solche Werte haben, daß kein Wirtschaftssubjekt Veranlassung hat, seine Disposition zu ändern.", E. Schneider, Einfllhrung in die Volkswirtschaftslehre, II. Teil, 12. Aufl. 1969, S. 386; Gleichgewichte in der Volkswirtschaftslehre als "Zustände, in denen alle gegebenen wirtschaftl. Zusammenhänge vereinbar und verträglich sind, in denen widerstrebende gesellschaftl. Kräfte zu einem Ausgleich kommen können und in denen wirtschaftl. Mechanismen reibungslos und deshalb filr alle besser funktionieren.", Brackhaus-Die Enzyklopädie, 20. überarb. und aktual. Aufl., 1997, Stichwort "Gleichgewicht".
46 V. Fehl, Stichwort "Gleichgewichtstheorie", in: E. Dichtl/0. Issing (Hrsg.): Vahlens großes Wirtschaftslexikon, 2., überarb. u. erw. Aufl., 1993, S. 830 f. (S. 830). 47 K. Jaeger, Stichwort "Gleichgewicht, ökonomisches", in: HdWW, Bd. 3, 1981, S. 671 ff. (S. 671), der filr die Theorie des ökonomischen Gleichgewichts eben auch zwei Entwicklungslinien sieht, von der die erste auf das Gleichgewicht in seiner mathematischen Funktion abzielt, die zweite eher "sozialphilosopische" Bedeutung hätte, die auf Leibniz' "prästabilierter Harmonie" und Loclres "Gleichgewicht der Kräfte" aus der Mitte des 18. Jahrhunderts zurückginge (S. 693 f.).
48
Also nicht im Zusammenhang mit der Europäischen Währungsunion.
44
2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
schaftsbegriff "Stabilität" in bezug auf ein "Gleichgewicht" als der Stabilität folglich übergeordneten Begriff, ist interessant festzustellen, daß die einschlägige Übersichtsliteratur49 weder dem Begriff "Stabilität" noch dem Begriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" eigenständige Ausfiihrungen unter eigenem Stichwort widmen. Vielmehr wird analog zur Lehrliteratur das "Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht" stets im Kontext des wirtschaftspolitischen Aufgabensegments "Stabilitätspolitik" oder "Stabilisierungspolitik"50 als deren makroökonomische Zielkonstellation behandelt; Stabilitätspolitik ist also eine Politik eines Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. An dieser Funktion als wirtschaftspolitische Zielkonstellation entzündet sich der Meinungsstreit der unterschiedlichen nationalökonomischen Grundlinien im Ergebnis jedenfalls nicht wesentlich - sei es neoklassisch-monetaristische oder keynesianischfiskalistische Sichtweise51 ; Objekt dieser Auseinandersetzung um das richtige stabilitätspolitische Konzept zwischen Verstetigungspolitik oder antizyklischer Stabilitätspolitik52 ist vorrangig lediglich die Frage nach Qualität und Quantität der Mittel und Maßnahmen zur bestmöglichen Zie/erlangung. Der Begriff "Stabilität" kommt in diesem Kontext - wenn überhaupt als alleinstehendes
49 So in HdWW, HdFinW, Vahlens großes Wirtschaftslexikon, Gabler Wirtschaftslexikon.
50 "Stabilitätspolitik" und "Stabilisierungspolitik" werden gelegentlich differenziert, wobei die Stabilitätspolitik auf die Erhaltung einer bestehenden Stabilität abzielt, die Stabilisierungspolitik dagegen auf die Erreichung von Stabilität gerichtet ist; vgl. D. Casse/IH. J Thieme, Stabilitätspolitik, in: D. Bender, u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 7. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 365, 372 ff.). 51 Wenngleich die neoklassisch geprägte Stabilitätspolitik als explizite Ziele Preisstabilität und Beschäftigung verfolgt; die anderen beiden Teilziele des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts wären nur (automatische) Nebenziele, wobei das Wachstumsziel im Rahmen einer separierten Wachstumspolitik durchaus angestrebt wird; zur wesentlichen Unterscheidung der beiden Grundlinien mit Bezug auf "Stabilitätspolitik" U. Teichmann, Grundriß der Konjunkturpolitik, 5., verb. und erw. Aufl., 1997, S. 216 ff.; D. Cassel/H. J Thieme, Stabilitätspolitik, in : D. Bender, u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 366 ff.) m.w.N.; dort auch zu stabilitätspolitischen Zielsetzungen (S. 376 ff.); analog zu den Zielsetzungen auch H. Berg! D. Casse/!K.-H. Hartwig, Theorie der Wirtschaftspolitik, in: D. Bender, u.a., ebendort, S. 237 ff.; siehe auch die Nachweise zu 4. Teil, 2. Kap., V., 2., b), aa) und 4. Teil, 2. Kap., VII., 2., a).
52 Dazu kurz und prägnant J Starbatty, Stichwort "Stabilitätspolitik", in: E. Dichtl/0. Issing (Hrsg.): Vahlens großes Wirtschaftslexikon, 2., überarb. u. erw. Aufl., 1993, S. 1964 f.
2. Kap.: Stabilität in der Wirtschaftswissenschaft
45
Wort- gelegentlich als verkürzter Ausdruck filr Preisniveaustabilität vor53 , die ein Element des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts darstellt.
IV. Gesamtwirtschaftliche Stabilität als mehrdimensionaler Zielkanon Wenn aber "Stabilitätspolitik", also wohl Wirtschaftspolitik filr Stabilität, sich - was offensichtlich hervorgeht - nicht allein an der Preisniveaustabilität als finales Ziel ausrichtet, sondern allenfalls eine bestimmte volkswirtschaftlich-stabilitätspolitische Lehrmeinung ausschließlich oder primär Preisniveaustabilität als Mittel zur Zielerreichung zu verfolgen empfiehlt, kann "Stabilität" der "Stabilitätspolitik" dann nur - im weiteren Sinn - mit einem mehrdimensionalen wirtschaftspolitischen Zielkanon in bestimmter Ausprägung, üblicherweise dem "magischen Viereck" des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, gleichgesetzt werden. 54 Das geht schon aus der Logik der Begriffiichkeiten hervor.55 Mit Stabilität im Sinne der Stabilitätspolitik ist somit also die Existenz einer bestimmten Konstellation wirtschaftlicher Größen als auch ihre Beständigkeit im Zeitverlauf gemeint, wobei ihre Elemente nicht absolut konstant bleiben, sondern in ihrer Ausprägung lediglich ihre positive Bewertung beibehalten müssen: Gesamtwirtschaftliche Stabilität. Ihre Erhaltung und gegebenenfalls (Wieder-)Erlangung steht im Fokus staatlicher Stabilitätspolitik.
53 Vorwiegend in älterer volkswirtschaftlicher Literatur findet sich vereinzelt entsprechend auch "Stabilitätspolitik" als engerer Begriff im Sinne einer Politik mit dem alleinigen Ziel der Preisniveaustabilität
54 Für dieses weite Verständnis spricht (mit möglicher Ausklammerung des Wachstumsziels) auch der Titel des "Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes"- "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" vom 8. Juni 1967, BGBI. I S. 582 -, das in § I Satz 2 das sog. "magische Viereck"- Preisniveaustabilität, hoher Beschäftigungsgrad, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie stetiges und angemessenes Wachstum - als Zielbestimmung der wirtschaftspolitischen Aktivitäten erfaßt, die das Gesetz vorsieht. Würde sich "Stabilität" nur auf Preisstabilität beziehen, wäre ein anderer Titel, der entweder keines oder alle der wirtschaftspolitischen Ziele beinhaltet, angemessen gewesen; siehe dazu auch unten 4. Teil, 2. Kap., V., I. 55 Mit einem solchen weiten, neben Preisniveaustabilität auch andere Aspekte, insb. Konjunktur- und Beschäftigungsziele gleichwertig integrierenden Verständnis des wirtschaftspolitischen Begriffs "Stabilität" als Ziel der "Stabilitätspolitik" auch Helmut Wagner, Stabilitätspolitik, 5. überarb. und erw. Aufl., 1998, S. I f., der hier allerdings (sogar) eher inhaltlich, nicht begrifflich-logisch argumentiert.
46
2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
Drittes Kapitel
Stabilität im Gemeinwesen Nachdem sich bei abstrakter Betrachtung die doppelte Funktionalität von Stabilität als Eigenschaft und Zielkonstellation erwiesen hat, stellt sich mit der gewählten Perspektive auf ein etwaiges Verfassungsprinzip "Stabilität" filr die Bundesrepublik Deutschland und deren Teilnahme an der Europäischen (Währungs-)Union die Frage, welche Zuordnungsmöglichkeiten zwischen dem als Staat organisierten Gemeinwesen und Stabilität existieren (könnenl6 ; unabhängig von der umstrittenen Frage nach Art und Ausmaß ihres staatlichen Charakters57 betrifft dies letztlich auch die EU.
I. Assoziationen von Staat und Stabilität Dominanz der "politischen Stabilität" "Stabilität" weckt im Zusammenhang mit "Staat" im allgemeinen eine Reihe vielgestaltiger Assoziationen. Von einem "stabilen Staat" ist die Rede etwa dann, wenn man der Auffassung folgt, daß dort - je nach Betrachtungsperspektive einzeln oder kumulativ - etwa ,,politische Stabilität', "stabile Machtverhältnisse", "rechtliche Stabilität' oder "wirtschaftliche Stabilität' 56 So beschäftigt sich H. Beck. Die Stabilität von Integrationsgemeinschaften, 1998, zugl. Diss. Univ. Mainz 1998, mit "Stabilität" als erstrebter, gemeinsam definierter Zustand einer Integrationsgemeinschaft: ein solcher ist - in einer stark gleichgewichtsähnlichen Definition - dann als Stabilität der Integrationsgemeinschaft aufzufassen, "wenn alle Regelungen, welche zu ihrer Realisierung und zur Erreichung der mit ihr verbundenen Ziele notwendig sind, ohne Einschränkung Gültigkeit haben. Für keines der Mitglieder dürfen nach Realisierung der Integrationsform Anreize entstehen, die vereinbarten Regelungen zu brechen oder zu umgehen, oder aber einseitig weitergehende Konzessionen anzubieten und damit eine höhere Form der Integration anzustreben." (S. 70.). 57 Vgl. dazu BVerfGE 89, 155 (188 ff.); P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: J. Isensee!P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 183 Rn. 69; ders., Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965 ff. (S. 967 f.); ders., Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: J. Isensee (Hrsg.): Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2., unveränd. Autl., 1994, S. 63 ff. (S. 92 ff.); K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeil der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff.; W. Hankel/ W. Nölling!K. A. Schachtschneiderl J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 249 ff. (vgl. Fn. 94).
3. Kap.: Stabilität im Gemeinwesen
47
vorliegen. Der Europäische Rat legte 1993 als Kriterium ftlr den Beitritt weiterer Staaten zur Europäischen Union eine nicht weiter definierte "institutionelle Stabilität als Garantie ftlr demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, ftlr die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten" fest. 58 Die Zuordnungsobjekte der Stabilität sind in diesem unspezifischen Gebrauch jedoch sehr unbestimmt und häufig willkürlich, ebenso geben sie keinen Anhaltspunkt ftlr die Beurteilung ihrer Ausprägung, die zur Bestimmung der Stabilität notwendig ist. Vorwiegend zu finden ist die begriffliche Wendung der "politischen Stabilität", die quasi allumfassend sein soll. Insbesondere sie leidet an mangelndem spezifischeren Inhalt. Signifikant ist dafür die Erklärung des Ministerpräsidenten des Freistaats Sachsen, Kurt Eiedenkopf "Politische Stabilität z.B. heißt die allgemeine Stabilität eines Gemeinwesens."59
Ein Erklärungsversuch in der Grundlagen(lehr)literatur seitens der Politikwissenschaft ftlr die Stabilität des politischen Systems, also politische Stabilität, der auch wieder die Verbindung zu einer wie auch immer gearteten Gleichgewichtslage herstellt, lautet: "Unter dem Begriff der Stabilität eines Systems versteht man sowohl seine Beständigkeit als auch seine Standfestigkeit So beruht Stabilität eines politischen Systems sowohl auf der Dauerhaftigkeit, Verläßlichkeit und Vorhersehbarkeit seiner einzelnen Institutionen, Prozesse und Entscheidungsinhalte als auch auf seiner Fähigkeit, größere Erschütterungen in der Binnenstruktur sowie der internationalen Umwelt zu verarbeiten und zu seiner Gleichgewichtslage zurückzukehren. Stabilität setzt sowohl Kontinuität als auch Wandel, genauer gesagt, Kontinuität im Wandel voraus. Gemessen an diesen Kriterien zeichnet sich das politische System der Bundesrepublik durch eine erstaunliche Stabilität aus."60
Um die politische Stabilität geht es auch der Euro-Klage, wenn sie die Befriedungsfunktion des Bundesverfassungsgerichts ausführt; denn: "Es hat die Aufgabe, den großen Streit um das Recht zu befrieden." 61
58
Europäischer Rat, Konferenz von Kopenhagen, Juni 1993.
K. Biedenkopf. Rede auf der 724. Sitzung des Bundesrates am 24. 4. 1998, abgedruckt in: Schriften des Internationalen Hochschulinstituts Zittau, Heft 9, Jg. 1998, S. 7 ff. (S. II). 59
60 K. Sontheimer/ W Bleek.. Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., 1998, S. 407. 61
W Hanke/l W Nölling!K. A. Schachtschneider!J. Starbatty. Die Euro-Klage, 1998,
s. 294.
48
2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
Dahinter steht der Gedanke, daß das Recht wesentliche Grundlage aller Politik im Staat ist; deshalb auch das Erkennen von Politik als "ausübende Rechtslehre"62. Das Gericht muß die Rechtlichkeit im Staat aufrechterhalten und trägt damit entscheidend zu dessen politischer Stabilität, letztlich der gesamten Stabilität des Staates bei; denn "Alles Staatliche ist politisch."- Kar! Albrecht Schachtschneider63
Politische Stabilität ist Stabilität im politischen Gemeinwesen und kann ihre Maßstäbe nur im Recht fmden. 64
II. Stabilität im Staat ("Staatsstabilität") als bewertete Verfassungsverwirklichung? Würde man sich mit "Stabilität des Staates", "Staatsstabilität" oder auch "Stabilität im Staat" beschäftigen wollen, wäre Zuordnungsobjekt einer solchen Stabilität zunächst der Staat, der- um Stabilität aufzuweisen -, wie oben dargelegt, sich durch eine bestimmte Ausprägung auszeichnen müßte, die wiederum im Staat positive Bewertung erfahrt. Der Staat65 jedoch defmiert sich durch die Verfassung und verwirklicht sich in seinem der Verfassung folgenden Verfassungsgesetz, durch das er im engeren Sinn konstitutiert wird66; so kann sich die auf ihn bezogene Stabilitätsfrage letztlich nur auf der Basis seiner Verfassungsgrundlage beantworten lassen. Aus der Verfassung und dem Verfassungsgesetz ergibt sich allerdings ein umfangreicher Katalog von Aspekten, die den Staat bestimmen und kennzeichnen. Diese Aspekte gibt die Verfassung zur Gestaltung des Staates ihm selbst zur Verwirklichung auf. Sie wären einzelne (Teil-)Zuordnungsobjekte einer denkbaren "Stabilität des Staates". Eine positive Bewertung im Staat erfiihrt der 62 /. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 228; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 909 ff. 63
K. A. Schach/schneider, Res publica res populi, 1994, S. 193.
"Politik ist der Diskurs um die Gesetze zur Verwirklichung der allgemeinen Freiheit durch Recht. In diesem Sinne sind das Politische, das Freiheitliche, das Gesetzliche und das Staatliche identisch."; Prinzip der Politik ist die Einigkeit, der Konsens; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 98 f., 124 f. 64
65 I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 431, definiert den Staat als "Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen"; zur republikanischen Rechtsstaatlichkeil m.v.N. vgl. v.a. K. A. Schach/schneider, Res publica res populi, 1994, S. 519 ff.
66 Vgl. hierzu K. A. Schachtschneider (0. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, 1996, S. 29 ff., S. 50 ff..
3. Kap.: Stabilität im Gemeinwesen
49
Staat formal dann, wenn er eine reale Ausprägung annimmt, in der all diese Aspekte zeitgleich verwirklicht sind; dann wäre der Staat stabil, läge "Staatsstabilität" vor. Seine Stabilität ergibt sich dabei letztlich aus der Zusammenschau der (Unter-)Stabilitäten seiner Determinanten und kennzeichnenden Aspekte. Die real-materiale Bewertung allerdings, wann in der Wirklichkeit, d.h. in welchen realen Ausprägungen, die Aspekte als verwirklicht gelten können, obliegt dem Volk als Träger des Staates, das sich im Staat in geeigneter Weise organisiert67 • Die fiir die Beurteilung von Stabilität des Staates notwendige Bewertung seiner Ausprägung als Zuordnungsobjekt vollzieht sich demnach auf zwei Ebenen: Erstens die formale Festlegung derjenigen Aspekte, nach denen sich die Bewertung zu richten hat. Sie ist Aufgabe des Verfassungsgesetzes, die diese Aufgabe möglicherweise auch durch bewußtes Offenlassen erfiillen kann. Die Verfassung zu erkennen und zu verstehen, ist Sache der Rechtswissenschaft, vor allem der Rechtslehre, die die Rechtsprechung zu berücksichtigen hat. Zweitens die real-materiale Bewertung, die dem organisierten Volk obliegt, das aufgrundder Ausprägung der von der Verfassung vorgegebenen Aspekte oder - falls die Verfassung auf eine solche direkte Vorgabe verzichtet - eigens gewählter, dann in jedem Fall aber verfassungskonformer und an Verfassungsprinzipien ausgerichteten Kritierien zum Ergebnis eines Bestehens oder Nichtbestehens von Stabilität kommt. Das Volk handelt dabei wiederum nach dem ihm selbst gegebenen Verfassungsgesetz oder einfachen Gesetzen; ihm steht die Rechtswegmöglichkeit grundsätzlich offen, so daß auch die zweite Beurteilungsebene gegebenenfalls letztendlich bei der Rechtsprechung liegt.
111. Vielschichtigkeit möglicher Stabilitätsdimensionen im verfaßten Staat In Anbetracht der vielfältigen Aspekte, die den Staat aus seiner Verfassung heraus kennzeichnen, sind also auch ebenso vielfältige "Unterstabilitäten" im Staat vorstellbar, die sich jeweils einen dieser Aspekte als Zuordnungsobjekt herausgreifen. So wie sich die umfassende Staatsstabilität als Zusammenschau aller "Unterstabilitäten" verstehen läßt, sind auch andere, spezifischere Stabilitätszusammenhänge denkbar. Die oben als von der Allgemeinheit gebräuchlichen genannten Stabilitätsdimensionen deuten dies an. Sie müssen jedoch ftlr eine staatsrechtliche Betrachtung auf Verfassungsaussagen gestützt werden. Insofern ist jede auf den Staat bezogene Stabilitätsbetrachtung zunächst eine 67 Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 96, 165, 1046 m.V.a. C. Schmitt und Hermann Heller.
4 Hänsch
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2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
Frage rechtlicher Stabilität im weiteren, nämlich für andere Stabilitätsdimensionen grundlegenden Sinn. So könnte sich freilich dagegen eine rechtliche Stabilität im engeren Sinn etwa auf das gesamte positive Recht im Staat beziehen; hier wäre dann u.a. zu fragen, in welcher Weise die Verfassung Vorgaben ftir das Zustandekommen und die Art von positivem Recht liefert und inwieweit sich das Recht realiter diesen Vorgaben nach gestaltet. Prinzipien des Rechts wie die des Vertrauensschutzes68 oder der Bestimmheit69 Jassen ein große Nähe zu "Stabilität" vermuten ebenso wie die Rollen der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 oder der sogenannten "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 im deutschen Grundgesetz in Betracht zu ziehen wären. Allein die Existenz eines Verfassungsgesetzes selbst und die Bestimmungen zu seiner Änderbarkeit bedeuten ein hohes Maß an rechtlicher Stabilität. Die Frage etwa nach politisch-institutioneller Stabilität müßte sich auf das Prinzip der Gewaltteilung - die in einem technischen Stabilitätsverständnis schon wieder an eine Gleichgewichtssituation erinnerte - , den Föderalismus oder die verfassungsgemäße Art staatlicher Organe sowie deren objektiv-abstrakte und subjektiv-personelle Zusammensetzung richten und wie es in der Realität um sie bestellt ist. Von "sozialer Stabilität" als legitimes Ziel staatlicher Gesetzgebung sprach 1961 das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum "Großen Betähigungsnachweis"70• Solchen weiteren exemplarischen Staatsstabilitätsdimensionen wird hier jedoch nicht weiter nachgegangen; sie bedürften eigenständiger Untersuchungen. Die vorliegenden Betrachtungen fokussieren nur die wirtschaftliche Dimension staatlicher Stabilität. Einzelne Stabilitätsdimensionen können aber wegen bestehender Interdependenzen, die wiederum das Abgrenzungsproblem offenbaren, nicht vollständig isoliert untersucht werden - zu denken ist nur an den
68 Vgl. zum Vertrauensschutzprinzip BVerfGE 76, 256 (347 f.)- "Verläßlichkeit der Rechtsordnung ist wesentliche Voraussetzung fiir Freiheit"; K. A. Schachtschneider, Das Rechtsstaatsprinzip der Republik, unveröff. Manuskript des Lehrstuhls fiir Öffentliches Recht, Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät Nümberg, 1992, S. 89 ff.; K.-H. Lenz, Das Vertrauensschutz-Prinzip. Zugleich eine notwendige Besinnung auf die Grundlagen unserer Rechtsordnung, 1968; Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip. Überlegungen zu seiner Bedeutung fiir das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 208 ff. ; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 283 ff.
69 Vgl. zum Bestimmtheitsprinzip K. A. Schachtschneider, Das Rechtsstaatsprinzip der Republik, unveröff. Manuskript des Lehrstuhls fiir Öffentliches Recht, Wirtschaftsund sozialwissenschaftliche Fakultät Nümberg, Nümberg 2000, S. 114 ff. 70
BVerfGE 13,97 (112).
4. Kap.: Stabilität als Leitaspekt der Diskussion über die EWU
51
Zusammenhang von wirtschaftlicher Gemeinschaft in Europa und dem Stand adäquater politischer Integration.
Viertes Kapitel
Stabilität als Leitaspekt in der breiten Diskussion 71 über die Europäische Währungsunion I. Beschränkung auf die wirtschaftliche Dimension Die fachliche Auseinandersetzung um die Europäische Währungsunion und die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland stellte sowohl von nationalökonomischer als auch von rechtswissenschaftlicher Seite primär Stabilität in ihrer wirtschaftliche Dimension als Leitaspekt der Währungsunion in den Mittelpunkt; dem liegt zugrunde, daß Währung und Wirtschaft äußerst eng miteinander verknüpft sind und Währungspolitik als Teil der Wirtschaftspolitik zu sehen ist. Andere Stabilitätsdimensionen, die filr Deutschland als Staat in einer durch die Währungsunion ein neues Niveau erreichenden Integrationsgemeinschaft durchaus ebenso Relevanz entfalten könnten, wurden - weitestgehend auch seitens des Politikwissenschaft - allenfalls indirekt angeschnitten, da sie im (kausalen) Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Stabilität- etwa denkbare politische Schwierigkeiten aufgrund eines Mißerfolgs der Währungsunion- stehen. Analog zu dieser Reduktion des Begriffs auf seine wirtschaftliche Dimension in der fachlichen Debatte wurde Stabilität auch in der allgemeinen Diskussion immer in ihrem Bezug auf die Volkswirtschaft verstanden.
II. Wirtschaftliche Stabilitätsdimension im Fokus der Rechtswissenschaft Die Nationalökonomie beschränkte sich dabei naturgemäß auf diesen volkswirtschaftlichen Blickwinkel. Der vorrangige Fokus auch der Rechtswissenschaft und -sprechung auf wirtschaftliche Stabilität erklärt sich aus der Notwendigkeit im Rechtsstaat, die Vergemeinschaftung der Währung, die den Staat
71 In einem "allumfassenden" Verständnis sind hier sowohl die Beiträge in der allgemeinen Literatur, die Auseinandersetzungen innerhalb der betroffenen Fachdisziplinen sowie auch die einschlägige Rechtsetzung und Rechtsprechung, insb. die des BVerfD, gemeint.
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2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
in seinen konstituierenden Grundlagen verändert, einer geeigneten rechtlichen Basis zuzuftlhren, die sämtliche Auswirkungen hinreichend berticksichtigt. 72 Durch das facettenreiche volkswirtschaftliche Beziehungsgeflecht zwischen Währung und Wirtschaft bedurfte die Schaffung dieser rechtlichen Basis somit auch der Auseinandersetzung mit volkswirtschaftlichen Überlegungen und der Entscheidung über Einbeziehung und Form derer Umsetzung in Rechtssätze. Im Vergleich zu der in der Deutschland lange Zeit lebhaft geftlhrten Diskussion um die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes erfuhr diese Aufgabe zusätzliche Qualität, da es hier nicht nur um die vermeintliche Implementierung ökonomischen Gedankenguts in das nationale Recht ging, sondern zusätzlich um die Frage der Vereinbarkeil von nationalem Recht und national unterschiedlich geprägten wirtschaftspolitischen Grundeinsteilungen einerseits mit einem quasi neu geschaffenen - Gemeinschaftsrecht andererseits. Anders als die Nationalökonomie, ftlr die eine jeweils neue Begriffsdefinition ftlr Stabilität im einzelnen Betrachtungskontext möglich ist, stand und steht die Rechtswissenschaft grundsätzlich vor dem Erfordernis, ein einheitliches Verständnis ftlr den Begriff der Stabilität herauszubilden, soll er denn rechtliche Wirkung erlangen. Dieses Verständnis kann im Hinblick auf die Notwendigkeit und Funktion offener Rechtsbegriffe 73 durchaus auch darin bestehen, keine feststehende Interpretation zu entwickeln. Die Rechtslehre bezieht sich dabei wiederum auf die Vorgaben der Nationalökonomie, die aber eben den Mangel an konstanter begrifflicher Klarheit aufweisen. Hinzu kommt die einschränkende Frage, wie weit der wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisstand überhaupt Einfluß auf die- von Fragen der Zielerreichung zu differenzierende - normative Zielsetzung des Staates nehmen kann. 74
72 "Die Legitimation der Juristen, zugleich auch die Herausforderung an sie, entsteht mit der Umsetzung und Verankerung wirtschaftlicher, währungspolitischer Verhaltensregeln in Rechtsregeln. Damit kann die Beschreibung der Währungsunion sich ausgeben als (juristische) Darstellung von Gesetzesinhalten, damit besteht die Möglichkeit und zugleich die Notwendigkeit, diese Texte juristisch zu lesen, das heißt auch, sie als Rechtssätze zu interpretieren ...", G. Nicolaysen, Rechtsfragen der Währungsunion, 1993, S. 7 f. (Hervorh.i.Orig.).
73 Zur Offenheit von Rechtsbegriffen als Verneinung ihrer Bestimmtheit und die Abgrenzung zum gängigen Begriff des "unbestimmten Rechtsbegriffs" vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 819 ff. (insb. S. 853 f.), S. 868 ff., 1033 ff. ; ders .. Das Sozialprinzip, S. 38; siehe dazu auch unten 3. Teil, I. Kap., II., 3. sowie 4. Teil, 2. Kap., II. 74
Siehe dazu ausführlich unten, 4. Teil. 2. Kap., VII., 2.
4. Kap.: Stabilität als Leitaspekt der Diskussion über die EWU
53
111. Unterschiedliche Begriffsinterpretationen und fehlender Rechtsbegriff Stabilität fand in der breitgefächerten und langwährenden Diskussion über die Europäische Währungsunion keine einheitliche Interpretation; die Interpretationsspannweite ging dabei von einer Stabilität als reine Preisniveaustabilitäe5 bis hin zu einer undefinierten Gesamtschau aller volkswirtschaftlichen Aspekte. Während die (eher) volkswirtschaftlichen Beiträge häufig ihr kontextindividuelles Begriffsverständnis allein schon durch eine begriffliche Spezifikation - z.B. "Geldwertstabilität" anstelle "Stabilität" - darlegten, wurde in etlichen rechtswissenschaftliehen Beiträgen zentral von Stabilität gesprochen, ohne daß dabei immer offensichtlich war, auf welche Form von Stabilität sich die Ausfilhrungen beziehen. Nach der oben ausgefilhrten abstrakten Begriffslogik fehlte also zumindest die Klarstellung, gelegentlich vermutlich auch das Bewußtsein der Zuordnungsobjekte. Eine einheitliche Linie, die sich gegebenenfalls auch noch in einer solchen Weise verfestigt hätte, daß sich ein staatsrechtlicher Begriff "Stabilität" wirtschaftlicher Dimension mit hinreichender Bestimmtheit herausfiltern hätte können, hat sich in der rechtswissenschaftliehen Diskussion jedenfalls nicht ergeben. Ein festes, juristisch allgemein anerkanntes Begriffsverständnis von wirtschaftlicher Stabilität im Staat bestand ebensowenig bereits zu einem frllheren Zeitpunkt - etwa aus der Finanzverfassungsreformdiskussion Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre 76 - ,da der Begriff der Stabilität bis zur Währungsunionsdiskussion nicht vergleichbar in den Vordergrund rückte 77 • Allerdings ist in der Kommentierung zu Art. 109 GG bei Fischer-Menshausen dennoch eine Definition zu lesen, die material sehr umfassend ist: "Stabilität bedeutet den Zustand gleichzeitiger und gleichrangiger Verwirklichung der großen wirtschaftspolitischen Ziele im Rahmen der marktwirtschaftliehen Ordnung."78
75 Siehe zur Abgrenzung der Begriffe Preisniveaustabilität, Geldwertstabilität und Währungsstabilität unten, 4. Teil, 2. Kap., V., l., b), bb). 76 Hier dominierten die Begriffe "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" und "Globalsteuerung", nicht aber "Stabilität"; vgl. dazu die Nachweise unten Vierter Teil, insb. 4. Teil, 2. Kap., 111., I.
77 Zumindest nicht als primäres allgemeines wirtschaftspolitisches Leitprinzip. Im engeren Zusammenhang mit der (Geld-)Politik der Deutschen Bundesbank war Stabilität im Sinne von Geldwertstabilität entsprechend der gesetzlichen Vorgabe aus § 3 BBankG a.F., "die Währung zu sichern", durchaus zentraler Aspekt. 78 H. Fischer-Menshausen, Art. 109, in: v. Münch!Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 10.
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2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
Ausdrückliche Überlegungen zum Begriffsverständnis "Stabilität" oder auch nur die Fragestellung nach einem klareren Verständnis fanden sich in der gesamten Diskussion höchst selten, sind jedoch im Hinblick auf eine solch zentrale Stellung insbesondere auch in der juristischen Auseinandersetzung in höchstem Grad erforderlich. In der Sitzung des Bundesrats zur Entscheidung über die Währungsunion im April 1998 stellte Kurt Eiedenkopf insoweit zutreffend und Anstoß gebend fest: "Wir werden uns also ohne Zweifel sehr intensiv in den kommenden Jahren auch über das unterhalten und auch streiten müssen, was wir eigentlich unter Stabilität verstehen." 79
Welch unterschiedliche begriffliche Verwendung "Stabilität" im Kontext der Europäischen Währungsunion trotz ihrer Verständniseinheitlichkeit erfordernden Funktion als Leitbegriff fand und welch hohen Grad begrifflicher Inkonsequenz die "Stabilitätsdiskussion" aufwies, zeigt schon eine kritische, wenn auch nur knappe Betrachtung einiger wesentlicher Termini in der Diskussion: 1. "Stabilitätsgemeinschaft" und Konvergenzkriterien als "Stabilitätskriterien"
Einer der grundlegenden Ausgangspunkte für die Anschlußdiskussion über die Europäische Währungsunion bestand sicherlich in der wesentlichen Begriffsprägung des Bundesverfassungsgerichts im Maastricht-Urteil, die vielbeachtete und mannigfach zitierte ,,Stabilitätsgemeinschaft'80 : "Die Währungsunion ist nach Titel VI, Kapitel 2 des EG-Vertrages als Stabilitätsgemeinschaft konzipiert, die vorrangig die Preisstabilität zu gewährleisten hat."81 "Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes." 82
79 K. Biedenlwpf, Rede auf der 724. Sitzung des Bundesrates am 24. 4. 1998, abgedruckt in: Schriften des Internationalen Hochschulinstituts Zittau, Heft 9, Jg. 1998, S. 7 ff. (S. 12). 80 BVerfGE 89, 155 (200 ff.); nachträglich nochmals erläuternd P. Kirchhof, Das Geldeigentum, in: J. Isensee/H. Lecheier (Hrsg.): Freiheit und Eigentum. FS für W. Leisner zum 70. Geburtstag, 1999, S. 635 ff. (S. 648 ff., 654 ff.); auch Entschließungen des Bundestags und des Bundesrats vom 2. bzw. 18. 12. 1992, BTDrs. 12/3906 bzw. 810/92. 81
BVerfGE 89, 155 (200).
82
BVerfGE 89, 155 (205).
4. Kap.: Stabilität als Leitaspekt der Diskussion über die EWU
55
Die Stabilitätsgemeinschaft sei nach damaliger Auffassung des Gerichts wohl dann gegeben, wenn die sogenannten Konvergenzkriterien des Art. 121 Abs. 1 (109j Abs. 1 a.F.) des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV)83 vollständig erfiillt (worden) wären, die als monetäre Größen zwar das Argument der Preisniveaustabilität, daneben aber auch Zins- und Wechselkurskriterium und mit den beiden Haushaltskriterien fiskalische Größen einbeziehen. Wenngleich das Bundesverfassungsgericht wiederholt auf den im EG-Vertrag vorgesehenen Vorrang der Preisstabilität hinweist, differenziert es offenbar zwischen Stabilität und Preisstabilität: "Der Unions-Vertrag regelt die Währungsunion als eine auf Dauer der Stabilität verpflichtete und insbesondere Geldwertstabilität gewährleistende Gemeinschaft."84
Geldwertstabilität ist demzufolge in der Vorstellung des Gerichts als besonderer Teil oder Aspekt einer weiteren Stabilität zu verstehen. Zu der naheliegenden Frage, welche Aspekte Stabilität neben der Preisstabilität noch umfaßt, ist der Entscheidung nichts zu entnehmen. Davon abgesehen, scheint das Gericht zwischen (innerer) Preis(niveau)stabilität85 und (innerer wie äußerer) Geldwertstabilität nicht zu unterscheiden. Zumindest den Begriff der Stabilitätsgemeinschaft behielt das Gericht im Euro-Beschluß bei, erbringt dort aber auch keine Klärung des Begriffs der Stabilität86 . Die ,,Stabilitätsgemeinschaft' wurde in Folgebeiträgen vielfach aufgegriffen87, dabei aber im einen Fall etwa in einem engen Verständnis als an einem stabilem inneren Geldwert orientierte und verwirklichende Gemeinschaft- also in bezug auf die Konvergenzkriterien unter Reduktion auf den Preisniveauaspekt - verstanden, im anderen Fall wieder als Gemeinschaft wirtschaftlicher 83 Vgl. dazu unten 5. Teil, 2. Kap., II., 2. 84
BVerfGE 89, 155 (204).
85 Für den richtigeren Terminus "Preisniveaustabilität" wird innerhalb dieser Betrachtung der gebräuchliche verkürzte Begriff "Preisstabilität" synonym verwendet. 86 BVerfGE 97, 350 (370, 374, 376) - "Stabilitätsgemeinschaft"; ein klares Verständnis von Stabilität ergibt sich aber aus dem gesamten Beschluß ebenfalls nicht; so spricht das Gericht weiterhin recht allgemein etwa von "dauerhafter Stabilität der Währungsunion", S. 373, auch S. 376.
87 Schon in den Titeln filr viele andere: R. Jochimsen, Nach dem Tag X - Anforderungen an eine langfristige Stabilitätsgemeinschaft, und 0. Graf Lambsdorjf. Der Schatz im Weinberg: Konvergenz filr eine Stabilitätsgemeinschaft, beide in: H.-U. Jörges (Hrsg.): Kampf um den Euro. Wie riskant ist die Währungsunion?, 1998, S. 182 ff. und S. 228 ff.; H. Tietmeyer, Die Währungsunion als "Stabilitätsgemeinschaft", abgedruckt in: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 64, 03.11.97, s. 7.
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2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
Stabilität unter Einbeziehung vielerlei wirtschaftlicher Aspekte, jedenfalls inhaltlich deutlich über den Katalog der Konvergenzkriterien hinausgehend. Diese wurden mancherorts wiederum als ,,Stabilitätskriterien"88 ausgelegt, was auf ein sich durch diese Kriterien defmiertes Stabilitätsverständnis schließen ließe, andererseits aber auch auf eine mögliche Gleichsetzung von "Stabilität" und "Konvergenz"89 • Die Konvergenzkriterien allerdings wurden wiederum überwiegend nur im Hinblick auf die beiden Haushaltskriterien diskutiert. 2. "Stabilitätspakt" und" Stabilitätsprogramme"
Der ,,Stabilitäts- und Wachstumspakt'90 bezieht sich funktional primär auf die Haushaltssituation und -politik der Mitgliedstaaten. Stabilität könnte somit lediglich auf den fiskalen Aspekt der Haushaltslage bezogen sein. In einer der beiden zugrundeliegenden Verordnungen jedoch werden die Teilnehmerstaaten zur Vorlage von "Stabilitätsprogrammen" verpflichtet, die so gestaltet sein müssen, daß sie eine "wesentliche Grundlage für Preisstabilität und für ein starkes, nachhaltiges und der Schaffung von Arbeitsplätzen förderliches
88 Wesentlich die Entschließungen des Bundestags und des Bundesrats vom 2. bzw. 18. 12. 1992, BTDrs. 12/3906 bzw. 810/92; für Nachfolgebeiträge z.B. J. Bröcker, Konvergenz in Europa und die Europäische Währungsunion, in: B. Fischer/Th. Straubhaar (Hrsg.): Ökonomische Konvergenz in Theorie und Praxis, 1998, S. 105 ff.; das Bundesverfassungsgericht verwendete diese Bezeichnung nur in direktem Zusammenhang mit der Entschließung des Bundestags. 89 Ein Zusammenhang scheintjedoch weniger in der Identifikation von Stabilität und Konvergenz, als vielmehr in der Eigenschaft der Konvergenz als Voraussetzung von Stabilität zu liegen; in diesem Sinne wohl auch eher das Verständnis des BVerfG, nach dessen Auffassung Art. 109j EGV a.F. "im wesentlichen eine Beurteilung der dauerhaften Stabilität der Währungsunion aufgrund der rechtlichen und wirtschaftlichen Konvergenz" fordere; vgl. BVerfGE 97, 350 (373); aus volkswirtschaftlicher Sicht zur Konvergenz v.a. Th. Straubhaar, Wirtschaftliche Konvergenz: Was, Wie, Wozu?, sowie F. L. Seil, Wirtschaftliche Konvergenz in der wirtschaftstheoretischen Diskussion, beide in: B. Fischer/Th. Straubhaar (Hrsg.): Ökonomische Konvergenz in Theorie und Praxis, 1998, S. 9 ff. und 33 ff. 90 Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 1997, AB!. EG 1997 C 236/1; VO EG 1466/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, AB!. EG 1997 L 209/1; VO EG 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, AB!. EG 1997 L 209/6; erg. um die Empfehlung des Rates vom 7. Juli 1997 über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft, ABI. EG 1997 L 209112; siehe dazu ausführlich und kritisch unten, 5. Teil, 2. Kap., III., 1.
4. Kap.: Stabilität als Leitaspekt der Diskussion über die EWU
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Wachstum bilden". 91 Demzufolge müßte Stabilität- abgehend von der funktionalen "Haushalt"-Zielgröße des Regelwerks- wieder weitergehend zu verstehen und auf Preisniveau und Wachstum bezogen sein. Dann allerdings wäre die Bezeichnung "Stabilitäts- und Wachstumspakt" wiederum inkonsequent, da Stabilität begrifflich ja schon Wachstum beinhalten würde, oder die Bezeichnung "Stabilitätsprogramm" wäre günstiger von "Stabilitäts- und Wachstumsprogramm" ersetzt worden. Hinzu kommt außerdem die ausdrückliche Einbeziehung des Beschäftigungsaspekts, dessen Rolle für Stabilität damit vage bleibt, wohl aber in der begrifflichen Logik zu Stabilität zu zählen ist. 3. "Euro-Stabilität", "Stabilitätspolitik" der Europäischen Zentralbank und" Stabilitätskultur" Zweck des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist es, im Hinblick auf einen vermuteten Zusammenhang zwischen Haushaltsdisziplin und Inflationsentwicklung negative Wirkungen expansiver mitgliedstaatlicher Fiskalpolitik auf die ,,Stabilität des Euro" zu vermeiden. Mit Stabilität des Euro können jedoch Geldwertstabilität oder - synonym - Währungsstabilität, d.h. Stabilität des Innen- und Außenwerts der Währung, oder - im Sinne der vertraglichen vorrangigen Zielsetzung der Europäischen Zentralbank und der von ihr zu betreibenden vergemeinschatteten Geldpolitik - nur auf den Innenwert gerichtete "interne", also die (engere) Preisniveaustabilität gemeint sein. "Stabilitätspolitik" der Zentralbank also bezieht sich im Regelfall begrifflich mindestens auf die Preisniveaustabilität im Euro-Währungsgebiet, wobei die Frage nicht ganz außer Acht zu lassen ist, inwieweit äußere und innere Währungsstabilität sich überhaupt einer jeweils isolierten Betrachtung nicht entziehen.92 Im Zuge der Stabilitätsdiskussion um die Europäische Währungsunion und die besondere Position der Europäischen Zentralbank hat sich daneben der Diskussionsgegenstand ,,Stabilitätskultur" entwickelt, der unter Berücksichtigung der gesellschaftspolitischen Kräfte in den einzelnen Mitgliedstaaten für ein traditionelles, über längeren Zeitraum hinweg verfestigtes wirtschaftspolitisches Grunddenken, also einen "stabilitätspolitischen Grundkonsens"93 der Völker und ihrer politischen Führung in den verschiedenen Staaten steht. Praktisch existieren in Europa zwei etablierte wirtschaftspolitische Grundausrich91
VO EG 1466/97, Art. 3.
92
Dazu J Siebert, Zu den Voraussetzungen der Europäischen Währungsunion, 1997,
S. 5.
93 W. Steuer, Gibt es eine europäische Stabilitätskultur, WD, 77. Jg. ( 1997), S. 86 ff. (S. 86).
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2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
tungen, die sich in ihrem Primärziel - Preisniveaustabilität oder (Voll-)Beschäftigung - und der zugrundeliegenden wirtschaftspolitischen Theorie unterscheiden. Während nach der überwiegenden Zahl von Beiträgen eine Stabilitätskultur überhaupt nur in solchen Ländern existiere, die (ggf. auch unter Inkaufnahme von Beschäftigungsnachteilen) vorrangig Preisniveaustabilität verfolgen, und primär beschäftigungsorientierte Volkswirtschaften folglich keine Stabilitätskultur aufwiesen, wird an anderen Stellen - zumindest im Umkehrschluß des FehJens einer einheitlichen Stabilitätskultur in Europa - lediglich von unterschiedlichen Stabilitätskulturen ausgegangen. Stabilitätskultur hieße demnach nicht zwingend Preisstabilitätsk:ultur, Stabilität würde also wieder ( irgendwie) weiter verstanden sein. 4. .. Weite Preisstabilität" und .. Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
Eine gezielte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Stabilität erfolgte (lediglich) in der Euro-Klage unter Bezugnahme auf die "Stabilitätsgemeinschaft" des Bundesverfassungsgerichts und die vermeintliche materielle Vorrangstellung der Preisniveaustabilität durch die formale Betonung im EGVertrag. Die Verfasser bildeten hier einen weit verstandenen Rechtsbegriff der Preisniveaustabilität heraus, "der als Voraussetzung rechtlicher Preisstabilität eine gesamtwirtschaftliche Lage einbezieht, in der das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, jedenfalls das Ziel hoher Beschäftigung, bestmöglich verwirklicht ist."94 Letztlich werden Stabilität bzw. der weite Rechtsbegriff der Preisstabilität hier gleichgesetzt mit dem "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht" des Art. I 09 Abs. 2 GG im Sinne des "magischen Vierecks" des § I Satz 2 StWG; "denn dieser umfaßt nicht nur die Preisstabilität, sondern auch die hohe Beschäftigung, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht und das stetige und angemessene Wachstum." 9s Diese Argumentation liefert den einzigen umfassenderen Ansatz zur Klärung des Begriffs Stabilität und verkörpert wie anfangs angekündigt die Erklärungsherausforderung sowie den gedanklichen Ausgangspunkt fil.r die folgenden Ausfilhrungen.
94
W. Hankel/ W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998,
S. 200 ff., hier insb. S. 213; die den volkswirtschaftlichen Abhandlungen der EuroKlage folgende "rechtliche Würdigung" (S. 192 ff.) geht dabei auf
K. A. Schachtschneider zurück.
95 W. Hankel/ W. Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 203
5. Kap.: Wirtschaftliche Stabilität als Primäraspekt der EWU
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Fünftes Kapitel
Wirtschaftliche Stabilität als Primäraspekt der Europäischen Währungsunion im Stabilitätsgeflecht der Europäischen Union Der Intension folgend, ein etwaiges Verfassungsprinzip "GesarntwirtschaftJiche Stabilität" - das "Stabilitätsprinzip" - zu untersuchen und seine Bedeutung filr die Teilnahme Deutschlands an der Europäischen Währungsunion und filr die Europäische Währungsunion selbst aufzuzeigen, beschäftigten sich die bisherigen Betrachtungen zunächst mit dem Versuch einer grundlegenden abstrakt-terminologischen Klärung des Begriffs, seiner Übertragung in den Kontext Staat und Wirtschaft sowie dem den Mangel an Einheitlichkeit aufweisenden Begriffsverständnis in der sehr umfangreichen gesamten Währungsunionsdiskussion. Der abstrakten Begriffssystematik nach stellt sich die Frage nach dem oder den Zuordnungsobjekten der "Stabilität" im Kontext der Währungsunion. Was soll stabil sein oder - wenn sich denn ein fixer Stabilitätsbegriff herausgebildet hätte - welche Aspekte umfaßt diese Stabilitätszielkonstellation? Das oder die Zuordnungsobjekte ergeben sich fiir die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft und zum Staat tendierendes Gebilde aus dem dazugehörigen, über Verfassungscharakter verfUgenden Recht. Das Gemeinschaftsrecht spricht generell von der Wirtschafts- und Währungsunion als zusammengehörenden Komplex und liefert ihr wesentlich im Dritten Teil, Titel VII EGV über die Wirtschaftsund Währungspolitik nähere, teils interdependente Regelungen. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist wesentlicher Bestandteil des EG-Vertrags. Der EG-Vertrag ging durch die Maastrichter Beschlüsse aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV), also dem früheren ausschließlich die Wirtschaft betreffenden Gemeinschaftsvertrag hervor, wenngleich dieser dort eine inhaltliche Erweiterung erfuhr, die über den ursprünglichen sektoralen Bezug des EWG-Vertrags deutlich hinausgeht. Schließlich ist die Währung nicht von der Wirtschaft, die Wirtschaft nicht von der Währung, praktisch jedenfalls nicht vom Geld, sachlich zu trennen. Zuordnungsobjekt der Stabilität im Kontext der Währungsunion ist demnach die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit, die - auch - die Währungsfragen beinhaltet. Die Frage der Stabilität der Währungsunion ist damit primär96 die Frage der Stabilität der (Gesamt-) Wirtschaft in der Europäischen Union. 96 Andere Stabilitätsdimensionen neben dieser wirtschaftlichen sind von der Währungsunion durchaus auch betroffen, aber eher in der Folge erreichter oder nicht erreichter wirtschaftlicher Stabilität.
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2. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als primäre Stabilitätsdimension
Ob und in welcher Form das Gemeinschaftsrecht ein solches wirtschaftliches Stabilitätsverständnis hervorbringt und insofern ein rechtlicher Begriff der Stabilität auf europarechtlicher Ebene begründet wurde, ob und in welcher Form ein deutsches Verfassungsprinzip wirtschaftlicher Stabilität existiert und in welchem Verhältnis beide zu sehen sind, wird in den nächsten Teilen einer Beantwortung zuzuführen versucht.
Dritter Teil
Gesamtwirtschaftliche Stabilität als abgeleitetes Verfassungsprinzip und positives Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland Erstes Kapitel
Das Sozialprinzip: Strukturprinzipähnliches Grundelement des Grundgesetzes als Verfassungsgesetz Deutschlands I. Das Sozialprinzip im Grundgesetz Das hier filr die ersuchte Begründung eines Stabilitätsprinzips als Dach, Basis oder Rahmen sowie gleichzeitig als Inhaltsdeterminante herangezogene Sozial- oder - in der Literatur verwendungsbegrifflich dominierende, aber verengende - Sozialstaatsprinzip97 verkörpert eines der Verfassungsprinzipien Deutschlands. Sein Verfassungsgesetz erklärt Deutschland in Art. 20 Abs. I GG als "demokratischen und sozialen Bundesstaat" sowie in der primär an die Länder gerichteten Homogenitätsklausel auf Bundesebene des Art. 28 Abs. I GG als "sozialen Rechtsstaat". Art. 23 Abs. I GG, als europäische Homogenitätsklausel, sieht ein Mitwirken Deutschlands an der Integration zu einem u.a. sozialen Grundsätzen entsprechenden Europa vor. Die sogenannte "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 III GG verbietet die Abkehr von diesen zusammenhängend zu sehenden Grundsätzen. Aus dem gegenüber dem "Bundesstaat" und dem "Rechtsstaat" "nur" adjektivisch formulierten sozialen Aspekt ist nach allgemeiner Auffassung keinesfalls seine Nachrangigkeit zu begründen. Im Gegen97 Zur Differenzierung von Sozialprinzip und Sozialstaatsprinzip unten 3. Teil, 1. Kap., III., 2., dort Fn. 20 I; synonym fiir das Thema "Sozialprinzip" oder eben "Sozialstaatsprinzip" finden sich neben anderen insb. auch die Begriffe "Sozialstaatsklausel", "Sozialstaatsgebot", "Sozialstaatlichkeit", "Sozialstaatliches Prinzip" oder "Sozialstaatliehe Ordnung", "der Sozialstaat" (so auch beim BVerfG), "Das Soziale", "Soziales Prinzip" (nur teils infolge bewußter inhaltlicher Differenzierungen, insb. hinsichtlich der Einbeziehung der Wortkomponente "Staat").
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
teil kommt darin eher - im Sinne einer Querschnittsfunktion des Sozialprinzips -der soziale Charakter dieser anderen Organisationsnonnen zum Ausdruck. 98
II. Fehlende Materialisierung- Notwendig materiale Offenheit 1. Fehlende Materialisierung aus Verfassungstext und -entstehung
Das "Soziale" bleibt im Grundgesetz jedoch im Gegensatz zu den anderen Strukturprinzipien, die im Verfassungstext durch eine Mehrzahl von Vorschriften eine direkte nähere Ausgestaltung erfahren, jedenfalls unmittelbar immaterialisiert. 99 Im Parlamentarischen Rat wurden vor der Entscheidung fiir die heutige Fonnulierung von Art. 20 Abs. 1 GG zwar mehrere Versionen der Implementierung des sozialen Aspekts vorgeschlagen, eine nach Sinnunterschieden differenzierende Erörterung des Begriffs und seines Inhalts fand dabei allerdings nicht statt. 100 Stern verweist zudem darauf, daß im Gegensatz zu Begriffen wie Republik, Demokratie, Bundesstaat oder Rechtsstaat das Sozialprinzip auch nur die jüngere, jedenfalls (verfassungs-)begriffliche Tradition aufweise und nicht wie jene "in gewissem Sinne Bestandteil eines gleichgerichteten gemeineuropäischen und nordamerikanischen Verfassungsdenkens" sein könnte, betont sogleich aber die vennutete Intension von den "Vätern des Grundgesetzes ... , daß fiir das Sozialprinzip gerade in Deutschland eine lange geistig-ideengeschichtliche Tradition bestand und daß dieses Ideengut sowohl in der Verfassungswirklichkeit als auch in positivrechtlichen Nonnen Niederschlag gefunden hatte." 101
98 V gl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 877 f.; H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, I 987, § 25, Rn. 2; betont wir auch der rein sprachästhetische Grund für die adjektivische Wendung, etwa R. Herzog, Art. 20 Absch. VIII, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 2. 99
Vgl. z.B. R. Herzog, Art. 20 Absch. VIII, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 5.
Vgl. dazu m.w.N. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 878 f.; H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 8 f.; bestätigend dazu auch K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974, S. 41. 100
101
§ 21,
K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984,
s. 881 f.
1. Kap.: Das Sozialprinzip
63
2. Ansätze materialer Auslegung a) Überblick Die fehlenden Anhaltspunkte ftir eine greifbare inhaltliche Interpretation des sozialen Aspekts aus dem Verfassungstext oder seiner Entstehung heraus ftihrten in der nach wie vor anhaltenden und kein unumstritten überzeugendes Ergebnis findenden Diskussion um das hinter dem sozialen Aspekt stehende Verständnis - teils auch in Abhängigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Situation sowie real-politischen Intensionen 102 - zu den verschiedensten Positionen, die in ihrer Bandbreite von vollkommener materialer Leere des Sozialstaatsgebots 103 bis hin zu einem hineingelegten "Generalinhalt" gehen. In der Kommentierung des Art. 20 GG durch Herzog findet sich deswegen bekanntermaßen die Einschätzung, beim Sozialprinzip handle es sich um "das umstrittenste politische und auch verfassungsrechtliche Prinzip der gesamten politischen Landschaft"104. Diese Auffassung ist auch heute noch zu teilen, wenngleich Uneinigkeiten sich nicht um das Prinzip per se, also dessen Existenz, sondern eben um dessen Materialität oder Materialisierung und- damit ftir viele zusammenhängend - seine Bindungswirkung ranken. "Wenn die Entscheidung des Grundgesetzes zum Sozialstaat etwas Wesentliches und Tieferes sein will als eine wohlfeile Formel aus Kompromiß oder Konzession oder auch nur eine unverbindliche Verheißung, so bedeutet sie Bereitschaft und Verant-
102 So auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 909: "Es kann fiir jede politische Initiative ,herhalten', es ist die Aufgabenbegründungsnorm und Gemeinwohlklauselpar excellence."; ansatzweise auch E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § 17, Rn. 84.
103 So wurde das Sozialprinzip sehr früh von W. Grewe, Die Bundesrepublik als Rechtsstaat, DRiZ 1949, S. 395, als "substanzloser Blankettbegritf' bezeichnet; vgl. zu frühen Bewertungen v.a. E. Forsthoff sowie (im Korreferat zu Forsthojj) 0. Bachof, Begriffund Wesen des sozialen Rechtsstaats, beide VVDStRL 12 (1954), S. 8 ff. (insb. S. 19 ff.) und S. 37 ff.; Forsthoff zog dort den normativen Charakter des Sozia1(staats)prinzips als Gegenstück der Rechtsstaatlichkeit in Zweifel, während Bachof den normativen Direktiven-Charakter des Sozialprinzips vertrat; dazu K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip, insb. S. 3 I ff. 104 R. Herzog, Art. 20 Absch. VIII, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. l.
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip wortung, Aufgabe und Zuständigkeit seines Staates zur Gestaltung der sozialen Ordnung....nur sie entspricht auch der modernen Staatsstruktur." 105
Mit diesen Worten eröffuete /psen auf der Staatsrechtslehrertagung 1951 fiir die junge Bundesrepublik vor fast fiinf Jahrzehnten den Beginn dieser Auseinandersetzung und machte damit deutlich, daß das Sozialprinzip - "die Entscheidung des Grundgesetzes zum Sozialstaat" - seiner Existenz wegen nicht inhaltslos sein kann. Im Vordergrund steht bei der materialen Deutung stets der ökonomische Bezug, wenngleich auch in der herrschenden Lehre gelegentlich auf eine nicht-ökonomische Dimension des Sozialprinzips hingewiesen wird. 106 In den zahlreichen Versuchen, das Sozialprinzip materiell zu konkretisieren, dominiert so auch die Grundauffassung des aus dem Sozialprinzip fließenden staatlichen Auftrags zur Existenzsicherung sowie des (darüber hinausgehenden) Auftrags zum sozialen Ausgleich und zu sozialer Gerechtigkeit. 107 Während das Maß der ftlr die Existenzsicherung des Einzelnen notwendigen Handlungen des Staates noch klarer zugänglich sein mag, bergen der Auftrag zum sozialen Ausgleich und noch viel mehr der zu sozialer Gerechtigkeit die größeren Schwierigkeiten, da durch etwaige nivellierende staatliche Intervention zum einen die Entfaltung menschlicher Individualität getahrdet werden könnte, zum anderen wiederum zunächst ein Richtmaß zu fmden ist, auf das hin ausgeglichen werden soll. Zacher spricht in diesem Zusammenhang von der "Vision einer sozialen Normalität" 108, zumal absolute (soziale) Gleichheit wegen der Unendlichkeit der möglichen Besser-Schlechter-Relationen, die durch kompensatorische Interventionen nicht erschöpft werden können, nicht zu erringen ist 105 H. P. lpsen, Enteignung und Sozialisierung, VVDStRL 10 (1952), S. 74 ff. (S. 74); ders., Über das Grundgesetz, Hamburger Universitätsrede vom 17. II. 1949, nachgedr. in: E. Forsthoff (Hrsg.): Rechtsstaatlichkeil und Sozialstaatlichkeit, 1968, s. 16 ff. 106 Dazu H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 68 ff., der den primären ökonomischen Bezug u.a. damit erklärt, daß er eben greifbar sei und die Persönlichkeit des Menschen schließlich doch am wenigsten tangiert; kurz auch Ch. Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat- nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 ( 1990), S. 7 ff. (S. 36).
107 So auch das BVerfG; BVerfGE 5, 85 (198): "soziale Gerechtigkeit"; 22, 180 (204): "Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit ... eine gerechte Sozialordnung"; 93, 121 (163): "Die rechtliche Gleichheit verbunden mit der individuellen Handlungsund Erwerbsfreiheit und der Garantie des Eigentums entbindet eine weitreichende Dynamik und filhrt unweigerlich zur Entstehung von materieller Ungleichheit unter den Bürgern. Dies ist gewollt und elementarer Inhalt einer freiheitlichen Rechtsordnung. Insoweit bedarf es aber eines Ausgleichs."; 100, 271 (284) u.ö. mit Rückgriff auf 22, 180 (204 ). 108
H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 61 ff.
I. Kap.: Das Sozialprinzip
65
und lediglich ein relatives Mehr an sozialer Gleichheit denkbar sei. 109 Für Kittner liefert das Sozialprinzip den Auftrag des Staates zur "Daseinsvorsorge im weitesten Sinn" 110, denn das Sozialprinzip- in einem engeren Sinn verstanden - würde lediglich die Erhaltung des Existenzminimums bedeuten und damit zu kurz greifen. 111 b) Makro- und mikrosozialer Realisationsansatz sowie konkrete Vergegenständlichung Fruchtbar und hilfreich filr ein grundlegendes Verständnis des inhaltlichen Auftrags des Sozialstaatsgebots erscheint der Ansatz Zachers, der im Hinblick auf die Realisation des Fundamentalprinzips eine mikrosoziale und eine makrosoziale Methode differenziert. Analog zur Unterscheidung mikro- und makroökonomischer Betrachtungsweise und der finanzwirtschaftliehen Differenzierung von (primärer) Verteilung und (sekundärer) Umverteilung sieht er das Sozialprinzip auf einer eher individuellen Ebene, etwa durch Arbeitslosenunterstützung, Kindergeld oder Sozialhilfe, zum einen mikrosozial und - zum anderen - auf einer eher gesamtwirtschaftlichen Ebene, so z.B. liberalistisch durch sehr weitgehende Freilassung der Marktkräfte, oder interventionistisch durch Beschäftigungspolitik, makrosozial zu erftlllen. Wesentlich sei dabei, daß sich beide Ansätze zwar ergänzen - augenfällig zu vermuten mit subsidiärer Stellung des mikrosozialen Ansatzes -, nicht aber integriert werden dürfen. Insbesondere dürften mikrosoziale Zielsetzungen und Maßstäbe die makrosoziale Rahrnengebung nicht ex ante dominieren, da sonst die Autonomie des gesamtwirtschaftlichen Ablaufs samt derselben der einzelnen privaten Einheit nicht mehr gegeben sei. 112
109
Vgl. H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 37.
Vgl. M. Kittner, Art. 20 Abs. 1-3 Absch. IV. in: Alternativkommentar, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1989, Rn. 38. 110
111 Denn das Sozialprinzip kann sich um seiner selbst willen nicht auf die Gewährleistungsfunktion des Existenzminimums beschränken, die schon aus dem menschlichen Recht auf Menschenwürde (Art. I Abs. I GG) sowie Leben und freie Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 GG) folgt; "Hilflosigkeit gegenüber der Allgemeinheit des Sozialprinzips darf nicht dazu fiihren, dieses Prinzip auf das unabweisbare Minimum der Garantie eines menschenwürdigen Daseins zu reduzieren.", K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974, S. 36 f., ZitatS. 37.
112
Vgl. H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 70.
5 Hänsch
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
Makro- und mikrosozialer Ansatz werden dann auch in der - hier lediglich exemplarisch genannten, sicherlich modifizierbaren und nicht abschließenden von Stern gewählten Auflistung von Bereichen deutlich, in denen die Sozialstaatsklausei gegenständliche Entfaltung erflihrt 113 : 1) Sozialversicherung, 2) Sozialhilfe, 3) soziale Entschädigung, Arbeitsrecht, 4) Leistungs- und Daseinsvorsorge, 5) neue Aufgaben, die "Sozialstaatliche Imprägnierung der Wirtschaft'', Mittelstandspolitik, Bildungspolitik sowie "Imprägnierung des Privatrechts" umfassen, 6) Umweltpolitik und v.a. auch 7) die staatliche Wachstumsvorsorge, die wesentlich auf das Sozialstaatsgebot in Verbindung mit Art. 109 Abs. 2 bis 4 GG gestützt würde. 3. Progressive Offenheit als Kern des Sozialprinzips
a) Anpassung an die sich wandelnde Lage durch materiale Offenheit Vorstehende inhaltliche Ansätze und Überlegungen können jedoch nur der zeitlich-sachlich kontingente Ausfluß des sozialen Gestaltungsauftrags sein, den die Offenheit des Sozialprinzips aufgibt, nicht aber originärer Inhalt des Prinzips; denn ihnen geht in einem ersten Schritt die zentrale Erkenntnis voraus, daß dem sozialen Verfassungsprinzip im Verfassungstext gerade im Interesse seiner Funktionalität jegliche inhaltliche Konkretisierung vorenthalten ist, da eine solche den sich ändernden Umständen nicht genügeleisten und ein solchermaßen materialisiertes Sozialprinzip seine Funktionsflihigkeit verfehlen könnte. 114 Denn im Staat soll das Sozialprinzip in jeder jeweiligen Lage bestmöglich verwirklicht sein. Im übrigen wird - pragmatisch - auch in Zweifel gezogen, inwieweit eine ausdifferenziertere verfassungsmäßige soziale Programmatik dem Druck sich wandelnder gesellschaftlicher Interessen in Praxis überhaupt hätte widerstehen können 115 •
113 Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, s. 893 ff.
114 Für andere E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 17, Rn. 100, 112 ff.; siehe auch Fn. 118; diese Fragestellung stellt wiederum nur einen Teil
der generellen Diskussion um Verfassungsbeständigkeit und Verfassungswandel dar, vgl. dazu recht aktuell z.B. R. Scholz!K. G. Meyer-Teschendorf, "Politisiertes" Verfassungsrecht und "Depolitisierung" durch Verfassungsrecht, DÖV 1998, S. 10 ff.
115 Vgl. H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 105; daneben gibt R. Herzog, Art. 20 Absch. VIII, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 21 - ebenso pragmatisch - des weiteren noch zu bedenken, daß der Verfassungsgeber in Ermange-
l. Kap.: Das Sozialprinzip
67
Der nicht vollkommene, aber weitgehende Verzicht des Grundgesetzes auf differenziertere soziale Grundrechte, als solche die existierenden Grundrechte, die (eben) Freiheitsrechte sind, nicht gewertet werden können 116, oder einzelne, explizit soziale Staatszielbestimmungen 117 stellt demzufolge die konsequente Lösung des sozialen Auftrags zugunsten des offenen, material nicht bestimmten, dadurch aber entwicklungsflihigen Sozialprinzips und zu Lasten konkreter bestimmbarer, allerdings statischer und im Zeitverlauf gegebenenfalls nicht mehr lagegerechter, spezifisch-sozialer Verfassungsnormen dar. 118 Als dynalung wirtschaftlicher Möglichkeiten eine ausdifferenziertere verfassungsrechtliche Verankerung nicht einräumen konnte. 116 V gl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 238, grundlegend zu den Grundrechten S. 353 ff., 476 ff., 819 ff., 847 ff.; für Schachtschneider bedeutet Sozialität Gemeinschaftlichkeit und dort stattfindende Verwirklichung der Menschenrechte, die gerade die sozialen Grundrechte - Arbeit, Bildung, soziale Sicherheit - umfassen; er vertritt ein "soziales Grundrechtsverständnis"; das Sozialprinzip gibt demnach die bestmögliche Verfolgung der Menschenrechte auf, es wird durch die Menschenrechte materialisiert; vgl. neuerdings dazu ders., Fallstudie zum Umweltrecht: FCKWVerbot, unveröff. Manuskript des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät Nürnberg, Nürnberg, Stand Juni 2000, S. 3 ff., insb. S. 6 f.; ders., Diskussionsbeitrag, VVDStRL 59 (1999), Aussprache zum 1. Beratungsgegenstand, S. 143 ff. (S. 180 f. ); dazu auch dernn. ders., Recht auf ArbeitPflicht zur Arbeit, in: ders./H. Pieper/M. Hübsch (Hrsg.): GS für J. G. Helm, Manuskript S. 5 f.; dernn. ders., Kapitalverkehrsfreiheit 117 118
Vgl. zum Begriff der Staatszielbestimmung unten 3. Teil, 1. Kap., Ill., 1., c).
Klassische soziale Grundrechte, wie etwa ein "Recht auf Bildung", aber auch und gerade das "Recht auf Arbeit", als subjektive Verfassungsnormen oder teils analoge Staatszielbestimmungen als objektive Verfassungsnormen finden sich entgegen den meisten Landesverfassungen und vielen internationalen Verträgen im Grundgesetz nicht (siehe zum "Recht auf Arbeit" unten 3. Teil, 2. Kap., II., 2. Eine ,,Zementierung" einzelner solcher Grundrechte hätte die normative und gestaltende Kraft des Sozialprinzips material eingegrenzt und es damit funktional zumindest geschwächt, ihm jedenfalls keinen höheren Verbindlichkeitsgrad zukommen lassen; aus diesem Grund sah von ihnen sowohl der Parlamentarische Rat ab, als sie sich auch in der wiederholten Diskussion, insb. Anfang der 1990er Jahre auf Bundesebene, letztlich nicht durchsetzen konnten; dazu R. Herzog, Art. 20 Absch. VIII, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 50; W Graf v. Vitzthum, Staatszielbestimmungen und Grundgesetzreform, in: A. Rande1zhofer u.a (Hrsg. ): GS fiir E. Grabitz, 1995, S. 819 ff.; R. Schatz, Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes, ZfA 1991, S. 683 ff., insb. S. 688 ff.; R. Scholz!K. G. MeyerTeschendorf. "Politisiertes" Verfassungsrecht und "Depolitisierung" durch Verfassungsrecht, DÖV 1998, S. 10 ff. (S. 17 f. ); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 879 f., 936 ff.; P. Badura, Arten der Verfassungsgrundsätze, in: J. Isensee!P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 159, Rn. 22; auch E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 17, Rn. 163; recht früh und umfassender auch W Weber, Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen, Der Staat 4 (1965), S. 409 ff.; auch K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in:
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
misch-progressives Element der Verfassung zeigt gerade das material offene Sozialprinzip die bestmögliche Anpassung an die Lage des gemeinsamen Lebens an. Das Bundesverfassungsgericht erkennt das Sozialprinzip deshalb als "ein der konkreten Ausgestaltung in hohem Maße fli.higes und bedürftiges Prinzip".ll9
Stern sieht im Sozialprinzip den "offensten Grundsatz der Verfassung" 120: "Sozialstaatlichkeit darf nicht statisch, sondern muß dynamisch verstanden werden. Sie existiert in ,Spannung und Bewegung'." 121
Den dynamischen Charakter 122 fiir die Anpassung an neue Lebenslagen das Soziale als permanenten Prozeß 123 und "permanenten Konkretisierungsauftrag"124- betont deshalb auch Zacher: "Aber sein Auftrag ist umfassender und offen für die Zukunft. Der Sozialstaat muß deshalb immer bereit sein, auch andere, insbesondere neue soziale Probleme wahrzunehmen und alte Festschreibungen von daher zu relativieren." 125
E. Benda!W. Maihofer!H.-J. Vogel (Hrsg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § 5, Rn. 31 ( m.w.N.; auch R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 40 I ff., 454 ff.; demn. K. A . Schachtschneider, Recht auf Arbeit- Pflicht zur Arbeit, in: GS J. G. Helm; ders., Kapitalverkehrsfreiheit 119 BVerfGE 5, 85 (198). 120 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, s. 881.
121 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 892, zit. H. F. Zacher, Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?, in:
R. Stödter/W. Thieme (Hrsg.): Hamburg. Deutschland. Europa. FS für H. P. lpsen, 1977, S. 207 ff. (S. 239). 122 So Ch. Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 ( 1990), S. 7 ff (S. 36) spricht von der "Dynamik" des Sozialstaats. 123 So H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 66, mit Verweis auf daselbst, Der Sozialstaat als Prozeß, ZgS 1978, S. 16 ff. 124 R. Schatz, Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes, ZfA 1991, S. 683 ff. (S. 690). 125 H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 24.
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1. Kap.: Das Sozialprinzip
b) Dialektik der Offenheit: Grundsätzliche Gewißheit und materiale Unsicherheit Die fehlende Materialisierung allerdings bedeutet - mit Scholz!MeyerTeschendorf - eine "permanente Gratwanderung zwischen normativer Stringenz einerseits und real-politischer Offenheit andererseits" 126, die nach Zacher fiir "abstrakte Gewißheit- konkrete Ungewißheit" sorgt 127• Es existiere ein "Spannungsverhältnis zwischen der Selbstverständlichkeit und strukturellen Eindeutigkeit des "Sozialen" und der unendlichen Offenheit dessen, was in konkreten Beziehungen - von den Betroffenen wie von der Politik und der Rechtsordnung - als das "Soziale" angesehen werden kann. Unsicherheit erwächst sodann aus der Vielfalt der Wege, auf denen das soziale Staatziel verwirklicht werden kann. Die allgemeinste Ursache aller Unsicherheit über das soziale Staatsziel bleibt, daß die subjektive und gruppenhafte Vielfalt von Werten, Situationen und Interessen allen Konsensen über die ,richtige' Normalität und über Inhalt und Rang der auf sie bezogenen Forderungen, auf Verbesserung oder Verschlechterung enge personelle, sachliche und zeitliche Grenzen setzt:' 128 000
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Die Dialektik funktionsgebotener Offenheit und daraus erwachsender konkreter Unsicherheit sieht auch Stern im Anschluß an seine oben erwähnte Katalogisierung sozialer Tätigkeitsfelder, die zeigen würde, "daß das sozialstaatliche Prinzip es mit sich bringt, funktionell ohne Grenzen zu sein. Diese Grenzenlosigkeit ist seine Stärke, aber auch seine Schwäche.'" 29 000
Die Schwäche erwächst dabei insbesondere aus dem Umstand, daß das Sozialprinzip damit "nach oben offen" ist 130 und sich somit zur realpolitischen 126 R. Scho/z/K. G. Meyer-Teschendorf, "Politisiertes" Verfassungsrecht und "Depolitisierung" durch Verfassungsrecht, DÖV 1998, S. I 0 ff. (S. 17). 127
H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 61 ff.
H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 65, 79; im gleichen Sinn auch ders. , Sozialrecht in Europa - Sozialrecht im Verfassungsstaat, in: ZfSHISGB 1991, S. 625 ff. (S. 629): "Somit stehen wir vor dem schmerzlichen Widerspruch zwischen der subjektiven Eindeutigkeit und der objektiven Vieldeutigkeit des Sozialen." 128
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K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984,
§ 21, s. 909.
130 H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 63; von "Blankovollmacht" zur "Meisterung einer Lage" spricht H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2., durchges. Aufl., 1966, S. 27.
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
Handhabbannachung in hohem Grad anbietet. 131 Diese "Mißbrauchstahigkeit" darf auf das Sozialprinzip gestützte Argumentationen andererseits aber nicht in der Diskussion ex ante diskriminieren. c) Ausgestaltung und Verwirklichung durch Gesetze Das hoch allgemeine und nicht subsurnible Prinzip erfahrt seine Ausgestaltung und bestmögliche Verwirklichung nach allgemeiner Auffassung durch die Gesetze, die seiner sozialen Intension in der sich ständig wandelnden Lage entsprechen müssen. Analog zum Wandel der Lage umfaßt dieser Gestaltungsauftrag also stetige Erneuerung durch Austausch, Erweiterung oder Löschung bestehender einfachgesetzlicher Normen. Die Verwirklichung und situative Ausgestaltung des Sozialprinzips ist damit vornehmlich 132 Zieldeterminante der Legislative 133, die sich hierftlr in weitreichenden Gestaltungsspielräumen bewegt134, die andererseits keinesfalls grenzenlos sind. Das Bundesverfassungsgericht hat diese legislative Gestaltungskompetenz und -pflicht sehr früh und danach in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht:
131 " ... daß das Sozialstaatsprinzip mehr als jeder andere Begriff der geltenden Verfassung zur einseitigen und überspitzten Interpretation ideologischer Voreingenommenheit verleitet.", R. Herzog, Art. 20 Absch. VIII, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 3. 132 Vornehmlich, weil auch durch Exekutive und (im Einzelfall) durch Judikative zu beachten.
133 Vgl. W Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: E. Bendal W. Maihofer!H.-J. Vogel (Hrsg.): Handbuch-des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § 12, Rn. 149; M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: E. BendaiW. Maihofer!H.-J. Vogel (Hrsg.): HVerfR., Teil I, 1983, S. 129 ff. (S. 145 ff.); P. Häber/e, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. (S. 98 ff., 110 f.); H. Krüger,Allgemeine Staatslehre, 2., durchges. Aufl., 1966, S. 815 ff.; H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 65 ff.; W Grafv. Vitzthum, Staatszielbestimmungen und Grundgesetzreform, in: GS E. Grabitz, 1995, S. 819 ff. (S. 829); W Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 7 ff. (S. 30 f.); J. C. K. Ring/er, Die Europäische Sozialunion, 1997, S. 27 f.; K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974, S. 71 ff.; ders., Frei - sozial - fortschrittlich, in: Die Fortentwicklung des Sozialstaates - Verfassungsauftrag und administrative Implementation, wissenschaftl. Kolloquium zu Ehren von Wemer Thieme am 24. 6. 88, 1988, S. 6 ff. (S. 12 f., S. 17); ders., Res publica res populi, 1994, S. 247 ff.; dort, Fn. 209, sowie bei K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 915, Fn. 226 m.w.N.; BVerfG st. Rspr. 134 So immer wieder vom BVerfG betont; vgl. etwa BVerfGE 18, 257 (273); 29, 221 (235); 59, 231 (263); 71, 66 (80).
1. Kap.: Das Sozialprinzip
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"Wenn auch die Wendung vom ,sozialen Bundesstaat' nicht in den Grundrechten, sondern in Art. 20 des Grundgesetzes ... steht, so enthält sie doch ein Bekenntnis zum Sozialstaat, das bei der Auslegung des Grundgesetzes ... von entscheidender Bedeutung sein kann. Das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates aber kann nur der Gesetzgeber tun.'' 135
Die Gesetze dienen dabei, wie das Bundesverfassungsgericht feststellte, als Mittel zu Erreichung eines Ziels, das seine Vorgabe im Sozialprinzip - in jenem Zusammenhang als "gerechte Sozialordnung" bezeichnet - findet. Die Zielsetzung entspringt demnach der Verfassung bzw. dem Grundgesetz der Bundesrepublik als Verfassungsgesetz des deutschen Volkes. "Art. 20 Abs. l GG bestimmt nur das "Was", das Ziel, die gerechte Sozialordnung; er läßt aber filr das "Wie", d.h. filr die Erreichung des Ziels, alle Wege offen." 136
Auf die hier vom Bundesverfassungsgericht angestoßene Unterscheidung von Zielsetzung und Zielerreichung wird später noch wesentlich einzugehen sein. 137
111. Der Prinzipiencharakter des Sozialprinzips in der Republik I. Klassifizierung des Sozialprinzips als Staatszielbestimmung?
a) Interpretationsentwicklung und begriffliche Einordnungen Einen Überblick über die Entwicklung der rechtswissenschaftliehen Interpretation des sozialen Aspekts lieferte Stern. 138 Nach manchen, heute
135 BVerfGE l , 97 (105); sodann auch 33,303 (331 ff.); 43, 213 (226); 50, 57 (107); 53, 164 (184); 65, 18 (193); 69, 272 (314); 70, 278 (288); ebenso 5, 85 (197 f., 206), auch 51, 115 (125); 59,231 (262); 71,66 (80). 136 BVerfGE 22, 180 (204); 40, 121 (133); an anderer Stelle- 59, 231 (263)- ähnlich: "Das Sozialstaatsprinzip stellt also dem Staat eine Aufgabe, sagt aber nichs darüber, wie diese Aufgabe im einzelnen zu verwirklichen ist."; ferner auch 81, 108 (116); 93, 121 (163). 137 Dazu ausfilhrlich und fiir die vorliegende Betrachtung zentral 4. Teil, 2. Kap., VII., 2. 138 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 886 ff. m.v.N .
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
überstandenen, extremen Standpunkten zu Beginn der Diskussion 139 hat sich eine Auffassung etabliert, die dem Sozialprinzip funktional verbindlichen Direktivcharakter zuspricht. 140 Begleitend zu den unterschiedlichen Interpretationsausprägungen finden sich verschiedene terminologische Einordnungen, die (nur) stellenweise bewußt gewählt zu sein scheinen und gelegentlich auch Rückschlüsse auf die Interpretationsrichtung zulassen. Dabei hat sich die Bezeichnung und Klassifizierung des Sozialprinzips als "Staatsziel" oder141 "Staatszielbestimmung" weitgehend durchgesetzt. 142 b) Uneinheitliche Normkategorien und fehlende Systematik Eine Einordnung des Sozialprinzips bzw. seines funktionalen Gegenstands in eine begrifflich bestimmte Normkategorie wie die des Staatsziels bzw. der
139 Erinnert sei nochmals an die bekannte Grewe' sche Formel des "substanzlosen Blankettbegriffs", oben Fn. 103.
140 "Es gewährt Befugnis, Auftrag und Legitimation zu sozialgestaltender, leistender und gewährender Tätigkeit des Staates.", so K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 887. 141 Eine Differenzierung zwischen "Staatsziel" und "Staatszielbestimmung" wird dabei nicht vorgenommen. Die Abgrenzung des Staatsziels, das eben keiner expliziten Bestimmung im Verfassungstext mehr bedarf, von einer solchen Staatszielbestimmung, würde den Begriff des Staatsziels in die Nähe des Staatszwecks bewegen, oder - in Abhängigkeit von der Dogmatik der zugrundeliegenden Staatslehre - in die Nähe des Verfassungsprinzips; dazu unten 3. Teil, I. Kap., 111., 2. 142 Vgl. P. Badura, Arten der Verfassungsgrundsätze, in: HStR, Bd. VII, 1992, § 159, Rn. 16; ders. , Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 257 ("ausdrückliche Staatszielbestimmung"); auch W. Gr. v. Vitzthum v., Staatszielbestimmungen und Grundgesetzreform, in: GS E. Grabitz, 1995, S. 819 ff. (S. 828, 828 ff.) und J. lsensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: J. Isensee!P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 111, 1988, §57, Rn. 115 ff., Rn. 121 (Sozialstaatsklausel als "Prototyp" der Staatszielbestimmung); ebenso K. Hesse, Die Bedeutung der Grundrechte, in: HVertR, 2. Aufl. 1994, § 5, Rn. 38.; sehr früh und die Staatszielbestimmung als Kategorie einführend schon H. P. lpsen, Über das Grundgesetz, Hamburger Universitätsrede vom 17.11.49; nachgedr. in E. Forsthoff (Hrsg.): Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit; systematisierend Ch. Link. Staatszwecke im Verfassungsstaat- nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 ( 1990), S. 7 ff. (S. 17 ff. ), ihm hierin weit folgend G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat- nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 ( 1990), S. 56 ff.; K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundwie der Begriffsteil gesetzes, 1974, S. 38 ("Zielprojektion", aber "-projektion" sowie der Verzicht auf "staat" schon zum Ausdruck bringen - differenzierter); U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: R. Schnur (Hrsg.): FS für E. Forsthoff, 1972, S. 325 ff. (S. 335).
I. Kap.: Das Sozialprinzip
73
Staatszielbestimmung setzt Klarheit über das Verständnis dieser Normkategorien sowie eine adäquate Systematik derselben voraus. Weder das eine, geschweige denn das andere kamen bislang einheitlich und stringent zustande 143 , trotz einiger Systematisierungsversuche für solche Normkategorien im Rahmen der altwährenden Staatszweck- und der späteren andersgerichteten, dennoch zumindest ansatzweise verwandten Staatszieldiskussion. 144 Selbst in vielen 143 J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR, Bd. III, 1988, § 57, Rn. 116, weist im übrigen darauf hin, daß die Abhängigkeit von Staatszielen vom geschichtlichen Wandel eine abschließende wissenschaftliche Begrifflichkeit verhindere. 144 Als Literaturhinweis dominant U. Scheuner Staatszielbestimmungen, in: FS E. Forsthoff, 1972, S. 325 ff. (S. 330 ff.), der auf der Stufe "normativer Verfassungsaussagen" Grundrechte, institutionelle Gewährleistungen, Gesetzgebungsaufträge und eben Staatszielbestimmungen sieht; später, an der Staatszweckdiskussion wieder anknüpfend Ch. Link. Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 ( 1990), S. 7 ff. (S. 17 ff. ), der Staatszweck, Staatsziel, Staatsaufgaben und (wohl etwas gesondert) Verfassungsdirektive hierarchisch mit ansteigenden Materialisierungsgrad anordnet und dem G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 (1990), S. 56 ff. diesbezüglich weitgehend folgt; dabei steht der Staatszweck fiir die "Finalität des Staates" (Ress, S. 62), fiir die "typische Normalität" des modernen Staates, als solche dann im allgemeinen Gemeinwohl, Frieden und Wohlfahrt (Link, S. 18); hierarchisch folgende Staatsziele "beschreiben die tatsächlichen Funktionen eines bestimmten Staates und weisen seinem Handeln die Richtung" (Link, S. 18); Staatsaufgaben schließlich sind konkretere "Modalitäten zur Staatszielverwirklichung" mit "imperativem Charakter" (Link, S. 19); sie können "Mittel sein, um einem abstrakteren Staatsziel näherzukommen" (Ress, S. 62); daneben auch H. Bu/l, Staatszwecke im Verfassungsstaat, NVwZ 1989, S. 801 ff.; ders., Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973; H. H. Klein, Staatsziele im VerfassungsgesetzEmpfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBI. 1991, S. 730 ff.; D. Merlen, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff.; J. Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, AöR 107 (1982), S. 15 ff.; Bericht der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen/ Gesetzgebungsaufträge, 1983, S. 19 ff.; R. Wahl, Grundrechte und Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, AöR 112 (1987), S. 26 ff. (mit Fokus auf das Verhältnis der Länderverfassungen zum Grundgesetz); D. Sterze/, Staatsziele und soziale Grundrechte, ZRP 1993, S. 13 ff.; Th. Maunz. Staatsziele in den Verfassungen von Bund und Ländern, in: BayVBI. 1989, S. 545 ff.; auch (allerdings ohne Verwendung des Terminus "Staatszielbestimmung") P. Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1965), S. 341 ff.; zum Überblick unter dem damals dominanten ökologischen Aspekt auch L. H. Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation unter besonderer Berücksichtigung der Positivierung des Umweltschutzes im Grundgesetz, 1986, S. 7 ff.; J. lsensee. Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR, Bd. lll, 1988, §57, Rn. 115 ff., zur Unterscheidung Staatsziel - Staatszweck insb. Rn. 116; zuletzt sich ausruhrlieh der Thematik widmend K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997 (Staatsziele und Staatszielbestimmungen trennend); speziell dazu abermals V. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: FS E. Forsthoff, 1972, S. 325 ff. (S. 340 ff.); zur älteren Staatszweck-
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
einzelnen Beiträgen lassen sich diesbezüglich jedoch keine abschließend klaren Züge erkennen. 145 Einigkeit besteht zumindest darin, daß man sich hier im Feld der objektiven Verfassungsnormen aufhält, ftlr die eine ganze Reihe von alternativen oder sich überschneidenden Termini - Verfassungsprinzip, Verfassungsgrundsatz, Staatsziel, Staatsaufgabe, Staats- oder Verfassungsdirektive etc. - herangezogen werden sowie über die Abgrenzung zu expliziten Gesetzgebungsaufträgen. c) Die "Staatszielbestimmung" Der Diskussion anfang der 1980er Jahre entsprang das wiederholt herangezogene Verständnis der Staatszielbestimmungen als "Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfilllung bestimmter Aufgaben - sachlich umschriebener Ziele vorschreiben". 146 In häufig vorzufindender Abgrenzung zur Staatsaufgabe sei das "Staatsziel ... nicht festgelegt auf die Mittel seiner Verwirklichung, auf den Einsatz bestimmter staatlicher Kompetenzen und Befugnisse." 147 Die Vomahme dieser Abgrenzung der Staatsaufgabe von der Staatszielbestimmung weist per se zum einen regelmäßig eine gewisse Nähe zur von Link erörterten hierar-
diskussion z.B. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 15 ff.; zur "Prinzipienlehre" R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1. Aufl., 1986, S. 71 ff., insb. 75 ff., teilt in seiner eine Systematisierung und Strukturierung verfolgenden Betrachtung "Grundrechtsnormen" in "Regeln" und "Prinzipien" auf, in letzteren zeigt sich der objektive Gehalt von Grundrechten; anders als bei Regeln, die erfilllt werden oder eben nicht, nicht aber ein wenig erfilllt werden können, ist im Konfliktfall ein Nebeneinander von Prinzipien als Optimierungsgebote denkbar; der Konflikt löst sich durch die Gewichtung gegenläufiger Prinzipien; vgl. dazu auch ders., Grundrechte als subjektive Rechte und objektive Normen, Der Staat 29 (1990), S. 49 ff.; K. A. Schach/schneider, Res publica res populi, 1994, S. 825 ff.; A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000, S. 67 ff. 145 Signifikant dazu, wenngleich bezogen auf die objektive Dimension von Grundrechten, die bei R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 33 f., zu findende Auflistung von 21 unterschiedlichen Begriffen für den gleichen Gegenstand, die in einem einzigen Beitrag von U. Scheuner (DÖV 1971, S. 505 ff.) zu lesen und "in der Häufung zwar bemerkenswert, ansonsten aber keineswegs untypisch" sind. 146 Bericht der Sachverständigenkommission gebungsaufträge, 1983, S. 13.
Staatszielbestimmungen/Gesetz-
147 J. /sensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR, Bd. III, 1988, § 57, Rn. 115, generell zur Abgrenzung von Staatsziel und Staatsaufgabe vgl. dort, Rn. 115 ff. sowie etwa H. Bull, Staatszwecke im Verfassungsstaat, NVwZ 1989, S. 80 I ff. (S. 802).
1. Kap.: Das Sozialprinzip
75
chiseben Abstufung148 auf, zum anderen hinsichtlich der Trennung des Zielsetzungs- und Zielerreichungsaspekts zu der "Was?/Wie?-Feststellung" des Bundesverfassungsgerichts 149• Staatszielbestimmungen seien "als bindende Programmsätze oder RegeJungsaufträge unterschiedlicher Verpflichtungskraft" 150 dynamisch und richtungsweisend 151 • Hinsichtlich ihrer Materialität weisen Klein und Scheuner darauf hin, daß ft1r Staatsziele unterschiedliche Bestimmungsgrade existierten, die Wiedervereinigung etwa ein recht klar bestimmtes Ziel war, insbesondere im Vergleich zum Staatsziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, das in sich gegenläufige Elemente enthielte. 152 Staatsziele regelten einerseits die "grundsätzliche Behandlung bestimmter Sachgebiete", so auch "bei dem [damals; d. Verf.] neu eingefiihrten Grundsatz des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ... ", könnten andererseits aber auch "sehr allgemeine GrundeinstelJungen staaatlichen Tuns" abbilden, wie vor allem beim Sozialstaatsgebot "Es handelt sich hier im Grunde um eine Ausrichtung der staatlichen Aktion an ihr verfassungsrechtlich vorgesetzten Maßstäben .. .'' 153 • In den das Thema "Staatszielbestimmungen" behandelnden Beiträgen fmden sich regelmäßig zunächst die Hinweise auf das "soziale Staatsziel" und das Gebot des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, zumeist auch auf das frühere Wiedervereinigungsgebot 154 Darüber hinausgehend besteht auch in diesen Abhandlungen häufig bereits keine Einigkeit mehr über weitere, dem Grundge-
148 Vgl. oben Fn. 144; die hierarchische Beziehung zwischen Staatsziel und Staatsaufgabe wird allerdings nicht immer dargelegt. 149
Vgl. oben 3. Teil, 1. Kap., li., 3., c; dort Fn. 136.
150
P. Badura, Arten der Verfassungsgrundsätze, in: HStR, Bd. VII, 1992, § 159,
Rn. 14.
151 Vgl. z.B. H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz- Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBI. 1991, S. 730 ff. (S. 733). 152 Vgl. H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz - Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBI. 1991, S. 730 ff. (S. 734); zur zentralen Bedeutung des Staatsziels "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" als rechtspositiver Ausfluß des Sozialprinzips vgl. unten 3. Teil, 3. Kap. und 4. Teil.
153
U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: FS E. Forsthoff, 1972, S. 325 ff
(S. 335).
154 Exemplarisch J /sensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR, Bd.III, 1988, §57, Rn. 122.
76
3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
setz zu entnehmende Staatsziele 155, noch darüber, ob Staatszielbestimmungen explizit bestimmt sein müssen oder auch indirekt- aus Kompetenzzuweisungsund (dem objektiven Gehalt von) Grundrechtsnormen-abgeleitet werden könnenis6. d) Begriffsvielfalt-Zielbestimmung versus Prinzip Gerade in der Vielfalt zur Verwendung kommender Begriffe und (teils aufwendiger) Umschreibungen fiir das Sozialprinzip offenbaren sich die begrifflichen und systematischen Unsicherheiten sowie wie Zweifel an der Klassifizierung des Sozialprinzips lediglich als Staatsziel oder als bloße Staatszielbestimmung. 157 Die Frage außer acht lassend, inwieweit eine tiefergehendere Differenzierung und Systematisierung von objektiven Verfassungsnormen im Sinne einer Link'schen Hierarchiebildung stringent möglich und sinnvoll ist, stellt sich doch recht klar dar, daß zumindest eine einfache Abstufung zwischen abstrakten, grundsätzlicheren und allgemeineren objektiven Verfassungsnormen-quasi primären Verfassungsgrades, hier verstanden als Verfassungsprin-
155 So stößt etwa die von P. Badura, Arten der Verfassungsgrundsätze, in: HStR, Bd. VII, 1992, § 159, Rn. 16 vorgenommen Einordnung des Verbots des Angriffskrieges (Art. 24 Abs. 2 GG) sowie der Aufgabe der Friedenssicherung (Art. 26 Abs. 1 GG) als weitere Staatszielbestimmungen auf dezidierten Widerspruch bei D. Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff. (S. 372 f.), der auch im Vergleich zu H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz- Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBI. 1991, S. 730 ff. (S. 734) sowie zu Th. Maunz, Staatsziele in den Verfassungen von Bund und Ländern, in: BayVBI. 1989, S. 545 ff., einen deutlich engeren Staatszielkatalog sieht. 156 Dazu H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz - Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBI. 1991, S. 730 ff. (S. 734) m.V.a. L. H. Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation unter besonderer Berücksichtigung der Positivierung des Umweltschutzes im Grundgesetz, 1986, S. 146 ff.
157 Neben den genannten Meinungen zum Sozialprinzip als Staatsziel(bestimmung) finden sich folgende wichtige exemplarischen Einordnungen: "alle Staatsgewalten verpflichtende Staatsleitlinie mit normativer Verbindlichkeit", E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 17, Rn. 80; ähnlich Th. Maunz, Staatsziele in den Verfassungen von Bund und Ländern, in: BayVBI. 1989, S. 545 ff. (S. 547): "eine echte, unmittelbar geltende und alle Staatsgewalten verpflichtetende Leitlinie"; "Leitbild zur Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung", J. /sensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR, Bd. 111, 1988, §57, Rn. 115; als "eine der wesentlichsten Aussagen des Grundgesetzes", "bindende Staatsleitlinie" und (allerdings auch) "Fundamentalprinzip" wertet Herzog das soziale Moment, Art. 20 Absch. VIII, in: MaunzlDürig, GG, Rn. 1 f.
1. Kap.: Das Sozialprinzip
77
zipien- und material bestimmteren Normen als Staatszielbestimmungen- als Verfassungsnormen sekundären Grades- angezeigt scheint. e) Sozialprinzip als Staatszielbestimmung? Insofern ist Scheuner, der die Staatszielbestimmung "als einen besonderen Unterfall der Kategorie der Verfassungsprinzipien" bezeichnet 158, nicht zuzustimmen, da die Staatszielbestimmung eben kein Unterfall, sondern Ableitung des Verfassungsprinzips ist; denn logisch müssen etwaige Staatszielbestimmungen mit den Verfassungsprinzipien als höherrangige Normen nicht nur vereinbar, sondern durch jene geboten sein, werden deshalb aber nicht regelmäßig zum Verfassungsprinzip oder zum Unterfall eines solchen. Ebensowenig kann - signifikanterweise andersherum - das Verfassungsprinzip als Unterfall der Staatszielbestimmungen systematisiert werden. 159 Die Einordnung des Sozialprinzips als Staatszielbestimmung bedeutet eine zunächst begriffliche, dann aber auch inhaltliche Abwertung des Sozialprinzips gegenüber dem Demokratie-, dem Rechtsstaats- oder dem Bundesprinzip; fiir jene ist die begriffliche Einordnung als Staatsziel undenkbar. 160 Das soziale Prinzip steht gleichrangig neben diesen anderen Prinzipien in Art. 20 Abs. 1 GG; allein seine materiale Offenheit kann keine durch den Begriff "Staatsziel" suggerierte Nachrangigkeit rechtfertigen. Das Sozialprinzip mag wegen seiner Offenheit und seinem dynamischen Führungscharakter funktionale Nähe zu anderen Staatszielbestimmungen aufweisen - dies steht im übrigen seinem Verfassungsprinzipcharakter nicht entgegen 161 -, eine begriffliche Einebnung des Sozialprinzips mit dem früheren Gebot der Wiedervereinigung geschweige denn der - wenngleich auf Länderebene - ebenfalls als verfassungsmäßiges Staatsziel
158 U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: FS E. Forsthoff, 1972, S. 325 ff. (S. 330), setzt hier das Verfassungsprinzip auch mit dem Verfassungsgrundsatz gleich. 159 So aber Th. Maunz, Staatsziele in den Verfassungen von Bund und Ländern, in: BayVBI. 1989, S. 545 ff., der einen sehr breiten Katalog von Verfassungsprinzipien sieht und diese neben Gesetzgebungsaufträgen in einer Bestandsaufnahme unter Staatszielbestimmungen subsummiert 160 J. lsensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR, Bd. Ill, 1988, § 57, Rn. 123, nennt zwar "Demokratisches Staatsziel" als Randnummernabstrakt, spricht dann ausfUhrend aber auch wieder vom "demokratischen Verfassungsprinzip".
161 M. Kaufmann, Integrierte Staatlichkeit als Staatsstrukturprinzip, JZ 1999, S. 814 ff. (S. 815), spricht hier - allerdings mit der fragwürdigen Absicht der Einordnung des Integrationsaspekts als Staatsstrukturprinzip - von ",doppelfunktionalen' Prinzipien".
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
eingestuften Vermeidung von Abfall 162 istjedoch abwegig. Im übrigen paßt das Sozialprinzip genau wegen seiner vollkommenen materialen Unbestimmtheit und seiner hohen Allgmeinheit auch nicht in die Staatszieldefinition der Sachverständigenkommission, die von "sachlich umschriebenen Zielen" 163 spricht. In Bezug auf das Sozialprinzip werden deshalb zumeist "Staatszielbestimmungen" mit "Verfassungsprinzipien" begrifflich wieder vermengt und der Rang des Sozialprinzips als (ledigliche) Staatszielbestimmung somit wieder ("nach oben") relativert 164, andernorts- gerade in umfassenden Abhandlungen - eine Bezeichnung des Sozialprinzips als Staatszielbestimmung eher vermieden und das Prinzipielle, also das dem Staat Vorgelagerte, fi1r ihn an höchster Stelle Stehende des Sozialprinzips, auch begrifflich verdeutlicht. 165 Nur die Sichtweise des Sozialprinzips als Strukturprinzip der Verfassung, solches eben
162
Art. 35 Abs. I der Verfassung von Sachsen-Anhalt.
163
Vgl. dazu oben 3. Teil, I. Kap., III., 1., c); Fn. 146.
So ist bei U Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: FS E. Forsthoff, 1972, S. 325 ff. (S. 330 ff., S. 336), das Sozialprinzip zwar allgemeine Staatszielbestimmung, dann aber wieder auf eine Stufe mit dem (nicht als Staatsziel verstandenen) Rechtsstaatsprinzip gestellt; bei P. Badura, Arten der Verfassungsgrundsätze, in: HStR, Bd. VII, 1992, § 159, Rn. 1, erlangt "eine Staatsaufgabe von Gewicht ... zugleich den Charakter eines Verfassungsgrundsatzes", er bezieht dies jedoch exemplarisch (sogar) auf die "konjunkturpolitische Direktive des Art. 109 Abs. 2 GG", die im Bedeutungsrang dem Sozialprinzip nachsteht, weil sie Ausfluß desselbigen darstellt; Ch. Starck. Die Verfassungsauslegung, in: J. lsensee/P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 164, Rn. 51, 55, ordnet explizit das "soziale Staatsziel" den Strukturprinzipien zu. 164
165 So etwa treffend "sozialstaatliches Strukturprinzip", K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 877; "Verfassungs- und damit ... Rechtsprinzip", Schachtschneider.K. A., Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974, S. 35, 38; ders., Res publica res populi, 1994, insb. S. 234 ff., spricht nahezu ausschließlich von Sozialprinzip (als Verfassungsprinzip); zumindest Einordnung als "Staatsfundamentalnorm" bei H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 80, 80 ff., wenngleich überwiegend "Staatsziel", allerdings (vermutlich in Differenzierung des "Staatsziels" von der "Staatszielbestimmung") nicht im Kanon und begrifflich gleichstellend mit einer Vielzahl anderer Staatszielbestimmungen; weniger konsequent auch R. Herzog, Art. 20 Absch. VIII, in: Maunv'Dürig, GG, Rn. 1 ff. (siehe Fn. 137); hinweisend auf die Problemsicht, aber dann leider nicht ausfilhrend auch H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz - Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBI. 1991, S. 730 ff. (S. 734), der das ,.Sozialstaatsprinzip- das freilich nicht zufällig auf der Ebene der Staatsfundamentalnormen angesiedelt ist -" doch als Staatsziel sieht; signifikant auch die Wortwahl des BVerfD, das bei der Vielzahl seiner Formulierungen ,.Staatsziel" und die "Staatszielbestimmung" als Termini filr das Sozialprinzip eher meidet.
I. Kap.: Das Sozialprinzip
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verstanden als Prinzip der Verfassungsstruktur insgesamt, nicht nur ausschließlich als Organisationsprinzip staatlicher Institutionen 166, scheint dabei angesichts der verfassungssystematischen Stellung in Art. 20 Abs. 1 GG und seiner Allgemeinheit sowie seiner Eigenschaft als Bedingung der Integration gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz I GG richtig. Insbesondere tritt das Prinzipielle des Sozialprinzips vor allem aber in der Lehre von der Republik hervor. 2. Das Prinzipielle des Sozialprinzips in der Republik
Die Republik 167 als vollendete Form der Idee der freiheitlich demokratischen Grundordnung 168 verfolgt den Zweck allgemeiner Freiheit, die nur durch die Republik ihre Verwirklichung finden kann. 169 Freiheit besteht nicht (negativ) in einer durch Abwehrrechte verbürgten materialen Freiheit des Individuums des "Untertans" - als Möglichkeiten gegenüber dem Staat liberalistischer Erkenntnis, sondern (positiv) im Sinn einer mit dem Menschen geborenen formalen Freiheit. 170 Sie ist politische Freiheit, die Autonomie des Willens 171 , und 166 So aber D. Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff. (S. 369 f.); M Kaufmann, Integrierte Staatlichkeit als Staatsstrukturprinzip, JZ 1999, S. 814 ff. (S. 815). 167 Zur Lehre von der Republik K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994; ders., Freiheit in der Republik, unveröff. Manuskript des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät Nürnberg, Nürnberg 2000; ders., Die Republik der Völker Europas, ARSP-Beiheft 71, 1997, S. 153 ff.; ders. , Republikanische Freiheit, in: B. Ziemskeffh. Langheid!H. Wilms/ G. Haverkate (Hrsg.): Staatsphilosophie und Rechtspolitik. FS für M. Kriele zum 65. Geburtstag, 1997, S. 829 (S. 830 ff.); W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 12, S. 427 ff. ("Bürgerstaat" als "durch Demokratie vollendete Republik"); J. lsensee, Republik - Sinnpotential eines Begriffs, JZ 1981 , S. I ff.; ders., Staat und Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, § 13, Rn. 104 ff.; W. Henke, Die Republik, in: J. Isensee/P. Kirchhof(Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, § 21; ders., Zum Verfassungsprinzip der Republik, JZ 1981, S. 249 ff. 168 V gl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 6 f, auch S. 39 ff. ; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in : HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 12, S. 427 ff. (S. 428 ff.); umfassend zum Begriff auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bun-
desrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 16, S. 556 ff.; zur "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" als Begriff des Grundgesetzes Art. 18 Satz I, Art. 21 Abs. 2 Satz I GG u.ö.; vgl. auch die Definition des BVerfG in BVerfGE 2, I (12 f.) sowie BVerfGE 5, 85 (197 f. ); 44, 125 (139).
169 Dazu umfassende Belege bei K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, s. 4 f 170 Zum republikanischen Freiheitsbegriff K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 2000, S. 313 ff.; ders. , Republikanische Freiheit, in: B. Ziemske/Th. Lang-
80
3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
kommt einprägsam zum Ausdruck im Weltrechtsprinzip des Art. I der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom I 0. Dezember 1948, auf die sich auch die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte beziehe 72 • "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen."
Zu ihr in engster Verbindung und als ihre (ebenfalls formale) Voraussetzung, Forderung und Konsequenz stehen Gleichheit und Brüderlichkeit, die Postulate der Aufklärung 173 , die Kant als transzendentale apriorische Prinzipien versteht 174 • Sie prägenjede Verfassung- so auch das Grundgesetz als deutsches Verfassungsgesetz - 175 und sind in gleicher Weise Prinzipien des sich einigenden Europas 176•
heid/H. Wilms/G. Haverkate (Hrsg.): Staatsphilosophie und Rechtspolitik. FS fiir M. Kriele zum 65. Geburtstag, 1997, S. 829 ff., dort zur Abgrenzung zum liberalistischen Freiheitsbegriff S. 834 ff.; ausfUhrliehst auch ders., Res publica res populi, 1994, S. 253 ff., 275 ff., 427 ff., zur Abgrenzung beider Anschauungen insb. S. 441 ff.; ferner ders., Vom liberalistischen zum republikanischen Freiheitsbegriff, in: ders. (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch. FS der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Aiexander-Universität ErlangenNürnberg 75 Jahre nach Errichtung der Handelshochschule Nürnberg, 1995, S. 418 ff. 171
Dazu insb. K. A. Schach/schneider, Res publica res populi, 1994, S. 325 ff.
172
Präambel der EMRK, 1. Erwägungsgrund.
V gl. K. A. Schach/schneider, Res publica res populi, 1994, S. 253 ff.; ders., Freiheit in der Republik, 2000, S. I ff. 173
174 Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345 f.; ders., Zum ewigen Frieden, S. 204; ders., Über den Gemeinspruch, S. 145 ff.; K. A. Schachtschneider, Vom liberalistischen zum republikanischen Freiheitsbegriff, in: FS der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Aiexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 1995, S. 418 ff. (S. 420); M Kriele, Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird, 1987, S. 49 ff.; J. Locke, Über die Regierung, Two Treaties ofGovernment, The Second ed. P. C. Mayer, 1983 Reclam, S. 73, 95. 175 Vgl. W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 12, Rn. 156 ff.; K. A. Schach/schneider, Res publica res populi, 1994, S. 9 f.; ders., Frei - sozial - fortschrittlich, in: Die Fortentwicklung des Sozialstaates - Verfassungsauftrag und administrative Implementation, wissenschaftl. Kolloquium zu Ehren von Wemer Thieme am 24. 6. 88, 1988, S. 6 ff. (S. 17); ders., Die Republik der Völker Europas, ARSP-Beiheft 71, 1997, S. 153 ff. (S. 155); P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, § 20, Rn. 46 ff.
I. Kap.: Das Sozialprinzip
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"Auch unser Grundgesetz ist erfüllt von diesem Geiste der Freiheit - Gleichheit Brüderlichkeit." 177
Gleichheit steht als formales Prinzip nicht antinomisch zur Freiheit, wie es hingegen aus einem materialistischen Verständnis zu folgern wäre. Vielmehr dient sie der Verwirklichung der Freiheit, als sie logisch aus ihr hervorgeht; die eine steht zur anderen in einem schwesterlichen Verhältnis. 178 Formale Ungleichheiten und allgemeine Freiheit können deshalb nebeneinander nicht existieren, wohl aber sind materiale Ungleichheiten in der Freiheit möglich. 179 Nur die Gleichheit aller in allgemeiner Freiheit bedeutet die Allgemeinheit der Freiheit.180 Ordnung der Gleichheit ist die Demokratie im Gemeinwesen. 181 Demokratisch in der Gemeinschaft erfolgt die Gesetzgebung; sie schaffi allgemeine
176 So etwa K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, ARSP-Beiheft 71 , 1997, S. 153 ff. (S. 154 f); J C. K. Ring/er, Die Europäische Sozialunion, 1997, S. I ff. 177
W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HVertR, 2. Aufl. 1994,
§ 12, s. Rn. 156. 178 Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345 f.; "Die Gleichheit hat der Freiheit gegenüber eine dienende Funktion.", so G. Dürig, Art. 3 Abs. I GG, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 135. 179 So auch bei/. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein,
taugt aber nicht fiir die Praxis, S. 147 f.; explizit so gezeigt beiM. Kläver. Die Verfassung des Marktes, 2000, S. 248 f.; daß materielle Ungleichheiten "gewollt und elementarer Inhalt einer freiheitlichen Rechtsordnung" sind, betont auch das BVerfG im Vermögenssteuerbeschluß von 1995 (BVerfGE 93, 121 (163); oben Fn. 107).
180 Vgl. zur Einheit von Freiheit und Gleichheit, teils auch in Kontrast zur liberalistischen Differenzierung und Spannung K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 410 ff., insb. S. 422 ff. m.v.N.; ders., Freiheit in der Republik, 2000, S. 228 ff.; M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: HVerfR, Teil I, I. Aufl., 1983, S. 129 ff., S. 133 ff.; ders., Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird, 1987, S. 49 ff.; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 12, Rn. 156; P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. (S. 96ft); speziell fiir die Antinomie BVerfGE 5, 85 (206); auch R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl., 1994, S. 33 I f, 341 f. 181 Vgl. W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 12, Rn. 131 ff. (Demokratie sei "die Ordnung der Gleichheit in der Freiheit und das ~
Hänsch
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
Gesetzlichkeit, die die allgemeine Freiheit bestmöglich erftlllt. 182 Das Streben des Einzelnen nach eigenem Wohlergehen- sein Streben nach Glück- und die daraus resultierenden privaten Maximen 183 vereinbaren sich in den in Ansehung dieser privaten Maximen gemeinsam entwickelten Gesetzen. Nur diese, als der vereinigte Wille des Volkes, können den Einzelnen binden. 184 Das Gesetz dient quasi als Regulativ zur Optimierung der materialen Freiheit aller untereinander. Die Gesetze bilden das Recht, das Recht ist die Wirklichkeit allgemeiner Freiheit im Staat als "Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen"1ss .186
Prinzip einer sozialen Demokratie" fiir "größtmögliche und gleichberechtigte Wohlfahrt des Einzelnen bei notwendiger Gerechtigtkeit fiir Alle"); "Die egalitäre Demokratie als wichtigste Prämisse und Garantie des "Sozialen" und das soziale Staatsziel als materielle Direktive sind einander zugeordnet.", so H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 86, vgl. Rn. 86 f.; dazu auch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 60 ff., 236 ff.; ders., Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974, S. 48 ff.
182 Gegenläufig zur Konzeption des Liberalismus, in der die Gesetze die Freiheit in die Schranken weisen und die "Freiheit als Recht mißversteht, zu tun und zu lassen, was die Gesetze nicht verbieten", so K. A. Schach/schneider, Republikanische Freiheit, in: M. Kriele, 1997, S. 829 (S. 833) m.V.a. Th. Hobbes, Leviathan, Übersetzung J.P. Mayer, ed. Reclam, 1980, S. 189 f.; ders. , Res publica res populi, 1994, S. 290 ff., 292; ders., Freiheit in der Republik, 2000, S. 80 ff.; fiir die der Freiheit dienende Funktion des offenen Sozialprinzips und seiner Verwirklichung durch Gesetze oben 3. Teil, I. Kap., li., 3., c). 183 V gl. zum Streben nach "Glückseligkeit" /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 515 ff.; ders., Zum ewigen Frieden, S. 250 f.; ders., Über den Gemeinspruch, S. 154 f.; ders., Kritik der Urteilskraft, S. 313 f.; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 216, insb. 297 ff.; L. W. Beck, Kants "Kritik der praktischen Vernunft", 3. Aufl. 1995, S. 99 ff., 102 ff.; hierzu allgemein auch D. Sternberger, Das Menschenrecht nach Glück zu streben, in: ders., Schriften Bd. IV, 1980, S. 93 ff. 184 Dazu /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 431 f.; J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 1963, S. 70 f. ("das Volk, das Gesetzen unterworfen ist, muß auch ihr Urheber sein"), S. 92 f.; vgl. Reclam-Ausgabe, übers. und hrsg. v. H. Brockard, 1977/1986, S. 41 f.: "Das den Gesetzen unterworfene Volk muß deren Urheber sein; die Bedingungen der Gesellschaft zu regeln, kommt nur denen zu, die sich vergesellschaften: ..."; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 12, Rn. 51, 120 u.ö.
185 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 431; dazu K. A. Schach/schneider, Res publica res populi, 1994, S. 17, 519 ff.; ders. auch: "Die Bedingung des Rechts ist die Verfassung des Volkes als Staat."; interessant gerade fiir zunehmend internationale Verflechtung der Lebensverhältnisse und der daraus erwachsenden Notwendigkeit zur gemeinsamen (internationalen) Regelung durch das Recht flillt auf, daß der Kant'sche Staatsbegriff sich vom völkerrechtlichen Begriff, der durch Territorium, Volk und Gewalt definiert ist, unterscheidet, da er gerade nicht auf den territorialen Aspekt abstellt.
1. Kap.: Das Sozialprinzip
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"Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andem nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann. ... ,Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc.'" - lmmanuel Kant 181 "In der Republik ist jeder in dem, was dem anderen nicht schadet, vollkommen frei. Dies ist ein filr allemal die Grenze; man kann sie nicht genauer ziehen." Jean-Jacques Rousseau 188
Das Mitwirken an den gemeinsamen Gesetzen entsteht aus der jedes Menschen eigenen Pflicht zur Sittlichkeit, der Pflicht zu gemeinsamer Gesetzgebung. 189 Er läßt sich dabei von der Verpflichtung gegenüber seines Nächsten leiten, die in Kants kategorischem Imperativ zum Ausdruck kommt: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." 190
Die Sittlichkeit ist Bestandteil der Freiheit des Einzelnen. Sie ist "innere Freiheit" und korreliert mit der durch die Gesetze ermöglichten "äußeren Freiheit" als der "Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" als Recht zu freier Willkür. I9I Voraussetzung der Verwirklichung der Sittlichkeit des Einzelnen ist seine Selbständigkeit; in der Selbständigkeit aller, also in allgemeiner Selbständigkeit, fmdet das Postulat der Brüderlichkeit seine realisierte Form. 192 Nur wer selbständig ist, kann seiner Pflicht zur Sittlichkeit gemäß 186
Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 290 ff.
187 /.
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 337.
J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 1963, S. 192; analog. Reclam-Ausgabe, übers. und hrsg. v. H. Brockard, 1977/ 1986, S. ISO, zit. Marquis d'Argenson:" ,In einer Republik, ... , ist jeder vollkommen frei in dem, was den anderen nicht schadet.' Dies die unveränderliche Grenze; man kann sie nicht schärfer ziehen." 188
189
Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 632, 670 f., 728 ff.
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 140; ähnlich ders., Grundlegung der Metaphysik der Sitten, S. 51, 69 ff.; ders., Metaphysik der Sitten, S. 331, 526. 190 /.
191 I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 431 ff., auch S. 279 ff., 303 ff.; ders., Freiheit in der Republik, 2000.
192 So K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 241 m.w.N., insb. m.V.a. /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432 f.; ders., Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: J. Isensee/H. Lecheier (Hrsg.): Freiheit und Eigentum. FS ftlr Walter Leisner zum 70. Geburtstag, 1999, S. 743 ff. (S. 767 ff.); ders., Freiheit in der Republik, 2000, s. 322 ff., 336 ff.
6•
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
handeln, als Politiker im Diskurs mit allen anderen Menschen, deren Leben sich in irgendeiner Weise mit seinem eigenen verbindet und die wie er Politiker sind, gemeinsam Gesetze schaffen, "Staatsbürger, nicht bloß Staatsgenosse ... sein". 193 Der Unselbständige ist innerlich wie äußerlich nicht frei. Unselbständigkeit behindert allgemeine Gesetzlichkeit und damit die freiheitliche Republik. Selbständigkeit bedeutet immateriale und materiale Unabhängigkeit von einzelnen anderen, mit Kant eben - aus Sittlichkeit und logisch - weder Herr, vor allem aber nicht Knecht, also jedem anderen von Grund auf gleichgestellt zu sein. 194 Selbständigkeit als formale Größe ist jedoch in Realität wesentlich ökonomisch konditioniert, da auch das Immateriale, etwa die individuelle Erkenntnisflihigkeit, in hohem Maß material-ökonomische Abhängigkeiten aufweist. Sie begründet darum das Sozialprinzip im Staat, das die soziale Homogenität durch die Sicherung und stetige Verbesserung 195 allgemeiner (materialer) Selbständigkeit zum Ziel hat, in der sich die Brüderlichkeit verwirklicht. 196 Der Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung 197 aber gebietet nicht 193 Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432 ff., Zitat S. 433; ders., Über den Gemeinspruch, S. 150 ff.; H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 48 ff.; H. H. Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, § 28, Rn. 18 ff.; K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974, S. 40 ff.; ders., Staatsunterund Privatrecht. Kritik der Fiskustheorie, exemplifiziert an nehmen §I UWG, 1986, S. 143 f.; ders., Res publica res populi, 1994, S. 234 ff., insb. 241 ff., 438 ff.; zum Diskursgrundsatz ausfUhrlieh S. 584 ff.; zu letzterem J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, S. 78 ff. , 83 f; ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992, S. 109 ff., 187 ff., 340; /. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 630 (; ders., Zum ewigen Frieden, S. 244 ff. 194 V gl. /. Kant, Über den Gemeinspruch, S. !51; es sei "die Qualität des Menschen, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein", ders .. Metaphysik der Sitten, S. 345; genau dazu K. A. Schachtschneider. Res publica res populi, 1994, S. 241 ff. 195 Vgl. BVerfGE 5, 84 (198) (Fortschritt zu "sozialer Gerechtigkeit" als " leitendes Prinzip aller staatlichen Maßnahmen"); K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 240, 247 ff.; ders. , Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974, S. 40 ff.
196 Zur Homogenität im Gemeinwesen K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 241 ff., umfassend S. 1177 ff.; die "soziale Homogenität" begriffsprägend H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität. Gesammelte Schriften, Bd. 2, I. Aufl., 1971, S. 123 ff.; BVerfGE 89, !55 (186). 197 Vgl. K. A. Schachtschneider. Res publica res populi, 1994, S. 370 ff., insb. 386 ff.; auch ders.. Freiheit in der Republik, 2000, S. 237 ff., 244; ders., Vom liberalistischen zum republikanischen Freiheitsbegriff, in: FS der Wirtschafts- und Sozialwissen-
I. Kap.: Das Sozialprinzip
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Sozial-Nivellierung - wie das Leitprinzip materialer Gleichheit im Sozialismus198 -,sondern (lediglich) eine Verhinderung von dem Erfordernis der Selbständigkeit zuwiderlaufenden Ungleichheiten. 199 In der Republik fordert das Sozialprinzip also die Verantwortung des Einzelnen für das Gemeinwesen, aber auch die Verantwortung des Gemeinwesens, in dem sich die Gemeinschaft der Einzelnen organisiert, für den Einzelnen. 200 Beides findet seinen Niederschlag in "sozialer Gerechtigkeit" und wirtschaftlicher Sicherheit im Staat. 201
schaftliehen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universit!it Erlangen-Nürnberg, 1995, S. 418 ff. (S. 436); grundlegend J. lsensee, Subsidiarit!it und Verfassungsrecht, Berlin 1968, s. 215 ff., 313 ff. 198
Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 245 f.
Vgl. W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 12, Rn. 131 ff., 14 7 ff.; H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 32 ff., 63 ff.; M. Krie/e, Freiheit und Gleichheit, in: HVerfR, Teil I, I. Aufl., 1983, S. 129 ff. (S. 145 ff.); auch E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 17, Rn. 175 ff. ; K. A. Schachtschneider, Frei - sozial - fortschrittlich, in: Die Fortentwicklung des Sozialstaates- Verfassungsauftrag und administrative Irnplernentation, wissenschaftl. Kolloquium zu Ehren von Werner Thierne arn 24. 6. 88, 1988, S. 6 ff. (S. 14 f.); i.d.S. auch schon Aristote/es, Politik, S. 116 ff., 125 ff., 166 ff.; lt. BVerfGE 5, 85 (206), soll das Sozialprinzip "schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern und die Gleichheit fortschreitend bis zu dem vernünftigerweise zu fordernden Maße verwirklichen." 200 In diesem Sinne auch H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 85: "Die soziale Republik": " ... im Sinne der Teilhabe möglichst vieler ..., einer Identifikation des Bürgers mit dem Gerneinwesen ...", dies "unterstreicht Wesentliches, was der ,Sozialstaat' in der Sache meint: die Solidarität der Bürger mit den Bürgern- vermittelt durch das Gerneinwesen und zugleich gelebt in der Gesellschaft." 199
201 In der grundlegenden Verantwortung des einzelnen filr die Gerneinschaft liegt der Aspekt, der den Begriff "Sozialstaatsprinzip" verengt erscheinen läßt, da dieser begrifflich nur auf den Staat im engeren Sinn, also auf staatliche Institutionen, bezogen zu sein scheint, obgleich auch auf die Einbindung des einzelnen, seine "Sozialpflichtigkeit" hingewiesen wird, so z.B. bei E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 17, Rn. 180; das Grundlegende, an die Individuen Gebundene des Sozialprinzips vermag ein "Sozialstaatsprinzip" nicht zu vermitteln; denn das Sozialprinzip urnfaßt eben "Regelungen des Gerneinwesens insgesamt", es kommt im Gebot der Sozialstaatlichkeit des Art. 20 Abs. I GG, aber auch in anderen Vorschriften, etwa Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG zum Ausdruck; dazu K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974, S. 31 f.
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
3. Verbindlichkeit und Justiziabilitär02 Das Sozialprinzip entfaltet als Verfassungsprinzip ebensolche umittelbare Geltung und normative Verbindlichkeit wie seine "Schwesterprinzipien" der Demokratie, des Rechts- sowie des Bundesstaats. Es bindet jedes Element des Staates, insbesondere auch alle staatlichen Institutionen, in denen sich das Gemeinwesen organisiert.203 Als material offener Gestaltungsauftrag richtet es sich dabei wie geschildert vornehmlich an die Legislative204, entfaltet aber ebenso filr die Exekutive sowie in besonders hohem Grad gerade fiir die Judikative als Auslegungsmaxime und Ermessenrichtlinie Relevanz. 205 Im Vergleich zu seinen Schwesterprinzipien fiihrt die fehlende Materialisierung des Sozialprinzips zu einer - in den Worten Sterns - "Justitiabilitätsschwäche"206, da es als hochallgemeines und offenes Prinzip nicht subsumibel ist. Das steht jedoch einer institutionellen Justiziabilität nicht entgegen; denn gerade die Kombination von materialer Offenheit und hervorragender Bedeutung als Verfassungsprinzip setzt die Judikative, letztverantwortlich das Verfassungsgericht, in besondere Verantwortung filr die Gewährleistung des Sozialprinzips.207
202 .,Justiziabilität" wird der hier unterschiedslos verstandenen .,Judiziabilität" terminologisch vorgezogen. 203 Für viele R. Herzog, Art. 20 Absch. VIII, in: Maun:zJDürig, GG, Rn. 6. 204 Siehe oben 3. Teil, 1. Kap., II., 3., c); nicht zu teilen ist hier die Auffassung Badu-
ras, der deshalb von .,normative Gewichtslosigkeit des Sozialstaatssatzes" spricht; vgl. P. Badura, Die Verfassung im Ganzen der Rechtsordnung und die Verfassungskonkretisierung durch Gesetz, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 163, Rn. 23.
205 So K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 916 m.w.N. 206 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, s. 912. 207 In diesem Sinne K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 248, 851, auch S. 978 ff.; (noch anders ders., Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystemdes Grundgesetzes, 1974, S. 71 ff., 75 ff.); zu einem sehr hohen und abschließenden Verantwortungsgrad der Gerichtsbarkeit wohl auch H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 108, der die Bindung der Justiz an legislative Konkretisierung und insb. die Unzulässigkeit gegensätzlicher judizieller Materialisierung betont, dann aber einräumt: "In dem Maße, in dem die Steuerungskraft des Gesetzes nachläßt oder ausbleibt, hat freilich der Rechtsanwender selbst das ,Soziale' zu konkretisieren." (dort m.v.w.N.).
I. Kap.: Das Sozialprinzip
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Der Umgang mit der Frage der Justiziabilität des Sozialprinzips ist stark geprägt von der oben kritisierten, allgemein vorgenommenen Einordnung in die hinsichtlich der Ranghöhe nicht klar definierte Kategorie der Staatszielbestimmungen. FUr jene besteht weitgehende Einigkeit darin, daß in ihnen zwar jeweils für die staatlichen Organe verbindliche Wertentscheidungen für bestimmte Ziele, Anliegen, Aufgaben und damit Leitlinien objektiv-rechtlicher Wirkung lägen, sie aber nicht als autonome Grundlage subjektiver Rechte einzelner dienen könnten - auch wegen der begrenzten Leistungsfllhigkeit des Verfassungsrechts für die Wirtschafts- und Sozialpolitik und im übrigen im Ergebnis ebensowenig wie etwaige, als soziale Grundrechte formulierte Verfassungssätze208 • Subjektive Rechte könnten nur aus hinreichend konkretisierten im Sinne von materialisierten Normen entstehen, die schließlich von der jeweiligen (verallgemeinerten) Staatszielargumentation flankiert werden. Dies treffe nach der Literatur auch auf das Sozialprinzip zu209, wodurch dieses aber abschließend als lediglich subsidiäres Argumentationsmittel der Justiz verstanden und damit in seiner Bedeutung drastisch reduziert werden wUrde. Das Bundesverfassungsge208
Für andere K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: HVerfR, 2. Autl. 1994, § 5,
Rn. 31 ff.
209 Vgl. W. Gr. v. Vitzthum, Staatszielbestimmungen und Grundgesetzreform, in: GS E. Grabitz, 1995, S. 819 ff. (S. 829); P. Badura, Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 258; ders., Auftrag und Grenzen der Verwaltung im sozialen Rechtsstaat, DÖV 1968, S. 446 ff. (S. 449) in Anlehnung an BVerfGE 5, 85 (198): "Es ist deshalb grundsätzlich nicht möglich, aus dem sozialstaatliehen Verfassungsauftrag, der eben ein ,der konkreten Ausgestaltung in hohem Maße fähiges und bedürftiges Prinzip' ist, bestimmte Gestaltungen und Entscheidungen als verfassungsrechtlich geboten abzuleiten. ... Es ist Sache der politischen Entscheidung des Gesetzgebers, über die Art und Weise der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit und damit über die fortdauernd notwendige Ausgestaltung des sozialstaatliehen Verfassungsauftrages zu befinden" (Hervorh.i. Orig. ); ders., Arten der V erfassungsgrundsätze, in: HStR, Bd. VII, 1992, § 159, Rn. 15; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 916; H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 107; D. Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff. (S. 370); M. Sachs, Art. 20, in: Sachs, GG, 1996, Rn. 28 ff.; auf die fehlende Einklagbarkeit durch den Einzelnen verweist auch J. lsensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR, Bd. V, 1992, § 111, Rn. 160, im Zusammenhang mit der Frage von Grundrechtsvoraussetzungen und Sozialprinzip: "Die Möglichkeit, daß ein subjektives Recht auf Sicherung einer ( ...) sozialen Grundrechtsvoraussetzung entsteht, kann nur vom jeweiligen Grundrecht her begründet werden, nicht aber vom sozialen Staatsziel."; auch W. Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 7 ff. (S. 31); K. Hesse, Die Bedeutung der Grundrechte, in: HVerfR, 2. Autl. 1994, § 5, Rn. 33 ff.; R. Herzog, Art. 20 Absch. VIII, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 28; mit dem Hinweis auf mögliche subjektive Berechtigungen, falls den Staatszielbestimmungen "ein einzelne Rechtsträger begünstigender Schutzzweck innewohnt" H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz- Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBI. 1991 , S. 730 ff. (S. 733).
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
riebt hat jedoch den subjektiven Anspruch auf die Verwirklichung der objektiven Dimension durch den Gesetzgeber, das Recht auf Recht, inuner wieder vertreten; 210 steht die objektive Dimension der Grundrechte insofern auf einer Ebene mit dem Sozialprinzip, als in beiden material offene Leitentscheidungen - eben Prinzipien - der Verfassung zu sehen sind, spricht dies fiir eine analoge Judiziabilität des Sozialprinzips.211 Der höhere Rang des Sozialprinzips als Verfassungsprinzip gegenüber den einfachen Staatszielbestimmungen verbietet jedenfalls eine vollständige und undifferenzierende Übernahme der fiir diese entwickelten Justiziabilitätsargumentation. Der staatsfundamentale Charakter des Sozialprinzips erfordert möglicherweise vielmehr eine Unterscheidung nach Charakter und Relevanz der zu behandelnden Gegenstände im Hinblick auf die Verfassung des Staates insgesamt. Sicherlich sollte individuellen Interessen, wenngleich und gerade weil sie gegebenenfalls weitreichende Ausstrahlungswirkung auf eine Vielzahl analoger Fälle erzielen, das Sozialprinzip (oder irgendeine aus ihm fließende Staatszielbestinunung) nicht alleinig als Anspruchsgrundlage zur VerfUgung stehen; dies schon pragmatisch im Hinblick auf die erforderliche Aufrechterhaltung justizieller Funktionsflihigkeit sowie den verfassungsdogmatisch auf ein Minimum zu begrenzenden Eingriff der Judikative in den Gewaltbereich der Legislative. Richtigerweise ist hier verfassungsgerichtliche Zurückhaltung geboten. Im Fall individueller Interessen handelt es sich jedoch regelmäßig um Gegenstände, die ihren Ursprung im Staat finden und deren Wirkung sich allein auf das Staatsinnere und abgrenzbare Interessengruppen erstreckt - fiir den Staat im gesamten eher "kleine Fragen", die ihn in seinen Grundpfeilern nicht zu erschüttern vermögen und die er zu lösen alleine in der Lage ist.
210 Vgl. zuerst Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 189 (206 f.); st. Rspr.; mit zuletzt BVerfGE 97, 298 (312 ff.) über objektivrechtliche Verpflichtungen im Interesse der Rundfunkfreiheit, die die grundrechtliehen Positionen absichern sollen: "Ihr Sicherungszweck wäre gefährdet, wenn die Betroffenen keine Möglichkeit hätten, ihre Pflichtverletzung geltend zu machen."; daraus ergebe sich ein "Grundrechtsbeachtungsanspruch". 211 Schachtschneider leitet neuerdings aus seiner Dogmatik, das Sozialprinzip würde durch die Menschenrechte verwirklicht, in Analogie zur Judikatur des BVerfG bezüglich anderer Grundprinzipien des Grundgesetzes, die Verfassungsbeschwerdefllhigkeit des Sozialprinzips ab; so ders., Fallstudie zum Umweltrecht FCKW-Verbot, unveröff. Manuskript des Lehrstuhls fiir Öffentliches Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät Nümberg, Nümberg, Stand Juni 2000, S. 9 f.; demn. ders., Recht auf Arbeit- Pflicht zur Arbeit, in: GS J. G. Helm, ManuskriptS. 8; ders. , Kapitalverkehrsfreiheit.
I. Kap.: Das Sozialprinzip
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Daneben gibt es aber zu judizierende Gegenstände, die allgemeinste Wirkung im Staat aufweisen, den Staat in toto - also alle Individualinteressen und ihre organisierten Formen- betreffen sowie darüber hinaus wesentliche Verfassungs- und Konstruktionselemente des Staates wie die Strukturprinzipien entscheidend berühren und diese zu verletzen in der Lage wären. In besonderer Weise material dazu geeignet ist internationales Recht, das quasi von außen, wenngleich bei eigener Mitwirkung des Staates und mit aus der eigenen Staatlichkeit entspringendem Geltungsgrund212, in den Staat hineinwirkt, dort Verbindlichkeit entfaltet und gegebenenfalls höchsten rechtlichen Rang aufweist, wie es besonders im Hinblick auf das europäische Gemeinschaftsrecht iiber das Vehikel des dazugehörigen Zustimmungsgesetzes fiir Deutschland gegeben ist. 213 Gerade weil aber das Gemeinschaftsrecht seine Verbindlichkeit in den Mitgliedstaaten aus deren jeweiligen Staatlichkeit erlangt, bedarf es der Homogenität konstituierender Prinzipien Mitgliedstaatlicher Verfaßtheit - des Verfassungskerns oder der Verfassungsidentität - und internationaler Rechtsmaterie.214
212 Dazu BVerfGE 89, 155 (188 ff.); K. A. Schach/schneider. Die existentielle Staatlichkeil der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer!K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff. (S. 87 ff., 103 f.); zuletzt auch P. Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965 ff. (S. 967 f. ). 213 Zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zu nationalem Recht schon früh in der Rechtsprechung des EuGH, der den Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu vertreten gezwungen ist: EuGH- Rs. 26/62 (Van Gend & Loos), Slg. 1963, S. 1 ff.; EuGHRs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, S. 1251 ff.; EuGH- Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, S. 1125 ff. ; anders BVerfG, siehe Fn. 2I7); P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: HStR, Bd. VII, 1992, § 183, Rn. 66; H. P. /psen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: HStR, Bd. VII, I 992, Rn. 57 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, I991, Rn. 523 ff.; A. Bleckmann, Europarecht, 6., neub. und erw. Aufl., 1997, Rn. 1074 ff.; B. BeutlerIR. Bieber/J. Pipkorn!J. Streil, Die Europäische Union, 4., neubearb. Aufl., 1993, S. 96 ff.; M. Schweitzer!W Hummer, Europarecht Das Recht der Europäischen Union, 5., neubearb. und erw. Aufl., 1996, Rn. 845 ff., bes. Rn. 851, 857; ders., Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545 ff. (S. 545 f.); ders., Art. I, in: Groeben/Thiesing!Ehlermann, EWG-Vertrag, Bd. 1, 5., neubearb. Aufl., 1997, Rn. 26; zuletzt umfassend K. A. Schachtschneiderl A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, DSWR 1999, S. 17 ff. (Teil 1), S. 81 ff. (Teil II), S. 118 ff. (Teil III), insb. S. 119 ff. 214 Vgl. dazu, auch zum Begriff der Verfassungsidentität und des Verfassungskems, H. P. lpsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: HStR, Bd. VII, 1992, Rn. 9 f., 65; P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: HStR, Bd. VII, 1992, § 183, Rn. 59 ff; ders., Die Identität der
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
In diesen Fällen kann auch das Sozialprinzip wie alle anderen Verfassungsprinzipien nicht mehr nur subsidiär justizielle Bedeutung haben, sondern muß eigener (und grundsätzlich ausreichender) Rechtsmaßstab sein können, womit im Hinblick auf das- hier nicht zu beleuchtende- Verfahrensrecht, insbesondere das Bundesverfassungsgerichtsgesetz, keine Aussage über die jeweilige subjektive Einklagbarkeit getroffen sein soll. Keinesfalls geht es um die Begründung der Einklagbarkeit individuell beschränkt subjektiver und zugleich material geprägter Interessen, sondern es soll lediglich die besondere Verantwortung des höchsten Gerichts filr die wesentlichen Verfassungskonstruktionselemente im Staat herausgehoben werden. In diesem Sinne bezog das Bundesverfassungsgericht das Sozialprinzip, das - wie das Gericht im Bodenreformurteil andeutete- jedenfalls im Kern Element jedweder Verfassung sein muß215, auch in die "Zuständigkeitsgrenzkriterien" des von ihm im Maastricht-Urteif 16 konzipierten sogenannten "Kooperationsverhältnisses" zum Europäischen Gerichtshof ein. 217 Dies entspricht auch dem im Hinblick auf den Maastricht-
Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: J. Isensee/P. Kirchhof(Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, § 19; A. Bleckmann, Die Wahrung der "nationalen Identität" im Unions-Vertrag, JZ 1997, S. 265 ff.; K. Doehring, Die nationale "Identität" der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: 0. Due u.a. (Hrsg.): FS fiir U. Everling, 1995, S. 263 ff.; M. Hilf. Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: A. Randelzhofer u.a. (Hrsg.): GS fiir E. Grabitz, 1995, S. 157 ff. 215 BVerfGE 84, 90 (121, auch -verkürzt- 126): "Ebenso wie der originäre Verfassungsgeber darf auch der verfassungsändernde Gesetzgeber danach grundlegende Gerechtigkeitspostulate nicht außer acht lassen .... Ebenso sind grundlegende Elemente des Rechts- und Sozialstaatsprinzips zu achten." (Hervorh.d.Verf.) 216 BVerfGE 89, 155 ff.; umfangreiche Nachweise zu Maastricht-Urteil-Kommentierungen bei K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff. (S. 75, Fn. 1); ders., Die Republik der Völker Europas, ARSP-Beiheft 71, 1997, S. 153 ff. (S. 153 f., Fn. 6); H J Hahn!U. Häde, Europa im Wartestand: Bemerkungen zur Währungsunion, in: 0. Due u.a. (Hrsg.): FS filr U. Everling, 1995, S. 381 ff. (S. 397, Fn. 65); P. Kirchhof Das "Maastricht"-Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Entwicklung der europäischen Integration, in: Th. Waigel (Hrsg.): Unsere Zukunft heißt Europa: Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 111 ff. (S. 142 f., Fn. 75); vgl. auch die Dokumentation bei /. Winkelmann (Hrsg.): Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, Berlin 1994. 217 BVerfGE 89, 155 (175, 175 ff.), speziell, wenn auch nicht explizit zur Einbeziehung der Strukturprinzipien S. 187 f.; das Kooperationsverhältnis wurde damals entscheidend von P. Kirchhofmitgeprägt, der mittlerweile zurückziehender von einem gleichberechtigten Nebeneinander spricht, vgl. ders., Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965 (S. 968 f.); auf die Verant-
1. Kap. : Das Sozialprinzip
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Vertrag neu gestalteten Art. 23 GG, der in Absatz 1 die weitere Integration unter den Vorbehalt des Verfassungskerns stellt. 218 Die Frage der Justiziabilität des Sozialprinzips stellt sich jedoch nicht nur im nationalen Kontext, letztlich bezogen auf die Einbindung in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch mit Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs; denn dieser hat in der Europäischen Union, fUr die das Sozialprinzip in gleicher Weise verbindlich ist und sein muß219, ebenfalls das Sozialprinzip in seine Erwägungen im Sinne der flankierenden Argumentation in Ermessens- und Auslegungsfragen miteinzu-
wortung auch für das Sozialprinzip wies das Gericht in der "Solange II"-Entscheidung von 1986, BVerfGE 73, 339 (375 f.) hin: "Die Vorschrift [damals Art. 24 Abs. 1 GG; d. Verf.] ermächtigt nicht dazu, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in das Grundgefüge, die sie sie konsitutierenden Strukturen, aufzugeben."; ähnlich in "Solange 1", BVerfGE 37, 271 (279); die Kriterien des Kooperationsverhältnisses explizierend K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff. (S. 104 ff.); zuletzt v.a. K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, DSWR 1999, S. 17 ff. (Teil 1), S. 81 ff. (Teil li), S. 118 ff. (Teil III); zum Verhältnis des BVerfG zum EuGH nach dem Maastricht-Urteil weiterhin: W Gr. v. Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichende Aspekte, JZ 1998, S. 161 ff.; R. Zuck, Das Gerede vom gerichtlichen Kooperationsverhältnis, NJW 1994, S. 978 ff.; K. Hasse/bach, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht nach dem Vertrag von Amsterdam, JZ 1997, S. 942 ff., wie H H Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, JZ 1998, S. 213 ff., kritisch zur Rolle des Subsidiaritätsprotokolls von Amsterdam filr das Verhältnis EuGH- BVerfG; M. Hilf, Gutachten des BVerfG zu völkerrechtlichen Verträgen?, ZRP 1997, S. 270 ff., G. Hirsch, Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht - Kooperation oder Konfrontation?, NJW 1996, S. 2457 ff. (bezugnehmend auf die Bananenmarkt-problematik); E. Koch, Das deutsche Bundesverfassungsgericht als Europäischer Gerichtshofhöchster Instanz?, in: U. Immenga u.a. (Hrsg.): FS für E.-J. Mestmäcker, 1996, S. 397 ff. 218 Nach Art. 23 Abs. I Satz I GG "wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet."; Satz 3 unterstellt die Integrationsermächtigung den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG. 219 Ausführlich dazu J. C. K. Ring/er, Die Europäische Sozialunion, 1997, S. I ff.; siehe dazu auch unten 5. Teil, 1. Kap.
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
beziehen. Er kann und braucht es jedoch nicht in den Mittelpunkt stellen und als alleinige Rechtsgrundlage nutzen. Denn das ist gekoppelt an die Letztverantwortlichkeit fiir Staatlichkeit, die die Europäische Union nicht besitzt. 220
Zweites Kapitel
Das verfassungsimmanente Erfordernis gesamtwirtschaftlicher Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips: Das (gesamtwirtschaftliche) Stabilitätsprinzip " ..., und es ist der Sozialstaat grundgesetzlicher Prägung, der der modernen Industriegesellschaft Stabilität zu verleihen hat."- Klaus Stern221
I. Ökonomische Selbständigkeit und Staat Allgemeine Freiheit bedarf wie ausgefiihrt allgemeiner Selbständigkeit, die ihren realen Niederschlag in ausreichenden ökonomischen Befindlichkeiten als äußere Selbständigkeit eines jeden Einzelnen in der Republik erfährt. Die äußere Freiheit ist Voraussetzung der inneren Freiheit. Die Herstellung allgemeiner Selbständigkeit verwirklicht die Brüderlichkeit unter den Einzelnen, die Brüderlichkeit im Staat. 222 Martin Kriele formuliert: "Freiheit des Geistes, Gleichheit im Recht, Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben."223
220 Demnach liegt im Fall der potentiellen Verletzung konstituierender Prinzipien durch weiteres internationales Recht, etwa das Welthandelsrecht als nächste Stufe in der Entwicklung hin zum Weltrecht, konsequenterweise die Letztverantwortung ebenfalls beim nationalen Verfassungsgericht; dies ändert sich erst mit der Existenz eines Europäischen Staates im existentiellen Sinn; vgl. zur Frage der Staatlichkeit, v.a. der Differenzierung funktionaler und existentieller Ausprägung, insb. Schachtschneider, K. A., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff. 221 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 890 f.; ähnlich S. 918: "Kennzeichen des modernen Sozialstaats ist also, ... bemüht um Stabilität, Gleichgewicht und Ausgleich" zu sein. 222
Vgl. oben 3. Teil, I. Kap., Ill., 2.
M Kriele, Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird, 1987, S. 49. 223
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
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I. Die staatliche Verpflichtung zu allgemeiner ökonomischer Selbständigkeit
Den Zusammenhang von allgemeiner Freiheit und der materiellökonomischen Situation der Einzelnen sowie der daraus folgenden, dem Sozialprinzip inhärenten Aufgabe des Staates, sich der wirtschaftlichen Bedingungen in geeigneter Weise anzunehmen, lehrte schon Aristoteles: "Auf diese Weise gibt es denn einen Staat von Herren und Knechten, aber nicht von Freien; die einen beneiden und die anderen verachten, und beides widerstrebt im höchsten Maße der Freundschaft und politischen Gemeinschaft."224 "Der wahrhafte Demokrat muß also vielmehr darauf schauen, daß das Volk nicht gar zu arm werde. Denn dies ist die Ursache, wenn eine Demokratie schlecht wird. Man muß es also so einrichten, daß eine dauernde Wohlhabenheit entstehe; denn dies nützt auch den Wohlhabenden. Man soll den Ertrag der Staatseinkünfte sammeln und aufhäufen und ganz den Armen verteilen, und zwar womöglich auf jeden soviel, daß es zum Ankauf eines Grundstückes reicht, oder doch wenigstens als Anfangskapital fiir ein Geschäft oder einen Bauembetrieb."225
Jeder Mensch steht von Natur aus zunächst sich selbst am nächsten. In einem Zustand, in dem er sich in seiner Existenz, d.h. auch in seinen materialen Möglichkeiten, das Leben zu bestreiten, bedroht fiihlt, wirkt sich dies in seinem Handeln aus. Solches Handeln ist dann aber nicht sittlich; es ist nicht durch das Streben filr das gute Leben aller im Gemeinwesen, dessen Teil er selbst ist, motiviert, sondern zwangsläufig ausschließlich an eigenem Interesse orientiert. Das ist so nicht nur darwinistisch erklärbar, sondern auch gerechtfertigt, da jeder, ist er denn geboren, grundsätzlich durch seine Existenz das Gemeinwe224 Aristoteles, Politik, S. 152, 1295 b 20; analog Reclam-Ausgabe, übers. und hrsg. v. F.F. Schwarz, 1989, S. 225: "Und demnach bildet sich ein Staat von Sklaven und Sklavenherrn heraus, doch nicht von Freien, wobei die einen beneiden und die anderen verachten. Und das steht sehr weit ab von Freundschaft und bürgerlicher Gemeinschaft." 225 Aristoteles, Politik, S. 210, 1320 a 31 tf.; analog Reclam-Ausgabe, übers. und hrsg. v. F.F. Schwarz, 1989, S. 310, 1320 a 30 tf.: "Es muß vielmehr ein echter Demokrat darauf sehen, daß die Volksmenge nicht zu sehr unbemittelt ist. Denn das ist die Ursache dafiir, daß die Demokratie verkommt. Man muß also die ganze Kunst daransetzen, daß es zu einer langwährenden Wohlhabenheit kommt. Weil dies aber auch den Wohlhabenden zugute kommt, muß man das, was sich aus den Staatseinkünften ergibt, sammeln und zusammengenommen unter die Mittellosen verteilen, und zwar besonders, wenn man soviel zusammenbringen kann, wie fiir das Erwerben eines bescheidenen Landgutes auslangt, ist das nicht möglich, so doch fiir den Beginn eines Handelsgeschäftes oder einer Landwirtschaft; ...".
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
sen bereichert. Dies ist aber nur unter der Bedingung der Fall, daß er sittlich im Sinne des Gemeinwesens, also freiheitlich, handelt. Der Einzelne bedarf der materialen Ausstattung, daß er sein Handeln freiheitlich leiten lassen kann und nicht der Herrschaft des Überlebensdrangs unterworfen ist. "Die Freiheit ist eine wirkliche erst in dem, der die Bedingungen derselben, den Besitz der materiellen und geistigen Güter, als die Voraussetzung der Selbstbestimmung, besitzt."- Lorenz von Stein226 "Das Freiheitsrecht wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos."- BVerfGE 33, 303 (33 I) "Der Mensch, der sich nicht zu einem Mindestmaß der Möglichkeit sicher weiß, die vitalsten Bedürftlisse an Nahrung, Kleidung und Unterkunft filr sich und seine Familie einigermaßen regelmäßig befriedigen zu können, existiert allenfalls als animalisches, nicht jedoch als soziales Wesen." - Herbert Krüge?27 "Jedenfalls muß jeder Bürger so viel an Gütern haben können und haben, daß er selbständig ist."- Kar! Albrecht Schachtschneide?28
Daraus erwächst die Funktion des organisierten Staates, im Sinne allgemeiner Freiheit mindestens ausreichende, d.h. im Sinne eines Existenzminimums verstandene, allgemeine materiale Selbständigkeit als Voraussetzung allgemeiner Sittlichkeit zu verfolgen. Auch Kanterkannte dies: "Der allgemeine Volkswille hat sich nämlich zu einer Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll, und zu dem Ende sich der inneren Staatgewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen, zu erhalten."229
226 L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 3, hrsg. v. G. Salomon, 1921, Neudruck 1959, S. I 04. 227 H. Krüger,Allgemeine Staatslehre, 2., durchges. Aufl., 1966, S. 389, der diesen Mindeststandard als "primitive Sicherheit" und "erste Voraussetzung des Menschseins überhaupt" ansieht. 228 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: J. Isensee/H. Lecheier (Hrsg.): Freiheit und Eigentum. FS für W. Leisner zum 70. Geburtstag, 1999, S. 743 ff. (S. 761 ). 229 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 446 (Hervorh.d.Verf.); im Anschluß leitet er daraus die Berechtigung der Regierung ab, "die Vermögenden zu nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Bedürfnissen nach, nicht sind. herbeizuschaffen."
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
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" ... , weil der Staat, ohne Wohlhabenheit des Volks, nicht Kräfte genug besitzen würde, auswärtigen Feinden zu widerstehen, oder sich selbst als gemeines Wesen zu erhalten.'mo
Diesem Zweck dienen - letztlich im Gegenseitigkeitsverhältnis - die gemeinsam geschaffenen und verpflichtenden Gesetze, die den Staat an sich als "Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" ausmachen. 231 Die Gesetze und allgemeine Gesetzlichkeit bedürfen also einerseits allgemeiner Sittlichkeit, leisten umgekehrt jedoch wiederum ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung der Sittlichkeit. Der Gesetzesstaat hat den Gesamtrahmen zu geben, in dem sich die Selbständigkeit des Einzelnen realisiert. Dazu gehört auch und im besonderen die Regelung der Wirtschaft. "Wer in Allnut und Elend lebt, ist nicht frei, sondern gezwungen, ständig und ausschließlich um die Erhaltung seiner Lebensbasis besorgt zu sein. Die Überwindung der Not ... bedeutet auch die Herstellung von sozialen Bedingungen der Entfaltung der Persönlichkeit fiir jedermann. Das ist der Grundgedanke ... , der nicht etwa im Gegensatz zur Idee der Freiheit steht, sondern eben aus den rechtlichen philosophischen Wurzeln der Freiheitsidee selbst sich mit innerer Zwangsläufigkeit ergibt." Martin Kriele 232 "Der Sozialstaat entspringt der nüchternen Erkenntnis, daß ein Mensch, dem es die Gesellschaft nicht möglich macht, seine und seiner Familie Mindestbedürfuisse an Ernährung, Bekleidung und Behausung aus eigener Kraft zu befriedigen, nicht Bürger sein kann: Was sollte ihn mit einem Staat verbinden, ja ihm verpflichten, in dem es ihm nicht einmal möglich ist, Mensch zu sein?" -Herber! Krüge? 33 "Ziel des Sozialstaates ist es, dem Bürger Schutz vor den Risiken des Marktes zu gewährleisten und ihm die effektive Ausübbarkeil der Freiheit unter den Bedingungen ungleicher gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu ermöglichen." - Josef Jsensee234
230 / . 23 1
Kant, Über den Gemeinspruch, S. 155, Anmerkung.
Vgl. dazu oben 3. Teil, I. Kap., 111., 2.
M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: HVerfR, Teil I, I. Aufl., 1983, S. 129 ff. (S. 146); so auch ders. , Einfiihrung in die Staatslehre, 5., überarb. Aufl., 1994, S. 229 f. 232
233
H. Krüger,Allgemeine Staatslehre, 2., durchges. Aufl., 1966, S. 810 f.
J. Jsensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR, Bd. V, 1992, § 111, Rn. 132. 234
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip "Staatliche Lebensbewältigung muß die Selbständigkeit der Bürger wahren und fördern; denn diese Selbständigkeit ist Grundlage der Gleichheit in der Freiheit. Ohne Selbständigkeit geht die bürgerliche Autonomie des Willens verloren .... Die Wirtschaft des grundgesetzliehen Gemeinwesens gibt die ökonomischen Voraussetzungen." -Kar/ Albrecht Schachtschneide?35
2. Subsidiarität des mikrosozialen Ansatzes des "Sozialstaats" gegenüber dem sozialprinzipgerechten makrosozialen Ansatz gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen
a) "Soziale Marktwirtschaft" als Wirtschaftsordnung der Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes Die staatliche Regelung der Wirtschaft erfolgt im Rahmen der Wirtschaftsverfassung im Sinne einer verfassungsmäßigen Normvorgabe ftlr das Wertschöpfungs- und Verteilungsgeschehen im Staat, basierend auf der Verfassung des Menschen als Verfassung der Freiheit sowie zum Ausdruck kommend in den wirtschaftsrelevanten Aspekten des Verfassungsgesetzes. 236 Ihr hat die (einfache) Gesetzgebung zu entsprechen und sie kann selbst durch die verfassungsändernde Gesetzgebung nur in manchen Teilen des Verfassungsgesetzes geändert werden. Mit ihr häufig gleichgesetzt, tatsächlich aber in einem Abhängigkeitsverhältnis stehend und daher von ihr abzugrenzen steht die ökonomische Frage der Wirtschaftsordnung als System- oder Modellentscheidung fiir die Funktionsweise der Wirtschaft. Da sich das Grundgesetz einer ausdrücklichen Bestimmung fiir die Wirtschaftsordnung ftlr Deutschland enthält, entwikkelte sich von Beginn an eine langandauernde und heftige politische wie vor allem auch rechtswissenschaftliche Diskussion um die Wirtschaftsverfassung und die gegebenenfalls verfaßte, jedenfalls aber verfassungsmäßig mögliche Wirtschaftsordnung Deutschlands. Auch das Bundesverfassungsgericht, das im Grundgesetz "keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung" siehe37 und die Bundesrepublik deshalb "wirt-
235
K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 203 und 240.
Insofern liegt hier ein engerer Wirtschaftsverfassungsbegriff zugrunde, der nicht das gesamte - auch einfachgesetzliche - Wirtschaftsrecht integriert, sondern nur Vorschriften mit Verfassungsrang; vgl. dazu auch M. Kläver, Die Verfassung des Marktes, 2000, s. 215 f. 236
237
BVerfGE 50, 290 (336 f.).
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
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schaftspolitisch neutral" sei 238, traf diesbezüglich keine dezidierte Entscheidung. Im Hinblick auf die auch vom Gericht gebotene Einhaltung der Grundrechte und der Strukturprinzipien, einschließlich des Sozialprinzips,239 läßt sich endlich, will man denn unbedingt eine Bezeichnung filr die Art der von der Wirtschaftsverfassung zugelassenen Wirtschaftsordnung fmden, mit weiten Teilen der Literatur am ehesten eine Einordnung der Bundesrepublik als "Soziale Marktwirtschaft" vertreten240 - oder im republikanischen Verständnis, modifiziert fokussiert und tatsächlich mehr als Bezeichnung der Wirtschaftsverfassung, nicht als Bezeichnung der Wirtschaftsordnung gedachte, "Marktliche Sozialwirtschaft"241 • Die "Soziale Marktwirtschaft" ist demnach aber nicht wirtschaftskonstitutiv, sondern muß stellvertretend filr ein Wirtschaftsordnungsmodell stehen, dessen entscheidendes Merkmal darin besteht, - irgendwo
238 BVerfGE 4, 7 (17 f.); 50, 290 (338); 7, 377 (400); 12, 341 (347); 14, 19 (23); 14, 263 (275); 21, 73 (78); 25, I, ( 19 f. ); 30, 292 (317 ff. ); M. Kläver, Die Verfassung des Marktes, 2000, S. 217 f., merkt diesbezüglich m. V .a. H.-J. Papier u.a. zu Recht an, daß begrifflich exakter wohl eher von ordnungspolitischer Neutralität zu sprechen sei. 239 Weswegen der Begriff der Neutralität richtigerweise häufige Kritik fand und das Grundgesetz in bezug auf eine Wirtschaftsordnungsaussage eher als offen denn als neutral bezeichnet werden sollte. 240 Als "Ideenstifter" der "Sozialen Marktwirtschaft" gilt A/fred Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, in: ders.: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, 2., unveränd. Aufl., 1974, S. 19 ff. (S. 109); die rechtliche Verankerung der Sozialen Marktwirtschaft wurde ursprünglich von Hans Carl Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, 3., neubearb. Aufl., 1965, insb. S. 64, vertreten; anstelle der umfassenden Literatur zum Thema Wirtschaftsverfassung/ -ordnung vgl. die Ausfiihrungen bei R. Schmidt, Staatliche Verantwortung fiir die Wirtschaft, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg. ): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, I988, § 83; vgl. auch die Nachweise bei K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/K.A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff. (S. 132, Fn. 274); jüngst auch ausfUhrlieher zur Wirtschaftsverfassung M. Kläver. Die Verfassung des Marktes, 2000, s. 215 ff. 241 Vgl. K. A. Schachtschneider!A. Emmerich-Fritsche/ Th. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, S. 751 (S. 756); K. A. Schachtschneider (0. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, 1996, S. 155, Fn. 675; K. A. Schachtschneider, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, IHI-Schriften 9/1998, S. 19 ff. (S. 47); der Unterschied zwischen beiden Begriffen liegt in der Wahl des "Basis-Modells": im einen Fall handelt es sich um eine Marktwirtschaft, die jedenfalls ein Minimum an Sozialität beinhaltet, im anderen Fall um eine prinzipiell sozial ausgerichtete Wirtschaft, die sich der Marktliehkeil und damit des Wettbewerb als Effizienzinstrument bedient. In der realen Umsetzung dürften kaum materiale Unterschiede bestehen.
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
- zwischen den Ordnungstpyen-Extrema der Planwirtschaft und der völlig freien Marktwirtschaft zu liegen. In den Texten der Wiedervereinigung Deutschlands - dem Staatsvertrag und dem Einigungsvertrag - ist die Soziale Marktwirtschaft mehrfach explizit genannt und wurde dort zur Grundlage der Wirtschaftsunion gemacht. 242 Die Grundsatzfrage einer wirtschaftssystembegrifflichen Einordnung der Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik bedarf aber - trotz etwaiger ausdrücklicher Bestimmungen im EG-Vertrag und daraus möglicherweise erwachsenden neuen Diskussionsbedarfs243 - an dieser Stelle keines erneuten Aufgreifens. b) Mikro- und makrosoziale Verantwortung des Staats der Sozialen Marktwirtschaft In engstem Zusammenhang mit der "Sozialen Marktwirtschaft" steht die Entwicklung des sogenannten "Sozialstaats" in Deutschland. Das klassische Verständnis des "Sozialstaats" allerdings ist stark geprägt vom mikrosozialen Realisationsansatz244 der direkten Unterstützung des einzelnen Bürgers oder der einzelnen Wirtschaftseinheit aus Umverteilungsmaßnahmen, obwohl dieser mikrosoziale Ansatz auf mikroökonomischer Basis erst in zweiter Linie im Zielfokus staatlicher Reglementierung, die keinesfalls zwingend mit marktinkonformer Intervention gleichzusetzen ist, liegt oder - im Hinblick auf die Realität der Politik- zumindest liegen sollte. Wie zu zeigen sein wird, beinhal242 lnsb. Art. I Abs. 3, 4 des Staatsvertrags der Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990; vgl. dazu H. H. Rupp. Die Soziale Marktwirtschaft in ihrer Verfassungsbedeutung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 1997, § 203, Rn. 4 ff., der pointiert anmerkt, daß "erstmalig in der deutschen Verfassungsgeschichte ... die Soziale Marktwirtschaft ... nunmehr rechtsnormativen Charakter erlangt und zu einem Postulat des Rechts geworden ist."; ausführlich und m.w.N. M. Schmidt-Preuß, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz vor dem Hintergrund des Staatsvertrages zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, DVBI. 1993, S. 236 ff., der von einem "neuen normativen Datum" spricht (S. 236); ftlr eine solche verfassungsmäßige Stärkung der Sozialen Marktwirtschaft H. Sodan, Vorrang der Privatheit als Prinzip der Wirtschaftsverfassung, DÖV 2000, S. 361 ff. (S. 366 f.); eher konträr J. Wie land, Arbeitsmarkt und staatliche Lenkung, VVDStRL 59 ( 1999), S. 13 ff., (S. 33 f.); inwieweit damit aber die vertragliche Entscheidung fiir die Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung gleichzeitig in Verfassungsrang erhoben wird, hängt vom Rang der Verträge der Wiedervereinigung ab; vgl. zum Letzten M. Kläver. Die Verfassung des Marktes, 2000, S. 238, Fn. 1065. 243
Siehe dazu unten 5. Teil, I. Kap., I.
Vgl. zur Unterscheidung mikro- und makroökonomischer Ansätze zur Erfiillung des sozialen Prinzips auch oben 3. Teil. I. Kap., II., 2., b ). 244
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
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tet die Verantwortung des Staates filr die Wirtschaft vielmehr als erstes, einem makrosozialen Verständnis und damit makroökonomischer Betrachtung folgend, die Gestaltung der grundsätzlich alle Wirtschaftseinheiten in gleicher Weise betreffenden und nicht individuell begünstigenden gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Sie sollen bestmöglich die Notwendigkeit des mikrosozialen "Sozialstaats" verringern, indem sie allen ermöglichen und Anreiz bieten, durch eigenes sittliches Handeln materiale Selbständigkeit zu erreichen; denn sozial ist vor allem der Staat, der um allgemeiner Selbständigkeit willen am wenigsten direkte soziale Leistungen erbringen muß.245
c) Nachrangigkeit des mikrosozialen Realisationsansatzes aa) Grundsatz und Vorrang der Privatheil der Lebensbewältigung sowie Priorität eigens begründeter Selbständigkeit (normativ)
Die Nachrangigkeit des mikrosozialen Ansatzes erwächst zunächst aus dem Grundsatz und dem Vorrang der Privatheil der Lebensbewältigung246, die sich im Grundgesetz durch den objektiven Gehalt der Grundrechte, vor allem der Eigentums-, Berufs- und Vereinigungsfreiheit, begründen. Mit diesem Grundsatz vielerorts gleichbedeutend interpretiert und jedenfalls verwandt ist der Grundsatz der Subsidiarität, wie er etwa gerade in der Sozialgesetzgebung die Nachrangigkeit der Sozialhilfe bestimmt (§ 2 Abs. I BSHG). Privatheit ist untrennbar verbunden mit der moralischen Pflicht des Einzelnen zur Selbstverantwortung, die die sittliche Pflicht zum Streben nach eigens begründeter Selbständigkeit meint. 247 Selbständigkeit bedeutet zuvorderst Selbständigkeit in und 245 Die hier vertretene Vorrangigkeit des makrosozialen Ansatzes ist nicht dahingehend zu verstehen, daß mikrosoziale Realisation vollständig verdrängt wird oder detailliert als Determinanten in makrosoziale Realisation einfließen soll, was Zacher als Gefahr kritisiert: "Wird jedoch die Alternativität zwischen makroökonomischer und mikrosozialer Sicht aufgegeben und versucht, den makroökonomischen Verteilungsprozeß unmittelbar und umfassend so anzulegen, daß er auch das mikrosozial Richtige bewirkt und mikrosoziale Einheit a priori in den makrosozialen Plan einzuordnen ist, so hebt das die Autonomie der wirtschaftlichen Prozesse ebenso auf wie die Autonomie der privaten Unterhaltseinheit und verweist beide auf die politische Entscheidung.", H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR., Bd. I, 1987, § 25, Rn. 70. 246 Früher kritisch zum Terminus "Privatautonomie" vgl. K. A. Schach/schneider, Res publica res populi, 1994, S. 399 ff.; neuerdings unter Aufgabe der Differenzierung von Privatheit und Privatautonomie ders., Freiheit in der Republik, 2000, S. 237 ff. 247 Vgl. dazu H. F. Zacher. Das soziale Staatsziel, in: HStR., Bd. I, 1987, § 25, Rn. 28 ff.; H. Krüger,AIIgemeine Staatslehre, 2., durchges. Aufl., I966, S. 813 ff.; K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht. Kritik der Fiskustheorie,
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durch Selbstverantwortung, durch eigenes Handeln - eigens begründete Selbständigkeit -, dann erst Selbständigkeit in Selbstverantwortung, aber geschaffen durch die Unterstiltzung des Gemeinwesens. 248 bb) Sicherung von Selbständigkeit, nur begrenzte Förderung eigens begründeter Selbständigkeit, Abhängigkeit vom einzelnen (empirisch)
Der Staat muß gesetzliche Rahmenbedingungen bestimmen, in denen die einzelnen bestmöglich ihrer Pflicht zur Selbstverantwortung nachkommen und dadurch auch Selbständigkeit aus eigener Kraft erreichen können. Die mikround makrosozialen Rahmenbedingungen sind dabei nicht durchwegs starr, da die ihnen zugrundeliegenden Gesetze dem Sozialprinzip entsprechend in den (ebenfalls nicht notwendig starren) Grenzen der Verfassung jeweils der sich wandelnden Lage angepaßt werden. 249 In der letztlich stets von der staatlichen Gesetzgebung zugelassenen und wesentlich konditionierten wirtschaftlichen Gesamtsituation des Gemeinwesens muß der Einzelne erstens Möglichkeit, zweitens Motivation zu selbstverantworteter und selbstgeschaffener, zu eigens begründeter Selbständigkeit finden. Etwaigen Leistungen aus dem subsidiären mikrosozialen Ansatz der Selbständigkeit - konventionell verstandener Sozialpolitik - kommt dabei überwiegend die Aufgabe zu, dem Einzelnen vor allem beruhigende Sicherheit filr mögliche Extremflille des Lebens in seiner spezifischen Situation zu bieten. Die
exemplifiziert an § 1 UWG, 1986, S. 145 ff.; ders., Frei - sozial- fortschrittlich, in: Die Fortentwicklung des Sozialstaates - Verfassungsauftrag und administrative Implementation, wissenschaftl. Kolloquium zu Ehren von Werner Thieme am 24. 6. 88, 1988, S. S. 16 ff.; ders., Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 768, 772); ders., Recht auf Arbeit - Pflicht zur Arbeit, in: GS J.G. Helm, ManuskriptS. 19 ff.; D. Merten, Sozialrecht, Sozialpolitik, in: E. Benda/ W. Maihofer!H.-J. Vogel (Hrsg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § 20, Rn. 126 ff. (spricht im konträren Fall von "Sozialkriminalität"). 248 Die Ausruhrungen Kants zur "Selbständigkeit" deuten in diese Richtung; er faßt heute nahezu unverständlich - seinen insb. an Beispielen gezeigten Selbständigkeitsbegriff eher eng, schließt er doch Frauen, Kinder, aber auch alle, die in irgendeiner Weise dienen, von dieser Eigenschaft aus (dazu Metaphysik der Sitten, S. 433; Über den Gemeinspruch, S. 151 , Anmerkung); der dahinterstehende Gedanke ist aber letztlich der der Eigenverantwortung, die den in Kants Augen Unselbständigen damals nicht möglich war; dazu M. Kläver, Die Verfassung des Marktes, 2000, s. 165 ff. 249
Siehe dazu oben 3. Teil, 1. Kap., II., 3., c).
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Gemeinschaft wird damit vor der drohenden, durch Verlust der Selbständigkeit bedingten Unsittlichkeit desjenigen bewahrt. Diese Funktion ist absolut grundlegender Natur, ilirdert allerdings nicht die Motivation zu eigens begründeter Selbständigkeit, allenfalls im Sinne einer präventiven Verhinderung von Fatalismus. Die staatlich gewährleistete Sicherheit darf das Prinzip der Selbstverantwortung zudem keinesfalls unterlaufen, wie es etwa filr Sozialhilfe in einer Höhe gelten würde, die das Streben nach eigens begründeter Selbständigkeit uninteressant machte, da es materiell schlechter stellen und- mit den Worten Kants - "das Armsein zum Erwerbmittel fii.r faule Menschen machen"250 würde. Daneben entfaltet der mikrosoziale Ansatz nur insofern auch Potential zur Förderung eigens begründeter Selbständigkeit, als bestimmte Formen direkter materialer Unterstützung die wirtschaftlichen Voraussetzungen schaffen, die jeweiligen Möglichkeiten zu eigens begründeter Selbständigkeit zu verbessern. Die fmanzielle Unterstützung von Studierenden gemäß dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BalliG) etwa, in welcher Form auch immer, flillt unter diese Betrachtung, sofern der Studierende die so geschaffenen Möglichkeiten ausnutzt und sein Studium tatsächlich vorantreibt. Das Sozialversicherungssystem zielt im Fall der Krankenversicherung z.B. auf die gleiche Wirkung, da die solidarisch ermöglichte medizinische Versorgung den von Krankheit Betroffenen nach Möglichkeit wieder in einen Gesundheitszustand versetzt, weiter erfolgreich eigens begründete Selbständigkeit zu verfolgen. Direkte Unterstützung des Einzelnen leistet damit primär einen Beitrag zu allgemeiner Selbständigkeit in dem Sinn, als im Interesse, aber material letztlich auch zu Lasten des Gemeinwesens die wirtschaftliche Situation des Einzelnen auf ein Maß gesichert wird, das ihn nicht in Unsittlichkeit treiben läßt. Inwieweit das dadurch hervorgerufene Sicherheitsbewußtsein dem Einzelnen auch tatsächlich Fatalismus nehmen sowie darUber hinausgehend möglicherweise Motivation zu eigens begründeter Selbständigkeit geben kann, ist fraglich und überaus abhängig vom Denken und Handeln des Einzelnen, ebenso wie der Grad der motivationalen Wirkung von Maßnahmen, denen primär eine Förderungsintension zugrundeliegt
250 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 447, wenngleich in diesem Fall als Argument fiir eine Finanzierung staatlicher Gewährleistung eines Existenzminimums "durch laufende Beiträge" anstelle institutionalisierter Versorgung durch staatliche, "fromme Stiftungen"; vgl. dazu M. Kläver, Die Verfassung des Marktes, 2000, S. 247, insb. auch Fn. 1093.
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cc) Das offene Maß materieller Selbständigkeit als Gegenstand politischer Entscheidungs/indung (formal und empirisch)
Die Offenheit des Sozialprinzips bedingt ferner das Orientierungsproblem des mikrosozialen Ansatzes: In der sich filr den Gesetzgeber permanent neu stellenden Frage, im Falle welcher individuellen wirtschaftlichen Gegebenheiten ökonomische Selbständigkeit (noch) erfilllt ist und der Staat folglich noch keine Unterstützung leisten muß bzw. welche individuelle wirtschaftliche Situation staatliche Unterstützung bewirken soll. Das Sozialprinzip liefert hierfilr keine greifbaren und beständigen Kriterien, geschweige denn entsprechende operationalisierte Wertevorgaben. Die Entscheidungsfmdung der Gesetzgebung hierüber kann und soll nach allgemeiner Auffassung nur auf politischem Weg erfolgen.m Auch das Bundesverfassungsgericht verfolgt diese Linie und sieht als äußerste Grenze lediglich offensichtliche Willkür auf Seiten des Gesetzgebers.252 Die Gesetzgebung muß dabei erstens in einer Minimalbetrachtung das Argument der Existenzsicherung beleuchten, d.h. ein Maß definieren, bei dem ein bestimmter, als menschenwürdig erachteter Lebensstandard möglich ist, wie auch immer dieser zu bestimmen sein mag. In der Realität wird das Ergebnis solcher Überlegung am deutlichsten sichtbar an den Anspruchskriterien filr Sozialhilfe. Hinzu kommt zweitens die nachvollziehbare Argumentation, daß das Existenzminimum ja bereits grundrechtliehen Gewährleistungsanspruch erfllhrt und das Sozialprinzip demnach ein materiales Selbständigkeitsmaß gebieten mUßte, das über diesem Existenzminimum liegt. 253 Die dahinterstehende Überlegung könnte das Prinzip des begrenzten Ausgleichs sein, besser: das Prinzip der Vermeidung eklatanter Ungleichgewichte, um ein notwendiges Mindestmaß an sozialer Homogenität zu gewährleisten; denn die Ausgleichsbestrebung muß notwendig ihre Obergrenze dort finden, wo das Privatheilsprinzip verletzt wäre. Das vom Sozialprinzip geforderte Selbständigkeitsmaß läge demgemäß an einem Punkt, wo der Grenznutzen des Ausgleichs filr allgemeine
251 lsensee spricht von "Chancen zur sozialen Selbstbehauptung", die "realen Voraussetzungen, unter denen alle Bürger ihre grundrechtliche Freiheit einschließlich der in ihr verkörperten Privatautonomie effektiv ausüben können"; darin läge allerdings "der nur politisch faßbare Sachverhalt des wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichts", den der Gesetzgeber festzulegen hat; J. lsensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR, Bd. V, 1992, § 111, Rn. 132.
252
So BVerfGE 68, I (97).
253
Siehe oben 3. Teil, I. Kap., 11., 2.
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
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Selbständigkeit und damit Rechtlichkeit im Gemeinwesen gegenüber dem der Privatheit geringer ist. 254 Die Problematik des mikrosozialen Ansatzes besteht vor allem darin, daß die unmittelbare Wirkung von staatlicher Leistung auf die Privatheit der einzelnen Wirtschaftseinheit mit einem Höchstmaß an Gestaltungsoffenheit zur Erreichung des Ziels allgemeiner Selbständigkeit zusammentrifft. Neben der objektiven Schwierigkeit der richtigen sachgerechten Entscheidungstindung ist zu berücksichtigen, daß gerade die Frage sozialer Leistungen sehr hohe realpolitische Bedeutung aufweist, deshalb zudem zum parteipolitischen Mißbrauch verleitet und somit am Ende parteiliche Interessen vor dem eigentlichen Verfassungsziel zu stehen drohen255 • Auch unter diesem Blickwinkel, im übrigen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip256 folgend, sollte diese Bestimmungsproblematik minimiert und dem Ziel der allgemeinen Selbständigkeit eher auf anderem Weg als dem der mikrosozialen Umverteilung nähergekommen werden. dd) Die ökonomische Abhängigkeit des mikrosozialen Ansatzes von der gesamtwirtschaftlichen Situation (empirisch) Schließlich wird berechtigterweise immer wieder die Abhängigkeit sozialstaatlicher Aktion von der Lage der Gesamtwirtschaft hervorgehoben. Wenngleich dieser Aspekt im Regelfall eher allgemein gegen eine weitergehende soziale Verantwortung des Staates oder zumindest in der Absicht, diese zu-
254 Damit ist natürlich lediglich eine abstrakte Aussage getroffen. Die Bestimmung dieses Grades ökonomisch-individueller Verhältnisse hängt von verschiedenen Faktoren ab, insb. auch dem allgemeinen Wohlstandsniveau des Staates, das sein absolutes Maß schon des Existenzminimums von dem in anderen Staaten unterscheiden läßt. Unabhängig von der zuzustimmenden formalen Begründung eines das Existenzminmum Obersteigenden "relativen Mehr an Gleichheit" im Interesse des Rechtszwecks, d.h. im Interesse allgemeiner Freiheit, im Gegensatz zu einer Umververteilung mit dem primären Ziel materialer Gleichheit, bleibt in der Realität doch das gleiche Problem: Der Maßstab filr "relative Ungleichheit" fehlt und der Gefahr des "Selbstläufers" der umverteilenden Sozialstaatlichkeit, bis letztlich die meßbare Grenze der Gleichverteilung erreicht ist, ist nur schwer entgegenzutreten. Vgl. dazu auch M Kläver, Die Verfassung des Marktes, 2000, S. 277. 255 Vgl. zu den Gefahren des "Parteistaats" äußerst kritisch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 166 ff., 772 ff. u.ö. 256 Vgl. zum Prinzip der Verhältnismäßigkeit A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000, insb. Zweites Kapitel.
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rUckdrängen zu wollen, instrumentalisiert wird257, begrenzt die gesamtwirtschaftliche Situation sicherlich zuallererst das mikrosoziale Sozialleistungsvermögen des Staates. Ganz im Gegenteil läßt sich dadurch aber nicht die Verantwortung des Staates zur Sozialität als schlichtweg nicht umsetzbar herunterspielen oder gar verneinen. Vielmehr rückt dies die makrosoziale Verantwortung zu Lasten klassischer mikrosozialer Sozialstaatsleistungen eindeutig in den Vordergrund. Die Abhängigkeit des mikrosozialen Ansatzes von der gesamtwirtschaftlichen Situation ergibt sich dabei aus einer Vielzahl von Interdependenzen. Allen voran bedarf natürlich die mikrosozial orientierte Umverteilung entsprechender Umverteilungsmasse. Diese kann wiederum nur dann ausreichend vorhanden sein, wenn ein möglichst hoher Grad an allgemeiner Selbständigkeit vorzufinden ist, der auf individuellen eigens begrUndeten Selbständigkeiten basiert. Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß Unterstützungsleistungen, die auf Förderung eigens begründeter Selbständigkeit gerichtet sind, sich nur dann zielgerecht entfalten können, wenn die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen dem Einzelnen auch Anreiz bieten, die Leistungen tatsächlich "produktiv" zu nutzen, d.h. die aus der Förderung resultierenden Möglichkeiten zu zukünftiger eigens begründeter Selbständigkeit tatsächlich wahrzunelunen. Zusätzlich muß deshalb der oben erwähnte Aspekt des Verhältnisses mikrosozialer Leistung zu dem Ergebnis etwaiger Bemühungen des Einzelnen um eigens begrUndete Selbständigkeit berücksichtigt werden. Staatliche Unterstützung darf nicht lukrativer sein als das Ergebnis der Bemühung um eigens begründete Selbständigkeit. Letzteres hängt wiederum entscheidend vom gesamtwirtschaftlichen Rahmen ab.
d) Vorrang des makrosozialen Ansatzes zur Erlangung eigens begründeter Selbständigkeit aa) Prinzipgemäßheil (normativ) und makrosoziale Förderung eigens begründeter Selbständigkeit (empirisch) Der Vorrang des makrosozialen Realisationsansatzes läßt sich teilweise mit der Umkehrung der filr den mikrosozialen Ansatz kritisch besprochenen Aspekte stützen. So entspricht es jedenfalls dem Prinzip des Vorrangs der Privatheit 257 Vgl. so etwa mit Bezug auf die Frage nach dem .,Recht auf Arbeit" bei R. Scholz, Arbeitsverfassung, Grundgesetzreform und Landesverfassungsrecht, RdA 1993, S. 249 ff. (S. 251 ).
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der Lebensbewältigung, nicht in direkte Befmdlichkeiten des Einzelnen eingreifen zu müssen- wenn auch in begünstigender Weise, wie es im Falle mikrosozialer Unterstützung gegeben ist -, sondern vielmehr den Nährboden fiir den materialen Erfolg eigenen Handeins des Einzelnen zu bereiten. Wie gezeigt liegt darin auch der geeignetere Weg, den Einzelnen zu eigens begründeter Selbständigkeit zu motivieren; denn grundsätzlich scheint es leichter, sich in das "soziale Auffangbecken" des Staates fallen zu lassen, als durch eigenes Handeln selbstverantwortlich und selbstverantwortet zu leben. Die gesamtwirtschaftlichen Rahrnenbedingungen, die der Staat wesentlich mitverantwortet, sollten deshalb bestmöglichen Erfolg eigenen Handeins gewährleisten; dazu gehört auch, daß nach eigens begründeter Selbständigkeit strebendes Handeln vorteilhafter ist als die Inanspruchnahme staatlich gewährter Selbständigkeit. bb) Das Problem der Bestimmung makrosozialer Gestaltung (empirisch)
Während die vorangehenden Aussagen eindeutig fiir einen Vorrang des makrosozialen Ansatzes sprechen, bereitet die Überlegung über die Klarheit der Orientierung makrosozialer staatlicher Gestaltung doch ebenfalls gewisse Schwierigkeiten. Makrosoziale Gestaltung erfolgt vor allem durch die Gesetzgebung, die die Wirtschaft in allgemeiner Weise konditioniert, da sie Staat und einzelnen Wirtschaftseinheiten bestimmte Handlungsanweisungen gibt oder Handlungsmöglichkeiten des Wirtschafrens eröffnet. Im Gegensatz zu mikrosozialen Maßnahmen setzt sie aber nicht an individuellen Situationen an. Insofern besteht fiir sie zwar kein Erfordernis zur Bestimmung eines konkreten Selbständigkeitsmaßes. Aber auch sie entbehrt zunächst einer durch das Sozialprinzip per se offensichtlichen Gestaltungsvorgabe, weswegen das Gebot allgemeiner Selbständigkeit grundsätzlich in der gesamten Spannweite des makrosozialen Realisationsansatzes zu verfolgen vorstellbar ist. Die Frage der Bestimmung der makrosozialen Gestaltung zeigt sich allerdings doch nicht vergleichbar problematisch wie die beim mikrosozialen Realisationsansatz. Insbesondere entfällt hier das Zusammentreffen des hohen Wirkungsgrades direkter sozialer Leistung sowie des damit verbundenen Eingriffs in die Privatheit des Einzelnen einerseits mit dem hohen Unbestimmtheitsgrad andererseits. Zum einen reduziert sich der Wirkungsgrad makrosozialer Gestaltung durch ihre allgemeine, inindividuelle Entfaltung und verringert dadurch auch parteipolitisch initiierte Fehllenkung. Zum anderen vermag der auf einem hohen Abstraktions- oder Kumulationsniveau gegebene wirtschaftsverfassungsrechtliche Rahmen der makrosozialen Aktion eher Orientierungsgrad zu verleihen als der deutlich konkreteren mikrosozialen Aktion. Über einen besonderen Stellenwert verfUgt, wie sich noch genauer erweisen wird, deshalb die in der
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Gesamtbetrachtung eine wesentliche Rolle spielende Verpflichtung des Staates auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht des Art. 109 Abs. 2 GG sowie seine, jedenfalls als solche interpretierbaren, Partialziele aus § I Satz 2 StWG. 258
II. Arbeit und Eigentum als Voraussetzung ökonomischer Selbständigkeit Für eine Betrachtung des Themenkreises Selbständigkeit des Bürgers und staatliche Verantwortung filr die wirtschaftliche Lage bedürfen zwei Aspekte gesonderter, wenngleich hier nicht umfassend erfolgender Erörterung: Arbeit und Eigentum. Sie sind Voraussetzung der materialen Selbständigkeit des Einzelnen und damit wesentliche Aspekte filr die soziale Gestaltung des Staates. Ein Zusammenhang zwischen beiden begründet sich in einfachen Worten darin, daß durch Arbeit eigens begrUndete Selbständigkeit erreicht werden kann, die mit dem Eigentum als das Ergebnis der Arbeit ihre rechtliche Materialisierung findet. 259 Zudem liefern das wirtschaftsverfassungsrechtlich herausragende Grundrecht "Eigentum" und die Frage nach Existenz und Ausprägung eines verfassungsmäßigen "Rechts auf Arbeit" weitere wichtige Anhaltspunkte.
I. "Arbeit" im weiten Sinn als sittliches Handeln für eigens begründete Selbständigkeit Des Menschen einzige Möglichkeit, der Selbstverantwortung und sittlichen Pflicht folgend eigens begründete Selbständigkeit zu erreichen - verfllgt er denn aufgrund ausreichender Vermögenssituation nicht ohnehin über sie besteht notwendig im Handeln. Handeln heißt aktiv zu sein, nicht passiv, d.h. sich in einer Weise zu betätigen, die darauf gerichtet ist, sich diejenige individuelle ökonomische Situation zu schaffen oder zu erhalten, in der der Mensch als Bürger sein Leben bestreiten kann. Sein Handeln muß dabei sittlich sein, es darf den Gesetzen nicht zuwiderlaufen.
258
Dazu unten 3. Teil, 3. Kap. und 4. Teil.
259
Vgl. dazu H F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25,
Rn. 28 ff., der Arbeit neben der Familie als Basis der Selbstverantwortung und Eigentum als erste Voraussetzung daftlr sieht; zum Zusammenhang von Arbeit und Eigentum als Grundlage der Selbständigkeit auch K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 767 ff., 775 ff.).
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
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Ein solches Handeln ist "Arbeit", das begrifflich auch mit "Leistung" erfaßt werden könnte. 260 Der Mensch muß "arbeiten", um von den Ergebnissen seiner Arbeit, dem Ertrag, sein Leben zu bestreiten.261 Arbeit ist Lebensgrundlage und Lebenschance, sie ist "Ausdruck menschlicher Selbsterhaltung und Selbstentfaltung"262. Ursprünglich trug der Arbeitende die Früchte seiner Arbeit als direkten Ertrag davon und bewältigte damit sein Leben. Schon lange bestreitet kaum einer mehr aus dem direkten Ertrag seiner Arbeit sein Leben, entzieht er sich nicht der Gesellschaft. Die sich entwickelte Arbeitsteilung, verbunden mit der Tauschwirtschaft, die sich zudem des abstrakten Tauschmittels Geld bedient, führte zur personalen Entkopplung desjenigen, der arbeitet, und desjenigen, der den direkten Ertrag der Arbeit in Anspruch nimmt, sowie in der Folge zum Handel des Arbeitsergebnisses mit anderen auf dem Markt. Arbeit ist insofern handelndes Engagement am Markt, marktliebes Handeln im weiten Sinn. An die Stelle des direkten Ertrags rückte schließlich der Markterfolg in Form von Tauschgütern oder eben Geld. Damit wird ftlr diese Betrachtung ganz bewußt ein sehr weites Verständnis des Arbeitsbegriffs gewählt, das im Hinblick auf die gesamtwirtschaftliche Verantwortung des Staates angemessen scheint und im übrigen den Arbeitsund Dienstleistungsmarktentwicklungen eher gerecht wird; denn in der heutigen "Tätigkeits-Gesellschaft", welche in hohem Maß von Arbeitsteilung und Spezialisierung geprägt ist, existiert eine Vielzahl verschiedener Formen und inhaltlicher Arten von Arbeit, die immer schwieriger voneinander zu differenzieren sind. Jeder kann aber grundsätzlich eine bestimmte Form und Art von 260 Das Kritierium der Leistung stellt bekanntlich auch das BVerfU in seiner Eigentumsjudikatur heraus (sog. "Leistungseigentum"); eine klare Abgrenzung von Arbeit und Leistung ist schwierig. Das Gericht spricht im Eigentumskontext von "Arbeit und Leistung" (BVerfGE 31, 229 (239); 53,257 (291); 72, 175 (193)), woraus sich aber nicht ableiten läßt, daß Arbeit keine Leistung darstelle; an anderer Stelle hebt das Gericht nur die "Leistung" oder "Eigenleistung" heraus, ohne dabei aber Arbeit i.e.S. ausschließen zu wollen (z.B. BVerfGE 58, 81 (112); 69, 272 (301)); K. A. Schach/schneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 760 f.), fllhrt unter dem Begriff der "Leistung" Arbeit und Unternehmung zusammen. 261 Ist der dazu nicht, d.h. noch nicht, vorübergehend nicht oder nicht mehr in der Lage, erhält er die Unterstützung zur ökonomischen Selbständigkeit durch die Gemeinschaft; dies triffi etwa grundsätzlich das Kind, die schwangere Frau oder den Kranken, den Rentner. 262 H.-P. Schneider, Art. 12 GG - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, VVDStRL 43 (1985), S. 1 ff. (S. 15) mit einem kurzen Überblick zu staatsphilosophischen Grundlagen der "Arbeit"; siehe zu letzteren ebenso die einruhrenden Abschnitte bei P. Häberle, Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit, AöR 109 (1984), S. 630 ff.; ders.. Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 ff.
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Arbeit am Markt anbieten. Voraussetzung der Arbeit ist das auf allgemeiner Gesetzlichkeit basierende Vertragsprinzip. 263 Arbeit als Handeln filr eigens begründete Selbständigkeit kann nur in einem sehr weiten Sinn verstanden sein. Zu ihr gehört vor allem die Arbeit engeren klassischen begrifflichen Verständnisses, die die meisten verfolgen: die sogenannte "unselbständige Arbeit" als längerfristigen Dienst filr einen anderen, dem der Arbeitende hinsichtlich Art, Zeitpunkt und Dauer der Arbeitsausfilhrung weisungsgebunden ist und von dem er sein Entgelt als Markterfolg264 erhält; sie wird am "Arbeitsmarkt" angeboten, kann körperlicher wie geistiger Natur sein und zu ihr sind "Arbeiter", "Angestellte", funktional aber ebenso "Beamte"265 zu zählen. Diese technische "Unselbständigkeit" steht dem formal beanspruchten materialen Zweck der Selbständigkeit nicht entgegen. 266 Aber auch und gerade die sogenannte "selbständige Tätigkeit" des Unternehmers des "Freiberuflers", "Gewerbetreibenden" und "Handwerkers" - , die auf einem Güter-, Kapital- oder Dienstleistungsmarkt feilgeboten wird, ist Handeln, das dem Streben nach eigens begründeter Selbständigkeit dient. 267 Auch sie ist 263 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 383, 404 ff. ; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht. Kritik der Fiskustheorie, exemplifiziert an § I UWG, 1986, S. 337 ff. ; ders., Freiheit in der Republik, 2000, S. 274 ff.; M. Kläver, Die Verfassung des Marktes, 2000, S. 127 ff.
264 Der Einordnung einer Vergütung aus einem Dienstvertrag als "Markterfolg" steht die teils gegebene Abhängigkeit von Tarifverträgen nicht entgegen, da diese als kollektives Marktergebnis betrachtet werden können. 265 Für Beamte ist insofern eine Einschränkung zu machen, als ihre Alimentierung vom Marktwert der Arbeitsleistung formal weitgehend abgekoppelt ist. 266 Zumal technische (Un-)Selbständigkeit nichts über faktische (Un-)Abhängigkeiten aussagt. 267 An dieser Stelle muß allerdings auf eine Differenzierung von Unternehmenstypen und Unternehmer-/Gesellschaftervarianten verzichtet werden. Fraglich ist dabei vor dem Hintergrund der zunehmenden Dominanz von - auch internationalen - Kapitalunternehmen insbesondere, inwieweit ein Handeln, das vorrangig die Bereitstellung von Sach- und/oder Kapitalvermögen erfaßt, als Arbeit gelten kann, wobei zwei Aspekte von Relevanz zu sein scheinen: erstens die Frage, ob nicht im Bestehen des Sach- oder Kapitalvermögens letztlich (fiühere) Arbeit zum Ausdruck kommt ("geronnene Arbeit") hier spielt das Erbrecht eine entscheidende Rolle (dazu kurz und kritisch K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 760); zweitens, ob nicht tatsächlich allein in der Bereitstellung des Kapitals, die die Information, Auswahl und Verhandlung notwendig macht, ein Handeln zu sehen ist, die Klassifizierung als Arbeit gerechtfertigt; im Eigentumskontext stellt das BVerfG das Erworbene aus Kapitaleinsatz dem aus Arbeitsleistung gleich, vgl.
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marktmäßiges Handeln und damit eben Arbeit im hier gewählten weiten Sinn. Sie umfaßt die Führung eines Unternehmens, wenn auch vielleicht nur eines Ein-Mann-Unternehmens, und entspricht dem Prinzip der Privatheit und der sittlichen Pflicht wegen ihrer Unabhängigkeit von einem bestimmten Anderen mindestens in gleicher Weise. Die primäre Verantwortung des Staates zu allgemeiner Selbständigkeit muß demnach eine makrosoziale Gestaltung nach sich ziehen, die den ausreichenden Erfolg eines jeden auf dem Markt bestmöglich möglich macht, egal, ob als Arbeitender im abhängigen Arbeitsverhältnis oder in Unternehmerposition, also dem "Selbständigendasein", oder in beiden zugleich. 268 Dafiir bedarf es rechtlicher Rahmenbedingungen, die zum einen ein geregeltes und verläßliches eben ein stabiles - Marktgeschehen ermöglichen und die zum anderen die individuelle, in manchen Fällen auch mikrosozial geilirderte, Marktflihigkeit eines jeden Einzelnen so gut wie möglich gewährleisten.
2. "Recht aufArbeit " ?
a) Die Diskussion um das "Recht auf Arbeit" Aus der zentralen Bedeutung der Arbeit fiir das Leben des Menschen erklärt sich schließlich auch die immerwährende interdisziplinäre Auseinandersetzung um ein "Recht auf Arbeit"269, das das Grundgesetz in Abkehr zur Weimarer Reichsverfassung270, den Verfassungen einiger Bundesländer71 sowie verBVerfGE I, 264 (277 f.); 50, 290 (340); 58, 81 (112); dazu W. Leisner, Eigentum, in: J. lsensee/P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, § 149, Rn. 85 f. 268 Zumal die Unterscheidung von Arbeitnehmern und Selbständigen in wachsenden Teilbereichen und vor dem Hintergrund der Strukturveränderung unternehmerischer Aktion und Arbeitnehmerbeteiligungen zunehmend problematischer wird (Stichworte "Aktienoptionsplan", "freier Mitarbeiter", "Scheinselbständigkeit" "Strukturveränderungen am Arbeitsmarkt", "Projektarbeit", "Tele-Arbeit" etc.). 269 Begrifflich alternativ, teils aus sich unterscheidenden Blickwinkeln auch: "Grundrecht auf Arbeit" , "V erfassungsrecht auf Arbeit"; inhaltlich sicherlich anders: "Recht zur Arbeit". 270
Siehe Art. 163 Abs. 2 WR V.
Art. 166 Abs. 2 BayVerf; Art. 12 Abs. I BerlVerf; Art. 28 Abs. 2 HessVerf; Art. 24 Abs. I S. 3 NRWVerf; Art. 53 Abs. 2 RhPtVerf; Art. 45 S. 2 SaarVerf.; vgl. dazu auch die Überblicke bei R. Breuer, Freiheit des Berufs, in: J. lsensee/P. Kirchhof (Hrsg.): 271
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
schierlenen internationalen Rechtstexten272 und anderen europäischen Staatenverfassungen273 bekannterweise nicht ausdrücklich kennt. In der rechtswissenschaftliehen Literatur274 erflihrt das Thema häufig im Kontext "Soziale Grundrechte", "Staatszielbestimmungen", "Grundrechtsvoraussetzungen" oder "Sozial(-staats-)prinzip" sowie regelmäßig in Erörterungen des Art. 12 Abs. I GG, gelegentlich auch im Zusammenhang der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG mehr oder weniger ausführliche Behandlung. Dabei geht es zumeist vorrangig um die Frage eines subjektiv-öffentlichen Rechts im Sinne eines Schutzund Leistungsanspruchs auf Erhaltung, Schaffung, Förderung und Zuweisung von Arbeitsplätzen, also im Sinne einer Beschäftigungsgarantie und - anders
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, § 147, Rn. 13 ff.; H.-J. Papier. Art. 12- Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, DVBI. 1984, S. 801 ff. (S. 801 f. ).; ftlr die neuen Bundesländer R. Scholz, Arbeitsverfassung, Grundgesetzreform und Landesverfassungsrecht, RdA 1993, S. 249 ff. (S. 254 ff. ). 272 Art. 23 Nr. 1 AEMR; Art. 6 Abs. I IPwirtR; Art. I Ziff. 1 der Europäischen Sozialcharta; der Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 28. 9. 2000 enthält hingegen kein "Recht auf Arbeit" mehr.
273 Zum internationalen Rechtsvergleich zum "Recht auf Arbeit" P. Häberle, Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit, AöR 109 (1984), S. 630 ff. (S. 637 f., 641 ff.); bis auf Deutschland und Österreich kennt jede mitgliedstaatliche Verfassung in der EU ein "Recht auf Arbeit". 274 Vgl. allgemein zum Thema "Recht auf Arbeit" P. Häberle, Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit, AöR 109 (1984), S. 630 ff.; v. a. ders., Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 ff., dort auch die weiteren Hinweise aufS. 349, Fn. 31; ders., Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. (S. 85 f., 101 f.); H. P. Schneider,H. Lecheler, sowie die nachfolgende Aussprache auf der Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung 1984 , Art. 12 GG - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, VVDStRL 43 (1985), S. 1 ff. (S. 30 ff.); S. 48 ff. (S. 70), S. 76 ff.; K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 775 ff.) mit sehr weitgehenden Folgerungen; ders. , Eigentümer globaler Unternehmen, in: B. N. Kumar/M. Osterloh/G. Schreyögg (Hrsg.): Unternehmensethik und die Transformation des Wettbewerbs, FS ftlr H. Steinmann zum 65. Geburtstag, 1999, S. 409 ff. (S. 412 f.); demn. ders., Recht auf Arbeit - Pflicht zur Arbeit, in: GS J. G. Helm, 2000; H.-J Papier, Art. 12- Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, DVBI. 1984, S. 801 ff. (S. 810); R. Breuer, Freiheit des Berufs, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 147, Rn. 7, 10, 13 ff., 73 ff.; M. Kittner, Art. 20 Abs. 1-3 Absch. IV, in: Alternativkommentar, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1989, Rn. 66; R. Scholz, Art. 12, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 44 ff.; ders., Arbeitsverfassung, Grundgesetzreform und Landesverfassungsrecht, RdA 1993, S. 249 ff.; J Pietzcker, Artikel 12 Grundgesetz Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, NVwZ 1984, S. 550 ff. (S. 556); M. Nebendahl, Grundrecht auf Arbeit im marktwirtschaftliehen System, ZRP 1991, S. 257 ff.; dazu auch die Beratungen der deutschen Staatsrechtslehrervereinigung im Jahr 1999 zum Thema "Arbeitsmarkt und staatliche Lenkung", VVDStRL 59 (1999), 1. Beratungsgegenstand.
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
111
als oben im weiten Verständnis thematisiert - "nur" bezogen auf abhängige Arbeit von Arbeitnehmern. b) "Recht auf Arbeit" i. e. S. aus Art. 12 Abs. 1 GG? Die sich auch unter Berücksichtigung der "Erwerbs-/ErworbenenSichtweise" des Bundesverfassungsgerichts275 anbietende Begründung eines Rechts auf Arbeit mit Art. 12 Abs. 1 GG stößt weitgehend auf Ablehnung, jedenfalls ft1r ein Recht auf Arbeit in Form eines subjektiv-öffentlichen oder "staatsgerichteten" Rechts 276 • Gegen eine solche Herleitung wird zum einen der offensichtliche Inhalt des Grundrechts herangezogen, der sich doch auf die Berufsfreiheit, also das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Arbeitsstätte frei zu wählen, sowie die Berufsausübungsfreiheit im Rahmen des Gesetzesvorbehalts beschränkt. 277 Darin liege die Freiheit der Arbeit, auch ein Recht zur Arbeit278, nicht aber ein Recht auf Arbeit. 279 Zum anderen erfolgt berechtigterweise regelmäßig der Hinweis darauf, daß ein subjektiv-öffentliches Recht, also das individuell gegenüber dem Staat einklagbare Recht auf einen Arbeitsplatz, vom Staat gar nicht geleistet werden kann, da dieser nicht selbst über die Arbeitsplätze verfUgt und auch nicht über
275 BVerfGE 30, 292 (334 f.): "Art. 14 Abs. 1 GG schützt das Erworbene, das Ergebnis der Betätigung, Art. 12 Abs. 1 GG den Erwerb, die Betätigung selbst"; so auch BVerfGE 84, 133, (157); 88, 366 (377). 276 H-P. Schneider, H Lecheler, Art. 12 GG- Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, VVDStRL 43 (1985), S. I ff. (S. 31 f. ); S. 48 ff (S. 70); K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 778 f.); H.-J. Papier, Art. 12- Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, DVBI. 1984, S. 801 ff. (S. 810 f.); R. Breuer, Freiheit des Berufs, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 147, Rn. 6 f., 10, 22, 73 f.; R. Scholz, Art. 12, in: Maun:zJDürig, GG, Rn. 44 f.; J. Pietzcker, Artikel 12 Grundgesetz- Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, NVwZ 1984, S. 550 ff. (S. 556). 277 Vgl. so K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 778 f.). 278 Das wohl R. Scholz, Art. 12, in: Maun:zJDürig, GG, Rn. 44, meint, spricht er zu Beginn seiner ablehnenden Ausfilhrung zum Recht auf Arbeit davon, daß es ein solches doch gäbe, nämlich "insoweit, wie es zu den elementaren Voraussetzungen eines jeden menschenwürdigen Daseins ... gehört, sich nach freier Willensentscheidung zwecks Sicherung der eigenen materiellen Lebensexistenz beruflich zu betätigen." 279 So auch BVerfGE 30, 292 (334 f); 54, 30 I (313 ); 59, 302 (315), wonach Art. 12 Abs. I GG im Bereich der individuellen Leistung und Existenzerhaltung das Grundrecht auf freie Entfaltung konkretisiert.
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
sie entscheiden kann. 280 Arbeitsplätze liegen gemäß dem wirtschaftsverfassungsrechtlichen Rahmen und der beschränkten Aufgabenzuweisung an die Staatsorgane nur so begrenzt wie notwendig beim Staae8 ' und weit überwiegend bei privaten Unternehmen. Allenfalls wäre deshalb ein Recht auf Arbeit als objektiv-rechtliche Staatszielbestimmung oder Staatsaufgabe282 vorstellbar, deren Erfilllung und Verfolgung aber vom einzelnen keinesfalls einklagbar sei. Zudem wird die Ableitung einer solchen Staatszielbestimmung aus Art. 12 Abs. 1 GG letztlich zumeist verneint oder jedenfalls nicht weiter thematisiert, da bereits das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 109 Abs. 2 GG ein entsprechendes Ziel vorgäben. 283 c) "Recht auf Arbeit" i. e. S. aus Art. 14 Abs. 1 GG? Daneben wird teilweise ein Recht auf Arbeit auch aus dem Recht auf Eigentum des Art. 14 Abs. 1 GG abgeleitet. 284 Häberle vertritt eine Sichtweise, die "Freiheit, Eigentum und Arbeit als ,Grundnorm und Aufgabe', als immer neu
280 Vor allem Scholz stellt diesen Aspekt wiederholt in den Vordergrund; Art. 12, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 44 f. 281 Vgl. zum allg. Subsidiaritätsprinzip R. Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, Der Staat 2 (1963), S. 399 ff.; J. lsensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968; Th. Würtenberger. Das Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsprinzip, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 4 (1993), S. 621 ff.; P. Häberle. Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 169 ff.; Th. Oppermann, Subsidiarität als Bestandteil des Grundgesetzes, JuS 1996, S. 569 ff.; H. H. Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR, Bd. I, 1987, § 28, Rn. 51 ff. 282 Zu den begrifflichen Unklarheiten bei der Einordnung von objektiv-rechtlichen Sätzen vgl. oben 3. Teil, I. Kap., 111., 1., b). 283 So etwa (filr viele andere) H.-P. Schneider, Art. 12 GG- Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, VVDStRL 43 (1985), S. I ff. (S. 31 f.).; R. Breuer. Freiheit des Berufs, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 147, Rn. 73, sieht vorsichtig noch, daß hohe Arbeitslosigkeit zur Einschränkung der freien Wahl des Arbeitsplatzes führe, weswegen eine "Schutz- und Leistungspflicht des Staates" denkbar sei, ftir die dann aber doch auch das Sozialstaatsprinzip und Art. 109 Abs. 2 GG i.V.m. § I StWG ohnehin Grundlage sei; zuletzt auch J. Wie land, Arbeitsmarkt und staatliche Lenkung, VVDStRL 59 ( 1999), S. 13 ff. (S. 30 ff.). 284 Das BVerfG hält dies allerdings im Urteil zur sog. "Warteschleifenregelung" entsprechend seiner "Erwerbs-/Erworbenen-Sichtweise" (vgl. oben Fn. 275) filr ausdrücklich nicht zulässig, BVerfGE 84, 133 (157).
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
113
zu aktualisierender Basiskonsens" aufs engste miteinander verknüpft. 285 Eigentum werde vor allem durch die individuelle Arbeitsleistung begründet. Arbeit sei "das soziale Äquivalent des Eigentums"286 und die "Arbeitskraft ... heute das Eigentum des Bürgers"287. "Soziale Freiheit" sei überdies "im Regelfall nicht eine Funktion des Eigentums, sondern der Arbeit."288 Das "Verfassungsrecht der Arbeit" bestünde weniger punktuell, etwa in einem spezifischen Grundrecht, sondern vielmehr in einer Gesamtschau einer Vielzahl verfassungsrechtlicher Normen, die das Thema "Arbeit" berUhren. 289 In Anlehnung an diese Betrachtungen Häher/es entwickelt Schachtschneider ein Recht auf Arbeit, eingebettet in seine dogmatischen AustUbrungen zur Eigentumslehre.290 Er differenziert auf der Basis seiner republikanischen Freiheitslehre das personale "Eigene" des Menschen - das "sind seine Möglichkeiten zu leben und zu handeln" 291 -, vom "Eigentum", zu dem das "Eigene" durch die von der Selbständigkeit beanspruchte gesetzliche Regelung generiere.292 Folglich gehörten gesetzliche Regelung erfahrende Arbeitsverhältnisse zum Eigentum: " ... ; denn sie gehören zu den Möglichkeiten ..., zu leben und zu handeln. Die Arbeitsverhältnisse sind vielfältig gesetzlich geschützt, individuell-arbeitsrechtlich, insbesondere durch das Kündigungsschutzrecht, kollektiv-arbeitsrechtlich, insbesondere durch das Betriebsverfassungsrecht, das Tarifrecht und auch das Mitbestimmungs-
285 P. Häherle, Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 ff. (S. 354 f., Zitat S. 354). 286 P. Häberle. Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 ff. (S. 355); vgl. so auch ders., Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. (S. 85 f., 101 f.). 287 P. Häherle, Grundrechte 1m Leistungsstaat, VVDStRL 30 ( 1972), S. 43 ff. (S. 101, Hervorh.i.Orig.) 288 P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 ( 1972), S. 43 ff. (S. 101). 289 V gl. P. Häberle, Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 ff. (S. 349, 350 ff.); auch ders., Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit, AöR 109 (1984), S. 630 ff. (S. 653 ff. ). 290 Dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff.; genauso demn. ders.. Recht auf Arbeit- Pflicht zur Arbeit, in: GS J. G. Helm, ManuskriptS. 13 ff. 291 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 744 ). 292 V gl. K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 753).
8 Hänsch
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
recht. ... Dieser gesetzliche Schutz macht das Eigene des Arbeitsverhältnisses zu Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. I GG, ... Der Arbeitsplatz ist Eigentum; denn er schafft dem Arbeitnehmer wesentliche rechtlich geschützte vermögenswerte Möglichkeiten des Lebens und Handelns. Das Arbeitsverhältnis ist in der Arbeitnehmergesellschaft das, was die Scholle in der Agrargesellschaft war. Darum wird das Arbeitsverhältnis in der ihrem Begriff nach sozialen Republik geschützt, und darum fördert der Staat Arbeit fiir alle, die arbeitsfähig sind. Er ist als Sozialstaat zu einer Vollbeschäftigungspolitik verpflichtet. Darum gibt es ein Recht auf Arbeit, das auch mit dem Menschenrecht auf Eigentum begründet werden kann."293
Jedoch sieht auch Schachtschneider mangels der Möglichkeiten des Staats kein Recht auf Arbeit im Sinne eines subjektiv-öffentlichrechtlichen Anspruchs des Einzelnen auf einen, geschweige denn einen konkreten Arbeitsplatz. Er betont - im Ergebnis wie die herrschende Meinung zur Ableitung des Rechts auf Arbeit aus Art. 12 Abs. 1 GG - die Pflicht des Sozialstaats zu einer Politik der Vollbeschäftigung - was auch immer das letztlich sein mag. Im Unterschied allerdings hält er diese staatliche Pflicht doch fiir ein vom Bürger einklagbares Recht aus Art. 14 Abs. I GG: "Dieses Recht läßt sich nur durch eine Politik der Vollbeschäftigung erfiillen, weil das Recht auf Arbeit gegen den Staat, nicht gegen bestimmte Unternehmer bestehen kann, der Staat aber nicht über die erforderlichen Arbeitsplätze verfUgt. Nur schließt diese Lage nicht das Recht auf Arbeit aus, welches vielmehr jedem Arbeitslosen das Recht gibt, eine Politik der Vollbeschäftigung einzuklagen. Beschäftigungpolitik ist nicht nicht nur durch das Sozialprinzip einschließlich dem Prinzip des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. I 09 Abs. 2 GG) gebotene Aufgabe des Staates, sondern, gestützt auf Art. 14 Abs. I GG, Bürgerrecht." - Kar! Albrecht Schachtschneider 294
d) Das Problem der marktbestimmten Arbeitsmöglichkeiten Die herrschende Meinung verneint aber ein subjektives "Recht auf Arbeit" gleich welcher Herleitung vor allem mit dem wesentlichen, schon genannten Argument, daß der Staat auch der Schaffung der notwendigen Arbeitsplätze filr marktüberschüssige Arbeitskräfte aus eigenen Ressourcen nicht fähig ist und 293 K. A. Schachtschneider.. Eigentümer globaler Unternehmen, in: FS H. Steinmann, 1999, S. 409 ff. (S. 412 f.). 294 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 778 f.), mit in der Folge allerdings sehr weitreichend erscheinenden Konsequenzen.
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
115
das Problem "Recht auf Arbeit" seitens des Staates letztlich nur über zentralverwaltete Wirtschafts- und Arbeitsplanung einer - allerdings nur scheinbaren295 - Lösung zugefilhrt werden könnte, die das Grundgesetz jedoch nicht zuläßt. 296 Arbeitsplätze lassen sich eben nur schaffen, wenn sie einerseits Reaktion auf entsprechende Nachfrage und deshalb andererseits bezahlbar sind. In diesem Grundgedanken der verfassungsgeforderten Marktlichkeit297 und damit aber auch Marktabhängigkeit liegt, wie weiter oben schon dargelegt, auch der wichtigste Gedanke gegen viele "soziale Grundrechte" überhaupt - so etwa das "Recht auf Wohnung"-, auf die der Parlamentarische Rat bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes mit gutem Grund verzichtet hat. Schachtschneider erkennt, wie erläutert, ebenfalls diesen Punkt und zieht sich deshalb zurück auf ein einklagbares Recht eines jeden Einzelnen auf Vollbeschäftigungspolitik. Diesem Standpunkt könnte schon entgegengehalten werden, daß der Inhalt einer Vollbeschäftigungspolitik mehr als streitig ist und aus Gründen der Bestimmtheit dann sogar ein subjektiv konkreteres Recht auf einen, möglicherweise bestimmten, Arbeitsplatz vorzuziehen wäre. Insbesondere Scholz sieht jedoch - anfang der 1990er Jahre Überlegungen zur Einfilhrung sozialer Grundrechte oder spezifischerer sozialer Staatszielbestimmungen sehr aggressiv zurückweisend, die "filr das Grundgeftlge der grundgesetzliehen Wirtschafts- und Arbeitsverfassung" "Sprengsatzqualität" innegehabt hätten im Ergebnis das Argument unterschiedslos wirksam gegen jede Form einer (neuen) Verankerung oder Interpretation eines Rechts auf Arbeit: "Wer filr ein Recht auf Arbeit plädiert, der sieht sich letztendlich sozialistischen und nicht sozial-marktwirtschaftliehen Ordnungskategorien verpflichtet. Denn ein soziales Grundrecht auf Arbeit läßt sich in der Konsequenz nur in einem (sozialistischen) System verwirklichen, in der der Staat auch über die Arbeitsplätze und damit - notwendig - auch über die Produktionsmittel verfiigen kann .... Hieran würde auch eine Staatszielbestimmung ,Recht auf Arbeit' nichts ändern; ... An alledem ändert schließ-
295 Man siehe den Erfolg der Zentralverwaltungswirtschaften in (ehemals) sozialistischen Ländern. 296 So vor allem R. Scholz, Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes, ZfA 1991, S. 683 ff. (S. 690 ff.); ders., Arbeitsverfassung, Grundgesetzreform und Landesverfassungsrecht, RdA 1993, S. 249 ff. (S. 250 ff.), dort von "Utopien" sprechend; ders. , Art. 12, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 45; W. Gr. v. Vitzthum, Staatszielbestimmungen und Grundgesetzreform, in: GS E. Grabitz, 1995, S. 819 ff. (S. 833) ("reale Leistungsflihigkeit des Pflichtensubjekts Staat ... begrenzt" ); R. Breuer, Freiheit des Berufs, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 147, Rn. 10 ("illusionäre Proklamation"). 297
s•
Dazu M. Kläver, Die Verfassung des Marktes, 2000, passim.
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
lieh auchjene Variante nichts, die das ,Recht auf Arbeit' über eine ,Politik der Vollbeschäftigung' zu gewährleisten sucht."- Rupert Scho/? 98
Bei aller fiir Verfassungsfragen angebrachten Rationalität dieser Argumentation bleibt allerdings ein bislang nicht hinweggewischter "fader Beigeschmack". Ohne Zweifel entspricht es dem Sozialprinzip und dient es gerade seiner Verwirklichung, daß das Soziale in seiner konkreten Ausgestaltung keiner verfassungsrechtlichen Manifestierung zu entnehmen, sondern lagegemäß vom Gesetzgeber zu formen ist. Ebenso ist in bezug auf die soziale Frage der Arbeit dem beizupflichten, daß es im Rahmen des Grundgesetzes weder die filr eine Beschäftigungsgarantie notwendige Staatsplanwirtschaft geben darf, noch eine Fixierung einer wie auch immer bestimmten Vollbeschäftigungspolitik. Dennoch besteht der beunruhigende Eindruck, das diese jedwedes subjektive Recht abschmetternde Sichtweise am Ende wohl auch eine der Nichtberücksichtigung nahekommende Vernachlässigung der sozialen Komponente, hier der Arbeit, zulassen muß.
e) Arbeit und Beschäftigung als Staatsziel Ein Staatsziel der Arbeit als (lediglich) objektivrechtliche Norm dagegen findet vermutlich nicht zuletzt wegen dieses Eindrucks, sozusagen als "psychologisches Sprungtuch" zur Beruhigung des Gewissens, allgemeine Anerkennung. Die rechtliche Basis dafilr liefere nicht - wie oben schon zur Ableitung aus Art. 12 Abs. I GG dargelegt- das Freiheitsrecht des Berufs, sondern vielmehr das allgemeine Sozial- bzw. Sozialstaatsprinzip. Dieses beinhalte jedoch nur "eine objektiv-rechtliche Garantie, den objektiv-rechtlichen Schutz und den objektiv-rechtlichen Auftrag zu sozialer Sicherheit, gerechter Sozialordnung und sozialer Gerechtigkeit", könnte aber eben nicht Grundlage filr ein subjektiv einklagbares Recht sein. 299 Das gelte in gleicher Weise auch filr den Beschäftigungsaspekt aus dem Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht, das zu verfolgen Art. 109 Abs. 2 GG anordnet. 300 So gehöre "das Ziel der Vollbeschäftigung zu den essentiellen Ordnungsanliegen der Sozialstaatlichkeit", das "eine aktive staatliche Vol/beschäftigungspo/itilt' gebiete und deshalb ein "Höchstmaß an 298 R. Scholz, Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes, ZfA 1991, S. 683 ff. (S. 691 ). 299
R. Scholz, Art. 12, in: Maun:z/Dürig, GG, Rn. 45.
Zu beachten ist dabei, daß im Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht nach allg. Auffassung (vgl. dazu 4. Teil, 2. Kap., 111.) der Aspekt der Beschäftigung enthalten ist, nicht nur der der Arbeit i.e.S., um die es in der Diskussion um das "Recht auf Arbeit" zentral geht. 300
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
117
staatlicher Förderungs-, UnterstützW1gs- und Ausgleichspflicht" aufgebe. 301 Nur in einem solchen objektiv-rechtlichen Sinne seien der herrschenden Meinung nach auch die internationalen Texte und die Formulierungen der Länderverfassungen zu verstehen, was sich dort ja schon teilweise aus den Wortlauten ergebe. 302 Den trotz allen objektiven Charakters allerdings überaus hohen Rang dieses Beschäftigungsziels bestätigte das BundesverfassW1gsgericht in seiner EntscheidW1g zum Vermittlungsmonopol der BW1desanstalt ftlr Arbeit, in dem es im Interesse der sozialen Gerechtigkeit staatliche Aktivitäten im Falle umfangreicher und langandauernder Arbeitslosigkeit als zur Minderung und Behebung von Arbeitslosigkeit geboten betrachtet.303 In einer seiner jüngsten EntscheidW1gen zur Lohnabstandsklausel filr den sogenannten "zweiten Arbeitsmarkt" hob das Gericht den BeschäftigW1gsaspekt zudem erneut in höchsten Verfassungsrang, der auch Beschränkungen wichtigster wirtschaftlicher Grundrechte zuließe. 304 Bemühungen wie der gesetzlichen Lohnabstandsklausel mit dem Ziel, die schlechte Beschäftigungsablage zu verbessern, "verleiht das Soziaistaatsprinzip legitimierendes Gewicht, das auch einschränkende Auswirkungen auf die Tarifautonomie zu rechtfertigen vermag." 305 Außerdem greift das Bundesverfassungsgericht kurz später und in direkter VerbindW1g nach längerer
301
R. Scholz, Art. 12, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 45 f. (Hervorh.i.Orig.).
So R Breuer, Freiheit des Berufs, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 147, Rn. 13; H.-P. Schneider, Art. 12 GG - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, VVDStRL 43 (1985), S. I ff. (S. 31 f.); R. Scholz, Art. 12, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 45; P. Badura, Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 195; a.A. hierzu bei K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 778), der seine These des einklagbaren Rechts auf Vollbeschäftigungspolitik vornehmlich auch auf Art. 6 Abs. 2 IPwirtR stützt, der schließlich genau in diesem Sinne formuliert ist; an dieser Stelle sei noch ein weiteres Mal auf das "Recht auf Arbeit" in Art. 23 AEMR hingewiesen; die schwierige Frage der Verbindlichkeit und unmittelbaren Anwendbarkeit solcher völkerrechtlichen Texte samt der daftir grundlegenden völkerrechtlichen Grundauffassungen des Dualismus, Monismus und des republikanisch geprägten umgekehrten Monismus - letzterer kann die Verbindlichkeit nicht von der unmittelbaren Anwendbarkeit und damit von der individuellen Einklagbarkeil trennen - müssen hier außen vorgelassen werden; vg!. dazu aber A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 53 ff., 538 ff, 822 f.; 0. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 5. Aufl. 1993, S. 260 ff., 353 ff. 302
303
Vg!. BVerfGE 21 , 245 (251 ).
304
Vg!. BVerfGE 100,271 (282 ff.).
305
BVerfGE 100, 271 (284).
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
Abstinenz dieser Vorschrift in seiner Rechtsprechung erstmals wieder Art. I 09 Abs. 2 GG auf, dem die fragliche Regelung ebenfalls diene. 306 3. Eigentum als rechtliche Basis eigens begründeter Selbständigkeit
"Eigentum und Freiheit" war seit jeher das große Thema der Staats- und Rechtsphilosophie. Der Trias Häberles folgend bildet das Eigentum307 das dritte Element neben der Arbeit und der bzw. fiir die der Selbständigkeit bedUrftigen Freiheit. 308 "Eigenes und Eigentum machen die Selbständigkeit des Menschen aus, welche Forderung und Voraussetzung seiner Freiheit ist."- Kar! Albrecht Schachtschneider309
Eigentum trägt die Selbständigkeit; es ist in gewisser Weise das reale Pendant zur Freiheit, in dem sich die Selbständigkeit verwirklicht. Art. 14 Abs. 1 GG beinhaltet zunächst seine Gewährleistung, d.h. ein Grundrecht auf eine gesetzliche Eigentumsordnung im Sinne der Schmitt'schen Institutsgarantie310, aber auch seinen Schutz, der das Recht an seinem Bestand, aber auch an
306
Vgl. BVerfDE 100, 271 (285).
Umfassend zum Eigentum als Grundrecht etwa 0. Kimminich, Art. 14, in: BK, GG, Rn. I ff.; H.-J. Papier, Art. 14, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. I ff.; ders., Eigentumsgarantie des Grundgesetzes im Wandel, 1984; grundlegend v.a. W. Leisner, Eigentum, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 149, sowie sämtlich seiner anderen Schriften zum Eigentum, tw. gesammelt in W. Leisner, Eigentum: Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970-1996, hrsg. von J. Isensee, 1996; zum Eigentum aus republikanischer Sicht K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 374 ff., 387 ff., insb. 1023 ff.; ders., Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff.; auch ders., Eigentümer globaler Unternehmen, in: FS H. Steinmann, 1999, S. 409 ff.; daneben auch P. Badura, Eigentum, in: E. Benda/W. Maihofer/ H.-J. Vogel (Hrsg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § I 0. 307
308
Vgl. dazu gerade oben 3. Teil, 2. Kap., II., 2., c).
309
K. A. Schachtschneider, Eigentümer globaler Unternehmen, in: FS H. Steinmann,
1999, S. 409 ff. (S. 411 ).
310 C. Schmitt, Freiheitsrecht und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 140 ff. (S. 160 ff.); H.-J. Papier, Art. 14, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 11 ff.; 0. Kimminich, Art. 14, in: BK, GG, Rn. 119; D. Ehlers, Eigentumschutz, Sozialbindung und Enteignung bei der Nutzung von Boden und Umwelt, VVDStRL 51 (1992), S. 211 ff. (S. 216); W. Leisner, Eigentum, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 149, Rn. 12 f.; BVerfDE 20, 352 (355); 24, 367 (389) und st. Rspr.; BVerfDE 26, 215 (222): "Diese Garantie sichert einen Grundbestand von Normen, die das Eigentum im Sinne dieser Grundrechtsbestimmung umschreiben."
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
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seinem freiheitlichen Gebrauch 311 sowie bedingt an seinem (Tausch-)Wert312 insgesamt das "Recht am Eigentum" - einschließt. Es bildet keinen subjektivöffentlichrechtlichen Anspruch auf Zuteilung von Eigentum, kein "Recht auf Eigentum" in diesem allgemein vorzufindenden Verständnis, 313 allerdings weist die Eigentumsordnung, deren nähere Ausgestaltung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 - "Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt." - dem Gesetzgeber obliegt, jedoch (um-)verteilende Wirkung auf. 314 Die Eigentumsordnung hat dabei sicherzustellen, daß jeder Eigentum und damit Selbständigkeit grundsätzlich erlangen kann. Auch das Bundesverfassungsgericht erkennt und anerkennt in ständiger Rechtsprechung einen Zusammenhang von Freiheit und Eigentum: "Das Eigentum ist ein elementares Grundrecht, das in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit steht.'" 315
Der Eigentumsgarantie "kommt im Gesamtgefilge der Grundrechte die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern und ihm dadurch eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens zu ermöglichen." 316
311
Inkl. des das Eigentum auch gegenständlich mindernden Verbrauchs.
312
Dazu gleich unten 3. Teil, 2. Kap., II., 4., b).
So etwa - filr die meisten anderen - W Leisner, Eigentum, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 149, Rn. 6; über einen komplizierten Weg leitet dagegen Schachtschneider neuerdings ein "Recht auf Eigentum" wie auch andere subjektive Rechte, vor allem wie oben erwähnt das "Recht auf Arbeit'", aus der der Freiheit notwendig folgenden Gewährleistung einer weit verstandenen Eigentumsordnung aus Art. 14 Abs. I GG ab (Freiheit bedürfte des gesetzlichen Schutzes des Eigenen); K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 755 ff.). 313
314 "Eine solche Ordnung ist ohne interessenausgleichende Verteilung nicht denkbar; denn auch die gesetzliche Sicherung des jeweiligen Besitzstandes wirkt verteilend, ja zuteilend.", K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 765). 315 BVerfGE 24, 367 (389), wenngleich Freiheit mit dem Menschen geboren ist und es deshalb keine Garantie darauf geben muß und gibt. 316 Zuletzt BVerfGE 97, 350, 371; vorher- lange Zeit "Freiheitsraum"- 24, 367 (389); 30, 292 (334); 31, 229 (239); 40, 263 (293); 50, 290 (339); 53, 257 (290); 68, 193 (222); 69, 272 (300); 78, 58 (73); 79, 292 (303); 83, 201 (208 f.).
120
3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
"Der Schutz des Eigentums muß sich in einem sozialen Rechtsstaat auch und gerade fiir den sozial Schwachen durchsetzen. Denn dieser Bürger ist es, der dieses Schutzes um seiner Freiheitwillen in erster Linie bedarf." 317
Und vor kurzem im Euro-Beschluß: "In der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. I Satz I GG gewährleistet das Grundgesetz die privat verfiigbare ökonomische Grundlage individueller Freiheit."318
Dieser material charakterisierte Zusammenhang findet allgemeine Zustimmung, wenngleich die weitreichendere Bedeutung der Eigentumsgewährleistung durchaus betont wird319• Die Erkenntnis dieser jedenfalls funktionalen Verbindung gipfelt in der Aussage Leisners: "Eigentum ist Freiheit."320 Auch wenn Freiheit nur formal sein kann, mit dem Menschen geboren und deshalb keiner materialen Konditionierung durch die Identifikation mit dem Eigentum zugänglich ist, bleibt das "Eigentum ... doch materielle Voraussetzung des Handeins in der Freiheit". 321 Neben dieser generellen Notwendigkeit des Eigentums für Selbständigkeit überhaupt bedarf aber vor allem der Vorrang der eigens begründeten Selbständigkeit und die primäre Verpflichtung des Staates, diese zu fördern, einer adäquaten Eigentumsordnung. Niemand bemühte sich um Selbständigkeit aus eigener Kraft, niemand würde hierfür arbeiten, würde die Eigentumsordnung das Ergebnis dieser Arbeitsleistung nicht ausreichend schützen und das Grund317
BVerfGE 42, 64 (77).
318
BVerfGE 97, 350 (370).
319 H.-J. Papier, Art. 14, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. I f.; ders., Eigentumsgarantie des Grundgesetzes im Wandel, 1984, S. 10: "Die im Grundsatz richtig gesehene Komplementarität von Freiheit und Eigentum darf nicht als schlichte Garantie der materiellökonomischen Basis der Freiheitsentfaltung mißverstanden werden. Die Interdependenzen zwischen Freiheit und Eigentum sind nicht vorrangig unter jenem materiellen Sicherheitsaspekt zu sehen."; K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 753 f., 749), der zunächst eben die Gewährleistung einer Eigentumsordnung in den Vordergrund stellt und einen weiten Eigentumsbegriff begründet, der auffällig über"vermögenswerte Rechte" hinausreicht. 320
W Leisner, Eigentum, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 149, Rn. 21.
K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 769); M. Kriele. Einfuhrung in die Staatslehre, 321
5., überarb. Aufl., 1994, S. 279 ("allgemeine Sicherung der Realbedingungen der Freiheit"); Th. Maunz!R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl., 1998, S. 20 I ("reale Bedingungen der Freiheitsentfaltung" ); vgl. dazu auch 0. Kimminich, Art. 14, in: BK, GG, Rn. 18 ff. ; H.-J. Papier, Art. 14, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. I ff.
2. Kap. : Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
121
recht auf Eigentum dies nicht gewährleisten. Eigentum als Verwirklichung der Selbständigkeit bedarf wie gezeigt der weit verstandenen Arbeitsleistung, die es begründet; Arbeit bedarf wiederum des Eigentums, das sie nicht hinflillig erscheinen läßt. Darum ist der Eigentumsbegriff personal-leistungsbezogen, wie ihn auch das Bundesverfassungsgericht vertritt. 322
4. Eigentum, Geld und Preisstabilität
a) Eigentum, Selbständigkeit und Geld Selbständigkeit macht heute wesentlich das Eigentum am Geld aus, das als "Geldeigentum" ausweislich des Bundesverfassungsgerichts vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. I GG erfaßt ist. 323 Papier etwa bekräftigt zutreffend die "Erkenntnis, daß unter den heutigen sozialen und ökonomischen Bedingungen nicht allein und nicht vorrangig den Sachwerten, sondern den Geldwerten existentielle Bedeutung filr die ökonomisch gesicherte Individualentfaltung zukommt. " 324 Die Bemühungen um eigens begründete Selbständigkeit tragen ihren Erfolg zumeist in der Fonn eines Zuwachses an Geld und/oder geldwerten Forderungen davon. 325 Das Bundesverfassungsgericht teilt in wiederholter Rechtsprechung die Sichtweise dieser Lage und ergänzt sie um den Aspekt des "Arbeitsertrags", der sich in Geld und der Begründung von geldwerten sozialversicherungsrechtlichen Positionen326 niederschlägt. Die Bildung von Sachka322 BVerfGE I, 264 (277 f.); 4, 219, 242 f.; II, 221 (226); 14, 288 (293 f.); 22, 241 (253); 31,229 (239); 50, 290 (340); 53,257 (291 f.); 58, 81 (I 12 f.); 69, 272 (301); 72, 175 (193); 97, 350 (371); vgl. auch P. Badura, Eigentum, in: JNerfR, 2. Aufl. 1994, § 10, Rn. 40 f.; H.-J. Papier, Art. 14, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 124; 0. Kimminich, Art. 14, in: BK, GG, Rn. 65 ff.; D. Ehlers, Eigentumschutz, Sozialbindung und Enteignung bei der Nutzung von Boden und Umwelt, VVDStRL 51 (1992), S. 211 ff. (S. 215 f.); W Leisner, Eigentum, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 149, Rn. 85 ff., wonach der Leistungsaspekt v. a. Abgrenzungskriterium zu rein staatlich gewährter Unterstützung sei. 323
BVerfGE 97, 350 (370).
324
H.-J. Papier, Art. 14, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 184.
325 Das betrifft so nicht nur die abhängigen Arbeitnehmer, sondern auch im Endeffekt Unternehmer. 326 Die grundsätzliche Frage, ob neben den subjektiv-privaten Rechten auch subjektiv-öffentliche Positionen, insb. die verschiedenen Sozialversicherungspositionen wie vor allem Rentenanwartschaften und -ansprüche, vom Schutzbereich des Art. 14 erfaßt werden, war lange Zeit streitig und ist nach wie vor im Umfang nicht abschließend geklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat nach langjähriger, zunächst ablehnender, sich dann zunehmend öffnender Rechtsprechungsentwicklung die Erstreckung des Schutzbe-
122
3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
pital ist vielen aufgrund zu geringer Einkommen nicht möglich. Mit Verweis auf Entscheidungen der Vergangenheit sprach das Gericht im Euro-Beschluß: "In der heutigen Gesellschaft sichert die große Mehrzahl der Staatsbürger die wirtschaftliche Grundlage ihrer Existenz und ihrer Freiheiten ,weniger durch privates Sachverrnögen als durch den Arbeitsertrag und die daran anknüpfende solidarisch getragene Daseinsvorsorge, die historisch von jeher eng mit dem Eigentumsgedanken verknüpft war'". 327
Schließlich kam das Gericht im Anschluß sogar zu der bemerkenswerten These: "Geld ist geprägte Freiheit; ..." 328
Wie weit reicht der Schutz des Geldeigentums? reichs auch auf subjektiv-öffentliche Positionen grundsätzlich bestätigt, sofern diese einen eigentümerpositionsähnlichen Charakter aufweisen; sie müssen der Privatnützigkeit und Existenzsicherung (als Kriterium der Eigentumsflihigkeit, nicht als qualitatives und quantitatives Abgrenzungskriterium zu anderen Eigentumsgegenständen; vgl. W Leisner, Eigentum, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 149, Rn. 92) des Einzelnen dienen und auf dessen persönlicher Leistung basieren; dazu 0.-B. Bryde, Art. 14, in: v. Münchl Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 25 f. ; B. Schmidt-Bieibtreu, Art. 14, in: Schmidt-Bieibtreu/Kiein, GG, neu bearb. und erw. 7. Aufl., 1990, S. 326, Rn. 4; 0. Kimminich, Art. 14, in: BK, GG, Rn. 65 ff. ; P. Badura, Eigentum, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 10, Rn. 40 f.; W Leisner, Eigentum, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 149, Rn. 119 ff.; H.-J. Papier, Art. 14, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 137, in Rn. 127 kritisch zu einer solchen Einbindung weger einer möglichen Degeneration des Eigentumsgrundrechtszum Teilhaberecht, dazu aA. W Leisner, Eigentum, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 149, Rn. 5; vgl. auch BVerfGE 4, 219 (240 f.); 11 , 221 (226); 40,65 (82 ff.); 48, 403 (412); 53, 257 (289 ff.); 69, 272 (299 ff.); 72, 175 (193 ff.); 74, 203 (213); 76, 220 (235). 327
BVerfGE 97, 350 (371) m.V.a. BVerfGE 40, 65 (84); 53, 257 (290).
BVerfGE 97,350 (371); P. Kirchhof, Das Geldeigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 635 ff. (S. 641, Fn. 36), verweist diesbezüglich aufdas Zitat Dostojewskis; darauf im Hinblick auf den republikanischen Freiheitsbegriff ausgesprochen kritisch K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 743 ff. (S. 788): "Wenn Geld Freiheit wäre, wäre die Freiheit höchst ungleich verteilt."; ders., Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, IHI-Schriften 9/ 1998, S. 19 ff. (S. 30): "Aber der Satz vom Geld als geprägte Freiheit muß zum rhetorischen Beiwerk des Beschlusses gerechnet werden; denn es dürfte sich weder eine Geldtheorie noch gar eine Freiheitslehre finden lassen, die diesen Satz stützt."; "weicher" das BVerfG im Maastricht-Urteil von 1993, wonach die Währungspolitik "mit dem Geldwert die individuelle Freiheit stützt", BVerfGE 89, 155 (207). Daneben sei noch bemerkt, daß Geld nicht nur, wie Schachtschneider feststellt, nicht mit Freiheit zu identifizieren ist, sondern daß Geld auch nicht alleinige Voraussetzung des Handeins in dieser Freiheit sein kann, wenn es gegen keine anderen Marktgüter eingetauscht werden kann. 328
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
123
b) Bestands-, Gebrauchs- sowie Tauschwertschutz durch Art. 14 Abs. 1 GG und Geldeigentum Der Eigentumsschutz fungiert zuerst als Bestandssicherung sowie - Freiheitlichkeit, also Gesetzmäßigkeit im Umgang mit dem Eigentum vorausgesetzt als Gebrauchssicherung des Eigentums oder, besser, der Gegenstände des Eigentums. Der (Tausch-)Wert eines Eigentumsgegenstandes, also sein am Markt erzielbarer Preis in Gütern oder Geld, ist im allgemeinen nicht geschützt, da seine funktionale Substanz im Regelfall in seinem Bestand und damit verbunden in seinem Gebrauch durch den Eigentümer liegt. In diesem Bestand und der Gebrauchsflihigkeit erstreckt sich wesentlich seine Privatnützigkeit für den Eigentümer. Nur subsidiär besteht auf solche Eigentumsgegenstände bezogen auch ein Tauschwertschutz, nämlich im Fall der Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG) oder der Sozialisierung (Art. 15 GG), wenn es um die Frage der Kompensation geht. 329 Eine solche sachenrechtlich geprägte Betrachtungsweise des grundrechtliehen Schutzes von Eigentumsgegenständen wird allerdings der Bedeutung und der Unterschiedlichkeit des Geldes zu anderen Gütern nicht gerecht. Denn die funktionale Substanz von Geld und geldwerten Forderungen liegt nicht in ihrem Bestand oder ihrem Gebrauch im gegenständlichen Sinne; beide verfUgen schlichtweg über keinen wesentlichen330 eigenständigen, marktunabhängigen Bestands- oder Gebrauchswert, der der Privatheit nutzen könnte. Die Funktion des Geldes, sein spezifischer Gebrauchswert, besteht eben vielmehr überwiegend und deshalb substanziell in seiner aktuellen Eintauschfiihigkeie31 gegen andere Güter mit einem eigenständigen Bestands- und Gebrauchswert - seiner Tauschfunktion, im übrigen auch im internationalen Kontakt-, d.h. in seiner 329 Vgl. dazu H-J Papier, Art. 14, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 8 f., auch 42, 162 f.; ders., Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1973), S. 528 ff. (533 ff.); 0.-B. Bryde, Art. 14, in: v. Münch/Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 24; P. Badura, Staatsrecht, 2. neub. Autl., 1996, S. 183 f. ; a.A. W Sammler, Eigentum und Währungsparität, 1975, S. 49 f. 33° Formen von Privatnützigkeit gegenständlichen Geldes wie etwa durch Sammlerturn sind hier freilich zu vernachlässigen. 33 1 Daneben ist zu bedenken, daß Geld eine Wertaufbewahrungsfunktion erfiillt, die zwar im Hinblick auf Tauschakte in der Zukunft nicht losgelöst von der Tauschfunktion insgesamt, aber losgelöst von der aktuellen Tauschfunktion zur Bedürfnisbefriedigung gesehen werden muß. Zwar ist die Wertaufbewahrungsfunktion letztlich auch wieder abhängig vom Tauschwert; Geld hat aber (isoliert) in dieser Funktion eben den Zweck eines Wertaufbewahrungsmittels und unterscheidet sich in dem Punkt von keinem "normalen" Eigentumsgegenstand, der diesem Zweck dient und dessen Tauschwert mittels der Substanzargumentation aber nicht in den Schutzbereich von Art. 14 flillt.
124
3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
allgemeinen Kaufkraft, eben in seinem Geldwert. 332 Die logische Konsequenz muß folglich die in den Eigentumsbestands- und -gebrauchsschutz am Geld jedenfalls im Grundsatz integrierte Geldwertgewährleistung sein. Ohne Berücksichtigung seines Werts würde die Gewährleistung des Eigentums am Geld, abgesehen von dem subjektiven Recht auf Aufrechterhaltung der staatlichen Institution Geld, ins Leere laufen. 333 "Im Falle bloßer Gebrauchswertgarantie durch Art. 14 GG ... "
könnte sie, wie Papier anmerkt, inbesondere " ... mangels eines eigenständigen, vom Tauschwert unabhängigen Nutzungswerts einen ,Freiheitsraum fiir eigenverantwortliche Betätigung' schwerlich garantieren." 334
Im gleichen Sinn auch die Kommentierung von Vogel/Waldhoff. "Der Geldwert genießt zumindest insoweit den Grundrechtsschutz des Art. 14, als andernfalls die freiheitlich[-e; Korr. d. Verf.] Funktion in der Verwendung des Geldes beeinträchtigt wäre." 335
Die Verbindung des Geldwerts wiederum zur Existenzfrage als Minimum an Selbständigkeit überhaupt ftlhrte den Bundesfinanzhof - aufgrund des Entscheidungskontextes nur auf den internen Geldwert bezogen - zur Erkenntnis, daß
332 Diese Sichtweise wurde - mangels begrifflicher Klärung des "Geldwerts" ohne explizite Berücksichtigung des Außenwertaspekts - hauptsächlich durch Papier geprägt; vgl. H.-J. Papier, Art. 14, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 183 ff.; ders., Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1973), S. 528 ff.; aber auch W. Leisner, Eigentum, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 149, Rn. 131, schreibt: "Das Wesen des Geldes liegt heute gerade darin, daß seine Substanz nurmehr in diesem Tauschwert besteht."; kritisch dazu Th. Weikart, Geldwert und Eigentumsgarantie, 1993, S. 224, in dessen Augen diese Ansicht übersehe, daß Eigentum inhaltlich vom Gesetzgeber bestimmt werde und kein Gesetz den Geldwert als Eigentum deklariere; dies trifft aber wohl fiir viele andere anerkannte Eigentumsgegenstände ebenfalls zu; vgl. auch P. Kirchhof, Das Geldeigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 635 ff. (S. 639 ff.), auf S. 645 allerdings eine Einbeziehung des Außenwerts ausschließend. 333 Vgl. so H.-J. Papier, Art. 14, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 183 ff.; K. Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: HStR, Bd. I, 1987, § 27, Rn. 6. 334 H.-J. Papier, Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1973), S. 528 ff. (S. 537 f.); analog ders. , Art. 14, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 184. 335
K. Vogeli Ch Waldhoff Vorbem. z. Art. 104a-115, in: BK, GG, Rn. 305.
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
125
"die Erhaltung einer wenigstens relativen Preisstabilität fiir einzelne Bevölkerungsgruppen eine Existenzfrage bilden kann."336
Häberle schließlich trägt deshalb die Einsicht bei: "Nur stabiles Geld ist ,soziales' Geld."337
c) Schutz gegen Inflation aus Art. 14 Abs. l GG und Geldwertschutz als Staatsziel? -Allgemeiner Meinungsstand Eine erste - sehr dezidiert ablehnende - Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zur Einbeziehung des Geldwertes in den Schutzbereich von Art. 14 Abs. l GG erfolgte 1969 im Rahmen einer Entscheidung zur Zinsbesteuerung. Nach der damaligen Meinung des Gerichts " ... beinhaltet die Eigentumsgarantie weder eine staatliche Wertgarantie des Geldes noch das währungs-und wirtschaftspolitische Leitbild, die Vorstellung eines stabilen Geldwerts zu verwirklichen."338
Dieser Ausspruch prägt bis heute noch Teile der Literaturmeinungen, die dem konsequent folgend, jedoch das starke Argument des Geldwertes als einzige oder zumindest klar vorrangige funktionale Substanz des Eigentumsgegenstandes Geld außer acht lassend, allein schon die Möglichkeit eines entsprechend gewährleisteten Geldwertschutzes verneinen. 339 Daneben sei darauf hingewiesen, daß das Verfassungsgericht bereits im Nominalwerturteil von 1978 ausdrücklich offen ließ, "ob in der inflationsbedingten Entwertung von Geldforderungen eine Verletzung des Art. 14 GG liegt ( ... ) und ob und inwieweit gegen die sowohl durch staatliche als auch gesellschaftliche Verhaltensweise und Maßnahmen bedingten Inflation mit verfassungsrechtlichen Mitteln vorge-
336 BFHE 89, 422 (442), wobei unklar bleibt, was unter "wenigstens relativer Preisstabilität" zu verstehen ist. 337
P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 ( 1972), S. 43 ff.
(S. 62). 338
BVerfG HFR 1969,347 vom 21. I. 1969.
Etwa nach P. Badura, Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 677, gehöre dieser Satz zu den "gefestigten Grundsätzen der Währungspolitik"; darüber hinaus aber stellt er fragwürdiger Weise zudem fest: "Eine objektivrechtliche Garantie [der Preisniveaustabilität; d. Verf.J kann jetzt Art. 88 Satz 2 GG entnommen werden."; zu letzterem kritisch vgl. unten 4. Teil, 2. Kap., V., 2., a), dd). 339
126
3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
gangen werden kann"340, womit es seinen früheren Standpunkt jedenfalls nicht bekräftigt hat. Aber auch denjenigen, die den Wert des Geldes wegen seiner substanziellen Funktion inhaltlich grundsätzlich dem Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG zuordnen und vereinzelt ein subjektives Verfassungsreche41 , mit der wohl herrschenden Meinung zumeist aber jedenfalls eine objektive Rechtspflicht zur Stabilitätspolitik342 vertreten, stellt sich die weitergehende Frage, inwieweit damit tatsächlich ein Schutz gegen Geldentwertung verbunden und wann das Eigentumsgrundrecht verletzt ist bzw. sein kann. Dabei wäre erstens zu Recht zu berücksichtigen, daß der Geldwert nicht ausschließlich auf staatliches Handeln zurückzufUhren ist, sondern auf eine Vielzahl nationaler wie internationaler wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vorgänge, die zugunsten der MarktIichkeit staatlicher Steuerung nicht unterliegen. Leisner unterstellt wie Papier343 deshalb zwar im Grundsatz den Geldwert dem Schutzbereich des Grundrechts, sieht eine Verletzung allerdings nur in einem unrealistischen Ausnahmefall: "Bewirkt daher der Staat eine über Sozialbindung hinausgehende, also "besonders schwere" Wertbeeinträchtigung des Geldes, so wird dadurch Art. 14 Abs. I GG verletzt.... doch im Falle der Geldentwertung müßte der Nachweis erbracht werden, daß und inwieweit diese auf staatliches Verhalten zurückfUhrt. In einer international verflochtenen Marktwirtschaft mit Tarifautonomie ist dies in aller Regel unmöglich, es
340
BVerfGE 50, 57 (107).
Vgl. insb. H.-J. Papier, Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1973), S. 528 ff. (S. 541 f.); ders., Art. 14, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 185; auch K. Vogel! M Wiebel, Vorbem. zu Art. 104a bis 115 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 4; jetzt zurückgezogen durch Neufassung K. VogeliCh Waldhojf. Vorbem. zu Art. 104a bis 115, Rn. 306. 341
342 Die Stellungnahmen hierzu sind nicht immer vollkommen klar, da eine objektive Rechtspflicht zur Geldwertstabilität aus Art. 14 Abs. I GG häufig mit der Staatszielargumentation Art. 109 Abs. 2 GG und/oder dem Sozialprinzip vermengt wird; zuletzt mit dem Ergebnis einer objektiv-rechtlichen Verpflichtung K. VogeliCh Waldhojf. Vorbem. zu Art. 104a bis 115, in: BK, GG, Rn. 297 ff., 308; klar gegen eine objektive Geldwertstabilitätspflicht jedenfalls Th Weikart, Geldwert und Eigentumsgarantie, 1993, S. 237 f.; P. Badura, Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 677. 343 Vgl. H.-J. Papier, Art. 14, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 185, der zwar ebenfalls die Nachweisbarkeil der Kausalität zwischen Geldentwertung und staatlichem Handeln filr "unleugbar schwierig", aber doch nicht "schlechthin ausgeschlossen" hält; a.A. Th Weikart, Geldwert und Eigentumsgarantie, 1993, S. 201 ff, der dies allenfalls bei Hyperinflation filr möglich hält; dazu auch M. Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977, S. 116 ff.
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
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sei denn, der Staat, insbesondere die Währungsgewalt, betriebe eine massive Inflationierungspolitik, deren Folgen im internationalen Vergleich eindeutig aus jedem Rahmen fielen. Solche Extremfälle liegen außerhalb gegenwärtiger Betrachtung. Inflation ist vor allem Markteffekt, nicht Folge von Staatseingriffen ... " 344
Ähnlich bestand nach Auffassung Ballerstedts der Eigentumsschutz sogar nur gegen "eine bewußt auf die Schädigung der deutschen Wirtschaft gerichtete Währungspolitik"345 • Benda vertrat Ende der 1960er Jahre dies bestätigend, aber dem Geldwertschutz doch eher entgegenkommend, den Standpunkt, daß "mindestens eine bewußte Inflationspolitik oder eine Wirtschafts- oder Sozialpolitik, welche eine fortgesetzte Kaufkraftentwertung zuläßt oder gar fördert, sowohl die Eigentumsgarantie als auch die sozialstaatliche Verpflichtung des Staates verletzt." 346
Zweitens erfolgt - bemerkenswerter Weise ähnlich wie im Kontext des "Rechts auf Arbeit'' - ein Hinweis auf die Verpflichtung des Staates zur Wahrung des Gesamtwirtschaftlichen Geichgewichts aus Art. 109 Abs. 2 GG. Dieses umfasse zwar einerseits auch das Ziel der Preisniveaustabilität, verleihe ihr jedoch vor den anderen drei in § 1 Satz 2 StWG genannten Gleichgewichtszielen - hoher Beschäftigungsstand, stetiges und angemessenes Wachstum und außenwirtschaftliches Gleichgewicht - keinen Vorrang. Vielmehr könnte das Ziel der Preisniveaustabilität möglicherweise auch zugunsten der Verfolgung anderer oder eines anderen Ziels zumindest zeitweilig zurückgedrängt und deshalb durch Inflation der Eigentumsschutz nicht verletzt werden. 347 Im übrigen verpflichte ja bereits das Sozialprinzip den Staat zum Geldwertschutz. 348
344 345
W. Leisner, Eigentum, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 149, Rn. 131. K. Ballerstedt, Wirtschaftsverfassung, in: K. A. Bettermann!H.-C. Nipperdey/
U. Scheuner (Hrsg.): Die Grundrechte, Bd. III/1. Halbb., 1958, S. I ff. (S. 37 f., Zitat s. 38). 346 E. Benda, Die aktuellen Ziele der Wirtschaftspolitik und die tragenden Grundsätze der Wirtschaftsverfassung, NJW 1967, S. 849 ff. (S. 852) (Hervorh.d.Verf.). 347 Vgl. H.-1. Papier, Art. 14, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 186; ders., Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1973 ), S. 528 ff. (S. 548 ff.) zur damaligen Diskussion der Gegenläufigkeit des Eigentumsgrundrechts und der Zielsetzung aus Art. 109 Abs. 2 GG; auch etwa 0.-B. Bryde, Art. 14, in: v. Münch/Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 24. 348 Vgl. P. Häber/e, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. (S. 62) ("Nur stabiles Geld ist soziales Geld."); M. Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977, S. 108 ff. (aufilhrliche Darlegung der Sozialstaatswidrigkeit schleichender Inflation), S. 127 f.: "Preisstabilität ist damit nicht nur eine Voraussetzung für die , Existenz einer redlichen Gesellschaft',
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3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
d) Schutz gegen Inflation aus Art. 14 Abs. I GG?Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts Naheliegenderweise wurde in der Euro-Klage als wesentlicher und ausführlich dargelegter Aspekt der Klagebegründung eine Verletzung des Art. 14 Abs. I GG vorgebracht. 349 "Inflationäre Entwicklungen höhlen das Eigentum aus und gefährden damit die wirtschaftliche Selbständigkeit der Menschen und mit dieser die Freiheit als Autonomie des Willens. " 350
Das Grundrecht schütze "zwar nicht allgemein den Wert der Vermögen, aber doch gegen eine staatliche Politik, welche die Inflation fördert." Daneben folge aus "Art. 14 Abs. I GG ... auch die Schutzpflicht des Staates zugunsten der Wertbeständigkeit des Vermögens"351 , jedenfalls habe der Staat daher "Maßnahmen gegen inflationäre Entwicklungen zu treffen, soweit er das vermag", was auch für "Einflüsse" gelte, "welche ihre wesentliche Ursache nicht im eigenen Staat haben, soweit der Staat darauf durch innenpolitische oder durch außenpolitische, etwa europa- oder weltpolitische, Maßnahmen einzuwirken vermag". 352 Dies sei Bestandteil des Wesensgehalts der Eigentumsgarantie, zu dessen Lasten Politik nicht gehen dürfe, wie es jedoch durch die Entscheidung
sie ist mittelfreistig eine geradezu entscheidende Voraussetzungfür den Fortbestand der verfassungsmäßigen Gesamtordnung." (Hervorh.i.Orig.), S. 114 ff. (noch zu Art. 14 und Geldwertschutz); Nipperdey, H. C., Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, 3., neubearb. Aufl., 1965, S. 61; R. Schmidt, Geld und Währung, in: HStR, Bd. III, 1988, § 82, Rn. 11; H. Bu/1, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 269 ( Sozialstaatswidrigkeit von Inflation v.a. in bezug auf Rentner und Sparer; grundsätzlich zustimmend, Geldwertstabilität aber (nur) neben anderen Zielen aus dem Sozialprinzip erkennend H. J. Hahn, Währungsrecht, 1990, S. 226 f.; a.A. K. Schmidt, Die Rechtspflicht des Staates zur Stabilitätspolitik und der privatrechtliche Nominalismus, in: Wilke, D. (Hrsg.): FS zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 665 ff. (S. 673 f.). 349 Vgl. Originalschrift der Euro-Klage ("Verfassungsbeschwerde und Antrag auf einstweilige Anordnungen") vom 12. I. 1998, 2 BvR 50/98, Verfahrensbevollmächtigter K. A. Schachtschneider, wie vorgelegt beim BVerfG, B II., S. 42 ff.; vgl. dazu auch K. A. Schachtschneider, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, !HfSchriften 9/1998, S. 19 ff. (S. 26 ff.); auch (am Rande) ders., Grundgesetzliche Rechtsprobleme der europäischen Währungsunion, DSWR 1997, S. 172 ff. (S. 173).
350
1998,
So W. Hanke/l W. Nölling!K. A. Schachtschneider!J. Starbatty, Die Euro-Klage, s. 205 f.
351
Originalschrift der Euro-Klage vom 12. I. 1998, S. 42.
352
Originalschrift der Euro-Klage vom 12. I. 1998, S. 43.
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
129
zur Teilnahme an der Europäischen Währungsunion der Fall wäre. 353 Außerdem stelle die staatliche Gewährleistungspflicht fUr Preisstabilität das notwendige Gegenstück zum Nominalprinzip dar. 354 Das Bundesverfassungsgericht betonte in seiner nur kurze Antworten gebenden Klageabweisung zwar - wie oben bereits erwähnt - zunächst den herausragenden Stellenwert des Geldes für das heutige Leben. 355 Es bestätigte letztlich erstmalig sogar indirekt eine objektive Schutzpflicht für das Geldeigentum aus Art. 14 Abs. I GG, indem es ausspricht, der Auftrag der Bundesorgane zur Mitgestaltung an der Währungsunion als "Stabilitätsgemeinschaft" trage "auch zur objektiv-rechtlichen Sicherung des Geldeigentums und insoweit zur Gewährleistung des Art. 14 Abs. I GG bei"- wenngleich wohlweislich ohne den Begriff des Geldwerts, der aber insgesamt Besprechungsgegenstand bildete, namentlich zu erwähnen. 356 Dennoch zieht sich das Gericht auf den ja im Grundsatz sachlich richtigen, aber auch von den Klägern im allgemeinen nicht bestrittenen, filr die Frage der Währungsunion aber ausreichende Perspektive vermissen lassenden Standpunkt zurück, daß sich der Geldwert als Ergebnis eines nicht steuerbaren Funktions- und Abhängigkeitsgeflechts erweist, er "in besonderer Weise gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsabhängig" sei: "In diesen Abhängigkeiten kann der Staat den Geldwert nicht grundrechtlich garantieren. Wie Art. 14 Abs. 1 GG beim Sacheigentum nur die Verfügungsfreiheit des anbietenden Eigentümers, nicht aber die Bereitschaft des Nachfragers gewährleisten kann, so kann das Grundrecht des Eigentümers auch beim Geld nur die institutionelle Grundlage und die individuelle Zuordnung gewährleisten."357
Insbesondere läge aber die Frage der Währungsunion und ihrer Stabilitätsgestaltung schlichtweg nicht (mehr) in der Reichweite des grundrechtliehen Anspruchs aus Art. 14 Abs. I GG. Die dafür notwendigen Entscheidungen "können .. . nicht nach dem individualisierenden Maßstab eines Grundrechts beurteilt werden"358 - was auch immer das genau heißen und wie es irgendwie begründet sein mag. Der Beschwerdefilhrer Schachtschneider äußert sich zu diesen Ausfilhrungen des Gerichts jedenfalls äußerst kritisch und wendet sich 353
Originalschrift der Euro-Klage vom 12. I. 1998, S. 45.
Originalschrift der Euro-Klage vom 12. I. 1998, S. 47; siehe dazu auch unten 4. Teil, 2. Kap., V., 1., b), i); dort Fn. 504. 354
~
355
Siehe dazu 3. Teil, 2. Kap., II., 4., a).
356
BVerfGE 97, 350 (376).
357
BVerfGE 97,350 (371).
358
BVerfGE 97, 350 (376).
Hänsch
130
3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
logisch zu Recht vor allem dagegen, daß das Gericht einerseits eine objektivrechtliche Sicherung des Geldeigentums sehe, andererseits - entgegen der Grundrechtspraxis seit dem Lüth-Urteie59 - die subjektive Einklagbarkeil des objektiv-rechtlichen Kerns des Grundrechts ablehne. 360
111. Die Bedeutung des Wachstums f'ür ökonomische Selbständigkeit Geht es um mögliche Kriterien fiir die makrosoziale Gestaltung durch den Staat als Auftrag des Sozialprinzips, bleibt neben der erfolgten Behandlung der Aspekte Arbeit und Eigentum der Blick auf eine staatliche Verantwortung filr das Wirtschaftswachstum nicht aus. Die diesbezügliche Diskussion geht wesentlich zurück auf die Aussprache bei der Staatsrechtslehrertagung 1966, in der Ipsen einen "Verfassungsauftrag der staatlichen Wachstumsvorsorge" aus dem Sozialstaatssatz proklamierte.361 Zunächst allerdings erscheint es fraglich, ob der Aspekt des Wachstums überhaupt und, wenn ja, in ähnlich enger Weise wie Arbeit und Eigentum mit der freiheitsnotwendigen Selbständigkeit in Verbindung steht oder wie diese sogar als Voraussetzung von Selbständigkeit zu bewerten ist; denn eine ausftlhrliche Begründung ftlr den Wachstumsauftrag findet sich kaum. Der bloße Hinweis auf die Ureigenschaft des Menschen, nach mehr zu streben, kann fiir eine Wachstumsverantwortung des Staates nicht ausreichen. Zugkräftig als Argument erweist sich vornehmlich der Umkehrschluß des Rückschrittsverbots - dies allerdings nicht zwingend in Bezug auf den materiellen Selbständigkeitsgrad per se, sondern vielmehr im Hinblick auf die Anreizfunktion. Rückschritt würde jedenfalls negative Auswirkung auf die 359
BVerfGE 7, 189 (206 f.).
Vgl. K. A. Schachtschneider. Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, 1H1-Schriften 9/ 1998, S. 19 ff. (S. 28 f.); siehe auch oben Fn. 210. 360
361 H. P. lpsen, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 24 (1966), S. 221 ( (S. 222); bejahend zur Wachstumsverantwortung aus dem Sozialprinzip auch N. Achterberg, Deutschland nach 30 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 38 (1980), S. 55 ff. (S. 85); Ch. Starck. Gesetzgeber und Richter im Sozialstaat, DVBI. 1978, S. 937 ff. (S. 939 f.), der Wachstum als Voraussetzung der Verwirklichung des Sozialstaats sieht; insb. aber betont von P. Badura. Wachstumsvorsorge und Wirtschaftsfreiheit, in: R. Stödter/ W. Thieme (Hrsg.): Hamburg. Deutschland. Europa. FS für H. P. lpsen, 1977, S. 367 ff. (S. 375 ff.); ders .. Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 260 ("Wirtschaftswachstum ist der materielle Hauptartikel des Sozialstaats."; Wachstum sei "praktische Prämisse").
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
131
allgemeine ökonomische Selbständigkeit entfalten, da er zu Lasten der Selbständigkeit mindestens eines einzelnen ginge, und er würde damit vor allem gleichzeitig die allgemeine Motivation zu eigens begründeter Selbständigkeit senken. Die logischen Gegenstücke zum Rückschritt liegen in der Beibehaltung des Status oder im Fortschritt, der sich im Wachstum äußert. Die Beibehaltung des Status allein langt jedoch nicht aus, den notwendig permanenten Anreiz zu schaffen, der allein schon erforderlich ist, um das bestehende Maß eigens begrilndeter Selbständigkeit zu erhalten. Seine Motivation erfllhrt der Einzelne aus der Chance nach "mehr", weswegen es des "Mehrs" in der Summe, also des Wachstums bedarf, um die zwangsläufige absolute Schlechterstellung anderer nach Möglichkeit zu verhindern.362 Nichts anderes meint im Ergebnis Zacher mit dem Hinweis auf die der "Gleichheit im Mangel" vorzuziehende "Gleichheit im Wachstum" als konsensflihigeres Ziel der sozialen Bewegung363 : "Bleibt das Wachstum aus, so ist der Sozialstaat auf die Prioritäten des Kampfes gegen die Not und der Verteilung des Verbleibenden zurückgeworfen."364
Eine begleitende Überlegung berücksichtigt die Tatsache des im Falle mancher Güter unausweichlichen Güterverzehrs. Allgemeine Selbständigkeit ergibt sich letztlich aus der jeweiligen Privatnützigkeit von Giltern für den Einzelnen. Bei den meisten Gütern sinkt der Grad der Privatnützigkeit im Zeitverlauf dadurch, daß sie einer Abnutzung durch Gebrauch oder gleich einem Verbrauch unterliegen. Ohne Kompensation verminderte sich dadurch der durch sie geschaffene Selbständigkeitsgrad. Während die Privatnützigkeit bei Verbrauchsgütern aber gerade im (vollständigen) Verbrauch liegt, besteht die Privatnützigkeit von Gebrauchsgütern eben in ihrem (lediglich abnützenden) Gebrauch. Die Beibehaltung des Status kann bei Verbrauchsgütern durch den laufenden gleichwertigen Ersatz erreicht werden; das Selbständigkeitsmaß vor Verbrauch wird zeitnah wiederhergestellt, so daß im Zeitkontinuum ein konstantes Selbständigkeitsniveau zu erreichen ist. Bei Gebrauchsgütern verhält es sich dagegen anders. Die Kompensation des Absinkens der Privatnützigkeit des Gebrauchsgutes erfolgt erst nach einem längeren Zeitraum und kann andererseits überhaupt nur durch ein neues, ungebrauchtes oder jedenfalls weniger gebrauchtes Gut erfolgen. Der Ersatz des alten durch das neue Gut zieht aber nicht das umgehende Verschwinden einer Restprivatnützigkeit des alten Gutes nach sich; jene bleibt -bis auf den Ausnahmefall der kompletten "Vernich-
362 Relativ wird durch das Mehr an Selbständigkeit eines anderen natürlich der eine durchaus schlechter gestellt. 363
Vgl. H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 48 ff.
364
H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rn. 50 m.w.N.
132
3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
tung" des Gutes- weiterhin bestehen. Wachstum ergibt sich durch solche Residualprivatnützigkeiten deshalb als logische Konsequenz bzw. ist Wachstum jedenfalls indirekt erforderlich, um dem Rückschrittsverbot Folge zu leisten. Dies zeigt allerdings schon, daß der Aspekt des Wachstums im Vergleich zu Eigentum und Arbeit eine andere Natur aufweist. Eigentum und Arbeit sind wie gezeigt unmittelbar und originär mit dem Individuum verbunden, Arbeit und Eigentum bilden Quelle und Institutionalisierung seiner Selbständigkeit. Wachstum dagegen entbehrt zunächst einer solchen direkten Beziehung. Es ergibt sich nicht primär aus der Selbständigkeitslage einzelner und ansebliessend in Folge deren Kumulation aus einer allgemeinen Selbständigkeitsbetrachtung, sondern ausschließlich aus der Gesamtschau und steht insofern auf einer anderen Begriffsebene. Dies mag fiir eine subsidiäre Stellung des Wachstums als Kriterium filr makrosoziale Gestaltung gegenüber Arbeit und Eigentum sprechen. Ebenso flinde eine eher subsidiäre Rolle darin Bestätigung, daß Wachstum nie wie Arbeit oder Eigentum einschließlich des Geldwerts zum Gegenstand von Grundrechtsüberlegungen erhoben wurde und auch hier keine Veranlassung dazu erkannt wird. Andererseits erweist sich Wachstum wie gezeigt aber als notwendig, um den Anreiz zu eigens begründeter Selbständigkeit permanent aufrechtzuerhalten, und könnte insofern als erste Voraussetzung von Arbeit und Eigentum zu verstehen sein. Hieraus aber seine Priorität abzuleiten erscheint nicht gerechtfertigt. Vielmehr stehen Arbeit, Eigentum und Wachstum, wenngleich mit verschiedenen funktionalen Charakteren, gleichberechtigt nebeneinander.
IV. Zwischenergebnis: Gesamtwirtschaftliche StabilitätBeschäftigung, Geldwertstabilität und Wachstumals Imperativ des Sozialprinzips Ausgangspunkt fiir die voranstehenden Ausfilhrungen war Selbständigkeit als materialer Aspekt des den Verfassungskern wesentlich mitbestimmenden Sozialprinzips. Dem Staat obliegt deshalb die Verantwortung filr allgemeine Selbständigkeit, der er primär durch eine makrosoziale Rahmengestaltung nachkommt, die eigens begründete Selbständigkeit bestmöglich ilirdert (3 .2.1 ). Die Überlegung, welche Kriterien dabei als Eckpunkte der Gestaltung zu berücksichtigen sind, filhrte zu den Aspekten der Arbeit (II., I. u. 2.) und des Eigentums- einschließlich des Geldes und dessen Geldwert (II., 3. u. 4.)- und auch, wenngleich funktional anders gelagert, zum Wachstum (111.). Diese Verpflichtung aus dem Sozialprinzip könnte durch die Grundrechtslage Begleitung erfahren. Die zentrale Frage der Arbeit bildete jeher einen um-
2. Kap.: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Ausdruck des Sozialprinzips
133
stritteneo Gegenstand verfassungsmäßiger Manifestierung; ihrer besonderen Bedeutung wegen wäre eine grundrechtliche und damit subjektiv einklagbare Sicherung naheliegend. Das Grundgesetz hat sich jedoch wie ausgefilhrt klar gegen ein explizites subjektives Recht auf Arbeit und sogar gegen eine entsprechende programmatische Aussage entschieden, da sie mit der durch das Privatheits- und Fortschrittsprinzip gebotenen Marktlichkeit nicht zu vereinbaren sind. Etwas anders zeigt sich die Lage beim Eigentums-Grundrecht. Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistet jedenfalls eine Eigentumsordnung im Sinne einer Institutsgarantie filr privates Eigentum und den Schutz von Bestand und Gebrauch des Eigentums durch und im Rahmen der Gesetze. Kritisch wird hier als Sonderfall allerdings die Frage nach der Einbeziehung des Geldwerts in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG, fiir die zwar schlüssig argumentiert werden kann, die aber von der herrschenden Meinung einhergehend mit der "EuroEntscheidung" des Bundesverfassungsgerichts trotz des bestätigten substanziellen Stellenwerts letztlich abgelehnt wird. Ein subjektives Grundrecht auf Geldwertstabilität scheitert auch hier an dem Gebot der Marktlichkeit, aus deren vielfältigen Faktoren sich auch der Geldwert ergibt. Gerade der Umstand, daß die Frage etwaiger Grundrechte auf Arbeit und Geldwertstabilität zwar immer wieder im Fokus rechtswissenschaftlicher Debatte stehen, dann aber im Ergebnis nur zurückgewiesen werden können, da in Marktlichkeit verwirklichte Privatheitlichkeit sonst zu rigide beschnitten werden würde, macht umso mehr die Unausweichlichkeit dieser beiden Aspekte als Eckpunkte fiir die makrosoziale Gestaltung im Staat deutlich. Die Einräumung solcher Grundrechte würde zwar- nichts anderes ist ja Ergebnis der Diskussion um soziale Grundrechte - die staatliche Leistungsfähigkeit überfordern und zugleich Marktlichkeit als Effizienzplattform des gemeinsamen Lebens zugunsten allerdings ineffizienter sowie nicht des Überlebens fähiger staatlich gesteuerter Planwirtschaft vernichten, die der grundrechtliche Rahmen ja zudem nicht zuläßt. Wenn aber eine solche grundrechtliche Absicherung so nicht möglich ist, müssen Arbeit und Eigentums- und damit auch Geldwertschutz jedoch der Verpflichtung des Sozialprinzips folgend vornehmlichste und mit höchster Verbindlichkeit ausgezeichnete Aspekte des makrosozialen Rahmens und damit auch der Marktlichkeit sein. Sie werden ergänzt durch das Kriterium des Wachstums, das quasi eine funktionale Voraussetzung bildet und dienende Funktion hat, insofern nicht als originär, aber doch als abgeleitet sozialprinzipbegründetes Kriterium zu sehen ist. Als Zielkriterium ist es deshalb auch auf die Funktion als "technische" Voraussetzung zu beschränken, was wiederum nicht automatisch seine Nachrangigkeit bedeutet. Die makrosoziale Gestaltung ist eine umfassende Politik, die Beschäftigungs-, Preisstabilitäts- und Wachstumspolitik zugleich sein muß; sie ist vorrangig den direkt dem Sozialprinzip abzuleitenden Staatszielen der Arbeit und der Geldwertstabilität verpflichtet und muß zugleich das hierfilr notwendige Wachstum fOrdern.
134
3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
Diese staatliche Verpflichtung auf eine Arbeit und Geldwert und Wachstum unterstützende sowie befördernde makrosoziale Gestaltung verkörpert den gesamtwirtschaftlichen Auftrag des Sozialprinzips: das soziale Prinzip der gesamtwirtschaftlichen Stabilität. Im Kontext der im zweiten Teil dieser Betrachtung vorzufindenden begriffsorientierten Erörterungen zu "Stabilität" ging es um die wirtschaftliche Dimension von Stabilität im Gemeinwesen, deren Zuordnungsobjekte sich aus der Verfassung ergeben müssen. Ihre inhaltlichen Aspekte erhält diese gesamtwirtschaftliche Stabilität demzufolge aus dem Sozialprinzip als wesentlichem Element einer jeden Verfassung und des Verfassungsgesetzes der Bundesrepublik, das allgemeine Selbständigkeit als materiale Voraussetzung allgemeiner Freiheit fordert, welche Arbeit, Eigentum einschließlich des Geldwerteigentums sowie Wachstum voraussetzt und die Vernachlässigung auch nur eines dieser Aspekte verbietet; denn: "Ohne wirtschaftliche Stabilität gibt es keine Chance filr die Sozialität der Gemeinschaft."- Kar/ Albrecht Schachtschneide?65
Das Prinzip als permanentes Optimierungsgebot im Rahmen seiner Befugnisse, d.h. wesentlich durch makrosoziale Rahmengebung, bestmöglich zu verwirklichen, ist Aufgabe des Staates. Bestmöglich verwirklicht wird es - d.h. gesamtwirtschaftliche Stabilität existiert - wenn die Ausprägungen seiner Zuordnungsobjekte eine positive Bewertung erfahren.366 Die Ableitung des Prinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität aus dem Sozialprinzip widerspricht, wie möglicherweise eingewendet werden mag, dessen funktionsnotwendiger Offenheit nicht; denn das Prinzip vermittelt- die Worte des Bundesverfassungsgerichts367 aufgreifend - eben nicht das "Wie", die "Erreichung des Ziels", sondern nur und doch das "Was", das "Ziel" allein.
365
W. Hanke/l W. Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998,
366
Vgl. H. Fischer-Menshausen. Art. 109, in: v. Münch!Kunig, GG, 3., neubearb.
s. 202.
Aufl., 1996, Rn. I 0: "Stabilität bedeutet den Zustand gleichzeitiger und gleichrangiger Verwirklichung der großen wirtschaftspolitischen Ziele im Rahmen der marktwirtschaftliehen Ordnung." 367 BVerfDE 22, 180 (204); vgl. oben 3. Teil, I. Kap., II.; vgl. diesen Gedanken noch weiter ausfUhrend unten 4. Teil, 2. Kap., VII., 2., b).
3. Kap.: Art. I 09 Abs. 2 GG als Ausdruck des sozialen Stabilitätsprinzips
135
Drittes Kapitel
Die Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Art. 109 Abs. 2 GG als rechtspositiyer Ausfluß des sozialen Stabilitätsprinzips Uberleitung zum vierten Teil368 Regelmäßig fmdet sich in rechtswissenschaftliehen Ausruhrungen zum Thema Wirtschaftsordnung, Arbeit, Geldwert oder Wachstum der Hinweis auf Art. 109 Abs. 2 GG: "Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen."
Daraus erwächst das explizite Staatsziel des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts369, das in der Literatur richtig zumeist mit dem Sozialprinzip begrünctee70, teils aber auch- bedenklich371 - neben das Sozialprinzip gestellt wird372 • 368 Auf ausfuhrliehe Nachweise zu den Thesen in diesem Abschnitt wird zugunsten der detaillierten Nachweise im Vierten Teil verzichtet. 369 Anders als fiir das Sozialprinzip trifft hier die Bezeichnung "Staatsziel" zu; siehe dazu insb. 4. Teil, 2. Kap., VI. 370 Die Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht mit dem Sozial(staats)prinzip begründend H. Bult, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 256 f. (im Zusammenhang mit der Interessensausgleichsthese von Vogel/Wiebel); K. A. Schach/schneider, Grundgesetzliche Rechtsprobleme der europäischen Währungsunion, DSWR 1997, S. 172 ff. (S. 173); ders., Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, IHI-Schriften 9/1998, S. 19 ff. (S. 26): "Das Sozialprinzip verpflichtet den Staat zum WohlfahrtszieL Dazu gehört vor allem das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht."; ders., Imperative Lohnleitlinien unter dem Grundgesetz, Der Staat 16 ( 1977), S. 493 ff. (S. 515) (das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht sei ,jedenfalls Bestandteil der grundgesetzliehen Sozialpflichtigkeit"); W. Hanke/l W. Nölling!K. A. Schachtschneider/J Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 200 ff., insb. S. 203 (generell zum Thema Sozialprinzip und Stabilitätsprinzip); E. Benda, Die aktuellen Ziele der Wirtschaftspolitik und die tragenden Grundsätze der Wirtschaftsverfassung, NJW 1967, S. 849 ff. (S. 849) (die wirtschaftliche Verantwortung des Staates resultiere schon aus Art. 20, 28 GG); J Müller-Vo/behr, Das Soziale in der Marktwirtschaft, JZ 1982, S. 132 ff. (S. 136 f.); H.-J Papier, Art. 12- Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, DVBI. 1984, S. 801 ff. (S. 811) (Verpflichtung aufhohen Beschäftigungsstand begründet mit "der Sozialstaatlichkeit ( ... )einschließlich der staatlichen Verantwortung filr das ,gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht' (Art. 109 Abs. 2 GG)." und Verantwortung filr das Gesamtwirtschaftlichte Gleichgewicht als "allgemeiner sozialstaatlicher Verfassungsauftrag"; Hervorh.d.Verf.); ders., Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § 18, Rn. 21 ("Art. I 09 Abs. 2 GG konkretisiert
136
3. Teil: Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip
Die dem Sozialprinzip implizite Forderung jedenfalls nach Eigentum inklusive des Geldwerts sowie nach Arbeit, aber auch nach Wachstum findet, wie der vierte Teil zeigen wird, in Art. I 09 Abs. 2 GG eine rechtspositive erste Materialisierung und ist insofern als besondere verfassungspositive Ausprägung des sozialen Stabilitätsprinzips zu verstehen. 373 Als verfassungsmäßige Materialisierung des in anderen Belangen nicht weiter vom Verfassungstext ausgefiillten Sozialprinzips stellt es eine - schließlich aber doch existierende - Ausnahme dar. Beachtlicherweise und wie oben bereits erwähnt erfolgt der Hinweis auf die Verpflichtung des Staates auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht aus nur den allg. sozialstaatliehen Verfassungsauftrag ..." ); auch ders., Art. 14, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 186; H. Bäum/er. Staatliche Investitionsplanung unter dem Grundgesetz, 1980, S. 147; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21 , S. 902 ff.; W. Höfling, Staatsschuldenrecht- Rechtsgrundlagen und Rechtsmaßstäbe fiir die Staatsschuldenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1993, S. 241 ("... Sozialstaatsprinzip, als dessen finanzverfassungsrechtliche Ausprägung er gelten kann, ..."); M. Killner, Art. 20 Abs. 1-3 Absch. IV, in: Alternativkommentar, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Rn. 55; E. Schwark, Wirtschaftsordnung und Sozialstaatsprinzip, in: DZWir 1997, S. 89 ff. (S. 91 f., auch S. 96); M. Sachs. Art. 20, in: Sachs, GG, 1996, Rn. 31 (Art. I 09 Abs. 2 GG als " sozial staatlich inspirierte Bestimmung des GG"); H. Hofmann, Technik und Umwelt, in: E. Benda/ W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § 21, Rn. 17; P. Badura, Auftrag und Grenzen der Verwaltung im sozialen Rechtsstaat, DÖV 1968, S. 446 ff. (S. 449); ders. , Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: v. I. Münch/Schmidt-Aßmann, E. (Hrsg.): Besonderes Verwaltungsrecht, 9. neub. Aufl., 1992, S. 179 ff., Rn. 22 (wenngleich klar beschränkt auf konjunkturpolitische Verantwortung); a.A. R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 139: "Als bloße Spezifizierung des Sozialstaatsprinzipis wäre Art. 109 II GG überflüssig, ...";anders auch Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: HStR, Bd. VII, 1992, § 164, Rn. 55, der im GG keine weitere einzelne besondere Ausprägung des Sozialprinzips findet. 371 Bedenken bestehen hier, weil ein "Nebeneinander" die Gleichrangigkeil des Sozialprinzips mit einem Staatsziel voraussetzen würde; dazu oben 3. Teil, I. Kap., III. 372 Augenscheinlich Art. I 09 Abs. 2 GG neben das Sozialprinzip stellend R. Breuer, Freiheit des Berufs, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 147, Rn. 73 f. (im Zusammenhang der Beschäftigungsverpflichtung); D. Merlen, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff. (S. 372); H. Beisse, Verfassungshürden vor der Europäischen Währungsunion, BB 1992, S. 645 ff. (S. 648). 373 So auch die Euro-Klage: "Das Sozialprinzip wird wesentlich durch wirtschaftliche Stabilität verwirklicht, was aus dem Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts evident ist;" W Hanke/l W. Nölling!K. A. Schachtschneider!J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 203; ähnlich F. Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997, S. 220 ("spezielle Ausprägung des allgemeinen Sozialstaatsprinzips").
3. Kap.: Art. 109 Abs. 2 GG als Ausdruck des sozialen Stabilitätsprinzips
137
Art. 109 Abs. 2 GG i.V.m. dem Sozialprinzip dabei häufig, wenn die Argumentation in entsprechenden Beiträgen zwar die herausragende Bedeutung der Arbeit oder des Geldwerts ausdrücklich offenlegt oder zumindest klar verstehen läßt, dann allerdings - in der Argumentationslinie zurückziehend, jedoch im Ergebnis zutreffend - aus bekannten Gründen ein jedenfalls subjektivgrundrechtlicher Anspruch auf Arbeit oder Geldwertstabilität abgelehnt wird; denn in beiden Vorschriften, Art. 109 Abs. 2 GG und dem Sozialprinzip, läge ja bereits eine entsprechende Gewährleistung. In jenen Fällen scheint bisweilen die Ablehnung eines Grundrechtsschutzes mit diesem Hinweis quasi entschuldigt und beschwichtigt werden zu wollen, wobei dementsprechend kaum Zweifel an der Verbindlichkeit und Gewichtigkeit beider Vorschriften gelassen wird.
In anders fokussierten Betrachtungen aber, die sich mit möglichen und stellenweise vertretenen konkreten Folgen dieser äußersten Verbindlichkeit beschäftigen, beispielsweise auch mit der in der Euro-Klage vertretenen "Stabilitäts-Argumentation", scheint von dieser Bedeutung nicht viel übrig zu bleiben: Sowohl das Sozialprinzip - filr das eine Einordnung als Staatsziel schon oben abgelehnt wurde374 - als auch die Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht stellten nämlich lediglich Staatsziele dar, die dem Gesetzgeber weite Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume gäben und insbesondere der Justiziabilität nicht oder nur äußerst beschränkt zugänglich wären. Hinzu käme außerdem, daß der Begriff des Gesamtwirtschaftlichen GIeichgewichts doch im Grundgesetz keiner Defmition zugefUhrt würde und § 1 Satz 2 StWG als mögliche Definitionsnorm nur bedingt ein Rolle spielte. 375 Welchen Stellenwert hat nun das "Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht"?
374
Vgl. oben 3. Teil, l. Kap., Ill., 2.
Obwohl andererseits aber auch die Teilziele des § 1 Satz 2 StWG explizit direkt dem Sozialprinzip unterstellt werden, z.B. bei J Müller- Vo/behr, Das Soziale in der Marktwirtschaft, JZ 1982, S. 132 ff. (S. 139) ("Die Normen des StabG haben zwar formell nur den Rang einer einfachgesetzlichen Gewährleistung inne. Materiell handelt es sich jedoch, weil bedeutsame soziale Aspekte im Spiele sind, um Verbürgungen, deren Rahmen nicht mehr weggedacht werden kann, ohne daß der Sozialstaatsauftrag im Kernbereich betroffen würde."); H. Fischer-Menshausen, Art. 109, in: v. Münch/ Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 10 ("... der Zielkatalog des StabG sich damit als spezifische Ausprägung des grundgesetzliehen Sozialstaatsprinzips erweist"; Hervorh.i.Orig.). 375
Vierter Teil
Auslegung des Verfassungsprinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität: Das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als Bestimmungsgröße Erstes Kapitel
Der allgemeine Anwendungsbereich des Art. 109 Abs. 2 GG I. Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht als Vorschrift der Haushaltsverfassung 1. Das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Grundgesetz Der Begriff des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bildet das zunächst inhaltlich nicht weiter definierte Zentralelement der Vorschrift zur "Haushaltswirtschaft" in Art. 109 Abs. 2 GG376, welcher im Zuge der Finanzverfassungsreform von 1967 in den Abschnitt X zum Finanzwesen integriert wurde377• Darüber hinaus fmdet sich der Begriff im fortgefiihrten Kontext in Absatz 4 als Maßstab fUr die Kreditlenkung und Rücklagemaßnahmen des Bundes, fUr die Zulässigkeil von Finanzhilfen in Art. I 04 a Abs. 4 GG sowie als Ausnahmekriterium fUr die Kreditaufnahme der Bundesrepublik gemäß Art. 115 Abs. 1 GG. Die Novellierung des X. Abschnitts des Grundgesetzes sollte vor allem der damaligen, keynesianisch geprägten Auffassung Folge leisten, daß den öffentli-
376
Vgl. die analoge einfachgesetzliche Nennung in§ 2 HGrG.
Die derzeitige Fassung des Art. 109 GG geht zurück auf die Verfassungsänderungen der Jahre 1967 und 1969; Hinzufilgung der Abs. 2 mit 4 durch das 15. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 8. 6. 1967 (BGBI. I, 581); Änderung des Wortlauts von Abs. 3 durch das 20. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 22. 6. 1969 (BGBI. I, 357); vgl. zur Historie unten 4. Teil, 2. Kap., III., 1. 377
I. Kap.: Allgemeiner Anwendungsbereich des Art. 109 Abs. 2 GG
139
eben Haushalten nicht nur eine Bedarfsdeckungsfunktion beikäme, sondern sie auch wesentliches Instrument einer konjunktursteuernden antizyklischen Wirtschafts- und Finanzpolitik verkörperten; 378 hierfilr mußte jedoch zunächst der passende rechtliche - verfassungs- wie einfachgesetzliche - Rahmen geschaffen werden. 2. Haushaltswirtschaft als explizites Objekt der Vorschrift
Die der Vorschrift zu entnehmende Verpflichtung des Bundes und der Länder379, "bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen", läßt primavistadie Verpflichtung lediglich fiir deren Gestaltung der "Haushaltswirtschaft" erkennen. Die Auslegung der "Haushaltswirtschaft'' wurde in der Anschlußliteratur zur Finanzverfassungsreform strittig behandelt, wobei u.a. die Frage aufkam, inwieweit das fiir den vormals alleinstehenden Absatz 1 geltende Begriffsverständnis auch auf den Begriff in Absatz 2 zutreffen kann bzw. aus systematischen Gründen modifizert werden muß. 380 Zur Debatte stand einerseits eine vom ursprünglichen Begriffsverständnis filr Absatz 1 herrührende enge Auslegung, die Haushalts-
378
Vgl. unten 4. Teil, 2. Kap., III., 1., b).
Verpflichtete des Art. 109 Abs. 2 GG sind nach dem Wortlaut Bund und Länder. Fraglich ist die grundgesetzliche Einbeziehung weiterer Organe. Vorwiegend wurde hierbei die Erfassung von Gemeinden diskutiert (vgl. Th. Maunz, Art. 109, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 39; für eine mittelbare Einbeziehung K. Vogel/M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 126 ff.; a.A. begründet mit Wortlautabgrenzung zu Abs. 4 Nr. I: A. Möller, Kommentar zum Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums und Art. 109 Grundgesetz, 2., neubearb. und erg. Aufl., 1969, Art. 109, Rn. 9; Th. Sponheuer, Probleme des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Institut Finanzen und Steuern e.V., Bonn, Heft 95, 1970, S. 6), gelegentlich die Einbindung aller staatlichen Organe in diese Verpflichtung vertreten (vgl. A. Bleckmann, Grundzüge des Wirtschaftsverfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1991, S. 536 ff. (S. 541 ), der allerdings im Hinblick auf die vorrangige Verpflichtung der Bundesbank auf die Wahrung des Geldwerts bemerkt, daß "für die Durchsetzung bestimmter Teilaspekte des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts unterschiedliche Instanzen zuständig sein" können). Das mit Art. 109 Abs. 2 GG unausweichlich in Verbindung stehende Stabilitätsgesetz nimmt durch § 16 auch Gemeinden und durch § 13 auch Sondervermögen und bundesunmittelbare juristische Personen in entsprechende einfachgesetzliche Pflicht (z.B. D. Müller-Römer, Zur rechtlichen Tragweite von § I des Stabilitätsgesetzes, DÖV 1969, S. 703 ff. (S. 703)). Private sind von der Verpflichtung nicht erfaßt (vgl. K. Vogel!M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 131 ; A. Möller, StWG, Art. 109, Rn. 9). 379
380
Dazu K. Vogel/M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 72 ff., insb.
Rn. 74.
I40
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
wirtschaft auf die Ausgabenseite des Haushaltsbudgets begrenzen wollte. 381 Der dagegenstehenden und von der Literatur überwiegend vertretenen weiten Auslegung, die auch die Einnahmenseite von der Haushaltswirtschaft erfaßt sieht,382 ist jedoch beizustimmen, da die Haushaltswirtschaft einer Beeinflussung der Wirtschaft nicht nur durch ihre Ausgaben-, sondern auch durch ihre Einnahmenseite fiihig ist. Ferner bringen Art. I 09 Abs. 4 GG sowie Art. II5 Abs. I GG diese funktionale Argumentation zum Ausdruck, indem sie die K.reditaufnalune als Einnahmeposition in direkte Beziehung zum Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht stellen. Vogel/Wiebel verstehen deshalb Haushaltswirtschaft als "Gesamtheit aller Vorgänge der Ausgabenseite und auch der Vorgänge der Einnalunenseite, soweit diese auf dem generellen System der finanziellen Ausstattung aufbauen. " 383
II. Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht als allgemeingültige Verfassungsvorschrift Die voranstehenden Überlegungen zur Auslegung des spezifischen Begriffs der Haushaltswirtschaft werden allerdings fast überflüssig, hält man sich vor Augen, daß die Literatur überwiegend einen weiten Anwendungsbereich der Verpflichtungsnorm bejaht und somit die gesamte staatliche Politik, deutlich über den formal relativ engen Bereich des Haushalts hinausgehend, den Erfor-
381 So wird die Haushaltswirtschaft gegenüber der Finanzwirtschaft als engerer Begriff interpretiert; A. Möller, StWG, Art. 109, Rn. 6; wohl auch K. Stern, in: K. Stem!P. Münch!K.-H. Hansmeyer (Hrsg.), Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, Kommentar, 2. Aufl. 1972, S. 101 ; zu kurz H. D. Jarass, Art. 109, in: Jarass/Pieroth, GG, 4. Aufl. 1997, Rn. 4. 382 Vgl. F. Klein, Art. 109, in: Schmidt-Bieibtreu!Kiein, GG, neu bearb. und erw. 7. Aufl., 1990, Rn. 7; Th. Maunz, Art. 109, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 3; K. Vogel/ M. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 72 ff. (exklusive Finanzausgleich, Rn. 75 ff. ); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1078; H. Fischer-Menshausen, Art. 109, in: v. Münch!Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 3, 8; überblicksartig W. Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder , Kommentar, Bd. II (Loseblattsammlung), 1981, Art. 109 GG, Rn. 5 f; E. G. Mahrenholz, Art. 109, in: Altemativkommentar, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Rn. 24 ff.; A. Bleckmann, Grundzüge des Wirtschaftsverfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1991, S. 536 ff. (S. 540) ("haushaltsrechtliche Seite des gesamten staatlichen Handelns"); Th. Sponheuer, Probleme des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Institut Finanzen und Steuern e.V., Bonn, Heft 95, 1970, S. 7 ff., der nach eingehenderer Betrachtung trotz systematischer Bedenken einen fllr Abs. I geltenden engeren formalen, für Abs. 2 einen weiteren, materiellen Begriff sieht. 383 K. Vogel/M. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 79 (exklusive des Finanzausgleichs).
I. Kap.: Allgemeiner Anwendungsbereich des Art. 109 Abs. 2 GG
141
demissen des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts unterstellt. 384 Das Hauptargument dafur liegt nahe: Der äußerst hohe Grad faktischer Verflechtung und Abhängigkeiten fast aller staatlicher Politik mit den Fragen des Haushalts sowohl auf seiten der Staatseinnahmen als auch der -ausgaben. 385 Haushaltspolitik alleine wird in ihrem Bestreben, das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zu erreichen, wirkungslos, laufen alle oder auch nur entscheidende einzelne andere Politikbereich dagegen. Wie allein schon aus dem Adjektiv "gesamtwirtschaftlich" zu erkennen ist, kann ein solches Gleichgewicht eben auch nur unter Zusammenwirkung aller staatlichen Politikfelder überhaupt erreicht werden. "Wiewohl formal nur fur die öffentliche Haushaltsgebarung verbindlich, reicht doch die verfassungsrechtliche Bedeutung dieser, durch § 1 StabG vom 8. Juni 1967 in einen besonderen Zielen gesamtwirtschaftlicher Lenkung erläuterter und präzisierter, Bestimmung weit darüber (den Haushalt; d. Ver() hinaus." - U. Scheuner386 384 Vgl. H. Hofmann, Technik und Umwelt, in: HVerfR, 2. Autl. 1994, § 21, Rn. 16 f. ("Richtpunkt fiir alle Felder der Politik"); K. A. Schachtschneider, Imperative Lohnleitlinien unter dem Grundgesetz, Der Staat 16 (1977), S. 493 ff (S. 507, 514 f.); differenziert K. Vogel!M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 122 ff. (die Effektivitätsüberlegung herausstellend, daraus jedoch nur ein Beeinträchtigungsverbot, nicht aber ein Förderungsgebot fiir andere Politikbereiche erkennend); K. Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: HStR, Bd. IV, 1990, § 87, Rn. 16 m.w.N.; A. Bleckmann, Grundzüge des Wirtschaftsverfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1991, S. 536 ff. (S. 541); H. Fischer-Menshausen. Art. 109, in: v. Münch/Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 14; H.-J. Papier, Art. 14, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 21; U. Scheuner, Die Erhaltung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Der verfassungsrechtliche Auftrag zur aktiven Konjunkturpolitik, in: E. Schiffer/H. Karehnke (Hrsg.): Verfassung, Verwaltung, Finanzkontrolle. FS fiir H. Schäfer zum 65. Geburtstag, 1975, S. 109 ff. (S. 112); P. Badura, Auftrag und Grenzen der Verwaltung im sozialen Rechtsstaat, DÖV 1968, S. 446 ff. (S. 449) (" ... so reicht doch die verfassungsrechtliche Bedeutung dieser Bestimmung weit über ihren Regelungszusammenhang hinaus."); E. Benda, Die aktuellen Ziele der Wirtschaftspolitik und die tragenden Grundsätze der Wirtschaftsverfassung, NJW 1967, S. 849 ff. (S. 849); H. Siekmann, Art. 109, in: Sachs, GG, 1996, Rn. 16; zurückhaltend E. Stachels, Das Stabilitätsgesetz im System des Regierungshandelns, 1970, S. 197 ff., insb. S. 204, 208 f. (Art. I 09 lediglich als spezifisches "Haushaltswirtschaftsverfassungsrecht"); a.A. ebenso U. Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, S. 149 ff. (allenfalls "dürfte der Vorschrift eine richtungsweisende Bedeutung zukommen, die über den Bereich der Haushaltswirtschaft hinauswirkt.", S. 150); auch BVerfGE 84, 239 (282). 385 K. H. Friauf, Öffentlicher Haushalt und Wirtschaft, VVDStRL 27 ( 1969), S. 1 ff. (S. 6), kommt sogar zum Schluß, es " ... läßt sich der Eindruck nicht umgehen, daß der Bereich des öffentlichen Haushalts die Schlüsselfunktion par excellence fiir unsere gesamte Verfassungsordnung darstellt." (Hervorh.i.Orig.). 386
U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: FS E. Forsthoff, 1972, S. 325 ff.
(S. 337).
142
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Papier erklärt zudem - im Sinne der hier insgesamt vertretenen Linie - die AllgemeingUltigkeit der Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auch "für die gesamte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik kraft des übergreifenden Verfassungsgebots zur Sozialstaatlichkeit".387 Anders dagegen argumentiert Badura mit einer Art Rückwirkung der explizit weiteren Fommlierung in§ 1 StWG, die übergreifend von "Wirtschafts- und fmanzpolitische[n] Maßnahmen" spricht.388 Des weiteren stellt der Kontext der Haushaltswirtschaft den einzigen sinnvollen systematischen Anknüpfungspunkt für eine Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Grundgesetz dar, da es sich ansonsten zu wirtschaftspolitischen Themen ja enthält. Auch deshalb darf der an sich enge Kontext den Blick auf den faktisch weiten Geltungsbereich nicht versperren.
Zweites Kapitel
Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" I. Das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als Staatsziel 1. Bezeichnungsvarianten in der Literatur Wie bereits oben in den Ausfiihrungen zum Sozialprinzip festzustellen war389, machen sich auch in bezug auf das "Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht" die Schwierigkeiten der begrifflichen Einordnung einer solch objektivrechtlichen Vorgabe des Verfassungsgesetzes deutlich bemerkbar. Abgesehen von der Konsequenz in der Wortwahlper se könnten unterschiedliche Bezeichnungen vor allem auch unterschiedliche Verbindlichkeitsgrade zum Ausdruck bringen wollen. Zu der Vielfalt teils auch bei denselben Autoren zu findender Bezeichnungen zählen etwa "Verfassungsgebot"390, "umfassender Verfassungsauftrag"391 oder "grundgesetzliches Verfassungsziel"392 • Vom "Prinzip des 387
H.-J. Papier, Art. 14, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 186.
388
Vgl. P. Badura. Staatsrecht, 2. neub. Autl., 1996, S. 679 f.
389
Siehe oben 3. Teil, I. Kap., 111., 1., e).
390
E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: HVerfR, 2. Autl. 1994, § 17, Rn. 177.
391 H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: HVerfR, 2. Autl. 1994, § 18, Rn. 21.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
143
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" spricht Hollmann. 393 Bull erkannte das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als eine der "wenigen ausdrtlcklich erwähnten Staatsaufgaben", während sich viele andere Aufgabenbereiche des Staates (lediglich) aus Kompetenz- und anderen Regelungen, insbesondere auch den Grundrechten, ergeben.394 "Beachtung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als Staatsaufgabe: Eine materielle Vorgabe mit geringer Determinationskraft" lautet eine Kapitelüberschrift bei Heun. 395 Badura spricht ebenso von einer "Staatsaufgabe", die aber mit entsprechendem Gewicht "zugleich den Charakter eines Verfassungsgrundsatzes" erreicht. 396 Weicher und augentallig unverbindlicher wählt er an anderer Stelle den Terminus "konjunkturpolitische Richtlinie" 397, mit der wohl die ebenso zu findende "unbestimmte Direktive"398 intensional gleichzusetzen ist. 2. Einordnung als Staatsziel oder Staatszielbestimmung
Während die Literatur wie gesehen durchaus eine Menge begrifflicher Alternativen fiir die Bedeutung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts findet, hat sich andererseits dennoch die Sichtweise dieser Verpflichtung als Staatsziel bzw. als eine der wenigen ausdrücklichen Staatszielbestimmungen am stärksten etabliert. 399 Im Gegensatz zum Sozialprinzip geht eine solche
393
H. H. Hollmann, Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 93.
394
H. Bull. Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 149 ff.
395
W. Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989, S. 118 ff.
P. Badura. Arten der Verfassungsgrundsätze, in: HStR, Bd. VII, 1992, § 159, Rn. 14, der sich in Rn. 16 sogleich auch der Vokabel "Staatsziel" bedient ("Ist die verfassungsrechtlich normierte Materie eine Staatsaufgabe von Gewicht, wie z.B. bei der konjunkturpolitischen Direktive des Art. I 09 Abs. 2 GG - ,Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts', denen Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft Rechnung zu tragen haben -, hat die Aufgabennorm zugleich den Charakter eines Verfassungsgrundsatzes. "). 396
397
P. Badura, Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 192.
R. Schmidt. Rechtsfragen der regionalen Strukturpolitik, AöR 99 ( 1974), S. 529 tT. (S. 532). 398
399 Vgl. R. Schmidt, Staatliche Verantwortung flir die Wirtschaft, in: HStR, Bd. 111, 1988, § 83, Rn. 30; K. Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 121 f., dazu auch S. 870 f.; Th. Maunz, Art. 109, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 37; H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz - Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBI. 1991, S. 730 ff. (S. 734); U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: FS E. Forsthoff, 1972, S. 325 tf. (S. 33 7); H. J. Hahn. Währungsrecht, 1990, S. 224 f.; P. Badura, Arten der Verfassungsgrundsätze, in: HStR, Bd. VII, 1992, § 159, Rn. 16; ders. Staatsrecht,
144
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Einordnung fiir die allgemeine Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auch in Ordnung400; denn genau auf sie paßt die schon erwähnte und treffende Defmition der Staatszielbestimmung der Sachverständigenkommission401: Sie gehört zu den "Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfilllung bestimmter Aufgaben- sachlich umschriebener Ziele- vorschreiben". Im hiesigen Verständnis leitet sie sich als Staatszielbestimmung- wie auch wiederholt in der Literatur ausgewiesen - vom höherrangigen sozialen Verfassungsprinzip ab.402
II. Die Offenheit des Verfassungsbegriffs Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht Zuck formulierte 1975 mit Blick auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht die These: "Der Begriffist leer, offen, unbestimmt."403
Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob der Begriff allein mangels der verfassungsrechtlichen Definition tatsächlich "leer" ist, da Offenheit Wandelbarkeit der Materialität bedeutet und Leere eben Inhaltslosigkeit, die wiederum filr sich nicht wandelbar ist. 404
2. neub. Aufl., 1996, S. 263; J. lsensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR, Bd. III, 1988, §57, Rn. 122; so auch R. Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: J. Isensee/P. Kirchhof(Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 1988, § 58, Rn. 30; K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 5, Rn. 38; a.A., da zu kleiner Adressatenkreis, der eine Einordnung als Staatsziel nicht rechtfertige, U. Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, S. 151. 400
Siehe dazu die Ausfilhrungen oben im 3. Teil, I. Kap., III., 1., c).
401
Siehe oben oben 3. Teil, I. Kap., 111., 1., c); Fn. 146.
402
Siehe oben 3. Teil, 3. Kap.
403
R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 139.
404 Deshalb kann es auch keinen "unbestimmten Rechtsbegriff' geben.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
145
1. Bewußtes Offenlassen durch den Verfassungsgeberverfassungsgeforderte Offenheit Ein hoher Grad materialer Offenheit des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als Verfassungsbegriff lag eindeutig in der Intension des Verfassungsgebers. Zwar hatte der Bundesrat anfangs eine Umschreibung des Begriffs in Form von in Klammem gestellten Merkmalen dieser Größe - die Teilziele des § I Satz 2 StWG in der Fassung des Regierungsentwurfs zum Stabilitätsgesetz - angedacht. 405 In der schließlich nach intensiver Diskussion zur Verabschiedung gekommenen Fassung hat der Verfassungsgeber aber bewußt auf eine explizite verfassungsmäßige Legaldefinition verzichtet. Der zeitbedingte Erkenntnisstand der Nationalökonomie und die damit verbundene materiale Vorstellung eines solchen Gleichgewichts sollten jedenfalls nicht im Grundgesetz festgeschrieben werden; 406 denn im Falle einer verfassungstextlichen Konkretisierung wären bei etwaigen Veränderungen dieses Erkenntnisstands entweder jeweils Verfassungsänderungen notwendig gewesen oder jene hätten die Veralterung des Verfassungsgesetzes nach sich gezogen und damit realiter vermutlich einen an sich zu vermeidenden Verbindlichkeitsverlust bewirkt. Für das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gelten hier grundsätzlich in ähnlicher Weise die gleichen Überlegungen hinsichtlich funktionsnotwendiger Offenheit einerseits und Problematik der Offenheit andererseits, wie sie bereits oben zum Sozialprinzip ausgefilhrt wurden407 • Die Verfassung muß der Realität angemessen entwicklungsflihig, ihr gleichzeitig aber auch leitender und "ruhender
405 Vgl. BTDrs. V/890, S. 24 ("Wahrung des Geldwertes bei hohem Beschäftigungsstand, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und angemessenem Wirtschaftswachstum"). 406 Vgl. Rechtsausschuß des Bundestages, 17. Sitzung vom 22. 9. 1966, Protokoll S. 3 ff., 13 f., 49, Schrift!. Bericht des Rechtsausschusses, BTDrs. zu V/1686, dort Dr. Wilhelmi, MdB: "Wir hatten etwas Schwierigkeiten mit dem Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Wir waren geneigt, das etwas genauer zu definieren. Wir haben uns darum bemüht, sind aber zu dem Ergebnis gekommen, daß das nicht geht.", Sten. Berichte, S. 5098 f., Protokoll der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 10. Mai 1967, 5098 D; K. Vogel/M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 80, 84; A. Möller, StWG, Art. 109, Rn. 10; BVerfGE 79, 311 (338); F. Klein, Art. 109, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, neu bearb. und erw. 7. Aufl., 1990, Rn. 9; auch etwa R. Zuck. Die global gesteuerte Marktwirtschaft und das neue Recht der Wirtschaftsverfassung, NJW 1967, S. 1301 ff. (S. 1304); E. Benda, Die aktuellen Ziele der Wirtschaftspolitik und die tragenden Grundsätze der Wirtschaftsverfassung, NJW 1967, S. 849 ff. (S. 852); Hinweis auf die bewußte Offenheit des Begriffs auch nochmals im Kontext des StWG in BRDrs. 316/66, S. 10. 407
Siehe oben, 3. Teil, I. Kap., II., 3.
10 Hänsch
146
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Pol"408 sein. Diesen Spagat beschreibt R. Schmidt gerade im Hinblick auf die Theorieabhängigkeit des Art. 109 Abs. 2 GG recht treffend, denn "die Verfassung auf das Rezept von gestern zu verpflichten, hieße den Rückschritt zu zementieren; sie mit der Gegenwart zu konfrontieren, hieße sie einem zwangsläufig auch politisch gefllrbten Theorienstreit auszusetzen; sie der Zukunft offenzuhalten, hieße das Risiko ungewisser wissenschaftlicher Erkenntnisse einzugehen." 409
2. Verfassungsrechtlicher Kern versus Offenheit des Begriffs
Zwar weisen auch Vogel/Wiebel auf eine so verstandene Offenheit des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hin und bemerken, daß darüber hinaus hier ein Rückgriff auf traditionelle historische Begriffsbilder nicht möglich ist, da es sich um einen neuen Rechtsbegriff handelte- so jedenfalls zum Zeitpunkt der damaligen Kommentierung Anfang der 70er Jahre. Sie kommen aber zu der wichtigen Erkenntnis, " ... sein wesentlicher materieller Gehalt liegt aber von Verfassungs wegen bereits fest, ... ". "Die Definition des ,gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts' ist ... nicht primär ein ... wirtschaftswissenschaftliches Problem. Es handelt sich um einen Verfassungsbegriff; seine Erläuterung ist zunächst eine verfassungsrechtliche Frage."4IO
Im Anschluß begründen und formulieren sie schließlich als Verfassungskern des Begriffs einen "Zustand des Ausgleichs zwischen den widerstreitenden Interessen der am Wirtschaftsprozeß Beteiligten"411 , den allgemeinen "wirtschaftlichen Interessenausgleich".412
401
R. Zuck. Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 112 f.
409
R. Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung, 1971 , S. 156.
410 K. Vogel!M. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 81, 85 (Hervorh.i.Orig.). 411
K. Vogel!M. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 95.
Vgl. dazu insgesamt K. Vogel!M. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 80 ff.; später fortsetzend K. Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: HStR, Bd. IV, 1990, § 87, Rn. 17; dazu leicht kritisch H. Bult, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 156 f., der diese Interpretation schon durch das Sozial(staats)prinzip veranlaßt sieht; kritisch auch W. Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989, S. 121 f. 412
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
147
Entscheidend ist hierbei weniger das konkrete Ergebnis in Form dieses verfassungsrechtlichen Begriffsverständnisses als vielmehr die Absicht, dem Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht etwas eigenständiges Verfassungsrechtliches, von der Wirtschaftswissenschaft Unabhängiges abzugewinnen. Auch Papier tendiert in diese Richtung, wenn er feststellt, es "kann nicht angenommen werden, daß die Verfassung hier eine Leerformel aufstellen wollte, die mit beliebigen wirtschaftspolitischen Inhalten ausgeftlllt werden könnte." 41J
Hinzu kommt, daß auch Vogel/Wiebel ihren Begriff in besondere Beziehung zum - genauer: unter das - Sozialprinzip stellen.414 Der These Vogel/ Wiebels wird hier also insofern im Ansatz gefolgt, als erstens das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als Verfassungsbegriff nicht wirtschaftswissenschaftlich, sondern zunächst rechtlich unter möglicher (subsidiärer) Heranziehung wirtschaftswissenschaftlicher Hilfestellung, zu verstehen ist, und als zweitens dieser verfassungsrechtliche Kern seinen Ursprung im Sozialprinzip fmdet. Wenn zudem der "wirtschaftliche lnteressenausgleich" Vogel/Wiebels im Wesenskern nichts anderes als die ökonomische Dimension des Sozialprinzips zum Ausdruck bringen sollte, wäre jene Auffassung nicht weit von der hier vertretenen These entfernt, die das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als grundgesetzlieh besonders hervorgehobene Ausprägung des sozialen Stabilitätsprinzips, das die Ausrichtung staatlichen Handeins an den selbständigkeitsbegrUndeten Kriterien der Arbeit, der Geldwertstabilität sowie des Wachstums befiehlt, betrachtet. Die Offenheit des Begriffs ist deshalb nur dort und insoweit festzustellen sowie verfassungsfunktional angezeigt, wo es um eine nähere, auf nationalökonomischer Theorie basierende Interpretation geht. Andersherum heißt das, daß die vom Verfassungsgeber verfolgte Offenheit keine absolute Offenheit, schon gleich keine Unbestimmtheit, sondern nur eine Ablehnung der verfassungsge-
413 H.-J. Papier, Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1973), S. 528 ff. (S. 548); vgl. auch A. Bleckmann, Grundzüge des Wirtschaftsverfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1991, S. 536 ff. (S. 540) (aufgrund der bedeutenden Maßstabfunktion filr Art. I 09 Abs. 3 und 4, Art. I 04a Abs. 4 und Art. 115 Abs. I "muß dieser Begriff ... einen rechtlich verbindlichen Kern besitzen").
414
10*
K. Vogel/M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 96 ff.
148
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
setzliehen Festschreibung einer zeitlich kontingenten Interpretation des Begriffs durch die Wirtschaftswissenschaft beinhaltet.415 3. Notwendige Operationalisierung- der Auftrag an den Gesetzgeber zur Ausfüllung des Begriffs in Abstimmung mit der Wirtschaftswissenschaft
Auch wenn das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als ein sozialprinzipgebundener Begriff ökonomischer Dimension - gleich ob im Sinne des Vogel/Wiebel'schen Interessenausgleichs oder, wie hier vertreten, im Sinne der ökonomischen Imperative des sozialen Stabilitätsprinzips - verstanden wird und insofern schon über eine verfassungsmäßige Materialität verfügt, bedarf er ob seiner Offenheit und fehlenden expliziten Faßbarkeit der weiteren Materialisierung.416 Möglicherweise liegt sogar gerade hierin die vorrangige Funktion der Verpflichtungsnorm aus Art. 109 Abs. 2 GG, nämlich als Auftrag an den Staat, sich filr sein Handeln unter den ökonomischen Prämissen des Sozialprinzips aktiv mit der Wirtschaftswissenschaft auseinanderzusetzen und operationalisierbare, in Abstimmung mit der Wirtschaftswissenschaft generierte wirtschaftliche Ziele seines Handeins verbindlich zu fixieren. Dafür spricht, daß das bei Vogel/Wiebel oder auch hier als Kern des Verfassungsbegriffs Erkannte sich im Grunde bereits aus dem Sozialprinzip ergibt und deshalb eine weitere grundgesetzliche Einbringung nicht nur überflüssig, sondern geradezu konträr zur notwendigen Offenheit des Sozialprinzips wäre. 417 Diese weitere Materialisierung obliegt dem Gesetzgeber. Sie erfolgt durch die Festlegung verbindlicher wirtschaftspolitischer Ziele. Für diese Auswahl bedient sich der Gesetzgeber der Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften. Dabei geht es um das Finden derjenigen operationalisierbaren Größen, die den wirtschaftlichen Imperativen des Sozialprinzips bestmöglich zuträglich sind und/oder sie in geeigneter Weise abbilden. Jene Größen fungieren wiederum einerseits als eigenständige Teilziele, an denen sich staatliches Handeln orientiert, andererseits als Indikatoren, deren Ausprägungen Aufschluß über den Erfolg dieses Handeins geben. Die wirtschaftswissenschaftliche Grundlagenli-
415
Zumal sich widersprechende Theorien grundsätzlich gleichwertig sind; vgl. dazu
K. A. Schachtschneider. Der Rechtsbegriff "Stand von Wissenschaft und Technik" im
Atom- und Immissionsschutzrecht, in: W. Thieme (Hrsg.): Umweltschutz im Recht, 1988, S. 81 ff. (S. 118 f.).
416 Vgl. K. Vogei!M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 104 ff.; Th. Maunz, Art. 109, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 25, 38; H. Fischer-Menshausen, Art. 109, in: v. Münch!Kunig, GG, 3., neubearb. Autl., 1996, Rn. 10. 417
Vgl. so die Kritik von Bult, Fn. 412.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
149
teratur bezeichnet diesen Konkretisierungsvorgang in der Stabilitätspolitik als "doppeltes Normierungsproblem"418, da erstens (qualitativ) die richtigen Indikatoren, zweitens (quantitativ) die entsprechenden Sollwerte zu bestimmen sind, nach denen sich ein "optimaler Stabilitätsgrad"419 bemißt.
111. Die Materialisierung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als Zielsystem durch§ 1 StWG Regelmäßig erfolgt in der Literatur, geht es um das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, der Verweis auf die bis heute unveränderte und nach wie vor geltende einfachgesetzliche Bestimmung in § I StWG: "Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftliehen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen."
Wenngleich es auf den ersten Blick naheliegend erscheint, hierin eine klare Aussage des Gesetzgebers über den Inhalt des Gesamtwirtschaftlichen GIeichgewichts zu erkennen, ist diese Sichtweise aus verschiedenen Gründen jedoch von Anfang an nicht unumstritten gewesen und findet sich in verschiedenen, eher unklar zu differenzierenden Ausprägungen, wie der zweite Unterabschnitt (2.) zeigen wird. Wichtige Überlegungen ergeben sich daftlr aus der Entstehungsgeschichte (1.) sowie der grundsätzlichen Frage der einfach-gesetzlichen Definition eines Verfassungsbegriffs (3.). Anschließend folgt eine Zusammenfllhrung dieser Überlegungen verbunden mit einer eigenen Stellungnahme (4.).
418 D. Cassel!H. J Thieme, Stabilitlltspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 376); H. Berg/ D. Cassel!K.-H. Hartwig, Theorie der Wirtschaftspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 171 ff. (S. 241). 419 D. Cassel!H. J. Thieme, Stabilitlltspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vah1ens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 374 ff., Zitat S. 376).
150
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
1. Historische Verknüpfung im Rahmen der Finanzverfassungsreform
a) Gemeinschaftliche Entstehungsgeschichte im Überblick Das Stabilitätsgesetz - das "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" -kam im Rahmen der Finanzverfassungsreform zeitgleich mit dem 15. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes zustande. 420 Letzteres brachte die Einftlhrung des Art. 109 Abs. 2 GG sowie mit dessen Absatz 3 überhaupt erst die Ermächtigungsgrundlage tUr das Stabilitätsgesetz mit sich. 421 Der Verabschiedung beider Gesetze ging ein verhältnismäßig langandauernder Entstehungsprozeß voraus.422 Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die deutsche Wirtschaft bis in die Mitte der 1960er Jahre hinein sehr positiv, von üblichen konjunkturellen Schwankungen abgesehen, zumal es bis dahin selbst in Rezessionsphasen Wachstum gab. Über die Jahre 1963 und 1964 kam bei einem starken europaweiten Konjunkturaufschwung steigende Inflation auf, die weitgehend auch "importierte Inflation" war. Staatliche Haushaltspolitik gestaltete sich bis dahin ungesehen konjunktureller Überhitzung nach wie vor prozyklisch, die Bundesbank stand, ihrem Mandat zur Wahrung des Geldwerts Rechnung tragend, mit restriktiven geldpolitischen Maßnahmen in dieser Zeit
420 15. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes und Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, beide vom 8. 6. 1967 (BGBI. I S., 581 und 582); erste Beiträge dazu R. Zuck, Die global gesteuerte Marktwirtschaft und das neue Recht der Wirtschaftsverfassung, NJW 1967, S. 1301 ff.; ders. , Gefllhrdung der Ziele des § 1 StabilitätsG und die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, DÖV 1967, S. 801 ff.; ders., Aktuelle Probleme der Wirtschaftspolitik und die tragenden Grundsätze der Wirtschaftsverfassung, BB 1967, S. 805 ff.; ders., Verfassungsrechtliche Probleme des Stabilitätsgesetzes, JZ 1967, S. 694 ff.; E. Benda, Die aktuellen Ziele der Wirtschaftspolitik und die tragenden Grundsätze der Wirtschaftsverfassung, NJW 1967, S. 849 ff.; K. Stern, Die Neufassung des Art. 109 GG, NJW 1967, S. 1831 ff.; Heinz Wagner, Um ein neues Verfassungsverständnis. Gedanken zur 15. Grundgesetzänderung, DÖV 1968, S. 604 ff.; M Wiebel, Zur verwaltungsrechtlichen Bedeutung des Stabilitätsgesetzes, DVBI. 1968, S. 899 ff. 421
Bis zu diesem Zeitpunkt bestand Art. 109 GG aus seinem heutigen Abs. 1.
Vgl. recht ausfllhrlich zur Entstehungsgeschichte P. Münch, in: Stern/Münch/ Hansmeyer, StWG, S. 31 ff.; wesentlich zu den Inhalten K.-H. Hansmeyer, ebenda, S. 35 ff. sowie S. 117 ff.; K. Vogei!M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 6 ff.; vgl. auch generell zur Entwicklung der Finanzverfassung K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1069 ff.; auch E. Tuchtfeldt, Soziale Marktwirtschaft und Globalsteuerung, in: ders. (Hrsg.): Soziale Marktwirtschaft im Wandel, 1973, S. 159 ff. (S. 165 f.). 422
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
151
allein dagegen. Insgesamt wurde das Problem mangelnder Koordination zwischen allgemeiner Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik von Politik und Bevölkerung immer stärker wahrgenommen. Indessen spielte auch der Einfluß des damaligen europäischen Gemeinschaftsrechts eine gewisse "Vorreiter-Rolle". Art. 103 EWGV bestimmte nämlich die kurzfristige Konjunkturpolitik als eine Angelegenheit gemeinsamen Interesses und Art. 104 EWGV verpflichtete jeden Mitgliedstaat zu einer mittel- und langfristigen "Wirtschaftspolitik, die erforderlich ist, um unter Wahrung eines hohen Beschäftigungsstandes und eines stabilen Preisniveaus das Gleichgewicht seiner Gesamtzahlungsbilanz zu sichern und das Vertrauen in seine Währung aufrechtzuerhalten."423 Die Zielkriterien des Art. 104 EWGV - Preisniveau, Beschäftigung, Zahlungsbilanzgleichgewicht - wurden letztlich leicht modifiziert sowie erweitert um den Aspekt des Wachstums, der sich im damaligen Art. 2 EWGV ergänzend fand, als dynamische Komponente in das Zielkonglomerat des § 1 Satz 2 StWG aufgenommen. 1964 erfolgte angesichts dieser Lage bereits die Einsetzung der sogenannten "Troeger-Kommission" zur Vorbereitung einer Finanzreform, welche schließlich Anfang 1966 ihr Gutachten vorgelegt hatte, das Vorschläge filr eine antizyklische Fiskalpolitik, eine mittelfristige Finanzplanung sowie die Kreditpolitik und filr eine hierfilr als notwendig erachtete Änderung des Art. 109 GG beinhaltete.424 In der Folge legte die von der CDU geftlhrte Bundesregierung auf Basis der Kommissionsausfiihrungen am 2. 9. 1966 dem Bundestag den "Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes" sowie den "Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der wirtschaftlichen Stabilität" vor. 425 Die anschließende Parlamentarische Beratung der Gesetzesentwürfe wurde zeitweilig durch den im Herbst erfolgten Regierungswechsel unterbrochen. Der Wechsel von der CDU-Regierung unter Ludwig Erhard auf die "Große Koalition" unter erstmaliger Mitwirkung der SPD sowie die 1966 einsetzende Konjunkturflaute fUhrten auch zu Änderungen der Entwürfe; der im Ursprung eher 423
Siehe dazu unten 5. Teil, 2. Kap., I., 2., c).
"Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland"; die Kommission stand unter der Leitung des damaligen Finanzministers Hessens, Heinrich Troeger; vgl. dazu auch A. Möller, StWG, Art. 109, Rn. 1.; R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 62 f.; K. Vogei!M. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 8 ff.; zur Notwendigkeit der GG-Änderung auch E. G. Mahrenholz, Art. 109, in: Altemativkommentar, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Rn. 3 m.V.a. BRDrs. 316/66, S. 9. 424
425
BTDrs. V /890.
152
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
auf restriktive Maßnahmen abstellende Vorschlag wurde zu einer sowohl restriktive als auch weitgehendere expansive Elemente beinhaltenden Konzeption umgebaut. Neben einer Reihe weiterer Änderungen sei hier erstens vor allem erwähnt, daß der im anilinglichen Entwurf vorgesehene Vorrang der (weiteren) "Wahrung des Geldwerts" im Zielkonglomerat von§ 1 Satz 2 StWG der jedenfalls formulierungsmäßigen Gleichrangigkeit der (engeren) "Stabilität des Preisniveaus" mit den anderen Teilzielen der jetzigen Formulierung in der dann verabschiedeten Fassung weichen mußte426; damit wurde die Formulierung des § 1 StWG dem seit 1963 geltenden § 2 Satz 2 SVRG angeglichen, der dem zu institutionalisierenden Sachverständigenrat u.a. zur Aufgabe macht, Vorschläge zu unterbreiten, "wie im Rahmen der marktwirtschaftliehen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliebes Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können"427 • Zweitens wurde der Titel des Gesetzes um den Aspekt des Wachstums erweitert.428 Bei dem gesamten Entstehungsprozeß übte sich übrigens die Staatsrechtslehre-so die Feststellung von Stern und so auch der Literaturstand - ob der Unsicherheiten im Hinblick auf das Thema Staat und Wirtschaft in merklicher Zurückhaltung. 429 b) Der damalige wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisstand Der gesamte Entwicklungsprozeß zur Finanzreform vollzog sich auf der Grundlage der sich in der Wirtschaftswissenschaft zum damaligen Zeitpunkt schon seit längerem durchgesetzten "General Theory" von Keynes430 und der darin entwickelten Konzeption der aktiven antizyklischen Fiskalpolitik. Keynes setzte an den seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden, in regelmäßigen Phasen verlaufenden Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Auslastung - der Konjunktur - an, die in Zeiten der Rezession zu Unterauslastungen der vorhandenen Faktorkapazitäten, vor allem zu Unterbeschäftigung des Faktors Arbeit, in Zeiten des Aufschwungs und konjunktureller Hochphasen dage426 Dazu R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 63; A. Möller, StWG, § 1, Rn. 1 und 9. 427 Gesetz Uber die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 14. 8. 1963. 428 Aus dem "Gesetz zur Förderung der wirtschaftlichen Stabilität" im Regierungsentwurf wurde das zur Verabschiedung gelangte "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft". 429
K. Stern, in: Stern!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 66 ff.
430
J. M. Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money,
London 1936.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
153
gen zu Überlastung der Kapazitäten und zu Preissteigerungen filhrten. Die Empfehlung dieser Theorie bestand in einem Kompensationsansatz zur Verstetigung der wirtschaftlichen Entwicklung auf der Nachfrageseite, die sich aus privatem Konsum, privaten Investitionen, Nachfrage aus dem Ausland, aber ebenfalls aus staatlicher Nachfrage ergibt. Antizyklisch sollte der Staat - Preisstabilität vorausgesetzt431 - in der Rezession seine Ausgaben erhöhen, nötigenfalls auch unter Aufnahme neuer Kredite ("deficit spending"), und durch diese Ausgaben sowie darUber angestoßene private Nachfrage der Wirtschaft ("Multiplikatoreffekt") einen positiven Schub geben. Im Falle des starken Aufschwungs oder sogar Boomphasen sind andererseits staatliche Ausgaben zu reduzieren, etwaige Kredite zu tilgen sowie Rücklagen zu bilden, um den starken Konjunkturverlauf durch eine Senkung der Gesamtnachfrage einzudämpfen. Auf diese Weise sollte Vollbeschäftigung erreicht und Inflation verhindert werden. 432 c) Die vorrangige Intension der fiskalpolitischen Konjunktursteuerung Als vorrangige Intension der Finanzreform entwickelte sich damit deutlich die Schaffung einer entsprechenden rechtlichen Basis, die die Erweiterung von der früher alleinstehenden Bedarfsdeckungsfunktion des öffentlichen Haushalts hin zu seiner wirtschaftsbeeinflussenden Budgetfunktion ermöglicht und festschreibt.433 Stern spricht bezüglich dieses Reformzwecks von der "Transformation der wirtschaftspolitischen Budgetfunktion in das Verfassungsrecht". 434 Das 431 Auf diese häufig vernachlässigte Bedingung Keynes weist A. Woll, Das Ende der Stabilitätspolitik. 1983, S. 27, hin. 432 Vgl. dazu aus volkswirtschaftlicher Sicht etwa Helmut Wagner, Stabilitätspolitik. 5. überarb. und erw. Aufl., 1998, S. 2 f.; H-R Peters, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. und erw. Aufl., 1995, S. 234 ff., 238 ff.; kritisch J Starbatty, Stabilitätspolitik in der freiheitlich-sozialstaatliehen Demokratie, 1977, S. 20 ff.; in rechtswissenschaftlicher Betrachtung dazu H Fischer-Menshausen, Art. 109, in: v. Münch!Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 11 ff; H. H Hol/mann, Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 25 ff.; sehr kritisch zu Globalsteuerung als keynesianische Oberflächlichkeit: E. Tuchtfe/dt, Soziale Marktwirtschaft und Globalsteuerung, in: ders. (Hrsg.): Soziale Marktwirtschaft im Wandel, 1973, S. 159 ff.; siehe dazu auch unten 4. Teil, 2. Kap., VII., 2., a). 433 So auch aufgegriffen von BVerfGE 79, 311 (331 ): "Ziel dieser Reform war es, die staatliche Haushaltswirtschaft und Haushaltspolitik sowie das Haushaltsrecht angesichts der erkannten gesamtwirtschaftlichen Bedeutung des Staatshaushalts zugleich in den Dienst einer konjunktursteuernden Wirtschafts- und Finanzpolitik zu stellen." 434 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1078; allgemein zu den Funktionen dort S. 1194 ff.; G. Kisker, Staatshaushalt, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland,
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Stabilitätsgesetz sollte dem Bund einfachgesetzlich die notwendigen Instrumente zu einer antizyklischen Fiskalpolitik an die Hand geben. 435 Es steht deshalb außer Frage, daß das Stabilitätsgesetz wesentlich im Kontext dieser kurzfristig orientierten Konjunktursteuerungsabsicht und nicht etwa als allgemeines Gesetz der gesamten Wirtschaftspolitik zu sehen ist.436 Daß damit aber auch seine Zielsetzungen in § I Satz 2 als Größen aufzufassen sind, die ausschließlich oder vorrangig nur ftlr Konjunkturpolitik Wirksamkeit entfalten, ist damit jedoch sicher nicht entschieden. 437 d) Die Bedeutung der Finanzreform- Wende der Wirtschaftsverfassung? Die gesamte Finanzverfassungsreform stellte damals vor allem aufgrund der Verankerung wirtschaftspolitischer Zielsetzung - verfassungsrechtlich eine Innovation - tatsächlich einen Einschnitt dar. Ihre Bedeutung erfuhr im allgemeinen recht hohe Einschätzung438 bis hin zu der Auffassung, sie hätte fundamentale Auswirkungen auf die Wirtschaftsverfassung. Das Stabilitätsgesetz
Bd. IV, 1990, § 89, Rn. l3 ff., insb. auch zur "Neuen wirtschaftspolitischen Funktion" aus verfassungsrechtlicher Sicht; W Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, Grundriß, 1981, Rn. 77 ff. 435 Nach der wirtschafts- und finanzpolitischen Zielsetzung des § l verankert das StWG den Jahreswirtschaftsbericht (§ 2), die konzertierte Aktion(§ 3), den Konjunkturrat bei der Bundesregierung (§ 18), sowie eine Reihe weitere Instrumente; vgl. zum Überblick H. H. Hollmann, Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 72 f.; K.-H. Hansmeyer, in: Stern!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 51 f., differenziert Eingriffs-, Informations-, Planungs- und Koordinationsinstrumente. 436 In der Literatur findet sich deshalb auch regelmäßig der Hinweis auf die Konjunkturfunktion, gelegentlich auch die klare Einschränkung auf diese Konjunkturbezogenheit; vgl. U. Scheuner, Die Erhaltung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Der verfassungsrechtliche Auftrag zur aktiven Konjunkturpolitik, in: FS H. Schäfer, 1975, S. 109 ff. (S. 112) ("allgemeine Wirtschaftslenkung konjunktureller Art"); H. Siekmann, Art. 109, in: Sachs, GG, 1996, Rn. 17 ff. (mit klarem Fokus aufdie Konjunkturfunktion); K.-H. Hansmeyer, in: Stern!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 139 (StWG kein "grundlegendes Gesetz filr die gesamte Wirtschaftspolitik des Staates"); Th. Maunz, Art. 109, in: Maun:zJDürig, GG, Rn. 34 ("ausschließliche oder jedenfalls hauptsächliche konjunkturelle Zielrichtung"), gleich darauf aber wegen des Wachstumsteilziels auf allgemeinen wirtschaftspolitischen Zielkanon erweiternd (Rn. 35 ff.); P. Badura, Wachstumsvorsorge und Wirtschaftsfreiheit, in: FS H. P. Ipsen, 1977, S. 367 ff. (S. 369) ("konjunkturpolitisches Mandat"); K. Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: HStR, Bd. IV, 1990, § 87, Rn. 16. 437
So aber etwa K.-H. Hansmeyer, in: Stern!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 139.
So z.B. K. Stern, in: Stern!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 116: " ...zumal der Art. 109 li geradezu ein Grundgesetz fiir die staatliche Finanzwirtschaft verkörpert." 438
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
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war das erste Gesetz, das eine aktive Steuerung von Wirtschaftsabläufen durch den Staat vorsah. Vorher geschah ansatzweise Vergleichbares allenfalls durch die Regelungen des Kartellgesetzes.439 Erstmals wurde, so die Bemerkung Friaujs, mit Art. 109 Abs. 2 GG "eine Norm der Finanzverfassung ausdrücklich in den Dienst eines wirtschaftspolitischen Zwecks gestellt."440 R. Schmidt betrachtet diesen entscheidenden Abschnitt der Verfassungsgeschichte als die dritte Phase der Kontroverse um die Wirtschaftsverfassung, in der sich das Konzept der Globalsteuerung durchsetzte. 441 So wie Stachels vom "Übergang vom leistenden Staat der Wohlstandssicherung zum lenkenden Staat der Wohlstandsllirderung" sprach442 , kommen das Besondere und die damit verbundene Hoffnung auf wirtschaftliche Besserung auch in folgenden damaligen Äußerungen zum Ausdruck: "Diese Gesetze markieren die Wende vom wirtschaftspolitisch weitgehend enthaltsamen zum konjunktursteuernden Staat."443 "Mit ihm [dem neuen Finanzkonzept; d. Verf.] ist eine Phase ganz entscheidender instrumentaler und technischer Entwicklungen auf dem Gebiete der Wirtschafts- und Finanzpolitik eingeleitet worden. Nach jahrelangen, oft verzweifelt aussichtslos erscheinenden Bemühungen um eine Koordinierung der Finanz- und Haushaltspolitik der öffentlichen Gebietskörperschaften und ihre Unterwerfung unter gemeinsame konjunkturpolitische Zielsetzungen ... verfügt die BReg jetzt über das modernste Instrumentarium zur globalen Steuerung des Ablaufs der Volkswirtschaft, innerhalb derer die öffentlichen Haushalte einen breiten und - leider - immer noch wachsenden Raum einnehmen."444
439
Dazu kurz R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 62.
K. H. Friauf, Öffentlicher Haushalt und Wirtschaft, VVDStRL 27 ( 1969), S. I ff. (S. 10) (Hervorh.i.Orig.). 440
441 Vgl. R. Schmidt, Staatliche Verantwortung filr die Wirtschaft, in: HStR, Bd. III, 1988, § 83, Rn. 12 f. (nach der bis Mitte der 50er Jahre andauernden ersten Phase der Konstituierung der neuen wirtschaftlichen Ordnung und der daran anschließenden Phase der im Bewußtsein der Offenheit der Wirtschaftsverfassung gefilhrten Auseinandersetzung um grundrechtsgezogene Grenzen staatlicher Wirtschaftsgestaltung). 442
S. 15. 443
E. Stachels, Das Stabilitätsgesetz im System des Regierungshandelns, 1970,
H. Bu/1, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 150.
Fischer, Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, in: Finanzpolitik von morgen, Heft 114 der Schriftenreihe des Deutschen Industrie- und Handelstages, 1969, S. 9 ff. (S.I4), zit. nach W. Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, Grundriß, 1981, Rn. 72. 444
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Schließlich wurde die rechtliche Festschreibung der Globalsteuerung "von vielen als epochale Wendung der staatlichen Wirtschaftspolitik empfunden" 445 und in manchen Augen geradezu "eine Epochenschwelle in der Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft markiert"446. Nicht nur als eine "echte Wende unseres wirtschaftsverfassungsrechtlichen Denkens"447 bezeichnete Zuck die Ergebnisse der Finanzreform; wie einige andere verband er mit ihr ebenfalls konkrete Auswirkungen auf die Frage der Wirtschaftsverfassung448, ftl.r die bis dahin nach allgemeiner Auffassung die Neutralitätsthese des Bundesverfassungsgerichts449 galt. Er proklamierte deshalb sogar die neue "Wirtschaftsverfassung der Globalsteuerung", die die "Neutralität der Wirtschaftsverfassung" ablösen sollte, was jedoch durchaus nicht überall so erkannt wurde. 450
445 H. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 253 m.w.N. in Fn. 21. 446 J. Berger, Vollbeschäftigung als Staatsaufgabe?, in: D. Grimm (Hrsg.): Staatsaufgaben, 1994, S. 553 ff. (S. 559). 447 R. Zuck, Aktuelle Probleme der Wirtschaftspolitik und die tragenden Grundsätze der Wirtschaftsverfassung, BB 1967, S. 805 ff. (S. 807). 448 Vgl. K. Vogel!M. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 100 ("mittelbar auch eine Entscheidung für die Marktwirtschaft"); Th. Maunz, Art. 109, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 42 m.w.N.; F. Klein, Art. 109, in: Schmidt-Bieibtreu/Kiein, GG, neu bearb. und erw. 7. Aufl., 1990, Rn. 9 ff.; ähnlich E. Benda, Die aktuellen Ziele der Wirtschaftspolitik und die tragenden Grundsätze der Wirtschaftsverfassung, NJW 1967, S. 849 ff. (S. 851): "wirtschaftsverfassungsrechtliche Zielentscheidung von prinzipieller Bedeutung... Damit wird das Wirtschaftsverfassungsrecht des GG in seinem Inhalt verändert, jedenfalls aber ausgestaltet.", "wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundentscheidung von prinzipieller Bedeutung"; P. Badura, Auftrag und Grenzen der Verwaltung im sozialen Rechtsstaat, DÖV 1968, S. 446 ff. (S. 449) (mit Art. 109 Abs. 2 GG " ... wird die staatliche Verantwortung für die Herstellung und Aufrechterhaltung des ,gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts' klar ausgedrückt und damit die Debatte über die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes auf eine neue Grundlage gestellt."); vgl. auch in drei diesbezügliche Meinungsstände klassifizierend H. H. Hol/mann, Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 95 ff.
449 Siehe dazu oben 3. Teil, 2. Kap., I., 2., a). 450 Z.B. R. Zuck, Die globalgesteuerte Marktwirtschaft und das neue Recht der Wirtschaftsverfassung, NJW 1967, S. 1301 ff. (S. 1301); in diesem als einer seiner ersten Beiträge spricht er von einer "Ära der Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, die zu Ende gegangen" sei und eine "Wende unserer Wirtschaftsverfassungsrechts" einleitete, "die Epoche der wirtschaftspolitischen Neutralität des GG ist abgeschlossen. Vor uns liegt die Wirtschaftsverfassung der ,global-gesteuerten Marktwirtschaft'." (S. 1301); " ... der bestimmende Leitgrundsatz der Wirtschaftsverfassung ist, nämlich die Sicherung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts der Wirtschaft." (S. 1303 f. ); "Im Zusammenhang mit Art. 109 Abs. 2 GG wird man jetzt davon auszu-
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
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2. Das Zielsystem des§ 1 Satz 2 StWG als Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht?- Literaturmeinungen
a) Konkretisierungja, Definition nein- unterschiedliche Tendenzen Wie oben bereits angedeutet, weisen die Meinungen des Schrifttums zur Beziehung zwischen dem Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht des Art. I 09 Abs. 2 GG einerseits und dem sich ebenfalls des Terminus bedienenden § I StWG mit seinem Zielkatalog andererseits in ihren Tendenzen durchaus beachtliche Unterschiede auf. Insgesamt überwog damals und überwiegt bis heute jedoch deutlich die Auffassung, das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht durch die Teilziele des Stabilitätsgesetzeses eher mehr als weniger bestimmt zu sehen.451 Allerdings lassen viele Äußerungen ausreichende Klarheit gehen haben, daß nunmehr wesentliche Ziele der Wirtschaftspolitik in der Verfassung selbst gesetzt worden sind ..." (S. 1304); in Retrospektive seine Auffassung bekräftigend ders., Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 85 ff. inkl. der kritischen Stellungnahmen anderer; darüber hinaus gegenteiliger Meinung etwa W Thiele, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2. Aufl., 1974, S. 246 ff.; H. Bäum/er, Staatliche Investitionsplanung unter dem Grundgesetz, 1980, S. 146 ff.; M Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977, S. 87 f.; R. Schmidt, Staatliche Verantwortung filr die Wirtschaft, in: HStR, Bd. III, 1988, § 83, Rn. 19; K. H. Friauj Öffentlicher Haushalt und Wirtschaft, VVDStRL 27 ( 1969), S. I ff. (S. I0). 451 Außer den im folgenden noch genannten als relativ frühe Beiträge: U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: FS E. Forsthoff, 1972, S. 325 ff. (S. 334) ("wirtschaftspolitischen Zielsetzung des ,magischen Vierecks' in§ 1 StabG (und damit Art. 109 Abs. 4 GG)"); ders., Die Erhaltung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Der verfassungsrechtliche Auftrag zur aktiven Konjunkturpolitik, in: FS H. Schäfer, 1975, S. 109 ff. (S. 114, auch 116 f.) später etwas vorsichtiger (StWG, von dessen Gedanken zweifellos "der Verfassungsgeber bei der Reform des Art. 109 GG sich leiten ließ" und insofern beim Verständnis helfe; "Doch darf § I StabG nicht etwa als ,authentische Interpretation' oder als Festlegung filr sich gesehen werden . ... Zweifellos ist durch § 1 StabG die inhaltliche Aussage des Art. I 09 GG nicht festgelegt, sondern muß unmittelbar aus der Verfassung gewonnen werden. Das ließe auch Änderungen und Akzentverlagerungen zu."); K. H. Friauj Öffentlicher Haushalt und Wirtschaft, VVDStRL 27 (1969), S. 1 ff. (S. 33); K. Stern, in: Stern!Münch/Hansmeyer, StWG, S. 99, 78 (... des gesamtwirtschafltichen Gleichgewichts, das sich aus den Teilzielen ... zusammensetzt."); ders., Die Neufassung des Art. 109 GG, NJW 1967, S. 1831 (S. 1833) ("konkretisierende und verfeinerte Ausgestaltung" des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch § 1 Satz 2 StWG); dafilr auch die Begründung des die gültige Fassung schaffenden Wirtschaftsausschusses, der explizit in § 1 Satz 2 StWG eine Umschreibung feststellte, vgl. Schriftlicher Bericht des Wirtschaftsausschusses, Abg. Dr. Elbrechter, Anhang zu BTDrs. V/678, S. 8; K. Vogel/P. Kirchhof Art. 104 a GG, in: BK, GG, Rn. 120 ("... daß der Begriff des ,gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts' in Art. 109 Abs. 2 GG nicht anders als nach § 1 StabG zu verstehen sein kann.");
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
vermissen, sie sind oftmals indifferent und bilden keinen deutlichen Standpunkt ab, was die Diffizilität und Einzigartigkeit dieser Begriffsfragenlage zu erkennen gibt. m Zwar wird die Unbestimmheit, besser: das bewußte Offenlassen des Verfassungsbegriffs durch den Verfassungsgeber im Regelfall anerkannt und häufig explizit hervorgehoben, für die Auslegung des Begriffs sich aber immer wieder der Formulierung des § I Satz 2 StWG bedient. Dabei weist die Einschätzung dieser Beziehung zwischen der Verfassungs- und der einfachgesetzlichen Norm eine breite Spannweite auf, die von bestenfalls vorsichtiger Hilfestellung, über die ledigliehe Verneinung einer konkreten verbindlichen Definition bis hin zur unkommentierten selbstverständlichen Gleichsetzung reicht. Die gemeinsame Entstehung bzw. sogar die Bedingtheit der Verfassungsänderung durch das einfachgesetzliche Vorhaben haben dabei hohen Stellenwert; so spricht etwa Mahrenholz von der "gedanklichen Einheit"453 und greift damit Zuck auf, der in seiner 1975er Untersuchung des Themas zum Schluß kam: "Bei § l StabG, Artikel 109 II GG handelt es sich um einheitlich entstandenes Recht. Dabei stand das StabG am Anfang, die Grundgesetzänderung erschien erst in einem späteren Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens erforderlich. Es bestehen deshalb nicht die geringsten Bedenken, die Teilziele des § l StabG zum Inhalt des Begriffes des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu machen, und zwar filr den jetzigen Zeitpunkt der Auslegung zu seinem alleinigen Inhalt."454
E. Stachels, Das Stabilitätsgesetz im System des Regierungshandelns, 1970, S. 3 f., dagegen erkannte "eher eine Aufsplitterung in ... Teilziele als ... eine echte Konkretisierung"; ebenfalls eher zurückhaltend H. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 256 ("erste vorläufige Orientierung", die eine gesetzesunabhängige Interpretation jedoch nicht ersetzt); K.-H. Hansmeyer, in: Stern!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 119 ("§ l geht einen Schritt zur Konkretisierung"). 452 Eine vergleichbare Konstellation eines offenen Verfassungsbegriffs, der in ähnlich prägnanter Weise eine einfachgesetzliche Definition zu erfahren scheint. ist nicht zu erkennen, weswegen auch in der Literatur keine Parallelbetrachtungen vorzufinden sind. 453 E. G. Mahrenho/z, Art. 109, in: Altemativkommentar, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Rn. 4, der aber gleich später mit Bezug auf die Vogei/ Wiebel'sche Sichtweise einschränkt. daß Art. 109 Abs. 2 GG "als Verfassungsbegriff ist in seinem Verständnis nicht an § 1 Satz 2 StWG gebunden" sei (Rn. 28). 454 R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 139, der hier, vgl. S. 133 ff., filr das Verhältnis zwischen Art. 109 Abs. 2 GG und § 1 Satz 2 StWG die Metapher der "Schaukel" verwendet. da die Verfassungsnorm der einfachgesetzlichen Regel eine besondere Bedeutung zukommen läßt. andersgewendet die Verfassungsnorm aber nicht ohne § 1 Satz 2 StWG gesehen werden darf; 1967 wollte Zuck die Ziele noch ausschließlich als auf das StWG bezogene, nicht filr das Gesamtwirtschaftliche Gleich-
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht'
159
Ähnlich Sponheuer, der sich 1970 ebenfalls ausftlhrlicher dem Thema widmete: " ... , so kann doch gesagt werden, daß nach dem gegenwärtigen Stand der Wirtschaftswissenschaft die Kennzeichnung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in § 1 Satz 2 StabG ... . zugleich Inhalt des verfassungsrechtlichen Begriffs des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist."455
Im "Staatsrecht" von Stern (1980) ist zu lesen: "Beim gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht geht es um einen Zustand der Ausgeglichenheit einander widerstrebender Faktoren, um die Realisierung ... eines volkswirtschaftlichen Idealzustandes: Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsgrad, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum(§ 1 Satz 2 StabG). Diese Faktoren bilden den verfassungsrechtlichen und stabilitätsgesetzlichen Gleichgewichtsbegriff, mag auch filr die ökonomische Theorie eine größere Vielfalt denkbar sein."456
Auch in aktuellerer Literatur bestehen kaum dezidierte Zweifel an der in § 1 StWG zu findenden Inhaltsgebung ftlr das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht. 457 So fand es am Rande der Diskussion um soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen Anfang der 1990er Jahre als klassisches Staatsziel wieder Erwähnung und wurde dort bisweilen ohne jede Kommentierung mit
gewicht allgemein gültige Ziele verstehen, vgl. R. Zuck, Geflihrdung der Ziele des § 1 StabilitätsG und die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, DÖV 1967, S. 801 ff. (S. 802). 455 Th. Sponheuer, Probleme des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Institut Finanzen und Steuern e.V., Bonn, Heft 95, 1970, S. 11.
456 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1079 (§ 1 Satz 2 StWG verleihe dem Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht eine "gewisse Verdeutlichung", in ihr bestünde allerdings keine Interpretation durch den einfachen Gesetzgeber.). 457 Die Frage der Bestimmung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch § 1 Satz 2 StWG ist nicht zu verwechseln mit der vereinzelt kritisch thematisierten Frage, welchen Einfluß die wirtschafts-, finanz- und w!lhrungspolitischen Regelungen des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Staatsziel des Art. 109 Abs. 2 GG insgesamt haben; vgl. so H. Beisse, Verfassungshürden vor der Europäischen W!lhrungsunion, BB 1992, S. 645 ff. (S. 648 f.); Schmidt, G., Der EG-Binnenmarkt und das Stabilitätsgesetz, RIW 1993, S. 921 ff.; L. Müller, Verfassungsrechtliche Fußnoten zum Maastrichter-Vertrag über die Wirtschafts- und W!lhrungsunion, DVBI. 1992, S. 1249 ff. (S. 1252); siehe dazu ausfilhrlich unten 4. Teil, 2. Kap., V., 2., a), dd) sowie 5. Teil, 3. Kap., III.
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
§ 1 Satz 2 StWG expliziert.458 Darüber hinaus sprechen Vogel/Waldhoffetwa in ihrer aktuellen Kommentierung zum X. Abschnitt des Grundgesetzes ohne weiteres von "Art. 109 Abs. 2 mit seiner authentischen Konkretisierung in § 1 StabG ..." 459; ferner schreiben beispielsweise Rinck/Schwark in ihrem Lehrbuch zum Wirtschaftsrecht "Mit gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht sind die vier Ziele des sog. magischen Vierecks gemeint: ... " 460 • Zuletzt bestätigen diese Auffassung auch Hahn!Häde in der neuen Kommentierung zu Art. 88 GG. 461 Den weiter unten erfolgenden Ausfilhrungen vorwegzunehmen ist des weiteren, daß das Bundesverfassungsgericht 1989 die gezielte Offenheit des Begriffs nochmals explizit betonte, gleichzeitig aber auch in Ansehung unveränderten Erkenntnisstands der Wirtschaftswissenschaft sein nach wie vor geltendes Verständnis vom Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht im Sinne des Zielkanons des Stabilitätsgesetzes zum Ausdruck brachte. 462
Jedoch konnte andererseits im Lauf der Zeit leider nach wie vor keine größere Klarheit dieser Beziehung gewonnen werden. Im allgemeinen herrscht wohl bei näherer Betrachtung die letztlich in der Handhabung weitgehend nutzlose und in einzelnen Tendenzen unterschiedlich zu verstehende Auffassung, es ginge um eine zeitlich kontingente, aber derzeit durchaus gültige Konkretisierung, die allerdings als einfachgesetzliche Norm keine verbindliche Definition 458 Vgl. R. Scholz, Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes, ZfA 1991, S. 683 ff. (S. 691) ("Schon das auch grundgesetzliche Bekenntnis zum ,gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht' (Art. 109 II, IV GG), konkretisiert im Stabilitätsgesetz, ..."); W. Graf v. Vitzthum, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen von morgen, ZfA 1991, S. 695 ff. (S. 705 ff.) (im Kontext "Recht auf Arbeit als Staatszielbestimmung" und Länderverfassungen: "Sie entsprechen häufig Vorgaben, die § 1 StabG bzw. Art. 109 II GG entlehnt sind.", S. 706); M Nebendahl. Grundrecht auf Arbeit im marktwirtschaftliehen System, ZRP 1991, S. 257 ff. (S. 258) ("Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht wird in § 1 S. 2 StabG ausdrücklich definiert und umfaßt die Verwirklichung von ..."); H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz- Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBI. 1991, S. 730 ff. (S.734) ("... vereinigt es doch alle vier Teilziele des sog. magischen Vierecks entsprechend der ihm in§ 1 Satz StabG gegebenen Definition: ..."). 459
K. VogeliCh Waldhoff, Vorbem. zu Art. 104a-115, in: BK, GG, Rn. 304.
G. Rinck/E. Schwarte, Wirtschaftsrecht, 6. , vollst. neubearb. Aufl., 1986, unveränd. Nachdruck 1989, S. 52; darauf Bezug nehmend auch E. Schwark, Wirtschaftsordnung und Sozialstaatsprinzip, in: DZWir 1997, S. 89 f. (S. 91 f.). 460
461
H. J Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 176 u.a.
BVerfGE 79, 311 (339), dazu auch unten 4. Teil, 2. Kap., IV.; so auch A. Bleckmann, Grundzüge des Wirtschaftsverfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1991, S. 536 ff. (S. 541) ("kann dies beim heutigen Stand der volkwirtschaftlichen Erkenntnis und angesichts des Konsenses aller Parteien über die Ziele der Wirtschaftspolitik nur durch Rückgriff auf das magische Viereck geschehen"). 462
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
161
eines Verfassungsbegriffs darstellen könnte. 463 Es stellt sich sehr wohl die Frage, was das im Ergebnis heißt. b) Die "Transpositions-Sichtweise" von Vogel/Wiebel als Spezifikum Eine gesonderte Betrachtung verlangt in diesem Zusammenhang die Vogel/Wiebel 'sehe Ansicht, da sie im Gegensatz zu anderen Autoren, wie oben behandelt, ausdrücklich einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Begriffskern vertreten. 464 Demzufolge ist ihre Äußerung, daß die Heranziehung der Teilziele des § 1 Satz 2 StWG lediglich "filr eine erste, vorläufige Orientierung ... durchaus berechtigt"465 sei, auch vor diesem Hintergrund zu sehen und sicher nicht als eine Schwächung des Konnex zwischen dem Begriff des Grundgesetzes und der Erklärung des Stabilitätsgesetzes aufzufassen. Die einfachgesetzliche Defmition besitzt hier nämlich nur eine ergänzende, explizierende Funktion, nicht aber eine quasi-konstituierende Funktion, die notwendig aufkommt, wenn der Verfassungsbegriff tatsächlich vollkommen indeterminiert sein soll. 463 Vgl. etwa H. Beisse, Verfassungshürden vor der Europäischen Währungsunion, BB 1992, S. 645 ff. (S. 648) ("Die Konkretisierung findet sich in § l des Stabilitätsgesetzes."); D. Merten, Sozialrecht, Sozialpolitik, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 20, Rn. 86; H.-J Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 18, Rn. 9; Th. Maunz, Art. 109, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 25 f. (ein Gleichgewicht sei dann erreicht, "wenn alle vier Ziele in möglichst großem Umfang verwirklicht, wenn keines zurückgedrängt oder vernachlässigt wird"); U. Häde, Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und europäische Haushaltsdisziplin, JZ 1997, S. 269 ff. (S. 273) ("konkretisiert§ l S. 2 diesen Terminus in den Zielen des ,magischen Vierecks' : kann die einfachgesetzliche Begriffsbestimmung den verfassungsrechtlichen Begriff aber nicht festlegen." m.w.N.); eher zurückhaltend W. Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989, S. 121, 142 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 680 ("Interpretationshilfe" ); W. Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, Kommentar, Bd. II (Loseblattsammlung), 1981, Art. 109 GG, Rn. 15; H. Fischer-Menshausen, Art. 109, in: v. Münch/Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. lO (StWG sei .,richtungsweisend"); U. Hartmann. Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, S. 152 f. ("Hinweis, nicht aber verbindliche Vorgabe"; Konkretisierung "zumindest bis zur Ratifikation des Unionsvertrags"; betont die Notwendigkeit, einfaches Gesetz vom Verfassungsbegriffklar zu trennen). 000
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464 Daneben ist noch der Ansatz von W. Höfling, Staatsschuldenrecht - Rechtsgrundlagen und Rechtsmaßstäbe filr die Staatsschuldenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1993, S. 227 ff., zu erwähnen, der seine Auslegung ebenfalls von den Teilzielen loslöst und in .,staatlicher Nachfragepolitik" und .,staatlicher Einflußnahme auf das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential" die zentralen Komponenten des hochkomplexen Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als Verfassungsnorm sieht; die Teilziele des § l Satz 2 StWG spielen in seiner Betrachtung explizit keine Rolle.
465
K. Vogel!M. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 84.
I I Hänsch
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Konsequent betrachten Vogel/Wiebel dann den Zielkanon des § 1 StWG als Ergebnis eines Transpositionsvorgangs, der sich aufgrund wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisstands ergibt und der der Konkretisierung eines schon verfassungsmäßig materialisierten Begriffs, dem lnteressenausgleich, dient. "Vielmehr reduziert jene Transponierung darüber hinaus die Vielzahl faktischer Gruppeninteressen auf eine geringe Zahl makroökonomisch relevanter Größen. Hierdurch wird die komplexe Verpflichtung aus Art. I 09 Abs. 2 GG nicht erst begründet; sie wird jedoch auf eine technisch eher zu bewältigende Ebene übertragen. ... Mit dem , gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht' wird lediglich auf den permanenten Interessenkonflikt und dessen notwendigen Ausgleich hingewiesen; anband der Terminologie der Wirtschaftswissenschaften können ... die Zielsetzungen ... bündig ausgedrUckt und zusammengefaßt werden."466
3. Die einfachgesetzliche Definition eines Verfassungsbegriffs "Wenn die Verfassung selbst nur einen Blankettbegriff enthält, von wo soll dann dessen Inhalt kommen?"467
So die allgemeine Frage von Zuck im hier aufgeworfenen Kontext des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Wie gerade erwähnt, erweist sich als ein Hauptargument gegen eine Definition des Verfassungsbegriffs "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" durch § I Satz 2 StWG die sich unabhängig von dieser konkreten Konstellation ergebende Problematik der Definition des Verfassungsbegriffs durch das einfache Gesetz. Eine solche Konstellation wird der herrschenden Meinung nach wohl abgelehnt, da unterschiedlichen Normhöhen dies nicht zuließen. 468 Bei dieser Fragestellung geht es zum einen um die Eignung der Verfassung, richtungsweisende, leitende und begrenzende Funktion fiir sich ändernde Lagen
466 K. Vogel!M. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 104 und Rn. 108; aktueller ergänzend K. Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: HStR, Bd. IV, 1990, § 87, Rn. 16 f. ("Diese einfachgesetzliche Erläuterung ist natürlich keine verbindliche Interpretation des Verfassungsrechts."; vielmehr beinhalte§ I StWG "Voraussetzungen" zur Erreichung des Verfassungsziels).
467
R. Zuck. Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 113; zum folgenden
dort S. 67 ff.
468 Siehe zum Teil die Nachweise in Fn. 463; vgl. auch D. Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff. (S. 372); H. Beisse, Verfassungshürden vor der Europäischen Währungsunion, BB 1992, S. 645 ff. (S. 371 f.).
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
163
auszuüben, und zum anderen um den von Leisner sogenannten begrifflichen "Selbstand"469 der Verfassung - beide zusammen tllhren zur "Verfassungsmäßigkeit der Gesetze". 470 Erfährt die Verfassung mangels gegebenenfalls funktionsnotwendigen begrifflichen Seihstands einfachgesetzliche Definition - "Ertllllung" -, läuft sie Gefahr, dadurch ihre Eigenständigkeil zu verlieren; das einfache Gesetz würde verfassungsmäßig zementiert und außerdem der Verfassungsgeber vom Gesetzgeber verdrängt. Daraus entstünde die "Gesetzmäßigkeit der Verfassung", die "Verfassung nach Gesetz". Andererseits vertllgt die Verfassung gerade wegen ihres richtungsweisenden Zwecks häufig über weniger begrifflichen Seihstand als das einfache Gesetz471 • Sie bedarf nicht nur anderweitiger Ertllllung, sondern fordert sie geradezu - es handelt sich also um "Verweisung". 472 Nach Leisner kann die Verfassung auf verschiedenen Wegen solche "Ertllllung" erfahren: Erstens durch das Gesetz, sofern offensichtliche Nähe besteht, zweitens durch etwaige, dem niederrangigen Recht inhärente Tradition und drittens durch "außerrechtliche Theorie", also rechtsfremde Wissenschaft. Daneben ist zu berücksichtigen, daß die Verfassung aber auch als Ergebnis, als "Konzentrat" des unterverfassungsrechtlichen Rechtsstoffs, d.h. als Spitze der Einheit der Rechtsordnung, verstanden werden kann. 473 Schließlich entstand das Grundgesetz als Verfassungsgesetz auf einer gedanklichen Grundlage existierenden Rechts, insbesondere bestehenden (einfachgesetzlichen) Privatrechts, und wurde auf einer solchen Grundlage auch fortentwickelt. Die Einheit der Rechtsordnung wird gerade von der Wechselwirkung zwischen beiden genährt.474 Generell sind Verfassungsrecht und einfaches Recht zu stark miteinander verflochten, als daß eine strikt isolierte Betrachtung beider Rechtsblöcke angemessen wäre.
469 W. Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964. 470 Vgl. dazu auch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 1033 ff.; demn. auch ders., Das Rechtsstaatsprinzip der Republik, unveröff. Manuskript des Lehrstuhls filr Öffentliches Recht, Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät Nümberg, Nümberg 2000. 471 W. Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964, S. 16. 472 Vgl. W. Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964, S. 32.
473 R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 71 f., m.V.a. P. Lerche, Werbung und Verfassung, 1967, S. 33. 474 Vgl. auch P. Häber/e, Rezension zu Walter Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeitder Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, AöR 90 (1965), S. 117 ff.
II•
164
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Zuck kam deshalb auf seine oben gestellte Frage zu einer Antwort, die ftlr diese Wechselwirkung zwischen Verfassung und Gesetz steht; das einfache Gesetz detenniniert nicht die Verfassung, sie wird jedoch mit seiner Hilfe ausgelegt, insbesondere in diesem speziellen Fall des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, in dem die begriftliche und historische Nähe überaus groß sei: "Mit diesen Bemerkungen soll klargestellt werden, daß die Rezeption der Inhalte eines einfachen Gesetzes in die Verfassung nicht die Auslieferung der Verfassung an das einfache Gesetz bedeutet."475
4. Formulierungsunterschiede - "Erfordernisse" als " Teilziele "?
In diesen Ausftlhungen unbeleuchtet blieben bislang mögliche Schlußfolgerungen aus den exakten Formulierungen beider Normen. Für Art. 109 Abs. 2 GG wurde die weite Auslegung des an sich engen Begriffs der "Haushaltswirtschaft" schon begründet. Sie wurde u.a. auf die allgemeinere Wortwahl des § 1 Satz 1 StWG gestützt, die den "wirtschafts-und finanzpolitischen Maßnahmen" das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zur Ausrichtung aufgibt.476 Im ersten Fall haben Bund und Länder dessen "Erfordernissen" "Rechnung zu tragen", im zweiten Fall haben sie jene "zu beachten". Insoweit sind Verfassungs- und einfachgesetzliche Norm gleichgerichtet. Interessant erscheint im Anschluß aber der Blick auf§ 1 Satz 2 StWG, der die stets als Teilziele bezeichneten volkswirtschaftlichen Größen nennt. Fraglich nämlich ist, ob diese Größen, die der Formulierung nach zunächst nur "Erfordernisse" des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts darstellen, tatsächlich als Teilziele zu verstehen sind477 - sind doch Erfordernisse theorieabhängige Voraussetzungen eines Ziels und somit begriftlich nicht unbedingt selbst Ziele. Sie können jedoch eigenständige Ziele abbilden, wenn sie nicht nur dienende, Operationale Funktion ftlr die Erreichung eines übergeordneten Ziels entfalten - wie etwa eine rein rechnerische Maßgröße theoretischen Ursprungs -, sondern selbständigen Inhalt aufureisen, also unabhängig von der Gesamtzieleinbindung bestehen können. Dies trifft jedenfalls ftlr den Beschäftigungs-, den Geldwert- und den Wachstumsaspekt zu. Auch ihre von einem übergeordneten Ziel unabhängige Position in § 2 SVRG spricht ftlr die Eigenständigkeil aller vier Teilziele.
475
R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 140.
476
Siehe dazu oben 4. Teil, I. Kap.
Vgl. so ähnlich ansetzend K. Vogel. Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: HStR, Bd. IV, 1990, § 87, Rn. 16 f. 477
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
165
IV. Die Position des Bundesverfassungsgerichts: Offenheit und Verweis auf den aktuellen Erkenntnisstand der Volkswirtschaftslehre 1. Frühe Außerungen des Gerichts In seiner Entscheidung zur IH.K-Pflichtmitgliedschaft wies das Bundesverfassungsgericht 1962 daraufhin,"... daß der Staat die Förderung der Wirtschaft im weitesten Sinne zum Rang einer besonders wichtigen Staatsaufgabe erhebt."478 Seine Numerus-etausus-Entscheidung aus dem Jahr 1972 hob ausdrücklich als "Grenze" eines Teilhabeanspruchs die Verpflichtung des Gesetznach der ausdrücklichen Vorschrift des gebers hervor, "der Art. 109 Abs. 2 den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen hat"479• Das Gericht zog damit die Verpflichtung aus Art. 109 Abs. 2 GG erstmals in seiner Rechtsprechung heran, bevor es sich erst sehr viel später und im übrigen ohne Mitwirken der Richter Klein und Kirchho/ 80 - in der Entscheidung zur Staatsverschuldung481 des Jahres 1989 ausfilhrlicher zum Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht äußerte, dessen Bedeutung dort im Rahmen des Art. 115 Abs. I GG zu klären war. In der Zwischenzeit griff das Gericht fUr eine Auslegung des Begriffs des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts dem ursprünglichen Verständnis des Gesetzgebers folgend indirekt auf§ 1 Satz 2 StWG zurück482 und äußerte sich 1986 zurückhaltend zu den Regeln der Finanzverfassung; denn die "normativen Festlegungen der Finanzverfassung weisen ... zum Teil nicht das Maß an inhaltlicher Bestimmtheit auf, ... , verwenden ... unbestimmte Begriffe und schaffen damit Beurteilungs- oder auch Entscheidungsspielräume, die verfassungsgerichtlicher Nachprüfung nur auf Einhaltung des verbindlich gesetzten Rahmens unterliegen."4sJ
478 479 480 481
BVerfGE 15, 235 (240). BVerfGE 33, 303 (333). BVerfGE 79, 311 (326). BVerfGE 79, 311.
482 BVerfGE 50, 57 (102 f.). 483 BVerfGE 72, 330 (390) m.V.a. H. Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechts-
begriffe in der bundesstaatliehen Finanzverfassung, in: Probleme des Finanzausgleichs I, Schriften des Vereins filr Socialpolitik 9611 (1978), S. 135 ff. (S. 136, 138 ff.) sowie m.V.a. BVerfGE 67, 256 (288 f.).
166
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
2. Die Staatsverschuldungs-Entscheidung im Jahr 1989
In der genannten Entscheidung zu der Begrenzung der Staatsverschuldung erwähnt das Bundesverfassungsgericht schließlich die vom Verfassungsgeber bewußt gestaltete grundsätzliche Offenheit des Begriffs gegenüber neuen Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaft, läßt aber - mangels der Feststellbarkeit solcher neuen gesicherten Erkenntnisse - keinen Zweifel an der Richtigkeit der Begriffskonkretisierung durch§ l Satz 2 StWG: "Demnach stellt der Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts einen unbestimmten Verfassungsbegriff dar, der einen in die Zeit hinein offenen Vorbehalt für die Aufnahme neuer, gesicherter Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften als zuständiger Fachdisziplin enthält. Da indessen nach deren gegenwärtigem Kenntnisstand gesicherte abweichende Erkenntnisse nicht vorliegen, kann zur Konkretisierung dieses Begriffs weiterhin auf die Teilziele des § I Satz 2 StWG zurückgegriffen wer-
den (... )."484 Dies wird umso mehr bestärkt, als das Gericht vorher auf das Konjunktursteuerungskonzept eingeht, das Ende der 60er Jahre der Finanzverfassungsreform den Anstoß gab, dann allerdings binnen recht kurzer Zeit in starke Kritik geriet485, und explizit darauf hinweist, daßtrotzdieser wirtschaftswissenschaftlichen Mahnungen der "verfassungsändernde Gesetzgeber ... diese Kritik bislang nicht zum Anlaß für eine erneute Änderung des Grundgesetzes genommen"486 hat. Auch wenn solche Verfassungsänderungen unterblieben, schließe das jedoch nicht aus, daß etwaige neue Erkenntnisse vom Bundesverfassungsgericht im konkreten Sachverhalt berücksichtigt würden. 487 Im Hinblick auf die konkrete Anwendbarkeit der Vorgabe aus Art. 109 Abs. 2 GG äußert sich das Gericht zurückhaltend; es spricht den dynamischen Charakter des Gleichgewichtsziels an, ebenso das Spannungsverhältnis der Teilziele, die Voraussetzung der Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit seiner möglichen Störung in Art. 115 Abs. I Satz 2 GG sowie die wichtigere Bedeutung der Entwicklung der Gleichgewichtskomponenten als die ihrer aktuellen Datenlage.488 Insgesamt stellt es die für die Praxis mangelnde Tauglichkeit dieser
484
BVerfGE 79, 311 (338 f.).
485
Vgl. oben 4. Teil, 2. Kap., lll., 1., b) sowie 4. Teil, 2. Kap., VII., 2., a).
486
BVerfGE 79, 311 (336).
487 BVerfGE 79, 311 (335 ff.). 488 BVerfGE 79, 311 (339): Zu beachten sei, " ... daß das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht dynamisch zu verstehen ist( ...). Es meint nicht die volle und nachhaltige
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
167
Vorschrift fest und schlägt im Zusammenhang mit dem dortigen Kontext gebotener Überdenkung des "Investitions"-Begriffs die Prüfung einer weiteren gesetzlichen Konkretisierung der Regelung des Art. I 09 Abs. 2 GG vor: "Diese nonnative Vorgabe hat sich allerdings in der Praxis als zu unbestimmt erwiesen, um aus sich heraus vollziehbar zu sein.... Im Zusammenhang mit dem Regelungsauftrag aus Art. 115 Abs. l S. 3 GG wird auch zu prüfen sein, wie weit eine nähere gesetzliche Konkretisierung der Vorgaben des Art. 109 Abs. 2 GG ... geboten ist. "489
3. Bemerkungen zur Staatsverschuldungs-Entscheidung und ausgebliebene Veränderungen
Die "Vorbehalts-Formel" des Verfassungsgerichts läßt unbestimmt, ftlr welche Art von neuen Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaft der Vorbehalt gilt, ftlr welche Art von Erkenntnissen der Begriff also letztlich offen ist; 490 es bleibt insbesondere fraglich, ob das Gericht auch eine völlig neuartige Begriffsinterpretation auf Zielebene als zulässig anerkennen würde, oder ob der Begriff lediglich filr neue Erkenntnisse über die geeigneten Mittel zur Erreichung des bestehenden, aber letztlich doch durch die Verfassung zu interpretierenden Zielbegriffs offen ist. Nach der Bestätigung der inhaltlichen Ausftlllung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch die Teilziele des § 1 Satz 2 StWG in dieser 1989 datierenden Entscheidung wurde die Thematik seitens des Gerichts nicht mehr explizit aufgegriffen; insbesondere hat es auch nicht die ftlr sich proklamierte Möglichkeit in Anspruch genommen, bei als verändert erkanntem wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisstand und ausbleibender Änderung durch den Gesetzgeber durch seine Rechtsprechung die Verfassung oder auch einfaches Gesetz entsprechend neu auszulegen, obwohl sich allein schon in den Erreichung aller Teilziele zugleich, sondern eine relativ-optimale Gleichgewichtslage in der Realisierung der Teilziele, die untereinander in einem Spannungsverhältnis stehen können und oftmals nicht ohne wechselseitige Abstriche realisierbar sind."; die Inanspruchnahme der Ausnahmevorschrift des Art. 115 Abs. l Satz 2 GG sei nur "dann gerechtfertigt, wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört ist oder eine solche Störung unmittelbar droht; ftlr die Annahme einer solchen Störungslage kommt es weniger auf die zu einzelnen Komponenten gegebenen Daten als auf die darin erkennbare Entwicklungstendenz an.". 489
BVerfGE 79, 311 (354 f.), (Hervorh.d.Verf.).
Vgl. so auch K. Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: HStR. Bd. IV, 1990, § 87, Rn. 16. 490
168
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Entscheidungen zur Maastricht-Kiage sowie vor allem im Euro-Beschluß genügend Anlaß zu entsprechenden Stellungnahmen gefunden hätte. Zu der vom Gericht angeregten Überdenkung der rechtlichen Regelungen zum Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht und einer dann gegebenfalls notwendigen Änderung kam es auch seitens des Gesetzgebers nicht; vielmehr bekräftigte er die Lage nochmals mit seiner Zustimmung zum Staatsvertrag mit der DDR. der in § 11 Abs. 2 Satz 1 die Ziele des Stabilitätsgesetzes - wortgleich - ausdrücklich als verbindlich erklärt. 491 Auch das Zustimmungsgesetz zum Maastrichtvertrag, dessen Art. 2 Bezug auf Art. 109 Abs. 2 GG nimmt, hätte mehr als eine Gelegenheit zu einer Modifikation gegeben. 492 Es ist deshalb offenbar nach wie vor von einer Interpretation des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Sinne des Zielkonglomerats des § 1 Satz 2 StWG auszugehen.
V. Das Zielsystem des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im einzelnen I. Die Teilziele des§ I Satz 2 StWG Nachdem das überwiegende Schrifttum wie auch das Bundesverfassungsgericht nach wie vor ftir das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auf den Zielkanon aus Preisniveaustabilität, hohem Beschäftigungsstand, aussenwirtschaftlichem Gleichgewicht sowie stetigem und angemessenem Wachstum abstellt, darf eine Auseinandersetzung mit diesem Zielsystem, seinen Teilzielen sowie deren Verhältnis zueinander nicht außen vorbleiben - dies insbesondere auch im Hinblick auf die im Fünften Teil erfolgende vergleichende Betrachtung der wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, wo u.a. die gelegentlich vorgeschlagene Möglichkeit einer europarechtlichen Auslegung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erörtert wird. Dabei stehen im folgenden Abschnitt eher "technische" Aspekte volkswirtschaftlicher Prägung im Vordergrund, da Wesentliches zu der elementaren Bedeutung von Geldwertstabilität, Beschäftigung und Wachstum fiir Freiheit und Selbständigkeit schon oben behandelt wurde.
491
BGBI. II 1990, S. 537.
492
Siehe dazu ergänzend auch unten 5. Teil, 3. Kap., Ill.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
169
a) Allgemeines zum Zielsystem und seinen Teilzielen Aus rechtswissenschaftlicher Sicht beschäftigte sich hauptsächlich die damalige Literatur - aktuellere Beiträge blieben weitgehend aus - näher mit dem sogenannten "Magischen Viereck"493 des § 1 StWG494, das seine "Magie" in tatsächlich vorhandenen und vermeintlichen Kontlikten495 gleichzeitig zu verfolgender Zielelemente entfaltet. In einem "ökonomischen Kräfteparallelogramm"496 oder als "vierdimensionaler Gestaltungsraum" 497 liefert es dem Text nach zweifellos die entscheidenden Kriterien zur Gestaltung wirtschafts- und finanzpolitischer Maßnahmen, im Hinblick auf die oben begrUndete Auslegungsfunktion des § I Satz 2 StWG aber auch das nähere Verständnis filr das allgemeine wirtschaftspolitische Staatsziel des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts des Art. 109 Abs. 2 GG. Diese Zielvorstellungen bilden auch heute noch allgemein anerkannte Ziele der Wirtschaftspolitik. 498 Als operationalisierbare ökonomische Größen fungieren sie zum einen als Zielsetzung und zum anderen- nach Festlegung qualifizierter Quantifizierung - auch als Maß filr die Zielerreichung. Dabei können und müssen sie als Materialisierungen der einfachgesetzlichen Zielvorgabe "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" filr die Anwendung des Stabilitätsgesetzes inhaltlich stellenweise etwas anders gese493 A. Möller, StWG, § 1, Rn. 8, 12, dagegen erkannte aufgrund der Fonnulierung "bei" eine Sonderrolle des Wachstums und deshalb nur ein "magisches Dreieck" neben dem Wachstum und somit insgesamt eine zweifache Zielsetzung; vgl. so auch E. Stachels, Das Stabilitätsgesetz im System des Regierungshandelns, 1970, S. 3 ff.; fraglich ist, wie bei einer solchen Sichtweise der Regierungsentwurf eingeordnet hätte werden müssen, der (lediglich) die "Wahrung des Geldwertes bei ..." vorsah. 494 Vgl. umfassender zu den folgenden Ausführungen über die Teilziele insb. K.-H. Hansmeyer, in: Stern!Münch/Hansmeyer, StWG, S. 122 ff., und Th. Sponheuer, Probleme des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Institut Finanzen und Steuern e.V., Bonn, Heft 95, 1970, S. 19 ff.; signifikanter Weise wird den Teilzielen Preisstabilität und Beschäftigung wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem Wachstum, vor allem aber als dem außenwirtschaftliehen Gleichgewicht; dies hängt schlichtweg damit zusammen, daß Preisstabilität und Beschäftigung als neoklassische Stabilitätsziele (dazu D. Casse/IH. J. Thieme, Stabilitätspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 379 f .)) über einen deutlich höheren Grad an Eigenständigkeit verfUgen. 495
Siehe dazu unten 4. Teil, 2. Kap., V., 2.
496
D. Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff. (S. 372).
497 H. Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatliehen Finanzverfassung, in: Probleme des Finanzausgleichs I, Schriften des Vereins für Socialpolitik 96/1 (1978), S. 135 ff. (S. 156). 498 Mit am aktuellsten A. Woll, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 13., überarb. und erg. Aufl., 2000, S. 82 ff; P. A. Samue/son/W. D. Nordhaus, Volkswirtschaftslehre, 8. Aufl., 1987, S. 141 ff.
170
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
hen werden als in ihrer Funktion zur Auslegung des Verfassungsbegriffs "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht". 499 Die Elemente dieses Zielkanons gelten mangels weiterer gesetzlicher Erklärung der herrschenden Meinung nach als unbestimmte Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum.500 Um ft1r die Wirtschaftspolitik insgesamt nicht nur sehr grundsätzliche und langfristige, recht abstrakte Aspekte des Staatsziels Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, sondern vor allem konkrete operative Ziele darzustellen und zugleich Maßgröße ft1r den Zielerreichungsgrad sein zu können, bedürfen alle vier Teilziele einer Operationalisierung. Sie erfordert zunächst die politisch vorzunehmende qualitative Auswahl einer oder mehrerer "technischer" Kennzahlen ft1r jedes der Teilziele und schließlich die Festlegung entsprechender quantifizierter Werte. Das Bundeswirtschaftsministerium hat so im durch § 2 StWG jährlich geforderten Jahreswirtschaftsbericht 1968 Zieldefinitionen ft1r die Jahre bis 1971 aufgestellt, die Zielwerte ft1r bestimmte Zielkennzahlen umfaßten. Sehr schnell erwiesen sich jedoch diese sehr anspruchsvollen Zielquantifizierungen als nicht erreichbar, weswegen in der Folge auf solche mittelfristigen Zieldefmitionen verzichtet und das Soll der jährlichen Zielprojektionen stärker dem voraussichtlichen Ist der wirtschaftlichen Lage angepaßt wurde, die dadurch an Zielcharakter einbüßten; zusätzlich ging man bisweilen von Einzelwerten zu Zielkorridoren, sogenannten "Toleranzmargen", über. 501 Um Mißverständnissen vorzugreifen: Die Operationalisierung der Teilziele ist Aufgabe der Politik, nicht Bestandteil der Gesetzgebung. Sie dient dem operativen Zweck des Stabilitätsgesetzes. Sie gehört jedoch sicherlich nicht zum Begriffskern des Verfassungsziels Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, in dem das soziale Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität seinen Niederschlag findet. Insofern bedeutet eine Verfehlung solcher Zieloperationalisie499 So etwa insb. im Falle des Teilziels "hohe Beschäftigung"; siehe dazu unten 4. Teil, 2. Kap., V., 1., c). 500 Vgl. v.a. K. Stern, in: Stern!Münch/Hansmeyer, StWG, S. 146; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. I 079; M. Wiebel, Wirtschaftslenkung und verwaltungsrechtlicher Rechtsschutz des Wirtschafters nach dem Erlaß des Stabilitätsgesetzes, res publica- Beiträge zum öffentlichen Recht, hrsg. v. E. Forsthoff, Band 23, 1971, S. 73 ff.; D. Müller-Römer, Zur rechtlichen Tragweite von§ I des Stabilitätsgesetzes, DÖV 1969, S. 703 ff. (S. 703); siehe auch unten 4. Teil, 2. Kap., VI.; zur Kritik am Begriff des "unbestimmten Rechtsbegriffs" siehe oben S. 25, Fn. 73. 501 Vgl. D. Cassel/H. J Thieme, Stabilitätspolitik, in : D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 377 ff., aufS. 378 mit den einzelnen Zielprojektionen und Ist-Werten bis 1998).
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
171
rungen auch nicht automatisch eine Verletzung des Staatsziels, geschweige denn des Verfassungsprinzips. Eine solche Verfehlung kann allerdings - vor allem wenn sie sich als langfristig und/oder quantitativ sehr auffiillig erweistHinweis fiir die nicht vorhandene Einhaltung und - vorgelagert - möglicherweise auch fiir die ausbleibende Verfolgung des Staatsziels geben. Sie erfordert dann eine umfassendere, die bloße Betrachtung der Zieloperationalisierungen deutlich übersteigende Analyse.
b) Stabilität des Preisniveaus aa) Grundlegende Aspekte
Volkswirtschaftlich steht die Preisniveaustabilität fUr das Verhältnis von monetärer Nachfrage zu potentiellem Gesamtangebot im fraglichen Währungsgebiet. Das Bundesverfassungsgericht stellte ihren Stellenwert im MaastrichtUrteil mit den Worten heraus, sie sei "allgemeine ökonomische Grundlage fUr die staatliche Haushaltspolitik und fiir private Planungen und Dispositionen bei der Wahrnehmung wirtschaftlicher Freiheitsrechte"502 • Abgesehen von den oben besprochenen Überlegungen zur Bedeutung der Preisstabilität fiir freiheitliche Selbständigkeit liegt in ihr nämlich erstens eine konstituierende Voraussetzung fiir das Funktionieren jeder marktwirtschaftlich basierten Ordnung, da sinkende Preisstabilität, also ein Sinken der Kaufkraft des Geldes, die Allokationseffizienz des Marktes durch Preisverzerrungen verschlechtert. Dementsprechend meint Preisniveaustabilität auch nicht die Konstanz einzelner Preise, weil die den Markt kennzeichnenden Produktivitäts- und Kostenverschiebungen sich im Markt gerade in der Veränderung der Preise abbilden - die Lenkungsfunktion des Preises - , sondern die Konstanz eines auf möglichst geeignete Weise zu bildenden und im Zeitverlauf beizubehaltenden Preisdurchschnitts. 503 Die gebotene Flexibilität von Einzelpreisen wird von rechtlicher Seite her gestützt durch das Nominalwertprinzip, das im Gegenzug
502
BVerfGE 89, 155 (209).
Vgl. K.-H. Hansmeyer, in: Stem!Münch/Hansmeyer, StWG, S. 122 f. ; auch H. H. v. Arnim, Volkswirtschaftspolitik, 6., überarb. Aufl., 1998, S. 148 f.; A. Woll, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. und erg. Aufl., 1992, S. 166 f. 503
172
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
wiederum Preisniveaustabilität um so mehr erfordert und den Staat zu einer Politik der Preisstabilität verpflichtet. 504 Zweitens birgt sie eine enorme soziale Komponente, da sinkende Kaufkraft verschiedene gesellschaftliche Gruppen ungleich betrifft und somit "typische Verlierergruppen"505 generiert. Nachteilig wirkt sie sich in besonderer Weise auf Geldvermögen gegenüber Sachvermögen aus, d.h. sie filhrt zur weiten Benachteiligung derer, die häufig aufgrundschwächerer Einkommens-verhältnisse zur Bildung von Sachvermögen nicht oder nur geringfilgig in der Lage sind, was auch besonders im Hinblick auf Vorsorgeanstrengungen von Bedeutung ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn jenes Sachvermögen fremdfmanziert wird; denn steigende Inflation als reziproker Ausdruck sinkender Preisstabilität entlastet real Geldschuldpositionen, entwertet dagegen real Geldgläubigerpositionen, was im übrigen auch filr den Staat im Falle der Staatsverschuldung zutrifft. Ferner trifft sie nachteilig alle im Vergleich zur Preisniveauflexibilität weniger anpassungsfli.higere Einkommenspositionen, so also etwa die der Rentner oder Sozialhilfeempfänger ("negative Redistributionswirkung"). 506
504 V gl. zum Nominalwertprinzip und Preisstabilität v.a K. Schmidt, Die Rechtspflicht des Staates zur Stabilitätspolitik und der privatrechtliche Nominalismus, in: FS zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft, 1984, S. 665 ff. (S. 677 m.w.N., 683) ("Geldwertstabilität ... sorgt dafilr, daß der gesamte Privatrechtsverkehr dem Nominalwertpinzip folgen kann."; "Jedenfalls ist es der Legitimationszusammenhang zwischen Währungsrecht und Nominalismus, der den Staat zur Stabilitätspolitik anhält."); R. Schmidt, Geld und Währung, in: HStR, Bd. 111, 1988, § 82, Rn. 9 f. m.w.N.; umfassend zum Nominalismus H. J. Hahn, Währungsrecht, 1990, S. 77 ff.; zum Nominalwertprinzip als vermeintliches Verfassungsprinzip BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluß v. 15.12.89-2 BvR 436/88 ("Zweitwohnungssteuer"): kein Verfassungsprinzip, nur tragendes Ordnungsprinzip der geltenden Währungsordnung und Wirtschaftspolitik (dazu auch BVerfGE 50, 57 (92) m.w.N.); K. VogeliCh Waldhojf. Vorbem. zu Art. 104a-115, in: BK, GG, Rn. 308. 505 B. Molitor, Die schleichende Inflation und ihre Verlierer, in: Arbeit und Sozialpolitik 1973, S. 285 ff. (S. 289). 506 Vgl. v.a ausftlhrlich M. Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977, S. 108 ff.; R. Schmidt, Geld und Währung, in: HStR, Bd. 111, 1988, § 82, Rn. 11; D. Cassel, Inflation, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. I, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 287 ff. (S. 338 f. ); vgl. auch Originalschrift der Euro-Klage vom 12. 1. 1998, S. 47; einzuräumen ist sicherlich, daß die Verteilungswirkung von Inflation durch Anpassungsklauseln in vielen Einkommenspositionen etwas zurückgegangen sind; dahingehend Helmut Wagner, Stabilitätspolitik, 5. überarb. und erw. Aufl., 1998, S. 18.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
173
Des weiteren steht Preisstabilität im Widerspruch zum Streben nach Eigennutzen des einzelnen Marktteilnehmers - der Einzelne trägt aktiv nichts zur Preisniveaustabilität bei -, so daß sie den Charakter eines öffentlichen Gutes annimmt, das seitens des Staates bestmöglich zu gewähren ist. 507 Ergänzend wies Hansmeyer damals zu Recht darauf hin, daß ftir die Preisstabilität in der Gesellschaft besonders im Vergleich zum (vermeintlich konfliktären) Beschäftigungsziel deutlich geringere direkte und organisierte Durchsetzungsinteressen vorhanden wären, was heute angesichts der sinkenden Einflußmöglichkeiten der Gewerkschaften und der steigenden Rate der Geldvermögensbesitzer allerdings vermutlich nicht mehr in dieser Weise zu sehen ist.508 bb) Preisniveaustabilität, Geldwert- und Währungsstabilität
Preisniveaustabilität wird häufig ohne jede Differenzierung mit Geldwertstabilität/-erhaltung oder Währungsstabilität gleichbedeutend verwandt. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht bemerkte aber bereits Scheuner, daß letztere "nicht ohne weiteres mit dem Zielelement der Preisstabilität gleichzusetzen" seien; 509 denn Preisniveaustabilität weist lediglich einen Binnenbezug auf, sie umfaßt begrifflich zunächst nur die Stabilität der Preise innerhalb des Währungsgebietes, die "interne Stabilität". 510 Insofern ist sie zu unterscheiden von der Geldwertstabilität und insbesondere von der Währungsstabilität, die sowohl die interne Erhaltung der Kaufkraft, als auch die Wahrung des Außenwerts der Währung, also die "externe Stabilität", umschließen. Angesichts dieser Unterscheidung wurde der Regierungsentwurf zum Stabilitätsgesetz auch entsprechend von der weiteren "Wahrung des Geldwertes" auf die engere "Stabilität des Preisniveaus" reduziert. 511 Wenngleich eine solche Differenzierung im 507
Vgl. K.-H. Hansmeyer, in: Stem!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 123.
508
Vgl. auch H. H. v. Arnim, Volkswirtschaftspolitik, 6., überarb. Aufl., 1998,
s. 161 f.
509 U. Scheuner, Die Erhaltung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Der verfassungsrechtliche Auftrag zur aktiven Konjunkturpolitik, in: E. Schiffer/ H. Karehnke (Hrsg.): Verfassung, Verwaltung, Finanzkontrolle. FS filr H. Schäfer zum 65. Geburtstag, 1975, S. 109 ff. (S. 120). 510 So auch U. Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, S. 161; wohl ebenso P. Kirchhof Das Geldeigentum, in: FS W. Leisner, 1999, S. 635 ff. (S. 644 ff.), der Geldwert in Binnen- und Außenwert aufteilt.
511 Vgl. A. Möller, StWG, § I, Rn. 5 und 9; R. Zuck, Die globalgesteuerte Marktwirtschaft und das neue Recht der Wirtschaftsverfassung, NJW 1967, S. 130 I ff. (S. 1302, Fn. 16); W Patzig, Verfassungsrechtliche Betrachtungen zum Entwurf eines "Stabilisierungsgesetzes", DVBI. 1966, S. 672 ff. (S. 673).
174
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Hinblick auf begriffliche Auslegungsmöglichkeiten512 sowie vor allem den volkswirtschaftlich zu erklärenden Zusammenhang von Binnen- und Außenwert des Geldes513 nicht unbedingt nachvollziehbar sein mag, so kann sie doch begründet werden und mag auch in anderen Rechtstexten außer dem Stabilitätsgesetz bewußt in Abgrenzung zur umfassenderen Geldwert- oder zur Währungsstabilität gewählt sein. Als Zielkriterium filr den operativen Zweck des Stabilitätsgesetzes ist aufgrund der nachweisbar beabsichtigten Beschränkung auf den internen Aspekt sicherlich Preisniveaustabilität in diesem engen Sinne zu verstehen. Dies trifft jedoch nicht zwingend auch filr die Auslegungsfunktion des Teilziels ftir das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zu. cc) Operationalisierung und Quantifizierung
Wie filr die anderen drei Zielkomponenten gibt es auch filr die Preisniveaustabilität keine allgemeingültige Bemessung und schon deshalb auch keine verbindliche Quantifizierung. 514 Bei der Bestimmung der Maßgröße ist auf die jeweils aktuelle Handhabung zu verweisen, solange diese nicht offensichtlich filr die Abbildung der Preisniveaustabilität ungeeignet erscheint. Zunächst war und bleibt unstrittig, daß hierfilr güterkorbbasierte Preisindizes sinnvoll anzuwenden sind. 515 In Abhängigkeit der Bildung des jeweiligen Güterkorbs gibt es dementsprechend verschiedene Indizes unterschiedlicher Indikation. Die herrschende Meinung bemüht hier wegen der sozialen Bedeutung der Preisniveaustabilität in der Regel den Preisindex fiir die Lebenshaltung aller privaten Haushalte, der zu den einzelnen Bürgern die größte Nähe aufweist. 516 Für die 512 So mag "Preisstabilität" vielleicht auch den Außenwert der Inlandswährung als deren Preis interpretieren und somit ebenfalls dessen Konstanz beinhalten. 513 Vgl. etwa J. Siebert, Zu den Voraussetzungen der Europäischen Währungsunion, 1997, S. 5; W. Harbrecht, Zur Geldwertstabilität des Euro- Chancen und Risiken, in: W. J. Mückl (Hrsg.): Die Europäische Währungsunion -Probleme und Perspektiven, 2000, S. 49 ff. (S. 71); W Hanke!, Euroland darf weder Wechselkurs noch Zins vernachlässigen, in: HB vom 9. 3. 1999; insb. bringt zumindest mittelfristig ein permanent sinkender Außenwert "importierte Inflation".
514 So etwa R. Zuck. Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 134 f.; Th. Maunz, Art. 109, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 29; K.-H. Hansmeyer. in: Stern/ Münch/Hansmeyer, StWG, S. 125. 515 Eine Auswahl bieten die Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, die folgende Indizes auffiihren: Index filr Erzeugerpreis gewerblicher oder landwirtschaftlicher Produkte, Index filr Lebenshaltung aller privaten Haushalte, Außenhandelspreisindex; vgl. dazu auch etwa J. End/er, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998, s. 65 ff. 516 Vgl. z.B. H. H. v. Arnim, Volkswirtschaftspolitik, 6., überarb. Aufl., 1998, S. 144 f.; Th. Sponheuer. Probleme des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Institut
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
175
Beurteilung dessen Entwicklung erweist sich aber die Beobachtung anderer, früher reagierender Indizes, etwa des Index fUr Erzeugerpreise, als sinnvoll. Im Hinblick auf die quantitative Ausprägung ist sicherlich nicht von der Stabilitätszielvorstellung eines absoluten Gleichbleibens des Preisniveaus, also einer Inflationsrate von 0 %, auszugehen; vielmehr geht es um die Verhinderung eines starken Preisanstiegs, der entsprechende Marktverzerrungen und unsoziale Verteilungsveränderungen nach sich zöge.m Bei welchem Wert diese kritische Inflationsrate jedoch exakt liegt, ergibt sich aus der politischen Meinungsbildung, die in unterschiedlichen wirtschaftlichen Situationen grundsätzlich, d.h. bis zu einer gewissen offensichtlichen Grenze, unterschiedlich sein kann. Für die ursprünglichen und seit I973 in den Jahreswirtschaftsberichten nicht mehr erscheinenden Zieldefmitionen bis zum Jahr I97I sah die Bundesregierung so nach ihren damaligen Vorstellungen noch eine Inflationsrate von maximal I % vorm. Der folgenden Anpassung an realistischere Daten entsprechend stiegen aber dementgegen die Zielprojektionen Jahr fUr Jahr, bis zu ihrem Höhepunkt im Jahr 1974 - 8 bis 9 % - analog des faktischen Inflationsverlaufs an. Bis zu Beginn der Währungsunion am I. I. I999 bewegten sich die Inflationsraten und -projektionen ab I990 bei bis zu 2,0 %.519 Die Bundesbank entwickelte im Laufe der Zeit eine Preisstabilitätsvorstellung von 2 %, der sich mittlerweile auch die Europäische Zentralbank anschloß. 520
Finanzen und Steuern e.V., Bonn, Heft 95, 1970, S. 19 ff.; trotzder Hinweise auf die Unterscheidung von Preisstabilität zur Geldwert- oder Währungsstabilität findet sich an keiner Stelle eine Thematisierung einer möglichen Kennzahl, in der sich Binnen- und Außenstabilität abbilden lassen. Hier müsste an eine Kombination einer Indexbetrachtung mit der Entwicklung des Außenwerts, gemessen an Devisenkursen, gedacht werden. 517
Vgl. H. H. v. Arnim, Volkswirtschaftspolitik, 6., überarb. Aufl., 1998, S. 144.
Basierend aufdem Preisindex des Bruttosozialprodukts; BTDrs. V/2511 Anlage 1; A. Möller, StWG, § 1, Rn. 9. 518
519 Vgl. zum Verlauf der Preisniveaustabilität gemäß der Jahreswirtschaftsberichte die Übersicht bei D. Cassel/H. J. Thieme, Stabilitätspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 378).
520 "Preissstabilität wird definiert als Anstieg des harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) filr das Euro-Währungsgebiet von unter 2 %gegenüber dem Vorjahr."; vgl. dazu m.N. W. Harbrecht, Zur Geldwertstabilität des Euro - Chancen und Risiken, in: W. J. Mückl (Hrsg.): Die Europäische Währungsunion - Probleme und Perspektiven, 2000, S. 49 ff. (S. 62 f.).
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
c) Beschäftigung
aa) Weites Begriffsverständnis Das Teilziel des "hohen Beschäftigungsstands" wirft erstens die Frage nach dem auf, was unter "Beschäftigung" letztlich zu verstehen ist, sowie zweitens die Frage danach, was denn "hoch" sei. Die Aufnahme des Beschäftigungsziels in den wirtschaftspolitischen Zielkanon ergibt sich zwangsläufig aus der oben erörterten Zentralität der Arbeit im weiten Sinn filr den Einzelnen; ihm liegt auch eine wohlfahrtsökonomische Begründung zugrunde. Die herrschende Meinung geht richtig davon aus, daß sich der Beschäftigungsaspekt auf alle Produktionsfaktoren - Arbeit (i.e.S.), Boden und Kapital - der Gesamtwirtschaft richtet und somit einem umfassenden Verständnis unterliegt. 521 Determiniert wäre er so durch das Verhältnis der beschäftigten Produktionsfaktoren zu ihrer (beschäftigten und unbeschäftigten) Gesamtheit.
bb) Operationalisierung durch Arbeitslosenquote und Quantifizierung Für die Operationalisierung steht jedoch der Produktionsfaktor Arbeit i.e.S. abhängiger Beschäftigung stellvertretend filr die beiden übrigen Faktoren im Vordergrund, da filr ihn zum einen ausreichende Signifikanz filr die Auslastung der Gesamtwirtschaft angenommen wird und er zum anderen hinsichtlich der Meßbarkeit im Vergleich zu einer "Gesamtbeschäftigung" oder auch nur den einzelnen Faktoren Boden und Kapital quantitativ-ökonomisch am einfachsten zu handhaben ist. Darüber hinaus ist dieses operational-reduzierende Vorgehen auch mit der breiteren sozialen Relevanz der abhängigen Arbeit zu rechtfertigen.522 Als Maßstab dient- wie im Fall der Preisstabilität die Inflationsrate als Negativausdruck - die Arbeitslosenquote, die das Verhältnis der gemeldeten Arbeitslosen zur Gesamtzahl (abhängiger523 ) Erwerbspersonen abbildet. Für ihre Aussageflthigkeit gelten jedoch bestimmte Einschränkungen, die sich daraus ergeben, daß sie kurzfristige Kompensationen des Arbeitsmarktes, die sich
521 Vgl. dazu K.-H. Hansmeyer, in: Stern/Münch!Hansmeyer, StWG, S. 126 f.; siehe auch oben 3. Teil, 2. Kap., II., 1. 522 Vgl. K.-H. Hansmeyer, in: Stern!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 126 f.; A. Möller, StWG, § I, Rn. 10; a.A. wegen klar abzugrenzender Begriffspaare Kapital- Auslastung, Boden -Nutzung, Arbeit- Beschäftigung, Th. Sponheuer, Probleme des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Institut Finanzen und Steuern e.V., Bonn, Heft 95, 1970, s. 23. 523 In den Jahreswirtschaftsberichten bis 1990 auf Basis abhängiger, ab 1991 aller Erwerbspersonen.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
177
nicht auf den Beschäftigungsstand auswirken, so vor allem Kurzarbeit und Überstunden, aber auch überflüssige Arbeitsverhältnisse (unemployment on the job) unberücksichtigt lassen muß. Ferner hängt ihre Aussagefähigkeit fundamental von der Berücksichtigung des Ausländeranteils, dem Registrierungsverhalten der Arbeitslosen und den Erfassungsinstrumenten filr die Zahl der Erwerbstätigen ab. 524 So wenig wie filr die Höhe der Inflationsrate ein rechtlich verbindlicher Richtwert existiert, liegt ein solcher filr die Arbeitslosenquote vor. Jedenfalls ging das Bundeswirtschaftsministerium Ende der 1960er Jahre schon ab einer Arbeitslosenquote von über 0,8 % - ein zu heutigen Verhältnissen geradezu unvorstellbarer Wert- von einer Verfehlung des Teilziels aus. 525 Spätere ähnliche Äußerungen über die Erreichung des Teilziels bei einem bestimmten Wert blieben durch den Verzicht auf die mittelfristigen Zieldefiitionen aus, die Zielprojektionen jedoch stiegen kontinuierlich - mit Ausnahme der deutlichen Verbesserung der Beschäftigungslage anfang der l990er Jahre- auf nunmehr bis über I 0 % an. 526 cc) Unterbeschäftigungsarten und ihre Relevanz für die einfachgesetzliche und verfassungsmäßige Zielsetzung
Des weiteren verlangen die unterschiedlichen Arten von Arbeitslosigkeit Berücksichtigung. Im wesentlichen sind hier konjunkturelle, strukturelle sowie saisonale und friktioneile Arbeitslosigkeit zu differenzieren.m Vor diesem Hintergrund ist auch der Begriff "Vollbeschäftigung" zu verstehen, die nach allgemeiner Auffassung bereits dann vorliegt, wenn zwar noch ein gewisser Grad an friktionell, saisonal und/oder strukturell zu begrUndender Arbeitslosig524 Vgl. dazu etwa W Lachmann, Volkswirtschaftslehre I, 3. überarb. und erw. Aufl., 1997, S. 207 ff.; zu Meßproblemen im internationalen Vergleich kurz U. Teichmann, Grundriß der Konjunkturpolitik, 5., verb. und erw. Aufl., 1997, S. 120 f
525 Vgl. BTDrs. V/2511, S. 23, sowie die Angaben bei K.-H. Hansmeyer, in: Stern!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 128, und A. Möller, StWG, § I, Rn. 10; D. Casse//H. J. Thieme, Stabilitätspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 377). 526 Zur Entwicklung der Beschäftigungslage vgl. abermals D. Casse/IH. J. Thieme, Stabilitätspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 378).
521 Vgl. z.B. dazu P. A. Samuelson!W. D. Nordhaus, Volkswirtschaftslehre, 8. Aufl., 1987, S. 344 f, oder D. Casse/IH. J. Thieme, Stabilitätspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 381 f.). 12 Hiinsch
178
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
keit besteht, jedoch keine konjunkturell bedingte Unterbeschäftigung des Faktors Arbeit. Hansmeyer sieht in seiner Komrnentierung aufgrundder konjunkturpolitischen Ausrichtung des Stabilitätsgesetzes das Beschäftigungsteilziel ebenfalls lediglich auf konjunkturelle Arbeitslosigkeit bezogen.528 Abgesehen davon, daß die quantitative Differenzierungsanalyse der unterschiedlichen Unterbeschäftigungsarten die Wirtschaftsforscher vor sehr hohe Schwierigkeiten stellt, spricht die ausdrückliche Einbeziehung der Wachstumsorientierung in die Zielsetzung des Stabilitätsgesetzes, welche somit auch strukturpolitische Überlegungen verlangt, gegen eine solche Sichtweise. In bezug auf das Beschäftigungsteilziel als Auslegungsbestandteil des Staatsziels Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht muß der hohe Beschäftigungsstand sich nicht nur auch, sondern im Hinblick auf langfristige Wirkungen vor allem ebenfalls auf strukturelle Arbeitslosigkeit beziehen.
d) Außenwirtschaftliches Gleichgewicht Als drittes Teilziel nennt § I Satz 2 StWG das "außenwirtschaftliche Gleichgewicht", ftlr das im Gegensatz zu den anderen drei Aspekten Preisniveaustabilität, Beschäftigung und Wachstum im Dritten Teil keine Beziehung zum sozialprinzipinhärenten Selbständigkeitsgebot hergestellt wurde. Seine Einbindung in das Zielkonglomerat stellt eine Konsequenz des Umstands dar, daß außenwirtschaftliche Beziehungen mit anderen Staaten und die dort in aller Regel stattfmdende Arbeitsteilung nur erfolgreich sein können, wenn sie zumindest annähernd ausgeglichen sind und somit keine eklatanten Abhängigkeitsverhältnisse entstehen.529 Vereinfacht ausgedrückt stellt es darauf ab, daß der gesamte Export und der gesamte Import an Waren, Dienstleistungen und Kapital sich die Waage halten sollen. Zum Ausdruck kommt dies in einer (allerdings ex definitione) "ausgeglichenen Zahlungsbilanz", von deren faktischen Ausgeglichenheit man nur bei wiederum ausgeglichenen Teilbilanzen (Leistungsbilanz, Vermögensübertragungen, Kapitalverkehrsbilanz, Devisenbilanz) spricht. 530 Aufgrund der Diffizilität der Zahlungsbilanztheorie und ihrer prakti528
Vgl. K.-H. Hansmeyer, in: Stem!Münch/Hansmeyer, StWG, S. I27.
Vgl. etwa W Lachmann, Volkswirtschaftslehre I, 3. überarb. und erw. Aufl., I997, s. 227. 529
530 Dazu z.B. W Lachmann, Volkswirtschaftslehre I, 3. überarb. und erw. Aufl., 1997, S. 285 ff.; H. Friedrich, Grundkonzeptionen der Stabilisierungspolitik. Eine problemorientierte Einftlhrung, I. Aufl., 1983, S. 26 ff.; Wechselkurse und damit die Frage der Entwicklung des Außenwerts der heimischen Währung spielen insofern eine Rolle, als sie über die monetäre Bewertung der Außenhandels- und Kapitalströme in die Teilbilanzen hineinwirken.
2. Kap.: Der V erfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
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sehen Ausfilllung besteht keine einhellige Meinung über den richtigen Maßstab fi1r die Beurteilung des Teilziels, zumindest wird eine solche kaum dezidiert vertreten. Die Jahreswirtschaftsberichte greifen seit 1968 auf den Außenbeitrag, also den Saldo der sich in der Hauptsache aus Handels- und Dienstleistungsbilanz zusammensetzenden Leistungsbilanz, im Verhältnis zum nominalen Bruttosozialprodukt zurück; fi1r die Einhaltung des Teilziels wurde 1968 die Zielprojektion auf 1 % festgelegt. 531
e) Wachstum aa) Wachstum als Wohlstandsindikator- .. angemessen" und .. stetig" Das Wachstums-Kriterium enthält die dynamische und langfristige Komponente des Zielkatalogs des Stabilitätsgesetzes und soll Ausdruck fi1r die stetige Wohlstandsssteigerung im Staat sein. Als- ebenfalls nicht gesetzlich bestimmter- Indikator wird nach allgemeiner Auffassung und der Praxis der Jahreswirtschaftsberichtserstellung folgend das reale Bruttosozialprodukt des Inlands genutztm; Wachstum spiegelt sich dann in der Veränderungsrate dieser Größe, die der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung entspringt. Als Ziel soll diese Rate jedenfalls positiv sein - denn sonst handelte es sich um Stagnieren oder Schrumpfen der Gesamtwirtschaft - sowie "angemessen" und "stetig". Das Adjektiv "angemessen" - von Hansmeyer als aussagelose Leerformel eingeschätzt533 - erscheint in mehrerlei Hinsicht erklärbar und teils notwendig: Wachstum ist im Gegensatz zu den anderen Teilzielen nicht ex ante limitiert, sondern nach oben offen. Für Preisniveaustabilität existiert dagegen ein bestes Maximum bei einer Inflation von 0 %, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht ist bestens erfilllt bei durch privates wirtschaftliches Handeln voll ausgeglichenen Teilbilanzen und fi1r Beschäftigung ist als Optimalwert ebenfalls eine Arbeitslosenquote von 0% vorgegeben. Insofern ist Wachstum schon in isolierter Betrachtung zu begrenzen und gegenüber den anderen Teilzielen zu relativieren. Ferner könnte "angemessen" auch einen Hinweis auf die gebotene Einbeziehung einer qualitativen Dimension des Wachstum geben, die- wie gleich noch gesagt wird - in herkömmlichen Wachstumsindikatoren nicht enthalten
531 BTDrs. V/2511, Anlage I; auch K.-H. Hansmeyer, in: Stern/Münch!Hansmeyer, StWG, S. 128.
532 Vgl. von Beginn an K.-H. Hansmeyer, in: Stern/Münch/Hansmeyer, StWG, S. 130 f.; A. Möller, StWG, § I, Rn. 12; H. Friedrich, Grundkonzeptionen der Stabilisierungspolitik. Eine problemorientierte Einfilhrung, I. Aufl., 1983, S. 28 ff. 533
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K.-H. Hansmeyer, in: Stern!Münch/Hansmeyer, StWG, S. 133.
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
ist. Das erst mit dem Verabschiedungsentwurf eingefUgte Adjektiv "stetig" dagegen ist leicht durch die beabsichtigte Verstetigung der wirtschaftlichen Entwicklung zu erklären, die durch ein grenzenlos anzustrebendes Wachstum mit entsprechenden Ausschlägen nicht erreicht werden kann. bb) Operationalisierung Es besteht keine Einigkeit darüber, inwieweit das reale Bruttosozialprodukt als eine von mehreren Kennzahlen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung die geeignetste darstellt. Neben diesen filr die Betrachtung der Leistungsfähigkeit der aggregierten Gesamtwirtschaft tauglichen Indikatoren brächte etwa die Herstellung der Relation des Bruttosozialprodukts zur Bevölkerungszahl (reales Bruttosozialprodukt pro Kopf), die das Wohlfahrtsniveau besser aufzeigen kann, filr eine längerfristige Betrachtung höhere Aussagetahigkeit. Entscheidende Nachteile des üblichen Indikators liegen des weiteren in den allgemein bekannten Problemen der Bemessung des marktpreisbewerteten Sozialprodukts534 - etwa fehlende Einbeziehung positiver externer Effekte oder vermeintliche Aufuahme reiner Schweinwertschöpfung - sowie vor allem in seinem rein quantitativen Bezug; denn Wachstum äußert sich zweifellos auch qualitativ. Trotz der Generierung von sogenannten "Sozialindikatoren", die beispielsweise Freizeitwert, Umweltadäquanz oder Alphabetisierungsrate abbilden, steht seitens der zuständigen Nationalökonomie jedoch keine geeignete Operationalisierung filr die Berücksichtigung des qualitativen Aspekts zu VerfUgung. Sie scheitert schon an der Erhebung von adäquaten Qualitätsdaten. 535 Angesichts dieser einsichtigen operationalen Schwäche des Teilziels Wachstums mag wie bereits angedeutet der Zusatz "angemessen" auch als "QualitätsArgument" interpretiert werden. 2. Das Verhältnis zwischen den Teilzielen Das Verhältnis zwischen den einzelnen Teilzielen, Fragen der Rangfolge und etwaiger Zielkonflikte, die letztlich ausschlaggebend dafilr sind, daß diese Frage überhaupt aufkommt, beschäftigten die Basisliteratur zum Stabilitätsge-
534 Vgl. zu Operationalisierungsvarianten E. Dürr. Wachstumspolitik, 1977, S. 9 ff.; W Lachmann. Volkswirtschaftslehre I, 3. überarb. und erw. Aufl., 1997, S. 132 tf. 535 Vgl. dazu W Lachmann. Volkswirtschaftslehre I, 3. Uberarb. und erw. Aufl., 1997, S. 185 f.; auf das System sozialer Indikatoren der OECD verweist H. Friedrich, Grundkonzeptionen der Stabilisierungspolitik. Eine problemorientierte Einfiihrung, I. Aufl., 1983, S. 31 f.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
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setz rege1mäßig. 536 Bei diesen Betrachtungen des bestehenden Textes müssen aber formale von wirtschaftspraktischen oder -theoretischen Überlegungen klar getrennt werden.
a) Formale Gleichrangigkeit aa) Gleichrangigkeil der vier Teilziele
Dem Wortlaut nach sollen Maßnahmen so getroffen werden, "daß sie gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen." Die herrschende Meinung vertritt aufgrund dieses Auftrags, die Zielkomponenten "gleichzeitig'' zu verfolgen, deren grundsätzliche Gleichrangigkeit, 537 was bedeutet: Gleichrangigkeil in ihrer Qualität als Ziele. Mithin ist durchaus einzuräumen, daß aus dem Wort ,,gleichzeitig'' nur eine Gleichzeitigkeit in der Zielverfolgung, nicht aber eine Gleichrangigkeit im Sinne einer unterschiedslos aufgegebenen Intensität der Verfolgung zwingend abzuleiten ist.538 Andererseits wurde jedoch kein Rangunterschied formuliert, weswegen der Annahme der prinzipiellen Gleichrangigkeit zu folgen ist. Hierfllr spricht besonders auch die Intension der Änderung des Regierungsentwurfs, der ursprünglich ja noch einen Vorrang der Preisstabilität und auch kein "gleichzeitig" beinhaltete. 539
536 K.-H. Hansmeyer, in: Stem!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 133 fT.; A. Möller, StWG, § I, Rn. 8; K. Vogel!M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 112 ff. 537 Vgl. K. Vogel/M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 112 ff.; H. Fischer-Menshausen, Art. 109, in: v. Münch!Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 10; R. Zuck, Die globalgesteuerte Marktwirtschaft und das neue Recht der Wirt· schaftsverfassung, NJW 1967, S. 130 I ff. (S. 1303); ders .. Gef!!.hrdung der Ziele des § I StabilitätsG und die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, DÖV 1967, S. 801 ff. (S. 802); P. Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 1971, S. 58; M. Schmidt-Preuß. Plan-Programm und Verfassung - Bemerkungen zu § I Stabilitätsgesetz, DVBI. 1970, S. 535 (S. 536); H. H. Hol/mann. Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 66 ff.; J. Brockhausen, Die rechtliche Bedeutung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und seine Komponenten in § I StabG unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte, Diss. Univ. 1974, Köln o.J., S. 23 ff.; aus privatrechtlicher Sicht K. Schmidt, Die Rechtspflicht des Staates zur Stabilitätspolitik und der privatrechtliche Nominalismus, in: FS zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft, 1984, S. 665 ff. (S. 685 f.). 538
Siehe dazu gleich 4. Teil, 2. Kap., V., 2., c).
So auch R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 63 ff. und I. Münch, in: Stern!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 35. 539
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
bb) Wachstum- formale Sonderstellungja, andere Ranghöhe nein: Stabilität und Wachstum Eine abweichende Sichtweise findet sich im Kommentar von Möller, der scheinbar- wie vereinzelte andere -aus der Formulierung "bei stetigem und angemessenem Wachstum" einen Vorrang fl1r das Wachsturnsziel als ständige Voraussetzung erkennt. 540 Das Wort "bei" mag tatsächlich eine Sonderstellung des Wachstums gegenüber den anderen Teilzielen signalisieren; sie kann jedoch ebenso darin bestehen, daß Wachstum lediglich als bloße Nebenbedingung, somit möglicherweise nicht einmal als eigenständiges Element des Zielkatalogs, geschweige denn als Voraussetzung und damit höherrangiges Zielelement zu verstehen ist. Eine solche Sichtweise fllnde auch Unterstützung im Regierungsentwurf, der die Vorrangstellung der Geldwertstabilität durch deren Erstnennung unter Antllgung des Wortes "bei" (den anderen drei dort nachrangigen Zielen) verdeutlichte. Die "bei"-Verknüpfung der aktuellen Fassung und die darin zum Ausdruck kommende Sonderstellung des Wachstums ist aber schlicht damit begründbar, daß das Wachstumsziel eher langfristige Entwicklungsnatur aufweist und nicht allein durch (tendenziell kurzfristige) konjunkturpolitische Mittel erreicht werden kann, die den Schwerpunkt des Instrumentariums des Stabilitätsgesetzes bilden. Bei deren Einsatz ist es aber - neben den anderen "Stabilitäts-Teilzielen" i.e.S. - ebenfalls und gleichrangig anzustreben. Aufgrund dieser zielartbedingten Sonderstellung des Wachstums lautet der Titel des Gesetzes auch "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachsturns der Wirtschaft". 541
cc) Keine Rangunterschiede durch Adjektivierung Rangunterschiede mit der stellenweisen Hinzutllgung von Adjektiven zu den Zielelementen (so beim Beschäftigungs- und Wachstumsziel) zu rechtfertigen, erscheint dagegen überhaupt nicht eingängig.542 So wird das Beschäftigungsziel 540 Vgl. A. Möller, StWG, § 1, Rn. 8; dazu E. Stachels, Das Stabilitätsgesetz im System des Regierungshandelns, 1970, S. 3 ff.
541 Vgl. auch Jahresgutachten des Sachverständigenrats 1964/65, Vorwort ("die drei Grundziele und das Wachstumsziel"); D. Müller-Römer, Zur rechtlichen Tragweite von § 1 des Stabilitätsgesetzes, DÖV 1969, S. 703 ff. (S. 703 f.) (Wachstum nur als "mittelbares Ziel"); Th. Sponheuer, Probleme des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Institut Finanzen und Steuern e.V., Bonn, Heft 95, 1970, S. 19 (kommt so zum Schluß, "daß nach § 1 Satz 2 StabG Stabilität im Wachstum gefordert ist."). 542 So aber das Prognos-Gutachten (filr Beschäftigung und Wachstum); K.-H. Hansmeyer, in: Stem!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 134, und Th. Sponheuer, Probleme des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Institut Finanzen und Steuern e.V., Bonn, Heft 95, 1970, S. 27 (filr Wachstum).
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
183
durch die unbestimmte Beiftlgung "hoch" nicht nachrangig; die Formulierung ergibt sich nur aus dem Umstand, daß die alternative Zielformulierung "Vollbeschäftigung" durch ihre vermeintliche Absolutheit bei bestimmten Auslegungsabsichten mißverständlich sein und eine klare Vorrangigkeit dieses Ziels nahelegen könnte. Auch die näheren Qualifizierungen des Wachstums, "angemessen" und "stetig", entfalten keine solche Wirkung, sondern sind wie oben geschehen anders zu erklären. Im übrigen wurde die Zielformulierung aus § 2 Satz 2 SVRG deckungsgleich übernommen, dessen Anliegen sicher nicht in einer formulierungsinhärenten Definition von Rangunterschieden der Teilziele lag. dd) Vorrang der Preisniveaustabilität durch Art. 88 Satz 2 GG? Durch die Ergänzung des Art. 88 GG im Rahmen der Vorbereitung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion um Satz 2543, die Voraussetzung ftlr die Übertragung von Aufgaben und Befugnissen der Deutschen Bundesbank auf die Europäische Zentralbank war, hielt der Terminus der Preisstabilität erstmalig Einzug in das Grundgesetz. Daraus wurde bisweilen eine Modifikation des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts insofern abgeleitet, als die bisherige Gleichrangigkeil der Teilziele nunmehr von einer verfassungsmäßigen Vorrangigkeit der Preisniveaustabilität abgelöst werden sollte.544 Die Nennung 543 EingefUgt durch 38. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. 12. 1992, BGBI. I 2086; vgl. zu dieser Änderung D. Janzen, Der neue Artikel 88 Satz 2 des Grundgesetzes, 1996; zum Gesetzgebungsverfahren mit den verschiedenen vorgebrachten Entwürfen zur Änderung des Artikels vgl. H. J. Hahn!V. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 31 ff. 544 So zuletzt unzutreffend M. Herdegen, Art. 88, in: Maun:z/Dürig, GG, Rn. 69 ff., demzufolge "hebt Art. 88 Satz 2 GG die Preisstabilität aus dem Kreis der wirtschaftspolitischen Parameter heraus" und "verschiebt die bisherige Balance im Kräfteparallelogramm des ,gesamtwirtschaft/ichen Gleichgewichts'" des § I Satz 2 StWG; filr die Haushaltspolitik handelte es sich um eine "abgeschwächte Dominanz" (Hervorh.i.Orig.); ders., Price stability and budgetary restraints in the Economic and Monetary Union: the law as guardian of economic wisdom, CMLRev. 35 (1998), S. 9 ff. (S. 16); dies ausdrücklich betonend ders., Diskussionsbeitrag, VVDStRL 59 (1999), Aussprache zum 1. Beratungsgegenstand, S. 143 ff. (S. 166 f.); P. Badura, Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 677 ff., der durch Art. 88 Satz 2 GG auch noch eine neue Staatszielbestimmung formuliert wissen will (S. 263); ders., Staatsziele und Garantien der Wirtschaftsverfassung in Deutschland und Europa, in: J. Burmeister (Hrsg.): Verfassungsstaatlichkeit. FS filr K. Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 409 ff. (S. 419) ("Pointierung"; "Konkludent ist damit die konjunkturpolitische Direktive des Art. I 09 Abs. 2 GG durch das neue Staatsziel der vorrangigen Sicherung der Preisstabilität modifiziert worden."); auch mit zweifelhafter Meinung H. Sodan, Die funktionelle Unabhängigkeit der Zentralbanken, NJW 1999, S. 1521 ff. (S. 1523); unentschieden K. Voge/!Ch. Wa/dhoff, Vorbem. zu Art. 104a-115, in: BK, GG, Rn. 304 ("... in Rich-
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
des Zielvorrangs der Preisstabilität in Art. 88 Satz 2 GG dient jedoch nur der näheren Spezifizierung des Europäischen Zentralbankinstituts als Anforderung ft1r die Übertragungsmöglichkeit. 545 Jedenfalls explizit546 bezieht sich der Vorrang der Preisstabilität zudem im Gemeinschaftsvertrag nur auf den separaten Bereich der Währungspolitik des Europäischen Systems der Zentralbanken. Sie umfaßt deshalb sicher nicht eine Prioritätenverschiebung im allgemeinen Zielgeflecht des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, sondern kann allenfalls zur Ableitung des verfassungsmäßigen Vorrangs der Preisstabilität im abgegrenzten Feld der Währungspolitik herangezogen werden.547 Als Anforderung an die Notenbank der Währungsunion erklärt sie sich im übrigen dadurch, daß sie mit der hocheingeschätzten, aber einfachgesetzlich vorrangigen Aufgabe der Deutschen Bundesbank des früheren§ 3 i.V.m. § 12 Satz 2 BBankG a.F., "die Währung zu sichern", korreliert -jedenfalls insoweit, als die "Sicherung der Währung" auch die "Preisniveaustabilität" umfaßt. 548
tungaufeinen Vorrang der Preisstabilität modifziert worden ist. Die anderen Teilziele des Art. 109 Abs. 2 in seiner Konkretisierung durch § 1 StabG bleiben gleichwohl zu beachten; ein einseitiger (absoluter) Vorrang des Geldwertstabilität ist aus Art. 88 Satz 2 nicht herzuleiten."). 545 Im Vorgriff auf unten 5. Teil, 2. Kap., II., 3., b) u. d) ist darauf hinzuweisen, daß - analog - allein durch Art. 88 Satz 2 die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank noch keinen Verfassungsrang erhält; die verfassungsähnliche Absicherung der Unabhängigkeit ergibt sich erst mit der Hineinwirkung des Gemeinschaftsrechts, das die Unabhängigkeit auch ftir die nationalen Zentralbanken vorsieht, in das rein nationale Recht. 546
Art. 105 Abs. 1 EGV; vgl. dazu unten 5. Teil, 2. Kap., II., 3., b).
Vgl. so auch H. J. Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 235, 331 f., 376; vgl. auch die auf Herdegen (Fn. 544) konträr reagierenden Diskussionsbeiträge von U. Häde, und D. Schefold, VVDStRL 59 (1999), Aussprache zum l. Beratungsgegenstand, S. 169 ff. 547
548 Dabei bleibt aber - bisher in der rechtswissenschaftliehen Literatur unberücksichtigt - zu beachten, daß die Verpflichtung der Bundesbank auf die Währungssicherung gemäߧ 3 BBankG a.F. nicht identisch ist mit einer rechtlichen Vorrangigkeit der Preisstabilität, wie sie der Vertrag der EZB aufgibt und wie sie nach gemeinschaftsrechtlich induzierter Änderung des BBankG nun auch filr die Bundesbank gilt; dazu kurz W Harbrecht, Zur Geldwertstabilität des Euro - Chancen und Risiken, in: W. J. Mückl (Hrsg.): Die Europäische Währungsunion - Probleme und Perspektiven, 2000, S. 49 ff. (S. 52), der darauf hinweist, daß der Stellenwert der Preisstabilität in der Bundesrepublik "weniger aus einem klar umrissenen Gesetzesauftrag als vielmehr der autonomen Interpretations- und Entscheidungsfreiheit des Zentralbankrats" herrührte; vgl. unten 5. Teil, Fn. 823; mehr, insb. zum Aspekt der Theorieabhängigkeit, 5. Teil, 3. Kap., IV.
2. Kap. : Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
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b) Wirtschaftspraktische und -theoretische Überlegungen aa) Zielkonflikte als Ansatzpunkt der Verhältnisdiskussion
Unterschiedliche Ansichten zum rechtlichen Verhältnis der Teilziele kamen überhaupt nur deshalb auf, weil wirtschaftstheoretisch und wirtschaftspraktisch die einzelnen Zielkomponenten nicht fraglos komplementär sind. Hätte zur Zeit der Finanzreform Einigkeit darüber bestanden, daß die Verfolgung und Erreichung eines Teilziels automatisch die Verfolgung der anderen Teilziele bedeutete und deren Erreichung nach sich zöge, wäre das Thema nicht zu behandeln. Von der Volkswirtschaftslehre insbesondere zum damaligen Zeitpunkt in besonderer Weise angenommene549, heute im Zuge der weitgehenden Durchsetzung der im Regelfall eher monetaristisch zu charakterisierenden Lehre nicht mehr in der damaligen Weise vertretenen550 Zielkonflikte und jedenfalls Spannungsverhältnisse warfen jedoch zwangsläufig die Frage auf, welchem von konfliktären Zielen nun Vorrang gebühre. Insbesondere stand der vermeintliche Konflikt zwischen Preisniveaustabilität und Beschäftigung im Vordergrund, der auf die Untersuchungen von A. W Phi//ips zurückging, nach deren Fortentwicklung Preisniveaustabilität und Beschäftigung in einem indirekten Verhältnis stünden (Stichwort "Phillipskurve"). 551 Auf diese Annahme sind der Glaube 549 Vgl. zu den Zielkonflikten K.-H Hansmeyer, in: Stem/Münch!Hansmeyer, StWG, S. 135 ff. ; W. Lachmann, Fiskalpolitik, 1987, S. 29 ff.; 0. Issing, Währungspolitik im Spannungsfeld wirtschaftspolitischer Zielkonflikte, in: E. Tuchtfeldt (Hrsg.): Soziale Marktwirtschaft im Wandel, 1973, S. 189 ff. (S. 190 ff.); J. Beyfuss, Das Stabilitätsgesetz, 1971, S. 20 ff.; auch U. Scheuner (Hrsg.), Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, 1971, S. 68. 550 Vgl. zum Beispiel A. Woll, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. und erg. Aufl., 1992, S. 159, 167, der zwischen Preisniveaustabilität und Beschäftigung keinen Konflikt erkennt; filr ihn handle es sich um "die überflüssige und unergiebige Diskussion zwischen Anhängern bestimmter stabilitätspolitischer Prioritäten, zwischen den ,Preisniveaufanatikern' und den , Vollbeschäftigungsfetischisten '"; ders., Das Ende der Stabilitätspolitik, 1983, S. 12; siehe auch die folg. Fn. 551 Zur originären Phillipskurve, die auf empirischer Basis auf die Relation zwischen Beschäftigungsgrad und Lohnsteigerungsrate abstellte: A. W. Phillips. The Relation between Unemployment and the Rate of Change of Money Wages in the United Kingdom, Economica 25 (1958), S. 283 ff.; dazu kurz etwa Helmut Wagner, Stabilitätspolitik, 5. überarb. und erw. Aufl., 1998, S. 25 f. ; mit Kritik auch H-R. Peters, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. und erw. Aufl., 1995, S. 97; D. Cassel, Inflation, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 1, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 287 (S. 334 f.); 0. Issing, Einfiihrung in die Geldtheorie, 11., überarb. Aufl., 1998, S. 216 ff.; U. Teichmann, Grundriß der Konjunkturpolitik, 5., verb. und erw. Aufl., 1997, S. 126 ff., mit einer Zusammenfassung empirischer Untersuchungen, die kein stabiles Verhältnis zwischen Preisniveau und Beschäftigung erkennen lassen; 0. Landmann!J. Jerger, Beschäftigungstheorie, Berlin u.a. 1999, S. 88 ff.; A. Woll, Das
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
an die Möglichkeit des "Erkaufens" einer Beschäftigungssteigerung durch die Inkaufnahme steigender Inflation und der vielziterte Satz des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt - "Lieber 5 % mehr Inflation als 5 % mehr Arbeitslosigkeit" - zurückzufiihren. Aber auch die restlichen Zielzusammenhänge - etwa von Preisstabilität und dem Wachstumsziel552 oder Wachstum und Beschäftigung553 - mit ihren vielfliltigen Facetten und Differenzierungsnotwendigkeiten brachten Unklarheit in das Verständnis des Zielkatalogs und sind heute nach wie vor nicht abschließend geklärt. 554 bb)Dominanz von Preisniveaustabilität und Beschäftigung als Stabilisierungsziele- Ergänzungsfunktion des außenwirtschaftliehen Gleichgewichts - Wachsturn als ständige Bedingung Neben diesen je nach ökonomischer Anschauung mehr oder weniger vorhandenen Zielkonflikten sind noch weitere Aspekte zu den einzelnen Zielelementen zu erwähnen. Auffilllig ist, daß die beiden ersten Teilziele, Preisniveaustabilität und Beschäftigung, doch eindeutig im Vordergrund aller Betrachtun-
Ende der Stabilitätspolitik, 1983, S. 9 ff., dort weiter zum Verhältnis Inflation- Beschäftigung S. 20 ff., S. 29 ff.; ausfilhrlicher auch W. Glastet/er, Konjunkturpolitik: Ziele, Instrumente, alternative Strategien, 1987, S. 225 ff.; J. Kromphardt, Arbeitslosigkeit und Inflation, 1987. 552 Steigendes Wachstum filhrt so kurzfristig zu steigenden Preisen, sofern Kapazitäten nicht unmittelbar aufgestockt werden. Auf längere Sicht hin dagegen sind beide Ziele durch die Kapazitätserweiterung eher komplementär. Andersherum ist die Auswirkung steigenden Preisniveaus auf das Wachstum zweideutig: Bei steigenden Preisen steigen zunächst Unternehmergewinne ("windfall gains") und dadurch möglicherweise das Wachstum; verfilgt jedoch die Arbeitnehmerseite über eine starke Machtposition und mindert das den Anstieg der Unternehmergewinne, mag das einerseits wachstumshemmend wirken; indessen könnten aber wiederum Wachstumsimpulse von somit induzierter Nachfragesteigerung entstehen; vgl. dazu z.B. W. G/astetter, Konjunkturpolitik: Ziele, Instrumente, alternative Strategien, 1987, S. 218 ff.; 0. Jssing. Einfilhrung in die Geldtheorie, ll., überarb. Aufl., 1998, S. 223 ff. 553 Beschäftigung und Wachstum sind in Unterbeschäftigungssituation bei gleichbleibender Produktivität komplementär, solange das Wachstum über den Beschäftigungszuwachs getragen wird; bei erreichter Vollbeschäftigung allerdings bedarf Wachstum entsprechender Produktivitätssteigerungen, die - sofern sie aus Automatisierungsfortschritten resultieren - wiederum negative Wirkung auf die Beschäftigung entfalten können; die Produktivität spielt ftir dieses Verhältnis also eine entscheidende Rolle; vgl. dazu etwa W. Glastet/er, Konjunkturpolitik: Ziele, Instrumente, alternative Strategien, 1987, s. 211 ff. 554 Eine ausfilhrliche aktuelle Darstellung der Teilziele und ihren Interdependenzen aus volkswirtschaftlicher Sicht findet sich bei G. Tichy, Konjunkturpolitik. Quantitative Stabilisierungspolitik bei Unsicherheit, 3., neub. Aufl., 1995, S. 50 ff.
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gen stehen. Den Zielen des außenwirtschaftliehen Gleichgewichts und des Wachstums kommt zumeist nur eine Nebenfunktion zu. In der neoklassischen Theorie der Volkswirtschaftslehre liegt der Fokus auf Preisniveaustabilität als vor allem funktional wichtiges Ziel sowie Beschäftigung als wesentliche soziale Größe; Stabilitätspolitik konzentriert sich schwerpunktmäßig auf diese beiden Aspekte. 555 Wachstum gilt nicht als eigenständiges Ziel, da es entweder - weil nur durch private wirtschaftliche Aktivität zu schaffen - rein deklamatorisch sein müßte oder stärkere Planungselemente in der Wirtschaftsordnung voraussetzen würde. Zum anderen sei Wachstum bereits im Beschäftigungsziel enthalten. 556 Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht hätte lediglich begleitende Funktion - sozusagen als Zwischenziel - um außenwirtschaftliche Einflüsse auf Preis- und Beschäftigungsziel zu eliminieren.55? Für eine Sonderrolle der Preisniveaustabilität wird vorgebracht, daß ohne sie auf lange Sicht die anderen Ziele nicht erreichbar558 und ihre längerfristige Verfehlung unverhältnismäßig schwieriger als die der anderen Ziele wieder zu kompensieren wären559• Sie ist insofern als notwendige Bedingung anzusehen. 560 Gelegentlich - so auch in der Währungsunionsdiskussion - rückt Preis-
555 Vgl. A. Woll, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. und erg. Aufl., 1992, S. 149 ff.; Helmut Wagner, Stabilitätspolitik, 5. überarb. und erw. Aufl., 1998, S. 9; D. Casse/1 H. J. Thieme, Stabilitätspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 374 ff.).
556 Vgl. überblickgebend D. Cassel!H. J. Thieme, Stabilitätspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 379 f.). 557 Vgl. D. Cassel/H. J. Thieme, Stabilitätspolitik, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 363 ff. (S. 380) m.V.a. H. H. Glismann u.a. , Weltwirtschaftlehre I. Außen- und Währungspolitik, 4. Aufl. 1992.
558 Vgl. H. Fischer-Menshausen, Art. 109, in: v. Münch!Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 10. 559 So K.-H. Hansmeyer, in: Stem/Münch!Hansmeyer, StWG, S. 135; eine Untersuchung der Volkswirtschaftlichen Forschungsgruppe der Deutschen Bundesbank in den 90er Jahren kam sogar zum Ergebnis, daß selbst bei einem Ausgangspunkt von 2 % Inflation der Nutzen noch größerer Preisstabilität die Kosten einer weiteren Disinflation noch übersteigt, vgl. K.-H. Tödter!G. Ziebarth, Preisstabilität oder geringe Inflation ftlr Deutschland? Eine Analyse von Kosten und Nutzen, Volkswirtschaftliche Forschungsgruppe der Deutschen Bundesbank, Diskussionspapier 3/97, S. 46 ff.
560 Zum paradigmatischen Wechsel von einer primär am Beschäftigungsziel ausgerichteten Stabilitätspolitik hin zur schwerpunktmäßigen Orientierung am Geldwert über geldpolitische Maßnahmen in den frühen 1970er Jahren vgl. H. Tomann, Stabilitäts-
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stabilität aber in solchem Maß in den Vordergrund, daß sie sogar als hinreichende Bedingung zur Erreichung aller angestrebten wirtschaftspolitischen Teilziele erscheinen mag, was allerdings angesichts existierender äußerst niedriger Inflationsraten und dennoch hoher Unterbeschäftigung empirisch nicht vollends haltbar ist. Preisniveaustabilität würde aber jedenfalls nach heutigem Erkenntnisstand die anderen drei Teilziele nicht geflihrden, weswegen Woll zur Konsequenz kommt: "Es geht um die schlichte Frage, ob Preisniveaustabilität gleichsam vor die Klammer des Katalogs stabilitätspolitischer Ziele gezogen werden kann", die "mit einem eindeutigen Ja zu beantworten" wäre.561 Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht nimmt im Zielkanon des § 1 Satz 2 StWG nach allgemeiner Auffassung insofern eine Nebenrolle ein, als zwischen ihm und dem einzelnen Wirtschaftssubjekt ganz offensichtlich keine direkte Beziehung besteht und es keinerlei Eigenständigkeit aufweist. 562 Vielmehr verfUgt es über "eher indirekten und technisch-instrumentalen Zielcharakter"563 , d.h. über eine stark dienende Funktion fiir die anderen binnenwirtschaftlich orientierten Teilziele (z.B. wegen "importierter Inflation"). Im Gegensatz zu Preisniveauerhaltung, Beschäftigung und in Grenzen auch Wachstum stellt es deshalb auch keinen ökonomischen Imperativ des Sozialprinzips dar. Die ausschließliche Betrachtung des außenwirtschaftliehen Gleichgewichts als "Erfordernis", wie es der Text an sich deklariert, und eben nicht als wirkliches eigenständiges Teilziel scheint angebracht. Auch die Position des Wachstums gilt als besondere; denn Wachstum sei "ständige Bedingung"564, um Maßnahmen zur Erreichung der anderen Zielkomponenten umzusetzen, deren Umverteilungswirkung bei Stagnation negativer empfunden würde als bei Wachstum, das entsprechendes Kompensations-
politik. Theorie, Strategie und europäische Perspektive, 1997, S. 63 f.; vgl. auch A. Woll, Das Ende der Stabilitätspolitik, 1983, S. 29 f. 561
A. Woll, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. und erg. Aufl., 1992, S. 166 ff., Zitat
s. 167.
562 Vgl. K.-H. Hansmeyer, in: Stem!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 134, 128: "Die anderen Ziele sind filr den einzelnen Bürger unmittelbar einleuchtend und erstrebenswert; filr das Ziel ,außenwirtschaftliches Gleichgewicht' gilt dies nicht." 563 U. Fehl, Stichwort "Gieichgewichtstheorie", in: E. Dichtl/0. Issing (Hrsg.): Vahlens großes Wirtschaftslexikon, 2., überarb. u. erw. Aufl., I 993, S. 830 f (S. 830); G. Tichy, Konjunkturpolitik. Quantitative Stabilisierungspolitik bei Unsicherheit, 3., neub. Aufl., 1995, S. 69, bezeichnet es als "Hilfsziel" . 564
Th. Maunz, Art. 109, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 27; A. Möller, StWG, § l,
Rn. 12.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
189
volumen mit sich bringt.565 Insofern versteht der Kommentar von Möller die Zielkomponente Wachstum als Konkretisierung des "Verfassungsauftrags zur Wachstumsvorsorge" von Ipsen.566 Dies spräche wiederum filr einen permanenten Vorrang des Wachstumsziels. Andererseits wies Bull darauf hin, daß die Begrenztheit der Ressourcen und die durch die Grundrechte auferlegten "menschlichen Rücksichten" eine nur eingeschränkte Verfolgung des Wachstumsziels zuließen,567 und tendiert insofern zu einer auch qualitativen Sichtweise des Wachstums.
c) Praktische Konkordanz filr ZielverfolgungGleichrangigkeil in der Zielsetzung Wenn auch die Partialziele wie angerissen in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen und in ihrer Funktion unterschiedliche Ausprägungen finden, so stellt sich die Frage des Rangverhältnisses hauptsächlich, aber auch doch nur im Hinblick auf die Zielverfolgung: Welche Maßnahmen sind zum Zeitpunkt t zur Erreichung welches Ziels x am ehesten geboten und welches andere Ziel y oder welche anderen Ziele y, z werden von diesen Maßnahmen möglicherweise nicht geilirdert? Bezogen auf die formale Zielsetzung jedoch muß rigide auf den Text zurückgegriffen werden, aus dem keine Rangunterschiede, allenfalls eine jedoch mit dem Zielcharakter zu begründende Sonderstellung des Wachstums, hervorgehen. Die seit Jahren etablierte Meinung, bei grundsätzlicher Gleichrangigkeil seien - wie bei allen in sich widersprüchlichen Zielsystemen dem Prinzip praktischer Konkordanz folgend -jeweils die aktuell am meisten gefährdeten Ziele verstärkt voranzutreiben, drückt diesen Unterschied aus. 568 565
Vgl. auch K. Vogel!M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 114.
566
Vgl. A. Möller, StWG, § I, Rn. 8.
567
Vgl. H. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 260.
Laut dem Jahresgutachten des Sachverständigenrats 1968, BTDrs. V/3550, Tz. 4, und dem Jahresgutachten 1964/1965, Vorwort, Tz. 3, sind vorrangig die Ziele zu verfolgen, "die in der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Lage und deren absehbarer Entwicklung am wenigsten verwirklicht sind."; vgl. direkt dazu K.-H. Hansmeyer, in: Stem!Münch!Hansmeyer, StWG, S. 134; K. Vogei/M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 115; A. Möller, StWG, § I, Rn. 8; H. Fischer-Menshausen, Art. 109, in: v. Münch!Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. 10; Thiele, W. , Die Gestaltung unserer Wirtschaftsordnung, 1978, S. 5 f.; auch H. J. Hahn, Währungsrecht, 1990, S. 225 ("Der Ermessensspielraum dürfte dann verlassen sein, wenn die konkrete wirtschaftspolitische Maßnahme durch keines der Teilziele des § I StabG gerechtfertigt erscheint oder wenn unter permanenter Hintanstellung des Teilziels der Geldwertstabilität die anderen Zielpunkte des magischen Vierecks stetige Bevorzugung erfahren, obwohl das vernachlässigte Teilziel weitaus stärkeren Gefährdungen unterliegt."); neuer Th. Weikart, Geldwert und Eigentumsgarantie, 1993, S. 118, ("gefährdungs568
190
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Die daraus erwachsenden Abwägungsspielräume erstrecken sich auf die Auswahl der Maßnahmen zur Verfolgung einzelner ausgesuchter Ziele; sie erstrekken sich aber nicht - und das ist nochmals zu betonen - auf die eigentliche Rangfolge, die gesetzlich unterschiedslos bestimmt ist. Die Spielraumentscheidungen sind dementsprechend zeitlich begrenzt, nämlich durch die Dauer der jeweiligen Lage, in der die besondere Verfolgung eines Ziels notwendig erscheint, und die Spielräume sind dort überschritten, wo die Maßnahmen keinem der Teilziele Vorschub leisten oder dauerhaft ein bestimmtes Zielelement geflthrdend vernachlässigen. 3. Keine Erweiterung des Zielsystems um zusätzliche Komponenten
In der volkswirtschaftlichen Literatur trifft man relativ häufig auf Vorschläge und Forderungen, das Zielsystem des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht vom "magischen Viereck" in ein Fünf- oder gelegentlich gar in ein Sechseck umzuwandeln: Zu den vier bestehenden Komponenten sollten dann als weitere Teilziele eine "Gerechte Einkommens- und Vennögensverteilung"569 sowie des weiteren der Umweltaspekt570 hinzukommen. Generell wird bisweilen der Einwand erhoben, der Zielkatalog des § I Satz 2 StWG sei nicht abschließend ftlr detenninierter Hierarchie"); auch BVerfGE 79, 311 (339) ("relative optimale Gleichgewichtslage"). 569 Bei der damaligen Konzeption des StWG wurde die Einbeziehung des Teilziels "Gerechte Einkommens- und Verteilungspolitik" analog zu dessen Nennung in§ 2 Satz 3 SVRG bereits diskutiert, wegen einer möglichen Kollision mit dem Grundrecht der Tariffreiheit jedoch auf sie verzichtet; so H. Sch/esinger, Beschäftigungs- und Konjunkturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: HdWW, Bd. I, 1977, S. 499 ff. (S. 505); W. Lachmann, Volkswirtschaftslehre 1, 3. überarb. und erw. Aufl., 1997, S. 225 ff., S. 228 stellt das Verteilungsziel schlicht an filnfte Stelle in seinem Kapitel "Die Ziele des Stabilitäts- und Wachstumgesetzes"; ebenso G. Tichy, Konjunkturpolitik. Quantitative Stabilisierungspolitik bei Unsicherheit, 3., neub. Aufl., 1995, S. 41 ff., spricht vom "Magischen Fünfeck" inkl. des Verteilungsaspekts (S. 70 f.); vgl. auch H. H. v. Arnim, Volkswirtschaftspolitik. 6., überarb. Aufl., 1998, S. 162 f.; H. Friedrich, Grundkonzeptionen der Stabilisierungspolitik. Eine problemorientierte Einfilhrung, 1. Aufl., 1983, S. 35 ff.; auch 0. lssing, Einfilhrung in die Geldtheorie, 11., überarb. Aufl., 1998, S. 216. 570 Vgl. zum Ökologieziel etwa P. Badura, Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 264, m.w.N. [ZRP 1994, S. 73 ff.; DVBI. 1996, S. 73 ff.; NVwZ 1996, S. 222; DVBI. 1991, 34]; N. Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz im Grundgesetz, 1990; H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz - Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBI. 1991, S. 730 ff. (S. 737 f.); ausfiihrlicher H. Hofmann, Technik und Umwelt, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 21; J. lsensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR, Bd. III, 1988, §57, Rn. 128 ff.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
191
die Gesamtwirtschaft571 , was aus volkswirtschaftlicher Sicht überzeugend ist. 572 Abgesehen davon, daß mit Art. 20a GG mittlerweile der Umweltgedanke als selbständige Staatszielbestimmung in die Verfassung aufgenommen wurde573, ist eine solche Erweiterung unter rechtlichen Aspekten aber schlichtweg nicht zu sehen; denn sie hätte im Hinblick auf die grundsätzliche Offenheit des Verfassungsbegriffs und den ihr inhärenten an den Gesetzgeber gerichteten Konkretisierungsauftrag entsprechend ohne weiteres gesetzlich bestimmt werden können, um sich rechtlich zu entfalten aber auch bestimmt werden müssen. Es bleibt festzuhalten, daß dem Gesetzgeber sich filr eine erweiternde Modifikation oder Materialisierung nicht nur die genannten Gelegenheiten boten, sondern ihm zusätzlich konkrete inhaltliche Anregungen entgegengebracht wurden574; er sah sich aber offenbar zu einer solchen Gesetzesänderung nicht veranlaßt.
VI. Hoher Verbindlichkeitsgrad des Staatsziels und beschränkte Justiziabilität wirtschaftspolitischer Maßnahmen Weitgehende Einigkeit besteht über den hohen Verbindlichkeitsgrad der Staatszielbestimmung Gesamtwirtschaftliches G Ieichgewicht575, wobei die Frage nach der Verbindlichkeit nicht mit der nach der Justiziabilität zu verwechseln ist. Nach allgemeiner Ansicht handelt es sich bei Art. 109 Abs. 2 GG - um die traditionelle Fonnulierung der Literatur zu gebrauchen - nicht lediglich um einen unverbindlichen Programmsatz, sondern um eine unmittelbar
571
So etwa K.-H. Hansmeyer, in: Stem!Münch/Hansmeyer, StWG, S. 139, auch
s. 121.
572 Da der wirtschaftspolitische Zielkatalog der neoklassischen Nationalökonomie neben den Stabilitätszielen und dem Wachstum noch weitere Ziele, insb. das Verteilungs- und das Strukturziel, umfaßt; vgl. dazu etwa H. Berg/D. Casse/IK.-H. Hartwig, Theorie der Wirtschaftspolitik, D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. 2, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 171 ff. (S. 237 ff.).
573 Dazu M. Kloepfer, Art. 20a, in: BK, GG; R. Scholz, Art. 20a, in: Maunz/Dürig, GG; vgl. auch die Nachweise in Fn. 570.
574 Vgl. so namentlich den Antrag der SPD im Bundestag zur "Anpassung des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft an die neuen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen" (BTDrs. 12/1572 v. 13. 11. 1991), der die Aufnahme des Ökologieziels sowie die "Bekämpfung der Armut" einforderte. 575 DafUr spricht auch der Verzicht auf ein mögliches Verteilungs-Teilziel, um eine Kollision mit der Tariffreiheit zu verhindem (vgl. oben Fn. 369); würde dem Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht nicht hoher Verbindlichkeitsgrad zugedacht, hätte in der Aufuahme des Verteilungsziels kein Problem bestanden.
192
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
bindende Rechtspflicht. 576 Ihre Offenheit und Auslegungsbedürftigkeit, insbesondere auch die ihr venneintlich inhärenten Zielkonflikte und die resultierenden Ennessensspielräume577 ftlr wirtschaftspolitische Maßnahmen, nehmen der Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht nichts an ihrer
576 Vgl. so A. Möller, StWG, Art. 109, Rn. 8 ("kein unverbindlicher Programmsatz, sondern eine unmittelbare rechtliche Verpflichtung" ); K. Stern, in: Stern!Münchl Hansmeyer, StWG, S. 104 ("Rechtspflicht, nicht nur bloß unverbindliche Empfehlung"), S. 145 ("§ 1 ... statuiert unabdingbar eine Rechtspflicht, schreibt also zwingend eine Rechtspflicht vor ( ... ). § 1 gehört insoweit zum ius strictum und ist nicht etwa bloß Programmsatz."; Hervorh.i.Orig.); K. Vogel!M Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 69 ("unmittelbar bindende Rechtspflicht"); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21, S. 904; ders., Die Neufassung des Art. 109 GG, NJW 1967, S. 1831 ff. (S. 1833); M Wiebel, Zur verwaltungsrechtlichen Bedeutung des Stabilitätsgesetzes, DVBI. 1968, S. 899 ff. (S. 902 ff.) ("Verhaltensregel" von "umfassender Bedeutung"); P. Badura, Staatsrecht, 2. neub. Aufl., 1996, S. 680; Th. Maunz, Art. 109, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 24; H. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 144 f.; E. A. Piduch, Bundeshaushaltsrecht, Loseblatt, Stand 1996, Art. 109 GG, Rn. 15; W Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, Kommentar, Bd. II (Loseblattsammlung), 1981, Art. 109 GG, Rn. 16; A. Bleckmann, Grundzüge des Wirtschaftsverfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1991, S. 536 ff. (S. 539); ftlr eine äußerst geringe Bindungswirkung W Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989, S. 118 ff., 120; zurückhaltend zur Bindungswirkung von Staatszielbestimmungen im allgemeinen, insb. Art. I 09 Abs. 2 GG, auch U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: FS E. Forsthoff, 1972, S. 325 ff. (S. 339 f.); zurückhaltend und sehr verkürzt H. D. Jarass, Art. 109, in: Jarass/Pieroth, GG, 4. Aufl. 1997, Rn. 4, und H. Siekmann, Art. 109, in: Sachs, GG, 1996, Rn. 21 (beide tendieren zu geringer Bindungswirkung, da die Norm nur "Berücksichtigung" verlange). 577 H.-J. Papier, Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1973), S. 528 ff. (S. 549), sieht keinen Beurteilungsspielraum, sondern eine Ermessensfrage filr die Exekutive. Er nimmt damit eine von vielen Positionen in der Kontroverse um die Einschätzung des Gesamtwirtschaftliche Gleichgewichts wie auch seiner Teilziele als "unbestimmte Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum"- Begrifllichkeiten aus der Verwaltungsrechtslehre - ein; vgl. dazu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. Il, 1980, S. 1079; ders. , in: Stern!Münch/Hansmeyer, StWG, S. 146; ders., Die Neufassung des Art. 109 GG, NJW 1967, S. 1831 ff. (S. 1833); A. Möller, StWG, Art. 109, Rn. 10, § 1 Rn. 13; auch - indifferent- Th. Maunz, Art. 109, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 38; auf Ablehnung stoßend, da die Anwendung eines verwaltungsrechtlicher Terminus im verfassungsrechtlichen Kontext nicht angebracht sei, bei M SchmidtPreuß, Plan-Programm und Verfassung - Bemerkungen zu§ 1 Stabilitätsgesetz, DVBI. 1970, S. 535 tT. (S. 537 f.); R. Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung, 1971, S. 157 ff.; W Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989, S. 142; überblickartig H. H. Hol/mann, Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 136 ff.; vgl. auch zum unbestimmten Rechtsbegriff in der Funktion als Zielprojektion K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974, S. 38.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
193
Verbindlichkeit als Verfassungsvorschrift 578 Schon früher wurde gemahnt, daß eine Hervorhebung des hohen Verbindlichkeitsgrades ins Leere läuft, schließt man gleich darauf aus der angenommenen Unbestimmtheit der Verpflichtung auf ihre mangelnde Rechtsqualität 579 Die Offenheit der Norm zeigt ihre Auswirkung nicht auf den Verbindlichkeitsgrad, sondern auf die Rechtskontrolle. 580 Die nur geringfiigige rechtliche Materialisierung samt der durch sie gegebenen Beurteilungs- und eröffueten Gestaltungsspielräume sowie die vielfliltig unabwägbaren Interdependenzen der Mittel zur Erreichung der Teilziele bringen notwendig nur eine stark beschränkte Justiziabilität mit sich.581 Insofern ist auch der objektive Gehalt der 578 Vgl. R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 129 f.; K. Stern, in: Stern!Münch/Hansmeyer, StWG, S. 145 (die "Umstrittenheit bei Prognose und Anwendung ... sollte ... nicht zur Annahme rechtlicher Unverbindlichkeit filhren", da das Gesetz sonst zur "sanktionslosen politischen Deklamation herabsinken" würde); auch H. Bu/1, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 126 f. 579 Vgl. Th. Sponheuer, Probleme des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Institut Finanzen und Steuern e. V., Bonn, Heft 95, 1970, S. 17: "Das Institut hat bereits im Jahre 1968 ... zunächst herausgestellt, daß die Rechtswissenschaft ihrer Aufgabe nicht gerecht werde, wenn einige Autoren zwar den verpflichtenden Charakter von Art. I 09 Abs. 2 GG anerkennen, aber den nationalökonomischen Postulaten selbst ein Minimum an konkretisierbarem Rechtsgehalt absprechen. Sodann hat das Institut auf die besondere Bedeutung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hingewiesen, von dessen dauerhafter Existenz letztlich der Bestand unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung abhängen kann."; vgl. auch V. Mehde, Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Aufteilung der Verschuldungsgrenzen des Vertrags von Maastricht, DÖV 1997, S. 616 ff. (S. 621) wohl v.a. mit kritischem Bezug auf K. H. Friauf, Öffentlicher Haushalt und Wirtschaft, VVDStRL 27 ( 1969), S. I ff. (S. 3 7) ("echte Rechtspflicht ... Aber den nationalökonomischen Postulaten, die im Magischen Viereck zusammengefUgt sind, fehlt selbst ein Minimum an konkretisierbarem Rechtsgehalt."). 580
So auch R. Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 130.
Vgl. K. Voge/IM Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 136 ff.; ausfilhrlich H. H. Hol/mann, Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 135 ff., insb. S. 148 ff.; K. Schmidt, Die Rechtspflicht des Staates zur Stabilitätspolitik und der privatrechtliche Nominalismus, in: FS zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft, 1984, S. 665 ff. (S. 686); H. Krüger, Die verfassungsrechtliche Beurteilung wirtschaftspolitischer Entscheidungen, DÖV 1971, S. 289 ff. (S. 293); siehe dazu auch K. VogeliCh Waldhoff Vorbem. zu Art. 104a-115, in: BK, GG, Rn. 624 ff., 636 ff.; E.-J. Mestmäcker, Macht- Recht- Wirtschaftsverfassung, in: ZHR 137 (1973), S. 97 ff. (S. 106) (die Rechtsprechung kann "in der Beurteilung makroökonomischer Zusammenhänge nicht klüger sein als die Nationalökonomie ihrer Zeit"); U. Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, S. 149; W Höfling, Staatsschuldenrecht - Rechtsgrundlagen und Rechtsmaßstäbe ftlr die Staatsschuldenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1993, S. 245 ff.; eher ablehnend: A. Möller, StWG, Art. 109, Rn. II, u. § I, Rn. 13; K. H. Friauf, Öffentlicher Haushalt 581
13 Hänsch
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Staatszielbestimmung einer gerichtlichen Prüfung nur sehr eingeschränkt unterstellt und ein positiver subjektiver Rechtsanspruch, der ohnehin im Grundsatz abzulehnen ist, erst recht schwierig durchsetzbar. Umstrittene einzelne wirtschaftspolitische Maßnahmen - sowohl die Entscheidung, ob überhaupt, als auch in welcher Weise aktiv zu werden - unterliegen deshalb lediglich in Grenzfällen der Einschätzung der Gerichte, vor allem letztverantwortlich der des Bundesverfassungsgerichts; solche Grenzfälle können wiederum nur negativ durch offensichtlich fehlende Eignung der getroffenen Maßnahmen zum Vorantreiben auch nur eines Zielelements defmiert sein. 582 Grundsätzliche Justiziabilität muß jedochangesichtsdes entscheidenden Stellenwerts der Vorschrift und ihrer Wirksamkeit in jedem Fall gegeben sein.583 Ohne ein Mindestmaß an Justiziabilität erübrigt sich jeder Gedanke um die Verbindlichkeit eines Rechtssatzes.
und Wirtschaft, VVDStRL 27 (1969), S. I ff. (S. 33); ders., DÖV 1968, S. 795 ff. (S. 797); K. Biedenkopf, Rechtsfragen der konzertierten Aktion, BB 1968, S. 1006; Justiziabilitllt aus funktionell-rechtlichen Gründen abweisend M. Schmidt-Preuß, PlanProgramm und Verfassung - Bemerkungen zu § I Stabilitätsgesetz, DVBI. 1970, S. 535 ff. (S. 538 f.); vgl. auch K. A. Schachtschneider, Anmerkung zu BVerfD v. 1. 3. 79 (Mitbestimmungs-Urteil), JA 1979, S. 466 (S. 475 f.). 582 So etwa Th. Sponheuer, Probleme des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Institut Finanzen und Steuern e.V., Bonn, Heft 95, 1970, S. 29; BVerfD (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluß vom 15. 12. 1989- 2 BvR 436/88 = NVwZ 1990, S. 356 f., S. 357: "Das BVerfD kann hauswirtschaftliche Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeil mit Art. 109 II GG nur begrenzt überprüfen. Ein Verstoß ... kann erst festgestellt werden, wenn ... offensichtlich die Belange des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ... nicht beachtet werden... Ob die jeweilige haushaltpolitische Entscheidung "richtig" ist oder dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht am besten dient, hat das Gericht nicht zu prüfen."; U. Scheuner, Die Erhaltung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Der verfassungsrechtliche Auftrag zur aktiven Konjunkturpolitik, in: FS H. Schäfer, 1975, S. 109 ff. (S. 117 f.) (Justiziabilität nur filr "RUge der WillkUr, des Fehlens schlichter Begründung, der offensichtlichen Zweckverfehlung, der Außerachtlassung der Verhältnismäßigkeit" ); genauso Hol/mann, H.H., Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 150. 583 Vgl. R. Schmidt, Staatliche Verantwortung ftlr die Wirtschaft, in: HStR, Bd. III, 1988, § 83, Rn. 34 ("Die grundgesetzliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht (Art. 109 Abs. 2 GG) liefe in die Leere, wUrde dieser zentralen Norm vom Bundesverfassungsgericht im Ernstfall jegliche Justiziabilität abgesprochen."); vgl. auch gegen eine Ablehnung der Justiziabilität nur aufgrund von Unbestimmtheilen K. Voge/IP. Kirchhof. Art. 104a, in: BK, GG, Rn. 122; K. Voge/IM. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 139.
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
195
Vß. Zusammenschau und Stellungnahme: Die Verfassungsverbindlichkeit des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Mindestmaterialisierung des "Magischen Vierecks" 1. Das "Magische Viereck" als Mindestmaterialisierungdes Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
a) Etablierte wirtschaftspolitische ZielvorstellungHistorische "gedankliche Einheit'' der Finanzreform Zusammenfassend ist zunächst der Aspekt der gemeinsamen Entstehung des Art. I 09 Abs. 2 GG und des korrespondierenden Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes hervorzuheben. Die Idee eines rechtlich fixierten, staatliche Aktivität leitenden wirtschaftspolitischen Zielkanons, bestehend aus den vier gleichrangigen Teilzielen, wurde durchaus nicht erst während der Bemühungen zur Finanzreform kreiert. Vielmehr findet sich dieser Zielkanon bereits als etabilierter Leitaspekt in dem für die gesamte Politik des Staates sehr wichtigen, 1963 verabschiedeten und im übrigen heute ebenfalls noch geltenden Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrats (SVRG); dem voraus ging die Nennung dreierTeilziele im wirtschaftspolitischen Kontext des Art. 104 der ursprünglichen Fassung des EWG-Vertrages, die der EG-Vertrag seit Maastricht in dieser Form und in diesem Zusammenhang allerdings nicht mehr beinhaltet. 584 Mit der Finanzreform und dem Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht des Art. 109 Abs. 2 GG hielt diese Idee wirtschaftspolitischer Zielsetzung Einzug in die Verfassung, wenn auch getrieben von dem zunächst einfachgesetzlichen Vorhaben der Implementierung antizyklischer Konjunkturpolitik, filr das die verfassungsmäßige Grundlage erst geschaffen werden sollte. Unabhängig von sowie gerade wegen der vom Verfassungsgeber zweifellos beabsichtigten Offenheit des Verfassungsbegriffs ist demnach der erwähnten Feststellung beizupflichten, daß es sich bei der Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht des Art. 109 Abs. 2 GG und der Regelung des § I Satz I und Satz 2 StWG um eine "gedankliche Einheit" handelt. Von dieser Einheit ist im Hinblick auf das Unterbleiben etwaiger Änderungen der Texte nach wie vor auszugehen.
584
J3•
Siehe dazu ausführlich 5. Teil, 2. Kap., 1., 2., c).
196
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
b) Notwendige Akzeptanz der einfachgesetzlichen Begriffsbestimmung angesichts der Offenheit des Verfassungsbegriffs Berücksichtigt und betont man die bewußte Offenheit des Verfassungsbegriffs und lehnt man nicht jedwede Materialisierung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch § 1 Satz 2 ab, so läßt sich daraus doch konsequenterweise nur ein festes "Ja" zur Bestimmung des Verfassungsbegriffs durch das einfache Gesetz ableiten -jedenfalls fUr die Gültigkeitsdauer des Gesetzes, d.h. bis zu seiner Aufhebung oder seiner expliziten Änderung, die jedoch bisher unterblieben ist. Sie wurde vom Verfassungsgericht zwar vorsichtig vorgeschlagen, dann aber nicht nachhaltig gefordert, obwohl mehrmals Gelegenheit dazu bestand. Der bewußt an mangelndem "Selbstand" leidende Begriff des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erflihrt seine Erfilllung insofern auch heute noch durch das der Verfassungsnorm textlich und aufgrund der Genese in hohem Maße nahestehende Stabilitätsgesetz, ohne daß dadurch die Verfassung fUr immer und ewig durch das einfache Gesetz determiniert oder - andersgewendet - der Inhalt des einfachen Gesetzes verfassungsmäßig zementiert wäre.
c) Das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ohne das Stabilitätsgesetz? Auch eine umgedrehte Betrachtung mag weitere Erkenntnisse bringen: Wie wäre die Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zu verstehen, wie wäre der Begriff auszulegen, wäre seine Materialisierung in § 1 Satz 2 StWG nicht existent? Die Beantwortung der Frage ist im Hinblick auf verschiedene Fälle zu unterteilen: Es sei erstens angenommen, es hätte den Katalog von § 1 Satz 2 StWG nie gegeben und es läge bis heute keine andere einfachgesetzliche Regelung vor, die eine Definition des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in vergleichbarer Weise nahelegt wie § 1 Satz 2 StWG. In diesem Fall wäre der Begriff tatsächlich ein leerer Blankettbegriff, der auf irgendeine Weise Interpretation erfahren müßte. Hier ist vorstellbar, daß sich entweder ein recht abstrakter Begriffskern im Sinne der Idee Vogel/Wiebels herausgebildet und durchgesetzt und dieser dann eine weitere Operationalisierung benötigt hätte, oder - wahrscheinlicher jedoch zusammenhängend - vielleicht auch Rückgriff auf den schon bestehenden Zielkanon des § 2 Satz 2 SVRG oder gegebenenfalls auch auf die Zielsetzung des Art. 104 EWGV genommen worden wäre. 585
585 Vgl. etwa A. B/eckmann. Europarecht, 5., neub. und erw. Aufl., 1990, Rn. 1810, der die Meinung vertrat. Art. 104 EWGV "entscheidet damit die in der Bundesrepublik
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
197
Die zweite Variante liegt in der Annahme einer später erfolgten oder jetzt erfolgenden Änderung oder Aufhebung von § 1 Satz 2 StWG. Das schlichte Streichen von Satz 2 hätte zur Folge, daß das Ziel des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts plötzlich ohne einfachgesetzlichen Anhaltspunkt wäre. Die Aufhebung von Satz 2 könnte zwar als Signal daftir verstanden werden, daß dem Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht jedenfalls nicht mehr das "Magische Viereck" zugrundeliegt. Andererseits bediente man sich vermutlich doch, sofern kein gesichertes aktuelles Verständnis des Begriffs vorliegt, der historischen Auslegung des Verfassungsbegriffs, die - im Gegensatz zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Grundgesetzänderung - mittlerweile zweifellos die Deutung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Sinne des Magischen Vierecks nach sich zöge. Allerdings wäre ftir eine neue, insbesondere europarechtliche Auslegung im Rahmen der Verfassungsvorgaben mehr Spielraum. Eine Änderung des § 1 StWG dagegen, aus der ein neues, vom Gesetzgeber bei Unterstützung der Wirtschaftswissenschaft aufgenommenes Begriffsverständnis klar hervorgeht, hätte endlich das rechtliche Begriffsverständnis ändernde und damit auch die offene Verfassung material verändernde Konsequenz. Eine solche Modifikation jedoch müßte verfassungsgemäß sein, d.h. im Verständnis Vogel/Wiebels insbesondere dem im Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zum Ausdruck kommenden Interessenausgleich oder nach der hier vertretenen Auffassung dem sozialen Stabilitätsprinzip entsprechen. 586
d) "Magisches Viereck" als kleinster gemeinsamer NennerMindestmaterialisierung des allgemeinen wirtschaftspolitischen Staatsziels Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht Wenn auch das Stabilitätsgesetz mit Blick auf die von ihm zur VerfUgung gestellten finanzpolitischen Instrumente im wesentlichen als "Konjunktursteuerungsgesetz" aufgefaßt werden kann, so heißt das jedoch nicht, daß die im Gesetz genannten Zielsetzungen lediglich filr die Konjunkturpolitik gelten. Vielmehr sind sie spezifische, konjunkturpolitisch relevante Teile einer umfassenden wirtschaftspolitischen Zielsetzung in Form des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts; denn die Konjunkturpolitik ist eingebunden in die gesamte Wirtschaftspolitik des Staates. Konjunkturpolitik ist jedoch im Vergleich zu Deutschland sehr umstrittene Frage, ob die Festlegung der Wirtschaftspolitik des Bundes und der Länder auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Art. I 09 II GG i. S. d. § 1 des Stabilitätsgesetzes und damit auf die Ziele des magischen Vierecks ausgerichtet ist." 586 Vgl. dazu K. Vogel/M. Wiebel, Art. 109 (Zweitbearb.), in: BK, GG, Rn. 109 (bezogen auf die Transpositionsfunktion des § 1 Satz 2 StWG).
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
Struktur- und Wachstumspolitik eher kurzfristig orientiert, kurzfristige Ziele entsprechen zunächst jedenfalls einem Minimum einer Gesamtzielsetzung. Für eine solche Betrachtungsweise spricht auch das Ergebnis einer Vielzahl wichtiger Beiträge, die betonen, daß der Zielkatalog des § I Satz 2 StWG nicht abschließend sei und durchaus auch andere - weitere - Ziele existieren könnten. Schießlieh sei das Stabilitätsgesetz kein "grundlegendes Gesetz fiir die gesamte Wirtschaftspolitik des Staates"587. "Der Zielkatolog des § 1 S. 2 StabG - ... - bezeichnet wesentliche Komponenten des grundgesetzliehen Gleichgewichtsbegriffs, erschöpft ihn aber nicht, ..." - Herbert Fischer-Menshausen 588
Zudem wird an keiner Stelle die These - nicht einmal eine dahingehende Andeutung - geäußert, das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht könnte auch durch gezieltes Abrücken von einem oder mehreren dieser Teilziele oder besonderes Herausstellen eines dieser Teilziele verfolgt werden. Weitere wirtschaftspolitische Ziele, gesetzlich erfaßt oder nicht, ergänzen demnach aber nur diesen expliziten Zielkanon, ersetzen oder verdrängen aber nicht seine Teilziele. Insofern besteht im Magischen Viereck sozusagen eine Mindestmaterialisierung der übergeordneten wirtschaftspolitischen Staatszielbestimmung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. 589
587 K.-H. Hansmeyer, in: Stem!Münch/Hansmeyer, StWG, S. 139, dort auch S. 121: es " ... kann nicht unterstellt werden, ein befriedigender gesamtwirtschaftlicher Zustand sei dann gegeben, wenn die vier Teilziele gleichzeitig erreicht sind, da die Gesamtwirtschaft neben diesen 4 Teilaspekten auch noch andere Bereiche umschließt, die im Stabilitätsgesetz nicht genannt sind und die trotzdem zum Zielkatalog sowohl der Bevölkerung wie der Wirtschaftspolitiker gehören." 588 H. Fischer-Menshausen. Art. 109, in: v. Münch/Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. I 0; ebenso R. Zuck. Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 140: "Deshalb enthält § 1 StabGauch keineswegs eine abschließende Definition des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Neue Inhalte, zusätzliche Teilziele sind jederzeit möglich."; so auch E. G. Mahrenho/z, Art. 109, in: Altemativkommentar, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Rn. 29; H. H. Hol/mann, Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 94; J. Brockhausen, Die rechtliche Bedeutung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und seine Komponenten in § 1 StabG unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte, Diss. Univ. 1974, Köln o.J., S. 23 (ebenfalls filr weitere möglichen Teilziele, neben den Teilzielen in I StWG mag es noch andere wirtschaftspolitische Zielgrößen geben, die untereinander kollidieren können - im Zweifel würde man ,jedoch eine Priorität der in § 1 genannten Ziele ftlr die Konjunktur- und Wachstumspolitik annehmen können.") 589 Vgl. Th. Weikart, Geldwert und Eigentumsgarantie, 1993, S. 217 ff., zum analog verfassungsmäßig nicht definierten "Eigentum", der darauf hinweist, daß das BVerfG
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
199
e) Gleichrangigkeil der Zielelemente- Preis und Beschäftigung als Primäraspekte -Sonderstellung des Wachstumsziels und des außenwirtschaftliehen Gleichgewichts- Deckung der Zielelemente mit den Imperativen des sozialen Stabilitätsprinzips Innerhalb des Zielsystems nehmen die einzelnen Komponenten gleichrangige Stellung ein. Lediglich beim Ergreifen entsprechender Maßnahmen können und müssen sich wegen fehlender vollkommener Komplementarität der Zielelemente dem Prinzip praktischer Konkordanz entsprechend zeitlich und sachlich beschränkte Prioritäten in der Zielverfolgung ergeben. Hinsichtlich der gesetzten Zielkonstellation selbst bleibt es dennoch bei der Gleichrangigkeit. In der Terminologie nimmt die rechtliche Regelung Anlehnung bei der wirtschaftspolitischen Theorie und unterteilt die Zielelemente des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Stabilitätsziele einerseits - Preisstabilität, Beschäftigung und außenwirtschaftliches Gleichgewicht - sowie in das Wachstumsziel andererseits. Insofern genießt das Wachstum eine inhaltliche Sonderstellung, die jedoch keinen Rangunterschied zu den anderen drei Mindestelernenten des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bewirkt. Bei jenen stehen das Preisstabilitäts- und Beschäftigungsziel aufgrund ihrer Eigenständigkeil als Ziele im Vordergrund, während dem außenwirtschaftliehen Gleichgewicht lediglich eine funktionale Bedeutung, aber unbedingte Notwendigkeit zukommt. Insofern liegt in einem so verstandenen Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht der adäquate Ausdruck der wirtschaftlichen Imperative des sozialen Stabilitätsprinzips.
2. Die Beständigkeit der Zielvorgabe traditionellen Verständnisses
a) Veränderte volkswirtschaftliche Theorie Wenn die Wirtschaftswissenschaft neue Erkenntnisse hervorbringt, so bleiben diese nicht ohne Wirkung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, da
hierzu im Naßauskiesungsbeschluß (BVerfGE 58, 300 (335)) sagte: ,,Aus Normen des einfachen Rechts, die im Rang unter der Verfassungs stehen, kann weder der Begriff des Eigentums im verfassungsrechtlichen Sinn abgeleitet noch kann aus der privatrechtliehen Rechtsstellung der Umfang der Gewährleistung des konkreten Eigentums bestimmt werden.". Weileart kommt daraufhin zu dem Schluß: "Wenn überhaupt eine Prädestinationsmacht des BGB besteht, dann ausschließlich im Sinne einer Art kleinsten gemeinsamen Nenners, nach dem der Schutzbereich von Art. 14 I GG jedenfalls diejenigen vermögenswerten Rechtspositionen umfaßt, die das bürgerliche Recht einem privaten Rechtsträger als Eigentum zuordnet."
200
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
sie als zuständige Wissenschaftsdisziplin die theoretische Grundlage fiir wirtschaftspolitische Maßnahmen liefert. Es steht außer Zweifel, daß ein Fortschritt in der Nationalökonomie stattgefunden hat. Insbesondere stellten sich - vor allem in der wirtschaftspolitischen Praxis - sehr schnell die heute weitgehend anerkannten Schwächen des damaligen Modells der keynesianischen Nachfragesteuerung durch antizyklische Fiskalpolitik heraus, die der Finanzreform den wirtschaftstheoretischen Nährboden bereitete; von seitender Angebotstheoretiker und Monetaristen590 kam heftige Kritik auf. 591 Sie argumentieren exemplifiziert an der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in den 70er Jahren - nachvollziehbar dahingehend, daß die allgemeine Wirtschaftsschwäche über eine staatlich initiierte Nachfragesteigerung nicht ausgeräumt werden könne, weil als Ursachen Kosten- und Strukturprobleme auf der Angebotsseite zu konstatieren wären. Durch eine Erhöhung staatlicher Ausgaben würden anstelle der gewünschten Marktanpassungsprozesse inflationäre Entwicklungen eintreten. Hinzu kommt die fragliche Wirksamkeit des "demand managements" auch fiir die eigentlich konjunkturspezifische Lage, der durch realpolitische Interessen, Konjunkturdiagnose- und -prognosemängel sowie vor allem Reaktions- und Wirkungsverzögerungen fiskaler und begleitender Maßnahmen merkliche Grenzen gesetzt sind. Die Staatsquote und Staatsverschuldung wuchs u.a. durch aktiv betriebenes deficit spending in schwächeren Konjunkturphasen und unterbliebene restriktive Haushaltsvorgänge in positiven Konjunkturlagen langfristig an. 592 Zu erwähnen ist auch das Haavelmo-Theorem, das zur Er-
590 Sowohl Monetaristen als auch Angebotstheoretiker gehen im Gegensatz zu keynesianischen Sicht von einer grundsätzlichen Stabilität des privaten Sektors aus, der von staatlichen Interventionen nur gestört wird; sie plädieren insofern beide fiir eine Enthaltsamkeit des Staates am Markt; während die Monetaristen sich aber auf eine an Preisniveaustabilität ausgerichtete Geldpolitik zurückziehen, damit aber auch nur geringfügige Anstöße geben können, plädieren Angebotstheoretiker vor allem für strukturpolitische Maßnahmen; dazu Helmut Wagner, Stabilitätspolitik, 5. überarb. und erw. Aufl., 1998, S. 108 f.; H.-R. Peters, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. und erw. Aufl., 1995, S. 240 ff. 591
1998,
Systematisiert dazu Helmut Wagner, Stabilitätspolitik., 5. überarb. und erw. Aufl., 108 ff.
s.
Vgl. zum Vorhergehenden aus volkswirtschaftlicher Position K.-D. Grüske, Staatsverschuldung im Spannungsfeld zwischen politischen Forderungen und ökonomischer Realität, in: K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch. FS der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nümberg 75 Jahre nach Errichtung der Handelshochschule Nümberg, 1995, S. 276 ff. (S. 279 f.); H.-R. Peters, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. und erw. Aufl., 1995, S. 239; Helmut Wagner. Stabilitlltspolitik, 5. überarb. und erw. Aufl., 1998, S. 110 f.; aufgegriffen von der Rechtswissenschaft, vgl. H. Fischer-MensfuJusen, Art. 109, in: v. Münch!Kunig, GG, 3., neubearb. Aufl., 1996, Rn. I Ia; W. Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder , Kommentar, Bd. I! (Loseblattsarnmlung), 1981, Art. 109 GG, Rn. 14; BVerfGE 79,311, 335; E. Tuchtfeldt, 592
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
20 I
kenntnis fUhren muß, jedenfalls nicht mehr von einer reinen SaldenmechanikDefizit gleich expansive Wirkung, Überschuß gleich restriktive Wirkung - der Staatshaushaltswirkung auszugehen. 593 Des weiteren sind, so stark aus monetaristischer Sicht vertreten, Crowding-Out-Effekte der kreditfinanzierten Nachfragesteigerung durch den Staat zu berücksichtigen, d.h. konträre Reaktionen der privaten Haushalte - Verdrängung privater Kreditnachfrage bzw. Hemmung der privaten Investitionen aufgrund durch wachsende staatliche Kreditaufnahme induzierten Zinsanstiegs. Nicht zu unterschätzen sind daneben die u.a. durch Crowding-Out bewirkten Behinderungen von Marktanpassungsprozessen, da marktliehe Anreiz- und Sanktionsmechanismen behindert werden. 594 Nach angebotstheoretischer und monetaristischer Anschauung sei es deshalb vor allem falsch, in schwachen Beschäftigungszeiten Unterbeschäftigung in der Absicht nicht nur kurz-, sondern langfristiger Besserung durch "deficit spending" bekämpfen zu wollen, zumal dann, wenn vor allem politischökonomische Ausnahmesituationen als Ursache zugrundeliegen. 595 Eine keynesianische Fiskalpolitik könnte hier sogar den gegensätzlichen Effekt bewirken. Einen Ausgleich des Arbeitsmarktes könne nur der Markt selbst zustandebringen. Wichtigste Voraussetzung dafilr sei die vorrangige Verfolgung der Preisstabilität, um die Funktionsfähigkeit des Gesamtmarktes zu optimieren. Insbesondere müsse daher das Beschäftigungsziel hinter das ihm als Voraussetzung
Soziale Marktwirtschaft und Globalsteuerung, in: ders. (Hrsg.): Soziale Marktwirtschaft im Wandel, 1973, S. 159 ff. 593 Dazu etwa W Höfling, Staatsschuldenrecht - Rechtsgrundlagen und Rechtsmaßstäbe für die Staatsschuldenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1993, S. 230 f; vgl. zum Haavelmo-Theorem kurz etwa auch J. Siebke!H. J. Thieme, Einkommen, Beschäftigung und Preisniveau, in: D. Bender u.a. (Hrgs.): Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. I, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 95 ff. (S. 117).
594 Vgl. zu "Crowding-Out"-Effekten H. Tomann, Stabilitätspolitik. Theorie, Strategie und europäische Perspektive, 1997, S. 143 ff:, U Teichmann, Grundriß der Konjunkturpolitik, 5., verb. und erw. Aufl., 1997, S. 165 ff.; zurückhaltender G. Tichy, Konjunkturpolitik. Quantitative Stabilisierungspolitik bei Unsicherheit, 3., neub. Aufl., 1995, S. 217 ff.; auch J. Siebke/H. J. Thieme, Einkommen, Beschäftigung und Preisniveau, in: D. Bender u.a. (Hrgs.): Vahlens Kompendium, Bd. 1, 7., überarb. und erw. Aufl., 1999, S. 95 ff. (S. 133 ff., 140 ff.); M Neumann, Theoretische Volkswirtschaftslehre I, 4., überarb. Aufl., 1991, S. 189 ff.; W Lachmann, Fiskalpolitik, 1987, S. 167 ff. 595
Vgl. H. -R. Peters, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. und erw. Aufl., 1995, S. 240.
202
4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
dienende Ziel der Preisstabilität zurücktreten und dürfe nicht mehr direkt verfolgt werden. 596 Insgesamt bleibt aber festzustellen, daß sich die Volkswirtschaftslehre mit ihren wirtschaftspolitischen Konzeptionen derzeit in einem sehr uneinheitlichen Bild zeigt, was sicherlich auf die Vielzahl von Voraussetzungen und Interdependenzen sowie die Grenzen der Übertragbarkeit von Theorie auf Praxis und Unterschiede von Theorie und Empirie bedingt ist. Monetarismus und Angebotstheorie haben jedenfalls trotz aller Kritik eine auf die Theorie von Keynes gestützte Sichtweise nicht vollständig verdrängen können. So verschieden sich manche Standpunkte auch darstellen, so nähern sie sich dabei doch stellenweise an.s97
b) Auswirkung nur auf die Mittel zur Zielerreichung, nicht auf die Zielvorgabe: Die Beständigkeit der Zielsetzung durch das Recht Die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft - wenngleich bei der Uneinheitlichkeit des Bildes ziemlich schwierig - müssen fraglos von der Wirtschaftspolitik berücksichtigt werden, allerdings nur im Hinblick darauf, ein vorbestimmtes Ziel oder vorgegebene Ziele zu erreichen - das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht des Art. 109 Abs. 2 GG im Sinne des Zielkanons des § I Satz 2 StWG. Mit anderen Worten: Ein Festhalten an der Konzeption antizyklischer Haushaltspolitik als "Allheilmittel", wie es zum Zeitpunkt der Finanzreform vielen (Wunsch-)Vorstellungen entsprach, käme sicherlich nicht mehr der von der Lage geforderten Sachlichkeit gerecht. Aber wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntniswandel fließt - so das Ergebnis und die These der hiesigen Betrachtung - lediglich in den Bereich der Mittel zur Zielerreichung ein, das ein solches Ziel voraussetzt.598 Die Zielsetzung aber ist Sache des 596 Dazu kurz H. Tomann, Stabilitätspolitik. Theorie, Strategie und europäische Perspektive, 1997, S. 63 f; B. Molitor, Wirtschaftspolitik, 4., durchges. Aufl., 1992, s. 93. 597 Vgl. dies im Überblick zum Ausdruck bringend G. Tichy, Konjunkturpolitik. Quantitative Stabilisierungspolitik bei Unsicherheit, 3., neub. Aufl., 1995, S. 181 f.; mit speziellem Blick auf Beschäftigungspolitik auch 0. Landmann/J. Jerger, Beschäftigungstheorie, Berlin u.a. 1999, S. 273 ff. 598 So bemerkt A. Woll, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. und erg. Autl., 1992, S. 159: "Letztlich sind aber nicht die Ziele, sondern die Mittel der Stabilitätspolitik ordnungspolitisch zu beurteilen."; vgl. auch K. Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: HStR, Bd. IV, 1990, § 87, Rn. 17: "Die ,neuen Erkenntnisse', filr die Art. 109 GG offen ist, können sich also nur auf die Voraussetzungen filr die Verwirklichung jener Verfassungsaufgabe und auf die zu ihrer Verwirklichung geeigneten, unter
2. Kap.: Der Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht"
203
Rechts, das sich dazu durchaus ursprünglich wirtschaftswissenschaftlicher Begriffe bedienen kann. Das Grundgesetz sieht hierfilr das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht vor, das unter Rechtsaspekten ein Nebeneinander von Preisstabilität, hohem Beschäftigungsstand, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht sowie angemessenem stetigen Wachstum umfaßt. Eine solche Sichtweise widerspricht nicht der Offenheit des Verfassungsbegriffs Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht. Denn die vom Verfassungsgeber bezweckte und später auch vom Bundesverfassungsgericht vertretene Offenheit richtete sich gemäß dem Verfassungserfordernis der Anpassungsflihigkeit an die sich wandelnde Lage stets gegen die verfassungsmäßige "Zementierung" des aktuellen wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisstands - gleich welcher Art. 599 Das Stabilitätsgesetz liefert aber mit § 1 Satz 2 vier wirtschaftliche Größen, die in zweifacher Weise zu verstehen sind600 : Sie stehen zwar einerseits in einem besonderen Verhältnis zur wirtschaftstheoretischen Konzeption keynesianischer Prägung, sind deshalb als reine "Erfordernisse", als funktionale Voraussetzungen, einer Zielkonstellation "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" und damit als unter wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisdirektive stehende Aspekte der Zielerreichung zu verstehen; nur diesbezüglich, also in bezug auf wirtschaftspolitische Maßnahmen, mag es sein, daß ein Erkenntnisfortschritt hier auch zu Veränderungen im ZielgefUge fUhrt. Die Zielkomponenten verfUgen aber andererseits - mit Ausnahme des außenwirtschaftliehen GleichgeUmständen gebotenen Methoden beziehen. Worin die Aufgabe liegt, kann nur die Verfassungsauslegung bestimmen." 599 Also Offenheit als Absage nicht nur an keynesianische, sondern jede Wirtschaftstheorie (vgl. W Höfling, Staatsschuldenrecht - Rechtsgrundlagen und Rechtsmaßstäbe filr die Staatsschuldenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1993, S. 235 ff.), was sich wohl im Hinblick auf die offenkundigen Unzulänglichkeiten der antizyklischen Fiskalpolitik, aber genauso auch im Hinblick auf die Schwächen der neoliberalen monetaristischen Auffassung als uneingeschränkt richtig erweist, die - empirisch angesichts der heutigen Situation hoher Preisstabilität und dennoch beträchtlich hoher Arbeitslosigkeit widerlegt - auf die dort als hinreichend angesehene Preisstabilität Wirtschaftstheorie ist wie jede Theorie eben kontingent; vgl. zur Theorie als bestmöglich erfaßte Wirklichkeit K. R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, 4. Aufl. 1984, S. 44 ff., 100, 276, 332 ff., 337, 342; dazu K. A. Schachtschneider, Der Rechtsbegriff "Stand von Wissenschaft und Technik" im Atom- und Immissionsschutzrecht, in: W. Thieme (Hrsg.): Umweltschutz im Recht, 1988, S. 81 ff. (S. 101 ff.). 600 Die zweifache Deutung verhält sich analog zu BVerfGE 22, 180 (204) (vgl. oben 3. Teil, 1. Kap., III., 3.): § I Satz 2 StWG liefert eine Materialisierung des "Was", die vier Zielsetzungen des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als Ausdruck des sozialen Stabilitätsprinzips, als auch das "Wie" durch die "Funktionalisierung" der vier Teilziele im Sinne einer bestimmten, aber nicht verfassungsmäßig verankerten, wirtschaftstheoretischen Konzeption.
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4. Teil: Auslegung des Verfassungsprinzips
wichts - über ein hohes Maß an begrifflicher und materieller Eigenständigkeit und sind insofern fUr die Verfassungsauslegung tatsächlich so zu sehen, wie sie in der Literatur bezeichnet werden: als - rechtlich defmierte - Teilziele des sie zusammenfassenden Verfassungsziels des Gesamtwirtschaftlichen G leichgewichts. Als solche sind sie sowohl in ihrem Bestand als auch in ihrem Verhältnis zueinander unabhängig von zeitlich kontingenter wirtschaftswissenschaftlicher Theorie und unterliegen nur der Rechtsetzung. 601 Mehr noch: Abgesehen davon, daß die Wirtschaftswissenschaft über keine solche Determinationskraft verfUgt, stärkt sie diese Zielkonstellation; nimmt sie doch mittlerweile dem Magischen Viereck zum Teil die ursprüngliche Magie und den Kritikern die Kritik der klassischen Zielkonflikte, da diese hauptsächlich an die in ihrer Ausschließlichkeit überkommene keynesianische Lehre gekoppelt waren.
601 Vgl. so auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht J. Berger, Vollbeschäftigung als Staatsaufgabe?, in: D. Grimm (Hrsg.): Staatsaufgaben, 1994, S. 553 ff. (S. 579): "Schließlich bleibt Vollbeschäftigung ein erstrebenswertes Ziel, auch dann, wenn es nicht durch ,demand management' eingelöst werden kann."
Fünfter Teil
Stabilität als Vertragsprinzip für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion: Die "Stabilitätsgemeinschaft" Die bisherigen Ausfilhrungen haben gezeigt, daß die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland das aus dem Sozialprinzip hervorgehende Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität enthält. Es umschließt um der allgemeinen Selbständigkeit willen die wirtschaftlichen Größen Preisniveaustabilität, hohe Beschäftigung und angemessenes Wachstum als seine ökonomischen Imperative. In der Staatszielbestimmung der im Ergebnis allgemeinen staatlichen Verpflichtung aufdas Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gemäß Art. 109 Abs. 2 GG findet es seine verfassungspositive spezifische Ausprägung. Das hinter dem im Grundgesetz offenen Begriff Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht liegende Verständnis wird klar durch die in ihrem verstandenen, d.h. nicht ausschließlich als Mittel zur Zielerreichung zu interpretierenden Teilziele des auf den Begriff rekurrierenden § l Satz 2 StWG. Sie entsprechen mit Ausnahme des funktional ergänzenden Zielelements außenwirtschaftliches Gleichgewicht den ökonomischen Imperativen des Sozialprinzips und sind konstituierende, untereinander gleichgewichtete Bestandteile des Verfassungs- und damit des Rechtsbegriffs der gesamtwirtschaftlichen Stabilität. Der besondere Wesenszug dieses zieldefinierenden Verfassungsbegriffs liegt- notwendig analog zur allgemeinen Offenheit des Sozialprinzips - in der Offenheit gegenüber den Mitteln zur Zielerreichung, die kontingenten nationalökonomischen Theorien entspringen. Der hier beginnende Fünfte Teil befaßt sich zunächst mit der vertraglichen Umsetzung der "Stabilität" sowie dem daraus resultierenden Stabilitätsverständnis in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion als "Stabilitätsgemeinschaft".602 Anschließend erfolgt der Vergleich zwischen dem "Stabili-
602 Alle Vertragsangaben beziehen sich auf die Gemeinschaftsverträge in der konsolidierten Fassung nach dem Vertrag von Amsterdam vom 2. 10. 1997; wird Bezug zu alten Regelungen der Verträge in Maastrichter Fassung hergestellt, sind die Vertragsstellen um "a.F." (alte Fassung) ergänzt.
206
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip ftlr die EWWU
tätsprinzip" des nationalen deutschen Rechts und der Stabilitätsausrichtung im europäischen Gemeinschaftsrecht Von dem Ergebnis dieser komparativen Betrachtung in der Sache abgesehen, ist dieser Aspekt von entscheidender Bedeutung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der erfolgten Anfangsbeteiligung und des weiteren Mitwirkens Deutschlands an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, filr welche ausweislich Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und bekräftigt durch das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Vereinbarkeit mit den wesentlichen Grundsätzen und Prinzipien der deutschen Verfassung Voraussetzung ist. Hierzu gehört vor allem auch das soziale Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität in seiner Materialisierung durch das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht.603
Erstes Kapitel
Dem Sozialprinzip verpflichtete Europäische Union unter dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb I. Der vertragliche Grundsatz der offenen Marktwirtschaft /. Der Grundsatz im Vertragstext Mit dem Maastricht-Vertrag wurde eine mehrfach bemühte Formulierung in den Gemeinschaftsvertrag aufgenommen, die prima facie anders als das Grundgesetz ftlr Deutschland der Europäischen Gemeinschaft ein Wirtschaftsordnungsmodell zu verordnen scheint. Art. 4 Abs. 1 und 2 EGV unterstellt im ersten Teil des EG-Vertrages,dem laut der Vertragsteilüberschrift die "Grundsätze" der Gemeinschaft zu entnehmen sind, die Tätigkeit der Gemeinschaft wie die der Mitgliedstaaten im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik dem "Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Dieser wird wieder aufgegriffen in Art. 98 EGV- der Einftlhrungsregelung zum Kapitel zur Wirtschaftspolitik, die dem Vertrag nach, jedenfalls formal, auch nach
603 Vgl. R. Scholz, Art. 23, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 21 ; vgl. BVerfGE 89, 155 (200 ff.); W Hanke/l W Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, s. 200 ff.
1. Kap.: Dem Sozialprinzip verpflichtete Europäische Union
207
Amsterdam unverändert bei den Mitgliedstaaten verbleibt604 - ebenso wie in Art. 105 EGV, der Ziele und Aufgaben ftlr das Europäische System der Zentralhanken regelt. Ersterer legt dem wirtschaftspolitischen Handeln der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, der zweite dem vergemeinschatteten währungspolitischen Handeln des Zentralbanksystems jenen Grundsatz zugrunde. Anders als in Art. 4 Abs. I und 2 EGV erfolgt in beiden Fällen jedoch die in einem Nebensatz gefaßte kompromißhafte Ergänzung: "wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen getbrdert wird". 2. Ausrichtung auf den Grundsatz und der Effizienzvorbehalt
In der Implementierung dieses Grundsatzes wird im allgemeinen die vertragliche Fixierung des marktwirtschaftlieben Wettbewerbsprinzips gesehen, die ausschließlich marktwirtschaftliche Maßnahmen in den Politikbereichen gestattet; jedoch handelt es sich keinesfalls um eine Entscheidung ftlr ein bestimmtes, möglicherweise sogar auf das konkrete Vorbild eines Mitgliedstaates zurückgehende, WirtschaftsordnungsmodelL605 Unklarheit schafft der deutsche Vertragstextallerdings im Hinblick auf den Zusatz in Art. 98 und Art. 105 EGV; denn die Formulierung "wodurch" spricht eigentlich nicht ftlr dessen rein deklaratorische Funktion, auf die er zumeist degradiert wird, die aber im normativen Rechtstext fehl am Platz ist. 606 Selbst wenn eine offensichtlich rein erklärende Formulierung gewählt wäre, etwa ein einfacher Relativsatz, müßte diese Ergänzung deshalb als Konditionale verstanden werden. Das erkennen schein-
604 Art. 98, 99 EGV; so zumindest in den Augen der h.M. auch faktisch; vgl. M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, 5., neubearb. und erw. Aufl., 1996, Rn. 1459; K. Stern, Die Konvergenzkriterien des Vertrags von Maastricht und ihre Umsetzung in der bundesstaatliehen Finanzverfassung, in: 0. Due u.a. (Hrsg.): FS filr U. Everling, 1995, S. 1469 ff. (S. 1471 f.); eine Einschränkung ergibt sich unterdessen schon durch die Grundsatzbindung in Art. 4 Abs. 3 EGV, dazu gleich 5. Teil, 2. Kap., 1., 2., b), i), sowie weiter unten 5. Teil, 3. Kap., IV.
605 Insoweit besteht im Schrifttum wohl Einigkeit; vgl. G. Nicolaysen, Europarecht li -Das Wirtschaftsrecht im Binnenmarkt, I. Aufl., 19%, S. 320: "Mit dieser Festlegung wird das marktwirtschaftliche Prinzip definitiv in den Verfassungstext der EG rezipiert", weswegen "eine Entscheidung filr eine andere , Wirtschaftsverfassung' nicht zulässig" sei; R. Bandil/a, Art. 3a EGV, in: Grabitv'Hilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 7, spricht von "ordnungspolitischer Programmsatz" und "politische und rechtliche Aussage" dahingehend, nur marktwirtschaftskonforme Mittel zu ergreifen, /. Pernice, Art. 105, in: Grabitv'Hilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 8, von "ordnungspolitische Grundentscheidung". 606
Zu beachten ist auch die Textversion in englischer Sprache ("favouring").
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip filr die EWWU
bar auch Teile der Literatur.607 Entscheidend ist jedoch, daß "der effiziente Einsatz der Ressourcen" wohl Erkenntnisvoraussetzung der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb ist; die offene Marktwirtschaft und das Wettbewerbsprinzip stellen insofern die nach derzeitigem Erkenntnisstand bestmögliche Grundlage ftlr eine effiziente Ressourcennutzung dar, welche sich schließlich nur an den Zielen des Art. 2 EGV, die das Sozialprinzip zum Ausdruck bringen, messen lassen kann. 608 Die Tatsache, daß sich die Ergänzung nur in den spezifischen Nonnen zur Wirtschafts- und Währungspolitk fmdet, während sie im "Grundsatz-Teil" des Vertrags Art. 4 Abs. I und 2 EGV fehlt, 609 dürfte keine Auswirkung auf die Reichweite dieser Effizienzausrichtung entfalten; denn eine Beschränkung der Ergänzung des Grundsatzes lediglich ftlr den wirtschafts- und währungspolitischen Kontext ergibt keinen Sinn; schließlich läßt ein Grundsatz, der Grundsatz sein soll, auch keine solche differenzierte Modifikation zu.
II. Die Verpflichtung der Europäischen Union auf das Sozialprinzip Versteht man mit der herrschenden Lehre den Unionsvertrag und die Gemeinschaftsverträge als Verfassung der Europäischen Union oder billigt man ihnen jedenfalls Verfassungscharakter zu610, so läßt sich auch ihnen - insbe607 I. Pernice, Art. 105 EGV, in: GrabitzJHilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 9, erkennt in der Ergänzung zunächst lediglich eine Beschreibung, schließlich aber auch eine nonnative Aussage filr den Vorrang der optimalen RessourcenaBokation ggü. anderen positiven Effekten der Verfolgung des Grundsatzes der offenen wettbewerbliehen Marktwirtschaft; R. Bandilla, Art. 102a EGV, in: GrabitzJHilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 4, erwägt zwar eine solche Nonnativität der Ergänzung, kommt aber aufgrunddes "vagen Wortlauts" und der geringen Einflußmöglichkeit der Gemeinschaft auf die Ressourcennutzung zum Ergebnis ihrer rein deklaratorischen Funktion; den Aspekt nicht reflektierend dagegen K. Büngerl F. v. Estorff, Art. I 02a, in: Groeben!Thiesing/Ehlennann, EU-, EG-Vertrag, 5. Aufl. 1999. 608 So W Hanke/lW Nölling!K. A. Schachtschneider!J Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 224 f.; K. A. Schachtschneider, Die existentieile Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/ K. A. Schachtschneider (Hrsg. ): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff. (S. 132 f.); A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000, S. 205 ff.
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Im Schrifttum Jassen sich dazu keine Erklärungen erkennen.
Zu den Verträgen als "Verfassung", als Verfassungstext oder ihrem Verfassungscharakter vgl. BVerfGE 22, 293 (296): "Der EWG-Vertrag steilt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar."; ebenso EuGH, Gutachten l/91 zum Entwurf eines Abkommens über die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraumes, Slg. 1991, S. 6079 (6102); kurz und prägnant m.w.N. K. A. Schachtschneiderl A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum 610
I. Kap.: Dem Sozialprinzip verpflichtete Europäische Union
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sondere nach Arnsterdam - ein gemeinschaftsverfassungsmäßiges Sozialprinzip entnehmen, auch wenn Art. 6 Abs. l EUV in den Grundsätzen der Union den sozialen Aspekt vermissen läßt611 •612 Die Union als Rechtsgemeinschaft muß ohnehin dem Sozialprinzip als verfaßte Einheit verpflichtet sein.613 Dem
nationalen Recht Deutschlands (Teil I), DSWR 1999, S. 17 ff. (S. 19, insb. Fn. 29); K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeil der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff. (S. 84 ff.); i.d.S. auch BVerfGE 89, 155 (171 ff., 181 ff.); K. A. Schachtschneider!A. EmmerichFritsche!Th. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, S. 751 ff. (S. 757 f. ); K. A. Schachtschneider u.a., Europarecht I, unveröff. Manuskript des Lehrstuhls filr Öffentliches Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliehe Fakultät Nümberg, Nümberg, Stand Okt. 2000, § l, insb. S. 25 ff.; M Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Gemeinschaft, in: W. Blomeyer/ K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 9 ff. (S. 12 ff., 33 ff.); ders., Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545 ff. (S. 545 f.); ders., Art. l, in: Groeben!Thiesing!Ehlermann, EWGVertrag, Bd. l, 4., neubearb. Aufl., 1991, Rn. 10; B. Beutler/R. Bieber/J. Pipkornl J. Streil, Die Europäische Union, 4., neubearb. Aufl., 1993, S. 50 f.; R. Steinberg, Grundgesetz und Europäische Verfassung, ZRP 1999, S. 365 ff. (S. 371 ff.); skeptisch A. B/eckmann, Europarecht, 6., neub. und erw. Aufl., 1997, Rn. 532 ff.; weiter zur früheren "Verfassungs-Diskussion" etwa die Beiträge in J. Schwarze!R. Bieber (Hrsg.): Eine Verfassung filr Europa, 1984; später D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung, JZ 1995, S. 581 ff.; W. Hoyer, Europa braucht eine Verfassung, in: Die Welt vom II. 2. 1999, S. 10; G. C. R. Ig/esias, Zur "Verfassung" der Europäischen Gemeinschaft, EuGrZ 1996, S. 125 ff.; Ch. König, Ist die Europäische Union verfassungsfllhig?, DÖV 1998, S. 268 ff.; Th. Läufer, Zum Stand der Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union, und H. Lecheler, Braucht die "Europäische Union" ein Verfassung?- Bemerkungen zum Verfassungsentwurfdes Europäischen Parlaments vom 9. September 1993, beide in: A. Randelzhofer u.a (Hrsg.): GS filr E. Grabitz, 1995, S. 355 ff., S. 393 ff.; H. H. Rupp, Europäische "Verfassung" und demokratische Legitimation, AöR 120 (1995), S. 269 ff.; J. Schwarze, Ist das Grundgesetz ein Hindernis auf dem Weg nach Europa?, JZ 1999, S. 637 ff. (S. 642 ff.); zuletzt auch ders.. Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung- Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, EuR-Beiheft l/2000, S. 7 ff.; bezüglich der Verfassungsfrage der Europäischen Grundrechtscharta vgl. K. A. Schachtschneider, Ein Oktroi, nicht die gemeinsame Erkenntnis freier Menschen von ihrem Recht, in: FAZ vom 5. 9. 2000, S. 9/10. 611 "Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit."; der frühere Art. F EUV aF. kannte solche Grundsätze nicht. 612 V gl. H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR. Bd. I, 1987, § 25, Rn. 16; M Zuleeg. Art. 1, in: Groeben!Thiesing!Ehlermann, EWG-Vertrag, Bd. l , 4., neubearb. Aufl., 1991, Rn. 49; zur Sozialunion in EuropaJ. C. K. Ring/er, Die Europäische Sozialunion, Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht, Bd. 6, 1997. 613
Vgl. BVerfGE 84, 90 (120 f., 126); siehe dazu auch oben 3. Teil, I. Kap., III., 3.
14 Hlinsch
210
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
entsprechen allen voran die Zielsetzungen des Art. 2 EGV, diesen dienend aber auch die Politikbereiche der Gemeinschaft, nun vor allem auch das Kapitel über die Sozialpolitik in Titel XI des Vertrags. 614 Daneben ist die Gemeinschaft nach wie vor durch eine Reihe dirigistischer Komponenten geprägt, so etwa im Bereich der Umweltpolitik und des Agrarmarkts. Das Sozialprinzip ist neben den Grundfreiheiten sowie den in die Gemeinschaft hineinwirkenden Grundrechten der Mitgliedstaaten wesentlicher Bestandteil der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union. Sie bedient sich der Funktionsweise des Wirtschaftsordnungsmodells der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, weil und insoweit sie nach derzeitigem Erkenntnisstand den höchsten Grad an Effizienz bringt. Nicolaysen hält hierftlr den Begriff "gemischte Wirtschaftsverfassung" ftlr angebracht615, Schachtschneider vertritt (auch ftlr die Europäische Union) die "marktliche und wettbewerbliehe Sozialwirtschaft" 616• Die Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft ist marktlieh und sozial zugleich, sie läßt dementsprechend nur eine marktlieh-soziale Wirtschaftsordnung zu. 617
614 Die Interpretation der "Aufgaben" des Art. 2 EGV als Ziele/Zielsetzungen ist üblich; der Vertrag selbst spricht z.B. in Art. 102a EGV von "Ziele der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2". Weiterhin gelten die "Tätigkeiten der Gemeinschaft" aus Art. 3 EGV als eigentliche Aufgaben; dazu kurz A. v. Bogdandy, Art. 2 EGV, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union (neu), Rn. 2 ( 615 G. Nico/aysen, Europarecht ll - Das Wirtschaftsrecht im Binnenmarkt, I. Aufl., 1996, s. 320. 616 K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche/Th. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, S. 751 (S. 756); W. Hanke// W. Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 224 f. 617 Zur Europäischen Wirtschaftsverfassung vgl. J. Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, 1992; M Kläver, Die Verfassung des Marktes, 2000, S. 239 ff.; P. Badura, Wandlungen der europäischen Wirtschaftsverfassung, EuR-Beiheft 112000, S. 45; U. Ever/ing, Wirtschaftsverfassung und Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, in: U. Immenga u.a. (Hrsg.): FS für E.-J. Mestmäcker, 1996, S. 365 ff.; E.-J. Mestmäcker, Zur Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, in: R. H. Hasse/J. Mols/ J. Berger/Ch. Watrin (Hrsg.): Ordnung in Freiheit. FS für H. Willgerodt zum 70. Geburtstag, 1994, S. 263 ff.; aus ordnungspolitischer Sicht auch W. Harbrecht, Die Soziale Marktwirtschaft und die europäische Integration: Wie sozial ist die Wirtschaftsordnung der Europäischen Union, in: W. Lachmann!R. Haupt/ K. Farmer (Hrsg.): Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft - Chancen und Risiken, 1996, s. 49 ff.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
211
Zweites Kapitel
Positive Regelungen einer gesamtwirtschaftlichen Stabilität in der Europäischen Union Zunächst fmdet sich eine Reihe von Stabilitätsaspekten in den Präambeln und in diversen Artikeln, die Zielsetzungen und Grundsatzbestimmungen enthalten. Neben diesen grundlegenden Äußerungen flillt anschließend der Blick auf die materiellen Vorgaben des Primärrechts im EG-Vertrag sowie des weiteren auf etwaige ergänzende sekundärrechtliche Regelungen, die das Thema gesamtwirtschaftlicher Stabilität im Kontext der Wirtschafts- und Währungsunion berühren.
I. Wirtschaftliche "Stabilität" als Zielsetzung des EU-Vertrages und des EG-Vertrages 1. Stabilitätsaspekte im allgemeinen Kontext des EU-Vertrages a) Präambel Der EU-Vertrag als Rahmenvertrag nennt in seiner Präambel im 7. Erwägungsgrund die Absicht, "die Stärkung und die Konvergenz ihrer Volkswirtschaften herbeizuftlhren und eine Wirtschafts- und Währungsunion zu errichten, die im Einklang mit diesem Vertrag eine einheitliche, stabile Währung einschließt" (Hervorh.d.Verf. ).
Im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Währungsunion wird also die "Stabilität" - bezogen auf die einheitliche Währung - zum Ziel gesetzt. ohne diese näher zu spezifizieren. Insofern bleibt offen, ob damit nun ausschließlich interne Preisniveaustabilität oder die Stabilität des Außenwertes oder beide gemeint sind. Im Hinblick auf die im EG-Vertrag sonst konsequent vorzufmdende Formulierung "Preisstabilität"618 allerdings könnte- unterstützt von der übergreifenden und vorausblickenden Funktion der Präambel im Zusammenhang mit der jedenfalls mittelfristigen unmöglichen Loslösung des Binnenwerts vom Außenwert - eine weite, d.h. Binnen- wie Außenwert des Geldes umfassende Deutung begründet werden. 618
14*
Art. 4 Abs. 3, Art. 105 Abs. 1, Art. 111 Abs. 1, Art. 121 Abs. 1 EGV.
212
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
Der anschließende (7.) Erwägungsgrund der Präambel sah in der alten Fassung des Maastrichter Vertrages ftlr die Europäische Union vor, "den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Völker zu ilirdern" (Hervorh.d. Verf. ).
Mit der Amsterdamer Vertragsrevision wurde dieser Vorsatz des- dann 8.Erwägungsgrundes beibehalten und angereichtert um die bedingende "Berücksichtigung des vorh.d. Verf. ).
Grundsatzes
der
nachhaltigen
Entwicklung"
(Her-
Die neue Betonung des Nachhaltigkeitsaspekts spielt zusammen mit der Stabilität der Währung, da die Stabilität des Binnen- und Außenwerts der Währung einer langfristig stetigen Entwicklung bedarf und durch auf kurzfristige Wirkung abstellende wirtschaftspolitische Maßnahmen gestört werden würde.
b) Art. 2 EUV Das wirtschaftliche und soziale Fortschrittsziel wurde schließlich bei den in Art. B EUV a.F. aufgeftlhrten Zielen der Union wiederholt (1. Spstr.); der in der Präambel erst durch Amsterdam eintllgte Aspekt der Nachhaltigkeil war im Maastrichter Text zwar schon durch die nähere Qualifikation "dauerhaft" integriert. In der nunmehr gültigen Amsterdamer Fassung des Art. 2 1. Spstr. EUV entschieden sich die Vertragsparteien jedoch zur textlichen Angleichung des Ziels in Präambel und Art. 2, indem sie auch hier den Nachhaltigkeitsgedanken separierten, ftlgten aber darüber hinaus zusätzlich das explizite Unions-Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus ein. Art. 2 1. Spstr. EUV lautet: "die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie die Herbeiführung einer ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung ..." (Hervorh.d. Verf.).
c) Beschäftigung, Wachstum, nachrangig Preisstabilität als Unionsziele Davon ausgehend, daß der "wirtschaftliche Fortschritt" i.V.m. der "nachhaltigen Entwicklung" implizit den Aspekt des stetigen und angemessenen Wachstums des Prinzips gesamtwirtschaflticher Stabilität erfaßt, ist festzustellen, daß ausweislich des relevanten Art. 2 EUV zu den Zielsetzungen der Union Beschäftigung und eben Wachstum zu rechnen sind. Der Aspekt der Preisniveaustabilität findet sich allenfalls- wenn auch nicht wörtlich, sondern in Form
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
213
der "stabilen Währung" - nur in der Unionspräambel, wie es bereits in der Maastrichter Textversion der Fall war. Letztere nannte dagegen das Beschäftigungsziel noch nicht explizit.
2. Stabilitätsaspekte im EG-Vertrag a) Stabilitätsaspekte im allgemeinen Kontext des EG-Vertrages
aa) Präambel Wie die Präambel des Unionsvertrags enthält auch die des EG-Vertrags sowohl in alter als auch neuer Fassung das Fortschrittsziel: Die Gemeinschaft zeigt sich gemäß dem 2. Erwägungsgrund "ENTSCHLOSSEN, ... den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, ...".
Die Absichtserklärung fllgt indes im Gegensatz zum Unionsvertrag nicht die Bedingung der Nachhaltigkeit an und spricht im übrigen nicht vom Fortschritt der Völker, sondern dem der Länder. Ferner verzichtet die Präambel des EGVertrags auf die Nennung der Wirtschafts- und Währungsunion geschweige denn des Ziels der stabilen Währung. Konkreter nimmt sie in der aktuellen Version und nahm sie in der Maastrichter Fassung im 3. Erwägungsgrund hingegen das Beschäftigungsziel auf, das durch den Begriff "Bedingungen" eine stärkere qualitative Komponente erflihrt, die aber auch eine eingeschränktere Zielinterpretation im Sinne von "besseren Arbeitsumständen" zuläßt. "IN DEM VORSATZ, die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel anzustreben, ..."
bb) Art. 2 und 3 EGV Während die Präambel des Gemeinschaftsvertrages auch in ihrem weiteren Verlauf eher wenig konkret bleibt, differenziert und konkretisiert Art. 2 EGV die verbindlichen, nicht nur als Programmsätze, sondern als Rechtspflichten zu betrachtenden allgemeinen Ziele der Gemeinschaft. In akuteller Fassung lautet er: "Aufgabe der Gemeinschaft ist es, ... in der ganzen Gemeinschaft eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von
214
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip ftlr die EWWU
Männern und Frauen, ein beständiges, nichtinflationäres Wachstum, einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedern zu fOrdern." (Hervorh.d.Verf.).
Gegenüber dem Art. 2 EGV a.F. wurde mit Amsterdam der "harmonischen und ausgewogenen Entwicklung" nun noch das Adjektiv "nachhaltig" beigefUgt und das Wachstums-Adjektiv "umweltverträglich" zugunsten eines fllr sich stehenden Umweltziels herausgenommen. Darüber hinaus gelangte der Beschäftigungsaspekt in der Reihenfolge "weitgehend unbemerkt"619 weiter nach vorne, begleitet von der Neueinfllhrung eines separaten Vertragstitels zur Koordination der formal im Grundsatz bei den Mitgliedstaaten verbleibenden Beschäftigungspolitik der Gemeinschaft.620 Entsprechend mußte auch der die "Tätigkeiten" der Gemeinschaft enumerierende Art. 3 EGV n.F. die Beschäftigungspolitik aufnehmen. In lit. i) gibt er der Gemeinschaft nun die Aufgabe der "Förderung der Koordinierung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Verstärkung ihrer Wirksamkeit durch die Entwicklung einer koordinierten Beschll.ftigungspolitik".
Art. 3 lit. i EGV enthält mit dieser Formulierung nunmehr jedenfalls eine Bestärkung des Beschäftigungsziels. cc) Beschäftigung, Wachstum, nachrangig Preisstabilität als allgemeine Gemeinschaftsziele
Der allgemeine Zielkatalog der Gemeinschaft listet also sowohl das Wachstums- als auch das Beschäftigungsziel explizit auf; die Reihenfolge spiegelt dabei keine Rangordnung der als gleichrangig zu interpretierenden Zielelemente wider. 621 Ebensowenig läßt sich allein durch die Existenz eines gleichnami-
619 So die kritische Anmerkung von W Hanke/lW Nölling/K. A. Schachtschneiderl J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 57. 620 Dritter Teil, Titel VIII EGV; dazu etwa H Feldmann, Die neue gemeinschaftliche Beschäftigungspolitik, in: Integration, 21. Jg. (1998), S. 43 ff. 621 Vgl. etwa R. Geiger, Kommentar zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 2., neubearb. Aufl., 1995, Art. 2, Rn. 4; dementsprechend hat es auch keine wirkliche Auswirkung, daß das Beschäftigungsziel durch die Amsterdamer Vertragsrevision von seiner alten Plazierung nach dem nichtinflationären Wachstum nun vor dieses gelangte.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
2I5
gen Politikbereichs zwingend der Vorrang dessen Zielsetzung, also hier der Beschäftigung, ableiten. Nur implizit in Art. 2 EGV aufgenommen ist dagegen der Aspekt der Preisniveaustabilität in der Wachstumsqualifikation "nichtinflationär". Er kann- entgegen allgemeiner Auffassung- nicht als eigenständiges Ziel angenommen werden, da er lediglich in Verbindung mit Wachstum steht und sich gegen die dem Wachstum inhärente Inflationsgefahr wendet. Die noch auf den früheren Art. 2 EWGV bezogene Auffassung, das Zielelement "harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens" umfasse die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen des damaligen Art. I04 EWGV und damit auch die dort genannte Preisstabilität,622 ist nunmehr angesichts der expliziten Aufnahme des Beschäftigungsziels sowie eines fehlenden analogen Nachfolgers des Art. I 04 EWGV wohl nicht mehr aufrechtzuerhalten. 623 Wie schon bezüglich des EUVetrags gesehen, konzentriert sich auch die allgemeine Zielsetzung des Gemeinschaftsvertrags neben anderen auf die wirtschaftspolitischen Ziele der Beschäftigung und des Wachstums.
b) Stabilitätsaspekte im Kontext der Wirtschaftspolitiken aa) Die operativen monetären Grundsätze des Art. 4 EGV für die Wirtschafts- und Währungspolitik Während sich Art. 2 EGV im ersten mit "Grundsätze" getitelten Vertragsteil befindet und übergreifende Ziele der Gemeinschaft insgesamt setzt, die ftlr sämtliche Politikbereiche gelten, sind in den jeweiligen Vertragsabschnitten zu den einzelnen Politikbereichen aber häufig weitere bereichsspezifische Zielausftlhrungen und zielartige Leitgrößen bestimmt. Darüber hinaus sieht jedoch ebenfalls der allgemeine Grundsatzteil mit Art. 4 EGV - Amsterdam brachte hier keine inhaltliche Modifikation - insofern ausnahmehaft eine gesonderte Vorschrift ftlr den Politikbereich der Wirtschafts- und Währungsunion vor, deren dort formulierte Ziele und Aufgaben zwingend sind.624 Sein Absatz I 622 So in der früheren Kommentierung M. Zuleeg, Art. 2, in: Groeben!Thiesingl Ehlermann, EWG-Vertrag, Bd. I, 4., neubearb. Aufl., 1991, Rn. II; aktuell noch A. v. Bogdandy, Art. 2 EGV, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union (neu), Rn. 23, 27. 623
Siehe dazu sogleich unten 5. Teil, 2. Kap., 1., 2., c).
Vgl. R. Bandi/la, Art. 3a EGV, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 3 m.V.a. G. Nicolaysen, Rechtsfragen der Währungsunion, erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 17. 2. 1993, 1993, S. 41; auch etwa P.-Ch. Mü//er-Graff,Verfassungsziele der EGIEU, in: M. A. Dauses (Hrsg.): Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, Abschnitt A.l, Rn. 95, 117. 624
216
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip ftlr die EWWU
beschäftigt sich mit der Gemeinschaftsaufgabe der zunächst noch auf Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten beruhenden Wirtschaftspolitik und spricht lediglich von der Festlegung gemeinsamer Ziele, ohne diese an jener Stelle aber zu benennen oder konkret zu verweisen. Absatz 2 hingegen bestimmt zwar zunächst ebenfalls die Tätigkeit im Rahmen der Währungsunion, dann aber auch die konkretisierte politikbereichsspezifische klare Zielsetzung der Preisstabilität: " ... umfaßt diese Tätigkeit ... die Einfiihrung einer einheitlichen Währung, ... sowie die Festlegung und Durchfilhrung einer einheitlichen Geld- und Wechselkurspolitik, die beide vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen und unbeschadet dieses Zieles die allgemeine Wirtschaftspolitik ... unterstützen sollen" (Hervorh.d.Verf.).
Für die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft besteht an dieser Stelle also (noch) keine spezifische Zielsetzung, filr die Währungspolitik hingegen die des Vorrangs der Preisstabilität Art. 4 Abs. 3 EGV geht im folgenden einen Schritt weiter und benennt "richtungweisende Grundsätze", auf die sich später wiederum Art. 98 EGV sowie Art. 105 Abs. l EGV beziehen: "Diese Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft setzt die Einhaltung der folgenden richtungweisenden Grundsätze voraus: stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz" (Hervorh.d. Verf. ).
Diese Grundsätze gelten sowohl filr die Wirtschafts- als auch filr die Währungspolitik der Gemeinschaft wie die der Mitgliedstaaten, da zum einen nach der Artikelüberschrift "diese Tätigkeit" eben die "in der Wirtschafts- und Währungsunion" ist, zum anderen Art. 98 EGV filr die Wirtschafts- als auch Art. 105 Abs. l EGV filr die Währungspolitik des Europäischen Zentralbanksystems sich - namentlich - auf jene "Grundsätze" beziehen. Bandilla betont in seiner Kommentierung ausdrücklich - jedoch ohne daraus Konsequenzen zu ziehen -, es handle sich hierbei um Grundsätze, nicht um wirtschaftspolitische Zielbestimmungen, und habe auch filr die wirtschaftspolitische Kompetenz der Mitgliedstaaten entsprechende Auswirkung: "Es handelt sich nicht um Zielbestimmungen wie in Art. 104 EWGV aF, sondern, wie sich aus dem Wortlaut ergibt, um wirtschaftspolitische Grundsätze, die bei allen Entscheidungen zur Errichtung und zum Funktionieren der WWU zu beachten sind.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
217
... Das hat zur Folge, daß insbesondere die MS, obwohl grundsätzlich zuständig und verantwortlich fiir ihre nationale Wirtschaftspolitik ... , in der Wahl der Mittel nicht völlig frei sind, sie müssen bei der Gestaltung ihrer Politik die Grundsätze des Abs. 3 einhalten." 625
Unterscheidet man - wie die Wortwahl des Vertrags es tatsächlich nahelegt626 - diese "Grundsätze" und "Ziele", die an anderer Stelle stehen, so ist eine mögliche Trennlinie zwischen beiden die Relevanz des Grundsatzes als operatives Entscheidungskritierium filr Maßnahmen innerhalb der Wirtschaftsund Währungspolitik, um die höher angesiedelten (anderen) Ziele zu erreichen. Für einen solchen operativen Charakter der Grundsätze des Art. 4 Abs. 3 EGV spricht nicht nur die gegebene Differenzierung in der Textformulierung, sondern auch die Beschränkung dieser Grundsätze auf rein monetäre wirtschaftliche Größen. Die Herstellung der Parallele zur materialen Definition der Konvergenzkriterien des Art. 121 Abs. 1 EGV627 liegt nahe, weshalb die Grundsätze "stabile Preise" sowie "gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen" im Sinne des 1. und 2. Konvergenzkriteriums auszulegen sind. 628 Die Grundsätze des Absatz 3 sind "ständige Richtschnur fiir die Wirtschafts- und Währungspolitik der Gern. und der MS auch in der 3. Stufe, nicht nur Voraussetzung filr den Eintritt in diese Stufe."629
625 R. Bandilla, Art. 3a EGV, in: GrabitzJHilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 13; er widerspricht sich allerdings in der dortigen Kommentierung zu Art. l02a EGV, Rn. 2, wo er allem Anschein nach die Grundsätze des Art. 3a EGV wieder mit Zielsetzungen vermischt: "Über den Verweis auf Art. 2 wird auch das hohe Beschäftigungsniveau zu einem Ziel der Wirtschaftspolitik der WWU, obwohl es weder in Art. 3a noch in diesem Kapitel ausdrücklich genannt wird."
626 Offensichtlich in Art. 98 EGV, der einerseits auf die "Ziele" des Art. 2, andererseits auf die "Grundsätze" des Art. 4 verweist; die englische Textversion verwendet einerseits "objektives" oder "purposes", andererseits "(guiding) principles". 627
Siehe dazu gleich ganz ausfUhrlieh 5. Teil, 2. Kap., li., 2.
So auch R. Bandi/la, Art. 3a EGV, in: GrabitzJHilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 14 f.; daneben sei bereits an dieser Stelle auf die unten stehenden Ausfiihrungen vorgegriffen, die eine Parallele dieser Grundsätze zu den Konvergenzkriterien nicht nur im Hinblick auf die einzelnen Grundsatzelemente, sondern vor allem auf die Beschränkung auf monetäre Größen darlegen. 628
629 R. Bandilla, Art. 3a EGV, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 17, der sich dort flilschlicherweise dazu verleiten läßt, dieses Grundsatzbündel mit "Stabilität" gleichzusetzen ("Stabilität ist also ständige Richtschnur ...").
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
bb)Preisstabilität als vorrangiges Kriterium des Vertragsteils über die Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 98 EGV)
Die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft dient gemäß Art. 98 EGV den Gemeinschaftszielen des Art. 2 EGV, der wie gezeigt die vor allem wirtschaftspolitischen Ziele des Wachstums und der Beschäftigung vorgibt. Das wirtschaftspolitische Handeln soll zu diesen Zielen "beitragen", sich hierzu jedoch an die operativen Grundsätze des Art. 4 EGV "halten". Die Bindungswirkung der Grundsatzvorgabe scheint allein schon mit Blick auf die Wortwahl stärker zu sein. Der Verweis auf die Grundsätze des Art. 4 EGV kann nur auf die monetären Aspekte dessen Absatz 3 - also "stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft fmanzierbare Zahlungsbilanz" - bezogen sein, da die Absätze 1 und 2 verbleibend lediglich jeweils den "Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" beinhalten, der sich in Art. 98 EGV selbst jedoch bereits befindet und sich deshalb ein solcher Verweis erübrigt. Die Wirtschaftspolitik hat sich operativ, d.h. in ihrem Bemühen, anderweitige, d.h. in Art. 2 EGV vorgegebene Ziele zu erreichen, dementsprechend klar an diesen monetären Aspekten zu orientieren. Diese Ausrichtung der Wirtschaftspolitik wird begleitet von einer Währungspolitik, die - im wesentlichen betrieben vom Europäischen Zentralbanksystem- sich gemäß Art. 105 Abs. 1 EGV nicht nur wie die Wirtschaftspolitik an die Grundsätze des Art. 4 Abs. 3 EGV zu halten hat, sondern darüber hinaus vorrangig das diesen Grundsätzen inhaltlich zum Teil entsprechende Ziel der Preisstabilität zu verfolgen hat. Nur unbeschadet dieses Ziels unterstützt das Zentralbanksystem die den Zielen des Art. 2 EGV unterschiedslos verpflichtete "allgemeine Wirtschaftspolitik". Im Gegensatz zur Wirtschaftspolitik erfährt die Währungspolitik also eine Sonderstellung, da ihr ein eigenes, noch dazu mit Vorrang zu behandelndes sektorspezifisches Ziel gegeben ist. Zur Währungspolitik gehört neben den in Art. 105 Abs. 2 EGV genannten Aufgaben des Zentralbanksystems auch die Befugnis des Rats zu einer möglichen Festsetzung der Wechselkurse nach außen, fUr die Art. I 1 I Abs. I EGV die wesentlichen Regelungen bereithält. Demgemäß ist auch hierbei die Vereinbarkeit mit dem Ziel der Preisstabilität geboten. 630 Des weiteren schrieb der Vertrag in Art. 116 Abs. 2 Iit. a) und b) EGV noch fi1r die erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion "Preisstabilität und gesunde öffentliche Finanzen" als dominanten Aspekt der Konvergenzbemühungen vor.
630
Dazu näher unten 5. Teil, 2. Kap., II., 3., d).
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
219
cc) Die Zielsetzung im neuen Beschäftigungstitel
Mit der Amsterdamer Vertragsrevision wurde der Kreis der Gemeinschaftsaufgaben im VIII. Titel des Dritten Teils um eine zusätzliche- an sich thematisch in die Wirtschaftspolitik fallende - Politik im Bereich der Beschäftigung erweitert. Die grundsätzlich in mitgliedstaatlicher Hand verbleibende631 , auf Koordinierung angelegte gemeinschaftliche Beschäftigungspolitik wurde eingefilhrt, "um die Ziele des Artikels 2 des Vertrags über die Europäische Union und des Artikels 2 des vorliegenden Vertrags zu erreichen."632 Erstmalig erfolgt im EG-Vertrag ein Zielsetzungsverweis nicht nur auf Art. 2 EGV, sondern auch auf den Unionsvertrag. Wenngleich Art. 2 EGV wie auch Art. 2 EUV es ohnehin bereits als verpflichtendes Zielelement auftUhren, erflthrt das "hohe Beschäftigungsniveau" in Art. 127 des EG-Vertrages nochmalige Bekräftigung und generiert dort explizit zu einer Art "Querschnittsziel" ftlr alle Politikbereiche der Gemeinschaft; damit ergibt sich eine Ähnlichkeit zur Querschnittsvorschrift über die Gesundheitspolitik, obwohl diese stärker zu sein und direkteren Charakter innezuhaben scheint. 633 Art. 127 Abs. 2 EGV lautet: "Das Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus wird bei der Festlegung und Durchfiihrung der Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen berücksichtigt." (Hervorh.d.Verf.)
Die Eigenschaft als Querschnittsziel hat zwar Einfluß auf die Wirtschaftsund Währungspolitik, aber keine tatsächliche Auswirkung; denn die Zielsetzung des hohen Beschäftigungsniveaus galt ohnehin ftlr beide engeren Bereiche der Wirtschaftspolitik ("allgemeine Wirtschaftspolitik" und "Währungspolitik") wie generell ftlr jeden Politikbereich. Das Beschäftigungsziel ist ftlr die Beschäftigungspolitik nicht einmal "vorrangig" - wie die Preisstabilität ftlr die Währungspolitik. Zudem ändert sich nichts an der operativen Ausrichtung der Wirtschafts- und Währungspolitik an den Grundsätzen des Art. 4 Abs. 4 EGV und damit an der Einseitigkeit dieser Ausrichtung auf monetäre Größen.
631 Vgl. insb. Art. 127 Abs. I EGV: "Hierbei wird die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten beachtet." 632
Art. 125 EGV.
Anders kann wohl Abs. 2 nicht verstanden werden, wenngleich ihm die ausdrückliche Formulierung "aller" Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen wie etwa in Art. 152 Abs. I Unterabs. I EGV n.F. (früher ähnlich in Art. 129 Abs. I Unterabs. 3 EGV aF.) fehlt und generell schwächer formuliert ist; eine ähnliche Querschnittsfunktion ergab sich fiir die Umweltpolitik in Art. l30r Abs. 2 Unterabs. I Satz 3 EGV a.F., der mit Amsterdam entfiel. 633
220
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
c) Wirtschafts- und währungspolitische Ziele im vorhergehenden EWG-Vertrag Zur Interpretation der heutigen Zielsetzungslage in den Verträgen kann ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte und damit der Blick auf den alten EWGVertrag hilfreich sein. Während der Währungspolitik in der Gemeinschaft seit Maastricht speziell das Preisstabilitätsziel aufgegeben ist, die Wirtschaftspolitik dagegen nur im Dienst der allgemeinen Ziele des Art. 2 EGV steht und beiden bei demnach unterschiedlicher Zielsetzung zudem aber die gleichen, an monetären Größen festgemachten Grundsätze vorgegeben sind, gestaltete sich die Lage vor den Maastrichter Beschlüssen noch signifikant anders. Damals fand sich nämlich - adressiert an die Mitgliedstaaten, nach allgemeiner Auffassung aber ebenso fiir die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft selbst geltend634 - in Art. 104 EWGV eine ausdrückliche politikspezifische Zielsetzung fiir die Wirtschaftspolitik, auf die allein zwar die Vorschrift namentlich bezogen war. Sie galt aber schon über Art. 102a Abs. I EWGV gleichfalls für die Währungspolitik: "Jeder Mitgliedstaat betreibt die Wirtschaftspolitik, die erforderlich ist, um unter Wahrung eines hohen Beschäftigungsstandes und eines stabilen Preisniveaus das Gleichgewicht seiner Gesamtzahlungsbilanz zu sichern und das Vertrauen in seine Währung aufrechtzuerhalten." (Hervorh.d. Verf.)
Die allgemeinen Ziele der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Art. 2 EWGV umfaßten bis Maastricht neben anderen hier zu vernachlässigenden Aspekten die "harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens", eine (nicht weiter defmierte) "größere Stabilität" sowie die "beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung". Wachstum und Beschäftigung fanden also noch keine namentliche Erwähnung, wie es heute der Fall ist. Art. 6 Abs. 2 EWGV griff nochmals den Stabilitätsaspekt in konkretisierter Form, nämlich als "interne und externe finanzielle Stabilität" auf, die von den Mitgliedstaaten nicht geflihrdet werden sollte. Die Meinungen über die Vorschrift des Art. 104 EWGV zeigten Unterschiedlichkeit in der Herleitung, Einigkeit aber zumindest im Ergebnis dahingehend, daß das Gemeinschaftsrecht mit Art. 104 EWGV, der die Wachstumskomponente selbst nicht enthielt, in Verbindung mit der "beständigen und aus-
634 So B. Beutler/R. Bieber/J. Pipkorn/J. Streil, Die Europäische Union, 4., neubearb. Aufl., 1993, S. 422; Krämer, Art. 102a, in: Grabitz (EWGV), Rn. 3.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
221
gewogenen Wirtschaftsausweitung"635 das in Deutschland mit Art. 109 Abs. GG i.V.m. Art. 1 Satz 2 StWG verfassungsmäßige Staatsziel des im Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht liegenden "magischen Vierecks" widerspiegelte.636 Auf der Annahme basierend, Wirtschaftspolitik sei weit zu verstehen, d.h. sie umschließe also auch Teilaufgaben wie Sozial-, Beschäftigungsoder etwa Wechselkurspolitik, wurde eine Bindung letztlich aller Politiken in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an die Ziele des Art. 104 EWGV angenommen. 637 Sie allein nahmen jedoch nur das ältere Bild des "magischen Dreiecks" - Preisstabilität, Beschäftigung und ausgeglichene Zahlungsbilanz auf, ohne das Wachstumsziel zu integrieren. Zu seiner Einbindung mußte, wie geschehen, der Konnex zu Art. 2 EWGV hergestellt werden. Ein "magisches Viereck" im EWG-Vertrag existierte also nur bei Vermischung politikspezifischer mit allgemeinen Zielsetzungen, deren Zulässigkeil allerdings erstens mit 635 Sie sei gleichbedeutend mit dem Wachstum; vgl. M Zuleeg, Art. 2, in: Groebenffhiesing/Ehlennann, EWG-Vertrag, Bd. 1, 4., neubearb. Aufl., 1991, Rn. 13; E. Grabitz, Art. 2 EWGV, in: Grabitzll-lilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 5. 636 Vgl. A. B/eckmann, Europarecht, 5., neub. und erw. Aufl., 1990, Rn. 1810; Th. Oppermann, Europarecht, 1991, Rn. 814; allein aus Art. 2 argumentierend: M Zuleeg, Art. 2, in Groeben!Thiesing!Ehlennann, Kommentar zum EWG-Vertrag, Bd. 1, 4., neubearb. Aufl., 1991, Rn. 11 (die "harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens" umfasse v.a. die wirtschaftspolitischen Ziele des Art. 104 EWGV: "Im Verein mit der ständigen und ausgewogenen Wirtschaftsausweitung, die ebenfalls in Artikel 2 aufgeftlhrt ist, bindet das ,magische Viereck' der Wirtschaftspolitik auch die Gemeinschaft."); G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 (1990), S. 56 ff., S. 104 (zu selbstverständlich: die "Aufgabenbeschreibung in Art. 2 ... stimmt mit den im Stabilitätsgesetz von 1967 vereinigten Zielvorstellungen nahezu wörtlich überein."); nicht zuzustimmen ist G. Nico/aysen, Europarecht II - Das Wirtschaftsrecht im Binnenmarkt, I. Aufl., 1996, S. 318, der- wie auch plötzlich (5. Aufl. noch anders, s.o.) A. Bleckmann, Europarecht, 6., neub. und erw. Aufl., 1997, Rn. 2441 - fälschlich vom "magischen Viereck" in Art. 104 EWGV ausgeht; dort waren zwar vier Ziele fixiert, anstelle des Wachstumskriteriums allerdings stand das "Vertrauen in die Währung"; unkritisch in diesem Punkt auch U. Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994; die Richtlinie des Rates vom 18. Februar 1974 über die Stabilität, das Wachstum und die Vollbeschäftigung in der Gemeinschaft, ABI. EG 1974 L 63/19, hingegen sprach in ihrem Art. I analog zu § I Satz 2 StWG noch ausdrücklich von den vier bekannten Zielen des magischen Vierecks. 637 A. Bleckmann, Europarecht, 5., neub. und erw. Aufl., 1990, Rn. 1807 ("Systematisch hätten die Ziele des Art. 104 also am Anfang des Vertrages ihren richtigen Platz gehabt."); tendenziell a.A. bei B. Beut/er!R. Bieber/J. Pipkorn/J. Streif. Die Europäische Union, 4., neubearb. Aufl., 1993, S. 422 (Art. 104 EWGV sei eine an die Mitgliedstaaten gerichtete Vorschrift mit dem primären Zweck, den Gemeinsamen Markt nicht durch mitgliedstaatliche Politik zu gefährden; insofern sei Art. I 04 EWGV nicht vornehmlich als allgemeine Zielsetzung der Gemeinschaft zu verstehen).
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
Blick auf die unterschiedlichen Adressaten beider Vorschriften, zweitens aber auch grundsätzlich fraglich ist; denn das Verhältnis zwischen sektorspezifischen Zielen und allgemeinen Zielen ist ungeklärt. Die Sichtweise des "magischen Vierecks" durch Art. 104 EWGV i.V.m. dem Wachstumsaspekt des Art. 2 EWGV setzt eine Gleichrangigkeit beider Zielarten voraus. Dagegen scheint hinter manchen Bemerkungen der Literatur jedoch eher die Sichtweise einer funktional-dienenden, also operativen Funktion der wirtschaftspolitischen Ziele des Art. 104 EWGV zur Erreichung der "höheren" Ziele des Art. 2 EWGV zu stehen.638 Die vierte - nicht zum traditionellen Verständnis des magischen Vierecks zählende639 - Komponente im Zielkanon des Art. I 04 EWGV bildete indes das "Vertrauen in seine Währung" (im Hinblick auf die Mitgliedstaaten als Normadressaten also die des jeweiligen Mitgliedslandes). Es betrifft damit sicherlich den an sich ja bereits per se zur Zielsetzung gehörenden Aspekt der binnenwirtschaftlichen Preisstabilität, aber auch den des Außenwerts der jeweiligen mitgliedstaatliehen Währung. Mit der Integration des Außenwerts unterschied sich diese wirtschaftspolitische Zielsetzung des EWG-Vertrags vom klassischen Bild des "magischen Vierecks." Wenngleich die Formulierung durchaus einen anderen Schluß zuließe - insbesondere auf die Klassifizierung von Preisstabilität und Beschäftigung eher als ständige Bedingung, Zahlungsbilanzgleichgewicht und Vertrauen in die Währung als eigentliche Ziele-, wurden die Zielkomponenten des Art. 104 EWGV als untereinander gleichrangig angesehen. 640 Vollkommen unklar erschien- schon damals! -die inhaltliche Aussage des Zielelements "größere Stabilität" in Art. 2 EWGV. Diesbezüglich wurden im Schrifttum letztlich keine dezidierten Ansichten vertreten. 641 Die Überschnei638 So etwa K. Bünger/B. Mo/itor, Art. 104, in: Groeben/Thiesing!Ehlennann, EWGVertrag, Bd. 2, 4., neubearb. Aufl., 1991, Rn. 4 (" ... notwendig, damit die Aufgaben der Gemeinschaft optimal erfilllt werden können"), Rn. 6; zwischen den Zeilen auch A. Bleckmann, Europarecht, 5., neub. und erw. Aufl., 1990, Rn. 1807 ("an den Zielen des Art. 104 auszurichten, die allgemeine Mittel zur Erreichung der in der Präambel und in Art. 2 genannten Ziele darstellen"). 639
Anders aber Bleckmann und Nicolaysen, siehe gleich Fn. 642.
Vgl. Th. Oppermann, Europarecht, 1991, Rn. 821; A. Bleckmann. Europarecht, 5., neub. und erw. Aufl., 1990, Rn. 1814; K. Bünger!B. Molitor, Art. 104, in: Groeben!fhiesing!Ehlennann, EWG-Vertrag, Bd. 2, 4., neubearb. Autl., 1991, Rn. 7. 640
641 So hilft die Kommentierung von M. Zuleeg, Art. 2, in: Groeben/Thiesing/ Ehlennann, EWG-Vertrag, Bd. I, 4., neubearb. Aufl., 1991, Rn. 14, nicht viel weiter, sondern spricht lediglich für ein undefiniertes weiteres Verständnis von "Stabilität" als im Sinne reiner "Preisstabilität": " ...kommt darin die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage ... zum Ausdruck.... Wirtschaftliche Stabilität umfaßt nicht nur die Preissta-
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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dung der "Stabilität" mit weiteren Zielkomponenten, insbesondere bei einem wie auch immer begründeten "Hineintragen" der Ziele des Art. I 04 EWGV in Art. 2 EWGV, lag auf der Hand und filhrte zu entsprechenden Einschätzungsschwierigkeiten. Eine nähere Bestimmung kann jedoch Art. 6 Abs. 2 EWGV entnommen werden, der zumindest mit dem Adjektiv "fmanzielle" eine gewisse einschränkende Qualifizierung liefert, wobei auch "fmanzielle Stabilität" noch vielfältiger Interpretation zugänglich ist und diese Qualifizierung nicht unbedingt auf Art. 2 rückwirkt. Die heutige vertragliche Konzeption unterscheidet sich seit Maastricht also durch den offensichtlichen Wegfall der wirtschafts- und währungspolitikspezifischen Zielsetzung deutlich von der des EWG-Vertrags.642 Einerseits muß dieser Wegfall berücksichtigt werden, andererseits zeigt sich die allgemeine Gemeinschaftszielsetzung in Art. 2 heute zudem sehr viel differenzierter und nennt nunmehr - im Gegensatz zu damals und quasi ersatzweise - namentlich das Beschäftigungs- und das WachstumszieL Begleitet und verfolgt wird diese Zielsetzung durch die operativen Grundsätze des Art. 4 EGV, die aus dem magischen Viereck die beiden weiteren Elemente Preisstabilität und Zahlungsbilanzgleichgewicht beinhalten.
bilität, die bereits im Unterziel der harmonischen Entwicklung des Wirtschaftslebens enthalten ist, sondern auch die Stabilität anderer Elemente des Wirtschaftslebens, insb. von Angebot und Nachfrage."; andere Beiträge setzen sich mit der Begrifllichkeit nicht weiter auseinander. 642 Anders und nunmehr nicht mehr zu folgend A. Bleckmann, Europarecht, 6., neub. und erw. Aufl., 1997, Rn. 2441, nach dem im Hinblick auf die Grundsätze des Art. 3a Abs. 3 EGV a.F. (Art. 4 Abs. 4 EGV n.F.) sowie dem in Art. 2 EGV zu findendenden Beschäftigungsaspekt "auch die durch den Maastricht-Vertrag revidierten Bestimmungen letztlich an der Zielsetzung des magischen Vierecks festhalten." Das "magische Viereck" umfaßt erstens nicht das Vertrauen in die Währung, zweitens mUßte es in die genannten Grundsätze sehr fragwürdig hineingelesen werden und drittens trifft der Vertrag hier eben die Differenzierung zwischen Grundsätzen und Zielen; insofern ebenfalls nicht zuzustimmen G. Nicolaysen, Europarecht Il- Das Wirtschaftsrecht im Binnenmarkt, 1. Aufl., 1996, S. 318.
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
II. Primärrechtliche materielle Regelung der "Stabilität" rür die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion 1. Die "notwendigen Voraussetzungen" zur Teilnahme an der Währungsunion als Kriterien im Entscheidungsprozeß Den Entscheidungsprozeß zum Beginn der dritten Stufe bestimmte Art. 121 EGV. Den entscheidenden Kern dieser Vorschrift bilden die- so der Wortlaut der Absätze 2 mit 4 - "notwendigen Voraussetzungen"643 , die dem Vertrag nach als Grundlage für die Entscheidung des Rates über den Beginn der Währungsunion eine wesentliche Rolle spielten.644 Diese nicht explizit definierten und sich auch nicht eindeutig aus dem Text ergebenden "notwendigen Voraussetzungen" setzen sich nach herrschenden Meinung wesentlich aus den Aspekten des Art. 121 Abs. 1 EGV zusammen und umfassen damit erstens die Anpassung der nationalen Regelungen im Zentralbankwesen an die diesbezüglichen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts, zweitens einen am Maßstab der vier dort genannten und in anderen Vertragsteilen näher spezifizierten sogenannten Konvergenzkriterien 645 gemessenen Konvergenzstand der jeweiligen Wirtschaft sowie
643
Art. 121 Abs. 2 I. und 2. Spstr., Abs. 3 I. Spstr., Abs. 4 EGV.
Zum Entscheidungsprozedere im einzelnen vgl. etwa P. Kirchhof, Die Mitwirkung Deutschlands an der Wirtschafts- und Währungsunion, in: P. Kirchhof!K. Offerhaus/ H. Schöberle (Hrsg.): FS filr F. Klein. Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik, 1994, S. 61 ff. (S. 72); A. Emmerich-Fritsche, Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien?, EWS 1996, S. 77 ff. (S. 77); 644
645 Aus der Fülle von Literatur jedenfalls umfassend dazu H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, I 996, S. 83 ff., S. 77 ff. mit ausfilhrlichen, wenngleich auch nicht immer vollständig beizustimmenden Ausfilhrungen; siehe auch ders., Die Konvergenzkriterien des EGV, RIW 1997, S. 357 ff. ; A. Emmerich-Fritsche, Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien?, EWS 1996, S. 77 ff.; aus volkswirtschaftlicher Sicht etwa A. Kees, Die Konvergenzkriterien als wirtschaftspolitische Imperative des Maastricht-Vertrages, sowie R. H. Hasse, Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages: Können Sie Glaubwürdigkeit erzeugen, in: F. Franzmeyer (Hrsg.): Das Konvergenzproblem-Wirtschaftspolitik im Europa von Maastricht, I 994, S. 52 ff., S. 73 ff.; zur Bewertung und Erfilllung bei der Entscheidung über den Beginn der dritten Stufe W Hanke/l W Nöllingl K. A. Schachtschneider!J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 221 ff.; im Nachklang dazu K. A. Schachtschneider, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungs-gerichts, IHISchriften 9/1998, S. 19 ff. (S. 41 f., 48 ff.).
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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drittens eine positive Bewertung einer Reihe von Nebenkriterien, so die Entwicklung der ECU (heute des Euro646), Ergebnisse bei der Integration der Märkte, Leistungsbilanzdaten, Lohnstückkostenentwicklung, andere Preisindizes ("sonstige Gesichtspunkte"647).648
Die "notwendigen Voraussetzungen" erstrecken sich also keinesfalls ausschließlich auf die Konvergenzkriterien649, wenn diese auch essentiell sind. 650 Auf die genannten Aspekte des Art. 121 Abs. 1 EGV wird auch verwiesen, geht es um die Entscheidung über einen späteren Beitritt solcher Mitgliedstaaten zur Währungsunion, die aus Gründen fehlender positiver Konvergenzentscheidung des Rates nicht von Beginn an teilnahmen ("Mitgliedstaaten, ftlr die eine Ausnahmeregelung gilt"651 ) - wie etwa Griechenland oder Schweden652 - 653 , von Mitgliedstaaten, die sich bei Vertragsabschluß die Option der Nichtteilnahme offenhielten654 oder solchen, die überhaupt erst in Zukunft der Europäischen Union und anschließend der Währungsunion beitreten wollen und dürfen655 • Der Vertrag räumt dabei durch inhaltlich stärkere Ausfilllung dem Zenttalbankaspekt sowie den Konvergenzkriterien scheinbar den größeren Stellenwert ein. Mit Art. 108 EGV sowie dem 3. Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank gibt er ftlr 646 VgL VO 1103/97 des Rates vom 17. Juni 1997 über bestimmte Vorschriften im Zusammenhang mit der Einfiihrung des Euro, ABI. EG 1997 L 162/1 (2). 647 R. Bandil/a, Art. 109j EGV, in: GrabitzJHilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 28. 648 So W.-H. Roth, Der rechtliche Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion, EuR-Beiheft l/94, S. 45 ff. (S. 56 f.); W. Hanke/lW. Nölling!K. A. Schachtschneider/ J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 214 ff. 649 So siehe aber die Nachweise bei A. Emmerich-Fritsche, Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien?, EWS 1996, S. 77 ff. (S. 81, Fn. 46).
650 Vgl. A. Emmerich-Fritsche, Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien?, EWS 1996, S. 77 ff. (S. 81); H. J. Hahn/U. Häde, Europa im Wartestand: Bemerkungen zur Währungsunion, in: FS U. Everling, 1995, S. 381 ff. (S. 388). 651
Art. 122 Abs. I Unterabs. 2 EGV.
Zur Nichtteilnahme Schwedens zu Recht kritisch U. Häde, Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidungen über die Europäische Währungsunion, JZ 1998, S. I 088 ff. (S. 1092). 652
653
Art. 109k Abs. 2 EGV a.F./Art. 122 Abs. 2 EGV n.F.
Vgl. dazu II. und 12 Protokoll zum EUV über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie Dänemark; dazu auch H. J. Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 465 ff. 654
655
Vgl. zum Beitritt Art. 49 EUV.
15 Hänsch
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die Zentralbankbestimmungen klare verbindliche Vorschriften, deren Einhaltung durch die Mitgliedstaaten in der als Grundlage dienenden Berichterstattung der Kommission und des Europäischen Währungsinstituts, nunmehr der Europäischen Zentralbank,656 ,,geprüft' wird. Desgleichen formuliert der Vertrag in Art. 121 Abs. 1 EGV selbst sowie i.V.m. Art. 104 Abs. 6 EGV, dem 6. Protokoll über die Konvergenzkriterien sowie dem 5. Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit Näheres zu den vier Kriterien; daran wird ebenfalls ,,geprüft, ob ein hoher Grad dauerhafter Konvergenz erreicht ist". Dagegen finden sich im Vertrag keine weiteren Spezifikationen zu den "Nebenkriterien"; sie werden dementsprechend auch nicht "geprüft", sondern nur "berücksichtigt'. 657 2. Die Konvergenzkriterien als gemeinschaftlicher Minimalausdruck gesamtwirtschaftlicher Stabilität
a) Die Gewährleistungsfunktion der Konvergenzkriterien als Minimalkriterien Die Konvergenzkriterien als wesentliche Elemente der notwendigen Voraussetzungen ftlr den Eintritt der Mitgliedstaaten in die Europäische Währungsunion und damit den Beginn der Währungsunion überhaupt sind - wie gesehen wie die Anpassung nationaler Zentralbankvorschriften an gemeinschaftsrechtliche Vorgaben nicht schon hinreichend, sondern eben tatsächlich "notwendig". Ihre Funktion besteht in ihrer Eigenschaft als Indikatoren fiir den wirtschaftlichen Stand in den Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft und - in der Zusammenschau - schließlich in ihrer vermuteten Signifikanz zur Beurteilung eines dauerhaft hohen Konvergenzstands der Volkswirtschaften der einzelnen Mitgliedstaaten, der als Voraussetzung ftlr das langfristige Gelingen der Währungsunion angenommen werden muß. 658 Vor Beginn der Währungsunion ftlr alle und später ftlr noch nicht teilnehmende Mitgliedstaaten sorg(t)en sie fiir Anpassungsdruck, sie sind Selektions- und Sanktionierungskriterien.659 Sie
656 Die Konvergenzberichterstattung erfolgte vor Beginn der Währungsunion durch das Europäische Währungsinstitut (Art. 121 Abs. I EGV), seit Beginn durch die EZB (Art. 122 Abs. 2 EGV). 657 Vgl. etwa R. Bandilla. Art. 109j EGV, in: GrabitzJHilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 28. 658
Siehe zu dieser Frage unten 5. Teil, 2. Kap., II., 2., c).
Vgl. H. Kortz, Die Konvergenzkriterien des EGV, RIW 1997, S. 357 ff. (S. 358 f.); ders. , Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschaftsund Währungsunion, 1996, S. 83 ff. 659
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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bilden damit die herausragende Schnittstelle zwischen wirtschaftlicher Situation als Prämisse und währungspolitischer Entscheidung zur Einftlhrung einer gemeinsamen Währung als Option und deshalb das "Herzstück des MaastrichtVertrages".660 Der Zentralbankrat der Bundesbank formulierte: "Ökonomisch stellen die Kriterien auf den Nachweis ab, daß die Mitgliedstaaten auf die spezifischen Gegebenheiten der Währungsunion tatsächlich vorbereitet sind und damit keine Belastung für eine dauerhafte Stabilitätsgemeinschaft darstellen."661
Da die Konvergenzkriterien notwendig sind, ist ihre unbedingte Erftlllung Mindestvoraussetzung. Sie stellen ein Minimum an vom Vertrag beanspruchtem wirtschaftlichen Gleichklang, also ein Konvergenzminimum, eine "minimale Konvergenz"662 dar.663 Für eine solche "zwingende Minimalinterpretation" spricht auch ihre - mit Ausnahme der Haushaltskriterien, die auch nach Beginn der Währungsunion im Rahmen des Haushaltsüberwachungsverfahrens des Art. l 04 EGV im Mittelpunkt stehen664 - zeitlich bis zum jeweiligen Beitritt begrenzte Wirkung; denn nach Eintritt in die Währungsunion können sie vom einzelnen Teilnahmeland alleine nicht mehr erreicht werden. 665 Die Krite660 Vgl. W. Hanke/lW. NöllingiK. A. SchachtschneideriJ Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 63 ff., Zitat S. 63. 661 Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Aprill998, S. 17 ff. (S. 21). 662 K. A. Schachtschneider, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, IHISchriften 9/1998, S. 19 ff. (S. 44). 663 Vgl. K. A. Schachtschneider, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, IHI-Schriften 9/ 1998, S. 19 ff. (S. 44 ff.); W. Hanke/l W. NöllingiK. A. SchachtschneideriJ Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 65, 215 f., 220 f.; auch D. BlumenwitzlE. Schöbener, Stabilitätspakt für Europa. Die Sicherstellung mitgliedstaatlicher Haushaltsdisziplin im Europa- und Völkerrecht, 1997, S. 87: " ... ; die bei Eintritt in die Endstufe durch die Einhaltung der Konergenzkriterien gesicherte Stabilität ist dabei nicht das Referenzmaß nach oben, sondern lediglich die nicht zu unterschreitende Grundlage, sozusagen ein Untermaßverbot." 664
Siehe gleich unten 5. Teil, 2. Kap., II., 2., b), bb).
Obwohl auch nach Beginn der Währungsunion durchaus noch Inflationsdifferenzen zwischen den Teilnehmerländern existieren können (und im übrigen bestehen) und diese von den jeweiligen wirtschaftlichen Gegebenheiten mitbeeinflußt werden; vgl. Europäische Zentralbank, Inflationsunterschiede in einer Währungsunion, in: Europäische Zentralbank, Monatsbericht Oktober 1999, S. 39 ff; bemerkenswert ist im Zusammenhang mit Zeitpunktbezug und mangelnder Nachhaltigkeit der Kriterien die Argumentation in der Diskussion um eine kontrollierte Verschiebung, nach der eine Verschiebung der Währungsunion, auch um nur kurze Zeit, die Konvergenzbemühungen der Mitgliedstaaten eklatant drosselte; zu dieser Haltung kritisch M. J M. Neumann. Ist 665
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rien stehen damit im Dienst eines gemeinschaftsweiten Gleichklangs hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage, die aber nicht irgendwie gleich (schlecht) sein darf, sondern in der Ausprägung auch gewissen qualitativen Ansprüchen entsprechen muß, die das Stabilitätsprinzip vorgibt. Das Bundesverfassungsgericht ging im Maastricht-Urteil genau davon aus, da es die Konvergenzkriterien als Sicherungsfaktoren der "Stabilitätsgemeinschaft" erkannte.666 Daraus entwikkelte sich die allgemein verbreitete Meinung, die Konvergenzkriterien vermittelten Stabilität in der Wirtschafts- und Währungsunion. 667 Insofern wäre anzunehmen und hätte dies zur Voraussetzung, die Konvergenzkriterien umfaßten bei abweichender expliziter Ausprägung zumindest inhaltlich vertretungsweise - die wirtschaftlichen Imperative des sozialen Stabilitätsprinzips. Dies ist aber, wie die Aufzählung des Art. 121 Abs. I EGV aufden ersten Blick zeigt und die im folgenden - aufgrund der zahlreich vorliegenden ausfiihrlichen Betrachtungen lediglich zusammenfassend - zur Darstellung kommt, nicht der Fall; denn die Konvergenzkriterien stellen ausschließlich auf monetäre Größen ab: Preisstabilität, Finanzlage der öffentlichen Hand (das "Haushaltskriterium"), Wechselkurs und langfristiges Zinsniveau. Zudem ist zu berücksichtigen, daß sich die Bestimmung der einzelnen Kriterien aufgrund zahlreicher offener Begriffe in diffuser Unklarheit zeigt, und daß die Konvergenzkriterien mit einer Ausnahme zumindest rechtlich nur fiir die Phase bis zu Beginn der Währungsunion oder bis zum jeweiligen Beitritt eines Mitgliedstaats Wirkung entfalten. Aufgrund der umfangreichen Kritik an der Vertragskonstruktion wäre in der Amsterdamer Revisionskonferenz an sich mit Modifikationen des Währungsunionsteils, insbesondere im Hinblick auf die Gestaltung der Konvergenzkriterien zu rechnen gewesen, 668 die aber unterblieben.
Europa schon reif filr die Währungsunion?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 47/97, S. 3 ff. (S. 10); W. Hanke/l W. Nöllingl K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 73; M Sturm, Die Verschiebung des Euro- das kleinere Übel, WD, 77. Jg. (1997), S. 44 7 ff. (S. 449); ablehnend zur Forderung, den Konvergenzlcriterien auch nach Beginn der Währungsunion noch rechtliche Relevanz filr die Teilnahmeländer einzuräumen; vgl. W. Heun, Die Europäische Zentralbank in der Europäischen Währungsunion, JZ 1998, S. 866 ff. (S. 873). 666
BVerfGE 89, 155 (200 ff.).
Vgl. etwa R. Scho/z, Art. 23, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 21; deshalb auch, wie oben dargestellt (siehe 2. Teil, 4. Kap., III., 1.), der teils synonym verwandte Begriff der "Stabilitätskriterien". 667
668 Von kommenden Änderungen gingen z.B. aus P. Kirchhof Das "Maastricht"Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Entwicklung der europäischen Integration, in: Th. Waigel (Hrsg.): Unsere Zukunft heißt Europa: Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 111 ff. (S. 132); U. Häde, Währungsintegration mit abge-
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b) Der Kriterienkatalog aa) Preisstabilität
Das erste Kriterium liegt gemäß Vertrag in der "Erreichung eines hohen Grades an Preisstabilität, ersichtlich aus einer Inflationsrate, die der Inflationsrate jener - höchstens drei - Mitgliedstaaten nahe kommt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben."669
Laut Art. 1 des 6. Protokolls über die Konvergenzkriterien bedeute dies in spezifizierter Form, "daß ein Mitgliedstaat eine anhaltende Preisstabilität und eine während des letzten Jahres vor der Prüfung gemessene durchschnittliche Inflationsrate aufweisen muß, die um nicht mehr als I Y, Prozentpunkte über der Inflationsrate jener - höchstens drei - Mitgliedstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben.
Indikator dafilr ist der "Verbraucherpreisindex auf vergleichbarer Grundlage unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Definitionen in den einzelnen Mitgliedstaaten".
Die Bestimmung dieses Kriteriums gibt eine Reihe von Fragen auf, deren Antworten trotz zahlreicher ausführlicher Betrachtungen670 nicht klar gegeben werden konnten. "An dieser Formulierung ist so gut wie alles unklar." meint deshalb Franzmeyer in seinen volkswirtschaftlich geprägten, zur Gestaltung der Konvergenzkriterien sehr kritischen Überlegungen. 671 Zunächst handelt es sich offenbar um ein relatives Kriterium: Der Maßstab ergibt sich aus dem Vergleich mit der Inflationsrate anderer Mitgliedstaaten, wobei keinerlei Aussage
stufter Geschwindigkeit, in: A. Weber (Hrsg.): Währung und Wirtschaft- Das Geld im Recht, FS filr H. J. Hahn, 1997, S. 141 ff. (S. 148). 669
Art. 121 Abs. I I. Spstr. EGV.
Vgl. v.a H. Kortz, Die Entscheidung über rien Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 86 ff. 670
671 F. Franzmeyer, Die Maastrichter Konvergenzkriterien aus deutscher Sicht, in: Wochenbericht des Deutschen Instituts filr Wirtschaftsforschung 62/95, S. 591 ff.; unkritisch dagegen etwa F.-Ch. Zeit/er, Verantwortung filr Stabilität- auf dem Weg zur EWU, in: DStZ 1996, S. 289 ff. (S. 291).
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über das absolute Niveau getroffen wird- "gleich" kann auch "gleich schlecht" heißen, wenn auch eine unkonkretisierte Forderungen nach einem "hohen Grad an Preisstabilität" Negativauswüchsen hier wohl Grenzen setzt. Unbestimmt ist darüber hinaus die Benennung der - "höchstens drei" - Vergleichsmitgliedstaaten - sie läßt zunächst ihre Zahl (eins bis drei) offen, eröffnet dann aber auch die Frage der Berechnung des Referenzwertes bei Herausgreifen von zwei oder drei Mitgliedstaaten als Referenzsubjekte.672 Das Protokoll verweist explizit auf den Verbraucherpreisindex als Indikator673 , verkennt dabei die allgemeine Problematik der Bemessungsmethoden, erkennt und erlaubt aber -auf einer fragwürdigen "vergleichbaren Grundlage"674 - die unterschiedlichen Ermittlungsformen - "Definitionen" - in den verschiedenen Mitgliedstaaten. 675 Ferner verleiht das Protokoll dem Kriterium den im Hinblick auf Nachhaltigkeitsüberlegungen entscheideneo Qualitätsaspekt "anhaltend", bleibt hier aber bedauerlicherweise ebenfalls allzu unklar, zumal als Betrachtungszeitraum lediglich ein Jahr vorgegeben wird, der filr die Feststellung von Nachhaltigkeil sicher nicht ausreicht.
bb)Haushaltsdisziplin als Konvergenzkriterium und Vermeidung übermäßiger Defizite Als der Preisstabilität folgendes, zweites Kriterium nennt der Vertrag "eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand, ersichtlich aus einer öffentlichen Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit im Sinne des Art. I 04 Absatz 6".
672 Vgl. H. Kortz, Die Konvergenzkriterien des EGV, RIW 1997, S. 357 ff. (S. 359); A. Emmerich-Fritsche, Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien?, EWS 1996, S. 77 ff. (S. 79); die Kommission schlug im Konvergenzbericht 1996 sechs Berechnungsvarianten und entschied sich damals in einer recht offenen Formulierung llir den ungewichteten Durchschnitt, dazu R. Bandilla, Art. 109j EGV, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 16. 673 V gl. die diesbezüglich kritischen Ausfilhrungen der Deutschen Bundesbank in den 60er Jahren, Deutsche Bundesbank, Das Ausmaß der Geldentwertung seit 1950 und die weitere Entwicklung des Geldwertes, Gutachten vom 21. 7. 1965; vgl. ferner H. Remsperger, Geldwertstabilität - Theorie, Statistik, Politik, in: D. B. Simrnert/ E. Welteke (Hrsg. ): Die Europäische Zentralbank, 1999, S. 119 ff. (S. 123 ff. ). 674 Ein Versuch wurde mit VO EG 2494/95 vom 23. Oktober 1995, ABI. EG 1995 L 257/1, unternommen, die eine harmonisierte Berechnungsgrundlage enthält. 675 Vgl. H. Kortz, Die Konvergenzkriterien des EGV, RIW 1997, S. 357 ff. (S. 359 f.); auch etwa H.-W Seiler, EWU: Sind die Konvergenzkriterien wirklich ernstzunehmen?, WO, 76. Jg. (1996), S. 587 ff. (S. 588).
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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Das 6. Protokoll ergänzt hierzu in Art. 2, dies bedeute, "daß zum Zeitpunkt der Prüfung keine Ratsentscheidung nach Artikel I 04c Absatz 6 [nunmehr Art. 104 Abs. 6; d.Verf.] ... vorliegt, wonach in dem betreffenden Mitgliedstaat ein übermäßiges Defizit besteht." Die Ratsentscheidung nach Art. 104 Abs. 6 EGV erfolgt nach der Prüfung der mitgliedstaatliehen Haushaltslagen durch die Kommission gemäß Absatz 2. Sie prüft die jeweiligen Haushaltsgebaren im Hinblick "auf schwerwiegende Fehler'', fiir die "insbesondere" zwei Aspekte entscheidend sind: "a)
ob das Verhältnis des geplanten oder tatsächlich öffentlichen Defizits zum Bruttoinlandsprodukt einen bestimmten Referenzwert überschreitet, es sei denn, dass - entweder das Verhältnis erheblich und laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nähe des Referenzwerts erreicht hat - oder der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird und das Verhältnis in der Nähe des Referenzwerts bleibt,
b)
ob das Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands zum Bruttoinlandsprodukt einen bestimmten Referenzwert überschreitet, es sei denn, daß das Verhältnis hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert."
Die vertraglich genannten Referenzwerte wiederum werden im 5. Protokoll,
Art. 1, bestimmt und betragen -
3 % fiir das Verhältnis zwischen dem geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizit und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen, 60 % fiir das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen."
Das Haushaltskonvergenzkriterium676 bezieht sich demnach auf das gerade auch nach Beginn der Währungsunion geltende Überwachungsverfahren des Art. 104 EGV677 und erfährt im dortigen Absatz 2, der einem etwaigen
676 Vgl. insg. zu diesem Kriterium aus rechtlicher Sicht R. Bandi/la, Art. 104c EGV, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 5 ff.
677 Siehe dazu etwas ausfiihrlicher unter 5. Teil, 2. Kap., II1., 1.; zur hier nicht diskutierten Auswirkung der gemeinschaftsrechtlichen Haushaltsvorgaben auf interne Strukturen der Mitgliedstaaten, insb. das föderale Haushaltssystem Deutschlands und die verfassungstextliche Grundlage in Art. 109 GG, vgl. U. Häde, Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und europäische Haushaltsdisziplin, JZ 1997, S. 269 ff. (S. 270);
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
Beschluß des Rates gemäß Absatz 6 vorausgeht, der Zweiteilung in das Defizitund das Schuldenstandskriterium. Insofern entfalten diese beiden Teilkriterien - zwar nicht in ihrer expliziten Rolle als Konvergenzkriterien fiir die Währungsunion, aber doch als wichtige gesamtwirtschaftliche Aspekte - auch außerhalb ihrer Rolle in neuen Beitrittsverfahren noch nach Beginn der Währungsunion stabilitätsrelevante Wirkung. Allerdings überlassen die Regelungen der Konunission im Rahmen des Verfahrens des Art. 104 EGV wie dem Rat schon im Rahmen des gleichen Verfahrens zum einen weite Ermessens- und Beurteilungsspielräume; die Verfehlung der beiden Teilkriterien filhrt nicht zwangsläufig, geschweige denn automatisch zur Feststellung eines übermäßigen Defizits. Zum anderen unterliegt aber auch schon die Feststellung der Verfehlung der Teilkriterien keiner eindeutigen Regelung; denn die im Text zu fmdenden offenen Begriffe eröffnen ausgesprochene Interpretationsräume filr die vorgesehenen Ausnahmetatbestände, die ein Überschreiten der Referenzwerte ohne weitere Folgen ermöglichen. Zur Gestaltung der Tatbestandsvoraussetzung bedient sich der Vertrag hier ohne inhaltliche Klärung der Formeln "erheblich und laufend zurückgegangen", ,,Nähe des
Referenzwertes", "ausnahmsweise und nur vorübergehend überschritten", "hinreichend rückläufig' sowie "rasch genug ... nähert'.618 Eindeutigkeit weist H. J Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 408 ff.; umfassend U. Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994; ders., Ein nationaler Stabilitätspakt zwischen Bund und Ländern - Anmerkungen zur rechtlichen Sicherung stabilitätsorienterter Finanzpolitik in Deutschland, in: A. Weber (Hrsg.): Währung und Wirtschaft - Das Geld im Recht, FS fiir H. J. Hahn, 1997, S. 161 ff.; H. J Hahn, Der Stabilitätspakt fiir die Europäische Währungsunion - Das Einhalten der Defizit-Obergrenze als stete Rechtspflicht, Zentrum fiir Europäisches Wirtschaftsrecht Nr. 86, 1997, S. 38 ff.; H.-G. Henneke, Die Gewährleistungspflicht der EUMitgliedstaaten zur Einhaltung von Haushaltsdisziplin - Eine Aufgabe filr die Gesetzgeber in Bund und Ländern, ZfGg 1996, S. 299 ff. (S. 311) m.w.N.; F. Littwin, Umsetzung der Konvergenzkriterien nach Art. 104c I EGV im Bund-Länder-Verhältnis unter besonderer Berücksichtigung des Art. 109 GG, ZRP 1997, S. 325 ff.; M. Sturm, Vorschläge ftlr einen nationalen Stabilitätspakt, in: R. Caesar!H.-E. Scharrer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Regionale und globale Herausforderungen, 1998, S. 105 ff.; V Mehde, Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Aufteilung der Verschuldungsgrenzen des Vertrags von Maastricht, DÖV 1997, S. 616 ff.; K. VogeliCh Waldhoff, Vorbem. zu Art. 104a-115, in: BK, GG, Rn. 660 ff.; zuletzt auch J Hellermann, Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft und der nationale Stabilitätspakt in der bundesstaatliehen Solidargemeinschaft, EuR 2000, S. 24 ff. 678 Auf die Ausnahmeregelung gerade beim Schuldenstandsteilkriterium müssen angesichts ihrer enorm hohen Verschuldungen eine Reihe von Mitgliedstaaten von Anfang an gesetzt haben, da ihre Teilnahme mangels Erreichbarkeit des Referenzwerts ansonsten ex ante annähernd ausgeschlossen gewesen wäre.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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hier lediglich der zweifach zur Geltung kommende "Rückgangsaspekt" auf; Rückgang heißt jedenfalls Rückgang und nicht Anstieg. Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Ermittlung der jeweiligen Referenzwerte durch die offene Frage des Einbezugs von Schatten- und Nebenhaushalten sowie insbesondere die Berücksichtigung der Sozialversicherungsträger. 679 Die begriffliche Offenheit der Ausnahmetatbestände setzt klar defmierte Bezugsgrößen, hier die Referenzwerte des 5. Protokolls, logisch voraus, was wiederum die erfolgte Diskussion über eine Relativierung der Referenzwerte selbst - die vor allem in Deutschland geführte und im übrigen das Schuldenstandskriteriurn sträflich vernachlässigende "Dreikommanull-Debatte" - an sich erübrigte. 680 Die Referenzwerte sind mit 3 % und 60 % als Höchstwerte exakt bestimmt; eine negative Abweichung von ihnen ist unter festgelegten, wenn auch sehr offenen Voraussetzungen der Ausnahmetatbestände möglich. An dieser Unbedingtheit der Referenzwerte ändert rechtlich nichts, daß ihre Höhe eher zufiillig durch die Orientierung an der tatsächlich zu beobachtenden Lage der Mitgliedstaaten zustandekam denn durch wirtschaftswissenschaftliche Begründung.681 Letztere liefert jedoch eine Reihe von Gründen ftir Zusammenhänge zwischen den beiden Teilkriterien Haushaltsdefizit und Schuldenstand zu denken ist allein schon an die enorme Zinslast im Haushalt durch einen hohen Verschuldungsgrad. Insofern ist auch ein zahlenmäßiger Zusammenhang zwischen beiden Aspekten erklärbar.682
679 Etwa H.-W. Seiler, EWU: Sind die Konvergenzkriterien wirklich emstzunehmen?, WD, 76. Jg. (1996), S. 587 ff. (S. 588); H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 113 ff. 680 Vgl. W. Hanke/lW. Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 23 I ff. 681 Vgl. etwa W. Harbrecht, Zur Geldwertstabilität des Euro - Chancen und Risiken, in: W. J. Mückl (Hrsg.): Die Europäische Währungsunion- Probleme und Perspektiven, 2000, S. 49 ff. (S. 59 f.); B. Neuss, Verschiebung des Euro - keine sinnvolle Alternative!, WD, 77. Jg. (1997), S. 450 ff. (S. 451); E. Thiel, Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 7-8/92, S. 3 ff. (S. 10). 682 Vgl. dazu W. Mösche/, An der Schwelle zur Europäischen Währungsunioin, JZ 1998, S. 217 ff. (S. 221); H.-J. Jarchow, Zur Diskussion über die Europäische Währungsunion und ihre Realisierung, in: R. H. Hasse/W. Schäfer (Hrsg.): Die ökonomischen Außenbeziehungen der EWU, 1998, S. 5 ff. (S. 16).
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
cc) Wechselkurskriterium Art. 121 Abs. I 3 Spstr. EGV benennt als drittes Konvergenzkriterium die "Einhaltung der normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems seit mindestens zwei Jahren ohne Abwertung gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedstaats".
Nach Art. 3 des 6. Protokolls besagt dies konkreter, "daß ein Mitgliedstaat die im Rahmen des Wechselkursmechnanismus des Europäischen Währungssystems vorgesehenen normalen Bandbreiten zumindest in den letzten zwei Jahren vor der Prüfung ohne starke Spannungen eingehalten haben muß. Insbesondere darf er den bilateralen Leitkurs seiner Währung innerhalb des gleichen Zeitraums gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedstaats nicht von sich aus abgewertet haben."
Das Kriterium gilt heute im Hinblick auf das neue Wechselkurssystem ("WKMIEWS 11")683 leicht modifiziert ebenfalls filr weitere Beitrittsländer. Bezugsgröße ist dann aber nicht mehr die Parität gegenüber der Währung eines anderen Landes, sondern der EUR0. 684 Der Vertrag stellt die "Einhaltung der normalen Bandbreiten" des Europäischen Währungssystems in den Mittelpunkt des Kriteriums; sie muß mindestens innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Konvergenzprüfung filr den einzelnen Mitgliedstaat bestätigt werden können. Neben der Bandbreiteneinhaltung beinhaltet dieses Kriterium aber auch implizit die Teilnahme am Europäischen Währungssystem sowie logisch dessen Existenz während des gleichen Zeitraums. Die Einhaltung der normalen Bandbreiten sollte zudem weitgehend
683
Siehe dazu unten 5. Teil, 2. Kap., III., 2.
Dies ergibt sich aus der weiteren Gültigkeit der Konvergenzkriterien fiir das Verfahren nach Art. 122 Abs. 2 EGV und der damit zusammenhängenden Notwendigkeit, die Konvergenzkriterien den neuen Gegebenheiten bei Existenz der Währungsunion sachgerecht anzupassen. An sich bedürfte es hierzu mindestens entsprechender Änderungen im Rahmen des Art. 6 des 6. Protokolls, nach dem Einzelheiten der Konvergenzkriterien durch einstimmigen Beschluß des Rates modifiziert werden können; vgl. dazu H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 191 ff., insb. 194 ff. 684
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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spannungsfrei verlaufen (sein), insbesondere sollten die Mitgliedstaaten ihrerseits keine Abwertung ihrer Währung anstoßen oder angestoßen haben.685 Fraglich ist allerdings, welche Bandbreiten die vom Vertrag genannten "normalen" Bandbreiten sind: Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses umfaßte das Europäische Währungssystem die seit seinem Start im Jahr 1979 geltenden Bandbreiten von +/- 2,25 % für Wechselkursabweichungen von der administrativ festgesetzten Parität bis zu den sogenannten "Interventionspunkten". 686 In den Jahren vor Verabschiedung des Maastricht-Vertrags zeigte sich das Europäische Währungssystem in hervorragender Verfassung, zu Paritätenänderung aufgrund schwerwiegender wirtschaftlicher Verschiebungen kam es höchst selten. Das Wechselkurskriterium stellte für die Deutsche Bundesbank zum damaligen Zeitpunkt eine ausgesprochen wichtige Voraussetzung für eine Währungsunion dar und sollte die positive Entwicklung weiterhin sicherstellen.687 Mit der im Sommer 1992 einsetzenden, durch den Negativausgang im dänischen Referendum ausgelösten Währungskrise geriet das gesamte Europäische Währungssystem allerdings ins Schwanken, Italien und das Vereinigte Königreich schieden aus dem Teilnehmerkreis aus, es kam zu vielfaltigen Abwertungen, die schließlich die einstweilige Heraufsetzung der bisherigen Bandbreiten auf dann +/- 15 % im August 1993 mit sich brachten. 688 Trotz der Betonung des vorübergehenden Charakters dieser Änderung kam es bis zum Beginn der Währungsunion nicht mehr zur angestrebten Rückkehr zu den alten, deutlich engeren Bandbreiten. Aus dem alten Schwankungskorridor von 4,5 % in einem Währungssystem mit festen Wechselkursen wurde eine neue Schwankungsbreite von nunmehr 30 %, was faktisch einem System flexibler Wechsel685 Vgl. hierzu H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 133, durchaus kritisch zu insofern formalen Widersprüchen, als kein Staat von sich aus seine Währung abwerten konnte. 686 Für das Vereinigte Königreich, Portugal, Spanien und Italien war eine erweiterte Bandbreite von +/- 6 % vorgesehen. 687 Vgl. Deutsche Bundesbank, Die Beschlüsse von Maastricht zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Februar 1992, S. 45 ff. (S. 56). 688 Vgl. Kommunique der Europäischen Gemeinschaft vom 2. 8. 1993, abgedr. in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht August 1993, S. 20; zur damaligen Entwicklung vgl. etwa G. Haller, Die EWS-Turbulenzen 1992/1993 und die Perspektiven für die Wirtschafts- Währungsunion, in: Th. Waigel (Hrsg.): Unsere Zukunft heißt Europa: Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 77 ff.; zur EWS-Krise 1992/93 auch R. Jochimsen, Perspektiven der Beschäftigung vor dem Hintergrund der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, in: H. A. Henkel (Hrsg.): Euro und Beschäftigung, 1996, S. 44 ff.; H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 119 ff.
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
kurse nahekommt und somit den Charakter des Systems grundlegend modifizierte. In der Euro-Klage wurde deshalb vorgetragen, daß das Europäische Währungssystem durch die Bandbreitenänderung substanzielle Veränderung erfahren habe und ohne die Wiederherstellung der alten Bandbreiten von +/- 2,25 % die Erfilllung des Kriteriums nicht möglich sei, da es das Währungssystem in seiner Ausgestaltung zum Vertragszeitpunkt voraussetze. 689 An anderer Stelle wurde die Rückkehr zu den alten Bandbreiten nach tiefgreifender Diskussion jedenfalls als die "vom juristischen Standpunkt aus überzeugendste Lösung" bezeichnet. 690 Beiden Positionen liegt die auch hier vertretene und in der Literatur zumeist vorzufindende Auffassung zugrunde, daß als die normalen Bandbreiten im Sinne des Vertrags die damaligen Bandbreiten von +/- 2,25% und nicht etwa die- aktuelleren- in Höhe von+/- 15% anzusehen sind.691 Der Einwand, der Vertrag zeige ein bewußtes Offenlassen filr zukünftige Änderungen, 692 muß aus verschiedenen Gründen zurückgewiesen werden.
689 Vgl. W Hanke/lW NöllingiK. A. SchachtschneideriJ. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, s. 239 ff. 690 H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschaftsund Währungsunion, 1996, S. 126; auch P. Kirchhof. Die Mitwirkung Deutschlands an der Wirtschafts- und Währungsunion, in: FS F. Klein, 1994, S. 61 ff. (S. 83), ging von einer Rückkehr zu den alten Bandbreiten als Voraussetzung für ein Fortschreiten der Währungsunion aus. 691 Vgl. W Hanke/lW NöllingiK. A. SchachtschneideriJ. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 239 ff. ; P. Kirchhof. Das "Maastricht"-Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Entwicklung der europäischen Integration, in: Th. Waigel (Hrsg.): Unsere Zukunft heißt Europa: Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 111 ff. (S. 132); W-H. Roth, Der rechtliche Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion, EuR-Beiheft 1/94, S. 45 ff. (S. 58); A. Weber, Die Wirtschafts- und Währungsunion nach dem Maastrichturteil des BVerfG, JZ 1994, S. 53 ff. (S. 56); H. J. Hahn, Das Entstehen der Europawährung - Szenarien ihrer Einfilhrung, JZ 1996, S. 321 ff. (S. 326); auch H. J. Hahn!U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 448; H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 124 ff.; entgegen dieser h.M. und (erneut) politisch motiviert indifferent F.-Ch. Zeit/er, Die Europäische Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft, WM 1995, S. 1609 ff. (S. 1611), der in einer ex-post-Betrachtung "irgendeinen" Zwischenwert zwischen 2,25 %und 15 %sehen will. 692 Vgl. so aber S. Magiera, Einfilhrung und rechtliche Absicherung der einheitlichen europäischen Währung, in: R. Caesar/H.-E. Scharrer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Regionale und globale Herausforderungen, 1998, S. 419 ff. (S. 423), meint falscherweise: "Da die ursprüngliche Grenze von+/- 2,25% im Vertragsrecht nicht eindeutig festgelegt wurde, ist davon auszugehen, daß - mit Blick auf die fiir einen Zeitraum von bis zu sieben Jahren nicht genau zu prognostizie-
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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Erstens zunächst unter Hinweis auf die positive Lage des Europäischen Währungssystems bis zu Verabschiedung des Maastricht-Vertrags; die Entwicklung legte die Erwartung steigender Wechselkursbewegungen schlichtweg nicht nahe und "normal" wurde lediglich in Abgrenzung zu den Ausnahmeregelungen einiger Mitgliedstaaten in den Text eingefiigt. Zweitens vor allem auch mit Blick auf die Manipulierbarkeil eines substanziellen Vertragselements, nämlich eines Konvergenzkriteriums, über einen außervertraglichen Weg. 693 Drittens würde der Teilaspekt der Abwertung, die während der zwei Jahre unterbleiben sollte, über eine solch große Bandbreite vollständig unterlaufen werden. 694 Ob das Kriterium nun ein Europäisches Währungssystem mit normalen Bandbreiten von +/- 2,25 % über eine Dauer von mindestens zwei Jahre voraussetzt, wie die Euro-Klage es eingefordert hat, bleibt dahingestellt. Für eine solche Auffassung mag der Wegfall der Interventionspflicht der nationalen Zentralbanken an den (näheren) Interventionspunkten ins Feld zu fiihren sein. Doch spricht der Vertrag lediglich von der Einhaltung der Bandbreiten und stellt damit primär auf die Kursentwicklung ab, ebenso implizit auf die Teilnahme an einem existierenden Währungssystem, nicht aber unbedingt auf die Existenz eines in der ursprünglichen Weise gearteten Währungssystems. Jedenfalls aber müssen die Mitgliedstaaten Teilnehmer am Europäischen Währungssystem ftlr eine Mindestdauer von zwei Jahren sein oder gewesen sein695 quasi als Signal der währungspolitischen Zugehörigkeit- und die Wechselkurrende künftige Entwicklung des EWS - eine starre Fixierung auf diesen Wert nicht gewollt war." 693 V gl. H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 127 ( 694 So W Hanke/l W Nölling!K. A. Schachtschneider!J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, s. 241 ( 695 Insb. auch Beiträge der frühen 1990er Jahre lassen keinen Zweifel am TeilnahmeKriterium; vgl. E. Thiel, Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 7-8/92, S. 3 ff. (S. II ); H. Beisse, VerfassungshUrden vor der Europäischen Währungsunion, BB 1992, S. 645 ff. (S. 645); H. Tietmeyer, Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion, 1992, S. 22 f.; J. Genosko, Wirtschaftspolitische Aspekte der Wirtschafts- und Währungsunion, in: L. Schuster (Hrsg.): Die Unternehmung im internationalen Wettbewerb, 1994, S. I ff. (S. 3); J. Schiemann, Das Europäische Währungssystem im Zielkonflikt zwischen Stabilität und Konvergenz, 2. Aufl., Hamburg, Institut flir Wirtschaftspolitik, Universität der Bundeswehr, 1991, oder ZfW, Jg. 41 (1992), S. 271 ff. (S. 278); U. Hade, Währungsintegration mit abgestufter Geschwindigkeit, in: FS H. J. Hahn, 1997, S. 141 ff. (S. 156 f.); auch die Nichtaufnahme Schwedens in der Entscheidung des Rates vom 3. 5. 1998 über den Beginn der Währungsunion, ABI. EG 1998 L 139/30, S. 34, wird u.a. damit begründet, daß Schweden bis dahin nicht am Wechselkursmechanismus teilgenommen hat.
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se ihrer Währungen müssen sich faktisch innerhalb der 4,5 % Schwankungsbreite im bilateralen Verhältnis - als Ausdruck wirtschaftlicher Stabilität im europäischen Binnengeflecht- bewegt haben.696 Das Teilkriterium der zweijährigen Teilnahme am Währungssystem geht funktional aus der Fonnulierung des Art. 121 hervor, explizit aus Art. 3 des 6. Protokolls, der nicht bloß vom "Wechselkurskriterium", sondern dem "Kriterium der Teilnahme am Wechselkursmechanismus" spricht und im übrigen - von der Literatur bislang unberücksichtigt- auch der Fonnulierung des Art. 121 Abs. 1 4. Spstr. EGV zum vierten Konvergenzkriterium zu entnehmen ist, das die "Dauerhaftigkeit" der "Teilnahme am Wechselkursmechanismus" zum Ausdruck bringen soll. Die künftige Relevanz dieses Kriteriums machte die Bundesbank in ihrer Stellungnahme deutlich, wobei im Hinblick auf die ursprUngliehen Bandbreiten des neuen Wechselkursmechanismus von+/- 15 %sich die Frage nach den kriteriumsrelevanten nonnalen Bandbreiten neu stellt: "Die Teilnahme [am neuen Wechselkursmechanismus; d. Verf.] ist fiir diejenigen Unionsländer obligatorisch, die die Einfiihrung des Euro in absehbarer Zeit anstreben, da sie gemäß Artikel 109j EG-Vertrag das Konvergenzkriterium einer mindestens zweijährigen abwertungsfreien Mitgliedschaft im Wechselkursmechanismus mit "normaler Bandbreite" erfiillen müssen."697
dd) Zinskriterium Nach den Kriterien zu Preisstabilität, Haushalt und Wechselkurs einschließlich der Teilnahme am Währungssystem soll schließlich ein viertes Kriterium Signifikanz ftlr den Konvergenzstand der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten entfalten. Aus Art. 121 Abs. 1 4. Spstr. EGV geht als viertes Kriterium die 696 So auch der in den Konvergenzberichten erkenntliche Standpunkt der Deutschen Bundesbank, vgl. Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 30); ebenso M Seidel. Rechtliche und politische Probleme beim Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: H.-H. Francke!E. Ketzel/ H.-H. Kotz (Hrsg.): Europäische Währungsunion. Von der Konzeption zur Gestaltung, 1998, S. 163 ff. (S. 169); S. Magiera. Einfiihrung und rechtliche Absicherung der einheitlichen europäischen Währung, in: R. Caesar/H.-E. Scharrer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Regionale und globale Herausforderungen, 1998, S. 419 ff. (S. 423) übersieht diesen Aspekt hingegen in seiner ex-post-Betrachtung völlig.
697 Deutsche Bundesbank, Die technische Ausgestaltung des neuen europäischen Wechselkursmechanismus, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 1998, S. 19 ff. (S. 21 ).
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"Dauerhaftigkeit der von dem Mitgliedstaat erreichten Konvergenz und seiner Teilnahme am Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems, die im Niveau der langfristigen Zinssätze zum Ausdruck kommt",
hervor. Entsprechend Artikel 4 des erläuternden 6. Protokolls sei dies dann der Fall, wenn "im Verlaufvon einem Jahr vor der Prüfung in einem Mitgliedstaat der durchschnittliche langfristige Nominalzinssatz um nicht mehr als 2 Prozentpunkte über dem entsprechenden Satz in jenem - höchstens drei - Mitgliedstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben."
Im inhaltlichen Fokus dieses Kriteriums steht der Aspekt der Dauerhaftigkeit der Konvergenz und der Teilnahme am Währungssystem, nicht der als operationaler Maßstab gewählte langfristige Nominalzinssatz per se. Analog zum Preisstabilitätskriterium baut der Vertrag auch die Zinsbetrachtung relativ zum Stand anderer Mitgliedstaaten auf und bedient sich dabei aufgrund der engen wirtschaftlichen Verknüpfung - die Zinssätze geben Aufschluß über die Einschätzung des Markts über künftige Inflationsentwicklungen698 - von Inflation und Zins keiner neuen Bezugsgröße, sondern genau der des Preisstabilitätskriteriums. Dies bedeutet, daß die filr den Preisstabilitätsaspekt im Hinblick auf die Bezugsgröße erörterten Unklarheiten in gleicher Weise filr das Zinskriterium gelten. Hinzu kommen hier Schwierigkeiten bei der Bestimmung der relevanten Zinssätze aufgrund in den Mitgliedstaaten vorzufindender unterschiedlicher Strukturen staatlicher Wertpapiere, filr die Art. 4 Satz 2 des 6. Protokolls ausdrücklich noch die "Berücksichtigung der unterschiedlichen Definitionen in den Mitgliedstaaten" aufgibt.
c) Der fragwürdige volkswirtschaftliche Imperativ aa) Beschränkung auffiska/e und monetäre Kriterien
Mit den Kriterien der Preisniveaustabilität, der langfristigen Nominalzinsen sowie der Wechselkursentwicklung entschieden sich die Vertragspartner zur Beurteilung der beanspruchten wirtschaftlichen Konvergenz in den Mitgliedstaaten filr Größen, die aus dem internationalen Marktgeschehen resultieren. Dabei handelt es sich um rein monetäre Aspekte. Realwirtschaftliche Kriterien, 698 Vgl. etwa H. Kortz, Die Konvergenzkriterien des EGV, RIW 1997, S. 357 ff. (S. 365) m.V.a. S. Collignon, Das europäische Währungssystem im Übergang: Erfahrungen mit dem EWS und politische Optionen, 1994, Abs. 117.
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z.B. Wachstumsentwicklung oder Arbeitslosigkeit, blieben bei der Auswahl hingegen außen vor - obwohl sie, wie gleich zur Anschauung kommen wird, angezeigt wären. Die marktlieh-monetären Kriterien finden Ergänzung in dem fiskalstaatlichen Konvergenzkriterium der "tragbaren Finanzlage der öffentlichen Hand", das sich, wie gesehen, in Defizit- und Schuldenstandsaspekt entfaltet. Gerade die beiden fiskalen Teilkriterien standen im Kreuzfeuer der Diskussion: Zum einen natürlich im Hinblick auf ihre Einhaltung699, zum anderen aber auch in der Frage, inwiefern sie überhaupt eine sinnvolle Begleitung der anderen drei, von dem Aspekt der Preisniveaustabilität dominierten monetären Kriterien darstellen. Das Hauptargument fiir die Fiskalkriterien lag und liegt in der potentiellen Geilihrdung einer das Ziel der Preisstabilität verfolgenden Geldpolitik der Zentralnotenbank700 durch (allzu) expansive Fiskalpolitik seitens der Staatsregierungen, insbesondere in Verschuldungssituation und möglicherweise unter Inkaufoahme noch höherer Staatsverschuldung. Als Konvergenzkriterien sorgen die beiden fiskalen Teilkriterien fiir eine tragbare Startkonstellation der nationalen Haushaltsbudgets fiir die Währungsunion, als Kriterien im Überwachungsverfahren ftlr ihren angemessenen weiteren Verlauf. Als Einwand wurde allerdings vorgebracht, es entstehe der "irreftlhrende Eindruck", daß niedrige Defizite und geringer Schuldenstand notwendige Bedingungen ftlr die Binnenstabilität der Währung verkörperten, wofiir es keinen Beleg gebe, es sei denn, der Staat könnte sich über die Notenbank finanzieren, was der Vertrag jedoch nicht zuläßt. 701 Der Sachverständigenrat hingegen kam zu dem Ergebnis, es existiere durchaus "eine Reihe von Mechanismen, die die Forderung nach einer strikten und engen Auslegung dieses Kriteriums begründen", "auch wenn es richtig ist, daß ein direkter Wirkungszusammenhang nicht besteht."702 Jedenfalls steigt aber der Realzins durch staatliche Kreditaufnahme am Kapitalmarkt. Private Investitionen gehen zurück, auch nimmt der Handlungsspielraum des Staates dann bei steigenden Zinsen merklich ab. Insgesamt steigt der staatlich-
699
Siehe unten 5. Teil, 2. Kap., II., 2., c), cc).
700
Dazu aufUhrlieh unten 5. Teil, 2. Kap., 11., 3., b).
701 Art. 101 Abs. I EGV; vgl. so R. Vaube/, Kein Pakt filr Preisstabilität, WD, 77. Jg. (1997), S. 10 ff. (S. II); P. Bofinger, Disziplinierung der öffentlichen Haushalte durch den Markt - nicht durch starre Regeln oder Bürokraten, WD, 77. Jg. ( 1997), S. 12 ff. (S. 13); ders., Der Euro vor der Einfiihrung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 47/97, S. II ff. (S. 13). 702
Jahresgutachten des Sachverständigenrats 1996/97, Tz. 352.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
241
politische Druck auf die Geldpolitik 703 Inwieweit die vertraglichen Regelungen tatsächlich in der Lage sind, expansiven Tendenzen Einhalt zu geben, stellte Berthold recht früh skeptisch in Frage: "Halten in einer europäischen Währungsunion die monetären Bremsen, wenn die nationales Regierungen fiskalpolitisch Gas geben?" 704
bb) Beschränkungtrotz weitem Fokus
Die beschränkte Auswahl der Konvergenzkriterien könnte mit deren Fokus auf die Währungsunion erklärt werden, der möglicherweise eine erste Eingrenzung der Kriterien auf monetäre Aspekte nahelegt Zusätzlich unternimmt der Vertrag auch bei dieser Sichtweise mit den Fiskalkriterien den Versuch einer rechtlichen Absicherung gegen eine Unterlaufung der vergemeinschafteten Geldpolitik durch die mitgliedstaatliche Fiskalpolitik. Andererseits spricht der Vertrag aber in Art. 121 Abs. 1 EGV nicht explizit von (nur) monetärer Konvergenz; vielmehr meint er wohl eher allgemeine, also gesamtwirtschaftliche dauerhafte Konvergenz. Dies belegt auch die vorgesehene Berücksichtigung der (allerdings stets vernachlässigten) Nebenkriterien. Für die konkretere Bestimmung dieser allgemeinen Konvergenz dann doch lediglich monetäre und jene beiden fiskalen Kriterien heranzuziehen, scheint deshalb zu kurz zu greifen und (politisch) kompromißhaft; es sei denn, es läge die gesicherte Erkenntnis zugrunde, daß sich über diese monetären Kennzahlen auch der realwirtschaftliche Bereich (vollständig) abbilden ließe. Eine solche Erkenntnis liegt jedoch nicht vor. Gegen den einseitig monetären Charakter der ausgewählten Konvergenzkriterien wird vielmehr die Theorie optimaler Währungsräume705 ins Feld gefilhrt, die- um das Nächste vorwegzunehmen- ganz 703 Vgl. dazu auch W Hanke/l W Nölling!K. A. Schachtschneider/J Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 70 ff.; R. Jochimsen, Perspektiven der europäischen Wirtschaftsund Währungunion, 2. völlig überarb. Aufl., 1998, S. 160 f. 704 N. Berthold, Europa nach Maastricht - sind die währungspolitischen Fragen gelöst?, WD, 72. Jg. (1992), S. 23 ff. (S. 25).
705 Eine Übersicht zur Theorie optimaler Währungsräume findet sich - eingebunden in das Thema Europäische Währungsunion - etwa bei Ch. Knoppik, Stabilitätseinbußen durch die Europäische Währungsunion, 1997, S. 19 ff.; G. Aschinger, Die Theorie optimaler Währungsgebiete und die europäische monetäre Integration, in: Hamburger Jahrbuch fllr Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 1993, S. 9 ff.; M. Willms, Die Währungsunion im Lichte der Theorie optimaler Währungsräume, in: H.-H. Francke/ E. Ketzel!H.-H. Kotz (Hrsg.): Europäische Währungsunion. Von der Konzeption zur Gestaltung, 1998, S. 41 ff.; auch W-D. Becker, Perspektiven einer "Währungs-Union" a Ia Maastricht, in: W. Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty (Hrsg.): Währungs16 Hiinsch
242
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
im Gegenteil realwirtschaftliche Kriterien filr die Bestimmung eines optimalen Währungsraums in den Vordergrund stellt - und die Optimierung des gemeinsamen Währungsraumes sowie die Feststellung eines zumindest geeigneten Währungsraumes sind ja wohl das verfolgte Ziel der im EGV geforderten Konvergenz. cc) Die Theorie optimaler Währungsräume
Die in ihrer klassischen Ausprägung auf Munde/[06 zurückgehende und vor allem von McKinnon707 und Kenen708 weitergeprägte Theorie optimaler Währungsräume stellt einen Vergleich der ökonomischen Kosten eines Systems flexibler Wechselkurse gegenilber dem mit festen Wechselkursen an. Entscheidend ist beim Übergang von flexiblen zu festen Wechselkursen oder eben zur einheitlichen Währung der Wegfall des Wechselkurses als Anpassungsinstrument ftlr durch auf einzelne Teile des Währungseinheitsgebiets unterschiedlich wirkende wirtschaftliche Schocks entstandene regional unterschiedliche realwirtschaftliche Lagen 709 - aus heutiger Sicht im Hinblick auf die berechtigte
union und Weltwirtschaft. FS fiir W. Hanke) zum 70. Geburtstag, 1999, S. 3 ff., insb. S. 7 ff.; die Theorie lieferte die Grundlage fiir die ausruhrliehe Untersuchung von D. Dohse!Ch. Krieger-Boden, Währungsunion und Arbeitsmarkt. Auftakt zu unabdingbaren Reformen, Institut fiir Weltwirtschaft, Kiel, 1998, hierzu S. I 0 ff., zur Beschäftigungswirkung der Währungsunion im Auftrag des Bundesministeriums fiir Wirtschaft, zusarnmengefaßt D. Dohse/Ch. Krieger-Boden!R So/twede/, Die EWU - Beschäftigungsmotor oder Beschäftigungsrisiko?, ZfW, 47. Jg (1998), S. 109 ff. 706 R. A. Munde//, A Theory of Optimum Currency Areas, in: American Economic Review 1961, 51 (Sept), S. 657 ff. (Ziele: Preisniveaustabilität, Vollbeschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht; wesentliches Optimum-Kriterium: Arbeitsmobilität).
707 R. I. McKinnon, Optimum Currency Areas, in: American Economic Review 1963, 53 (Sept), S. 717 ff. (Ziele: Vollbeschäftigung, Leistungsbilanzausgleich und Preisniveaustabilität; wesentliches Optimum-Kriterium: Offenheit der Volkswirtschaften -gemessen am Verhältnis handelbarer und nicht-handelbarer Güter). 708 P. Kenen, The Theory of Optimum Currency Areas: An Eclectic R. Mundeli!R. Swoboda (Hrsg.): Monetary Problems of the International Chicago 1969, S. 41 ff. (Ziel: insb. Vollbeschäftigung; erweiterndes Kriterium: insb. Grad der Produktdiversifikation; geringe Veränderungsrate Wechselkurses als Operationalisierung der Kriterien).
View, in: Economy, Optimumdes realen .
709 Vgl. etwa nur N. Bertho/d, Europanach Maastricht- sind die währungspolitischen Fragen gelöst?, WD, 72. Jg. (1992), S. 23 ff. (S. 25 f.); so M. Friedman (1953): " ... it is much easier to change one price, the exchange rate, rather than every single price and wage in the entire economy when there is a need for relative price changes." (zit. nach Ch. Knoppik, Stabilitätseinbußen durch die Europäische Währungsunion, 1997, S. 15).
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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Kritik an aktiver Abwertungspolitik ("Beggar-my-Neighbour-Policy")710 dennoch jedenfalls als "Notventil ... von unschätzbarem Wert'' 711 mit kurz- bis mittelfristiger Wirkung712 • Anpassungen über Wechselkursänderungen sind demnach nicht erforderlich, wenn zwischen den einzelnen Währungsregionen hinreichende Konvergenz besteht, so daß sogenannte asymmetrische Schocks überhaupt nicht auftreten, oder wenn ausreichend hohe interne Flexibilität besteht, so daß Schocks innerhalb der Währungsregionen gut und in kurzer Zeit aufgefangen werden können. Besteht die Notwendigkeit zur Kompensation asymmetrischer Schocks und liegt die Ausgleichsmöglichkeit über den Wechselkurs nicht mehr vor, müssen also andere Faktormärkte die Kompensationsleistung erbringen. Dem traditionellen Ansatz wurde zurecht entgegengebracht, er betrachte nur die Kostenseite einer Währungsintegration und ignoriere Nutzenaspekte völlig. In jüngeren Kosten-Nutzen-Ansätzen zur Beurteilung der Integration von Währungsräumen wird deshalb die Nutzenseite in die Betrachtung miteinbezogen. 713 Letztlich kamen aber auch hier keine konsistenten, für die Volkswirtschaftslehre typischen Modellbildungen zustande. Für manche ist deshalb die
710 Vgl. kurz 0. /ssing, Lokomotivtheorie - Konvoitheorie, WiSt 1978, S. 432 f. (S. 432); der Erfolg einer nominellen Abwertung der Währung ist abhängig von den inund ausländischen Nachfrageelastizitäten sowie Preisniveaue1astizitäten; nur bei Erfii1lung der sog. ,,Marshall-Lerner-Bedingung" (Nachfragemengensteigerung überkompensiert Bewertungsminderung) stellt sich eine positive Wirkung auf Leistungsbilanz, Volkseinkommen und Beschäftigung ein; vgl. dazu M Wi/lms, Währung, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. I, 7., überarb. u. erw. Aufl., 1999, S. 237 ff. (S. 252 ff); M Borchert, Außenwirtschaftslehre. Theorie und Politik, 6., überarb. Aufl., 1999, S. 183 ff. 711 N. Berthold, Gibt es in der Europäischen Union mehr sichere Arbeitsplätze?, in: F.-U. Willeke (Hrsg.): Die Zukunft der D-Mark, 1997, S. 141 ff. (S. 144 f.). 712 Bei aller Kritik an abwertenden Wechselkursanpassungen zur Besserung der wirtschaftlichen Binnensituation lindern sie die Last asymmetrischer Schocks auf dem Arbeitsmarkt jedenfalls in der ersten Wirkungszeit; freilich sind sie nur "second-bestLösungen", aber besser als keine; vgl. D. Dohse/Ch. Krieger-Boden, Währungsunion und Arbeitsmarkt. Auftakt zu unabdingbaren Reformen, Institut fiir Weltwirtschaft, Kiel, 1998, S. 45, insg. dazu S. 30 ff. 71 3 Vgl. im Überblick M Willms, Die Währungsunion im Lichte der Theorie optimaler Währungsräume, in: H.-H. Francke/E. Ketzel/H.-H. Kotz (Hrsg.): Europäische Währungsunion. Von der Konzeption zur Gestaltung, 1998, S. 41 ff. (S. 46 ff.); G. S. Tavlas, The "New" Theory ofüptimum Currency Areas, in: The World Economic Review, Vol. 16 (1993), S. 663 ff.; P. de Grauwe, The Economics of Monetary Integration, 2. Aufl., Oxford University Press, Oxford 1994; L. Menkhoff/F. L. Seil, Überlegungen zu einem optimalen DM-Währungsraum, in: Zeitschrift fiir Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 1992, S. 379 ff.
16•
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Theorie optimaler Währungsräume "weniger... konsistentes Theoriegebäude, sondern eher eine Ansammlung von mehr oder weniger nützlichen Erwägungen zum Thema".714 Für die hiesige Betrachtung entscheidend ist aber nicht die an den einzelnen Theorien geäußerte Kritik715, sondern die über alle Theorieausprägungen zu findende Durchgängigkeit des auch realwirtschaftlichen Charakters der Faktoren, die hinreichende Konvergenz kennzeichnen und deren Erftlllung damit einen Vorteil der Währungsintegration erwarten läßt. Die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Währungsintegration ist umso höher, je höher die Mobilität der Produktionsfaktoren, je flexibler der Arbeitsmarkt, je höher die Bereitschaft zur fiskalischen Integration, je höher der Diversifikationsgrad, je ähnlicher die Produktionsstrukturen, sicherlich aber ebenso je ähnlicher die Inflationsraten und je geringer die Volatilität der Wechselkurse. Zusammenfassend bedarf es also einer möglichst großen Ähnlichkeit der Wirtschaftsstrukturen in den Integrationsländern und möglichst hoher Flexibilität der Güter- und Faktormärkte sowie der Preise, aber auch der Konvergenz wirtschaftspolitischer Präferenzen.716 Aber selbst eine hinreichende Faktormobilität kann nur langfristig strukturelle Nachfrageveränderungen kompensieren, ist aber nicht zu kurzfristigen Reaktionen imstande. 717
714 So bei Ch. Knoppik, Stabilitätseinbußen durch die Europäische Währungsunion, 1997,S.31. 715 Kritisiert werden vor allem die der Theorie insb. von Mundeil zugrundegelegten Annahmen, auch wird der empirische Nachweis durchaus unterschiedlicher Strukturen bei erfolgreichem gemeinsamen Geld vorgebracht; vgl. P. Bofinger, Der Euro vor der Einführung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 47/97, S. 11 ff. (S. 18 f); ders., Europa: Ein optimaler Währungsraurn?, in: B. Gahlen/H. Hesse/H. J. Rarnser (Hrsg.): Europäische Integrationsproblerne aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht, 1994, S. 125 ff.; H. Matthes/A. lta/ianer, Ist die Gemeinschaft ein optimaler Währungsraurn?, in: M. Weber (Hrsg.): Europa auf dem Weg zur Währungsunion, 1991, S. 70 ff. (S. 72 ff.); kurz auch A. Radü, Fiskalpolitik in einer EG-Währungsunion: eine Analyse der Interdependenzen, Kooperationsnotwendigkeiten und -möglichkeiten, 1993, S. 168 f.
716 Vgl. Ch. Schmidt!Ih. Straubhaar, Maastricht II: Bedarf es realer Konvergenzkriterien?, WO, 75. Jg. (1995), S. 434 ff.; R. Ohr, Integration in einem nicht-optimalen Währungsraurn, in: Harnburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 1993, S. 29 ff. (S. 3 7); Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 23). 717 Vgl. R. Ohr, Integration in einem nicht-optimalen Währungsraurn, in: Harnburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 1993, S. 29 ff. (S. 34 f.).
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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dd) Forderung nach realwirtschaftlichen Kriterien
Dementsprechend wurden von Anfang an immer wieder Forderungen nach Änderung des Kriterienkatalogs, vor allem die Aufnahme weiterer realwirtschaftlicher Kriterien, vorgebracht. 718 Die Deutsche Bundesbank wies in ihrer Stellungnahme eindeutig, wenngleich vorsichtig auf die Vernachlässigung gerade des Aspekts der breiten Arbeitslosigkeit in Europa hin, ohne hierbei allerdings nochmals auf eine Erweiterung der Konvergenzkriterien abzustellen. 719 Auch nach Beginn der Währungsunion wird eine Modiftkation der Kriterien um realwirtschaftliche Aspekte diskutiert und von vielen Seiten bejaht gerade im Hinblick auf anstehende Beitritte osteuropäischer Länder. 720 Technisch-rechnerisch würde eine Einbeziehung etwa der Arbeitslosenrate oder der Wachsturnsrate keine größeren Schwierigkeiten bereiten als die gewählten Kriterien. Wenn darilber hinaus - wie oben gezeigt- ohnehin schon Verzerrungen durch technische Erhebungs- und Berechnungsunterschiede innerhalb der Europäischen Union akzeptiert werden, sollten sie sich in einem möglichst breiten Kriterienfeld so gut wie möglich nivellieren können. ee) Der Konvergenzstand mit Blick auf die Theorie optimaler Währungsräume
Auch wenn und gerade weil die Konvergenzkriterien der Theorie optimaler Währungsräume folgend nicht in der Lage sind, zu einem hinreichenden Bild über die Eignung der Europäischen Union als einheitlicher Währungsraum zu 718 Ch. Schmidt!Th. Straubhaar, Maastricht II: Bedarf es realer Konvergenzkriterien?, WD, 75. Jg. (1995), S. 434 ff., als Ergebnis ihrer Gesamtbetrachtung; dort auch der Hinweis auf den konkreten Vorschlag der US-Investrnentbank Goldman Sachs, London, aus März 1995 zur Erweiterung, der Wirtschaftswachstum, Arbeitslosenquote, Leistungsbilanzdefizit und Wettbewerbsfllhigkeit umfaßt (vgl. Goldman Sachs: The UK Economics Analyst, Vol. 10, Heft 3/4, S. 1.30 f.); H. Hanusch, Die Europäische Währungsunion. Politische Visionen und wirtschaftliche Realität, 1996, S. 11, der auf die mangelnde politische Durchsetzbarkeil realer Kriterien wegen praktischer Erfil1lungsunmög1ichkeit in der Entscheidungsphase hinweist; W. Hanke/lW. Nöllingl K. A. Schachtschneiderl J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 112, machen deutlich, daß auch die in Art. 121 Abs. 1 EGV genannten Nebenkriterien ("sonstige Faktoren") nur einen kleinen Teil der relevanten realwirtschaftlichen Aspekte beinhalten. 719 "Zweifelsohne wäre es weitaus beruhigender, wäre der statistisch gemessene Grad an Preisstabilität bei einem hohen Beschäftigungsstand erreicht worden.", Deutsche Bundesbank. Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 28).
720 So in der Disskussion in breiten Massenmedien, z.B. TV-Sendung "MUnchener Runde", Drittes Programm des Bayerischen Rundfunks vom 31. 1. 2000 zum Thema "Euro", Teilnehmer u.a. W. Hankel, F.-Ch. Zeitler, H. Faltlhauser.
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fUhren, kam es zu einer Reihe entsprechender Untersuchungen über ein geeignetes Europäisches Währungsgebiet, die theorieadäquatere Aspekte in die Betrachtung miteinbezogen. Ihr Großteil gelangte aus teils unterschiedlichen Betrachtungswinkeln zum Ergebnis, die derzeitigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union stellten jedenfalls zum Untersuchungszeitpunkt keinen optimalen Währungsraum dar721 ; in Frage käme nur eine Währungsunion von bestimmten Mitgliedstaaten, also die sogenannte "kleine Währungsunion" 722 von "Kemländem".723 Die Studien richteten sich vor allem auch auf den Arbeitsmarkt, der
721 Die damaligen Ergebnisse stellten sich ziemlich eindeutig dar, so daß mit einer gravierend veränderten Lage zum heutigen Zeitpunkt nicht zu rechnen ist. 722 Zur mangelnden Verfassungsmäßigkeit und Vertragsentsprechung einer kleinen Währungsunion insb. aus dem Widerspruch der von Art. 23 Abs. I Satz l GG gebotenen "Verwirklichung eines vereinten Europas" vgl. K A. Schachtschneider!A. EmmerichFritsche, Grundgesetzliche Rechtsprobleme der europäischen Währungsunion, DSWR 1997, S. 172 ff. (S. 175).
723 Vgl. J v. Hagen!M J M Neumann, Real Exchange Rate within and between Currency Areas: How far away is EMU?, in: The Review ofEconomics and Statistics, Bd. 5 (1994), S. 236 ff.; P. de Grauwe/ W Vanhaverbeke, ls Europe an Optimal Currency Area? Evidence from Regional Data, in: P. R. Masson!M. P. Taylor (Hrsg.): Policy Issues in the Operation of Currency Unions, Cambridge/New York 1993, S. III ff.; S. de Nardis!A. Goglio/M Malgarini. , Regional Specialization and Shocks in Europe: Some Evidence from Regional Data, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 132 ( 1996), S. 197 ff.; T. Bayoumi/B. Eichengreen, Shocking Aspects of European Monetary Integration, in: F. Torres/F. Giavazzi (Hrsg.): Adjustment an Growth in the European Monetary Union, Cambridge University Press 1993, S. 193 ff.; D. Gros, A Reconsideration of the Cost of EMU, in: EUI Working Paper No. 96/15, 1996; zusammenfassend auch P. B. Kenen, Economic and Monetary Union in Europe. Moving Beyond Maastricht, Cambridge University Press 1995, S. 80 ff.; H. Matthesl A. Italianer, Ist die Gemeinschaft ein optimaler Währungsraum?, in: M. Weber (Hrsg.): Europa auf dem Weg zur Währungsunion, 1991, S. 70 ff.; L. Menkhoff!F. L. Seil, Überlegungen zu einem optimalen DM-Währungsraum, in: Zeitschrift fiir Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 1992, S. 379 ff.; G. Aschinger, Die Theorie optimaler Währungsgebiete und die europäische monetäre Integration, in: Hamburger Jahrbuch fiir Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 1993, S. 9 ff.; M Willms. Die Währungsunion im Lichte der Theorie optimaler Währungsräume, in: H.-H. Francke/E. Ketzel/H.-H. Kotz (Hrsg.): Europäische Währungsunion. Von der Konzeption zur Gestaltung, 1998, S. 41 ff.; P. Bofinger, Europa: Ein optimaler Währungsraum?, in: B. Gahlen/ H. Hesse/H. J. Ramser (Hrsg.): Europäische Integrationsprobleme aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht, 1994, S. 125 ff.; P. JJ. Welfens, Binnenmarkt und Währungsintegration: Theoretische Aspekte und wirtschaftspolitische Optionen, in: Hamburger Jahrbuch fiir Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 1994, S. 307 ff. (S. 325 ff.); auch Jahresgutachten des Sachverständigenrats 1997/98, S. 233 ff., insb. Ziffer 414, hier speziell: "eine größere Währungsunion mit vielen Teilnehmern würde danach eine größere Heterogenität mit einer stärkeren Spezialisierung der Teilräume aufweisen und zwar auch dann, wenn andere Indikatoren eine zunehmende Ähnlichkeit zeigen ..."; mit Fokus auf die Beschäftigungswirkung der Währungsunion zuletzt v.a. D. Dohsel
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im Falle der Währungsunion anstelle des Wechselkurses regionale Disparitäten zu kompensieren hätte. 724 Zunächst wurde festgestellt, daß zum einen tatsächlich vorhandenen asymmetrisch wirkenden Schocks innerhalb der Europäischen Union immer wieder, gelegentlich auch erfolgreich, über AbwertungsWechselkurspolitik begegnet wurde. 725 Mit dem Wegfall dieses Instruments durch eine einheitliche Währung müßte vor allem der Arbeitsmarkt die Kompensationsleistung übernehmen. Hierzu bedürfte er aber ausreichender Mobilität (der Arbeitskräfte) und Flexibilität (insbesondere des Faktorpreises), mit der die Europäische Union diesbezüglich nicht aufwarten kann. 726 Im häufig gezogenen Vergleich zu den USA stellten sich filr Europa merklich geringere Mobilitäts- und Flexibilitätsgrade heraus, die strukturell bedingt sind und zudem
Ch. Krieger-Boden, Währungsunion und Arbeitsmarkt. Auftakt zu unabdingbaren Reformen, Institut fiir Weltwirtschaft, Kiel, 1998; M. Scharmer, Europäische Währungsunion und regionaler Finanzausgleich - Ein politisch verdrängtes Problem, Berichte aus dem Weltwirtschaftlichen Colloquium der Universität Bremen, 1997, S. 9 ff., kommt zum Ergebnis, daß Regionen mit komparativen Vorteilen weiterhin im Vorteil bleiben und insgesamt keine Allgleichung stattfindet. 724 Vgl. zum aktuellen Stand des Arbeitsmarkts Deutsche Bundesbank. Der Arbeitsmarkt in der Europäischen Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 1999, S. 47 ff. 725 Jedenfalls zur kurzfristigen Abfederung; vgl. N. Berthold. Gibt es in der Europäischen Union mehr sichere Arbeitsplätze?, in: F.-U. Willeke (Hrsg.): Die Zukunft der D-Mark, 1997, S. 141 ff. (S. 144 f.); die Ausfiihrung von D. Dohse!Ch. KriegerBoden/R. So/twedel. Die EWU - Beschäftigungsmotor oder Beschäftigungsrisiko?, ZfW, 47. Jg (1998), S. 109 ff. (S. 111) zeigt anband anderer Untersuchungen auf, daß der Wechselkurs in einigen Ländern durchaus erfolgreich zum shock-absorbing eingesetzt wurde (anfang der 1990er Jahre in Italien, Schweden und Finnland), andererseits auch Negativbeispiele mit erfolglosen oder sogar schädlichen Versuchen existieren (insb. Großbritannien in den 1960er und 1970er Jahren); a.A. A. Belke, Wechselkursfixierung und Beschäftigung: die Kosten und Nutzen einer EWU, in: R. H. Hasse/ W. Schäfer (Hrsg.): Die ökonomischen Außenbeziehungen der EWU, 1998, S. 259 ff. 726 Vgl. H. Siebert, Zu den Voraussetzungen der Europäischen Währungsunion, 1997, S. 9 ff.; W. Harbrecht, Zur Geldwertstabilität des Euro - Chancen und Risiken, in: W. J. Mückl (Hrsg.): Die Europäische Währungsunion- Probleme und Perspektiven, 2000, S. 49 ff. (S. 71); N. Berthold, Gibt es in der Europäischen Union mehr sichere Arbeitsplätze?, in: F.-U. Willeke (Hrsg.): Die Zukunft der D-Mark, 1997, S. 141 ff. (S. 151 ff., S. 162); H. Feldmann, Europäische Währungsunion und Arbeitsmarktflexibilität, in: Aussenwirtschaft, 53. Jg. (1998), S. 53 ff. (S. 53 ff., S. 65 ff.); w.N. bei Ch. Molitor, Zur Frage der realwirtschaftlichen Konvergenz in der Europäischen Union, ZfW, Jg. 46 (1997), S. 324 ff. (S. 336, Fn. 21); zur Messung und Einzelaspekten der Arbeitsmarktflexibilität vgl. D. Dohse/Ch. Krieger-Boden!R. Soltwedel, Die EWU Beschäftigungsmotor oder Beschäftigungsrisiko?, ZfW, 47. Jg (1998), S. 109 ff. (S. 112 ff.).
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
höhere Anflilligkeit ftlr asymmetrische Schocks aufweisen 727, insbesondere in einer Reihe bestimmter Länder728 • Zudem steigt generell in der Währungsunion als einheitliches Währungsgebiet die Wahrscheinlichkeit ftlr asymmetrische Schocks729, das Hinzustoßen osteuropäischer Staaten wird noch ein weiteres tun. 730 Die faktisch unterschiedliche Konvergenzlage zeigt die Euro-Klage auf; sie spricht von der "real stark zerklüfteten Landschaft Europas". 731 Insgesamt
727 Vgl. H. Feldmann, Europäische Währungsunion und Arbeitsmarktflexibilität, in: Aussenwirtschaft, 53. Jg. (1998), S. 53 ff. (S. 54) m.w.N.; auch G. Illing, Herausforderungen an die Europäische Zentralbank, WD, 78. Jg. (1998), S. 491 ff. (S. 493), der allerdings erwägt, daß die positiveren USA-Daten gerade durch die gemeinsame Währung resultieren und insofern von einem "zirkulären" Argument spricht. 728 Davon betroffen sind Spanien, Portugal, Vereinigtes Königreich, Italien, Griechenland, Schweden, Finnland; vgl. D. Dohse/Ch. Krieger-Boden/R. Soltwedel, Die EWU - Beschäftigungsmotor oder Beschäftigungsrisiko?, ZfW, 47. Jg (1998), S. 109 ff. (S. 111 f.) m.V.a. T. Bayoumi/B. Eichengreen, Shocking Aspects ofEuropean Monetary Integration, in: F. Torres/F. Giavazzi (Hrsg.): Adjustment an Growth in the European Monetary Union, Cambridge University Press 1993, S. 193 ff. (S. 211 ff., S. 223); H.-J. Jarchow, Zur Diskussion Ober die Europäische Währungsunion und ihre Realisierung, in: R. H. Hasse/W. Schäfer (Hrsg.): Die ökonomischen Außenbeziehungen der EWU, 1998, S. 5 ff. (S. 11). 729 Vgl. G. Rübe/, "Währungsklubs" - eine Alternative zum Euro?, WD, 77. Jg. (1997), S. 533 ff. (S. 535); aufgrundder Verflechtungen der Wirtschaften der Mitgliedstaaten werden asymmetrische Schocks zwar unwahrscheinlicher, aber gleichzeitig wiederum aufgrund effizienzbegründeter höherer Spezialisierung der Regionen wahrscheinlicher, so R. Pfejfekoven, Wird die Währungsunion zu einer Transferunion?, in: H.-U. Jörges (Hrsg.): Der Kampf um den Euro. Wie riskant ist die Währungsunion?, 1998, S. 291 ff. (S. 293); im gleichen Kontext N. Berthold, Gibt es in der Europäischen Union mehr sichere Arbeitsplätze?, in: F.-U. Willeke (Hrsg.): Die Zukunft der D-Mark, 1997, S. 141 ff. (S. 145 f.) mit dem Hinweis auf Amerikas Automobilindustrie; auch D. Dohse!Ch. Krieger-Boden, Währungsunion und Arbeitsmarkt. Auftakt zu unabdingbaren Reformen, Institut fllr Weltwirtschaft, Kiel, 1998, S. 19 ff., insb. S. 29 ("sehen wir - unterstellt, es kommt zu einer großen Währungsunion mit heterogenem Teilnehmerkreis - keinen Anlaß anzunehmen, daß auch gemeinsame asymmetrisch wirkende Störungen in Umfang und Häufigkeit zurückgehen werden. Damit werden auch weiterhin Anpassungsmechanismen an diese Schocks benötigt."); siehe dazu auch 0. G. Mayer!H.-E. Scharrer (Hrsg.), Schocks und Schockverarbeitung in der Europäischen Währungsunion, 1997. 730 R. Vaube/, Europäische Währungsunion: Wer darf an den Euro-Start?, WD, 78. Jg. ( 1998), S. 85 ff. (S. 85 f. ). 731 W: Hanke/lW Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 111, S. 113 ff. (Sozialproduktstrukturen), S. 116 ff. (Produktivität und Kaufkraftparitäten), S. 118 ff. (Arbeitslosigkeit und Erwerbsquoten), S. 121 f. (Investitionen und Kapazitätsauslastung).
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
249
haben sich im Vergleich zur Lage Anfang der l990er Jahre die Voraussetzungen fUr eine Europäische Währungsunion deutlich verschlechtert. 732
./J) Folgen mangelnder Konvergenz, insbesondere Finanztransfers Geht man mit den in den Studien geäußerten Erwartungen davon aus, daß innerhalb der Währungsunion noch unterschiedliche wirtschaftliche Lagen in den Mitgliedstaaten bestehen oder diese sogar verstärkt werden, das kurzfristige Auffangen wirtschaftlicher Schocks über Wechselkurse wegen der einheitlichen Währung nicht mehr möglich und der europäische Arbeitsmarkt mangels Flexibilität und Mobilität zur Kompensation nicht in der Lage sein wird, bleibt es zunächst bei den Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten. Die Erwartungshaltungen fiir die Beschäftigungswirkungen einer solchen Lage sind überwiegend negativ. 733 Expansive Fiskalpolitik in den nachteilig betroffenen Ländern könnte und wird vermutlich die Folge sein, die wiederum durch die Inanspruchnahme des Kapitalmarkts steigende Zinsen nach sich ziehen würde allerdings im Gebiet der gesamten Währungsunion und damit zu Lasten auch der anderen Mitgliedstaaten. Dabei sind den Mitgliedstaaten über das Haushaltsüberwachungsverfahren sowie den Stabilitäts- und Wachsturnspakt zwar Grenzen gesetzt, die Wirksamkeit dieser Verfahren ist jedoch nicht sicher. Gemeinschaftsinterne Finanztransfers blieben letztlich als reaktiver Ausweg der gesamten Gemeinschaft auf wirtschaftliche Schocks, die nur einzelne Mitgliedstaaten treffen; 734 dies gegebenenfalls sogar schon präventiv bei entsprechend 732 Vgl. R. Vaubel, Europäische Währungsunion: Wer darf an den Euro-Start?, WD, 78. Jg. (1998), S. 85 ff. (S. 85 f); W Nölling, Die Europäische Zentralbank- Machtzentrum oder Spielball der Politik?, in: H.-U. Jörges (Hrsg.): Der Kampf um den Euro. Wie riskant ist die Währungsunion?, 1998, S. 273 ff. (S. 277 ff.), z.B. Anstieg der durchschnittlichen Staatsverschuldung von 41,8% (1989) auf60,2% (1996), der Sozialversicherungsbeiträge von 35,6% (1990) auf 42,7% (1998); siehe dazu auch unten 5. Teil, 2. Kap., II., 2., e). 733 Vgl. D. Löhr, Chancen und Risiken der Europäischen Währungsunion unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitsmarktes, WSI Mitteilungen 1997, S. 320 ff. (S. 322 f.), der die große Währungsunion als "worst case" filr die Arbeitsmärkte bezeichnet; ausgesprochen skeptisch eben auch D. Dohse!Ch. Krieger-Boden, Währungsunion und Arbeitsmarkt. Auftakt zu unabdingbaren Reformen, Institut fiir Weltwirtschaft, Kiel, 1998. 734 Vgl. H. Siebert, Zu den Voraussetzungen der Europäischen Währungsunion, 1997, S. 9 ff. (S. ll ff.), der binnen I 0-Jahres-Frist mit beachtlichen Transfersteigerungen rechnet; ders., Stabilitätspakt - Die Geldpolitik in der Währungsunion ent-politisieren, WD, 77. Jg. (1997), S. 7 ff. (S. 8); erwartet werden Tranfers i.H.v. 860 Mrd. DM, vgl. K.-D. Grüske, Föderalismus und Finanzausgleich, Vortrag bei den Atzelsberger Gesprächen der Dr. Alfred Vinzi-Stiftung in Marioffstein am 17.07.1997, S. 20; H.-J. Jarchow, Zur Diskussion über die Europäische Währungsunion und ihre Realisierung, in: R. H.
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
negativen Entwicklungen. 735 Insofern bestünde eine Art Solidarhaftung innerhalb der Gemeinschaft. 736 Mahnungen wie die der Bundesbank vor der Gefahr von Transferleistungen als Allheilmittel stehen mit volkswirtschaftlicher Argumentation dagegen737, ebenso wie der Vertrag selbst etwaige Finanztransfers Hasse/W. Schäfer (Hrsg.): Die ökonomischen Außenbeziehungen der EWU, 1998, S. 5 ff. (S. 9 ff.) mit Hinweis auf De Grauwe (Fn. 713, 723) und die Stützung der Transfers durch Art. 2 EGV; R. Ohr, Eine Alternative zum Maastricht-Fahrplan, WD, 76. Jg. (1996), S. 24 ff. (S. 25 f.) mit Hinweis darauf, daß die USA über solche Ausgleichsmechanismen verfügen (S. 26, Fn. 7); R. Pfeffekoven, Wird die Währungsunion zu einer Transferunion? , in: H.-U. Jörges (Hrsg.): Der Kampf um den Euro. Wie riskant ist die Währungsunion?, 1998, S. 291 ff.; H. Tietmeyer, Probleme einer europäischen Währungsunion und Notenbank, in: J. Isensee (Hrsg.): Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2., unveränd. Aufl., 1994, S. 35 ff. (S. 45 ff.); H. Schmieding, Ein Zinsschock für den Süden Europas, in: FAZ vom 29. 12. 1997, S. 20; W. Hanke// W. Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 126 ff., S. 130 ff.; S. Homburg, Hat die Währungsunion Auswirkungen auf die Finanzpolitik?, in: F.-U. Willeke (Hrsg.): Die Zukunft der D-Mark, 1997, S. 93 ff. (S. 102 ff.), der die Analogie zum "Bankrott" von Saarland und Bremen in der finanzpolitischen Haftungsgemeinschaft Bundesrepublik Deutschland herstellt; die Gefahr von Transferforderungen insb. wegen hoher Arbeitslosigkeit betont das Jahresgutachten des Sachverständigenrats 1997/98, S. 234, Ziffer 416; auch so H. Feldmann, Europäische Währungsunion und Arbeitsmarktflexibilität, in: Aussenwirtschaft, 53. Jg. (1998), S. 53 ff. (S. 75 ff.), der dort die umgekehrte These, daß der Wechselkurs-Wegfall die Flexibilität fOrdere, ablehnt. 735 Vgl. J. Genosko, Wirtschaftspolitische Aspekte der Wirtschafts- und Währungsunion, in: L. Schuster (Hrsg.): Die Unternehmung im internationalen Wettbewerb, 1994, S. I ff. (S. 12 f.). 736 Selbst Bofinger als vehementer Befilrworter der Währungsunion räumt trotz des Ausschlusses einer gemeinschaftlichen Haftung filr Staatsschulden eine Art Solidaritätshaftung nicht aus; vgl. P. Bofinger. Der Euro vor der Einfilhrung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 47/97, S. 11 ff. (S. 14, Fn. 10). 737 So schrieb die Deutsche Bundesbank in ihrer Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S.39): "Doch sollte klargestellt werden, daß auch zusätzliche Transferleistungen bei dem derzeit angestrebten Grad der Integration keine Lösung für regionale oder nationale Probleme sein dürfen."; Finanz-Transfers können an regionalen Unterschieden auch nur bedingt etwas verändern, vgl. B. Busch!K. Lichtblau/C. Schnabel, Kohäsionspolitik, Konvergenz und Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union, in: Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften, Bd. 49 (1998), S. I ff. (S. 21 f. in den Schlußfolgerungen); mit einem Finanzausgleich würde ein marktmäßiger Ausgleich- der über die Wechselkurse - ersetzt durch staatlichen Umverteilungsinterventionismus, vgl. G. Rübe/, "Währungsklubs" - eine Alternative zum Euro?, WD, 77. Jg. (1997), S. 533 ff. (S. 535); v.a. auch N. Berthold, Arbeitslosigkeit, Sozialstaat und Europäische Währungsunion: Eine etwas andere Sicht, in: R. H. Hasse/W. Schäfer (Hrsg.): Die ökonomischen Außenbeziehungen der EWU, 1998, S. 297 ff. (S. 304 ft): "Die ökono-
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
251
nur begrenzt zulassen will: Art. 103 Abs. 1 EGV räumt zwar einen Haftungsausschluß der Gemeinschaft und der anderen Mitgliedstaaten filr einen einzelnen Mitgliedstaat ein - die sogenannte "no-bail-out-Klausel" -, allerdings wird vielfach auf die "Weichheit" dieser Vorschrift sowie diverse "Einfallstore" für solche Finanztransfers an anderen Vertragsstellen, speziell in wirtschaftsspezifischen Politikbereichen, hingewiesen. 738 Hinzu kommt, daß solche Transfers möglicherweise in den sozialen Zielsetzungen in Art. 2 EGV starken Rückhalt finden. 739 Fraglich ist andererseits wieder, ob filr umfangreiche finanzielle mischen Vorteile einer Währungsunion bleiben eine Fata Morgana", falls es "nicht wirklich gelingt, das fiskalische Schlupfloch zu schließen" (S. 305), Anpassunglasten dürften nicht sozialisiert, sondern müßten individualisiert werden: "Eine gemeinsame Währung wird ebenso wie eine einheitliche europäische Sozialpolitik diese Entwicklung hin zu einer individuelleren Anlastung bremsen. Die fiskalische Haftungsgemeinschaft der Währungsunion und der sozialpolitische Schulterschluß einer Sozialunion helfen, die Anpassungslasten auch in Zukunft zu sozialisieren, dann auf europäischer Ebene." (S. 309); A. Belke, EWU, Geldpolitik und Reform der Europäischen Arbeitsmärkte, in: Jahrbuch ftir Wirtschaftswissenschaften, Bd. 49 (1998), S. 26 ff. 738 Vgl. etwa 0. /ssing, Europa auf dem Wege zur Währungsunion. Chancen und Risiken, Speyer 1995, S. 23; K. Biedenkopf. Zur Europäischen Währungsunion, in: W. Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty (Hrsg.): Währungsunion und Weltwirtschaft. FS filr W. Hanke) zum 70. Geburtstag, 1999, S. 13 ff. (S. 28); G. Krause-Junk, Die Europäische Währungsunion: Ein Plädoyer daftir, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1997, S. 275 ff. (S. 281); S. Homburg, Hat die Währungsunion Auswirkungen auf die Finanzpolitik?, in: F.-U. Willeke (Hrsg.): Die Zukunft der D-Mark, 1997, S. 93 ff. (S. 107) mit Hinweis auf Art. 100 EGV (Art. 103a EGV a.F.); die Möglichkeit, Transfers könnten auf Industriepolitik gestützt werden, erwägt N. Horn, Währungsunion als Instrument der Intergration, in: FS E.-J. Mestmäcker, 1996, S. 381 ff. (S. 393); ftir H. Tietmeyer, Probleme einer europäischen Währungsunion und Notenbank, in: J. Isensee (Hrsg.): Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2., unveränd. Aufl., 1994, S. 35 ff. (S. 47) ist die Währungsunion "nicht nur ordnungspolitisch bedenklich, zumal sie möglicherweise auch zu einem Einfallstor filr die in Art. 130 des Vertragsentwurfs vorgesehenen industriepolitischen Maßnahmen werden könnte."; auf die besondere Bedeutung des in Amsterdam neu hinzugekommenen Beschäftigungskapitels sehr kritisch eingehend vgl. M. J. M. Neumann, Ist Europa schon reiffilr die Währungsunion?, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 47/97, S. 3 ff. (S. 9):"Das Beschäftigungskapitel wird längerfristig zum Kristallisationspunkt filr expansive Gemeinschaftsprogramme werden und der Kommission als Ansatzpunkt dienen, den zentralen Haushalt auszuweitern und dafilr eigene Einnahmequellen zu erschließen."; R. H. Hasse, Die Erosion von Maastricht, in: W. Nöllingl K. A. Schachtschneidert J. Starbatty (Hrsg.): Währungsunion und Weltwirtschaft. FS ftir W. Hanke) zum 70. Geburtstag, 1999, S. 59 (S. 64 ff.) äußert sich zur möglichen Rolle der Europäischen Investitionsbank als "Schiebebahnhof' ftir vertraglich zulässige Transfers. 739 Sozialpolitik sollte vom Prinzip der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bestimmt sein, was wiederum diese Transfers rechtfertigt und umso notwendiger macht; vgl. W Hanke/l W Nölling/K. A. Schachtschneider!J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998,
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
Kompensationstransfers innerhalb der Europäischen Union oder auch nur unter den Teilnehmerstaaten an der Währungsunion740 ausreichend hohe Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten besteht. 741 Gerade die Regelung der Finanztransfers macht deshalb eine gegenüber dem heutigen Stand differenziertere Finanzordnung der Europäischen Union notwendig. 742 Diskutiert wird in diesem Zusammenhang freilich auch die Ausdehnung des sozialen Charakters der Europäischen Union - die "Sozialunion" -, die zwar rechtlich gefordert ist, unter volkswirtschaftlichen Aspekten aber nur vorsichtig voranzutreiben ist. 743
S. 252 f.; H.-J. Jarchow, Zur Diskussion über die Europäische Währungsunion und ihre Realisierung, in: R. H. Hasse/W. Schäfer (Hrsg.): Die ökonomischen Außenbeziehungen der EWU, 1998, S. 5 ff. (S. 9). 740 Vollkommen offen ist neben allen anderen Dingen auch, ob ftlr denkbare, den früheren Wechselkursausgleich ersetzenden Kompensationsleistungen nur die Teilnehmerstaaten an der Währungsunion oder die der gesamten Europäischen Union in Anspruch genommen werden. 741 Skeptisch vorausschauend bereits im Jahr 1992 M Seidel, Zur Verfassung der Europäischen Gemeinschaft nach Maastricht, EuR 1992, S. 125 ff. (S. 136); kritisch auch etwa W Mösche/, An der Schwelle zur Europäischen Währungsunion, JZ 1998, S. 217 ff. (S. 220); vor entsprechenden politischen Konflikten warnt auch H. Tietmeyer, "Stabile Mark- stabiler Euro", abgedr. in: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 23, 21. 4. 1997, S. 5 f.; viele amerikanische Ökonomen äußerten sich skeptisch; markant wohl sogar M Feldstein, The Political Economy of the European Economic and Monetary Union: Political Sources of an Economic Liability, NBER Working Paper 6150, 1997 (zit. bei G. Illing, Herausforderugen an die Europäische Zentralbank, WD, 78. Jg. (1998), S. 491 ff. (S. 491, Fn. 1), der ein ,jugoslawisches Szenario" mit unvermeidlichen Konflikten zeichnet. 742 Vgl. 0. Jssing, Disziplinierung der Finanzpolitik in der Europäischen Währungsunion?, in: D. Duwendag/J. Siebke (Hrsg.): Europa vor dem Eintritt in die Wirtschaftsund Währungsunion, 1993, S. 181 ff. (S. 189 f.), dort insgesamt die politische Union als Notwendigkeit erkennend; Forderung nach einem Finanzausgleichssystem bei M Scharmer, Europäische Währungsunion und regionaler Finanzausgleich - Ein politisch verdrängtes Problem, Berichte aus dem Weltwirtschaftlichen Colloquium der Universität Bremen, 1997, auch E. Steindorff, Währungsunion, Beitritt, Finanzausgleich und Maastricht II, EuZW 1996, S. 6 ff. (S. 8). 743 Vgl. D. Löhr, Chancen und Risiken der Europäischen Währungsunion unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitsmarktes, WSI Mitteilungen 1997, S. 320 ff. (S. 324); mit guten Gründen gegen die Sozialunion als weitere Einschränkung der notwendigen Flexibilität in Europa eingestellt N. Bertho/d, Gibt es in der Europäischen Union mehr sichere Arbeitsplätze?, in: F.-U. Willeke (Hrsg.): Die Zukunft der D-Mark, 1997, S. 141 ff. (S. 168 ff.): "Eine Sozialunion legt sich wie Mehltau auf die skierotisierten Arbeitsmärkte, verringert die Anpassungskapazität, verstärkt de Transferbedarf, erhöht die staatliche Verschuldung und damit den inflationären Druck auf die Europäische Zentralbank. Die Sozialunion entwickelt sich zu einem Sprengsatz fiir die Währungsunion in Europa." (S. 171 ); 0. Jssing, Europa auf dem Wege zur Währungsunion.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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gg) Vielschichtigkeif ökonomischer Standpunkte zur Europäischen Währungsunion
Die Theorie optimaler Währungsräume eröffuet aber nur einen von vielen möglichen volkswirtschaftlichen Standpunkten und mag aus ihrem Blickfeld, das die optimale Beschaffenheit neuer Währungsräume fokussiert, andere als die gesetzten Kriterien zur Beurteilung der Konvergenzlage fordern. Neben diesen spezifischen Überlegungen zur Konvergenzlage, Setzung von Konvergenzkriterien und Optimalität von Währungsgebieten ergibt sich aber noch eine Vielzahl weiterer ökonomischer Erwägungen - etwa über vermeintlich positive Rückwirkungen einer gemeinsamen Währung auf die Konvergenzlage -, die wiederum im vielseitigen Beziehungsgeflecht zu einer isolierten Konvergenzbetrachtung stehen und die in einer Fülle von Literatur zum Ausdruck kommen. Generell fällt dabei auf, daß die nachteiligen Wirkungen - die "Kosten" der Währungsunion- beispielsweise in Form des Wegfalls der Geldautonomie oder des Verlusts des Wechselkurses als Außenwirtschaftsstellelement aus makroökonomischer Sicht, die bisher noch nicht beleuchteten "Nutzen" dagegen eher aus mikroökonomischem Blickwinkel gefunden wurden. 744 Seltener fanden sich positive Makroaspekte wie z.B. Steigerung der Markttransparenz und sinkende Möglichkeit internationaler Preisdiskriminierung745 , verbesserte allokative Effizienz746 oder Erhöhung der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik insbesondere in früheren Inflationsländern747 • In die Reihe der klassischen mikroökonomischen Vorteile der Währungsunion gehören dagegen Wegfall oder zumindest Reduzierung von Transaktions-, Informations- und Risikokosten, die durch die Existenz der Wechsel-
Chancen und Risiken, Speyer 1995, S. 19; D. Dohse/ Ch. Krieger-Boden!R. Soltwede/, Die EWU - Beschäftigungsmotor oder Beschäftigungsrisiko?, ZfW, 47. Jg (1998), S. I 09 ff. (S. 115 f. ); zur rechtlichen Sichtweise der Europäischen Union als Sozialunion v.a. J. C. K. Ring/er, Die Europäische Sozialunion, 1997. 744 Vgl. so auch M. Wil/ms, Währung, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. I, 7., Uberarb. u. erw. Aufl., 1999, S. 237 ff. (S. 277). 745 Vgl. D. Dohse/Ch. Krieger-Boden, Währungsunion und Arbeitsmarkt. Auftakt zu unabdingbaren Reformen, Institut für Weltwirtschaft, Kiel, 1998, S. 6 ff. 746 Vgl. H.-H. Franc/re, Europäische Währungsunion mit europäischem Finanzausgleichsystem und europäischer Sozialpolitik?, in: H.-H. Francke!E. Ketzell H.-H. Kotz (Hrsg.): Europäische Währungsunion. Von der Konzeption zur Gestaltung, 1998, 181 ff. (S. 182 f.). 747 Vgl. M. Willms, Die Währungsunion im Lichte der Theorie optimaler Währungsräume, in: H.-H. Francke!E. Ketzel!H.-H. Kotz (Hrsg.): Europäische Währungsunion. Von der Konzeption zur Gestaltung, 1998, S. 41 ff. (S. 48 f.).
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
kurse gegeben waren. 748 Die Nutzeneffekte entstehen hierbei direkt - z.B. durch den Wegfall von Umtauschkosten -,als auch, nicht zu vernachlässigen, indirekt - etwa durch ein vereinfachtes Rechnungswesen. Die Vorteile fallen in den einzelnen Mitgliedstaaten umso höher ins Gewicht, je geringer die Inlandswährung im internationalen Marktgeschehen Verwendung fmdet und in je höherem Grad sich die Handelsbeziehungen auf ein Land mit volatiler Währung konzentrieren - mit Blick auf die Notwendigkeit von Kurssicherungsgeschäften. Der Wegfall von Kursrisiko und Kurssicherungskosten wird annähernd kompensiert durch den gleichzeitigen Wegfall von Kurschancen. Im übrigen weist das Kursrisiko deutlich geringere Bedeutung fiir das laufende Geschäft auf als vielmehr fiir langfristige Investitions- und Absatzüberlegungen.749 Unabhängig von solchen greifbaren Vorteilen entwickelt der Währungsunions-Fürsprecher Bofinger eher eine Negativ-Argumentation und fUhrt Europas Standortprobleme zu einem weiten Teil aufbisherige permanente Wechselkursschwankungen zurück. 75° Collignon betont diesen Aspekt zusätzlich durch Hinweis auf den hohen internen Offenheitsgrad der europäischen Volkswirtschaften. 751 Die Währungsunion sei im Grund nur das notwendige Komplement zum existierenden Binnenmarkt. 752 Hinzu käme die wesentliche Überlegung, daß aufgrund der ausgedehnten Kapitalverkehrsfreiheit nationale Geld-
748 Dazu etwa M Willms, Währung, in: D. Bender u.a. (Hrsg.): Vahlens Kompendium, Bd. I, 7., überarb. Aufl., 1999, S. 237 ff. (S. 277 ff.); über die Höhe der möglichen Kosteneinsparungen liegen durchaus unterschiedliche Bewertungen vor; während die Europäische Kommission im Jahr 1990 von 0,25 % des Bruttoinlandsprodukts ausging, prognostizierte das deutsche lfo-lnstitut eine Einsparung von ca. I %des BruttoinIandsprodukts; vgl. D. Dohse/Ch. Krieger-Boden, Währungsunion und Arbeitsmarkt. Auftakt zu unabdingbaren Reformen, Institut für Weltwirtschaft, Kiel, 1998, S. 6; auch H. Hanusch, Die Europäische Währungsunion. Politische Visionen und wirtschaftliche Realität, 1996; w.N. bei W-H. Roth, Der rechtliche Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion, EuR-Beiheft 1/94, S. 45 tf. (S. 45, Fn. 4, 5). 749 V gl. J. Genosko, Wirtschaftspolitische Aspekte der Wirtschafts- und Währungsunion, in: L. Schuster (Hrsg.): Die Unternehmung im internationalen Wettbewerb, 1994, S. 1 ff. (S. 5). 750 Vgl. P. Bofinger, Die Begründung der Europäischen Währungsunion aus ökonomischer Sicht: eine ordnungspolitische Analyse, in: Th. Waigel (Hrsg.): Unsere Zukunft heißt Europa: Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 30 ff., insb. S. 37 ff. 751
Vgl. S. Collignon, Der Euro als Ausweg aus der Krise, WSI-Mitteilungen 1997,
s. 310 ff.
752 Vgl. a.A. bei P. J. J. Welfens, Europäische Union: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, in: Hagen, J. v. u.a. (Hrsg.): Springers Handbuch der Volkswirtschaftslehre, 1997, S. 281 ff., insb. 302 ff.; M. Feldstein, The case against European Monetary Union [EMU], in: The Economist vom 13. 6. 1992, S. 19 fT.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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politik faktisch unterlaufen würde und eine einheitliche Geldpolitik erforderlich mache. 753 Hinsichtlich der Frage der Teilnehmerländer und damit der "Größe" der Währungsunion waren neben den Konvergenzerwägungen ebenfalls noch weitere Aspekte in Betracht zu ziehen. Zum ersten schien es fraglich, ob Länder, die zunächst nicht teilnehmen, aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung später noch zur Beitrittsqualifikation fiihig sein werden. 754 Zum zweiten wäre das Kosteneinsparungspotential bei einer kleinen Währungsunion aus Kernländern eher gering, da sich diese ja ohnehin in gleichbleibenden Verhältnissen, quasi de-facto-Währungsunionen, befanden. 755 hh)Fragwürdige Abbildungsmöglichkeit der entscheidungsrelevanten Aspekte über Kriterien
Angesichts dieser facettenreichen Vielschichtigkeit ökonomischer Positionen zur Europäischen Währungsunion, die zudem die Grenzen volkswirtschaftlicher Erkenntis heutigen Stands aufzeigt, muß in Zweifel gezogen werden, ob eine rechtliche Fixierung von Kriterien fiir das Entscheidungsprozedere hin zur
753 Vgl. so P. Bofinger, Der Euro vor der Einfiihrung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 47/97, S. II ff. (S. 16 f.); dagegen wird gehalten, daß eine einheitliche Geldpolitik schwieriges Feld betritt, da der in den Mitgliedstaaten vorzufindende geldpolitische Boden durch vormals unterschiedlich orientierte Geldpolitiken nicht einheitlich ist; so z.B. R. Ohr. Eine Alternative zum Maastricht-Fahrplan, WO, 76. Jg. (1996), S. 24 ff. (S. 26); U. Dennig, Geldpolitik im Übergang zur EWU, WO, 77. Jg. (1997) S. 538 ff. (S. 542 f.) m.V.a. E. Brittonl J. Whitley, Comparing the monetary transmission mechanism in France, Germany and the United Kingdom: some issues and results, in: Bank of England Quarterly Bulletin, Vol. 37, 1997, Nr. 2, S. 152 ff. 754 Vgl. H.-W Seiler, EWU: Sind die Konvergenzkriterien wirklich ernstzunehmen?, WO, 76. Jg. ( 1996), S. 587 ff. (S. 589), der zu bedenken gibt, daß flir Staaten, die an der Währungsunion zunächst nicht teilnehmen können, der zukünftige Beitritt umso schwieriger wird, da bei ihnen ein Zinsanstieg zu erwarten ist, der das Defizit erhöht und die Konjunktur hemmt. 755 Vgl. R. Ohr, Eine Alternative zum Maastricht-Fahrplan, WO, 76. Jg. (1996), S. 24 ff. (S. 29); generell kritisch zum "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" und einer kleinen Währungsunion U. Häde, Währungsintegration mit abgestufter Gschwindigkeit, in: FS H. J. Hahn, 1997, S. 141 ff. (S. 148); H. J. Hahn!U. Häde, Europa im Wartestand: Bemerkungen zur Währungsunion, in: FS U. Everling, 1995, S. 381 ff. (S. 393); R. Dahrendorf. "Drinnen" und "draußen", Finanz und Wirtschaft vom 24. I. 1996, abgedruckt in: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln Nr. 6 vom 31. l. 1996, S. 23 f.; J. Pfister, Ist das Europäische Währungssystem am Ende?, in: Europaarchiv 1993, S. 71 I ff. (S. 716).
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
Währungsunion überhaupt sinnvoll war. Entweder hätte der Vertrag auf die Nennung solcher Kriterien verzichten oder ihren Katalog breiter fllchem sollen. Auch wenn die Kriterien nicht mit einem Automatismus verbunden sind, so erweckten sie nach außen in der öffentlichen Diskussion den Eindruck, die Entscheidung, die letztlich doch ausschließlich politisch war, wesentlich geprägt zu haben. Etwas anders zeigt sich die Situation ftir die Konvergenzkriterien im Hinblick auf den Beitritt weiterer Länder zur dann schon existierenden Wirtschaftsund Währungsunion; denn die bestehende Einheit in der Währungsunion läßt tatsächliche Vergleichswerte benennen - nicht mehr viele tun sich zu einem Gesamten zusammen, sondern einzelne stoßen zum einheitlieberen Gesamten, das bereits Gemeinsames entwickelt hat. Die Beurteilung eines Beitrittskandidaten nach Kriterien scheint damit eher möglich und auch sinnvoll, sofern diese Kriterien dem Gemeinsamen tatsächlich eigen sind.
d) Verbindlichkeit der Konvergenzkriterien
aa) " Verbindlichkeit" und Vertragsrolle Unter dem Stichwort "Verbindlichkeit"756 wurde letztlich vor allem die Wirksamkeitschance der Konvergenzkriterien im Entscheidungsprozeß zur Währungsunion diskutiert - obwohl die Verbindlichkeit als rechtliche Geltung mit dem Bestimmungsgrad der Kriterien selbst doch nicht zu verwechseln und darüber hinaus auch von der faktischen Tragweite ihrer Rolle im Entscheidungssprozedere, eben von ihrer Wirksamkeit, zu trennen ist; denn auch durch einen relativ hohen Offenheitsgrad wird normative Verbindlichkeit nicht relativiert. Wirksamkeit - und damit so mißverstandene Verbindlichkeit - entfalteten bzw. entfalten die Konvergenzkriterien zumindest, aber ebenso lediglich, als argumentative Grundlage in den Verfahren des Art. 121 EGV ftir den Beginn der Währungsunion sowie Art. 122 Abs. 2 EGV ftir den späteren Beitritt757•758
756 Vgl. dazu allen voran A. Emmerich-Fritsche. Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien?, EWS 1996, S. 77 ff.; dazu ebenso W. Hanke/l W. Nölling!K. A. Schachtschneider!J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 214 ff., 262 ff. 757 Wobei der Text des Art. 122 Abs. 2 EGV scheinbar stärkeren Bezug auf die Konvergenzkriterien vermuten läßt ("auf den Kriterien des Artikels 121 Absatz I beruhenden Voraussetzungen").
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
257
Sie sind, wie oben dargestellt, zu differenzieren von den entscheidenden "notwendigen Voraussetzungen" und stellen lediglich einen Teil, wenn auch wesentlichen Teil von diesen dar. Bei ihnen handelt es sich gerade nicht um ,,klar formulierte Prüfsteine" im Sinne der Bundesregierung,759 sondern vielmehr um in hohem Maß offene Rechtssätze. Der hohe Offenheitsgrad in ihrer materialen Bestimmung resultiert aus den dargestellten Formulierungs- und Gestaltungsunklarheiten der Kriterien an sich wie auch ihrer Ausnahmetatbestände auf der einen Seite, noch dazu verbunden mit der lediglich grundlegenden und keinen Automatismus auslösenden Rolle in den relevanten Entscheidungsverfahren auf der anderen Seite. Die Kriterien wurden insofern eher als "Zielgrößen"760 eingestuft oder als - wie Scholz formuliert - "gewissermaßen ein Bemühungsparagraph"761.762 Ein Automatismus, dadurch textlich vorbestimmte hohe Wirksamkeit (und, wenn man denn so will, ein so verstandenerhoher Verbindlichkeitsgrad) wäre im Hinblick auf die fundamental gestützte Kritik an der Auswahl der Kriterien und deren beschränkte Aussagefähigkeit auch nicht rechtens gewesen; insbesondere hätte er - gerade im Hinblick auf die relative und nicht absolute Niveaufestlegung des Preiskriteriums- dem sozialen Stabilitätsprinzip widersprochen. Ferner wäre in diesem Fall ein hohes Maß an Entscheidungsbeeinflussungsmöglichkeit an die statistischen Ämter, denen es an demokratischer Legitimation vollends mangelt, übergegangen. 763 Trotz aller Offenheit und dem richtigen Verzicht auf eine automatismusgleiche Lösung bleibt die Rolle der Konvergenzkriterien als verbindliche Rechtssätze, welche auch das Bundesverfassungsgericht gestärkt hat. Im MaastrichtUrteil sprach es:
758 Vgl. ähnlich vorsichtig H. J. Hahn!U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 459, m.v.N. zu vertretener Verbindlichkeit in Fn. 275, zu vertretener Unverbindlichkeit in Fn. 276. 759
Bulletin Nr. 103 vom 26. 9. 1992, S. 968.
K. Stern, Die Konvergenzkriterien des Vertrags von Maastricht und ihre Umsetzung in der bundesstaatliehen Finanzverfassung, in: FS U. Everling, 1995, S. 1469 ff. (S. 1475); siMgemäß auch R. Ohr, Eine Alternative zum MaastrichtFahrp1an, WD, 76. Jg. (1996), S. 24 ff. (S. 25). 760
761 R. Scholz, "Diese Verfassungsbeschwerde wird keinen Erfolg haben.", in: FAZ vom 9./10. I. 1998, S. 7. 762 R. Jochimsen, Perspektiven der europäischen Wirtschafts- und Währungunion, 2. völlig überarb. Aufl., 1998, S. 159, hierzu sehr kritisch: "Per saldoergibt sich ganz klar: Sowohl die vertragliche Abfassung der Finanzkriterien als auch des Entscheidungsprozesses für den Übergang zur Endstufe liefern genügend Munition filr eine opportunistische Gestaltung der Auswahl der Länder." 763 Vgl. M. Se/mayr, Die Europäische Währungsunion zwischen Politik und Recht, EuZW 1998, S. 101 ff. (S. 101).
17 Hänsch
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
"Die Erfilllung dieser Konvergenzkriterien ist Vorbedingung für den Eintritt eines Mitgliedstaates in die dritte Stufe der Währungsunion."764
Die Verbindlichkeit der Kriterien bestätigte das Gericht abermals im EuroBeschluß, in dem es die Kriterien als "rechtsverbindliche Entscheidungsgrundlage" und als "Rechtsmaßstab" bezeichnete. 765 Der Hinweis auf die aus der Offenheit resultierenden "Einschätzungs-, Bewertungs- und Prognosespielräume" ändert nichts an der bestehenden Rechtspflicht zur Beachtung der Kriterien im Sinne des Vertrages, die diesen Spielräumen wiederum notwendig gewisse (offensichtliche) Grenzen setzt. Die bindenden Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts766 sind natürlich zu unterscheiden von politischen Stellungnahmen. Wenn etwa seitens der Bundesregierung sowie des Bundesrats Vorbehalte bezüglich der Teilnahme an der Währungsunion in Abhängigkeit der strikten Auslegung der Kriterien erklärt wurden 767 oder sich der Ministerpräsident des Vereinigten Königreichs ohne "strikte Einhaltung" der Kriterien fiir eine Verschiebung der Währungsunion aussprach 768, so verdeutlichte dies nur die von manchen Teilen der Realpolitik in der vorliegenden Vertragsgestaltung erkannten Risiken. Stellungnahmen dieser Art konnten aber weder die Wirksamkeitschance der Kriterien erhöhen, noch ihre ohnehin gegebene Verbindlichkeit stärken.
764
BVerfGE 89, 155 (200).
765
BVerfGE 97, 350 (373).
§ 31 BVerfGG: "Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden."; insofern gehört zur Betrachtung der Verbindlichkeit der Konvergenzkriterien die Einbeziehung dieser für Deutschland wesentlichen Sätze. 766
767 BTDrs. 12/3906 v. 2. 12. 1992; übereinstimmend BRDrs. 810/92 v. 18. 12. 1992; dazu S. Hölscheidtffh. Schotten, Zur Rolle des Deutschen Bundestags beim Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion, ZRP 1997, S. 479 ff.; M. Selmayr, Die Europäische Währungsunion zwischen Politik und Recht, EuZW 1998, S. 101 ff. (S. 106); W. Hanke/l W. Nölling/K. A. SchachtschneideriJ. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 236 ff., insb. aber K. A. Schachtschneider, Hauptkapitel E., "Bundestag und Bundesrat in der Stabilitätsverantwortung", S. 325 ff., der beim BVerfG eingereichten Originalschrift; M. Seidel, Rechtliche und politische Probleme beim Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: H.-H. Francke/E. Ketzei/H.-H. Kotz (Hrsg.): Europäische Währungsunion. Von der Konzeption zur Gestaltung, 1998, S. 163 ff. (S. 171 f.); A. Emmerich-Fritsche, Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien?, EWS 1996, S. 77 ff. (S. 84 f.). 768 Vgl. Text und Nachweis bei W. Hanke/l W. NöllingiK. A. Schachtschneiderl J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 69, Fn. 80.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
259
bb) Verbindlichkeit und die Terminbestimmung des Art. 121 Abs. 4 EGV
Wurde häufig aus der Offenheit der Kriterien fillschlicherweise auf ihre mangelnde oder fehlende Verbindlichkeit geschlossen, richtete sich das Argument der Terminbestimmung in Art. 121 Abs. 4 (109j Abs. 4 a.F.) EGV tatsächlich gegen die Verbindlichkeit der Kriterien. Nach weit verbreiteter Meinung bedeutete diese Terminregelung verbindlich einen automatischen Übergang zur Währungsunion zum 1. 1. 1999, zu dem die Erftlllung der Konvergenzkriterien im Nachrang stehen würden; 769 denn zwischen der Festschreibung von Kriterien, deren Erfilllung oder Verfehlung direkt entscheidungsrelevant sein sollen, und der Bestimmung eines festen Termins mit Automatismuscharakter besteht ein unausweichlicher Widerspruch - ein Widerspruch, der allerdings erst kurz vor Verhandlungsende in das Vertragswerk Einzug hielt770 und überhaupt erst die spätere Verschiebungsdiskussion 771 auslöste. Zuvor
769 Vgl. hierzu nur die Nachweise bei A. Emmerich-Fritsche, Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien?, EWS 1996, S. 77 ff. (S. 82, Fn. 61 ); gerade in der damaligen Literatur tauchte kein Zweifel an der Verbindlichkeit des Termins auf; ausführlich zur Termindiskussion H. Kortz, Der Termin des 1. Januar 1999 - Zielvorgabe oder Automatismus für den Beginn der Endstufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, EuR 1996, S. 80 ff. ; ders., Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 177 ff.; S. Collignon, Handbuch zur europäischen Währungsunion, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, 1996, S. 162 f.; konträre Auffassung bei W. Hanke/l W. NöllingiK. A. SchachtschneideriJ Starbatty, Die EuroKlage, 1998, S. 262 ff. 770 Gleichzeitig wurde die Ausstiegsklausel gestrichen; vgl. B. Wahlig, Rechtliche Fragen zur Errichtung einer Europäischen Währungsunion, in: L. Gramlich/A. Weber/ F. Zehetner (Hrsg.): Auf dem Weg zur Europäischen Währungsunion, 1992, S. 37 ff. (S. 43); R. Corbett, The Treaty of Maastricht, 1993, S. 42 f.; J Pipkorn, Der rechtliche Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion. Vorkehrungen für die Währungspolitik, EuR-Beiheft 1/94, S. 85 ff. (S. 91); H.-P. Fröhlich, Geldwertstabilität in der Europäischen Währungsunion - eine Analyse des Vertrags von Maastricht, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, 6/1992, S. 24 ff. (S. 31 ); ausführlich H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 178.; W. Hanke/l W. Nöllingl K. A. SchachtschneideriJ Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 263 f.
771 Vgl. zur Diskussion um die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer Verschiebung des Währungsunionsstarts B. Neuss, Verschiebung des Euro- keine sinnvolle Alternative!, WO, 77. Jg. (1997), S. 450 ff.; W. Hanke/l W. NöllingiK. A. Schachtschneiderl J Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 178 ff.; Jahresgutachten des Sachverständigenrats 1997/98, S. 231 , Ziffer 406; M. Sturm, Die Verschiebung des Euro - das kleinere Übel, WO, 77. Jg. (1997), S. 447 ff. ; H. Schmidt, Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, in: DIE ZEIT vom 13. 6. 1997, S. 1; B. Hirsch, Automatisch in die Währungsunion?, in: H.-U. Jörges (Hrsg.): Der Kampf um den Euro. Wie riskant ist die Währungsunion?, 1998, S. 161 ff.; H. Matthes, Die Europäische Währungsunion- eine Politik ohne Alternative, WO 76. Jg. (1996), S. 582 ff.; S. Collignon, Handbuch zur europäischen Wäh17•
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
äußerten sich die Deutsche Bundesbank772, der Delors-Ausschuß773 sowie die Regierungskonferenz, die den Maastricht-Vertrag ausarbeitete, 774 noch entschieden gegen jede, außerdem fUr Gemeinschaftsprojekte bisher nicht übliche775, Terminautomatismussetzung. Das Bundesverfassungsgericht, das ja die Einhaltung der Konvergenzkriterien als unbedingte Voraussetzung eines Eintritts in die Währungsunion interpretierte/76 verfolgte seine Linie weiter und deutete dementsprechend konsequent das vorgesehene Datum "eher als Zielvorgabe denn als rechtlich durchsetzbares Datum". 777 Allerdings kann der vom Gericht zur Begründung gezogene Vergleich zum früheren- unverbindlichen- Art. 8a EWGV mit der Terminbestimmung fUr den Binnenmarkt aus verschiedenen einsichtigen Gründen nicht überzeugen. 778 Die Formulierung des Art. 121 Abs. 4 (l09j Abs. 4 a.F.)
rungsunion, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, 1996, S. 163 ff.; mit klarer Stellungnahme gegen eine Verschiebung (politisch motiviert und nicht rechtlich argumentierend) H. Haussmann, Stabilität und Euro. Die Konvergenzkriterien als Garantie für einen stabilen Euro, DSWR 1997, S. 178 ff. (insb. S. 180). 772 "Die Erftlllung der Eintrittskriterien bzw. der Konvergenzbedingungen darf nicht durch die Terminvorgaben eingeschränkt werden.", Deutsche Bundesbank. Die Beschlüsse von Maastricht zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Februar 1992, S. 45 ff. (S. 54); auch Geschäftsbericht 1992, Stellungnahme zur Wirtschafts- und Währungsunion, S. 45; schon vorher Stellungnahme der Deutschen Bundesbank zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion in Europa, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 1990, S. 41 ff. 773 "Die Bedingungen filr den Übergang von einer Phase zur anderen lassen sich im voraus nicht genau festlegen, und es ist auch heute noch nicht abzusehen, wann diese Bedingungen erfilllt sein werden. Eindeutige Termine sollten deshalb nicht gesetzt werden.", Ausschuß zur Prüfung der Wirtschafts- und Währungsunion, Delors-Bericht, 1990, Ziffer 43. 774 Vgl. H.-P. Fröhlich, Geldwertstabilität in der Europäischen Währungsunion- eine Analyse des Vertrags von Maastricht, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, 6/92, S. 24 ff. (S. 32). 775 Vgl. z.B. H. Kortz, Der Termin des I. Januar 1999 - Zielvorgabe oder Automatismus filr den Beginn der Endstufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, EuR 1996, S. 80 ff. (S. 81). 776
Oben, Fn. 764.
BVerfGE 89, 155 (201) unter Hinweis auf den Generaldirektor der Kommission Dewost; der EuGH hatte sich mangels Gelegenheit zur Terminfrage - wie generell zur Währungsunion- nicht geäußert. 777
778 AusfUhrliehe Kritik an diesem Vergleich bei H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 181 ff.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
261
Satz 1 EGV erscheint zunächst sehr k1ar. 779 Im übrigen sind dem Vertrag keine Regelungen ftlr den Fall zu entnehmen, daß die Währungsunion nicht zum 1. 1. 1999 beginnen sollte.780 Des weiteren bestätigt auch das 10. Protokoll über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion in Absatz 3 -"unwiderruflicher Eintritt am 1. 1. 1999" -den Termin. Daneben bedarf es aber der unbedingten Beachtung, daß auch Art. 121 Abs. 4 EGV hinsichtlich der Teilnahme eines Mitgliedstaates zu diesem Termin in Satz 2 auf die "notwendigen Voraussetzungen" und damit wesentlich auf die Erftlllung der Kriterien abstellt. Insofern läßt sich ihre Verbindlichkeit durch die Terminbestimmung logisch nicht absprechen. Eine Verbindlichkeit des Termins, die damit notwendig die der Konvergenzkriterien ausschließe, würde zudem die gesamte, nach Stabilität jedenfalls strebende Ausrichtung des Gemeinschaftsvertrags konterkarieren. cc) Verbindlichkeit und der Anderungsvorbehalt des Art. 6 des 6. Protokolls zum Maastricht-Vertrag
Im Zusammenhang mit der Verbindlichkeitsfrage wird zumeist noch auf Artikel 6 im 6. Protokoll über die Konvergenzkriterien781 eingegangen. Die Regelung sieht vor, daß der Rat "einstimmig geeignete Vorschriften zur Festlegung der Einzelheiten der in Artikel 109j dieses Vertrags genannten Konvergenzkriterien, die dann an die Stelle dieses Protokolls treten", erläßt. Der Rat kann demnach einstimmig die nähere Materialisierung im Protokoll, nicht aber die im Vertrag fixierten Konvergenzkriterien als solche ändern. Unter die Einzelheiten im Sinne dieses Artikels dürften im übrigen nicht die Referenzwerte ftlr die beiden Haushaltsteilkriterien fallen, die ja im S. Protokoll bestimmt sind.782 Außerdem würde eine solche materielle Änderung der Kriterien nichts an deren Verbindlichkeit ändern, allenfalls wäre ihre Wirksamkeitschance berührt. 779 "Ist bis Ende 1997 der Zeitpunkt filr den Beginn der dritten Stufe nicht festgelegt worden, so beginnt die dritte Stufe arn I. Januar 1999."; dazu R. Bandi/la, Art. 109j EGV, in: GrabitzJHilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 2, 4. 780 V gl. H. Kortz, Der Tennin des 1. Januar 1999 - Zielvorgabe oder Automatismus filr den Beginn der Endstufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, EuR 1996, S. 80 ff. (S. 88). 781 Vgl. dazu BVerfGE 89, 155 (203); auch H. Kortz, Die Entscheidung Ober den Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 205 ff. 782 Eine Änderung der Referenzwerte käme also nur über eine Änderung des Art. 2 des 6. Protokolls in Betracht, der dann nicht mehr auf einen Beschluß des Rates nach Art. I 04 Abs. 6 EGV verweisen dürfte, da dieser wiederum Bezug auf das 5. Protokoll nimmt.
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e) Konvergenzstand zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Beginn der Währungsunion im Jahr 1998- die Beurteilung der Kriterien In Anbetracht der vorhergehenden Ausführungen einerseits sowie der ausgeprägten politischen Interessen am Start der Währungsunion andererseits war es keine Überraschung, daß die Prüfung der Kriterien letztlich keine allzu harten Maßstäbe - sie wären ohne Schwierigkeiten mit den Vertragsinhalten zu begründen gewesen - anlegte. Während der Konvergenzbericht der Kommission783 sehr großzügig den Beginn der Währungsunion propagierte, waren den Ausführungen des Europäischen Währungsinstituts784 und vor allem der inhaltlich tiefergehenden Stellungnahme der Deutschen Bundesbank785 doch recht kritische Anmerkungen zu vernehmen. Der Rat in Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs gelangte nach Art. 121 Abs. 4 EGV (Art. 109j Abs. 4 EGV a.F.) schließlich zu der Entscheidung, daß elf Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen erfüllen und mit ihnen die Währungsunion zum vertraglich vorgesehenen Termin 1. 1. 1999 beginnen wird. 786 Prima vista am wenigsten kritisch waren sicherlich das Inflations- sowie das Zinskriterium zu sehen. So hat sich die durchschnittliche Inflation innerhalb der Europäischen Union von 5,3 % im Jahr 1991 auf 2,5 % im Jahr 1996 mehr als halbiert, die Inflationsraten der einzelnen Länder lagen im Prüfungszeitraum so tief und eng beieinander wie niemals zuvor. Von den potentiellen Teilnehmern lag nur Griechenland über dem Referenzwert von 2,7 %, alle anderen sogar unter der Marke von 2,0 %. 787 Hinter dieser zweifelsfrei positiven Entwicklung steht allerdings ein weltweiter lnflationsrückgang, so daß die Reduktionsbewegung nicht spezifisch europäisch, schon gar nicht zwingendes Anzeichen für steigende Konvergenz in einem positiven Umfeld war. Darüber hinaus sank die Inflationsrate aufgrund der allgemeinen Rezessionsentwicklung; insgesamt ging in dieser Zeit die Gesamtnachfrage beträchtlich zurück, die Arbeitslosigkeit in Europa stieg von 14 Mio. auf 19 Mio. im gleichen Zeitraum an, preis-
783 Europäische Kommission, Euro 1999- 25. 3. 1998- Bericht über den Konvergenzstand, abgedr. in BTDrs. 13/10250 und in BRDrs. 300/98; auch abgedr. in Europäische Kommission, Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen, Europäische Wirtschaft, Nr. 65 (1998), S. 25 ff. 784
Europäisches Währungsinstitut, Konvergenzbericht, März 1998.
Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. 785
786
Entscheidung des Rates vom 3. 5. 1998, ABI. EG 1998 L 139/30.
787
Vgl. Europäisches Währungsinstitut, Konvergenzbericht, März 1998, S. 99 f.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
263
treibende Faktoren konnten in dieser Lage kaum aufkommen. Ferner ist nicht außer acht zu lassen, daß im Hinblick auf das zeitpunktbezogene Inflationskriterium die Preisstabilitätsbemühungen im noch vorherrschenden Währungswettbewerb sicherlich im wahrsten Sinne des Wortes außerordentlich waren und durchaus die Frage erlauben, inwieweit diese Bemühungen dauerhaft in den einzelnen Staaten Unterstützung fmden, ist die gemeinsame Währung erst einmal eingefilhrt und läuft die verantwortliche Geldpolitik nicht mehr in Eigenregie. 788 Das Kriterium wurde von allen Mitgliedstaaten mit Ausnahme Griechenlands formal erfilllt und bereitete insofern bei manch politisch geleiteter Prüfung keine großen Anstrengungen; es erlaubt jedoch eine Menge kritischer Fragen, was durchaus nicht überall so gesehen wurde. 789 Analog dazu glichen sich in den letzten Jahren vor Beginn der Währungsunion die langfristigen Nominalzinssätze innerhalb der Europäischen Union zunehmend an. Das diesbezügliche vierte Konvergenzkriterium erreichten bis auf Griechenland alle Mitgliedstaaten. Das ist aber auch erklärbar: Zum einen verzichteten die Märkte in Absehung einer "großen" Währungsunion auf die Währungsrisikoprämie bei früheren "Weichwährungsländern". Zum anderen ist zu sehen, daß sich die Zinsen zwar nominell anglichen, nach wie vor aber über entsprechende Wertpapierkurse bemerkenswerte Unterschiede in den Renditen verbleiben. 790
788 Vgl. dazu W Hanke/l W NöllingiK. A. Schachtschneider!J. Starbatty, Die EuroKlage, 1998, S. 96 ff. ; H. Haussmann, Stabilität und Euro. Die Konvergenzkriterien als Garantie ftlr einen stabilen Euro, DSWR 1997, S. 178 ff. (S. 180), weist allerdings zu Recht darauf hin, daß den Mitgliedstaaten durch den Vertrag nur geringere Möglichkeiten verbleiben, "um nach Eintritt in die WWU wieder in den alten Schlendrian zu verfallen." 789 So aber S. Magiera, Einftlhrung und rechtliche Absicherung der einheitlichen europäischen Währung, in: R. Caesar!H.-E. Scharrer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschaftsund Währungsunion. Regionale und globale Herausforderungen, 1998, S. 419 ff. (S. 425), ungewollt fast zynisch: "Insgesamt läßt die Entscheidung des Rates vom Mai 1998 erwarten, daß die Konvergenzkriterien auch bei zukünftigen Entscheidungen über die Teilnahme weiterer Mitgliedschatten strikt und stabilitätsorientiert angewendet werden." 790 Vgl. W Hanke/lW NöllingiK. A. SchachtschneideriJ. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. I 02 f.; auch Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 27 f.).
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
Deutlich kritischer war und ist die Einhaltung der beiden Fiskalteilkriterien zu beurteilen. 791 Noch im Konvergenzbericht 1996 bestand ftir zwölf Mitgliedstaaten die Feststellung eines übermäßigen Defizits. 792 Das Defizitkriterium stand bei der Prüfung der Haushaltskriterien ohne formalen Anlaß und unverständlicher Weise immer im Vordergrund gegenüber dem Verschuldungskriterium, obwohl gerade letzteres große Schwierigkeiten bereitete und das Baushaltsdefizit in hohem Maß von der Verschuldungsquote abhängt. Für das Berichtsjahr wurde überraschend ftir 14 Mitgliedstaaten hinsichtlich des Baushaltsergebnisses die Einhaltung des Referenzwerts von 3 % konstatiert; die Feststellungen blieben jedoch nicht ohne harsche Kritik. 793 Der durchschnittliche Schuldenstand innerhalb der Europäischen Union stieg - ftir die damaligen Vertragsgestalter sicherlich unabsehbar - von 1991 bis 1997 von rund 56% auf ca. 74 %, nur vier Staaten blieben innerhalb der vom Vertrag vorgesehenen 60 %-Quote, d.h. ftir sieben der elf Teilnehmerstaaten wurde die Ausnahmeregelung herangezogen. 794 Die Euro-Klage teilt diesbezüglich die Mitgliedstaaten in drei Klassen ein, wobei nur die Teilnahme einer dieser Gruppen, zu der lediglich vier Staaten zu zählen sind, im Hinblick auf das Haushaltskriterium inkl. seiner Ausnahmeregelung als zulässig erachtet wird. 795
791 Äußerst umfassend und kritisch dazu W Hanke/l W NöllingiK. A. SchachtschneideriJ. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 70 ff., insb. auch S. 229 ff.; U. Häde, Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidungen über die Europäische Währungsunion, JZ 1998, S. 1088 ff. (S. 1089 ff.). 792
Konvergenzbericht der Europäischen Kommission 1996, S. 38.
Drei Mitgliedstaaten erzielten einen Überschuß (Dänemark, Irland, Luxemburg), elf hielten ihr Defizit unter oder bei 3 % (Vereinigtes Königreich, Deutschland, Frankreich, Österreich, Finnland, Schweden, Italien, Belgien, Niederlande, Spanien, Portugal; davon sechs zumeist erstmalig zwischen 2,5 %und 3 %), Griechenland konnte mit über 4 % Defizit den Referenzwert nicht erreichen; Frankreich und Italien konnten ihr Defizit jedoch nur aufgrund temporär begrenzt wirkender Maßnahmen einhalten; vgl. Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrats zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 31 f.). 793
794 Tatsächlich rUckläufig war die Schuldenstandsquote nur in Irland und den Niederlanden; innerhalb der 60 %-Quote blieben das Vereinigte Königreich, Finnland, Frankreich und Luxemburg; Deutschland lag knapp über dem Referenzwert und verzeichnete jedoch einen steigenden Schuldenstand; Belgien und Italien bildeten mit einer Quote über 120% (!)die Negativspitze. 795 Vgl. W. Hanke/l W. NöllingiK. A. SchachtschneideriJ. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 81: I) Länder, deren Schuldenquote noch weit über 60 % liegt (Belgien, Griechenland, Italien, Schweden), 2) Länder, deren Schuldenquote noch über 60 % liegt, die aber rUckläufig ist und stark gegen 60% tendiert (Dänemark, Irland, Niederlande, Portugal); 3) Länder, deren Schuldenquoten seit dem Maastricht-Vertrag steigen und zwischenzeitlich teils über die 60 %-Marke geraten sind (Deutschland, Frankreich, Spanien,
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Hinzu kommt der Umstand, daß in einigen Staaten haushaltspolitische Maßnahmen ergriffen wurden, die ganz offensichtlich primär die zeitpunktbezogene positivere Darstellung der Haushaltslage zum Zweck hatten, die temporär aber eben begrenzt und in aller Regel nicht nachhaltig ist (sogenanntes "windowdressing"). 796 In der Stellungnahme der Deutschen Bundesbank heißt es dazu deshalb sehr zurückhaltend - insbesondere zur Einbeziehung Italiens und Belgiens in den Teilnehmerkreis, filr die "ernsthafte Besorgnisse" anzumelden wären-, der Beginn mit elf Staaten sei "stabilitätspolitisch vertretbar''.797 Häde gelangt deshalb zur Vermutung und zum Schluß: "Hinter dieser Formulierung verbirgt sich wohl die Hoffnung, daß die Stabilität der Euro-Währung durch die Teilnahme von Belgien und Italien nicht allzu sehr leiden wird.... Ihre Zulassung zur dritten Stufe läßt sich nur als politische motiviert verstehen und verstößt deshalb gegen Gemeinschaftsrecht."798
Österreich, Finnland, Vereinigtes Königreich); auf die letzte Gruppe wies auch die Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrats zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 32), hin. 796 Vgl. dazu die von K.-P. Heim beim Bundesverfassungsgericht vorgelegte Verfassungsbeschwerde (2 BvR 786/97); R. Jochimsen, Perspektiven der europäischen Wirtschafts- und Währungunion, 2., völlig überarb. Aufl., 1998, S. 139 ff., der windowdressing als "viel perfideren Trick" anstelle des Aufweichens der Kriterien bezeichnet; ferner Jahresgutachten 1997/98 des Sachverständigenrats, S. 228, Ziffer 403 f.; W Hanke/l W Nölling/K. A. Schachtschneider/J Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 79 f., gesammelte Beispiele ftlr "kreative Buchftlhrung" dort S. 76 f.; das Europäische Währungsinstitut hat im Konvergenzbericht die rein temporären Effekte in % des Bruttoinlandsprodukts quantifiziert und ftlr die einzelnen Mitgliedstaaten festgehalten; sowohl für Frankreich als auch für Italien waren die ergriffenen Maßnahmen demzufolge eindeutig ausschlaggebend, daß der Defizitreferenzwert überhaupt erreicht werden konnte; dazu Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrats zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 32). 797 Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 38 f.); die Bundesbank konstatierte insgesamt nur für fiinf Mitgliedstaaten (Dänemark, Finnland, Irland, Luxemburg, Vereinigtes Königreich) eine tragfliliige und vertragsgemäße Haushaltslage (dort S. 36 ff.), in allen anderen Staaten bedürfe es in den nächsten Jahren weiterer positiver Entwicklungen. 798 U. Häde, Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidungen über die Europäische Währungsunion, JZ 1998, S. 1088 ff. (S. 1091); S. 1089 ff. sehr kritisch zur beschlossenen Teilnahme Belgiens und Italiens; der ECOFIN-Rat hob die Entscheidung über ein vor-
266
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
Für das Wechselkurskriterium wurde oben dargelegt, daß es vor allem auf die Einhaltung der alten nonnalen Bandbreiten von+/- 2,25% und die dazugehörige Teilnahme am Europäischen Währungssystem ankam. Unabhängig davon, daß die Haltung, das Europäische Währungssystem sei 1992/93 mit der marktlieh erzwungenen Bandbreitenerweiterung praktisch gescheitert und von da an nicht mehr existent gewesen799, durchaus vertretbar ist, bleibt zum einen die Tatsache, daß diese alten Bandbreiten im wesentlichen faktisch eingehalten werden konnten800 - auch dies hing aber mit der Vorwegnahme der großen Währungsunion auf den Märkten zusammen -, allerdings auch zum anderen die Tatsache, daß ftlr Finnland801 und vor allem ltalien802 die Einhaltung des Teilaspekts der zweijährigen Teilnahme zum Prüfungszeitpunkt im Frühjahr 1998 defmitiv nicht möglich war. 803 Andererseits wurde aber wie beschrieben im
liegendes übennäßiges Defizit in Belgien und Italien vom 26. 9. 1994 nach Art. 104c Abs. 6 EGV a.F. am l. 5. 1998 auf(ABI. EG 1998 L 139/9 und 139/15); der Rat der Staats- und Regierungschefs hat dies kritiklos übernommen, obwohl er zu einer eigenständigen Prüfung verpflichtet gewesen wäre; vor allem Belgien und Italien konnten ihr Defizit nur deshalb reduzieren, weil dort "defizitsenkende Maßnahmen mit zeitlich begrenzter Wirkung, die teilweise eine Belastung künftiger Haushalte implizieren" betrieben wurden; so Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrats zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 32). 799
So ja der erwähnte Tenor in der Euro-Klage.
Vgl. dazu Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrats zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 29, 30 ff.); G. Aschinger, Probleme auf dem Weg zum Euro, WD, 77. Jg. (1997), S. 580 ff. (S. 583). 800
801
Beitritt 14. 10. 1996.
802
Wiedereintritt 25. 11. 1996.
Vgl. Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrats zur KonvergenzJage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 30); "Italien ... kann allerdings erst im November 1998 dem Erfordernis einer zweijährigen spannungsfreien Teilnahme am Europäischen Wechselkurssystem genügen und nicht - wie im Vertrag vorgeschrieben - bereits zum Zeitpunkt der Konvergenzprüfung; ähnliches gilt fiir Finnland."; auch Jahresgutachten des Sachverständigenrats, S. 225; aufgegriffen in W Hanke/lW Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die EuroKlage, 1998, S. 105; R. Bandilla, Art. l09j EGV, in: Grabitz!Hilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 18 f.; Griechenland, Schweden und das Vereinigte Königreich hätten das Kriterium mangels Teilnahme zum Prüfungszeitpunkt ebenso nicht erfiillen können. 803
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
267
Falle Schwedens u.a. mit der Nichtteilnahme am Wechselkursmechanismus die Nichtteilnahme an der Währungsunion begrUndet
3. Die Europäische Zentralbank im Europäischen System der Zentralbanken als Garant gesamtwirtschaftlicher Stabilität? a) Das Europäische System der Zentralbanken mit der Europäischen Zentralbank als Institution der Währungsunion Die Europäische Zentralbank804 ging als eigene Rechtsperson 805 am 1. 6. 1998 aus ihrem Vorläufer, dem Europäischen Währungsinstitut, hervor. Ihr obliegt seit dem 1. 1. 1999 die Wahrnehmung der Zentralbankaufgaben innerhalb der Gemeinschaft, nachdem mit Beginn der Währungsunion die Tei1nehmerländer ihre währungspolitischen Befugnisse fast vollständig806 an die Gemeinschaft zur gemeinschaftlichen Ausführung übertrugen. 807 Innerhalb des Europäischen Systems der Zentralbanken808 stellt die Europäische Zentralbank eine Art Dacheinrichtung dar, unter der sich die Notenbanken der Teilnehmerländer als "integraler Bestandteil"809 des Zentralbanksystems aufflichem. 810 Der Vertrag trifft Regelungen zum Zentralbankwesen in Art. 105 ff. EGV sowie spezifischer in der im 3. Protokoll verankerten "Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank"811 • Im Sinne der rechtlichen Konvergenz sieht er insbesondere in Art. 109 EGV die Angleichung
804 Vgl. zur EZB zuletzt und umfassend, vorwiegend aus volkswirtschaftlichpraktischer Sicht die Beiträge in D. B. Simmert!E. Weitelee (Hrsg.), Die Europäische Zentralbank, 1999. 805
Art. 107 Abs. 2 EGV; Art. 9.1 des 3. Protokolls.
Geringfiigige Teilbereiche der Währungsaußenpolitik verbleiben noch bei den Mitgliedstaaten; vgl. H. J. Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 18. 806
807 Zum Übertragen staatlicher Hoheitsrechte K. A. Schachtschneider, oben Fn. 212.
auf die
Gemeinschaft
vgl.
808 Die EZB spricht selbst nach Beschluß des Zentralbankrats seit Januar 1999 vom "Eurosystem"; vgl. Europäische Zentralbank, in: Europäische Zentralbank, Monatsbericht Januar 1999, S. 7. 809
Art. 14.3 des 3. Protokolls.
Art. 107 Abs. I EGV; Art. 1.2 des 3. Protokolls; vgl. dazu auch Europäische Zenfra/bank, Der institutionelle Rahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken, in: Europäische Zentralbank, Monatsbericht Juli 1999, S. 59 ff. 810
811
Im folgenden "ESZB-Satzung".
268
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
nationalen Zentralbankrechts an die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts vor. 812 Das geschäftsfilhrende813 Direktorium - wenn man so will als Exekutivorgan setzt sich aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten sowie weiteren vier Mitgliedern zusammen. 814 Gemeinsam mit den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Teilnehmerstaaten bildet es den Rat der Europäischen Zentralbank, bei dem die wesentlichen Entscheidungsbefugnisse liegen. 815 Die grundlegenden Aufgaben des Zentralbanksystems bestehen in der Festlegung und Ausfiihrung der Geldpolitik, der Durchfilhrung von Devisengeschäften, der Haltung und Verwaltung der mitgliedstaatliehen Währungsreserven sowie der Förderung der Zahlungssysteme. 816 In ihrem Zuständigkeitsbereich übt sie ferner weitreichende Beratungsfunktionen aus und folgt noch zu bestimmenden Aufgaben im Bereich der Kreditaufsicht 817 Zur Erfilllung ihrer Aufgaben und - entsprechend des Prinzips der begrenzten Ermächtigung818 - nur in den vorgesehenen Fällen erteilt der Vertrag ihr die Befugnis, Entscheidungen zu erlassen, Empfehlungen und Stellungnahmen abzugeben, aber auch Verordnungen zu erlassen. 819 b) Das filr die Europäische Zentralbank spezifische wirtschaftliche Primärziel der Preisstabilität Hinsichtlich der Zielsetzung des gesamten Systems - damit der Europäischen Zentralbank wie gleichzeitig der Notenbanken in den Mitgliedstaaten bestimmt Art. 105 Abs. l EGV:
m Art. I 09 formuliert also die diesbezügliche Konvergenzverpflichtung der Mitgliedstaaten, auf die Art. 121 Abs. I EGV Bezug nimmt; näher materialisiert wird sie in Art. 14 des 3. Protokolls. 813
Art. 11.6 des 3. Protokolls.
814
Art. 112 Abs. 21it. a) EGV; Art. 11.1 des 3. Protokolls.
Art. 112 Abs. I EGV; Art. I 0.1 des 3. Protokolls; der EZB-Rat zu Beginn der Währungsunion umfaßte bei elfTeilnehmerstaaten folglich 17 Mitglieder. 815
816
Art. 105 Abs. 2 EGV; Art. 3.1 des 3. Protokolls.
Art. 105 Abs. 4 EGV; Art. 4 des 3. Protokolls sowie insb. in Fragen der Bankenaufsicht Art. 105 Abs. 5 und 6 EGV, Art. 25 des 3. Protokolls. 817
818 Aus der Reihe verschiedener Formulierungen (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung etc.) bedient sich die Europäische Zentralbank selbst dieser richtigsten Bezeichnung; etwa in: Die Rechtsinstrumente der Europäischen Zentralbank, in: Europäische Zentralbank, Monatsbericht November 1999, S. 61 ff., S. 62.
819 Art. 110 Abs. 1 und 2 EGV; Art. 34 des 3. Protokolls; vgl. zu den Rechtsaktformen Art. 249 EGV.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
269
"Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der in Artikel 2 festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen."
Wie bereits festgestellt, verpflichtet der Vertrag auch das Europäische Zentralbanksystem unter dem Effizienzvorbehalt auf ein im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft stehendes Handeln. 820 Für die Währungspolitik der Zentralbank fonnuliert der Vertrag also Preisstabilität als ein nonnativ gesondertes Ziel, das er gegenüber anderen Zielen der Gemeinschaft, die in Art. 2 EGV als politikbereichsübergreifende Ziele enumeriert werden, mit politikbereichsspezifischem Vorrang ausstattet. Unter dem expliziten Vorbehalt der Nichtgeflibrdung des vorrangigen Preisstabilitätsziels trägt das Zentralbanksystem dennoch auch zu diesen anderen Zielen bei. 821 Die besondere Verpflichtung des Systems auf die Preisstabilität resultiert aus der wissenschaftlich weitgehend gesicherten, von der Mehrzahl der volkwirtschaftlichen Linien vertretenen Auffassung, daß Preisstabilität notwendige Bedingung filr gesamtwirtschaftlichen Erfolg darstelle.822 Empirisch ist der Vorrang der Preisstabilität insbesondere auf die entsprechende erfolgreiche Politik der Deutschen Bundesbank zu stützen, fllr die die Aufgabe, "die Währung zu sichern", gesetzlich im Vordergrund stand und die daneben "verpflichtet" war, "unter Wahrung ihrer Aufgabe die allgemeine Wirtschaftspolitik ... zu unterstützen. "823 Vor dem Hintergrund einer wie gesehen breiter angelegten ge820
Siehe dazu oben 5. Teil, I. Kap., I.
Das wurde v.a. von französischer Seite wiederholt betont; vgl. etwa G. d 'Estaing, Vermeiden wir deutsch-französischen Währunggsstreit, in: FAZ vom 8. 2. 1997, S. 14; W. Heun, Die Europäische Zentralbank in der Europäischen Währungsunion, JZ 1998, S. 866 ff. (S. 869), gibt insofern zu bedenken, man "sollte ... sich über die Wirkungskraft einer derartigen normativen Festlegung keinen Illusionen hingeben" und verweist auf den Interpretationsspielraum, den der Begriff der Preisstabilität offenläßt 821
822 Dazu kurz H. Tomann, Stabilitätspolitik. Theorie, Strategie und europäische Perspektive, 1997, S. 63 f; B. Molitor, Wirtschaftspolitik, 4., durchges. Aufl., 1992, s. 93.
823 § 3, § 12 Satz I BBankG a.F.; der Vorrang der Währungssicherung entsprach der h.M. in der Literatur, vgl. so H. J. Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 257, Fn. 334 m.w.N.; F. Brosius-Gersdorj. Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997, S. 204 ff, insb. S. 220, plädiert sogar filr eine verfassungsrechtliche Verankerung über Art. 88 Satz 1 i.V.m. Art. 109 Abs. 2 GG; mit dem Sechsten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank vom 22. 12. 1997 (BGBI. I S. 3274; dazu dazu wib 21197 - VIII/257, S. 31 ), erfuhr die deutsche Gesetzeslage in § 3 eine Modifikation dahingehend, daß die Bundesbank nunmehr an der Erfilllung der Aufgaben des ESZB mit dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität mitwirkt; sie unterstützt auch weiterhin die
270
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip rur die EWWU
samtwirtschaftlichen Zielsetzung aus Art. 2 EGV besteht in der Gemeinschaft also eine isoliert hervorgehobene Verantwortung einer bereichsspezifischen Institution fUr einen Einzelaspekt824 - Preisstabilität, die zudem in Art. 2 EGV nicht explizit erwähnt wird, aber zu den entscheidenden Grundsätzen des Art. 4 Abs. 3 EGV fUr die Wirtschafts- und Währungspolitik zählt.
c) Preisstabilität und Unabhängigkeit einer Zentralnotenbank Die ausdrücklich normative Zielsetzung der Preisstabilität bedarf auch der Voraussetzung, daß die vertragliche Gesamtkonstruktion, d.h. innere Struktur, Verhältnis zu anderen Institutionen und instrumentelle Ausstattung dem Europäischen Zentralbanksystem die Zielverfolgung auch faktisch ermöglicht. 825 Von besonderer Bedeutung erweist sich hier der Aspekt der Unabhängigkeit der Zentralbank von anderen Einrichtungen der Gemeinschaft sowie den Regierungen der Mitgliedstaaten aufgrund der wirtschaftspolitischen Versuchung, über eine expansivere Geldpolitik, die jedoch das Preisniveau in aller Regel erhöht, eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage herbeifUhren zu wollen. Die Europäische Zentralbank im Europäischen System der Zentralbanken muß unbehelligt von solchen denkbaren Einflußabsichten ihr geldpolitisches Ziel der Preisstabilität verfolgen können; denn bei aller Unterschiedlichkeit einer Reihe von empirischen Untersuchungen mit teils fragwürdiger Glaubwürdigkeit gelangt man doch insgesamt zum klaren Ergebnis einer positiven Korrelation von faktischem Unabhängigkeitsgrad826 und Inflation bzw. Stabilität der Preisniveaus. 827
allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, jetzt aber "unter Wahrung ihrer Aufgabe als Bestandteil des Europäischen Systems der Zentralbanken" (§ 12 Satz 1 BBankG n.F.); vgl. Deutsche Bundesbank. Der Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Januar 1999, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Januar 1999, S. 19 ff. (S. 21 ff.); siehe dazu auch bereits oben 4. Teil, 2. Kap., V., 2., a), dd). 824 Vgl. dazu, allerdings in Bezug auf die Deutsche Bundesbank in Deutschland, A. Bleckmann, Grundzüge des Wirtschaftsverfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1991, S. 536 ff. (S. 540). 825 Vgl. hierzu u.a. 0. Hahn, Die Währungsbank: Behörde, Unternehmung, Autorität, 1993, s. 57 ff.
826 Zur Beurteilung und Vergleichbarkeit der Unabhängigkeit vgl. R. Solveen, Der Einfluß der Unabhängigkeit auf die Politik der Zentralbanken, 1998, S. 15 ff. und S. 25, Fn. 34, der einen Überblick zu Generierungsversuchen von Unabhängigkeitsindizes gibt. 827 Vgl. z.B. A. Alesina/L. H. Summers. Central bank independence and macroeconomic performance: some comparative evidence, in: Journal of Money, Credit and Banking, Vol. 25 (May 1993), S. 151 ff.; 0. /ssing, Unabhängigkeit der Notenbank und
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
271
Neben einer normativ festgelegten, also formalen Unabhängigkeit kommt es dabei auf die persönliche Unabhängigkeit der Entscheidungsträger der Zentralbank an. So hängt beispielsweise nach empirischen Untersuchungen die Inflationsentwicklung in statistisch signifikanter Weise davon ab, ob die Mehrheit des Zentralbankrats von den Regierungsparteien bestellt wurde oder nicht;828 in diesem Zusammenhang spielt deshalb auch eine mögliche Synchronisation von Legislativ-Wahlterminenund den Ernennungsterminen der Zentralbankratsmitglieder eine Rolle. 829 Insofern besteht ferner eine Abhängigkeit von einer Reihe weiterer Aspekte, wie etwa Amtszeit, Wiederernennungsmöglichkeit, Nebenämter, Abberufungsgefahr, aber auch Anreiz- und Entlohnungssystem830• Persönlich weitgehende Unabhängigkeit entfaltet sich jedoch erst bei Bestehen eines zieladäquaten Instrumentariums, wobei beide insofern zusammenhängen, als die Wirkungskraft des Instrumentariums mit höherem Unabhängigkeitsgrad
Geldwertstabilität, 1993, S. 10; A. Woll, Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank: Dogma oder Notwendigkeit?, in: M. Weber (Hrsg.): Europa auf dem Weg zur Währungsunion, 1991, S. 157 ff. (S. 166 f. ); J Sixt, Euro- Notwendigkeit oder Bedrohung (Schluß), in: DZWir 1997, S. 474 ff. (S. 478 f.); Überblick in umfassenden Ausfiihrungen bei R. Solveen, Der Einfluß der Unabhängigkeit auf die Politik der Zentralbanken, 1998, der in seiner Gesamtbetrachtung neben der Korrelation UnabhängigkeitInflation auch noch andere Beziehungen (Bruttoinlandsprodukt-Unabhängigkeit, Konjunkturzyklen-Unabhängigkeit, Unabhängigkeit-Inflation-Staatsverschuldung) beleuchtet; auch J End/er, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998, S. 213 ff. m.w.N. 828 Vgl. R. Vaubel, Eine Public-Choice-Analyse der Deutschen Bundesbank und ihre Implikationen fiir die Europäische Währungsunion, in: D. Duwendag/J. Siebke (Hrsg.): Europa vor dem Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion, 1993, S. 23 ff.; ders., The Bureaucratic and Partisan Behaviour of Independent Central Banks: German and International Evidence, in: European Journal of Political Economy, Vol. 13 (1997), S. 201 ff.; R. R. McGregor, FOMC Voting Behavior and Electoral Cycles: Partisan Ideology and Partisan Loyality, in: Economics and Politics, März 1996, S. 17 ff. 829 Vgl. R. Vaubel, Das EWS-Debakel und die Zukunft der Europäischen Währungsunion: Erklärungen und Simulationen aus der Sicht der Public-Choice Theorie, in: G. Rübe! (Hrsg.): Perspektiven der Europäischen Integration, 1994, S. 53 ff. (S. 72 ff.). 830 Vgl. hierzu H. Feldmann, Stabilitätsanreize fiir Europas Zentralbanker, WD, 78. Jg. (1998), S. 121 ff., der einen konkreten Vorschlag fiir ein stabilitätsabhängiges Entlohnungssystem der EZB-Mitglieder unterbreitet; ähnlich im Ansatz R. Vaubel, Eine Public-Choice-Analyse der Deutschen Bundesbank und ihre 1mplikationen fiir die Europäische Währungsunion, in: D. Duwendag/J. Siebke (Hrsg.): Europa vor dem Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion, 1993, S. 23 ff.; kritisch zur in der Public Choice Theory geforderten Sanktionierung 0. lssing, Unabhängigkeit der Notenbank und Geldwertstabilität, 1993, S. 26 f.
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
wiederum steigt. 831 Nicht zuletzt bedarf die Autonomie der Zentralbank freilich ausreichender finanzieller Rahmenbedingungen.
d) Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank Bezogen auf den konkreten Fall der Europäischen Zentralbank äußert sich der Vertrag in eindeutiger Weise: "Bei der Wahrnehmung der ihnen durch diesen Vertrag und die Satzung des ESZB übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten darf weder die EZB noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlußorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen. Die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichten sich, diesen Grundsatz zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der ... EZB oder der nationalen Zentralbanken ... zu beeintlussen."832
Die Unabhängigkeit des Notenbankinstituts findet also schon in der Einrichtung einer eigens daftlr vorgesehenen und entsprechend getitelten Vorschrift eine mindestens ebenso klare Festlegung wie die der Deutschen Bundesbank. Während ftlr letztere die explizite Vorschrift des § 12 Satz 2 BBankG a.F. als einfaches Gesetz recht allgemein gehalten die Unabhängigkeit der Bundesbank von Weisungen der Bundesregierung bestimmte, verbietet die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift einer etwaigen Weisung vorgelagert bereits den Versuch einer Beeinflussung der Mitglieder der Zentralbank. Hinzu kommt der wesentliche und gleich noch zu vertiefende Aspekt des hohen verfassungsähnlichen Rangs der Festlegung der Unabhängigkeit, die in dieser Form keinen Vorgänger haben dürfte. 833 Die Tätigkeit der Europäischen Zentralbank unterliegt darüber hinaus zwar grundsätzlich der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs, im Kern sind aber ihre geld- und währungspolitischen Entscheidungen nicht judiziabel. 834
831 Vgl. H.-J. Papier, 2. Autl. 1994, § 18, Rn. 91. 832
Grundgesetz
und
Wirtschaftsordnung,
in:
HVerfR,
Art. 108 EGV; Art. 7 des 3. Protokolls.
Sogleich 5. Teil, 2. Kap., II., 3., e); auf die nahezu gegebene Einzigartigkeit weisen H. J. Hahn!U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 531, hin. 833
834 Vgl. Art. 230 Abs. 1 und 3, Art. 232 Abs. 4 und Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV sowie Art. 35 des 3. Protokolls; dazu auch K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, in: W. Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty (Hrsg.): Wäh-
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
273
Im die Geldpolitik entscheidenden Zentralbankrat ist mit Blick auf seine Zusammensetzung, die Machtausstattung des Zentralbank-Präsidenten (insbesondere im Stimmengleichheitsfall835 ) und die geringe Mindestzahl vorgesehener Sitzungen836 jedenfalls beim derzeitigen Stand von elf Teilnehmerstaaten an der Währungsunion die Machtverteilung relativ deutlich zugunsten des Direktoriums gelagert.837 Für die Direktoriumsmitglieder gewährleistet der Vertrag über das Emennungsverfahren838, eine angemessen lange Amtszeit von acht Jahren839- die Verbindlichkeit dieser Regelungen mag an dem Ernennungsprozedere filr den ersten Zentralbankpräsidenten Duisenberg beurteilt werden840 -,
rungsunion und Weltwirtschaft. FS fiir W. Hanke! zum 70. Geburtstag, 1999, S. 119 ff. (S. 146); W Heun, Die Europäische Zentralbank in der Europäischen Währungsunion, JZ 1998, S. 866 ff. (S. 874). 835
Art. 10.2 des 3. Protokolls.
Art. 10.5 des 3. Protokolls; je seltener der EZB-Rat tagt, desto geringer ist sein Einfluß auf die laufende Politik der Zentralbank 836
837 So auch W Heun, Die Europäische Zentralbank in der Europäischen Währungsunion, JZ 1998, S. 866 ff. (S. 868); a.A. G Heinsohn/0. Steiger, Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion, in: W. Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty (Hrsg.): Währungsunion und Weltwirtschaft. FS fiir W. Hanke! zum 70. Geburtstag, 1999, S. 69 ff. (S. 80). 838
Vgl. Art. 112 Abs. 2lit b) EGV; Art. 11.2 des 3. Protokolls.
839
Art. 112 Abs. 2 lit b) EGV; Art. 11.2 des 3. Protokolls; Art. 50 des 3. Protokolls
sieht Abweichungen fiir die erstmalige Ernennung der Direktoriumsmitglieder vor, nicht aber filr den Präsidenten. 840 Vgl. dazu Einvernehmlich gefaßter Beschluß der Regierungen der Mitgliedstaaten, die die Einfilhrung der einheitlichen Währung beschließen, auf der Ebene der Staatsund Regierungschefs vom 26. Mai 1998 zur Ernennung des Präsidenten, des Vizepräsidenten und der weiteren Mitglieder des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, ABI. EG 1998 L 154/33, vorher bereits die entsprechende Empfehlung des Rates, ABI. EG 1998 L 139/30; ausgesprochen kritisch zur Inamtsetzung von Duisenberg und dessen persönlicher Erklärung U. Häde, Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidungen über die Europäische Währungsunion, JZ 1998, S. 1088 ff. (S. 1092 f. ), der zunächst den Wortlaut Duisenbergs Erklärung wiedergibt: " ... möchte in Anbetracht meines Alters nicht die volle Amtszeit ableisten. ... beabsichtige ich, zumindest solange im Amt zu bleiben, bis die Übergangsmaßnahmen ... abgeschlossen sind. ... Ich möchte betonen, daß dies mein und nur mein Entschluß ist und daß die Entscheidung, nicht die volle Amtszeit abzuleisten, allein von mir aus freien Stücken und nicht auf Druck von irgendwelcher Seite getroffen worden ist. Auch in Zukunft wird die Entscheidung zum Rücktritt allein meine Entscheidung sein. Dies muß unmißverständlich klar sein."; Häde kommentiert: "Diese Umstände hinterlassen nicht nur ein ungutes Gefllhl. Sie haben auch rechtliche Konsequenzen. Die Verknüpfung der Rücktrittsankündigung mit dem Herstellen des erforderlichen Einvernehmens widerspricht dem Sinn der Vertragsvorschriften und ist deshalb mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar. Es handelt sich um den Versuch, einem offensichtlichen Rechtsverstoß eine Form zu geben, die den
18 Hänsch
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
die untersagte Möglichkeit einer Wiederwahl841 und nur filr Extremflille mögliche und zudem dem Europäischen Gerichtshof unterstellte Abberufungsverfahren842 weitgehende Vorkehrungen filr persönliche Unabhängigkeit, die gegebenenfalls sinnvoller Weise noch um ein Verbot der Aufnahme politischer oder öffentlicher Ämter nach Ablauf der Zentralbankamtszeit ergänzt worden wären843. Für die ebenfalls im Europäischen Zentralbankrat sitzenden Präsidenten der nationalen Zentralbanken sieht der Vertrag dagegen eine verpflichtetende Rechtsharrnonisierungsvorgabe von lediglich filnf Jahren Amtszeit vor und untersagt nicht die Möglichkeit einer Wiederemennung. 844 Deshalb wäre damit zu rechnen, daß diese Zentralbankratsmitglieder eher nationalen Interessen folgen - dagegen steht allerdings der sogenannte "Thomas-Becket-Effekt", unter dem ein amtsbedingtes Vordringen persönlichen Eigeninteresses subsumiert wird. 845 Das Europäische Zentralbanksystem verfUgt über die ausschließliche Kompetenz filr die Gestaltung der Geldpolitik in Europa, deren Ausfilhrung jedoch weniger Sache der Europäischen Zentralbank selbst, sondern vielmehr die der nationalen Notenbanken ist, wobei letzteren enorme Freiräume zukommen, denen schwere Bedenken entgegenzubringen sind. 846 Das geldpolitische In-
Anschein der Rechtmäßigkeit wahrt. ... der Beschluß vom 26. 5. 1998 verstößt deshalb gegen das Gemeinschaftsrecht."; vgl. auch stellvertretend für die allg. Tagespresse M Bergius, Chirac und die Müdigkeit von Amtsinhaber Duisenberg, in: HB vom 4. 5. 1998, S. 9. 841
Art. 112 Abs. 21it b) EGV; Art. 11.2 des 3. Protokolls.
Art. 11.4 des 3. Protokolls; eine Amtsenthebung ist nur für den Fall des persönlichen Voraussetzungswegfalls oder schwerer Verfehlung möglich. 842
843 Daraufhinweisend R. Vaubel, Währungsunion a Ja Maastricht: Probleme der Zentralbankverfassung, in: M. Potthoff!K. Hirschmann (Hrsg.): Die europäische Währungsunion- ein Testfall für die europäische Integration?, 1997, S. 103 ff. (S. 110 f.). 844 Art. 14.2 des 3. Protokolls; das Verbot einer Wiederernennung beinhaltet die ESZB-Satzung nicht.
845 Vgl. P. Bofinger, Der Euro vor der Einführung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 47/97, S. 11 ff. (S. 12, Fn. 3); R. Schweickert, Die finanzpolitischen Beitrittsbedingungen zur EWU - effizient, notwendig, hinreichend, relevant?, WD, 76. Jg. (1996), S. 529 ff. (S. 531 ); W. Heun, Die Europäische Zentralbank in der Europäischen Währungsunion, JZ 1998, S. 866 ff. (S. 875). 846 Vgl. G. Heinsohnl 0. Steiger. Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion, in: FS für W. Hanke!, 1999, S. 69 ff. (S. 78 ff.) m.w.N., die auf die Bedeutung der hohen Qualität der Währungssicherheiten für die Preisstabilität hinweisen; die Ausführung der Geldpolitik ist aufgrund der begrenzten Aktivaausstattung der EZB hauptsächlich Aufgabe der nationalen Zentralbanken, die aber in der Akzeptierung von Sicherheiten über
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
275
strumentarium erhält in der ESZB-Satzung einen Handlungsrahmen. 847 Die Offenmarktpoliti.k848 stellt dabei wie in den Fällen der Federal Reserve Bank sowie der Deutschen Bundesbank das bedeutenste Steuerungsinstrument dar. Die in Art. 18.1 2. Spstr. der Satzung vorgesehenen Kreditgeschäfte gegen Sicherheiten (sogenannte "ständige Fazilitäten") erinnern an die deutsche Diskont- und Lombardpolitik, sind jedoch nicht filr die Grundversorgung mit Zentralbankgeld, sondern lediglich zur Spitzenrefinanzierung gedacht. 849 Die vor allem in Deutschland betriebene, in anderen Staaten teils unbekannte Mindestreservepolitik ist dem Vertrag nach als Möglichkeit grundsätzlich vorgesehen, bedarf aber der genaueren Ausgestaltung durch den Rat der Europäischen Gemeinschaft. 850 Der Europäische Zentralbankrat hat sich bereits 1998 filr eine Auferlegung von Mindestreservepflichten ausgesprochen. 851 Daneben eröffnet Artikel 20 der Satzung dem Zentralbankrat die Möglichkeit zur Ausdehnung seines Instrumentariums. Als die Unabhängigkeit wesentlich mindernder Faktor wurde mit Blick auf die jedenfalls mittelfristig zu verzeichnende Interdependenz von Binnen- und Außenwert852 immer wieder die beschränkte Kompetenz der Zentralbank im
weitläufige Freiräume verfUgen, deren Ausnutzung nicht einmal detailliert offenzulegen ist. Es bestünde deshalb die Befilrchtung, daß durch eine "weiche Politik" bezüglich der Anforderungen an Sicherungstitel die (im EZB-Rat beschossene) geldpolitische Gesamtlinie in der Währungsunion durch eine oder nur wenige nationale Geldpolitiken unterminiert würde, was die Frage der (inneren) Unabhängigkeit der EZB-Politik im ESZB aufwirft. 847 Vgl. dazu Europäische Zentralbank, Der Handlungsrahmen des Eurosystems: Beschreibung und eine erste Beurteilung, in: Europäische Zentralbank, Monatsbericht Mai 1999, S. 33 ff. (S. 34 f.); dies., Jahresbericht 1998, S. 68 ff.; W. Heun, Die Europäische Zentralbank in der Europäischen Währungsunion, JZ 1998, S. 866 ff. (S. 871 f.); E. Görgens/K. Ruckriegel/F. Seitz, Europäische Geldpolitik, 1999, S. 103 ff.; auch U. Dennig, Geldpolitik im Übergang zur EWU, WD, 77. Jg. (1997), S. 538 ff. (S. 541); Art. 17 ff. des 3. Protokolls. 848
Art. 18 des 3. Protokolls.
Analog besteht filr Liquiditätsspitzen der Kreditinsitute die Möglichkeit zur kurzfristigen Einlagefazilität 849
850
Art. 19 des 3. Protokolls.
VO EG 2818/98 der Europäischen Zentralbank vom I. Dezember 1998 über die Auferlegung einer Mindestreservepflicht, ABI. EG 1998 L356/l (EZB 1998/15), auf Basis der VO EG 2531198 des Rates vom 23. November 1998 über die Auferlegung einer Mindestreserve-Pflicht durch die EZB, ABI. EG 1998 L 318/1 . 851
852
18•
Dazu oben S. 144, Fn. 513.
276
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
Bereich der Außenwährungspolitik hervorgehoben; 853 sie gab bei den Vertragsverhandlungen wiederholt Anlaß zu Streitigkeiten und brachte somit doch existierende Auffassungsunterschiede der einzelnen Mitgliedstaaten zur Positionierung der Zentralbank hervor. 854 Gemäß Art. lll Abs. I EGV kann der Rat "einstimmig ... fOrmliehe Vereinbarungen über ein Wechselkurssystem" treffen und "mit qualifizierter Mehrheit ... die ECU-Leitkurse innerhalb des Wechselkurssystems festlegen, ändern oder aufgeben." Die Europäische Zentralbank ist in diese Verfahren insofern eingebunden, als diese Entscheidungen des Rats entweder auf Empfehlung oder jedenfalls nach Anhörung des Notenbankinstituts erfolgen. Die Entscheidungen des Rats ergehen - sehr kompromißhaft - im übrigen "in dem Bemühen, zu einem mit dem Ziel der Preisstabilität im Einklang stehenden Konsens zu gelangen." Absatz I bezieht sich jedoch nur auf die Gegebenheit eines Systems fester Wechselkurse. Nach Absatz 2 "kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit" ohne Bestehen eines solchen Wechselkurssystems und bei gleich schwacher Einbindung der Zentralbank "allgemeine Orientierungen ftlr die Wechselkurspolitik ... aufstellen", sie dürfen aber- deutlicher - "das vorrangige Ziel des ESZB, die Preisstabilität zu gewährleisten, nicht beeinträchtigen." Die Beeinträchtigung der Unabhängigkeit durch diese Regelung ist sicher zu erkennen, aber keinesfalls zu überschätzen; denn durchschlagende Wirkung dürfte der vertraglich bestimmte kompetenzielle Eingriff des Rats in das angestammte Politikfeld der Europäischen Zentralbank nämlich nur im Fall eines Systems fixer Wechselkurse a Ia Bretton Woods haben, das auf absehbare Zeit nicht vorstellbar ist. Für die Situation freier Wechselkurse dagegen stehen "allgemeine Orientierungen" des Rats sicherlich im Nachrang zur faktischen Wirkung der Geldpolitik des Notenbanksystems und können in diese auch nicht eingreifen. 855 Im übrigen entspricht es den bisherigen international 853 Vgl. 0. lssing, Europa auf dem Wege zur Währungsunion. Chancen und Risiken, Speyer 1995, S. 22; R. Vaubel, Währungsunion ä Ia Maastricht: Probleme der Zentralbankverfassung, in: M. Potthoff/K. Hirschmann (Hrsg.): Die europäische Währungsunion - ein Testfall filr die europäische Integration?, 1997, S. 103 ff. (S. 110); W Hanke/l W Nölling!K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 52 f.; F.-U. Wille/ce, Ist Europa auf dem Weg zu einer höheren Stabilitätskultur?, in: ders. (Hrsg.): Die Zukunft der D-Mark, 1997, S. 39 ff. (S. 56 ff.); M. Seidel, Rechtliche Aspekte der Entscheidungsverfahren in der WWU, in: R. Caesar/H.-E. Scharrer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Regionale und globale Herausforderungen, 1998, S. 373 ff. (S. 391); H. J. Hahn/J. Siebelt, Von der Zusammenarbeit der Zentralbanken zur Währungsunion, in: M. A. Dauses (Hrsg.): Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, Abschnitt F.l, Rn. 79, Fn. 279 m.w.N. 854 Vgl. so H. Köhler/A. Kees, Die Verhandlungen zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, in: Th. Waigel (Hrsg.): Unsere Zukunft heißt Europa: Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 145 ff.
m So auch W Heun, Die Europäische Zentralbank in der Europäischen Währungsunion, JZ 1998, S. 866 ff. (S. 870, 875).
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
277
verbreiteten und auch in Deutschland vorzufmdenden Gegebenheiten, daß die Wechselkurskompetenz bei den jeweiligen Regierungen lag; zumindest verfUgte keine Zentralbank explizit über die Außenwertkompetenz.856 Im Hinblick auf eine mögliche Unabhängigkeitseinschränkung sei noch auf Art. 107 Abs. 6 EGV hingewiesen, der den Rat zu einer FUlle von Bestimmungen berechtigt, die die Zentralbank letztlich praktisch durchaus in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränken könnten. 857 Die in der Satzung gewährleistete finanzielle und budgetäre Autonomie hingegen stärkt wiederum die unabhängige Stellung der Europäischen Zentralbank. 858 Schließlich bleibt zu ergänzen, daß die Unabhängigkeit auch durch die separate klare und mit Vorrang ausgestattete Zielsetzung gestützt wird. Hinsichtlich der somit aus dem Vertrag resultierenden weitgehenden und gut gewährleisteten Unabhängigkeit der lnstitution859 vor dem Hintergrund der Überlegungen und Ergebnisse zum Zusammenhang von Zentralbankunabhängigkeit und Preisniveau, gelangte Jochimsen zur skeptischen Bemer-
.
b~
"Die Papierfonn ist beachtlich, eine Garantie fiir stabiles Geld stellt sie indes noch nicht dar." 860
Hinter dieser Meinung steht der letzte und neben allen textlichen Festlegungen Uberaus wichtige Aspekt, nämlich der der allgemeinen Akzeptanz des Preisstabilitäts- und - damit zusammenhängend - des Unabhängigkeits-
856 Vgl. das Argument einer zu starken Unabhängigkeitsgefährdung durch fehlende Wechselkurskompetenz der EZB zurückweisend ausnahmsweise zu Recht P. Bojinger, Der Euro vor der Einfiihrung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 47/97, S. 11 ff. (S. 12, Fn. 4); zurückhaltend auch H. Tietmeyer, Vom EWI zur Europäischen Zentralbank, in: Th. Waigel (Hrsg.): Unsere Zukunft heißt Europa: Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, 1996, S. 295 ff. (S. 307). 857 Vgl. H. J. Hahn!U. Häde, Europa im Wartestand: Bemerkungen zur Währungsunion, in: FS U. Everling, 1995, S. 381 ff. (S. 390). 858 V gl. W. Heun, Die Europäische Zentralbank in der Europäischen Währungsunion, JZ 1998, S. 866 ff. (S. 874).
859 Umfassend und insgesamt dazu auch nochmals D. Art. 88 S. 2 GG, 1996, S. 89 ff.
Janzen,
Der neue
860 R. Jochimsen, Nach dem Tag X - Anforderungen an eine langfristige Stabilitätsgemeinschaft, in: H.-U. Jörges (Hrsg.): Kampf um den Euro. Wie riskant ist die Währungsunion?, 1998, S. 182 ff. (S. 188).
278
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip filr die EWWU
postulats. 861 Mit einer "deutschen Lesart", wie Starbatty die preisstabilitätsbewußte Interpretationshaltung aus deutscher Sicht bezeichnet, mag man eher zum Ergebnis klarer vertraglicher Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank kommen als aus anderem Blickwinkel, der mit auf Preisstabilität ausgerichteter Politik einer unabhängigen Zentralbank (noch) nicht die gleich gewichteten Erfahrungen hat. 862 Daß solch unterschiedliche "Stabilitätskulturen"863 existieren oder gänzlich fehlen und sich unterscheidende Kulturen erst mit der Zeit zu einer gemeinsamen Kultur entwickeln, zweifelt niemand an. Der bloße Verweis auf sich annähernde Inflationsraten in den letzten Jahren vor Beginn der Währungsunion kann kein Nachweis fUr eine gemeinsame Stabilitätskultur sein. Eine gemeinsame Kultur zu entwickeln, ist aber -entgegen funktionaler Festlegungen im Zentralbankstatut- kein Vertrag imstande.864
e) Unabhängigkeit und demokratische Legitimation der Europäischen Zentralbank Die Unabhängigkeit einer Institution im sogenannten ministerialfreien Raum wirft die Frage ihrer Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip des Art. 20 861 Dazu W. Steuer, Gibt es eine europäische Stabilitätskultur?, WO, 77. Jg. (1997), S. 86 ff.; A. Woll, Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank: Dogma oder Notwendigkeit?, in: M. Weber (Hrsg.): Europa auf dem Weg zur Währungsunion, 1991, S. 157 ff. (S. 168 f.), im Ergebnis; H. Siebert, Stabilitätspakt- Die Geldpolitik in der Währungsunion ent-politisieren, WO, 77. Jg. (1997), S. 7 ff. (S. 7); mit Blick auf die Schwierigkeiten bei der Vereinbarung des Stabilitätspakts auch R. Vaube/, Kein Pakt filr Preisstabi1ität, WO, 77. Jg. (1997), S. 10 ff. (S. 12) m.w.N. 862 Einschlägige Zitate, insb. seitens französischer Vertreter, bei W. Steuer, Gibt es eine europäische Stabilitätskultur?, WO, 77. Jg. (1997), S. 86 ff. (S. 91); vgl. ergänzend die Nachweise bei K. Socher, Die Politische Ökonomie der Währungsunion - aus österreichischer Sicht, in: W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty (Hrsg.): Währungsunion und Weltwirtschaft. FS filr W. Hanke! zum 70. Geburtstag, 1999, s. 191 ff. 863 Vgl. 2. Teil, 4. Kap., III., 3.; der Begriff der Stabilitätskultur bezieht sich auf die enger verstandene Preisstabilität; dazu 0. Issing, Unabhängigkeit der Notenbank und Geldwertstabilität, 1993, S. 31: "Gegen die Front einer "Gesellschaft des Überanspruchs" kann auch eine unabhängige Notenbank die Geldwertstabilität auf Dauer nicht verteidigen - oder anders gewendet: Jede Gesellschaft hat letztlich die Inflationsrate, die sie verdient und im Grunde auch will."; am Stabilitätspaktstreit seien die unterschiedlichen Kulturen deutlich zu erkennen, so P. Graf Kielmansegg. Der Oktroi, in: FAZ vom 18. 2. 1997, S. 35 ("Der Stabilitätspakt ist nicht Ausdruck eines politischen Konsenses, sondern Ersatz filr fehlenden politischen Konsens"). 864 Ähnelnd in der Aussage H. J Hahn!U. Häde. Art. 88, in: BK, GG, Rn. 551.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
279
Abs. 1 GG auf. Eine solche Vereinbarkeil ist nur gegeben, wenn ausreichende Erklärungsgrtlnde vorliegen. 865 Wie dargestellt räumt der EG-Vertrag der Eropäischen Zentralbank eine weitreichende Unabhängigkeit ein, die funktional durch eine Reihe von Vorschriften gestützt wird und gegenüber jener der Deutschen Bundesbank stärker ausdifferenziert ist. Darüber hinaus verfUgen diese Regelungen durch ihre Fixierung im Vertrag über verfassungsähnlichen Charakter; sie können ausschließlich über das fönnliche Vertragsänderungsverfahren des Art. 48 EUV durch einstimmigen Beschluß aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union - nicht nur der Teilnehmerstaaten der Währungsunion geändert werden. 866 Der Grad der Unabhängigkeit und das anspruchsvolle Vertragsänderungsverfahren sichern die Position der Europäischen Zentralbank in einem so hohen Maße ab, daß diese in keinem Verhältnis zu ihrer geringen demokratischen Legitimation steht; denn nur die Direktoriumsmitglieder werden gerade noch einvernehmlich von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt, die restlichen Zentralbankrats-Mitglieder, nämlich die Präsidenten der nationalen Notenbanken, gelangen ohne gemeinschaftliche Legitimation in ihre Amtspositionen. 867 Die persönliche Legitimation der Vertreter im Zentralbankral der Deutschen Bundesbank ist deshalb insofern höher zu werten, als die Direktoriumsmitglieder auf Vorschlag der Bundesregierung, und die weiteren Mitglieder, d.h. die Präsidenten der Landeszentralbanken, auf Vorschlag des Bundesrats ernannt werden. 868 Die Unabhängigkeit der Bundesbank stand aber vor allem immer unter der Letztverantwortung und dem pennanenten Zustimmungsvorbehalt der Legislative, der eine Änderung des Bundesbankgesetzes jederzeit möglich gewesen wäre; denn nach herrschender Meinung verfUgte die Unabhängigkeit der Bundesbank über keinen Verfassungsrang. 869 Auch die 865 V gl. H. Sodan, Die funktionelle Unabhängigkeit der Zentral banken, NJW 1999, S. 1521 ff. (S. 1521); vgl. dazu auch die langwährende Diskussion um die Verfassungsvereinbarkeil der Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank, zuletzt F. BrosiusGersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997; in Kurzform dargelegt bei H. J Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 231 ff.; dort auch Rn. 246. 866 V gl. K. Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, ZRP 1993, S. 98 ff. (S. 102), der die Abgabe der währungspolitischen Hoheitsbefugnisse auf die in solchem Grad unabhängige EZB filr eine "Souveräntäts-Amputation" der Mitgliedstaaten hält, die "an den Nerv der Souveränität geht". 867 "Die nationale Legitimation in einem Mitgliedstaat schaffi nun einmal keine demokratische Legitimation, ein Amt fiir ein anderes Land auszuüben.", so K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, in: FS W. Hankel, 1999, S. 119 ff. (S. 147). 868
§ 7 Abs. 3 und§ 8 Abs. 4 BBankG.
Vgl. BVerwGE 41, 334 (354 ff.); H. J Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 217 f., insb. 244 m.v.N. in Fn. 300; a.A. m.w.N. dort Rn. 218, Fn. 242; das Bundes869
verfassungsgericht sprach in einer Entscheidung aus 1982 zwar von der "verfassungs-
280
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
Erweiterung des Art. 88 GG durch Satz 2 - Übertragung der Aufgaben und Befugnisse der Bundesbank auf die Europäische Zentralbank, "die unabhängig ist ..."- brachte keine verfassungsmäßige Festlegung der Unabhängigkeit der Bundesbank, da die Vorgabe der Unabhängigkeit dort nur filr das europäische Institut als Voraussetzung zur Übertragung von entsprechenden Befugnissen gilt;870 ein Umkehrschluß ist hier gerade aufgrund der unterschiedlichen Legitimationslagen nicht zwingend. 871 Das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich im Maastricht-Urteil mit dem Demokratiedefizit der gemeinsamen Zentralbank und bestätigte es als solches. Die Modifikation des Demokratieprinzips sei an dieser Stelle aber aus sachlichen Gründen unter Hinweis auf die inhaltliche Begrenzung auf die Währungspolitik gerechtfertigt und außerdem in Art. 88 Satz 2 GG vorgesehen. 872 Letztlich wird hier jedoch ein wesentliches Strukturprinzip der Republik, das Demokratieprinzip, mit einer auf wissenschaftliche Theorie, allerdings auch positive Erfahrung gestützten Argumentation elementar untergangen. 873 Entscheidend sind dabei nicht die Unabhängigkeitsfestlerechtlich unabhängigen Stellung", aber lediglich in einem "obiter dictum" (BVerfGE 62, 169 (183)); a.A. auch beiM. Herdegen, Art. 88, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 54; dennoch wurde an der Unabhängigkeit der Bundesbank im Lauf ihrer Geschichte nie ernsthaft gerüttelt; gerade darin kommt der hohe Grad demokratischer Legitimation der Bundesbank zum Ausdruck, den die EZB- mangels leichter Änderbarkeit ihrer Unabhängigkeit -nie in dieser Weise erreichen kann. 870 So aber M. Herdegen, Art. 88, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 55; siehe dazu auch bereits oben 4. Teil, 2. Kap., V., 2., a), dd) ; H. J. Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 318, weisen darauf hin, daß die Voraussetzung lediglich in einer grundsätzlich geklärten Unabhängigkeit, nicht aber in einer bestimmten Subsumtion einzelner Unabhängigkeitsaspekte bestünde; F. Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997, S. 381 f, fiihrt dazu mit eindeutigen Nachweisen aus, daß auch die Begründungen zur Verfassungsänderung klar zu erkennen geben, daß sich diese Vorschrift nur auf die Europäische Zentralbank richtet und "keine Auswirkungen auf die ... Rechtsstellung der Deutschen Bundesbank" (so der Bericht des Sonderausschusses "Europäische Union") habe. 171 Vgl. etwa Th. Weikart, Die Änderung des Bundesbank-Artikels im Grundgesetz im Hinblick auf den Vertrag von Maastricht, NVwZ 1993, S. 834 tf. (S. 840); H. -J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 18, Rn. 86 tf. 872 BVerfGE 89, 155, 207 tf.; dazu auch P. Kirchhof, Die Mitwirkung Deutschlands an der Wirtschafts- und Währungsunion, in: FS F. Klein, 1994, S. 61 tf. (S. 83, 74 f.); auch H. J. Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 343 f; fragwürdigerweise zu positiv zustimmend und den Aspekt der Ranghöhe der Unabhängigkeitsregelung der EZB außer Betracht lassend H. Sodan, Die funktionelle Unabhängigkeit der Zentralbanken, NJW 1999, S. 1521 tf. (S. 1521 ); letzterer unterstützt seine Auffassung zusätzlich noch mit dem Hinweis aufweitgehende Berichtspflichten der EZB, vgl. dort S. 1522, Fn. 15.
873 Vgl. dazu v.a. K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, in: FS W. Hanke!, 1999, S. 119 tf. (S. 144 tf.); ders., Die existentielle Staatlich-
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
281
gungen an sich, die als solche durchaus begründet sind, sondern ihre Ranghöhe, die zusätzlich durch das Erfordernis der Einstimmigkeit der Vertragsänderung gestärkt wird. 874 Mit einigem Abstand betonte der Berichterstatter des Maastricht-Urteils Kirchhof im Hinblick auf die Autonomie der Europäischen Zentralbank dann auch nochmals die absolute Ausnahmehaftigkeit der Formel "geldpolitischer Sachverstand vs. parlamentarische Legitimität''. 875 f) Der Konvergenzstand hinsichtlich des nationalen Zentralbankrechts
in den Mitgliedstaaten Zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Teilnehmerstaaten zum Beginn der Währungsunion erfilllten die Mitgliedstaaten ihre Anpassungspflichten bezüglich des nationalen Zentralbankrechts weitgehend. 876 Ein Ausnahme stellte Schweden dar, das u.a. genau aus mangelnder Entsprechung des nationalen Rechts nicht von Anfang an teilnimmt. 877 Daneben wies die Deutsche Bundesbank noch auf einen gewissen Nachbesserungsbedarf in einigen Ländern hin. 878
keit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff. (S. 130); ders., Die Europäische Union und die Verfassung der Deutschen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/93, S. 3 ff. (S. 9); auch W Nölling. Die Europäische Zentralbank- Machtzentrum oder Spielball der Politik? , in: H.-U. Jörges (Hrsg.): Der Kampf um den Euro. Wie riskant ist die Währungsunion?, 1998, S. 273 (S. 282); skeptisch differenzierend H. J. Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 552. 874 Die Lage stellte sich anders dar, beinhaltetele der Vertrag die Möglichkeit einer Änderung der ESZB-Festlegungen mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit; dazu 5. Teil, 3. Kap., IV. 875 P. Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965 ff. (S. 972). 876 Vgl. Europäische Kommission, Euro 1999- 25. 3. 1998- Bericht über den Konvergenzstand, abgedr. in BTDrs. 13/10250 und in BRDrs. 300/98; auch abgedr. in Europäische Kommission, GD Wirtschaft und Finanzen, Europäische Wirtschaft, Nr. 65 (1998), S. 25 ff. (S. 47 ff.) 877
Vgl. oben Fn. 695.
Vgl. Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. (S. 26). 878
282
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
ßl. Sekundärrechtlich ergänzende Stabilitätsaspekte in der Europäischen Währungsunion Die im letzten Abschnitt beleuchteten primärrechtlichen Aspekte gesamtwirtschaftlicher Stabilität im Zusammenhang mit der Währungsunion werden teilweise sachlich ergänzt von Sekundärrechtsteilen, auf die hier deshalb ebenfalls kurz eingegangen wird. Im Hinblick auf den niedrigeren Rang des Sekundärrechts und die komparative Perspektive dieser Betrachtung bezüglich deutschen Verfassungsrechts und verfassungsähnlichen Primärrechts der Gemeinschaft stellen sie jedoch nur Randaspekte dar, die lediglich die Gesamtlage weiter verdeutlichen. Dazu zählt vor allem der Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie das neue Europäische Wechselkurssystem ("WKM II").
1. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt879 dient der Ergänzung des komplizierten und langwierigen Haushaltsüberwachungsverfahrens des Art. 104 EGV, das eine Reihe von Verzögerungs- und auch Verhinderungsmöglichkeiten birgt. Er bringt diesbezüglich nicht nur eine Vereinfachung und Verkürzung880 dieses Verfahrens, sondern auch seine mögliche Vermeidung durch die zusätzliche Einrichtung eines Frühwarnsystems ftlr sich abzeichnende haushaltswirtschaft879 Vgl. dazu H. J. Hahn, Der Stabilitätspakt filr die Europäische Währungsunion, JZ 1997, S. 1133 ff.; ders., Der Stabilitätspakt filr die Europäische Währungsunion - Das Einhalten der Defizit-Obergrenze als stete Rechtspflicht, Zentrum filr Europäisches Wirtschaftsrecht Nr. 86, 1997; U. Häde, Ein Stabilitätspakt fiir Europa?, EuZW 1996, S. 138 ff.; auch H. J. Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 397 ff.; M Herdegen, Art. 88, in: MaunzJDürig, GG, Rn. 22; M Kuschnik, Die Währungsunion und der Stabilitätspakt von Amsterdam, in: DZWir 1997, S. 315 ff.; D. Blumenwitzl B. Schöbener, Stabilitätspakt fiir Europa. Die Sicherstellung mitgliedstaatlicher Haushaltsdisziplin im Europa- und Völkerrecht, 1997; v.a. Originalschrift der Euro-Klage vom 12. 1. 1998, 0 ., VI., S. 316 ff., sowie W Steuer, Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, in: R. Caesar/H.-E. Scharrer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Regionale und globale Herausforderungen, 1998, S. 87 ff.; H. Siebert, Stabilitätspakt - Die Geldpolitik in der Währungsunion ent-politisieren, WO, 77. Jg. (1997), S. 7 ff.; Euro-Klage 88 ff.; H. Siebert/R. Vaube/IP. Bojinger/R. H. Hasse, Ein Stabilitätspakt filr die Währungsunion, WO, 77. Jg. (1997), S. 7 ff. (Zeitgespräch); Europäische Zentralbank, Die Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, in: Europäische Zentralbank, Monatsbericht Mai 1999, S. 49 ff.
880 Genannt wird hier eine Verkürzung von drei bis vier Jahren im Rahmen des alten Verfahrens gegenüber rund zehn Monaten neuer Verfahrensdauer; vgl. etwa M Kuschnik, Die Währungsunion und der Stabilitätspakt von Amsterdam, in: DZWir 1997, S. 315 ff. (S. 321).
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
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liehe Schieflagen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Zurückzufilhren ist er auf Deutschlands Vorschlag eines "Stabilitätspakts Europa"881 , der -anders, als der Vertrag es regelt- einen Automatismus ft1r Sanktionen882 bei Verfehlung der haushaltspolitischen Vorgaben des Vertrags etablieren sollte, um ein Unterlaufen der Autonomie und Effizienz der Geldpolitik durch Verschuldungspolitik in einzelnen Mitgliedstaaten nach Möglichkeit zu verhindem.883 Nachdem die Regierungskonferenz von Amsterdam sich nicht zu einer entsprechenden Vertragsänderung entscheiden konnte, sollten die vorgeschlagenen Regelungen sekundärrechtlich ergehen. Die Mitgliedstaaten einigten sich schließlich auf den "Stabilitäts- und Wachstumspakt", der auf einer Entschließung des Europäischen Rates sowie zwei Verordnungen des Rates beruht. 884 Mit der Zustimmung zum Stabilitäts- und Wachstumspakt äußerten alle Mitgliedstaaten die jedenfalls grundsätzliche Bereitschaft, ihre Finanzpolitik am mittelfristigen Ziel eines nahezu ausgeglichenen oder sogar einen Überschuß erwirtschaftenden Haushalts auszurichten. 885 Zunächst wird den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Sinne eines Frühwarnsystems die Pflicht zur regelmäßigen Erstellung und Abgabe von Stabilitäts-886 oder Konvergenzpro-
881 Bundesministerium für Finanzen: "Stabilitätspakt Europa - Finanzpolitik in der dritten Stufe der WWU" vom I 0. II. 1995, der auch noch eine Präzisierung der Beitrittskriterien einforderte; dazu V. Häde, Ein Stabilitätspakt für Europa?, EuZW 1996, S. 138 ff. (S. 139 f.). 882 Solche sind in Art. I 04 Abs. 11 EGV vorgesehen; dazu Originalschrift der EuroKlage vom 12. 1. 1998, S. 320 ff. 883
Siehe auch oben 5. Teil, 2. Kap., II., 2., b), bb).
Eine erste Einigung kam aufdem Gipfel von Dublin am 13./14. 12. 1996 zustande; verabschiedet wurde schließlich der Stabilitäts- und Wachstumspakt unter erneuten Einschränkungen gegenüber den Dubliner Vereinbarungen bei der Abschlußverhandlung zur Vertragsrevision in Amsterdam mit der Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 16./17. Juni 1997, ABI. EG 1997 C 236/1; ferner VO EG 1466/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABI. EG 1997 L 209/1 (ergangen auf Grundlage des Art. 103 Abs. 5 EGV a.F.), und VO EG 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABI. EG 1997 L 209/6 (ergangen auf Grundlage des Art. 104c Abs. 14 EGV a.F.); dazu exakter R. Bandilla, Art. l09j EGV, in: Grabitz!Hilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 52 ff.); vgl. vor allem zum politischen Zustandekommen des Pakts W. Hanke/l W. Nölling!K. A. Schachtschneiderl J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 88 ff.; auch H. J. Hahn, Der Stabilitätspakt für die Europäische Währungsunion, JZ 1997, S. 1133 ff. 884
885
Vgl. Ziff. 1 der Entschließung des Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt.
886
Im Falle von Teilnehmerstaaten an der Währungsunion.
284
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
grammen887 mit mittelfristiger Haushaltsplanung auferlegt, filr deren Inhalt und Form ein festgelegter Rahmenstandard existiert888 • Nach Einsichtnahme der Programme und einer möglichen Feststellung von Entwicklungen, die zu Schwierigkeiten bei der Einhaltung des Defizitkriteriums filhren können, gibt der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN) in jedem Fall Empfehlungen fi1r entsprechende Gegenmaßnahmen, die sogenannte Frühwarnung. 889 Im Falle der tatsächlichen Überschreitung der Defizitgrenze von 3 % des Bruttoinlandsprodukts kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit eine unverzinsliche Einlage festsetzen, die sich wiederum nach zwei Jahren zur Geldbuße umwandeln kann, sofern sich die Haushaltslage bis dahin nicht verbessert hat. 890 Für die Defizitüberschreitung können jedoch entlastende Ausnahmen existieren, nämlich der lediglich vorübergehende Charakter der Überschreitung oder deren Begründung mit außergewöhnlichen Umständen oder schwerem Wirtschaftsrückgang, der an der Defizitbezugsgröße Bruttoinlandsprodukt gemessen wird. 891 Ein realer Rückgang von mindestens zwei Prozent rechtfertigt dabei generell ein (unbegrenzt) höheres Defizit892, ein Rückgang zwischen 0,75 % und 2 % kann eine Überschreitung begründen, sofern der Rat unter Begutachtung der Gesamtsituation zu dieser Einschätzung kommt. 893 Ein geringer Rückgang bis 0,75 % dagegen schließt eine Rechtfertigung der Defizitüberschreitung an sich aus; 894 insofern besteht nur filr diesen letzten Bereich eine "Quasiautomatik", da Sanktionen jeder Art ansonsten nach wie vor der diskretionären Entscheidung des Rates bedürfen. Die Nichteinhaltung des zweiten Fiskalkriteriums, des Schuldenstands, wird durch das Sekundärrecht nicht erfaßt. Für
887 Im Falle von Mitgliedstaaten, Art. 122 Abs. 1 EGV gilt.
fiir die eine Ausnahmeregelung gemäß
888 Dazu VO 1466/97, insb. Art. 3; siehe auch den Anhang zur Stellungnahme des ehemaligen Währungsausschusses, abgedr. bei Europäische Zentralbank. Die Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, in: Europäische Zentra1bank, Monatsbericht Mai 1999, S. 49 ff., Anhang, Nr. 7., S. 78. 889
Anders als Art. 99 Abs. 4 EGV, der dies nur als Option bestimmt.
Die beiden ersten Sanktionsmöglichkeiten, die Art. I 04 Abs. II I. und 2. Spstr. EGV noch vorgesehen hat, werden damit übergangen; vgl. H. J. Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 403. 890
891 Art. 2 Abs. 1 der VO 1467/97 konkretisiert den Ausnahmetatsbestand des Art. 104c Abs. 2 lit. a) 2. Spstr. ("ausnahmsweise und vorübergehend überschritten''). 892 Insofern ist durchaus ein Automatismus gegeben, nicht aber fiir eine Sanktion, sondern fiir die Exkulpation. 893
Art. 2 Abs. 2 und 3 der VO 1467/97.
Ziff. 7 der Entschließung des Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, die Bezug auf Art. 2 Abs. 3 der VO 1467/97 nimmt und diesen damit relativiert. 894
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
285
ihren - filr viele Länder sehr zutreffenden - Fall gilt weiterhin ausschließlich das primärrechtliche Verfahren des Art. 104 EGV. Der Ausgestaltung dieser Gesamtvereinbarung werden etliche Kritikpunkte entgegengebracht. Zunächst richtet sich die Hauptargumentation aus wirtschafts-und institutionellpolitischer Sicht gegen die- im deutschen Vorschlag ja gerade ausgeschlossene - Politisierung durch die Verfahrenslösung, die einen mit qualifizierter Mehrheit zustandegekommenen Beschluß des Rates notwendig macht, in dem schließlich gerade auch diejenigen vertreten sind, die das jeweilige Defizit und mögliche zukünftige Defizite in anderen Ländern zu vertreten haben. 895 Die immerhin verbleibende Quasiautomatik filr Sanktionen bei Überschreitungen des 3 %-Defizits im Falle des untersten Rückgangsbereich des Bruttoinlandsprodukts ist zudem - darauf weist Vaubel hin, der auch die Reglementierung der Einlagenhöhe als nicht ausreichend zugkräftig betrachtet - nicht in der einschlägigen allgemeinverbindlichen Verordnung, sondern lediglich der unverbindlichen Entschließung des Europäischen Rates enthalten. 896 Eine Reihe weiterer Aspekte, die dem Stabilitätspakt noch mehr direkte Durchzugskraft nehmen, fUhrt Steuer sehr differenziert auf. 897 Neben diesen Gesichtspunkten, die in Positionen genannt werden, die immerhin grundsätzlich filr eine solche Einrichtung plädieren, wird deutliche Kritik aber insofern geübt, als der Stabilitäts- und Wachstumspakt als Vereinbarung, die die Disziplinierung der mitgliedstaatliehen Haushaltspolitik forciert, offensichtlich ohnehin vorhandene fiskalische Probleme noch verschärfen würde. 898 "In der Tat mutet 895 Vgl. H. Siebert, Stabilitätspakt- Die Geldpolitik in der Währungsunion ent-politisieren, WD, 77. Jg. (1997), S. 7 ff. (S. 9); "zahnlos" sei das Ergebnis von Dublin deshalb gegenüber dem deutschen Vorschlag, so N. Berthold, Arbeitslosigkeit, Sozialstaat und Europäische Währungsunion: Eine etwas andere Sicht, in: R. H. Hasse/ W. Schäfer(Hrsg.): Die ökonomischen Außenbeziehungen der EWU, 1998, S. 297 ff. (S. 302); "Dem Stabilitätspakt fehlt es damit an ... Biß, ..."meint W. Steuer, Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, in: R. Caesar/H.-E. Scharrer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Regionale und globale Herausforderungen, 1998, S. 87 ff. (S. 93); H. D. Barbier, Sünder über Sünder, in: FAZ vom 17. 10. 1996. 896
Vgl. R. Vaubel, Kein Pakt filr Preisstabilität, WD, 77. Jg. (1997), S. 10 ff. (S. 10).
Vgl. W. Steuer, Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, in: R. Caesar/ H.-E. Scharrer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Regionale und globale Herausforderungen, 1998, S. 87 ff. (S. 94 ff.), im Ergebnis (S. 101): "Nach der Lage der Dinge dürfte kaumjemals eine Geldbuße verhängt werden." 897
898 Vgl. P. Bofinger, Disziplinierung der öffentlichen Haushalte durch den Marktnicht durch starre Regeln oder Bürokraten, WD, 77. Jg. (1997), S. 12 ff. (S. 13); Die Krise der europäischen Währungsintegration: Ursachen und Lösungsansätze, WD, 76. Jg. (1996), S. 30 ff. (S. 32); Wirtschaftspolitisches Forum: Erfolgsbedingungen filr die Europäische Währungsunion, ZfW, J g. 4 7 (1998), S. 336 ff. (S. 342 f. ), insg. analog zu seiner Antiposition bezüglich der Fiskalkriterien im Konvergenzkatalog.
286
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
die Vorstellung, Mitglieder der Währungsunion, die sich wegen Mittelknappheit stärker als erlaubt verschulden, zu einer zusätzlichen Kreditaufnahme zu zwingen, um sie auf einem EU-Sonderkonto zu hinterlegen, geradezu tollkühn an." 899 Aus Sicht der Public-Choice-Theoretiker wird zudem ein Ansatz direkt an der währungspolitischen Steuerungsstelle-der Europäischen Zentralbankft1r effektiver und wesentlich bedeutsamer gehalten als der Versuch lediglich mittelbarer und theoretisch nicht ausreichend fundierter Absicherung der Preisstabilität durch die Disziplinierung der Fiskalpolitik.900 Von rechtlicher Seite aus wäre ein jedenfalls vollständiger Automatismus von Sanktionen nicht haltbar, da der Vertrag in Art. 104 EGV ja bereits eine adäquate Regelung vorsieht. Die Änderung dieser Regel stellt faktisch eine Vertragsänderung und -erweiterung dar, die aber nur im Weg des Verfahrens des Art. 48 EUV herbeigeführt werden darf. 901 Zudem bestand und besteht auch über die Eignung der vermeintlichen Rechtsgrundlagen sowohl ft1r die zugrundeliegende Entschließung des Europäischen Rats als auch besonders über die Heranziehung von Art. 104 Abs. 14 EGV (Art. 104c Abs. 14 EGV a.F.) ft1r die Verordnung 1467/97 keine Einigkeit902 • Dabei bleibt zu berücksichtigen, daß der Stabilitäts- und Wachstumspakt mit dem jeweiligen Staatshaushalt eine wesentliche Quelle der Staatlichkeil der Teilnehmerländer betrifft, derer der einzelne Staat zur ErfUllung seiner bei ihm verbleibenden hoheitlichen Aufgaben bedarf.
899 Einräumend W. Hanke/lW. Nölling!K. A. Schachtschneider!J. Starbatty, Die EuroKlage, 1998, S. 90 f. 900 Vgl. R. Vaubel, Kein Pakt für Preisstabilität, WD, 77. Jg. (1997), S. 10 ff. (S. 11 f.) m.w.N., der einen "geldpolitischen Stabilitätspak.t" vorziehen würde, welcher orientiert am Beispiel der Zentralbank von Neuseeland am Erfolg der Zentralbank(mitglieder) anknüpft; zu Alternativen zum Stabilitätspakt v.a. auch R. H. Hasse, Alternativen zum Stabilitätspakt von Dublin, WD, 77. Jg. (1997), S. 15 ff. m.w.N., der aber zunächst noch an der Härtung der Defizitdisziplin ansetzt und diese mit einem geldpolitischen Stabilitätspakt zu ergänzen erwägt.
901 Vgl. M. Kuschnik, Die Währungsunion und der Stabilitätspakt von Amsterdam, in: DZWir 1997, S. 315 ff. (S. 321 ); W. Hanke/l W. Nölling!K. A. Schachtschneiderl J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 212, Fn. 316, sowie Originalschrift der EuroKlage vom 12. 1. 1998, S. 316 ff., 320; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Grundgesetzliche Rechtsprobleme der europäischen Währungsunion, DSWR 1997, S. 172 ff. (S. 172); U. Häde, Ein Stabilitätspakt filr Europa?, EuZW 1996, S. 138 ff. (S. 142). 902 Vgl. etwa M. Seidel, Rechtliche und politische Probleme beim Übergang in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: H.-H. Francke!E. Ketzei/1-1.-H. Kotz (Hrsg.): Europäische Währungsunion. Von der Konzeption zur Gestaltung, 1998, S. 163 ff. (S. 177); Originalschrift der Euro-Klage vom 12. 1. 1998, S. 316 ff., 323 f.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
287
Hinsichtlich der Intension des Stabilitätspakts ist mit Blick auf die Frage der gesamtwirtschaftlichen Orientierung der Gemeinschaft abermalig die Sicherung der Preisstabilität zu nennen, die hier sekundärrechtlich durch die Disziplinierung der Staatsbudgets unterstUtzt werden soll.
2. Der neue Europäische Wechselkursmechanismus Während der Stabilitäts- und Wachstumspakt am "übermäßigen Defizit" ansetzt und letztlich auch seiner Konkretisierung und der Vorbereitung seiner Erftlllung als Konvergenzkriterium im Hinblick auf Beitritte weiterer Staaten dient, knüpft die Erneuerung des Europäischen Währungssystems 903 am Wechselkurskriterium an, das die Exisitenz eines Wechselkursmechanismus sowie die Teilnahme an diesem System unter Einhaltung der normalen Bandbreiten voraussetzt. Der EG-Vertrag enthält allerdings - angesichts des Wechselkurskriteriums inkonsistenter Weise- keine Rechtsgrundlage tur die EinfUhrung eines neuen gemeinschaftsinternen Wechselkurssystems, das mit Beginn der Währungsunion aufgrund des Wegfalls der Währungen der Teilnehmerländer und der zwangsweisen Aufgabe des alten Europäischen Währungssystems notwendig wurde. Hierftlr hätte allenfalls Art. 308 EGV (Art. 235 EGV a.F.) in Anspruch genommen werden können. 904 Wie beim Stabilitätspakt erfolgte die Weichenstellung bereits 1996 mit einer Vorvereinbarung, die letztlich in die "Entschließung des Europäischen Rates über die Einftlhrung eines Wechselkursmechanismus in der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion"905 im
903 Vgl. Europäische Zentra/bank, Jahresbericht 1998, S. 75 f.; Deutsche Bundesbank, Die techhische Ausgestaltung des neuen europäischen Wechselkursmechanismus, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 1998, S. 19 ff.; J. Schiemann, Der
neue Europäische Wechselkursmechanismus: Währungsbeziehungen zwischen Ins, PreIns und Outs, in: R. Caesar!H.-E. Scharrer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Regionale und globale Herausforderungen, 1998, S. 293 ff.; Ch. Randzio-P/ath, Europäische Währungsunion - Erosionsvehikel oder Gestaltungsfaktor, WSI Mitteilungen 1997, S. 328 ff. (S. 333 ff.); auch H. J Hahn/U. Häde, Art. 88, in: BK, GG, Rn. 470 ff.; U. Häde, Währungsintegration mit abgestufter Geschwindigkeit, in: FS H. J. Hahn, 1997, S. 141 ff. (S. 152 ff.); recht früh mit entsprechenden Überlegungen M. J M. Neumann, Eine Währungsbrücke vom Kern zum Rand, in: FAZ vom 7. 9. 1996, S. 17.
904 Vgl. U. Häde, Währungsintegration mit abgestufter Geschwindigkeit, in: FS H. J. Hahn, 1997, S. 141 ff. (S. 152 ff.).
905
ABI. EG 1997 C 236/5 vom 16. Juni 1997.
288
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip filr die EWWU
Juni 1997 mündete. Die wesentlichen Inhalte des neuen Wechselkursmechanismus wurden in einem Abkommen zwischen der Europäischen Zentralbank und den nationalen Zentralbanken der nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten vom 1. 9. 1998906 festgelegt, dem der Rat zugestimmt hat. Mit dem Ablauf des alten Europäischen Währungssystems zu Beginn der Währungsunion zum 1. 1. 1999 trat der neue Wechselkursmechanismus in Kraft. Die Teilnahme ist analog der Regelung des Vorläufers grundsätzlich freiwillig, sie gilt im Hinblick auf das Wechselkurskriterium jedoch als obligatorisch.907 Während das Vereinigte Königreich und Schweden noch nicht teilnehmen, erklärten Dänemark und Griechenland ihren Beitritt von Beginn an. 908 Die Funktionsweise des neuen Wechselkursmechanismus gleicht der des alten Systems, etwaige Schwächen wurden aber versucht zu korrigieren. Die Paritäten sind nunmehr zwischen der jeweiligen mitgliedstaatliehen Währung und dem Euro festgelegt, die Bandbreiten bewegen sich im Normalfall bei +/- 15 % 909, die Interventionspflicht am Randbereich der Bandbreiten ist bilateral, trifft also die jeweilige nationale Zentralbank als auch die Europäische Zentralbank, sofern das Ziel der Preisstabilität dadurch nicht in Geilihrdung gerät. Die betroffenen Zentralbanken, d.h. insbesondere auch die Europäische Zentralbank, können im letzten Fall ihrerseits Interventionen aussetzen und gleichzeitig die Initiative zu Leitkursänderungen ergreifen910, deren Beschluß aber ebenso wie eine Veränderung der Bandbreiten wiederum Einvernehmlichkeit der Regierungen der Teilnehmerländer an Währungsunion und Wechselkursmechanismus verlangt. Für die Finanzierung obligatorischer und nach wie vor möglicher fakultativer Interventionen können die betroffenen Notenbanken wie bisher auf kurzfristige Interventionskredite bei anderen Zentralhanken zurückgreifen. Als Abstimmungsorgan zwischen Teilnehmern an der Währungsunion und noch nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten dient der "Er-
906
ABI. EG 1998 C 345/6.
907
Siehe oben 5. Teil, 2. Kap., II., 2., b), bb).
908 Dazu etwa Deutsche Bundesbank, Der Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Januar 1999, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Januar 1999, S. 19 (S. 28).
909 Festlegungen von engeren Bandbreiten sind möglich, sofern der Konvergenzstand dies erlaubt; fUr die dänische Krone wurde auf der Sitzung des Rates der Finanzminister und des Erweiterten Rates der EZB in Wien am 27. 9. 1998 ein engerer Korridor von +I- 2,5 % vereinbart.
910 Im alten Wechselkurssystem lag das Initiativrecht filr Paritätenänderungen ausschließlich bei den jeweiligen Regierungen.
2. Kap.: Positive "Stabilitäts"-Regelungen in der Europäischen Union
289
weiterte Rat", dessen Arbeit im Rahmen des Ausschusses der Präsidenten der nationalen Zentralbanken fortgesetzt wird. 911 Der neue Wechselkursmechanismus hilft vor allem, die dem einheitlichen Währungsgebiet nicht angehörenden Länder an die Währungsunion heranzuftlhren - er ist "eine zeitlich befristete Durchgangsstufe, die in das Euroland ftlhren soll"912 -, da er bereits im Vorfeld des Beitritts die Anpassung der nationalen Geldpolitik an die der Europäischen Zentralbank erfordert.913 Er erleichtert damit dem einzelnen Mitgliedstaat den Konvergenzprozeß und somit die Erftlllung der Konvergenzkriterien, sichert aber weiterhin gleichzeitig die bestehende Währungsunion vor Unruhen durch einen neuen Beitritt ab. Die oben diskutierte Frage, ob ftlr das Wechselkurskriterium die alten oder neuen Bandbreiten entscheidend sind, wird indes nicht mehr gestellt. Dahinter steht vermutlich die Auffassung, mit der Neubestimmung des Wechselkursmechanismus und seinen jetzigen 15 %-Bandbreiten sei eine besser qualifizierte Willensäußerung der Mitgliedstaaten zustandegekommen als durch die damalige, ja an sich lediglich vorübergehende Heraufsetzung der Bandbreiten von +/- 2,25 % auf +/-15 %. Fraglich ist diese Sichtweise im Hinblick auf die Vertragsintension dennoch weiterhin. MJ.M Neumann schlug deshalb auch im Jahr 1996 max. Bandbreiten von 4,5% ftlr die Erftlllung des Wechselkurskriteriums vor. 914
911 Vgl. Art. 121 Abs. 3 EGV; Art. 45 des 3. Protokolls; dazu U. Häde, Währungs· integration mit abgestufter Geschwindigkeit, in: FS H. J. Hahn, 1997, S. 141 ff. (S. 149 f.).
912 J Schiemann, Der neue Europäische Wechselkursmechanismus: Währungsbeziehungen zwischen Ins, Pre-lns und Outs, in: R. Caesar/H.-E. Scharrer (Hrsg.): Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Regionale und globale Herausforderungen, 1998, S. 293 ff. (S. 301). 913 Vgl. B. Duijm!B. Herz, Das EWS II - ein Europäisches System Woods?, WO, 76. Jg. (1996), S. 233 ff.
a Ia
Bretton
914 Vgl. M J. M Neumann, Eine Währungsbrücke vom Kern zum Rand, in: FAZ vom 7. 9. 1996, s. 17.
19 Hänsch
290
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
Drittes Kapitel
Das Verfassungsprinzip "Gesamtwirtschaftliche Stabilität" und die Regelung wirtschaftlicher Stabilität im Gemeinschaftsrecht I. Zusammenfassung des ersten und zweiten Kapitels im Hinblick auf die ökonomischen Imperative des sozialen Stabilitätsprinzips Die vorausgehenden Darstellungen machten den Facettenreichtum deutlich, in der sich das Gemeinschaftsrecht der "Stabilität" annimmt. Dabei sind nicht nur Unterschiede in der Plazierung einzelner Aspekte in den Rechtstexten, sondern vor allem auch die Wahl der Termini sowie deren funktionale Zusammenhänge zu berücksichtigen gewesen. Der Fokus auf die ökonomischen Imperative des Prinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität und die anschließenden Betrachtungen, die sich mit der Frage der Übereinstimmung nationalen Verfassungsrechts und dem Gemeinschaftsrecht befassen, erfordern deshalb zunächst eine Zusammenfassung.
I. Zielsetzungen
a) Übergreifende Zielsetzungen im EU-Vertrag Der EU-Vertrag setzt als politischer Rahmenvertrag übergreifende Ziele der Europäischen Union. 915 Seine Präambel in alter wie neuer Fassung äußert mit Blick auf die Wirtschafts- und Währungsunion die Absicht einer "stabilen Währung" als Ziel, die in Abgrenzung zum Begriff der Preisniveaustabilität sowohl Binnen- als auch Außenwert des gemeinsamen Geldes erfaßt. Der Aspekt der Währungsstabilität wird in Art. 2 EUV, der explizit die Ziele der Union aufzählt, anders als das Beschäftigungsziel nicht erwähnt, das mit der Amsterdamer Vertragsrevision neu in diesen Katalog aufgenommen wurde. Des weiteren sprach bereits die Maastrichter Version dort und in der Präambel von der "Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts" und integriert damit in Verbindung mit dem in Amsterdam sowohl in Präambel als auch Art. 2/Art. B neu eingeftlgten Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit den Gedanken angemessenen und stetigen Wachstums. Während Beschäftigung ausdrücklich 915
Siehe dazu oben 5. Teil, 2. Kap., I., I.
3. Kap.: Stabilitätsprinzip und die Regelung im Gemeinschaftsrecht
291
und Wachstum als Ausprägung des Fortschritts klar in die Reihe der vorgegebenen Ziele des EU-Vertrags gehören, erfllhrt der Aspekt der Preisniveaustabilität eine Sonderstellung, da er lediglich als Absichtserklärung in der Präambel und dort zudem gleichrangig neben seinem Pendant "Außenwert" steht. b) Übergreifende Zielsetzungen im EG-Vertrag Die übergreifenden Zielsetzungen des EG-Vertrags916 sind aus der Tradition des ursprünglich auf den wirtschaftlichen Bereich abstellenden sektoriellen EWG-Vertrags heraus deutlicher an ökonomischen Aspekten orientiert. Die diesbezüglich allerdings noch weniger greifbare Präambel, die von Maastricht auf Amsterdam in den relevanten Punkten nicht verändert wurde, bezieht abermals über den Fortschrittsgedanken das Wachstum mit ein. Das Beschäftigungsziel kommt nur indirekt und insofern zum Tragen, als die Steigerung der Beschäftigung zur Besserung der "Lebens- und Beschäftigungsbedingungen", die auch enger verstanden werden könnten, zu zählen ist. Der sich bestimmterer Termini bedienende Art. 2 EGV verpflichtet die Gemeinschaft explizit auf die Ziele "hohes Beschäftigungsniveau" sowie "beständiges, nichtinflationäres Wachstum"917, wobei die Reihenfolge der Nennung bei Gleichwertigkeit der Ziele nicht mit einer Rangfolge korrespondiert918. Auch hier ist - wie bereits filr den EU-Vertrag - festzustellen, daß Preisstabilität nicht als allgemeines Ziel formuliert ist und insofern eine andere Position innehat als Beschäftigung und Wachstum; ihre "Hineinlesung" in die Wachstums-Qualifikation "nichtinflationär'' kann nicht überzeugen, jedenfalls aber keine Gleichrangigkeit der Zielsetzungen ableiten.
c) Politikbereichsspezifische Zielsetzungen im EG-Vertrag Wenngleich in den allgemeinen Grundsatzteil des Vertrags eingebunden, formuliert Art. 4 EGV spezifische Zielsetzungen filr die Wirtschafts- und Währungsunion und somit die Wirtschafts- und Währungspolitik der Gemeinschaft sowie der Mitgliedstaaten. Während die Wirtschaftspolitik in Absatz I dabei nicht defmierten, noch festzulegenden gemeinsamen Zielen unterstellt wird, gilt filr die Währungspolitik gemäß Absatz 2 der eindeutige Zielvorrang der Preis916
Siehe dazu 5. Teil, 2. Kap., 1., 2., a).
917
In Art. 2 EGV a.F. noch "umweltverträgliches".
918 Dennoch dürfte anzunehmen sein, daß den vertragsändernden Parteien bei dieser Umgruppierung nicht nur eine textästhetische Motivation zugrundelag und damit zumindest politische Prioritäten zum Ausdruck kommen.
)9•
292
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip filr die EWWU
Stabilität. Preisstabilität wird an dieser Stelle überhaupt erstmalig im Vertrag genannt. Die Mitgliedstaaten werden in ihrer Wirtschaftspolitik später in Art. 98 Satz 1 EGV wiederum zum Beitrag zu den allgemeinen Zielen des Art. 2 EGV verpflichtet, filr die vom Europäischen Zentralbanksystem betriebene Währungspolitik der Gemeinschaft gilt analog zu Art. 4 Abs. 2 EGV der Vorrang des Preisstabilitätsziels vor anderen Elementen des Artikels 2. Für die vergemeinschaftete Währungspolitik- und nur filr sie- gibt es damit eine eindeutige und mit Vorrang versehene Zielsetzung "Preisstabilität", die vor den gesamten Kreis der allgemeinen Gemeinschaftsziele aus Artikel 2 gestellt oder- sofern man aus "nichtinflationär" Eigenständigkeit als Ziel ableiten mag -jedenfalls aus diesem Kreis in besonderer Weise herausgehoben wird. Für die sonstige Wirtschaftspolitik, die grundsätzlich im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten verbleiben soll, gibt es im Gegensatz zu der Lage im damaligen EWG-Vertrag keine spezifische Zielsetzung, sondern lediglich die Bindung an den allgemeinen Zielkatalog des Artikel 2. Der vertragliche Verzicht auf sektorspezifische Zielsetzungen filr die Wirtschaftspolitik scheint bewußt zu sein, da Art. 104 EWGV dem einzelnen Mitgliedstaat ja mit hohem Beschäftigungsstand, stabilem Preisniveau, Gesamtzahlungsbilanzgleichgewicht und Vertrauen in die Währung noch solche vorga_b919 und deren Beibehaltung durchaus denkbar gewesen wäre. Aus dem alten Katalog des Art. 104 EWGV hielt schließlich nur noch die Beschäftigung, die mit dem Maastricht-Vertrag in Artikel 2 aufgenommen wurde, Bestand als übergreifende Zielsetzung. Wachstum gehörte ohnehin bereits zum Katalog des Artikels 2. Preisstabilität verlor dagegen den Charakter als allgemeines Ziel, wurde zur vorrangigen Zielgröße lediglich der Währungspolitik sowie zum wirtschafts-und währungspolitischen Grundsatz gemäß Art. 4 Abs. 3 EGV; das außenwirtschaftliche Gleichgewicht, ausgedrückt als "dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz", wurde sogar ganz zu einem solchen Grundsatz - so hat es zunächst den Anschein - "degradiert''.920 Ergänzend ist noch der neue Vertragstitel der Beschäftigungspolitik im Auge zu behalten, der das in Art. 2 EGV bereits enthaltene Beschäftigungsziel be919
Siehe oben 5. Teil, 2. Kap., 1., 2., c).
Insofern ist die Feststellung von U. Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, S. 154: "Hinzu kommt, daß der Vertrag Ober die Europäische Union das magische Viereck des Art. 104 EWGV auflöst, indem er fiir die Wirtschaftspolitik einen ausdrUckliehen Schwerpunkt auf die Preisstabilität legt und die verbleibenden Teilziele als lediglich erstrebenswerte Zielbestimmungen in Art. 2 EGV auffilhrt." nur teilweise richtig. 920
3. Kap.: Stabilitätsprinzip und die Regelung im Gemeinschaftsrecht
293
kräftigt. 921 Er verleiht dem Beschäftigungsziel nicht nur besonderen Stellenwert ftlr den engen Bereich der Beschäftigungspolitik selbst, sondern definiert es nochmals als Ziel aller Gemeinschaftspolitiken und stärkt damit politisch seine Position gegenüber den anderen Zielen des Art. 2 EGV n.F. Alles in allem bleibt festzuhalten: Die ökonomischen Zielparameter der Gemeinschaft werden vom Beschäftigungsaspekt und, allerdings augenscheinlich eher nachrangig, vom Wachstumsaspekt dominiert. Als Zielsetzung bleibt Preisstabilität - nicht nur im Hinblick auf ihren Vorrang, sondern generell beschränkt auf den währungspolitischen Bereich.
2. Der operative Grundsatz der Preisstabilität
a) Preisstabilität als dominierender Grundsatz Der Vertrag unterscheidet jedoch zwischen den Zielen, die übergreifend in Art. 2 und teils politikspezifisch in den jeweiligen Vertragsteilen festgehalten sind, und Grundsätzen, die namentlich vor allem Art. 4 EGV bestimmt. Diese - allein aus den Begriffen naheliegende - Unterscheidung ist schon diesem Artikel selbst zu entnehmen, aber auch Art. 98 EGV sowie Art. 105 EGV, die allesamt explizit den Zielen die Grundsätze gegenüberstellen. Zu diesen Grundsätzen gehört zum einen der der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, der allerdings unter dem Effizienzvorbehalt steht und somit nicht absolut fixiert ist. 922 Anders dagegen die in den Zielsetzungen vernachlässigte Preisstabilität Sie ist, wie sich vor allem durch die übrigen Vertragsteile zeigt, dominanter Aspekt der "richtungweisenden Grundsätze" des Art. 4 Abs. 3 EGV.923 Diese Grundsätze gelten mit Blick auf den Artikeltitel sowie die Bezugnahme in Art. 98 EGV sowie Art. 105 EGV nicht nur fllr die Währungspolitik, sondern auch ftlr die Wirtschaftspolitik. Ist Preisstabilität als Zielsetzung noch ausschließlich ftlr die Währungspolitik geltend, betriffi der Grundsatz der Preisstabilität offensichtlich auch die Wirtschaftspolitik. Der Grundsatz entfaltet dabei als operative, instrumentale Leitlinie höhere Wirksamkeit als ein Ziel, das ein reines Optimierungsgebot, eine Bemühungsformel darstellt, weswegen auch das Ziel "Wachstum" durch seine Qualifizierung "nichtinflationär" in besonderer Weise an den Grundsatz gebunden wird. Diese Differenzierung wird häufig außer acht gelassen, wenn gemeinhin vom allgemeinen Vorrang 921
Siehe dazu oben 5. Teil, 2. Kap., 1., 2., b), cc).
922
Dazu oben 5. Teil, l. Kap., I.
923
Siehe 5. Teil, 2. Kap., 1., 2., b), i).
294
5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip für die EWWU
der Preisstabilität im Gemeinschaftsrecht die Rede ist. 924 Preisstabilität ist kein allgemeines Ziel, sondern allgemeiner operativer Grundsatz mit instrumentalem Charakter. Dem operativen Grundsatz der Preisstabilität entsprechen schließlich auch alle weiteren Regelungen im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik, von denen die der Konvergenzkriterien sowie die des Europäischen Zentralbanksystems wesentlich sind; seine Dominanz wird an der Tatsache ersichtlich, daß im Gegensatz zu den anderen Grundsatzelementen des Art. 4 Abs. 3 EGV -"gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen", "dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz" - immer wieder die Preisstabilität als entscheidendes oder einschränkendes Kriterium fungiert.
b) Ausrichtung der Konvergenzkriterien am operativen Grundsatz der Preisstabilität So orientieren sich Konvergenzkriterien925, die monetäre und fiskale Gesichtspunkte umfassen, realwirtschaftliche Größen aber ignorieren, als Mindestpararneter ftlr einen Minimalkonvergenzstand nicht etwa an den wirtschaftlichen Zielsetzungen des Art. 2 EGV, sondern eben nahezu ausschließlich an der Preisstabilität Nur sie ist eigens als Konvergenzkriterium formuliert; von größerer Bedeutung erwiesen sich daneben - besonders politisch - noch die beiden Fiskalkriterien, denen es selbst an jeglichem Zielcharakter fehlt und die wiederum (nur) den Grundsatz der Preisstabilität instrumental stützen. Weder das Wechselkurs- noch das Zinskriterium konnten realwirtschaftliche Aspekte integrieren, da sie wesentlich von den Erwartungshaltungen zur Teilnahme, in der Endphase aber sicher nicht mehr von realwirtschaftlichen Gegebenheiten beeinflußt waren und die Zinsfrage ohnehin an das Preisstabilitätskriterium gekoppelt ist. Die Konvergenzkriterien wurden trotz ihrer Verbindlichkeit als "BemUhungsparagraph" (Scholz) oder bloße ,,Zielgrößen" (Stern) bezeichnet, was im Hinblick auf ihre beschränkte Wirksamkeit - sie sind lediglich als Argumentationskatalog ftlr die Entscheidung Uber die Währungsunion und in weiteren Grenzen wirksam - letztlich auch richtig war. Gerade wegen dieses Zielcharakters hätte flir die Konvergenzkriterien aber eine größere Analogie zu der Gesamtheit der wirtschaftlichen Ziele hergestellt werden müssen, zumal 924 So etwa G. Nicolaysen, Rechtsfragen der Währungsunion, erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin arn 17. 2. 1993, 1993, S. 40: "Vorrang der Preisstabilität ... , und das bedeutet Vorrang vor allen anderen Wirtschafts-, sozial- und allgemeinpolitischen Zielen." (Hervorh.i.Orig.). 925
Siehe oben 5. Teil, 2. Kap., II., 2.
3. Kap.: Stabilitätsprinzip und die Regelung im Gemeinschaftsrecht
295
zumindest die Theorie optimaler Währungsräume dies auch unter wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen fordert und keine andere nationalökonomische Theorie eine breitere Zielbasis ablehnen würde. Im übrigen ist insofern auch zweifelhaft, ob die Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Konvergenz der Mitgliedstaaten - ihr dienen die Konvergenzkriterien - überhaupt sinnvoll an einem operativen Grundsatz anstelle an übergelagerten Zielerreichungsgraden ausgerichtet sein kann.
c) Ausrichtung der Zentralbankvorschriften am operativen Grundsatz der Preisstabilität Nur filr die Währungspolitik und das sie ausruhrende Europäische Zentralbanksystem fungiert Preisstabilität als Zielsetzung und ist zudem dort mit Vorrang ausgestattet; 926 Art. 105 Abs. I EGV spricht in Satz 1 ausdrücklich von "Das vorrangige Ziel ..." und verweist gleichzeitig in Satz 2 auf die Grundsätze des Artikel 4. Dies bedeutet, die Europäische Zentralbank und die nationalen Notenbanken verfolgen nicht nur das Ziel der Preisstabilität, sondern sind auch noch an den ihr Handeln permanent begleitenden Grundsatz der Preisstabilität gebunden. Verfassungsähnlich ist diese Verpflichtung in Verbindung mit der in jederlei Hinsicht sehr weit gestalteten Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank im Vertrag festgeschrieben. Selbst das Hauptargument filr eine etwaige faktische Einschränkung ihrer Unabhängigkeit - die grundsätzlich beim Rat liegende Kompetenz zur Außenwährungspolitik - muß einen "mit dem Ziel der Preisstabilität im Einklang stehenden Konsens" anstreben. Zugunsten der überragenden Bedeutung der Preisstabilität fllr die Zentralbank hat das Bundesverfassungsgericht sogar das durch die verfassungsähnlich fixierte Unabhängigkeit begründete schwerwiegende demokratische Defizit der Europäischen Zentralbank filr verfassungszulässig befunden.
d) Ausrichtung des Sekundärrechts am operativen Grundsatz der Preisstabilität Nicht nur das Primärrecht, sondern auch das Sekundärrecht folgt dem rigiden Grundsatz "Preisstabilität" . Die im Hinblick auf die Rechtsgrundlage und vertragliche Vereinbarkeit als kritisch zu erachtende Ergänzung des Haushaltsüberwachungsverfahrens des Art. 104 EGV durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt927 dient letztlich vorwiegend zur Absicherung des geldpolitischen 926
Siehe dazu 5. Teil, 2. Kap., I., 2., b) bb) sowie 5. Teil, 2. Kap., II., 3., b).
927
Hierzu oben 5. Teil, 2. Kap., III., I.
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
Ziels und Grundsatzes der Preisstabilität Daß eine disziplinierte Haushaltspolitik auch von der Preisstabilität losgelöste Vorteile zugunsten anderer ökonomischer Zielgrößen entwickeln kann, war jedenfalls nicht Mittelpunkt der Motivation. Auch das neu gegründete Wechselkurssystem 928 berücksichtigt den Grundsatz der Preisstabilität, indem es bei deren abzusehender Geflihrdung die Interventionspflichten an den Randwerten der Bandbreiten aussetzt.
II. Verlorene Zielkongruenz zwischen deutschem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht Fraglich ist, ob und inwieweit sich diese gemeinschaftsrechtliche Lage mit dem Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität vereinbaren läßt, das schon aus dem Sozialprinzip hervorgeht und sich wesentlich über das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht des Art. 109 Abs. 2 GG i.V.m. § I Satz 2 StWG materialisiert und dort seine ökonomischen Imperative findet. Art. 23 Abs. 1 GG bindet die Beteiligung Deutschlands an der europäischen Integration und damit auch an der Währungsunion ausdrücklich an das Sozialprinzip und über dieses an Art. 109 GG. 929 Obwohl dies sich schon aus der Verfassung ergibt, wiederholt Art. 2 des Gesetzes zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union (VertragsG)930 in bezugauf etwaige Haushaltsverpflichtungen nochmals die Bindung Deutschlands an die Vorgaben des Art. 109 Abs. 2 GG931 : "Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 104c des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft sind in den Haushalten von Bund und Ländern unter Beachtung des Artikel
928
Oben 5. Teil, 2. Kap., III., 2.
Vgl. dies bestätigend K. Vogei/Ch. Waldhoff Vorbem. zu Art. l04a-115, in: BK, GG, Rn. 661; auch R. Scholz, Art. 23, in: Maunz/Dürig, GG, Rn. 21, der darauf hinweist, daß Art. 23 die Bindung auch Art. I 09 beinhaltet, wenngleich dies nicht wörtlich zu entnehmen ist; er stellt dabei allerdings wohl nur auf den Aspekt der Preisstabilität ab und macht die Übereinstimmung (mit dem BVerfG) von der Erftlllung der Konvergenzkriterien abhängig: "Wenn die - stabilitätsvermittelnden - "Konvergenzkriterien" aber in der weiteren Entwicklung (beliebig) aufgeweicht oder in Frage gestellt werden sollten, könnte sich doch bzw. nachträglich die Frage der Vereinbarkelt mit Art. 109 GG stellen." 929
930
BGBI. I 1992, S. 251.
So auch K. Voge/!Ch. Waldhoff Vorbem. zu Art. 104a-115, in: BK, GG, Rn. 661: Art. 2 VertragsG hätte aber "nur deklaratorischen Charakter, denn was dort ausgefiihrt ist, gilt ohnehin."; U. Häde, Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und europäische Haushaltsdisziplin, JZ 1997, S. 269 ff. (S. 271). 931
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109 Abs. 1 des Grundgesetzes und gemäß der ihnen nach Artikel 109 Abs. 2 des Grundgesetzes obliegenden Berücksichtigung der Erfordernisse des gesamtwinschaftlichen Gleichgewichts auf der Grundlage einer Abstimmung zwischen Bund und Ländern zu erfüllen."
Übereinstimmung ist insoweit herzustellen, als hier wie dort Beschäftigung und Wachstum elementare wirtschaftliche Ziele darstellen. Nur wenn man in dem allgemeinen Zielkatalog des Art. 2 EGV zusätzlich ein eigenständiges, gleichberechtigtes und übergreifendes Preisstabilitätsziel erkennt, gelangt man zu Kongruenz der gemeinschaftsrechtlichen Zielsetzung mit den Imperativen des Prinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität. Eine solche Sichtweise ist jedoch abzulehnen, da die Preisstabilität wie gezeigt in jedem Fall eine Sonderstellung erflihrt. Diese äußert sich einerseits darin, daß Preisstabilität als solche weder im EG-, noch im EU-Vertrag als allgemeines Ziel formuliert ist, sie aber andererseits als permanenter Grundsatz, wenn man so will als ständige Bedingung, die Geschicke der Wirtschafts- und Währungspolitik maßgebend leitet. Preisstabilität steht somit als Grundsatz vor den allgemeinen Zielsetzungen, als Ziel -wenn überhaupt- aber keinesfalls neben Beschäftigung und Wachstum. Insofern ist seit Maastricht eine Kongruenz gemeinschaftsrechtlicher Zielsetzung und den Anforderungen des Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität nicht mehr gegeben. Zu einem anderen Ergebnis führte noch vor Maastricht der Vergleich mit der alten Vorschrift des Art. 104 EWGV, der mit der damaligen Vertragsneugestaltung gestrichen wurde. Die Frage nach der Zielübereinstimmung stellte sich bereits damals und wurde etwa von Ress mit der Bestätigung einer "Zweckausrichtungs- und Zielverfolgungsidentität" positiv beantwortet932• Die Vorschrift - so Jpsen - beschreibe "das Gesetz vom magischen Dreieck - im wesentlichen nicht anders als § 1 StabGes das 'magische Viereck'". 933 Wenngleich wie angemerkt ja keine vollständige Identität zwischen dem Katalog des Art. 104 EWGV und dem "magischen Viereck" vorlag - der Wachstumsaspekt hatte darin keinen Bestand, gehörte aber indirekt schon zu den Zielen des Art. 2 -, lagen zum damaligen Zeitpunkt sicherlich größere Parallelen vor als heute.
932 V gl. G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 (1990), S. 56 ff. (S. 104), wenndonauch im Hinblick auf die Definition des "magischen Vierecks" zu unkritisch. 933
H. P. lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 779.
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Ill. Modifikation des Art. 109 Abs. 2 GG oder Hinfälligkeit der Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht? 1. Modifikation durch europarechtskonforme Interpretation und die vorgeschlagene Verfassungstextänderung
Die fehlende Überstimmung zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht filhrt zu der Frage, welche rechtlichen Folgen sich daraus ergeben und berilhrt deshalb die schwierige Thematik des Verhältnisses von nationalem Recht zum Gemeinschaftsrecht 934 Als eine dem vorbeugende Lösung wird deshalb eine Modifikation des dem Art. I 09 Abs. 2 GG zugrundeliegenden Verständnisses durch eine europarechtskonfonne Interpretation vorgeschlagen; dabei fallen viele Äußerungen mit Fokus auf die spezifisch haushaltsrechtliche Funktion der Vorschrift, nicht aber mit Sicht auf seine Bedeutung zur Auslegung des sozialen Prinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität. Bleckmann plädierte bereits vor Maastricht filr eine gemeinschaftsrechtskonfonne Auslegung des Art. 109 Abs. 2 in der Weise, "daß er den Art. 104 EWGV in sich aufnimmt. " 935 Aufgrund der weitgehenden Übereinstimmung des alten Zielkatalogs des Art. 104 EWGV und der Teilziele des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts lag eine solche Auffassung nahe. Sie wird aber auch jetzt noch vertreten, obwohl wie gezeigt inhaltlich entscheidende Differenzen bestehen. Eine Änderung des Verständnisses des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sei so zunächst insofern geboten, als die aus Art. 104 EGV (und ergänzend aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt) erwachsenden Haushaltsverpflichtungen in das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht mit hineinwirken.936 Ihr Hineinwirken knüpft aber am Aspekt der Preisstabilität an und ist insofern nur mittelbar. 937 Der in einem Kommentar zu fmdenden Äußerung
934 Dazu ausftlhrlich und übersichtlich vor allem K. A. Schachtschneiderl A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, DSWR 1999, S. 17 ff. (Teil 1), S. 81 ff. (Teil II), S. 118 ff. (Teil III). 935 A. Bleckmann, Europarecht., 5., neub. und erw. Aufl., 1990, Rn. 1816; ders., Grundzüge des Wirtschaftsverfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1991, S. 536 ff. (S. 541 f.). 936 Vgl. U. Häde, Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und europäische Haushaltsdisziplin, JZ 1997, S. 269 ff. (S. 273 f.): "Die gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zur
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"Die vertragliche Pflicht zur Haushaltsdisziplin gehört nunmehr zu den ,Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts' des Art. 109 Abs. 2 GG."938
ist deshalb nicht zu folgen. Hartmann beschäftigte sich ausfilhrlicher mit der Fragestellung939: Er nimmt Bezug auf Art. 2 VertragsG und sieht darin die durch den Gesetzgeber auferlegte Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Haushaltsdisziplin im Sinne des Gemeinschaftsvertrags, ohne daß hierzu eine Änderung des Art. I 09 Abs. 2 GG gewollt war. "Der Bundesgesetzgeber unterließ es in Art. 2 VertragsG zwar, im Hinblick auf Art. 109 Abs. 2 GG ausdrücklich eine neue Teilzielbeziehung zu definieren. Er verankerte aber die Pflicht deutscher Haushaltsträger, die europarechtlichen Vorgaben zur Vermeidung und zum Abbau eines übermäßigen Defizits zu befolgen. " 940
Die Pflicht, sich an die Fiskalregeln des Vertrags zu halten, ergibt sich aber schon aus der Zustimmung zum Vertrag selbst. Eine separate Betonung dieser Verpflichtung im VertragsG wäre überflüssig gewesen, weswegen der einschränkende Hinweis auf die gebotene Berücksichtigung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als Zweck der Vorschrift wohl in den Vordergrund rückt. Dennoch hätte nach Hartmann das Gemeinschaftsrecht einen gewissen Einfluß auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht:
Haushaltsdisziplin überlagert das bisherige System" und "filhrt zu einer Verfassungsänderung ohne ausdrückliche Änderung des Wortlauts von Art. 109 und Art. 115 GG." 937 So meint H. J Hahn, Der Stabilitätspakt filr die Europäische Währungsunion Das Einhalten der Defizit-Obergrenze als stete Rechtspflicht, Zentrum filr Europäisches Wirtschaftsrecht Nr. 86, 1997, S. 44, unter der Bedingung, daß die tragbare Finanzlage wesentliche Voraussetzung der Preisstabilität ist: "Das Bemühen um Preisstabilität mittels maßvoller Fiskalpolitik im Rahmen der Obergrenzen des Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit ordnet sich also in den Pflichtenkreis des Bundes und der Länder gemäß Art. 109 Abs. 2 GG ein."; U. Häde, Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und europäische Haushaltsdisziplin, JZ 1997, S. 269 ff. (S. 275) hält es im gleichen Sinn filr gerechtfertigt, "die Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Pflichten zur Haushaltsdisziplin der innerstaatlichen Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zuzurechnen. Die Unterstützung der Preisstabilität mittels einer disziplinierten Schuldenpolitik gehört somit zu den Pflichten von Bund und Ländern aus Art. 109 Abs. 2 GG." (Hervorh.d.Verf.).
938
Wenig reflektierend M Herdegen, Art. 88, in: Maunz!Dürig, GG, Rn. 6.
V gl. U. Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, S. 197 ff. 939
940 U. Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, s. 198.
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"Art. 2 VertragsG projeziert mithin die europarechtlichen Teilzielbeziehungen der Art. 2 und 3a Abs. 3 EGV in Art. 109 Abs. 2 GG hinein. Jene bezweckt ebenso wie
diese eine stetige wirtschaftliche Entwicklung." 941
Allerdings bestehe "eine Inkompatibilität beider hinsichtlich des Verhältnisses der Teilziele zueinander". 942 Hartmann erkennt dabei nicht den Unterschied zwischen Grundsatz und Ziel und stellt nur auf Vorrangigkeit des Ziels der Preisstabilität ab. Aufgrund der Entscheidung für die Integration sei aber Art. 109 Abs. 2 GG als einfachgesetzlich zu konkretisierende Norm unbedingt europarechtskonform auszulegen, weswegen das "magische Viereck" im Grundgesetz nun unter dem Primat der Preisniveaustabilität stünde.943 Als Ziel gilt Preisstabilität jedoch lediglich sektorspezifisch für die Währungspolitik, nicht aber für das gesamte wirtschaftliche Geschehen. Insofern ist die Feststellung der Imkompatibilität durchaus richtig, nicht aber wegen des vermeintlichen Vorrangs, sondern wegen des Fehlens des allgemeinen Ziels der Preisstabilität Folglich kommt auch eine dementsprechende Interpretation nicht in Frage. 944 Den Widerstreit zwischen gemeinschaftsrechtlicher Zielsetzung sowie der Haushaltsverpflichtung einerseits zur grundgesetzliehen Regelung zum Fiskalwesen andererseits, besonders zu Art. 109, erkannte, vor allem mit Blick auf die Handhabung des Haushaltsproblems im Bundesstaat mit haushaltstechnisch 941 U Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, S. 198 f.; indes drängt sich kein Grund auf, weswegen Art. 2 VertragsG die Teilzielbeziehungen des Gemeinschaftsrecht in Art. l 09 Abs. 2 GG projeziert. 942 U Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, s. s. 199. 943 So im Ergebnis auch l Pernice, Art. 105 EGV, in: GrabitzJHilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 4: "Die Festlegung des Vorrangs für das Ziel stabiler Preise in Art. l 05 Abs. I entsprechend dem Verfassungsgebot in Art. 88 GG bedeutet konzeptionell eine Abkehr von der in Art. 109 Abs. 2 GG iVm. § l StWG von 1967 festgelegten Gleichwertigkeit ... der Ziele des ,magischen Vierecks': Preisstabilität wird der Boden, auf dem (allein) langfristig die übrigen Ziele des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ... zu erreichen sind."; gegen die Möglichkeit einer solchen Prämissenverschiebung spricht sich D. Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff. (S. 372) aus; es handle sich um ein "ökonomisches Kräfteparallelogramm", als solches " ... läßt [es; d.Verf.] keine isolierten Änderungen zu, weil sich Verschiebungen immer auf das Gleichgewicht insgesamt auswirken, wie auch bei Verkürzen eines Stuhlbeins die ganze Sitzgelegenheit ins Wackeln gerät." 944 Für U Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, besteht trotz seiner klaren Äußerungen wohl dennoch ein große Unklarheit in diesem Punkt, fordert seiner Meinung nach doch das "Interesse an einer klaren Verfassungstage ... daher weiteres, klärendes Tätigwerden des Gesetzgebers.", s. 200.
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eigenständigen Bundesländern, auch die Regierung. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen legte 1996 eine Vorschlag zur Änderung des Art. 109 vor, der neben das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht eine Art Öffnungsklausel fi1r alle wirtschaftspolitischen Ziele des Gemeinschaftsrechts gestellt hätte. Er lautete fi1r Absatz 2: "Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und der Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union Rechnung zu tragen." 945
Bis heute erfolgte aber trotz immer wieder angestoßener Diskussionen keine Änderung des Verfassungstexts. Offen bliebe aber zunächst noch die Wirkung einer solchen Erweiterung. Daß Art. 109 Abs. 2 GG in seiner engeren Bedeutung fi1r die Haushaltspolitik damit weitere Ausrichtungskriterien, hier also im wesentlichen die Fiskalkriterien des Art. 104 Abs. 2 EGV erhält, scheint eindeutig. Für die Funktion als rechtspositiver Ausdruck des sozialen Stabilitätsprinzips stellt sich die Lage differenzierter dar. Erstens müßten nämlich etwaige über die Öffnungsklausel eindringende Ziele begründete Eigenständigkeil aufweisen - im Falle der Haushaltsvorgaben dürften sich dafilr nur schwierig Argumente finden, da stets nur vom instrumentalen Nutzen fi1r die Preisstabilität die Rede ist. Zweitens erscheint es gefährlich, eine solche unbegrenzte Öffuung zuzulassen. Andererseits bestünde hierin aber die einzige Möglichkeit, Fortentwicklung in wirtschaftspolitischen Zielsetzungen zuzulassen.
2. Keine Hinfälligkeit des nationalen Verfassungauftrags
Neben der Erwägung einer europarechtlich adäquaten Modifikation der Verpflichtung aus Art. 109 Abs. 2 GG - ob mit oder ohne Verfassungstextänderung - begegnete in der Literatur bisweilen die Meinung, durch die Übertragung der Währungshoheit auf die Gemeinschaft sei der Einfluß auf das Teilziel der Preisniveaustabilität verloren gegangen; ähnliches gelte aufgrund der eingeschränkten staatlichen Handlungsmöglichkeiten durch Zollunion und schließlich Binnenmarkt ebenso fiir das Zielelement des außenwirtschaftliehen Gleichgewichts. Aus diesem Grund sei das Staatsziel des Gesamtwirt-
945 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Gutachten, Zur Bedeutung der Maastricht-Kriterien filr die Verschuldungsgrenzen von Bund und Ländern, BMF-Schriftenreihe Heft 54, 1994, S. 48; vgl. auch K. Stern, Die Konvergenzkriterien des Vertrags von Maastricht und ihre Umsetzung in der bundesstaatliehen Finanzverfassung, in: FS U. Everling, 1995, S. 1469 ff. (S. 1488).
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schaftliehen Gleichgewichts als nationaler Verfassungsauftrag "obsolet" geworden. Einzig bliebe die Verpflichtung der staatlichen Organe der Bundesrepublik, auf Gemeinschaftsebene bestmöglich auf ein europäisches Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht hinzuwirken. 946 Diese Auffassung konnte sich jedoch nicht durchsetzen947, geschweige denn Auswirkung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in seiner Funktion als Positivierung des Sozialprinzips ökonomischer Dimension entwickeln. Einer "Verwandlung" des Auftrags des nationalen in ein europäisches Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht steht vor allem die mangelnde Zielsetzungsund Kompetenzkongruenz entgegen. Sicherlich entflillt mit der Währungsunion der nationalstaatliche Einfluß auf die Preisstabilität948 ; auch die analoge Argumentation der eingeschränkten Einflußnahme der Mitgliedstaaten auf ihr außenwirtschaftliches Gleichgewicht mag vertretbar sein. Andererseits verfUgt die Gemeinschaft aber nicht über die Kompetenzen, um den deutlich sozialen Komponenten dieses Staatsziels ebenfalls ausreichend nachkommen zu können. Diese Pflicht kann nur weiterhin fiir die Bundesrepublik selbst bestehen. 949 Mit 946 So die Ausruhrungen von H Beisse, Verfassungshürden vor der Europäischen Währungsunion, BB 1992, S. 645 ff. (S. 648 f.): "Damit wird das Staatsziel obsolet. ... Diese Aufgabe wird zu einer gemeinschaftlichen aller Teilnehmerstaaten der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Der nationale Verfassungsauftrag entfällt."; rur ein Übergehen der Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auf andere Mitgliedstaaten der Union wird hier jedoch keine Begründung gesehen, da das Gemeinschaftsrecht - wie die vorliegenden Ausruhrungen zeigen - eben keine analoge Verpflichtung aufweist; L. Müller, V erfassungsrechtliche Fußnoten zum MaastrichterVertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion, DVBI. 1992, S. 1249 (S. 1251): die Übertragung der Währungshoheit "höhlt das Staatsziel selbst aus und läßt es gegenstandslos, d.h. ,obsolet' werden."; dies treffe die Preisstabilität, aber auch das außenwirtschaftliche Gleichgewicht; es bliebe deshalb nur die Pflicht der deutschen Organe, auf europäischer Ebene auf ein Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht in der gesamten Wirtschafts- und Währungsunion hinzuwirken; G. Schmidt, Der EG-Binnenmarkt und das Stabilitätsgesetz, RIW 1993, S. 921 ff. (S. 921 ff., 925) vertritt mit vornehmliehen Blick auf das außenwirtschaftliche Gleichgewicht dieselbe Position. 947 Vgl. mit dieser Einschätzung auch V. Mehde, Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Aufteilung der Verschuldungsgrenzen des Vertrags von Maastricht, DÖV 1997, S. 616 ff. (S. 620, Fn. 63). 948 V gl. U. Häde, Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und europäische Haushaltsdisziplin, JZ 1997, S. 269 ff. (S. 274), der zu bedenken gibt, daß sich das Ziel der Preisstabilität ohnehin "schon seit längerer Zeit kaum mehr im Alleingang lösen" ließe; "Die Vergemeinschaftung der nationalen Währungen nimmt deshalb auch rechtlich eine Aufgabe aus der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten heraus, die sie faktisch schon lange im Wege der Zusammenarbeit erfllllen." 949 V gl. U. Häde, Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und europäische Haushaltsdisziplin, JZ 1997, S. 269 ff. (S. 274).
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der Übertragung von bestimmten Kompetenzen zur gemeinschaftlichen Ausübung geht die Verpflichtung in den entsprechenden Zielpunkten oder im Gesamten nicht verloren. Im Gegenteil kann gerade mit ihr der Verpflichtung nachgekommen werden, wenn die Lage die Vergemeinschaftung verlangt und sofern die Voraussetzungen der Kompetenzübertragung gewährleistet sind, die u.a. Zielkongruenzen und Prinzipienentsprechung umfassen. Im Hinblick auf das Zielelement der Preisstabilität liegen diese Voraussetzungen bei seiner Bestimmung als vorrangiges Ziel der Währungspolitik und der Unabhängigkeit der Zentralbank - daß das Gemeinschaftsrecht in beiden Aspekten über das erforderliche Maß hinausschießt, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Hierin kommt die Bedeutung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als permanenter Kontrollmaßstab der sich vollziehenden Integration zum Ausdruck.
IV. Widerspruch des gemeinschaftsrechtlichen operativen Vorrangs der Preisstabilität zur verfassungsgeforderten Offenheit die Unvereinbarkeit dieses Grundsatzes und des Fehlens eines allgemeinen Ziels der Preisstabilität mit dem Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität I. Offenheit in den Mitteln der Zielerreichung, Prinzipgebundenheit in der Zielsetzung- die Lösung des deutschen Rechts Das in Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 und fiir die europäische Integration in Art. 23 Abs. 1 GG verankerte Sozialprinzip entfaltet wie im Dritten Teil dargestellt eine spezifisch ökonomische Dimension, das Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität, das eine ausnahmehafte Positivierung in dem Staatsziel der Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Art. 109 Abs. 2 GG erfährt. Der Begriff des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist nicht unbestimmt, sondern wurde vom verfassungsändernden Gesetzgeber bewußt in Offenheit gelassen. Darin spiegelt sich die Absicht wider, eine wirtschaftspolitische Verfassungsorientierung aufzugeben, dabei aber gleichzeitig das Sozialprinzip zu beachten; denn dies fordert die bestmögliche Anpassung an die Lage durch Gesetze, verbietet dagegen folglich die verfassungsmäßige Festlegung einer heute aktuellen wirtschaftspolitischen Theorie, die morgen überholt sein kann. Unabhängig von wirtschaftspolitischer Theorie existieren aber Zielsetzungen, die Sache des Rechts sind und solchen verbindlichen Orientierungen entsprechen. Das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gehört als Ausdruck des Sozialprinzips dazu. Dem Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht kommt dabei aber eine zweifache Rolle zu, da es gleichzeitig Zielbestimmung und Begriff einer Theorie zur
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Zielerreichung ist. 950 Als Zielbestimmung muß es mithilfe des § 1 Satz 2 StWG ausgelegt werden, dessen Zielelemente mit Ausnahme des außenwirtschaftliehen Gleichgewichts sozialprinzipgestützte Eigenständigkeit aufweisen. Ihre Bestimmung und ihre Gleichwertigkeit stellen die Mindestmaterialisierung des sozialen Prinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität dar. In seiner Eigenschaft als Begriff einer ökonomischen Theorie - der keynesianisch geprägten Globalsteuerung - durfte es hingegen nicht verfassungsmäßig fixiert werden. Seine Aufnahme und Definition im Stabilitätsgesetz als einfaches Gesetz war der damaligen Lage und der damaligen Erkenntnis nach sachgerecht und entsprach deshalb dem Sozialprinzip. Wege der Zielerreichung kennt das Grundgesetz als Verfassungsgesetz nicht. Insofern folgte es auch dem Sozialprinzip, die Unabhängigkeit der Bundesbank und ihre primäre Zielsetzung der Währungssicherung analog lediglich einfachgesetzlich zu fixieren, weil sowohl Unabhängigkeit als auch primäre Zielsetzung auf einer Theorie basieren. Das Bundesbankgesetz legte nicht einmal die Inflationsvermeidung bzw. Preisniveaustabilität fest, sondern - weiter verstanden - die Sicherung der Währung, die der Bundesbank im Zweifel auch gestattet hätte, ihr Ziel der Währungssicherung über einen anderen Weg als den der Preisstabilität zu verfolgen, auch wenn dies schwer vorstellbar ist. Daß diese einfachgesetzlichen Bestimmungen sich trotz Änderbarkeit hielten und sich Preisniveaustabilität ohne explizite Nennung im Bundesbankgesetz als vorrangiges Ziel der Bundesbank durchsetzen und bewähren konnte, ist auf Theorieüberzeugung und Gedenfalls bislang) positive Erfahrung des Gesetzgebers zurückzufilhren. Auf die Etablierung einer neuen Theorie, auf einen Erkenntniswechsel also, hätte mit Gesetzesänderung reagiert werden können.
2. Die Diskrepanz zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht Das Gemeinschaftsrecht ist von einer analogen rechtlichen Lösung wirtschaftspolitischer Gestaltung recht weit entfernt. Zunächst liegt, wie bereits ausgefilhrt, keine Kongruenz der Zielsetzungen vor, weil Preisstabilität nicht als allgemeines, übergreifendes Ziel formuliert ist, wie es das Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität verlangt. In diesem Punkt könnte noch wohlwollend - aber nicht überzeugend - eingeräumt werden, daß Preisstabilität, wenngleich nicht als eigenständiges Ziel formuliert, aufgrundder Wachstumsqualifizierung "nichtinflationär" doch neben den anderen beiden ökonomischen Imperativen Wachstum und Beschäftigung Bestandteil des Katalogs des Art. 2 EG V sein könnte und sich außerdem durch die vielseitige Ausrichtung des Vertrags an 950
Siehe dazu oben 4. Teil, 2. Kap., VII.
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der Preisstabilität ein solches allgemeines Ziel erklären ließe. Gerade aber diese vielseitige Ausrichtung am hochverbindlichen und permanenten Grundsatz der Preisstabilität, der Mittel zur Zielerreichung ist, begründet umsomehr die Verletzung des Sozialprinzips, weil damit entgegen der verfassungsnotwendigen Offenheit eine Theorie der Zielerreichung doch verfassungsähnlich fixiert wird. 951 Zudem unterstützt der Vertrag den operativen Preisstabilitätsvorrang durch die nahezu unbeschränkte Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und die Haushaltsverpflichtungen in stärkster Weise. Die Kontingenz der Theorie, mit Preisstabilität die Basis allen anderen wirtschaftspolitischen Gedeihens zu schaffen, wird dadurch mißachtet. Einem etwaigen Erkenntniswandel kann die Gemeinschaft der Mitgliedstaaten so nur schwerlich - nämlich ausschließlich über das Vertragsänderungsverfahren - begegnen. Dies träfe im übrigen auch auf die Festlegung des Grundsatzes der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb zu, würde dieser nicht dem Sozialprinzip folgend unter dem Effizienzvorbehalt optimaler Allokation, ausgerichtet an den Zielen des Art. 2 EGV, stehen und insofern eine Abweichung von diesem Grundsatz erlauben, sofern diese wohlbegründet wird.
3. Hintergrund der Diskrepanz und Überlegungen zu ihrer Auflösung
a) Die Ranghöhe des Gemeinschaftsvertrags als Problem Als Problem der Vereinbarkeit der Stabilitätsregelungen im Gemeinschaftsrecht und dem Verfassungsprinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität stellt sich also zum einen das Fehlen der Preisstabilität als allgemeines Ziel im EGVertrag heraus. Vor allem wird Preisstabilität aber als permanenter Grundsatz allen wirtschafts- und freilich währungspolitischen Handeins in der Gemeinschaft gemeinsam mit der Unabhängigkeit des Zentralbanksystems, dessen vorrangiges Ziel sie gleichzeitig ist, gemeinschaftsrechtlich auf höchstem Niveau zementiert. Letztendlich liegt der entscheidende Aspekt in der Ranghöhe der vertraglichen Vorschriften, die Offenheit gegenüber Theorien verlangt und die Aufnahme solcher Theoriegebäude nicht mehr zuläßt. Der Vertrag kann nun einmal nur im ilirmlichen Vertragsänderungsverfahren einstimmig geändert
951 G. Nicolaysen, Rechtsfragen der Währungsunion, erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 17. 2. 93, 1993, S. 40, äußerst deshalb insofern zutreffend: "Damit hat sich insoweit ein Konzept durchgesetzt,"- er meint wohl Theorie-, "das Geldwertstabilität als notwendiges Fundament filr eine gedeihliche Wirtschaft und filr die Realisierung anderer Ziele beurteilt."
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
werden, ein Austritt ist als rechtliche Möglichkeit streitig952, faktisch einerseits kaum verhinderbar, aufgrund der realen Abhängigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten aber ebenso undenkbar. Der derzeit dem wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechende und deshalb von der Sache her richtige Primat der Preisstabilität mit allen seinen Begleiterscheinungen, insbesondere der Zentralbankunabhängigkeit, verliert damit aber seine Chance, permanente Bestätigung der Mitgliedstaaten und dauerhafte demokratische Legitimation zu erhalten, so wie die einfachgesetzlichen Regelungen in Deutschland dauernd vom deutschen Gesetzgeber bestätigt wurden.
b) Dissens als Motivation zur Zementierung der Preisstabilität Natürlich stellt sich die Frage nach den Grilnden dieser mangelhaften Gestaltung sowie nach etwaigen Alternativen zu ihr. Zunächst kamen in den Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag die innerhalb der Union unterschiedlichen Meinungen zur Bedeutung der Preisstabilität und der ihr folgenden Wirtschaftsund Währungspolitik zutage. Wenn auch die Wirtschaftswissenschaft weltweit größere Einigkeit in diesem Punkt zeigt, so waren doch differierende politische Auffassungen - eben besagte "Stabilitätskulturen" - vorhanden, die auf einen Vertrag geeinigt werden mußten. Die vorzüglich geglückte Fixierung der Preisstabilität - die Möglichkeiten eines Rechtstextes scheinen durchaus weitgehend ausgenutzt - war Voraussetzung besonders filr die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland als "Vorreiter-Mitgliedstaat" in Sachen Preisstabilitätskultur. Das "Modell Bundesbank" sollte europarechtlich kopiert und perfektioniert werden. Die absolute Festschreibung ist mehr Ergebnis eines Dissens und der Beftlrchtung, die Gemeinschaft könnte nur allzu schnell von der Preisstabilitätsorientierung abrilcken, um schneller und einfacher, daftlr eben vermutlich nicht nachhaltiger andere Ziele zu erreichen. 952 Wenn auch im Schrifttum keine einheitliche Meinung zur Frage des Austritts besteht- vgl. etwa P.-Ch. Mü//er-Gra.ff.Verfassungsziele der EGIEU, in: M. A. Dauses (Hrsg.): Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, Abschnitt A.l, Rn. 96, Fn. 410 m.w.N. spricht der Grundsatz der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft doch klar ftlr eine solche Möglichkeit, insb. spricht die vertragliche .,Unendlichkeit" der Union nicht gegen einen Austritt; vgl. K. A. Schachtschneider. Die existentielle Staatlichkelt der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff. (S. 102); ders., Die Republik der Völker Europas, ARSP-Beiheft 71, 1997, S. 153 ff. (S. 163 f.); K. A. Schachtschneider!A. Emmerich-Fritsche!Th. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, S. 751 ff. (S. 759); während das BVerfG im Maastricht Urteil noch die Austrittsfrage ansprach und ftlr möglich hielt (89, 155 (204) im Kontext Währungsunion, (184 ff.) im Kontext "Staatenverbund"), verzichtete es im Euro-Beschluß auf eine entsprechende Stellungnahme.
3. Kap.: Stabilitätsprinzip und die Regelung im Gemeinschaftsrecht
307
c) Kompetenzverteilung als Erklärung der Dominanz der Preisstabilität Ein weiterer Gesichtspunkt, der die Dominanz der Preisstabilität im Vertrag begründen könnte, liegt in der derzeitigen Konzeption der Europäischen Union, nach der beim derzeitigen Stand nur die Kompetenz im Bereich der Währungspolitik liegt, während die wirtschaftspolitischen Befugnisse noch bei den Mitgliedstaaten verbleiben sollen. Konsequent war deshalb die Wegnahme der ftlr die Wirtschaftspolitik sektorspezifischen Zielsetzung des Art. I 04 EWGV durch den Maastricht-Vertrag. Insofern entspräche es ferner logisch dieser Konzeption, daß ftlr die Ausrichtung der Währungspolitik der Gemeinschaft, aber nur ftlr diese, der Aspekt der Preisstabilität, der nach derzeitigem Erkenntnisstand filr die Währungspolitik sicherlich richtig ist, klar als Grundsatz und als Ziel im Vordergrund steht. Als Grundsatz ist er aber auch ftlr die allgemeine Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten bestimmt. Schon dadurch wird die gewollte wirtschaftspolitische Eigenständigkeit der Staaten eingeschränkt, aber auch durch den Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, die Fiskalvorgaben, die den jeweiligen haushaltspolitischen Spielraum vehement einschränken, und die im Rahmen der Koordinierung der Wirtschaftspolitiken zu beschließenden Grundzüge gemäß Art. 99 Abs. I und 2 EGV953 • Auch spielt der Verlust der handelspolitischen Zuständigkeit zugunsten einer von der herrschenden Meinung vertretenen ausschließlichen Kompetenz der Gemeinschaft in diesem Bereich eine schwerwiegende Rolle. 954 Somit wird dieses Kompetenzverteilungsargument entkräftet. Gleichzeitig präsentiert die Grundsatzverpflichtung der Wirtschaftspolitik, die eigentlich Sache der Politik, nicht eines Verfassungstextes ist, eines der größten Probleme der Europäischen Union: das Fehlen einer weitergehenden politischen Union, mit Worten Jochimsens die "hinkende Konstruktion"955 einer vergemeinschafteten Wäh-
953 Vgl. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff. (S. 132 f.); anders BVerfGE 89, 155 (206 f.). 954 Dazu z.B. Ch. Vedder, Art. 113 EGV, in: Grabitz!Hilf, Das Recht der Europäischen Union (alt), Rn. 3; A. B/eckmann, Europarecht, 6., neub. und erw. Aufl., 1997, Rn. 1426 ff.; im übrigen gibt im Hinblick auf das funktionale Verhältnis von Wirtschafts- und Währungspolitik die sog. AETR-Doktrin zu bedenken, nach der der Sinnenkompetenz der Gemeinschaft im Handel - der Zollunion - wegen aus funktionalen Erwägungen auch die Außenhandelskompetenz zwingend bei der Gemeinschaft liegen muß. 955 R. Jochimsen, Chancen und Risiken einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, in: M. Potthoff/K. Hirschmann (Hrsg.): Die europäische Währungsunion ein Testfall filr die europäische Integration?, 1997, S. 85 ff. (S. 98).
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5. Teil: Stabilität als Vertragsprinzip fiir die EWWU
rungspolitik, die sachlich nicht von einer Wirtschafts- und - von dieser integriert - Sozialpolitik zu trennen ist. 956
d) Eine Gestaltungsalternative Größere Parallelität zwischen nationalem und europäischem Recht und gleichzeitig Vereinbarkeit mit dem sozialen Prinzip gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts würden aber bestehen, würde fUr den Grundsatz der Preisstabi956 Vgl. zur Forderung nach einer die Währungsunion mindestens begleitenden, wenn nicht ihr vorausgehenden politischen, insb. Wirtschafts- und Sozialunion zunächst Deutsche Bundesbank, Stellungnahme der Deutschen Bundesbank zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion in Europa, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 1990, S. 41 ff. (S. 41 ): "Letzten Endes ist eine Währungsunion ... eine nicht mehr kündbare Solidargemeinschaft, die nach aller Erfahrung fiir ihren dauerhaften Bestand eine weitergehende Bindung in Form einer umfassenden politischen Union benötigt."; vgl. auch Deutsche Bundesbank, Die Beschlüsse von Maastricht zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Februar 1992, S. 45 ff. (S. 53); erneut das Erfordernis einer mindestens koordinierten Wirtschaftspolitik herausstellend Deutsche Bundesbank, Der Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Januar 1999, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Januar 1999, S. 19 ff. (S. 30 f.) m.V.a. die Beschlüsse des Europäischen Rats zur Intensivierung der Koordination der Wirtschaftspolitik nach Art. 99 (103 a.F.) EGV von Dezember 1997; W. Hanke/lW. Nölling!K. A. Schachtschneider!J Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 247 f.; P. Kirchhof. Die Mitwirkung Deutschlands an der Wirtschafts- und Währungsunion, in: FS F. Klein, 1994, S. 61 ff. (S. 79); J Genosko, Wirtschaftspolitische Aspekte der Wirtschafts- und Währungsunion, in: L. Schuster (Hrsg.): Die Unternehmung im internationalen Wettbewerb, 1994, S. I ff. (S. 9); R. Ohr, Eine Alternative zum Maastricht-Fahrplan, WD, 76. Jg. (1996), S. 24 ff. (S. 25); M. Seidel, Zur Verfassung der Europäischen Gemeinschaft nach Maastricht, EuR 1992, S. 125 ff. (S. 139); ders., Die Verfassung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion als Wirtschaftsunion, 1996, S. 8, mit Hinweis auf das Fehlen einer politischen Wirtschaftsunion als Hinderungsgrund fiir die angestrebte europäische Währungsintegration 1967/ 1973; N. Horn, Währungsunion als Instrument der Integration, in: FS E.-1. Mestrnäcker, 1996, S. 381 ff. (S. 381) m.V.a. schon Knapp, G. F. , Staatliche Theorie des Geldes, 3. Aufl., 1923; H. Tietmeyer, Probleme einer europäischen Währungsunion und Notenbank, in: J. Isensee (Hrsg.): Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2., unveränd. Aufl., 1994, S. 35 ff. (S. 53 ff., S. 60); P. B. Kenen, Economic and Monetary Union in Europe. Moving Beyond Maastricht, Cambridge University Press 1995, S. 193 f.; M. Lusser, Nationale Geldpolitik zwischen Regionalisierungs- und Globalisierungstendenzen, in: Biskup, R. (Hrsg.): Globalisierung und Wettbewerb, 1996, S. 181 ff. (S. 194); auf ein Voranschreiten der politischen Union mit Arnsterdarn stellten von politischer Seite auch J Stark, Das Ende der D-Mark?, S. 71 ff. (S. 72) und W. Hoyer, Regierungskonferenz 1996 und Währungsunion: Chancen fiir Europa, S. 59 ff. (S. 68), beide in: M. Potthofti'K. Hirschmann (Hrsg.): Die europäische Währungsunion - ein Testfall fiir die europäische Integration?, 1997, ab; vgl. dazu auch W. Harbrecht, Regierungskonferenz '96 und Europäische Währungsunion, DSWR 1997, S. 170 f.
3. Kap.: Stabilitätsprinzip und die Regelung im Gemeinschaftsrecht
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lität der gleiche Effizienzvorbehalt wie fiir den Gemeinschaftsgrundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb existieren und bestünde die vertragliche Möglichkeit, ohne förmliches Vertragsänderungsverfahren die Unabhängigkeit der Zentralbank sowie deren vorrangige Preisstabilitätsverpfichtung einzuschränken, oder wären diese nur aufgrund entsprechender primärrechtlicher Befugnis sekundärrechtlich fixiert. Das Grundgesetz beugt einer Teilnahme an einer Währungsunion, deren Zentralbank nicht mehr vorrangig Preisstabilität verfolgt und die nicht (mehr) unabhängig ist, durch Art. 88 Satz 2 vor. Es verlangt aber ebensowenig wie innerstaatlich eine verfassungsähnliche Vorschrift auf Gemeinschaftsebene. Solange also Preisstabilitätsprimat und Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank Bestand hielten, weil sie auf Gemeinschaftsebene freiwillige Unterstützung fmden, wären die Voraussetzungen fiir Deutschlands Teilnahme ebenso wie das Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität erfilllt. Beide wären auch politisch verläßlicher, denn ihre Legitimation innerhalb der Gemeinschaft würde ständig aufs neue erteilt, und sie würden nicht durch eine Art rechtlichen Zwang, sondern durch Überzeugung bekräftigt.957 Gelangte die Gemeinschaft bei solchen Rahmenbedingungen ohne Zustimmung Deutschlands zu einer Änderung dieser Grundsätze, müßte und könnte Deutschland aus der Währungsunion ausscheiden.
957 Damit wäre zwar die demokratische Legitimation der Europäischen Zentralbank etwas verbessert, weil ihre Unabhängigkeit stärkerer Kontrolle unterliegen würde, indes aber nicht ausreichend. Eine ausreichende Legitimation kann beim derzeitigen Integrationsstand der Gemeinschaft - als Staatenverbund und nicht als existentieller Staat kaum erteilt werden, auch nicht durch das Europäische Parlament, das echten Parlamentarismus zur Zeit noch entbehrt. So meinte P. Kirchhof. Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: J. lsensee (Hrsg.): Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2., unveränd. Aufl., 1994, S. 63 ff. (S. 93), bereits 1994 zum Legitimationsproblem: "Wenn die nationalen Parlamente jeweils Gesetzgebungskompetenzen an die EWG verlieren, diese Kompetenzen in der EWG aber durch die Exekutive wahrgenommen werden, so büßt die parlamentarische Demokratie an Gestaltungs- und Legitimationskraft ein. Andererseits kann die Europäische Gemeinschaft ihrerseits diese Legitimation nicht begründen, weil sich ihre Existenz aus dem Vertrag unter den Mitgliedstaaten herleitet, die Repräsentation durch das Europäische Parlament sich hingegen nicht auf ein europäisches Staatsvolk stützt und auch nich in hinreichenden parlamentarischen Kompetenzen bestätigt wird."; J lsensee, Nachwort. Europa - die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.): Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2., unveränd. Aufl., 1994, S. 103 ff. (S. 132 ff.); dazu auch K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, in: FS W. Hankel, 1999, S. 119 ff.
Sechster Teil
Resümee und Ausblick Ausgangspunkt dieser Betrachtungen bildete der in der Diskussion um die Europäische Währungsunion allgegenwärtige Begriff "Stabilität". Stabilität sollte als Kriterium fllr den Eintritt in die Währungsunion dienen, Kennzeichen der Währungsunion sein, zu ihrem Prinzip werden; sie wurde zum Prinzip der "Stabilitätsgemeinschaft" erhoben. Im Laufe der Auseinandersetzungen auf dem Weg zur Währungsunion und auch nach ihrem Start wurde aber deutlich, vereinzelt auch explizit aufgeworfen, daß "Stabilität" nicht gleich "Stabilität" ist. Insbesondere angesichts des im Sommer 2000 so vehement sinkenden EuroKurses - so wurde gefordert - möge man doch erst einmal definieren, was mit Stabilität gemeint sei. Erst hier kam auch in der öffentlichen Wahrnehmung verstärkt plötzlich eine Frage auf, die vorher keine gewesen zu sein schien. Der Zweite Teil setzte sich deshalb zunächst mit grundlegenden Erörterungen des Begriffs auseinander, zeigte "Stabilität" einerseits als Eigenschaft und andererseits als eigenen Gegenstand mit Referenzfunktion auf und beschäftigte sich ausfUhrlieber mit ihrer Rolle in der Wirtschaftswissenschaft und im Gemeinwesen. Im Kontext Währung, Integration und Staatlichkeit kann Stabilität angesichts der zutage gekommenen vielfllltigen Formen und Abhängigkeiten von verschiedenen Zuordnungsobjekten jedoch nur Orientierung im Recht finden, d.h. vor allem in den Verfassungen der betroffenen Staaten, in denen das Recht zum Ausdruck kommt. Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil die "Stabilitätsgemeinschaft" als Voraussetzung der Teilnahme Deutschlands an der Währungsunion bestimmt, was die Frage aufwarf, worin denn im innerdeutschen Kontext überhaupt die Grundlage dieser Voraussetzung zu suchen ist. Häufig wurde diesbezüglich lediglich auf die Preisniveaustabilität abgestellt, die auf vielfllltige Weise herzuleiten versucht wurde, deren vorrangige rechtliche Verankerung dem Grundgesetz jedoch nur schwierig zu entnehmen ist. Vielmehr erweist sich, wie im Dritten Teil dargestellt, das inhaltlich weiter gefaßte soziale Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität als relevanter Maßstab. Es begründet sich im Sozialprinzip, das zu den elementaren Verfassungsprinzipien der Bundesrepublik Deutschland wie einer jeden Republik gehört. Es fordert - dem makrosozialen Ansatz zur Verwirklichung des Sozialprinzips folgend - primär
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die permanente und zeitgemäße, d.h. der Lage angemessene und dem aktuellem Stand der Wissenschaft entsprechende, Schaffung und Aufrechterhaltung von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen der Einzelne bestmöglich aus eigener Kraft Selbständigkeit - eigens begründete Selbständigkeit - erlangen kann. Im Hinblick auf die hierfilr geeigneten Mittel gebietet es deshalb materiale Offenheit. Es bedarf aber der materialen (Ziel-)Orientierung, die in wichtigen Aspekten der ökonomischen Selbständigkeit zutage kommt. Als solche "ökonomischen Imperative" des sozialen Stabilitätsprinzips lassen sich auch mit Blick auf Grundrechtsfragen vor allem Beschäftigung und Geldwertstabilität, aber auch Wachstum begründen. Im Grundgesetz erflihrt dieses Prinzip durch den Begriff des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Art. I 09 Abs. 2 GG eine - im Hinblick auf die grundsätzliche Offenheit des Sozialprinzips ausnahmehafte - Positivierung. Vom Gesetzgebertrotz verschiedener Anlässe und Anstöße zur Änderung unberührt gelassen, findet dieses Staatsziel-so das Ergebnis des Vierten Teilsimmer noch unter Hinzuziehung des Stabilitätsgesetzes, welches in § I Satz 2 nach wie vor eine Erklärung des Begriffs liefert, das "magische Viereck" als seine anerkannte Materialisierung.958 In drei seiner vier gleichrangigen Zielkomponenten - Preisniveaustabilität, hohes Beschäftigungsniveau und angemessenes und stetiges Wachstum- spiegeln sich die ökonomischen Imperative als material-ökonomische Essenz des sozialen Stabilitätsprinzips wider, weshalb das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in dieser Materialisierung am Prinzipstatus des Sozialprinzips teilhat. Die Teilziele beinhalten entsprechend der allgemeinen Funktion des Sozialprinzips einen ökonomischen, aber durch diese Imperative spezifizierten Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber; nur filr dessen konkrete Verfolgung, d.h. die Mittel der Zielerreichung, gebietet es aufgrund der Kontingenz von Theorien Offenheit. Insofern spielt der Wandel volkswirtschaftlicher Theorie auch nur filr diese Mittel, nicht aber filr die Zielsetzung, eine Rolle. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts gewinnt dadurch also das "Was" an Klarheit, das "Wie" bleibt aber nach wie vor offen und wandlungsflihig. An diesem sozialen Verfassungsprinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität müssen sich die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der Wirtschafts- und Wäh-
958 Insofern ist das Fazit von G. Schmidt, Der EG-Binnenmarkt und das Stabilitätsgesetz, RlW 1993, S. 921 ff. (S. 928)- "Die Geschichte des StabG ist zu Ende"- zurückzuweisen; Geschichte geht vorüber, aber sie lehrt und bindet seinen Träger; wenn auch das StWG seine operative Bedeutung verloren hat, so bleibt - jedenfalls solange es in dieser Form gültig ist - das magische Viereck als Materialisierung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.
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6. Teil: Resümee und Ausblick
rungsunion messen lassen. Im Monatsbericht Mai 1999 der Europäischen Zentralbank ist zu lesen: "Die Erzielung und Aufrechterhaltung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als Voraussetzung filr wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt war das Hauptziel der Wirtschafts- und Währungsunion Europas in den neunziger Jahren."959
Es mag sein, daß der politische Wille in der Union sich tatsächlich an diesem gesamtwirtschaftlichen Ziel orientiert hat, zumindest die Politiker dahingehende Äußerungen getroffen haben. Aber das verfassungsähnliche gemeinschaftliche Primärrecht geht mit wirtschaftlicher Stabilität anders um als das nationale Recht; denn es "schießt über dieses Ziel hinaus" - öffnet es sich doch dem aktuellen Erkenntnisstand der Wirtschaftswissenschaft nicht nur, der fiir die Wege der Zielerreichung zuständig ist, sondern nimmt ihn auf und schreibt ihn fest. Zu dieser Erkenntnis fUhrt der Fünfte Teil. Anders als es fiir den Grundsatz der offenen Marktwirtschaft - die auch nicht Selbstzweck ist, sondern als Instrument der Effizienz erkannt ist - gesehen werden muß, untersteht der Grundsatz des Vorrangs der Preisstabilität als Basis aller Zielerreichung hier keinerlei Vorbehalt. Der formale Grundsatz wird dadurch entscheidend gestärkt, daß alle Regelungen des Vertrags, nicht nur zur Währungs-, sondern auch zur Wirtschaftspolitik sich primär auf diesen Aspekt ausrichten und somit nicht in der Lage sind, dem Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität zu entsprechen. Insbesondere die Konvergenzkriterien, von vielen als vermeintliche "Stabilitätskriterien" verstanden, sind das Stabilitätsprinzip zu gewährleisten nicht imstande, da sie- unbenommen ihrer Verbindlichkeit- in ihrer beschränkten Auswahl und weiten Offenheit gesamtwirtschaftliche Konvergenz nicht abbilden und deshalb nicht gewährleisten können. Die vertragliche Verpflichtung des Europäischen Zentralbanksystems auf die Preisstabilität auch als vorrangiges Ziel einerseits und die vertragliche Fixierung der Unabhängigkeit andererseits verfestigen den Grundsatz der Preisstabilität als Mittel zur Zielerreichung. Während Preisstabilität als allgemeines Ziel fehlt, verstößt ihre Instrumentalisierung als Grundsatz gegen das Offenheitsgebot des Prinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität. An dieser Lage ändert schließlich auch die Änderung des Art. 88 Satz 2 GG nichts, der, wie Herdegen behauptet, zu einer "Symmetrie von Grundgesetz und Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft" gefilhrt hätte. 960 Ent-
959 Europäische Zentralbank. Die Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, in: Europäische Zentralbank, Monatsbericht Mai 1999, S. 49 ff. (S. 49).
960 M. Herdegen, Art. 88, in: MaunzlDürig, GG, Rn. 4: "Mit dem Verweis auf die institutionelle Unabhängigkeit und den Primat der Preisstabilität bei der Währungspolitik
6. Teil: Resümee und Ausblick
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scheidend fUr diese Symmetrie ist nämlich nicht Art. 88 Satz 2 GG, der zwar eine bedeutsame, aber doch eine nur zentralbankbezogene Sondervorschrift darstellt, sondern die von Art. 23 Abs. I GG fiir die europäische Integration explizit gesetzte, aber auch aus sich herauswirkende Voraussetzung des Sozialprinzips, das eben das Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität beinhaltet. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Europäischen Union mit ihrer absehbaren Erweiterung nach Osten, die auch das Streben der Europapolitik nach baldiger Aufnahme weiterer Staaten in die Währungsunion nach sich ziehen wird, sollten diese Überlegungen eine nicht unwesentliche Rolle spielen; denn eine fiir das Gelingen der Währungsintegration notwendige Konvergenz muß sich am Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität orientieren; nur sie läßt sich rechtlich begründen. Die gemeinsame, vertraglich vereinbarte Verpflichtung auf einen allgemeinen operativen Grundsatz der Preisstabilität - abgesehen von dessen Plazierungswidrigkeit im verfassungsähnlichen Text aufgrund seiner Theoriebindung - und im wesentlichen auf diesen Grundsatz abstellende Konvergenzkriterien dagegen entbehren zum einen dieser rechtlichen Begründung und können zum anderen nach heutigem Erkenntnisstand den Erfolg der Währungsintegration nicht garantieren; jedenfalls existieren anderslautende Theorien und gegenteilige Untersuchungen. Mit der Erweiterung der Europäischen Union werden die in der Realität zu bewältigenden Probleme in der Gemeinschaft noch ansteigen. Besonders wird bei mangelnder Konvergenz - wie bereits ftir den bisherigen Teilnehmerkreis befilrchtet - die vor allem auch währungsunionsbedingte Notwendigkeit von Finanztransfers filr Sprengsatzqualität in der Union sorgen. Kommenden Regierungskonferenzen zu einer weiteren Vertragsüberarbeitung obliegt es, das Gemeinschaftsrecht vor allem auch in Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion zu erneuern und bestehende Mängel auszuräumen; denn die Währungsunion ist mittlerweile gegeben, aufgrund des gemeinsamen Lebens und der gegenseitigen Beeinflussung der Lebensbedingungen in den Staaten Europas als gemeinsames Rechtsinstitut auch rechtlich rechtfertigbar, vor allem aber ihre Umkehrung in der Realität nahezu unvorstellbar. Ihr Fundament muß jedoch dem Recht entsprechen. Deutschland sollte deshalb im Interesse der Währungsunion selbst auf eine Änderung der Verträge hinwirken, die das Gemeinschaftsrecht in Übereinkunft mit den Verfassungsprinzipien bringt. Hat sich zuletzt der Außenwert der neuen gemeinsamen Währung erwartungsgemäß schmerzlich verschlechtert und kam deshalb in der politischen Diskussion die
stellt Art. 88 Satz 2 GG die Symmetrie von Grundgesetz und Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft her."
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6. Teil: Resümee und Ausblick
Frage auf, ob denn zur vorher nur im allgemeinen als Preisstabilität verstandenen Stabilität nicht auch der Außenwert hinzukäme, mögen sich bei einer etwaigen Negativentwicklung anderer wirtschaftlicher Parameter auch diese als Element der "Stabilität" in den Vordergrund drängen. Aus rechtlicher Sicht nimmt diese Betrachtung deshalb schon im voraus zur "Stabilität als Verfassungsprinzip" Stellung.
Zusammenfassung Den Ausgangspunkt dieser Betrachtung bildet der in der Diskussion um die Europäische Währungsunion im Mittelpunkt stehende Begriff "Stabilität". Stabilität sollte bekanntermaßen als Kriterium filr den Eintritt in die Währungsunion dienen und Kennzeichen der Währungsunion sein. Daraus resultierte die "Stabilitätsgemeinschaft", die nicht nur ein Begriff der Politik, sondern vor allem ein Begriff des Rechts ist. In der Auseinandersetzung über die Währungsunion wurde aber zunehmend deutlich, daß "Stabilität" nicht gleich "Stabilität'' ist und das Rechtsprinzip der Stabilität einer Klärung bedarf. Die Arbeit beschäftigt sich deshalb mit dem Verfassungsprinzip "Gesamtwirtschaftliche Stabilität", wie es der deutschen Wirtschaftsverfassung zu entnehmen ist, und seiner Rolle fi1r Deutschland im Prozeß der Europäischen Währungsintegration. Der Überblick am Ende des Ersten Teils läßt die Vorgehensweise erkennen: Nach der Erarbeitung der"Gesamtwirtschaftlichen Stabilität als primär relevante Stabilitätsdimension für die Europäische Währungsunion" im Zweiten Teil folgt die verfassungsdogmatische Herleitung des Rechtsprinzips "Gesamtwirtschaftliche Stabilität" im Dritten Teil. Der Vierte Teil zeigt die Materialisierung des Prinzips durch das Staatsziel des "Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts", bevor im Fünften Teil der Frage nachgegangen wird, ob und inwieweit das europäische Gemeinschaftsrecht diesem Prinzip entspricht. Das Resümee samt einem kurzen Ausblick auf künftige Entwicklungen der Europäischen Union schließt die Betrachtung ab. Der Zweite Teil setzt zunächst an begrifflichen Grundlagen an. Gezeigt wird kurz die unterschiedliche Verwendung des Begriffs "Stabilität'' im allgemeinen Sprachgebrauch sowie in verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft, wobei sich "Stabilität" einerseits als Eigenschaft und andererseits als eigener Gegenstand mit Referenzfunktion erweist. "Stabilität" bedarf grundsätzlich eines materialen Zuordnungsobjekts und ist stets mit einer positiven Bewertung verbunden. Die Wirtschaftswissenschaft bedient sich des Begriffs in seinem Eigenschaftscharakter im Rahmen der Gleichgewichtstheorie; im speziellen Kontext der "Stabilitätspolitik" kristalliert sich ein im Sinne eines mehrdimensionalen Zielkanons verstandener Stabilitätsbegriff bezogen auf die Gesamtwirtschaft heraus.
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Zusammenfassung
Für die Verfassungslehre stellt sich die Frage nach "Stabilität im Gemeinwesen". Der mit der Stabilität verbundene Bewertungsvorgang kann sich dabei nur auf Grundlage der Verfassung und der Verfassungsgesetze vollziehen. Von Stabilität des Gemeinwesens i.w.S. ist zu sprechen, wenn alle Verfassungsforderungen verwirklicht werden, wenn die Verfassung "gelebt" wird. Die Behandlung von Stabilität im Kontext Staat, Währung und Integration als spezielle Frage der Stabilität im Gemeinwesen erfordert die Berücksichtigung der entsprechenden thematisch einschlägigen Verfassungsvorschriften. Die Ausruhrungen verdeutlichen, daß aber selbst in dem an sich engeren inhaltlichen Kontext der Diskussion um die Europäische Währungsunion "Stabilität" in sehr verschiedenen Interpretationen und als Teil einer Reihe unterschiedlicher Schlagworte - Stabilitätsgemeinschaft, Euro-Stabilität, Stabilitätspakt - verwandt wurde und wird. Unterschiede in diesen zugrundeliegenden Begriffsverständnissen werden erst bei näherer Beleuchtung des jeweiligen Zusammenhangs und der jeweiligen Gesamtaussagen deutlich. Das grundlegende Verständnis von Stabilität geht in den Diskussionsbeiträgen nur selten explizit hervor. Erst recht fehlt zumeist die verfassungsrechtliche Untermauerung. Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil die "Stabilitätsgemeinschaft'' als Voraussetzung der Teilnahme Deutschlands an der Währungsunion bestimmt, was die Frage aufwarf, worin denn im innerdeutschen Kontext überhaupt die Grundlage dieser Voraussetzung zu suchen ist und, dem folgend, welche Stabilitätsausprägung dementsprechend rechtlich zu begründen ist. Die dogmatische Herleitung des Prinzips "Gesamtwirtschaftliche Stabilität" basiert- so fiihrt es der Dritte Teil der Arbeit aus - auf dem Sozialprinzip, das zu den elementaren Verfassungsprinzipien der Bundesrepublik Deutschland wie einer jeden Republik gehört und nicht, wie es häufig der Fall ist, auf ein bloßes Staatsziel reduziert werden darf. Als grundsätzlich offenes, nicht etwa unbestimmtes, Prinzip fordert das Sozialprinzip die permanente Anpassung der Gesetze an die aktuelle Lage und den dazugehörigen Stand der Wissenschaft; das Sozialprinzip findet in den Gesetzen also seine Verwirklichung. Der Gesetzgeber kann dabei grundsätzlich einem makrosozialen Ansatz einerseits, einem mikrosozialen Ansatz andererseits folgen. Im Interesse allgemeiner Freiheit, dem Zweck der Republik, obliegt dem Staat die Verpflichtung zu allgemeiner Selbständigkeit; denn immaterielle wie materielle oder ökonomische Selbständigkeit eines jeden Einzelnen ist Voraussetzung allgemeiner Gesetzlichkeit und damit allgemeiner Freiheit. Der Staat ist deshalb mindestens zur Existenzsicherung eines jeden verpflichtet. Vor allem aber muß er wirtschaftliche Rahmenbedingungen schaffen und aufrecht-
Zusammenfassung
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erhalten, in denen der Einzelne bestmöglich aus eigener Kraft Selbständigkeit - eigens begründete Selbständigkeit- erlangen kann. Dieser Primat des makrosozialen Ansatzes ergibt sich aus dem Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung und den Nachteilen des mikrosozialen Ansatzes, welche in der Beschränkung des Privatheitsgrundsatzes, geringerer, wenn nicht sogar fehlender Motivationseignung, realpolitischer Mißbrauchsgefahr sowie in einer natürlichen Begrenztheit staatlich-materieHer Leistungsfahigkeit liegen. Im Hinblick auf die konkreten Mittel und Maßnahmen ist das Sozialprinzip aber zwangsweise offen und liefert keine verpflichtenden Vorgaben, da die Kontingenz dazu notwendiger Theorien eine solche verfassungsmäßige Aussage nicht zuläßt. Allerdings bedarf es bei aiier Offenheit der materialen (Ziel-) Orientierung, die es in wichtigen Aspekten findet, die ökonomische Selbständigkeit entscheidend ausmachen. Diese Aspekte stellen die "ökonomischen Imperative" des sozialen Stabilitätsprinzips dar. Als solche Determinanten der Selbständigkeit erweisen sich schließlich Beschäftigung und Geldwertstabilität Für beide läßt sich mit Blick auf die Grundrechtsfragen der Arbeit und des Eigentums ein mit höchster Verbindlichkeit ausgestatter Verfassungsrang begründen. Sie werden ergänzt vom Wachstumsaspekt, der wegen des geringeren Bezugs zum Einzelnen einen abweichenden Charakter aufweist, seinen Bedeutungsgehalt aber doch durch seine Notwendigkeit fur die Motivation zu eigens begründeter Selbständigkeit gewinnt. Das Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität läßt sich folglich in diesem Zielkanon - Beschäftigung, Geldwertstabilität und Wachstum- ausdrücken. Das Grundgesetz trägt dem schließlich mit der Verpflichtung auf das Gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Sinne einer Positivierung der wirtschaftlichen Implikation des Sozialprinzips Rechnung. Die Betrachtung wendet sich nach der verfassungsrechtlichen Grundlegung des vorhergehenden Teils nun dem Verfassungsbegriff "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" des Art. I 09 Abs. 2 GG zu. Mangels aktuellen Schriftguts im wesentlichen· auf frühe Literatur zum Thema aus den 1970er Jahren zurückgreifend, wird der allgemeine Anwendungsbereich der Vorschrift begründet, die somit nicht nur im finanzverfassungsrechtlichen Kontext zu beachten ist, sowie die notwendige und vom Verfassungsgesetzgeber klar gewollte Offenheit des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausgeflihrt. Die im Anschluß dargelegte Entstehungshistorie der Verfassungsvorschrift und des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes sowie die Analyse der Literatur legen die Auslegung des Begriffs durch die in § I Satz 2 des Stabilitätsgesetzes genannten Teilziele des sogenannten "magischen Vierecks" mehr als nah. Unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Offenheit des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts entspricht dies auch der Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts, das seit einer
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entsprechenden Stellungnahme in einer Entscheidung zur Staatsverschuldung Ende der 1980er Jahre von dieser Position nicht abgerückt ist. Die anschließende Untersuchung des Zielsystems des Stabilitätsgesetzes widmet sich zunächst den einzelnen Zielelementen und ihrer möglichen Operationalisierung, die gesetzlich nicht weiter definiert ist. Drei der vier Zielkomponenten - Preisniveaustabilität, hohes Beschäftigungsniveau sowie angemessenes und stetiges Wachstum - spiegeln die ökonomischen Imperative als material-ökonomische Essenz des sozialen Stabilitätsprinzips wider. Das Teilziel des außenwirtschaftliehen Gleichgewichts verftlgt über keine Eigenständigkeit, ist von stark "technischen" Charakter und erfuhr schon in der damaligen Literatur nur eine Randstellung, obwohl von grundsätzlicher formaler Gleichrangigkeit der vier Zielelemente auszugehen ist. Die Verhältnisdiskussion ist aber insofern notwendig, als in der Volkswirtschaftslehre Zielkomplementaritäten und Zielkonflikte angenommen werden, über die jedoch keine abschließende Einigkeit besteht und schon deshalb keine gesetzlich vorgesehene Rangfolge bestehen kann. Für Entscheidungen über wirtschaftspolitische Maßnahmen muß demgemäß von praktischer Konkordanz ausgegangen werden. Die Behandlung des Themas "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" erfolgt hier jedoch nicht - wie zu früheren Zeiten in der Debatte über die Verfolgung des wirtschaftspolitischen Konzepts der Globalsteuerung- mit Blick auf wirtschaftspolitische Lenkung, sondern zur Auslegung und zur rechtspositiven Verfestigung des Prinzips gesamtwirtschaftlicher Stabilität. Es wird erkennbar, daß die Teilziele in diesem Zusammenhang auch wirklich als eigenständige Zielkompenenten und nicht als Mittel zur Erreichung zu sehen sind. Sie beinhalten entsprechend der allgemeinen Funktion des Sozialprinzips einen ökonomischen, spezifizierten Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber; nur ftlr dessen konkrete Verfolgung, d.h. die Mittel der Zielerreichung, ist aufgrundder Kontingenz von Theorien Offenheit geboten, nicht aber ftlr die Zielsetzung, die sich schon aus dem Prinzip der gesamtwirtschaftlichen Stabilität ergibt. Der Fünfte Teil der Arbeit rückt nun das europäische Gemeinschaftsrecht in den Vordergrund. Davon ausgehend, daß sich das deutsche Verfassungsprinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität im Gemeinschaftsrecht als Voraussetzung der Teilnahme Deutschlands am lntegrationsprozeß der Europäischen Union, insbesondere an der bereits begonnenen dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, wiederfinden muß, beschäftigen sich die folgenden Abschnitte mit Stabilitätsaspekten in den Gemeinschaftsrechtstexten. Nach einer Erörterung des vertraglich fixierten, aber dem Effizienzprinzip unterstellten Grundsatzes der freien Marktwirtschaft wird ersichtlich, daß die
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relevante Struktur des Gemeinschaftsrechts nicht mit dem im Dritten und Vierten Teil entwickelten Verfassungsprinzip übereinstimmt; denn in den Zielsetzungen der Verträge finden sich vorrangig Beschäftigung und Wachstum. Die nach dem Prinzip auf gleiche Stufe gestellte Preisniveaustabilität stellt der Gemeinschaftsvertrag dagegen nicht nur für die Währungspolitik, sondern auch für die Wirtschaftspolitik als operativen Grundsatz heraus und somit auf andere Ebene. Damit weicht der Vertrag seit seiner Maastricht-Revision zudem von der im frtlheren Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft enthaltenen Zielsetzung ab, die noch in eindeutiger Übereinstimmung mit dem Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität stand. Die Voraussetzungen zum Übergang in die dritte Stufe der Währungsunion orientieren sich nahezu ausschließlich am Aspekt der Preisstabilität und lassen die anderen Zielelemente außen vor. Dies betrifft vor allem die Konvergenzkriterien, die sich entgegen der Empfehlung der Theorie optimaler Währungsräume - diese fordert vor allem realwirtschaftliche Entscheidungsparameter - auf monetäre und fiskale Kriterien beschränken. Ferner zeigt sich, daß die Vorschriften zur Europäischen Zentralbank und zum Europäischen Zentralbanksystem an das Vorbild der Deutschen Bundesbank zwar angelehnt werden sollten, aber mit zu strengem Blick auf den Grundsatz der Preisstabilität in entscheidenden Fragen abweichen. Dies betrifft insbesondere die fehlende demokratische Legitimation der Zentralbank. Auch der sogenannte Stabilitätspakt und das neue Europäische Wechselkurssystem - als Teile des Sekundärrechts - orientieren sich hauptsächlich an der Preisstabilität Das abschließende Kapitel des Fünften Teils faßt zunächst nochmals die Ergebnisse der Textanalyse der beiden vorhergehenden Kapitel zusammen und konstatiert dann die verlorene Zielkongruenz zwischen deutschem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht. Als wesentliche Begründung werden dabei besonders der gemeinschaftsrechtliche Verstoß gegen die notwendige Offenheit in Fragen der Zielerreichung und andererseits wiederum das Fehlen eines eigenständigen Ziels der Preisstabilität genannt, bevor noch ein kurzer grober Vorschlag filr eine das Prinzip gesamtwirtschaftlicher Stabilität berücksichtigende Umgestaltung des Gemeinschaftsrechts erfolgt. Im Sechsten Teil endet die Betrachtung mit einem nochmals zusammenfassenden und wertendem Resümee, dem ein knapper Ausblick auf die künftige Entwicklung folgt.
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Sachwortverzeichnis Arbeit 106 ff. - als Eigentum 113 ff. - Recht auf l 09 ff. - und eigens begründete Selbständigkeit 106 ff. - und Eigentum l 06, 112 ff. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht 178 f. - als Imperativ des Sozialprinzips 199 - als Stabilisierungsziel 186 ff. - als Ziel des EWGV 151, 220 ff. - als Ziel des StWG 149 Beschäftigung 176 ff. - als Querschnittsziel 219 als Staatsziel 186 ff. als Ziel des EGV 213 ff., 291 als Ziel des EUV 212 f., 290 f. als Ziel des EWGV 151,215, 220 ff., 297 als Ziel des StWG 149 - Beschäftigungstitel im EGV 219 - Operationalisierung 176 ff. - Unterbeschäftigung 177 f. Brüderlichkeit 80 ff. Bundesstaatsprinzip 61 Bundesverfassungsgericht 165 ff., 258 ff. Demokratie 81 f. Demokratieprinzip 280 Eigentum I 06 - Bestandsschutz 123 ff. Gebrauchsschutz 123 ff. Geldwertschutz 123 ff., 128 ff. Schutzpflicht 128 Tauschwertschutz 123 ff. und Arbeit I 06, 112 ff. 23 Hänsch
- und Eigenes 113 - und Freiheit 118 ff. Euro-Beschluß 32, 55, 120, 122, 128 ff. Europäische Währungsunion - Beginn 27 ff. - Diskussion 31 ff., 51 ff. - unklare volkswirtschaftliche Beurteilung 253 ff. - und Arbeitsmarkt 246 ff. - Notwendige Voraussetzungen 224 ff. Europäisches Währungssystem 234 ff., 287 ff. Europäische Union - Effizienzvorbehalt 207 f. - Grundsatz der offenen Marktwirtschaft 20 l f. - Verfassung 208 Europäische Zentralbank 225 f., 267 ff. - demokratische Legitimation 278 ff. - Konvergenz im Zentralbankrecht 281 - Unabhängigkeit 270 ff. - und Preisstabilität 268 ff., 295 Finanztransfers 249 ff. Finanzverfassungsreform 53, 138 ff., 150 ff. Freiheit 79 ff. - allgemeine 79 ff. - äußere 83 - Autonomie des Willens 80 - innere 83 - politische 80 - und Eigentum 118 ff. - und Geld 121 ff. Geldpolitik 28, 150 f. Geldwertstabilität 55, 173 f. siehe Preisniveaustabilität
354
Sachwortverzeichnis
Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 43 ff., 106, 127, 135 ff. - als Staatsziel 142 ff., 301 f. - Gleichrangigkeil der Teilziele 181 ff. - Justiziabilität 191 ff. - Materialisierung 149 ff. - Offenheit 144 ff., 193 f., 203 f., 303 f. - Operationalisierung 148 ff., 170 f. - Verbindlichkeit 191 ff. - Zielsystem 168 ff. Gleichgewicht - Gleichgewichtstheorie 42 ff. - in der Volkswirtschaftslehre 42 ff. - Stabilitätspolitik 43 ff. Gleichheit 80 ff. Grundgesetz 61 ff. - soziale Grundrechte 67, 110 - Sozialprinzip 61 ff. - Strukturprinzipien 61 f., 97, 280 - Verfassungsgesetz 80 - Wirtschaftsverfassung 96 f. Grundrechte - Arbeit siehe Arbeit - Eigentum siehe Eigentum - objektiver Gehalt 99 Haavelmo-Theorem 200 f. Haushaltsdisziplin 230 ff., 264 f., 283 ff. Haushaltswirtschaft 138 ff. Kategorischer Imperativ 83 Keynes 138 f., 152 f. Konvergenzkriterien 54 f., 224 ff. - als Stabilitätsausdruck 226 ff. - fragwürdige Eignung 255 f. - Konvergenzstand 262 ff. - Preisstabilität 294 f. - Verbindlichkeit 256 ff. - volkswirtschaftliche Begründung 239 ff. Kooperationsverhältnis 90 f. Leistung 107 Liberalismus 79
Maastricht-Urteil 32, 54, 90 f., 228, 257 f. Magisches Viereck 45, 58, 160, 169, 190, 195 ff., 204, 222, 297, 311 Marktliehe Sozialwirtschaft 96 ff., 210 Monetarismus 44, 185, 200 ff. Nachhaltigkeil - im EUV 212 f. Nominalprinzip 171 f. Phillipskurve 185 f. Praktische Konkordanz 189 f. Preisniveaustabilität 55, 58, 171 ff. - als Grundsatz der EU-Politiken 215 ff., 293 ff., 297, 307 als Imperativ des Sozialprinzips 199 als Konvergenzkriterium 229 f., 262 f. , 294 f. als Stabilisierungsziel 180 ff. als Ziel des EGV 213 ff., 291 f. als Ziel des EWGV 151, 220 ff. als Ziel des StWG 149 - äußere 55 - Geldstabilität 55, 173 f. - im Recht der EU 211 ff., 290 f. - innere 55 - Operationalisierung 174 ff. - Quantifizierung 174 ff. - und Eigentum 121 ff. - und EZB 268 ff. - und Unabhängigkeit der Zentralbank 270 ff. - volkswirtschaftliche Bedeutung 171 ff. - Vorrang 183 f., 269 ff. - Währungsstabilität 173 f. Prinzip begrenzter Ermächtigung 268 Rechtsstaatsprinzip 61 Rechtswissenschaft - und Nationalökonomie 51 ff., 145 f. , 148, 165 ff., 199 f. Republik 79 Selbständigkeit 83 ff., 92 ff., 99 ff., 106 ff. - Anreiztheorie I 00 f. - eigens begründete 99 ff.
Sachwortverzeichnis -
materiales Selbständigkeitsmaß 102 f. - Sittlichkeit 83 f., 100 f. - Sozialprinzip 84 - und Arbeit 106 ff. - und Eigentum 121 ff. - und Geld 121 ff. - Vorrang der Privatheil 84, 99 f. , 104f. Sozialprinzip 61 ff. - als Prinzip 76 ff., 79 f., 87 ff. - Existenzsicherung 64, 93 f., 102 f. - in der EU 201 ff., 208 ff. - Justiziabilität 86 ff. - makrosoziale Realisation 65, 96 ff., 98 ff., 104 ff., 109 - Materialisierung 62 ff. - mikrosoziale Realisation 65, 96 ff., 98 ff., 103 - Offenheit 66 ff., 102 ff., 144 ff. - Selbständigkeit 84 - Sozialstaatsprinzip 61 ff. - Staatszielbestimmung 71 ff., 77 ff., 87 - und Geldwertschutz 127 - und Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 135 ff. - Verbindlichkeit 86 ff. - Verwirklichung durch Gesetze 70 ff. Soziale Marktwirtschaft 96 ff. Staat 82,95 Staatlichkeil 89, 92 Staatszielbestimmung 71 ff., 87, 109 ff., 143 f. Staatsziele n ff., 116 ff. Stabilität - absolute 40 - als Prinzip 142 - als Ziel des EWGV 223 - Ausdruck des Sozialprinzips 92 ff. - Begriffsursprung 38 f. - doppelte Funktionalität 39 ff. - Eigenschaft 40 - EWU-Diskussion 32 f., 51 ff. - Gegenstand 40 - Gemeinwesen 64 ff. - Gesamtwirtschaftliche 45, 138 ff., 147 - Gleichgewichtstheorie 42 f.
355
in der EU 211 ff. in der EWU 59 f. Kriterium der EWU 33 optimaler Stabilitätsgrad 149 politische 46 ff. Preisniveau siehe Preisniveaustabilität - rechtliche 50 - Rechtsbegriff 53 ff. - Sicherheit 38, 41 - Staat 46 ff. - Stabilitäts- und Wachstumspakt 56 f., 282 ff. - Stabilitätsgemeinschaft 54 f., 129, 201,228,310 - Stabilitätskriterien 54 f., siehe Konvergenzkriterien - Stabilitätskultur 57 f., 306 - Stabilitätspakt 56 f. - Stabilitätspolitik 43 ff., 57 f. - Stabilitätsprinzip 33, 201, 290 ff., 311 - Stabilitätsprogramme 56 - Verfassung 48 ff. - Wissenschaftsdisziplinen 39 f. - Zielkonstellation 41 , 45 Stabilitäts- und Wachstumsgesetz 142, 145, 149 ff., 157 ff., 190 f., 196 ff. Subsidiarität 99 -
Theorie optimaler Währungsräume 242 ff. Umwelt 190 f. Unbestimmter Rechtsbegriff 170 Verhältnismäßigkeit I 03 Verteilung 190 f. Wachstum 130 ff., 179 f. als Imperativ des Sozialprinzips 199 als Stabilisierungsziel 186 ff. als Ziel des EGV 213 ff., 291,297 als Ziel des EUV 212 f., 290 f. als Ziel des EWGV 222 - als Ziel des StWG 149 - Anreiz 130 f. Operationalisierung 180 - Residualprivatnützigkeiten 131 f. Vorrang 182
356 Währung - und Bürger 30 f. Währungsstabilität 173 f. siehe Preisniveaustabilität Wechselkurs - als Konvergenzkriterium 234 ff., 266 f.
Sachwortverzeichnis Wirtschaftsordnung 96 ff. Wirtschaftsverfassung 96 ff. , !54 ff., 206 ff., 210 Zins - als Konvergenzkriterium 238, 263