superficies: Oberflächengestaltungen von Bildwerken in Mittelalter und Früher Neuzeit [1 ed.] 9783412523435, 9783412516826, 9783412523428, 9783412523411


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superficies: Oberflächengestaltungen von Bildwerken in Mittelalter und Früher Neuzeit [1 ed.]
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SUPERFICIES OBERFLÄCHENGESTALTUNGEN VON BILDWERKEN IN MITTELALTER UND FRÜHER NEUZEIT

MAGDALENA BUSHART, ANDREAS HUTH (HG.)

Magdalena Bushart / Andreas Huth (Hg.): superficies MAGDALENA BUSHART, HENRIKE HAUG (HG.): GETEILTE ARBEIT. ISBN 978-3-412-51682-6 © 2020 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE. KG, WIEN KÖLN WEIMAR

1. KORREKTUR 2 3 4

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

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1. KORREKTUR 2 3 4 Magdalena Bushart / Andreas Huth (Hg.): superficies MAGDALENA BUSHART, ANDREAS HUTH (HG.): SUPERFICIES. ISBN 978-3-412-52341-1 © 2022 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE. KG, WIEN KÖLN

Interdependenzen Die Künste und ihre Techniken Band 6

Herausgegeben von Magdalena Bushart und Henrike Haug

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Magdalena Bushart / Andreas Huth (Hg.): superficies MAGDALENA BUSHART, HENRIKE HAUG (HG.): GETEILTE ARBEIT. ISBN 978-3-412-51682-6 © 2020 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE. KG, WIEN KÖLN WEIMAR

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Magdalena Bushart | Andreas Huth (Hg.)

superficies Oberflächengestaltungen von Bildwerken in Mittelalter und Früher Neuzeit

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

BÖHLAU VERLAG  WIEN KÖLN

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen: Vorderseite, obere Reihe: Details aus Beitrag Carl, Abb. 4 und Beitrag Körner, Abb. 4, untere Reihe: Details aus Beitrag Nienas, Abb. 4/5 und Beitrag Jakstat, Abb. 1 in diesem Band. Rückseite, obere Reihe: Details aus Beitrag Köcher, Abb. 4 und Beitrag Schüppel, Abb. 5, untere Reihe: Details aus Beitrag Boeßenecker, Abb. 2 und Beitrag Myssok, Abb. 3 in diesem Band. Korrektorat: Ute Wielandt, Markersdorf Satz: Punkt für Punkt Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung:

Hubert & Co BuchPartner, Göttingen

Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52343-5

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Inhaltsverzeichnis 7

Magdalena Bushart und Andreas Huth Das Äußere und das Äußerste Bildwerke und ihre Oberflächen

29

Hans Körner Referenzmaterialien für Marmoroberflächen

57

Johannes Myssok Monolith und weiß Die Oberflächen von Michelangelos Skulpturen

75

Carina A.E. Weißmann Das Prinzip der Weichheit Die Bronzen des Massimiliano Soldani Benzi im Kontext der Florentiner Bronzetradition

93

Doris Carl Die Madonna ‚dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano Ein Beitrag zur Plinius-Rezeption des Quattrocento

111

Helen Boeßenecker „... il colore di marmo, che paiono proprio di quella pietra“ Oberflächengestaltung und Materialevokation bei den Tonplastiken Antonio Begarellis

137

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK Verismus und Materialästhetik in spanischen Bildwerken des 17. Jahrhunderts Sven Jakstat

Inkarnationen

163

Dieter Köcher Beobachtungen zur Polychromie des älteren Hochaltarretabels aus dem Mindener Dom

175

Lars Zieke Wiederholung und Variation Zur Ästhetik der Oberflächengestaltung gefasster Stuckreliefs im Florenz des 15. Jahrhundert

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197

Sarah Nienas Körper zwischen Himmel und Erde Funktionen polychromer Fassung am Beispiel des Rothenburger Hochaltarretabels von Friedrich Herlin (1466)

215

Katharina Christa Schüppel Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen Zur Medialität weiblicher Heiligkeit im Mittelalter

237

Bildnachweise

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1. KORREKTUR 2 3 4

Magdalena Bushart und Andreas Huth

Das Äußere und das Äußerste Bildwerke und ihre Oberflächen In einer Nacht kurz vor dem Johannistag im Juni 1491 schlich in Bergamo der Buchhändler Paolo de Aquate mit zwei Begleitern über den dunklen Platz hinter dem Palazzo della Ragione zur Cappella Colleoni.1 Dort waren gerade die im Vormonat von der venezianischen Bildhauerwerkstatt Pietro Lombardos gelieferten Altarfiguren installiert worden: Skulpturen aus bestem Carrara-Marmor mit wunderbaren Faltenwürfen, sorgfältig gearbeiteten Haaren und aufwendig geglätteten Hautpartien.2 Den Erwartungen, die Paolo und seine Gefährten an religiöse Bildwerke hatten, scheinen sie dennoch nicht genügt zu haben – sei es, weil die Männer gefasste Statuen wie Donatellos expressiven Johannes in der Frari-Kirche oder die aktuellen Arbeiten Pietro Bussolos bevorzugten, sei es, dass sie sich an den in diesen Jahren auch in Norditalien aufkommenden polychromen Beweinungsgruppen orientierten. Auf alle Fälle beschlossen sie, die Figuren in ihrem Sinne zu vollenden. Sie drangen in die Kapelle ein, holten die Statue des Täufers vom Altar und fingen an, sie zu bemalen. Noch in der Nacht wurden sie erwischt. In ihrer Anzeige warfen die Nachlassverwalter Bartolomeo Colleonis den Dreien vor, die Statue „entweder mit Öl oder einer anderen schändlichen Sache“ behandelt und ihr noch dazu einen Finger ­ab­gebrochen zu haben. Paolo landete als Anstifter des Unternehmens wenig später vor Gericht: Der Versuch, dem marmornen Johannes einen Farbanstrich zu verpassen, kostete ihn und seine Gefährten die nicht geringe Summe von 100 Dukaten.3 Man könnte die dilettantische Aktion als Provinzposse abtun. Sie ist aber in gewisser

ELEKTRONISCHER „Lebendigkeit“ und mimetische Korrektheit, den Referenzcharakter unterschiedlicher SONDERDRUCK

Weise symptomatisch. Lenkt sie doch unseren Blick auf Techniken und Semantiken der Oberflächengestaltung von Bildwerken in der Frühen Neuzeit: auf den Anspruch an Materialien und deren Bearbeitung sowie die Möglichkeit, das Erscheinungsbild der

Artefakte auch ohne Eingriffe in die Form, nur durch die Hinzufügung von Farbe, grundlegend zu verändern. Damit berührt sie das Problemfeld, dem diese Publikation gewidmet ist. Das Thema ist in der kunsthistorischen Forschung lange Zeit stiefmütterlich behandelt worden. Hier war man auf Fragen der Plastizität fixiert; Untersuchungen zur Oberfläche schienen hingegen in den Zuständigkeitsbereich der Kunsttechnologie zu fallen.4 Das hat sich mit Hans Körners Publikationen zur Bildhauerei des 17. und 18. Jahrhunderts, mit der Wiederentdeckung der Polychromie von Bildwerken, Giancarlo Gentilinis Forschungen zu

Das Äußere und das Äußerste I 7

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gefassten Reliefs und den materialorientierten Analysen zur modernen Bildhauerei geändert, die nicht nur die historischen Diskurse zu Gestaltung und Stellenwert der Oberfläche in Erinnerung gerufen, sondern auch eine neue Sensibilität für das Zusammenspiel von Material und Verfahren im Produktionsprozess eingefordert haben.5 Doch obwohl, angeregt durch Impulse aus der Philosophie, den Kultur- und den Literaturwissenschaften, die Beschäftigung mit künstlerisch gestalteten Oberflächen insgesamt deutlich zugenommen hat,6 blieb die Anzahl der Beiträge, die auf die Oberflächen von dreidimensionalen Objekten fokussieren, überschaubar.7 Im Zentrum des Interesses stehen Gemälde, Architektur und die Neuen Medien.8 Auch Hans Körners Wunsch, die Kunstgeschichte möge sich „verstärkt auf die Geschichte der Oberflächen“ einlassen, ist bislang nicht eingelöst worden.9 Der Grund mag in den Eigenarten der Gattung zu suchen sein, die sich in vielerlei Hinsicht den aktuellen Debatten – etwa zur Horizontalität, den epistemologischen Qualitäten, der „semiotischen Transparenz“ oder der Bildhaftigkeit von Oberflächen – verweigert.10 Bildhauerische Oberflächen nämlich sind selten als homogene „Fläche“ erkennbar und noch seltener „flach“, sondern folgen in einem Wechselspiel von Hebungen und Senkungen den Volumina der Figuren. Sie definieren die Form und werden zugleich durch die Form definiert. Je nach Material, Funktion und Zustand sind sie opak oder bilden eine durchlässige Membran; manchmal bestehen sie aus mehreren Schichten, manchmal nur aus einer einzigen. Sie markieren eine Grenze zwischen einem „Innen“ und einem „Außen“ und stehen zugleich in einem komplexen Spannungsverhältnis zu ihrem „Darunter“. Obwohl konkret erfahrbar, sind sie doch in ihrer Wirkung von äußeren Faktoren wie Luft, Wasser und Licht abhängig; ihr Erscheinungsbild ist deshalb auch ohne direkte menschliche Eingriffe permanenten Veränderungen ausgesetzt und kann wahlweise den Eindruck von Härte oder Weichheit, Dauerhaftigkeit oder Beweglichkeit, Lebendigkeit oder Festigkeit vermitteln. Von diesen Besonderheiten handeln die hier versammelten Aufsätze. Sie zielen nicht auf die Formulierung einer umfassend gültigen Theorie zur bildhauerischen Oberfläche ab, sondern versuchen, sich den mit dem Gegenstand verbundenen Herausforderungen aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern. Wenn wir im Titel unseres Buchs auf das lateinische Wort „superficies“ zurückgreifen, dann nicht nur mit Referenz auf die Begriffsgeschichte – das deutsche Wort „Oberfläche“ geht vermutlich auf eine direkte Übersetzung durch den Sprachpuristen Philipp von Zesen von 1648 zurück – sondern auch mit Blick auf die Eigenarten künstlerischer Oberflächen.11 „Superficies“ leitet sich, ebenso wie das verwandte Wort „facies“, etymologisch von „facere“ („machen“) her, was das „Gemachtsein“ von Oberflächen in Erinnerung ruft. Sein griechisches Synonym επιφάνεια („Erscheinung“) hebt hingegen auf das „Sichtbare“, aber auch das „Sichtbarwerden“ und das „Sichtbarmachen“ ab. Dass die beiden Bedeutungen kaum voneinander zu trennen sind, zeigt sich schon bei Alberti, der den Begriff „superficies“ mit seinen Überlegungen zum Ursprung der Bildhauerkunst in die kunsttheoretische Debatte der Frühen Neuzeit eingeführt hat.12 Folgt man Alberti (De statua, um 1445), dann entstand die Gattung nicht

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1. KORREKTUR 2 3 4

allein aus der Modellierung von Material, sondern auch und vor allem aus der Bearbeitung der Oberfläche: Man nahm wohl zufällig einst an einem Baumstrunk oder an einem Erdklumpen oder sonst an ­irgendwelchen derartigen leblosen Körpern gewisse Umrisse [lineamenta] wahr, die – schon bei ganz geringer Veränderung – etwas andeuteten, was einer tatsächlichen Erscheinung in der Natur [veris naturae vultibus] ähnlich sah. Dies nun bemerkte man und hielt es fest und man begann sorgfältig zu erkunden und zu erproben, ob es möglich sei, an dem betreffenden Gegenstand etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen und schließlich alles das beizubringen, was zur Erfassung und zur Wiedergabe der wahren Gestalt des Bildes noch zu fehlen schien. Indem man also, soweit der Gegenstand selbst dazu riet, seine Umrisse und die Oberfläche ausbesserte und glättete [lineas superficiesque istic emendando expoliendoque], gelangte man zum erstrebten Ziel, nicht ohne dabei Lust zu empfinden. Kein Wunder, dass in der Folge das Bestreben der Menschen, [der Natur] Ähnliches zu schaffen, von Tag zu Tag wuchs, bis sie auch dort, wo im vorgegebenen Stoff keine Hilfe in der Form halbfertiger Ähnlichkeiten zu erkennen war, aus diesem Stoff trotzdem jedes beliebige Bild hervorzubringen vermochten.13

Die Manipulation von „lineas“ und „superficies“ stellte demnach die früheste bildhauerische Handlung dar, durch die Naturobjekte in die Repräsentation von Natur verwandelt wurden.14 Es war die Gestaltung der Oberfläche, die im Verbund mit dem Umriss aus dem Baumstrunk und dem Erdklumpen ein lebendig wirkendes „Bild“ machte und die Entwicklung avancierter bildhauerischer Techniken anregte – Techniken, die nun nicht mehr von vorgefundenen Naturformen abhängig waren, sondern Naturähnlichkeit rein durch die Materialbearbeitung evozieren konnten. Die superficies wird bei Alberti also einerseits als Ort beschrieben, an dem sich der künstlerische Eingriff des Glättens und Ausbesserns ­manifestiert, andererseits als Erscheinung, durch die sich überhaupt erst die lusterzeugenden Ähnlichkeitsbezüge zur umgebenden Welt herstellen lassen.15

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Zweierlei Oberflächen

Die Verzahnung von Gestaltung und Erscheinung in der superficies gilt nicht nur für die Bildhauerei. Auch bei der Malerei künden die Oberflächen vom Gemachtsein der Bilder; sie sind „Arbeitsspeicher“, die auf den Werkprozess zurückweisen und die ästhetische Würdigung wesentlich mitbestimmen.16 Bei genauerer Betrachtung treten gleichwohl eine ganze Reihe von Unterschieden zwischen den Gattungen zutage. Für die klassische Malerei lässt sich die Farbmaterie, die auf dem Bildträger aufliegt und unter Umständen durch eine Firnisschicht geschützt wird, als Oberfläche definieren. Oberflächen sind aber auch Gegenstand der Malerei, sofern diese sich der Mimesis verpflichtet fühlt; schließlich muss sich, wie Goethe in seinen Anmerkungen zu Diderot festgestellt hat, die Wiedergabe

Das Äußere und das Äußerste I 9

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der sichtbaren Welt in diesem Medium mit der „Darstellung der Oberfläche einer Erscheinung“ begnügen.17 Dadurch freilich wächst der Oberfläche, wiederum Goethe folgend, Referenzcharakter zu: Sie gibt nicht nur Auskunft über die Anordnung der Gegenstände im Raum sowie die materielle Beschaffenheit ihres Äußeren, sondern verweist darüber hinaus auf ein Innen – auf die Muskulatur und das darunterliegende Knochengerüst, aber auch auf Charaktereigenschaften oder veränderliche physische und psychische Regungen: Ja, das Äußere soll der Künstler darstellen! Aber was ist das Äußere einer organischen Natur anders, als die ewig veränderte Erscheinung des Innern. Dieses Äußere, diese Oberfläche ist einem mannigfaltigen, verwickelten, zarten, innern Bau so genau angepaßt, daß sie dadurch selbst ein Inneres wird, indem beide Bestimmungen, die äußere und die innere, im ruhigsten Dasein, so wie in der stärksten Bewegung stets im unmittelbarsten Verhältnisse stehen.18

Was die Oberfläche des Bildes und die Oberflächen im Bild miteinander verbindet, ist der Umstand, dass beide als Projektionsflächen fungieren: Die Oberfläche im Bild wird als Ausdrucksträgerin verstanden, die das komplexe Zusammenspiel zwischen äußerer Erscheinung und innerem ‚Wesen‘ sichtbar machen kann, ja selbst zu einem „Inneren“ wird. Die Oberfläche des Bildes hingegen steht für die Arbeit am Bild. Hier lassen sich für den kennerschaftlichen Blick Produktionsmodelle, theoretische Konzepte und künstlerische Haltungen nachvollziehen: das Zusammenwirken mehrerer Hände ebenso wie die genialische Geste eines Individuums, die feinmalerische Perfektion ebenso wie der pastose Farbauftrag, der Alterungsprozess ebenso wie die konservatorischen Eingriffe.19 Bei dreidimensionalen Bildwerken liegen die Dinge anders. Im Unterschied zum Gemälde, wo der Körper aus Farbe gebildet wird, ist er in Skulptur und Plastik tatsächlich Körper, also in seiner Plastizität und Räumlichkeit haptisch und peripatetisch erfahrbar. Die Abgrenzung des Gegenstands von anderen Gegenständen ist in der Regel identisch mit der Abgrenzung des Bildwerks vom Umraum; damit fallen die Oberfläche des Artefakts und die Oberfläche des Dargestellten zusammen. Ihre Dinglichkeit sichert den Statuen eine Präsenz, die sie als Stellvertreter von Menschen erscheinen lässt und sogar körperliches Begehren, aber auch Ekel hervorrufen kann.20 Diese Eigenschaften wurden schon in der Spätantike als Ausweis eines besonderen Wahrheitsanspruchs verstanden. So lobte der wohl im 4. Jahrhundert nach Christus anzusiedelnde Autor Kallistratos an den Bildwerken des Skopas die Überführung von „Nachahmung in ein wirklich Seiendes“ und pries den berühmten Meister als „Erzeuger von Wahrheit“, der die steinerne Materie nach seinem Willen geformt habe.21 Auch für Alberti lag das Charakteristikum der Gattung in der gegenständlichen Konkretion. Ob die Künstler ihre Werke in Metall trieben, in Ton modellierten oder aus Stein beziehungsweise Holz schlugen – stets verfolgten sie das gleiche Ziel: „Die Werke, die sie in Angriff nehmen, sollen – soweit das in ihrer Macht liegt – dem Betrachter so erscheinen, dass er den Eindruck gewinnt, sie seien den tatsächlichen Kör-

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1. KORREKTUR 2 3 4

pern in der Natur [veris naturae corporibus] vollkommen ähnlich.“22 Im Paragone-Streit des 16.  Jahrhunderts verwiesen die Bildhauer dann auf die Präsenz dreidimensionaler Werke, um die Priorisierung ihrer Gattung gegenüber der zweidimensionalen Malerei zu untermauern. In seiner Antwort auf Benedetto Varchis Umfrage postulierte etwa Giovanni Battista del Tasso, dass der Bildhauerei deshalb „der erste Rang“ zuzuerkennen sei, „weil sie die Sache selbst darstellt und weil sie das ist, was sie ist, und nicht das, was sie zu sein scheint, wie dies hingegen die Malerei tut.“ Skulpturen nämlich könne man von allen Seiten betrachten und so „an wahren Dingen teilhaben.“23 Zudem sprächen dreidimensionale Bildwerke nicht nur den Gesichts-, sondern auch den Tastsinn an, sodass man sie – anders als die Malerei – „beim Berühren empfinden [toccandola, le sentirete]“ könne.24

Die prüfende Hand Obwohl Giovanni Battista del Tasso allgemein von der „scultura“ sprach, die durch Berührung zu erfahren sei, galt seine Bemerkung doch in erster Linie der Oberfläche. Sie ist es schließlich, die taktile Sensationen vermittelt und zur Wahrnehmung von Eigenschaften wie Wärme oder Kälte, Härte oder Weichheit, Glätte oder Rauigkeit anregt – und dies unabhängig davon, ob eine Berührung tatsächlich erfolgt oder lediglich imaginiert wird. Die Sensationen variieren je nach Material und können durch bildhauerische Eingriffe intensiviert oder abgeschwächt werden. So lässt sich der Reiz des Ertastens dadurch steigern, dass Material und Darstellung in Kontrast zueinander gesetzt werden – etwa, wenn sich harter Marmor in weiches Fleisch und erstarrtes Metall in bewegliche Muskulatur oder tropfendes Blut verwandelt zu haben scheint. Auch dieser Aspekt, den wir für die Neuzeit insbesondere mit Bildwerken Gian Lorenzo Berninis und Benvenuto Cellinis verbinden, reicht als kunstliterarischer Topos bis in die Spätantike zurück.25 Hier sei noch einmal auf die Ekphrasen des Kallistratos hingewiesen, die die Wirkung einer solcherart transformierten Materie in immer neuen Wendungen beschwören. Über einen Bronze-

ELEKTRONISCHER Berührenden hob sich das Haar empor, weich anzufühlen.“ Und dem Standbild eines SONDERDRUCK

Amor des Praxiteles heißt es hier: „Kurz, zu bewundern war das Erz, denn dem Beschauer strahlte aus den Spitzen der Haare ein schwebendes Roth entgegen, unter der Hand des 26

Narziss wird die Formulierung eines Paradoxons bescheinigt. Schließlich sei in ihm „Marmor in Weichheit zerlassen, so dass er das Gegenteil seiner Natur darstellt: denn bei seiner natürlichen Härte ließ er doch üppige Weichheit empfinden, weil er in lockere Materie zerfloss.“27 Die Erkundung durch die Hand gibt aber nicht nur Auskunft über die Materie und ihre Ausdrucksqualitäten, sondern auch über deren technische Behandlung und damit über den künstlerischen Rang eines Werks. Lorenzo Ghiberti lobte in seinen Commentarii eine in Rom entdeckte Marmorskulptur eines Hermaphroditen mit den Worten: „Es gab an ihr [der Skulptur] so viele Feinheiten, und nichts davon nahm man mit dem Auge wahr, wenn

Das Äußere und das Äußerste I 11

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man es nicht mit der Hand durch Ertasten [zu begreifen] suchte.“28 Die Meisterschaft des antiken Bildwerks, die sich in den (mit „Feinheiten“ nur unzureichend übersetzten) „dolceze“, den Reizen einer differenzierten Oberflächengestaltung, offenbart, lässt sich für Ghiberti also erst in zweiter Linie durch Betrachtung erkennen. Vielmehr ist es der Tastsinn, der „begreift“ und den Sehsinn für die gestalterischen Finessen sensibilisiert. Das Zusammenspiel von Hand und Auge wurde in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts um ein drittes Moment erweitert: die Vorstellungskraft, die nun an die Stelle der unmittelbaren taktilen Erfahrung trat. Für Johann Gottfried Herder ermöglicht sie eine Verlebendigung, die – der Pygmalion-Mythos lässt grüßen – Bildwerk und Betrachter:innen so in Bezug zueinander setzt, dass sich Ersteres unter den Blicken Letzterer in Leben verwandelt: „Eine Statue muß leben, ihr Fleisch muß sich beleben: Ihr Gesicht und Mine sprechen. Wir müssen sie anzutasten glauben und fühlen, daß sie sich unter unseren Händen erwärmt.“29

Hülle, Haut, Epidermis Zu den berühmtesten Bildwerken der Antike gehörte die Kuh des Myron auf der Akropolis in Athen, deren Lebensnähe in einer ganzen Reihe von Epigrammen gefeiert worden ist.30 Auch das Epigramm des Euenos von Askalon preist die frappierende Wirkung der Bronze, allerdings nicht mit Blick auf die Täuschung, die in der überzeugenden Wiedergabe des Naturvorbildes liegt, sondern mit Blick auf das Verhältnis zwischen der Oberfläche und dem, was sich unter dieser Oberfläche verbergen könnte: „Entweder liegt um die Kuh eine eherne Haut nur von außen, oder dem Erzbild ist selbst Leben im Innern geschenkt.“31 Die Vorstellung, dass die Bronze nur die äußerste Schicht bildet, die ein (wie auch immer geartetes) lebendiges Wesen ummantelt, führt uns zu einer weiteren Eigenart der bildhauerischen Oberfläche. Sie fungiert nämlich nicht nur als Kontaktzone zwischen Kunstwerk und Rezipient:innen, sondern auch als Grenze zwischen einem „Innen“ und einem „Außen“. Schon die Suche nach einem adäquaten Ausdruck für diese Grenze zeigt, wie vielschichtig – im wahrsten Sinne des Wortes! – Oberfläche gedacht werden muss. Sprechen wir beispielsweise von Haut, Hülle, äußerer Schicht oder Überzug, muss es darunter einen Kern geben. Wo aber fängt die Oberfläche an, wo hört sie auf? Ist mit ihr nur das Äußerste des Äußeren gemeint oder kann sie (um bei dem Bild von der Haut zu bleiben) mehrere übereinanderliegende Schichten ausbilden? Worin  – und woraus  – besteht der Kern, ist er identisch mit der Form? Und in welchem Verhältnis stehen Kern (oder Form) und „Hülle“ zueinander? Lassen sie sich nur als Einheit denken oder gibt es Fälle, in denen sie ein getrenntes Leben führen? Dass diese Fragen nicht eindeutig zu beantworten sind, zeigt schon der Versuch, die materiellen Eigenschaften der Oberflächen näher zu bestimmen. Bleiben wir noch bei den Bildwerken aus Bronze und hier bei den im Hohlgussverfahren hergestellten Statuen, zu denen ja auch die Kuh des Myron gehört hat. Derartige Figuren seien, so Leon Battista

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Alberti (mit einer originellen Begründung), durch einen „Guss in dünner Schicht“ herzustellen, als ob sie „nur aus einer Haut bestehen“ würden; Vasari gab „dünnwandig [...] wie ein Messerrücken“ als ideale Stärke an.32 Bildwerk und superficies scheinen hier identisch zu sein. Dabei besitzt jede noch so dünne Bronzehaut eine weitere, ihre eigene Oberfläche. Schließlich wird sie nach dem Guss gesäubert, ziseliert, poliert, gelegentlich vergoldet und immer patiniert. Doch schon bei der Feuervergoldung und der Patinierung werden die Grenzen zwischen Transformation und Hinzufügung unscharf: Die Patinierung ruft an der Oberfläche eine chemische Reaktion hervor, die neben einer eigenen chromatischen Wirkung eine veränderte chemische Zusammensetzung zur Folge hat; bei der Feuervergoldung, bei der ein Amalgam aus Gold und Quecksilber aufgetragen und Letzteres durch Abrauchen wieder entfernt wird, ist es ähnlich. Bei diesem Verfahren dringt Gold in die Metalloberfläche ein, sodass eine stabile Verbindung entsteht. Wie Untersuchungen am Ostportal des Florentiner Baptisteriums gezeigt haben, waren die Mitarbeiter Lorenzo Ghibertis in der Lage, die Effekte der Feuervergoldung nach Bedarf zu variieren, ja sogar „in Gold zu malen“, wie Thomas Brachert schreibt.33 Die Identität von formgebendem Material und Oberfläche wird also an dieser Stelle unscharf. Ähnlich, aber doch wieder anders ist es bei der Marmorskulptur. Hier lässt sich die Außenseite des bearbeiteten Steinblocks als Oberfläche beschreiben, die sich aus differenziert gestalteten  – glatten, rauen, polierten, ornamentierten und gebohrten  – Partien zusammensetzt.34 Die superficies entsteht also zumindest in Teilen im Zuge jenes Formungsprozesses, der auch die Volumina erzeugt; „Innen“ und „Außen“ sind aus dem gleichen Material gefertigt. Der Einsatz der Werkzeuge und Schleifmittel entscheidet zwar über den Charakter und die Wirkung der Steinoberfläche – das Material als solches und seine Überwindung bleiben aber erkennbar und können einen eigenständigen Beitrag zur Semantik des Bildwerks leisten. Die ästhetischen Erwartungen an das finish brachte Giorgio Vasari im 9. Kapitel seiner Introduzione alle tre arti del disegno zum Ausdruck:

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Um die Figur ganz zu vollenden und ihr Zartheit, Weichheit und Feinheit [dolcezza, morbidezza e fine] zu verleihen, verwendet man gebogene Feilen [...]. Mit feineren Feilen und geraden Raspeln feilt man nun solange, bis man eine glatte Oberfläche erhält. Mit Spitzen von Bimsstein wird anschließend die ganze Figur abgeschabt und ihr damit jene fleischige Qualität [carnosità] verliehen, die die herrlichen Werke der Bildhauerei vor Augen führen. Außerdem verwendet man Gipskalk aus Tripolis für den Glanz und die Politur. Ebenso kann man Weizenstroh zu Bündeln fassen und die Figur damit abreiben, was sie mit ihrer glänzenden Politur in unseren Augen wunderschön erscheinen lässt.35

Der Stein muss keineswegs den äußersten Abschluss bilden; gerade in der Frühen Neuzeit wurden vielfach wächserne Überzüge, Lasuren, Teilvergoldungen oder Farbakzente eingesetzt, um besondere Effekte zu erzielen. Allerdings hat man diesen Hinzufügungen in

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der Regel keine eigene Agenda zugestanden, sodass sie in späteren Zeiten nicht mehr als konstitutiver Bestandteil der Gestaltung wahrgenommen und oft genug entfernt worden sind.36 Transparente wächserne Überzüge, wie sie an Gian Lorenzo Berninis Marmorskulpturen nachgewiesen werden konnten, dienten nicht nur dem Schutz der Steinoberfläche, sondern bestimmten auch deren Farbe und Wirkung mit.37 Neben der Annäherung an einen idealen „Fleischton“ ging es hierbei gelegentlich auch um die Ähnlichkeit zum gelblichen Ton gealterter – antiker – Marmorskulpturen, die ursprünglich (wenn sie nicht farbig gefasst gewesen waren) einen von Vitruv als γάνωσις bezeichneten Überzug aus einer Wachs-Öl-Mischung besessen hatten.38 Hier unterschieden sich also die Materialien von äußerer und abschließender Schicht. Das schlug sich auch in der Aufgabenverteilung nieder: Meist zeichneten für bildhauerische und malerische Arbeiten unterschiedliche Künstler verantwortlich. Die Kollaboration war für beide Seiten vorteilhaft; im Idealfall führte sie zur Steigerung der Einzelleistung. Dass dies den Beteiligten klar war, zeigt die berühmte Aussage des Praxiteles, die Plinius im Zusammenhang mit einem Athener Maler überliefert: „Dies ist jener Nikias, von dem Praxiteles, auf die Frage, welches seiner Werke aus Marmor ihm am besten gefielen, sagte: diejenigen, an die Nikias Hand angelegt habe [manum admovisset]. So viel gab er auf dessen Fassung [circumlitio].“39 Die Zielrichtung des Kommentars ist nicht eindeutig. Wir erfahren nicht, ob Praxiteles die Fassungen des Nikias als Verbesserung seiner Skulpturen sah oder ob er ihnen lediglich den Vorzug vor den Fassungen anderer Maler gab. Fest steht, dass für Praxiteles Marmorskulpturen das Resultat gemeinschaftlichen Arbeitens waren und die Polychromie maßgeblichen Einfluss auf die Wirkung der Werke hatte. Zugleich wird deutlich, dass die Qualität einer Fassung durchaus differieren und ein Bildhauer die Beteiligung eines besonders talentierten Kollegen als Glücksfall ansehen konnte.40 Bedauerlicherweise ist die Farbigkeit antiker Skulpturen nurmehr in Rekonstruktionen erfahrbar; bis auf geringe Reste ist nichts von ihr geblieben, weshalb monochrome Marmorarbeiten spätestens im 16. Jahrhundert (hier sei noch einmal an den ParagoneStreit erinnert) zum Inbegriff bildhauerischen Könnens wurden.41 Der Verzicht auf die Fassung (die nicht mit Farbe gleichzusetzen ist) wurde zum Ansporn und Motor bei der Ausdifferenzierung der Oberflächengestaltungen.42 Hierüber geriet allerdings die kräftige Polychromie nicht weniger älterer Marmorskulpturen, wie sie beispielsweise in der Cappella Capece Minutolo im Dom von Neapel noch sichtbar ist, in Vergessenheit.43 Während bei Bildwerken aus Marmor und Bronze in der Regel die Überzüge kaum in die Form und ihre Konturen eingreifen, ist das bei Arbeiten aus Holz, Terrakotta, Kork und Cartapesta oft anders: Hier bestimmen auf das Kernmaterial applizierte Modelliermassen bzw. die die Fassung tragenden Grundierungen die Form mit. Ein zwischen diesen Polen liegendes Verfahren ist die von Luca della Robbia in den 1440er-Jahren für großformatige Bildwerke aus Terrakotta entwickelte Glasurtechnik, die bis ins 16.  Jahrhundert das Markenzeichen der Della-Robbia-Familie blieb.44 Die schimmernde Glätte der Glasur und die Reinheit ihrer Farben standen in deutlichem Kontrast zu den Produktionsbedingungen,

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die sich wie der Bronzeguss als „un lavoro sporco e fumoso“ beschreiben ließen.45 Da die Werkstatt innerhalb des Stadtgebiets (und unweit von S. Maria Novella und des Palazzo Medici) lag, konnten zumindest die Florentiner:innen erahnen, in welcher Atmosphäre sich das Wunder der Transformation von geringem, wertlosem Material in Kunst vollzog – auch wenn die Della Robbia ihr technologisches Wissen geheim hielten.46 Der Verzicht auf die bei polychromierten Bildwerken übliche Arbeitsteilung zwischen Bildhauer bzw. Bildner und (Fass-)Maler hing nicht so sehr mit der Abfolge von Schrüh- und Glasurbrand und der für beide Schritte notwendigen Benutzung von speziellen Öfen zusammen als mit der Sicherung des Monopols. Die besonderen Eigenschaften der Della-Robbia-Arbeiten verbanden sich mit allgemeinen Wertvorstellungen wie Sauberkeit, Makellosigkeit und Reinheit, sodass der Überzug die Ikonografie der Bildwerke mitbestimmte. Vor allem wegen ihres ungewöhnlichen Glanzes galt Luca della Robbias terracotta invetriata bereits im 15. und 16. Jahrhundert als eine Erfindung, mit der er „die alten Römer“ übertroffen habe.47 Dennoch trug man, da Gold für bestimmte Aufgaben wie beispielsweise Nimben, Gewandsäume, Sterne oder Lichtstrahlen als notwendig erachtet wurde, nach dem Glasurbrand auf die Oberfläche Goldfarbe auf, deren mattes warmes Schimmern mit den scharfen Lichtreflexen auf den übrigen Partien konkurrierte. So vielgestaltig sich Verfahren und Materialien dem Blick der Betrachter:innen präsentieren: Mit ihnen ist nur das Äußerste der bildhauerischen Oberfläche erfasst. Häufig jedoch bestehen Oberflächen, auch darin menschlichen Haut ähnelnd, aus mehreren Schichten.48 Wie die Hautschichten sind diese Schichten durchlässig und in ihrer Wirkung nicht unabhängig voneinander und zum Kern zu denken. Dieser kann aus fast jedem Material gestaltet sein; manche Bildwerke sind gar regelrechte Materialassemblagen. So sind bei Bildwerken des Florentiner Quattrocento auf den (zumeist hölzernen) Kern montierte, gesondert geschnitzte oder aus Stuck gefertigte Details, aber auch Applikationen aus Kork, Leder, Stoff, Hanfsträngen, Schnüren und Zweigen zu beobachten.49 Auf den Corpus wird in der Regel eine Grundierung, gelegentlich gar eine Modelliermasse aufgetragen, die eine

ELEKTRONISCHER eher bei den FlorentinerSONDERDRUCK Künstlern, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts mit verschiedenen

Stärke von 2–3,5 cm erreichen kann.50 Ein solches Vorgehen ist allerdings kaum bei den routinierten Schnitzern zu beobachten, die ihre Skulpturen präzise ausarbeiteten, sondern Materialien experimentierten und die von der Modelliermasse gewährten Freiheiten

schätzten.51 Doch auch die bei nahezu allen polychromen Bildwerken üblichen Kreideoder gesso-Grundierungen dienten nicht nur dazu, das Kernmaterial oder seine Eigenheiten (z. B. dessen Porosität, störende Astlöcher oder die Maserung) zu verbergen und Bearbeitungsspuren zum Verschwinden zu bringen. Die mehrlagig aufgetragene Kreide-Schicht war, wie Peter Stiberc für Florentiner Kruzifxe des Quattroento und Michael Baxandall für die nordalpinen Bildschnitzer herausgestellt haben, auch für die Schärfung von Konturen und die Ausarbeitung von Details wie Adern oder Textilmustern von Bedeutung.52 Sie definierte also nicht nur die Feinstruktur der Oberfläche, sondern ergänzte die bildhaueri-

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sche Form. Indem sie deren Beschaffenheit verändert und zugleich den Farbauftrag ermöglicht, übernimmt sie eine Mittlerfunktion zwischen dem „Innen“ und dem „Außen“. Ob sie zur Hülle gehört oder zum Kern, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Aber auch die eigentliche Malschicht kann je nach Bindemittel und Firnis unterschiedliche Oberflächeneffekte – von matt bis glänzend – zeigen. Dasselbe gilt für Schlagmetallauflagen, die hinsichtlich ihrer Oberflächen­behandlung ein breites Spektrum von gestalterischen Möglichkeiten aufweisen. Zu nennen sind hier vor allem das Polieren, Granieren, Punzieren, die Sgraffito-Technik und das Lüstern. Unter Umständen kommen noch weitere Materialien wie Textilien, Perücken oder Glasaugen zum Einsatz. Auch wenn die Fassung hier ebenfalls meist arbeitsteilig durch entsprechend spezialisierte (Fass-)Maler ausgeführt wurde, wissen wir von einzelnen Bildhauern, die die Bemalung ihrer (und fremder) Bildwerke besorgten. So lobte Antonio Manetti in seiner posthumen Vita Filippo Brunelleschis diesen für zwei Arbeiten in Florenz, wobei er die eigenhändige Ausführung der Fassung herausstellte: „Fecie di scoltura di legniame e colori una Santa Maria Maddalena, tonda, come naturale, e poco meno di grandeza, molto bella [...]. Fecie uno crocifisso di legniame, di grandeza come naturale, di tutto rilieuo, e colori di sua mano [...].“53 Für ein Beispiel im nordalpinen Raum wäre auf den Englischen Gruß von Veit Stoss zu verweisen, in dem Form und Fassung so präzise aufeinander abgestimmt sind, dass man davon ausgehen muss, dass beides in einer Hand lag beziehungsweise auf einem einheitlichen Konzept basierte.54 Einen Sonderfall stellen schließlich getriebene Metallarbeiten oder Applikationen von Gold- oder Silberblech dar. Hier gerät das Wechselspiel zwischen Form und Fassung, das in der Praxiteles-Anekdote anklingt, aus dem Gleichgewicht. Schließlich lässt die Metallhaut kaum Rückschlüsse auf das Aussehen und die materielle Beschaffenheit des darunter liegenden Materials zu, zumal dieses bisweilen seinerseits über eine gestaltete Oberfläche verfügt. Umgekehrt sind wir auf Mutmaßungen angewiesen, wenn, wie bei der im 12. Jahrhundert in der Auvergne entstandenen Vierge en Majesté im Louvre, der Metall­ überzug verloren gegangen ist.55 Der Holzkern allein bietet nur bedingt Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der „Haut“ und erlaubt letztlich keine Rückschlüsse auf das ursprüngliche Erscheinungsbild des Werks.

Semantiken der Oberfläche Oberflächen sind Träger und Speicher von ganz verschiedenen Informationen, wobei die Kategorien ‚Material‘ und ‚Zeitlichkeit‘ für uns von besonderem Interesse sind: Die superficies kann Auskunft über das verwendete oder implizit auch über das verborgene Material geben, die Eigenschaften des Materials für die Ikonografie des Bildwerks nutzen und die Ikonografie des Materials zur Eigenschaft des Bildwerks machen; sie ist in der Lage, auf andere Werkstoffe und Techniken zu referieren. Oberflächen können den

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Herstellungsprozess, also die Abfolge von Arbeitsschritten, offenbaren, die Intentionen des Künstlers, Planungen und Korrekturen, die eingesetzten Instrumente, können diese aber auch in ihren Schichtungen verbergen. Wie die Farbschicht von Gemälden fungieren die Oberflächen bildhauerischer Werke als Ort, an dem sich Informationen über den Produktionsprozess ansammeln.56 Als gestalterisches Konzept haben sich bewusst gesetzte Spuren, die einzelne Handlungen eines Künstlerindividuums sichtbar machen, erst mit den Werken von Auguste Rodin und Medardo Rosso etabliert.57 In der Vormoderne blieben sie die Ausnahme; sie finden sich wenn überhaupt, an eher versteckten Stellen an Rück- oder Unterseiten beziehungsweise in Modellen, mit denen die Virtuosität des Entwerfens vorgeführt werden sollte.58 Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein, dass die in der Materialbehandlung enthaltenen Informationen kaum allgemein lesbar gewesen sein dürften, sondern besondere Vorkenntnisse voraussetzten, die wohl am ehesten aus der eigenen künstlerischen Praxis zu gewinnen waren. Auch wenn die Lektüre entprechender Traktate wie beispielsweise Pomponio Gauricos De sculptura (1504), von Vasaris Introduzione alle tre arti del disegno (1550/1568) oder Benvenuto Cellinis I trattati dell’oreficeria e della scultura (1568) Einblicke in bildhauerisches Handeln gaben: Für eine präzise Vorstellung von den Verfahren und den notwendigen Werkzeugen und Materialien reichten die Informationen nicht aus.59 Doch auch unabhängig von solchen konkreten Arbeitsspuren forderten die Oberflächen zur Reflexion über die materielle Beschaffenheit der Skulpturen und Plastiken sowie die Möglichkeiten der Materialbehandlung auf. Die Perfektion, die sich im Umgang mit dem Ausgangsstoff zeigt, galt als Ausweis technischen Könnens, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein flexibles Material wie Wachs oder Ton handelte, das leichte Zugänglichkeit bot, ja die modellierende Hand geradezu einlud, oder um harten Stein – etwa Porphyr oder Granit –, der der Bearbeitung Widerstand entgegensetzte. Ohnehin entschied das Material über Erscheinung und Gestaltung der äußersten Schicht mit. So ermöglichte weißer Marmor ein breiteres Spektrum an Farbzusätzen als stark gemusterter Buntmarmor, erforderten feinkörnige Aggregate andere Formen der Glättung als poröse

ELEKTRONISCHER Auch die Eigenschaften von Hölzern führten zu unterschiedlichen Behandlungen der SONDERDRUCK

Steine, erlaubten transluzente Gesteine wie Alabaster subtilere Effekte als opaker Sandstein und Ähnliches mehr.

Oberflächen.60 Bei Lindenholz waren es neben der einfacheren Bearbeitbarkeit vor allem

bestimmte ästhetische Qualitäten, vor allem die Feinheit und regelmäßige Anordnung der Gefäße, die Künstler wie Tilman Riemenschneider dazu ermutigten, auf Grundierung und Fassung zu verzichten und an ihre Stelle eine aufwendig ausgearbeitete und höchst differenzierte Oberflächenstruktur zu setzen, die lediglich durch eine braune Lasur farblich vereinheitlicht wurde.61 Zudem war Lindenholz gut polierbar, was beispielsweise Veit Stoss’ Statue des Hl. Rochus in SS. Annunziata höchstes Lob einbrachte.62 Gar an Metall erinnern Vasari „Verzierungen aus Nußholz, die fast wie Bronze wirken, wenn schönes, schwarzes Nußbaumholz verwendet wird.“63 Dem materialsichtigen Einsatz von

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Eiche hingegen stand wohl nicht nur die schwierige Bearbeitbarkeit des festeren Holzes entgegen, sondern auch dessen gröbere Poren und die unregelmäßigen, gut sichtbaren Spiegel.64 So stark die Angebote, die das Material bereithielt, die gestalterischen Möglichkeiten prägten: Nicht minder wichtig waren natürlich konzeptuelle Überlegungen. Die Marmorreliefs, die Luca della Robbia und Donatello für die cantorie im Florentiner Dom schufen, waren zwar aus dem gleichen Stein, dennoch hätte ihre Bearbeitung kaum unterschiedlicher sein können. Giorgio Vasari sah darin bildhauerische Entscheidungen, die er mit Blick auf den Anbringungsort beurteilte. Weil Donatello, so Vasari, sein „Werk skizzenhaft und nicht präzise ausgearbeitet“ habe, wirke es aus der Ferne besser als die mit disegno und diligenza ausgeführten Reliefs Lucas, in denen sich das Auge aufgrund der gegebenen Entfernung ‚verlöre‘.65 Bei Werken, die auf eine distanzierte Betrachtung angelegt waren, stand für Vasari deshalb „große Leichtigkeit“ („molta agevolezza“) über dem „angestrengten und mühseligen“ „Herumwundern“ („si vanno ghiribizzando a poco a poco con istento e con fatica“).66 Nur „das gemeine Volk“ werde „immer eine gewisse äußerliche, sichtbare Feinheit, wo der Mangel an den wesentlichen Dingen durch Sorgfalt überdeckt ist, dem Guten vorziehen, das mit Vernunft und Urteil geschaffen, an der Oberfläche aber nicht so präzise und geglättet ist.“67 Die eher nachlässig und eher zügig gearbeitete Oberfläche wurde so zum Distinktionsmerkmal: Sie richtete sich an Betrachter:innen, die in Kunstdingen bewandert und deshalb in der Lage waren, die „Leichtigkeit“ in ihrem Bezug zum Ort zu erkennen und die Urteilsfähigkeit des Künstlers zu würdigen. Nicht nur hinsichtlich der Entwurfs- und Arbeitsspuren, die die Prozessualität der Her­ stellung mehr oder weniger deutlich dokumentieren, sind Oberflächen ein Speicher von Zeitlichkeit. Auch Eingriffe in Form von Überarbeitungen, Reinigungen und Restaurierungen hinterließen Spuren, ebenso Gebrauch, Kritik, Katastrophen, Translokationen und natürlich Alterung und Witterung. Zudem können mehrschichtige Oberflächen durch ­Verschmutzung und spätere Überarbeitungen (im Sinne von Umgestaltungen und Restaurierungen) entstehen und sind deshalb als palimpsestartige Informationsträger auch jenseits rein objektbiografischer Untersuchungen eine Herausforderung für die Kunstwissenschaften. Hinzu kommen Maßnahmen, die dem vorsorglichen Schutz der Oberfläche dienen: Auch die wettersichere Aufstellung oder das Aufbringen wasserabweisender oder korrosionsschützender Überzüge sind für die Erscheinung der Oberfläche relevant. Hans Körner hat diesen Aspekt anhand einiger Beispiele wunderbar anschaulich gemacht: Während man sich im päpstlichen Rom gegen die Installation der von Gian Lorenzo Berninis 1667 begonnenen Engel auf dem Ponte Sant’Angelo entschied, um die feine Oberfläche nicht zu gefährden, standen die Skulpturen von Berninis Zeitgenossen Pierre Puget ungeschützt im Schlosspark von Versailles, wo man sie noch dazu „wie die

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Kupferkessel mit dem gröbsten Sand geputzt [hat], der nicht nur die Politur, sondern auch (was unwiederbringlich ist) diese Haut, diese kostbare Epidermis wegnahm, in der das Geflecht an Adern und die Feinheit der Naturnachahmung bewundert werden konnte.“68 Die in Frankreich bis ins 18. Jahrhundert übliche Aufstellung von Marmorbildwerken im Freien und ihre regelmäßige (und ziemlich rücksichtslose) Reinigung führte kurz vor der Jahrhundertmitte zu einer intensiven Diskussion um Schutzmaßnahmen.69 So wehrte sich der Bildhauer Edme Bouchardon mit aller Kraft gegen die geplante Aufstellung seines 1750 fertiggestellten bogenschnitzenden Amor im Garten des Schlosses Choisy und bat, „um ihrem Verfall zuvor zu kommen, darum, ihr einen Platz in einem Innenraum zu geben, so wie man es in Rom für den ‚David‘ und für die Figur der ‚Daphne‘ getan hat.“70 Die Auseinandersetzung um die Aufstellung wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die wechselnde Wertschätzung der aufwendig ausgearbeiteten Oberfläche, sondern zeigt ex negativo, dass der ungefasste Stein zwar „materialgerecht“ sein kann, aber im Sinne der ursprünglichen Gestaltung mitnichten „ehrlicher“ sein muss. Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen auf die Konferenz superficies. Oberflächengestaltungen von Bildwerken in Mittelalter und Früher Neuzeit zurück, die, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, im Mai 2019 als sechster Teil der Tagungsreihe Interdependenzen. Künste und künstlerische Techniken am Fachgebiet Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin stattfand. Die Autor:innen untersuchen Oberflächengestaltungen von Bildwerken verschiedenster Machart aus mehreren europäischen Ländern und innerhalb eines zeitlichen Rahmens, der vom 11. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert reicht; sie liefern damit Tiefenbohrungen zu dem hier skizzierten Wechselverhältnis zwischen den verwendeten Materialien, den künstlerischen Verfahren sowie Oberflächenfunktion und -wirkung. Den Anfang machen zwei Beiträge, die Marmorskulpturen zum Gegenstand haben, also Objekte, deren Oberfläche vor allem gestaltetes Kernmaterial ist und dennoch ein breites Spektrum von Referenzen ermöglicht. Hans Körners Untersuchung widmet sich

ELEKTRONISCHER resultierenden bzw. derSONDERDRUCK Intention des Künstlers folgenden mimetischen Nachahmung, den  – in ihrer Intensität durchaus überraschenden  – Referenzen auf Wachs und Gips.

Dabei geht es nicht um eine Materialillusion im Sinne einer aus dem Bildthema sondern um eine darüber hinausreichende Bezugnahme der Marmoroberfläche auf die

äußere Erscheinung anderer Materialien. Johannes Myssok zeigt in seinem Beitrag, wie Michelangelo in seiner Auseinandersetzung mit dem Marmor einen individuellen Zugang gesucht hat, der jenseits von reiner Natur- und Antikennachahmung liegt. Der Ort der Aushandlung ist, wie die sorgfältig inszenierten (Selbst-)Berührungen seiner Figuren zeigen, die ausgearbeitete Oberfläche, die deshalb eine größere Herausforderung darstellt als die scharfen Kontraste der Non-finito-Arbeiten. Das Zusammenspiel von Material und Oberflächengestaltung erweist sich auch in den von Carina A.E. Weißmann untersuchten Bronzen Massimiliano Soldani Benzis als

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besondere Herausforderung. Seine Bronzekopie nach Michelangelos marmornem Bacchus scheiterte jedoch an der ambivalenten carnosità des Vorbilds; eine stark glänzende Lackpatina auf der polierten Bronzeoberfläche störte die Anmutung von Weichheit, die Soldanis Arbeiten sonst in den Augen der Zeitgenoss:innen auszeichnete. Um die Frage, wie die Oberflächengestaltung das Kernmaterial herausstellen oder hinter einer Materialevokation verstecken kann, geht es in den beiden Beiträgen zu Terrakotta-Arbeiten der Frühen Neuzeit: Doris Carl behandelt eine heute im Dom von Prato bewahrte Madonnenstatue von Benedetto da Maiano. Indem der Künstler zugunsten eines dünnen roten Überzugs auf die übliche polychrome Fassung verzichtete, rückte er seine Leistung als Tonbildner in den Mittelpunkt und nahm überdies auf eine durch Plinius überlieferte stadtrömische Tradition Bezug. Die Oberflächen der von Helen Boeßenecker untersuchten Terrakotten Antonio Begarellis bedeckt hingegen ein gebrochener Weißton. Obwohl die Statuen, zeitgenössischen Quellen zufolge, wie Marmorskulpturen wirkten, lässt sich der Einsatz des besonderen „bianco begarelliano“ kaum auf die reine Materialillusion reduzieren, sondern setzt auf die Überraschung der Betrachter:innen, sobald sie in den Plastiken Werke aus Ton erkennen. Im Unterschied zu materialsichtigen und überwiegend einfarbigen Bildwerken scheinen polychrome Fassungen vor allem Erwartungen an mimetische Effekte verpflichtet zu sein. Allerdings lässt sich ihre Aufgabe nicht darauf reduzieren, wie die drei nächsten Beiträge deutlich machen. In der Frömmigkeitspraxis konnten die Fassungen als Stimulans für die Gläubigen dienen, zumal dann, wenn, wie in den von Sven Jakstat vorgestellten Werken von Pedro Roldán und Martínez Montañés, die Naturähnlichkeit durch einen gezielt eingesetzten Materialmix zum Verismus gesteigert wird. Die Fassungen konnten aber auch Referenzcharakter haben. Wie Dieter Köcher für das auf Basis material­ technologischer Untersuchungen rekonstruierte Hochaltarretabel aus dem Mindener Dom (Mitte des 13. Jahrhunderts) analysiert, werden dort die bewunderten goldenen Schreine mit Edelsteinbesatz und Emaillierungen aufgerufen und zugleich dadurch übertroffen, dass die Bemalung der Figuren einem anderen, auf Verlebendigung ausgerichteten Modell folgte. Eine doppelte Funktion hat die Fassung auch bei den in großer Zahl (re-) produzierten farbig gefassten Madonnenreliefs des Florentiner Quattrocento, die in Lars Ziekes Beitrag im Mittelpunkt stehen. Auch hier geht es um Verlebendigung. Zugleich aber diente die Fassung hier dazu, das in seiner Form wiederholte Relief als Objekt zu individualisieren. Im Falle der von Sarah Nienas vorgestellten polychromen Fassung des Herlin-Altars in St. Jakob in Rothenburg ob der Tauber schließlich scheinen weniger mimetische als ikonografische Erwägungen den Ausschlag für die Farbwahl gegeben zu haben. Die Rhythmisierung der Farben und der Einsatz von Gold und Silber zielten nicht auf Naturnähe, sondern auf eine „Entmaterialisierung“ der zwischen himmlischer und irdischer Sphäre stehenden Heiligenkörper. Über das Spektrum der aus dem Kern entwickelten bzw. mit ihm verbundenen Oberflächen gehen die ganz oder teilweise mit dünnem Silberblech überzogenen

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Madonnenskulpturen des 12. und 13. Jahrhunderts hinaus, die Katharina Christa Schüppel im letzten Beitrag des Bandes untersucht. Hier sind der Kern – meist aus Holz – und die metallene Schale nicht zwingend voneinander abhängig; sie können unterschiedliche, sogar widersprüchliche Oberflächengestaltungen besitzen. Die Silbermadonnen führen zu einer der Kernfragen der superficies zurück: Wo beginnt, wo endet die Oberfläche von Bildwerken? Ist sie immer „das Äußerste des Äußeren“ und immer nur das visuell Wahrnehmbare oder schließt sie auch ein Nichtsichtbares ein? Wenn Letzteres der Fall ist: Wie viele Oberflächen kann eine Skulptur oder Plastik dann haben? Und wie lassen sich das Äußere und das Äußerste zusammendenken? Je intensiver man die Werke betrachtet, desto schwieriger wird es, darauf eine universelle Antwort zu finden – und umso wichtiger ist der genaue Blick auf die Eigenarten des einzelnen Objekts.

Anmerkungen 1

Angelo Meli, Cappella Colleoni. I tre santi dell’ancona, in: Bergomum 59, 1965, S. 24–26. Vermutlich stammt der libraio aus Acquata, einer heute zu Cornalto/Bracca gehörenden Siedlung ca. 15 km nördlich von Bergamo, deren Name sich in der dortigen Via Acquata erhalten hat. Die alte Bezeichnung überliefert noch das Dizionario corografico dell’Italia, hrsg. von A. Amati, Mailand 1878, Bd. 3, S. 527.

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Zur Skulpturengruppe und deren Aufstellung in der Cappella Colleoni in Bergamo: Meli 1965 (Anm. 1); Flora Berizzi, Pietro Lombardo e le tre statue dell’altare della Cappella Colleoni, in: Solchi 1, 1997, S. 14–17; Alba Scapin, Tre santi senza ancona. Tracce della bottega dei Lombardo a Bergamo, in: Arte & storia 10, 2009, S. 84–89. Siehe auch: Jeanette Kohl, Fama und Virtus. Bartolomeo Colleonis Grabkapelle, Berlin 2004, S. 48–49.

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Meli 1965 (Anm. 1), Dokumente VIII A und B, S. 43–45. Vgl. etwa den Artikel zur „Oberflächenbehandlung“, in: Lexikon der Kunst, Leipzig 1993, Bd. 5, S. 247–248.

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Hans Körner, Die versteinerte Niobe im Marmorbild des Praxiteles. Ein Beitrag zu einer Kunstge-

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schichte der Oberfläche, in: The humanities in the new millennium, hrsg. von S. Peters und M. Biddiss, Tübingen 2000, S. 207–235; Hans Körner, Der fünfte Bruder. Zur Tastwahrnehmung plastischer Bildwerke von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Artibus et Historiae 21, 2000, Nr. 42, S. 165–196; Hans Körner, „Politesse“ und „Rusticité“. Zur Geschichte der polierten Skulptur im französischen 18. Jahrhundert, in: Pygmalions Aufklärung, hrsg. von R. Kanz und H. Körner, München 2006, S. 184–206, S. 196); Hans Körner, „Die Epidermis der Statue“. Oberflächen der Skulptur vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte, hrsg. von D. Bohde und M. Fend, Berlin 2007, S. 105–132; An der Oberfläche. Von Rodin bis de Bruyckere. Die Oberfläche als Bedeutungsträger in der Skulptur, hrsg. von S. Dinkla, Köln 2016. Einen Überblick zur Wiederentdeckung der Polychromie italienischer Bildwerke bietet: Andreas Huth, Fassung verloren. Das Verhältnis der Kunstgeschichte zu gefassten Bildwerken des Quattrocento, in: VDR-Beiträge zur Erhaltung von Kunst und Kulturgut 1, 2020, S. 23–37; zur Polychromie siehe auch: The Color of Life. Polychromy in Sculpture from Antiquity to the Present. Beiträge des Symposiums Rediscovering Color. New Perspectives on Po-

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lychrome Sculpture (Los Angeles 2008), hrsg. von R. Panzanelli, Los Angeles 2008; Giancarlo Gentilini, Scultura dipinta o pittura a rilievo? Riflessioni sulla policromia nel Quattrocentro fiorentino, in: Technè 36, 2012, S. 8–17. Zur Oberfläche der modernen Skulptur u. a. Monika Wagner, Auseinandersetzungen mit der Schwerkraft. Materialien und Oberflächen der Skulptur, in: Skulptur pur, hrsg. von U. Lorenz, S. Patruno und C. Wagner, Heidelberg 2014, S. 10–19; Dietmar Rübel, Handarbeit und Maschinenästhetik. Oberflächen als Arbeitsspeicher in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, in: VDR-Beiträge zur Erhaltung von Kunst- und Kulturgut 2, 2016, S. 88–95.   6 Siehe hierzu u. a. Clemens Rathe, Die Philosophie der Oberfläche. Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Äußerlichkeiten und ihre tiefere Bedeutung, Bielefeld 2020; Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung, hrsg. von Chr. Lechtermann und S. Rieger, Zürich 2015; Hans-Georg von Arburg, Alles Fassade. „Oberfläche“ in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770–1870, München 2008.   7 Neben den oben (Anm. 5) genannten Publikationen ist zur Vormoderne noch zu nennen: Melissa Speckhardt, Weiß gefasste Skulpturen und Ausstattungen des 17. bis 19. Jahrhunderts in Deutschland. „pinxit et monochromata ex albo“. Quellenforschung, Technologie der Fassungen, künstlerische Phänomene und denkmalpflegerische Probleme (Studien zur internationalen Architekturund Kunstgeschichte 112), Petersberg 2014.   8 Unter den jüngeren Publikationen, die sich der Oberflächenfragen aus einer breiteren Perspektive widmen, sind zu nennen: Giuliana Bruno, Surface. Matters of aesthetics, materiality, and media, Chicago u. a. 2014; Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, hrsg. von H.-G. von Arburg u. a., Berlin u. a. 2008. Zur Malerei siehe v. a. Marianne Koos, Haut, Farbe und Medialität. Oberfläche im Werk von Jean-Étienne Liotard (1702–1789), Paderborn 2014; Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte, hrsg. von D. Bohde und M. Fend, Berlin 2007; Monika Wagner, Oberfläche und Tiefe. Zur Wahrnehmung und Semantik opaker und transparent Farben, in: Farben (Regensburger Studien zur Kunstgeschichte 9), hrsg. von J. Steinbrenner u. a., Regensburg 2011, S. 203–213; Factura (Themenheft), hrsg. von J. L. Koerner, Res 36, 1999. Zur Architektur siehe u. a.: Andreas Grüner, Licht und Oberfläche bei Vitruv. Über­ legungen zum Status sensualistischer Gestaltungsstrategien in der römischen Architektur, in: ­Firmitas et splendor. Vitruv und die Techniken des Wanddekors, hrsg. von E. Emmerling, München 2014, S. 415–463; Marvin Trachtenberg, Tektonikon and surfacescape. Architecture and the body in the Italian Renaissance, in: I Tatti, 21/1, 2018, S. 7–45; Charles Burroughs, The Italian Renaissance Palace Facade. Structures of authority, surfaces of sense, Cambridge u. a., 2002; Philip Ursprung, Der Wert der Oberfläche. Essays zu Architektur, Kunst und Ökonomie, Zürich 2017; Monika Wagner, Marmor und Asphalt. Soziale Oberflächen im Berlin des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018. Zu Neuen Medien siehe u. a.: Oberflächen und Interfaces. Ästhetik und Politik filmischer Bilder (eikones), hrsg. von U. Holl u. a., Paderborn 2018.   9 Hans Körner, Die enttäuschte und die getäuschte Hand. Der Tastsinn im Paragone der Künste, in: Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, hrsg. von V. von Rosen, K. Krüger und Rudolf Preimesberger, München 2003, S. 221–241, hier S. 241. 10 Hans Ulrich Gumbrecht, Flache Diskurse, in: Materialität der Kommunikation, hrsg. von H. U. Gumbrecht und K. L. Pfeiffer, Frankfurt/Main 1988, S. 914–923; Christina Lechtermann und Stefan Rieger, Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung, in: Lechtermann/Rieger 2015 (Anm. 6), S. 7–12. 11 Arburg 2008 (Anm. 6), S. 20–24. 12 Die Bedeutung des Begriffs superficies bei Alberti äußert sich auch in dessen Verwendung in Della Pittura. Während sein Zeitgenosse Lorenzo Valla das Wort facies benützte, um die Oberflä-

22 I Magdalena Bushart und Andreas Huth DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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che als solche zu beschreiben, setzte Leon Battista Alberti facies – und synonym: vultus – dazu ein, das Antlitz zu bezeichnen, und beschrieb mit superficies Flächen bzw. Oberflächen. Letzteren führte er gleich zu Beginn seines Malereitraktates „De Pictura“ ein: „Mithin ist eine Fläche der äußerste Teil eines Körpers; man erkennt sie nicht an so etwas wie Tiefe, sondern nur an ihrer Breite und ihrer Länge; überdies an ihren eigenen ‚Beschaffenheiten‘. Von den Beschaffenheiten haften die einen so an der Fläche, dass sie sich überhaupt nicht entfernen oder ablösen lassen – es sei denn die Fläche selbst mache eine Veränderung durch. Die anderen Beschaffenheiten dagegen sind von der Art, dass sie sich – auch wenn die Form der Fläche erhalten bleibt – dem Blick trotzdem so darbieten, dass der Betrachter meint, die Fläche habe selbst eine Veränderung durchgemacht.“ („Est namque superficies extrema corporis pars quae non profunditate aliqua sed latitudine tantum longitudineque atque perinde suis qualitatibus cognoscatur. Qualitatum aliae ita superficiei inhaerent ut prorsus nisi alterata superficie minime semoveri aut seiungi queant. Aliae vero qualitates huiusmodi sunt, ut eadem facie superficiei manente, ita sub aspectu tamen iaceant, ut superficies visentibus alterata esse videatur.“); Leon Battista Alberti, De Pictura, 2, hier zit. nach Leon Battista Alberti. De Pictura. Die Malkunst, in: Leon Battista Alberti. Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, übers. und hrsg. von O.  Bätschmann u. a., Darmstadt 2000, S. 196 (lat.) und 197 (dt.). 13 „Nam ex trunco glebave et huiusmodi mutis corporis fortassis aliquando intuebantur lineamanta nonulla, quibus paululum immutatis persimile quidpiam veris naturae vultibus redderetur. Coepere ed igitur animo advertentes atque adnotantes adhibita diligentia tentare conarique possentne illic adiungere adimereve atque perfinire quod ad veram simulacri speciem comprehendendam absolvendamque deesse videretur. Ergo quantum res ipsa admonebat lineas superficiesque istic emendando expolendoque institutum adsecuti sunt, non id quidem sine voluptate. Hinc nimirum studia hominum similibus efficiendis in dies exercuere quoad etiam ubi nulla inchoatarum similitudinum adiumenta in praestita materia intuerentur, ex ea tamen quam collibuisset effigiem experiment.“ Leon Battista Alberti, De Statua, hier zit. nach Leon Battista Alberti. De Statua – Das Standbild, in: Alberti 2000 (Anm. 12), S. 142 (lat.) und 143 (dt.). Die Stelle wurde bislang vor allem im Zusammenhang mit „Natur-“ bzw. „Zufallsbildern“ betrachtet; vgl. Ulrich Pfisterer, Künstlerliebe. Der Narcissus-Mythos bei Leon Battista Alberti und die AristotelesLektüre der Frührenaissance, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 3, 2001, S.  305–330, hier bes. 319–321 und, allgemeiner, Ulrich Pfisterer, Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance, Stuttgart 2002, S. 87–88; Horst W. Janson, The „Image Made by Chance“ in Renaissance Thought, in: De artibus opuscula XL. Essays in honor of Erwin Panofsky, hrsg. von M. Meiss, New York 1961,

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Bd. 1, S. 254–266. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Gedanken Avigdor W. G. Poséqs zu den Vorstellungen von „primitiven Bildwerken“ im Quattrocento: Avigdor W. G. Poséq, Alberti’s Theory of Primitive Sculpture, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, 12/3, 1989, S. 380–384. Erstaunlich ist, dass bislang nicht versucht wurde, Albertis implizite Beschreibung von „Urmenschen“, die sich aus Baumstümpfen und Erdklumpen Bildwerke schaffen, mit Lukrez’ Entwicklung der Menschheit in De rerum naturae zu verbinden; vgl. den (insgesamt kaum überzeugenden) Versuch von Ursula Wester und Erika Simon, Lukrez zur Interpretation der  – kurz nach Albertis De Statua entstandenen  – Marmortondi im Innenhof des Medici-Palasts heranzuziehen; Ursula Wester und Erika Simon, Die Reliefmedaillons im Hofe des Palazzo Medici zu Florenz. I. Teil. Die Tondi, ihre Vorbilder und die Meisterfrage, in: Jahrbuch der Berliner Museen 1, 1965, S. 15–91. 14 Möglicherweise dachte Alberti dabei an eine „Rückverwandlung“, wenn er, wie Horst W. Janson annimmt, bei seiner Erfindung der Bildhauerei die Metamorphose der Daphne in einen Lorbeerbaum im Kopf hatte; Janson 1961 (Anm. 13), S. 259.

Das Äußere und das Äußerste I 23

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15 Vgl. hierzu Ulrich Pfisterer, Künstlerliebe. Der Narcissus-Mythos bei Leon Battista Alberti und die Aristoteles-Lektüre der Frührenaissance, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 3, 2001, S. 305–330, hier v. a. 320. 16 Rübel 2016 (Anm. 5), S. 89; Magdalena Bushart und Henrike Haug, Spurensuche/Spurenlese. Zur Sichtbarkeit von Arbeit im Werk, in: Spur der Arbeit. Oberfläche und Werkprozess (Interdependenzen 3), hrsg. von M. Bushart und H. Haug, Köln u. a. 2018, S. 7–24 17 „Zu den Werken der Natur muß der Beschauer erst Bedeutsamkeit, Gefühl, Gedanken, Effect, Wirkung auf das Gemüth selbst hinbringen, im Kunstwerke will und muß er das alles schon finden. Eine vollkommene Nachahmung der Natur  ist in keinem Sinne möglich, der Künstler ist nur zur Darstellung der Oberfläche einer Erscheinung berufen. Das Äußere des Gefäßes, das lebendige Ganze, das zu allen unsern geistigen und sinnlichen Kräften spricht, unser Verlangen reizt, unsern Geist erhebt, dessen Besitz uns glücklich macht, das Lebenvolle, Kräftige, Ausgebildete, Schöne, dahin ist der Künstler angewiesen.“ Denis Diderot, Diderots Versuch über die Malerei, übers. und hrsg. von J. W. von Goethe, in: Goethes Werke, herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Werke, Naturwissenschaftliche Schriften, Tagebücher und Briefe in 4 Abteilungen, 144 Bde., Weimar 1887-1919, 1. Abteilung, Bd. 45, S. 254. 18 Diderot/Goethe (Anm. 17), S. 270. 19 Bushart und Haug 2018 (Anm. 16), S. 8–12. 20 Von Ersterem künden literarischen Bearbeitungen des Pygmalion-Mythos oder die Legende von der frevlerischen Verlobung eines Jünglings mit einer Venusstatue, von Letzterem Zerstörungen und rituelle Steinigungen wie die der vormals so bewunderten Venus-Statue auf der Fonte Gaia in Siena, das Trierer „Heidenwerfen“ oder zuletzt der Sturz und die Misshandlung der Statue des Sklavenhändlers Edward Colston während der Black-Lives-Matter-Proteste in Bristol im Juni 2020; vgl. Berthold Hinz, Knidia oder: Des Aktes erster Akt, in: Der nackte Mensch. Zur aktuellen Diskussion über ein altes Thema, hrsg. von D. Hoffmann, Marburg 1989, S. 52–79; Körner 2000 (Der fünfte Bruder; Anm. 5), S. 165–196; zum Trierer „Heidenwerfen“: Berthold Hinz, Venus – Luxuria – Frau Welt. Vom Wunschbild zum Albtraum zur Allegorie, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 54, 2003, S. 83–104 bzw. zuletzt Anne Kurtze, „Trierer Heidenwerfen“? Die Venus von St. Matthias. Zur Überlieferung seit dem Mittelalter, in: Funde und Ausgrabungen im Bezirk Trier 51, 2019, S. 78–87. Zu Bristol: https://www.tagesspiegel.de/politik/black-lives-matter-in-grossbritannien-die-versenkung-des-sklavenhaendlers/25897510.html [Zugriff am 12.03.2021]. 21 Ars et Verba. Die Kunstbeschreibungen des Kallistratos, übers. und hrsg. von B. Bäbler und H.-G. Nesselrath, München 2006, S. 33. Zum Topos des Wahren in der antiken Kunstliteratur vgl. Barbara E. Borg, Literarische Ekphrasis und künstlerischer Realismus, in: Realität und Projektion. Wirklichkeitsnahe Darstellung in Antike und Mittelalter, hrsg. von M. Büchsel und P. Schmidt, Berlin 2005, S. 33–53. 22 „[...] ut quae inchoarint opera, (quoad in se sit), veris naturae corporibus persimilima esse intuentinbus appareant.“ Leon Battista Alberti, De Statua, hier zit. nach Leon Battista Alberti. De Statua – Das Standbild, in: Alberti 2000 (Anm. 12), S. 144 (lat.) und 145 (dt.). 23 „Guardate per tutti i versi, la Scultura, sempre participerete piu cose del vero.“ Giovanni Battista Tasso, Dem überaus prächtigen und verehrten Herrn Benedetto Varchi gehorsamst, in: Benedetto Varchi. Paragone – Rangstreit der Künste, hrsg. von O. Bätschmann und T. Weddigen, Darmstadt 2013, S. 242. 24 Giovanni Battista Tasso, Dem überaus prächtigen und verehrten Herrn Benedetto Varchi gehorsamst, in: Varchi 2013 (Anm. 23), S. 242. 25 Michael Cole, Cellini’s Blood, in: The Art Bulletin 81, 1999, S. 215–235; zu Bernini siehe u. a. Rudolf Preimesberger, Zu Berninis Borghese-Skulpturen, in: Antikenrezeption im Hochbarock, hrsg. von H. Beck und S. Schulze, Berlin 1989, S. 109–127, bes. 121.

24 I Magdalena Bushart und Andreas Huth DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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26 Flavius Philostratus, d. Aeltern u. d. Jüngern und Kallistratus Werke (Griechische Prosaiker in neuen Übersetzungen), hrsg. und übers. von A. F. Lindau und G. J. Bekker, Stuttgart 1833, S. 1050. 27 Flavius Philostratus 1833 (Anm. 26), S. 1060. 28 „In questa era moltissime dolceze, nessuna cosa il uiso scorgeua, se non col tatto la mano la trouaua.“ Zitat und deutsche Übersetzung Klaus Bergdolt, Der dritte Kommentar Lorenzo Ghibertis. Naturwissenschaften und Medizin in der Kunsttheorie der Frührenaissance, Weinheim 1988, S. 28; vgl. Körner 2000 (Der fünfte Bruder; Anm. 5), S. 168 bzw. Anm. 10, S. 193. 29 Johann Gottfried Herder, Von der Bildhauerkunst fürs Gefühl, in: Sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. VIII, Berlin 1892, S. 88; hier zit. nach Körner 2000 (Der fünfte Bruder; Anm. 5), S. 182. 30 Zu den Epigrammen auf die Kuh des Myron vgl. Marion Lausberg, Das Einzeldistichon. Studien zum antiken Epigramm (Studiae Testimonia Antiqua 19), München 1982, S. 223–236; Kathryn. J. Gutzwiller, Poetic Garlands. Hellenistic Epigrams in Context, Berkeley u. a. 1998, S. 245–250. 31 Anthologia Graeca IX, Nr. 717, in: Anthologia Graeca, hrsg. und übers. von H. Beckby, Berlin 2014, Bd. 3 (IX–XI), S. 420 (griech.) und 421 (dt.). Das hier als „Haut“ übersetzte griechische Wort δέρας kann auch Fell, Vlies bedeuten. 32 „Tales erunt quidem, quas malleo, aut fusura tenui lamina, ueluti sola ductas cute informarimus.“ Leon Battista Alberti, De re aedificatoria, VII, 17; Übersetzung zit. nach: Leon Battista Alberti. Zehn Bücher über die Baukunst, übers. und hrsg. von M. Theuer, Darmstadt 1975, S. 408. Vasari empfiehlt „una costola di coltello“; Giorgio Vasari, Introduzione alle tre arti del disegno, in: Giorgio Vasari. Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, hrsg. von R. Bettarini und P. Barocchi, Florenz 1966–1987, Bd. 1, S. 103; hier zit. nach Giorgio Vasari. Einführung in die drei Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei, übers. von V. Lorini, hrsg. von M. Burrioni, Berlin 2006, S. 92. Siehe hierzu auch: Elisabeth Dalucas, Ars Erit Archetypus Naturae. Zur Ikonologie der Bronze in der Renaissance, in: „Von allen Seiten schön“. Bronzen der Renaissance und des Barock, Ausst.-Kat. (Berlin, Skulpturensammlung, Staatliche Museen zu Berlin, 1995), hrsg. von V. Krahn, Berlin 1995, S. 70–81, hier S. 74 und 77, Anm. 54. 33 Thomas Brachert, Una vernice al bronzo molto bella. Reflexionen zur Oberfläche von Frührenaissance-Bronzen, in: Restauro 94, 1988, S. 181–183. 34 Darauf, dass die Kunstgeschichte der Komplexität solcher Stein-Oberflächen in den seltensten Fällen gerecht wird, hat Hans Körner aufmerksam gemacht und in diesem Zusammenhang von einer „phänomenologische[n] Verpflichtung“ gesprochen, „die noch zu leisten“ sei: Körner 2006 (Anm. 5), S. 196. 35 Giorgio Vasari, Introduzione alle tre arti del disegno, Kap. 9; Vasari ed. Bettarini/Barocchi

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(Anm. 32), Bd. 1, S. 92; hier zit. nach Vasari 2006 (Anm. 32), S. 83.

36 Vgl. etwa Aleksandra Lipin`ska, Alabasterskulptur zwischen sprezzatura und Verwandlung, in: Spur der Arbeit 2018 (Anm. 16), S. 111–126; hier S. 123.

37 Alfredo Aldrovandi u. a., Indagine scientifiche per lo studio delle superfici marmoree dell’Apollo e Dafne di Gian Lorenzo Bernini, in: OPD Restauro 8, 1996, S. 30–39; Kristina Herrmann Fiore, Osservazioni sull’epidermide di „Apollo e Dafne“ di Bernini, in: OPD Restauro 8, 1996, S. 40–47, hier S. 42; Kristina Herrmann Fiore, La Verità, in: Gian Lorenzo Bernini. Regista del Barocco. I restauri, Ausst.-Kat. (Rom, Museo del Palazzo di Venezia 1999), hrsg. von C. Strinati und M. G. Bernardini, S. 27–35, hier S. 35. 38 Zum Marmorton: Raffaelo Borghini, Modi da dar colore al marmo, acciò sia simile all’antico, in: Il Riposo [...], Florenz 1584, S. 157; vgl. Herrmann Fiore 1996, S. 43. Zur γάνωσις: Vitruv, De Architectura, 7, 9, 3; Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, übers. von C. Fensterbusch, Darmstadt 1964 (Reprint 1996), S. 344 (lat.) bzw. 345 (dt.). Zur γάνωσις vgl. Ernst Langlotz, Beobachtungen über die antike Ganosis, in: Archäologischer Anzeiger 3, 1968, S. 470–474.

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1. KORREKTUR 2 3 4 Magdalena Bushart / Andreas Huth (Hg.): superficies MAGDALENA BUSHART, ANDREAS HUTH (HG.): SUPERFICIES. ISBN 978-3-412-52341-1 © 2022 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE. KG, WIEN KÖLN

39 „[...] hic est Nicias, de quo dicebat Praxiteles interrogatus, quae maxime opera sua probaret in marmoribus: quibus Nicias manum admovisset; tantum circumlitioni eius tribuebat.“ Plinius, Nat. hist., 35, 133; hier zit. nach C. Plinius Secundus d. Ä. Naturalis historia/Naturkunde – Buch 35, hrsg. von R. König und G. Winkler, Düsseldorf/Zürich 1997, S. 101. Die Übersetzung basiert auf König und Primavesi; Plinius ed. König, S. 103; Oliver Primavesi, Antike Dichter und Philosophen über die Farbigkeit der Skulptur, in: Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur, Ausst.-Kat. (Berlin, Antikensammlung, Pergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin, 2010 u. a.), hrsg. von V. Brinkmann und A. Scholl, München 2010, S.  29–39, hier S.  37. Für „circumlitio“ schlagen wir statt „Farbgebung“ (König) oder „Anstrich“ (Primavesi) den Terminus „Fassung“ vor; zu circumlitio bzw. litio siehe Primavesi 2010, S. 37–38. Zur Fassung von Praxiteles’ Marmorskulpturen: Philippe Jockey, Praxitèle et Nicias, le débat sur la polychromie de la statuaire antique, in: Praxitèle, Ausst.Kat. (Paris, Musée du Louvre, 2007), hrsg. von A. Pasquier und J.-L. Martinez, Paris 2007, S. 62–81. 40 Unter Verweis auf Plinius’ Praxiteles-Anekdote und eine Stelle bei Plutarch (Plutarch, De gloria Atheniensium 6, 348 E) konstatiert Oliver Primavesi, dass Fassmaler von „untergeordneter Stellung“ waren; Primavesi 2010 (Anm. 39), S. 38–39. 41 Zur Farbigkeit antiker Bildwerke grundlegend: Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur, Ausst.-Kat. (Berlin, Antikensammlung, Pergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin, 2010 u. a.), hrsg. von V. Brinkmann und A. Scholl, München 2010. 42 Frank Fehrenbach, „Eine Zartheit am Horizont unseres Sehvermögens“. Bildwissenschaft und Lebendigkeit, in: kritische berichte, 38, 2010, S. 33–44, bes. ab S. 40. 43 Stefania Paone, La cappella gentilizia dei Minutolo nel Duomo di Napoli al tempo del cardinale Enrico (1389–1412). Persistenze trecentesche nella Storia della Passione, in: Contextos 1200 i 1400. Art de Catalunya i art de l’Europa meridional en dos canvis de segle, hrsg. von R. Alcoy, Barcelona 2012, S. 155–174. Zur Fassung von Steinskulpturen: Eliana Billi, Tracce di colore. Policromia di sculture in pietra nell’Italia tardomedievale. Studi e restauri, Rom 2017; Il colore nel medioevo. Arte, simbolo, tecnica; pietra e colore. Conoscenza, conservazione e restauro della policromia, Beiträge des Studientags Il colore nel medioevo (Lucca, 2007), hrsg. von P. A. Andreuccetti und I. Lazzareschi Cervelli, Lucca 2009; Paolo Antonella Andreuccetti, La policromia della scultura lapidea in Toscana tra XIII e XV secolo, Florenz 2008. 44 Zur Glasurtechnik der Della-Robbia-Werkstatt: Alfredo Bellandi, Il colore e i materiali nell’arte robbiana, in: I Della Robbia. Il dialogo tra le arti nel Rinascimento, hrsg. von G. Gentilini, Mailand 2009, S. 69–75; Maria Grazia Vaccari, Le robbiane. Appunti sulla tecnica e sugli aspetti commerciali, in: I Della Robbia. Il dialogo tra le arti nel Rinascimento, hrsg. von G. Gentilini, Mailand 2009, S. 77–85. 45 Pomponio Gaurico. De sculptura, hrsg. von P. Cutolo, Neapel u. a. 1999, S. 226. 46 Die Werkstatt zog 1447 aus der Via Sant’Egidio, unweit des Ospedale S. Maria Nuova, in die Via Guelfa im Norden der Stadt; Giancarlo Gentilini, I Della Robbia. La scultura invetriata nel Rinascimento, Florenz 1992, Bd. 2, S. 129–130. 47 „queste nuove sculture – le quali non ebbero, che si sappia, gl’antichi Romani“; Giorgio Vasari, Vita di Luca della Robbia, in: Vasari ed. Bettarini/Barocchi (Anm. 32), Bd. 3, S. 58; Giorgio Vasari, Das Leben des Bildhauers Luca della Robbia, in: Giorgio Vasari. Das Leben des Jacopo della Quercia, Niccolò Aretino, Nanni di Banco und Luca della Robbia, übers. von V. Lorini, bearb. von J. Myssok, Berlin 2010, S. 81. Geradezu prophetisch mutet Albertis Widmungsschreiben zu seinem vor Luca della Robbias Erfindung der glasierten Terrakotta verfassten Traktat Della Pittura (1436) an, in dem er die Gleichrangigkeit der Kunst Filippo Brunelleschis, Donatellos, Lorenzo Ghibertis und Luca della Robbias mit den Leistungen der Antike betont; Leon Battista Alberti, Prologus zu Della Pittura, in: Alberti 2000 (Anm. 12), S. 363 (ital.) und 364 (dt.).

26 I Magdalena Bushart und Andreas Huth DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

Magdalena Bushart / Andreas Huth (Hg.): superficies MAGDALENA BUSHART, HENRIKE HAUG (HG.): GETEILTE ARBEIT. ISBN 978-3-412-51682-6 © 2020 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE. KG, WIEN KÖLN WEIMAR

1. KORREKTUR 2 3 4

48 Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 25–49. Die Mehrschichtigkeit der menschlichen Haut konstatierte erstmals Andreas Vesalius Mitte des 16. Jahrhunderts nach chirurgischen Untersuchungen in seinem Kapitel „De cute, cuticula, et membrana“ in De humani corporis fabrica, 1543, Lib. 2, Kap. 5, bes. Abschnitt zur cuticula; vgl. auch Andreas Vesalius, On the Fabric of the Human Body – Book 2: The Ligaments and Muscles, übers. und hrsg. von W. F. Richardson und J. B. Carman, San Francisco 1999, S. 141. 49 Siehe u. a. Peter Stiberc, Polychrome Holzskulpturen der Florentiner Renaissance, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 2/3, 1989, S. 205–228, bes. S. 219–223. 50 Stiberc 1989 (Anm. 49), S. 218. 51 Zu den präzisen Schnitzern zählt u. a. Francesco di Valdambrino, der auch die Grundierung selbst besorgte; Pèleo Bacci, Jacopo della Quercia. Nuovi documenti e commenti, Siena 1929, S. 65–66. Zu den experimentierfreudigen Meistern des 15.  Jahrhunderts siehe Stiberc 1989 (Anm.  49), S. 215, 223–225. 52 Stiberc 1989 (Anm. 49), S. 207; Michael Baxandall, Die Kunst der Bildschnitzer. Tilman Riemenschneider, Veit Stoß und ihre Zeitgenossen, München 1984, S. 52–54. 53 The life of Brunelleschi by Antonio Manetti, hrsg. von H. Saalman, übers. von C. Enggass, University Park Pennsylvania/London 1970, S. 41 (ital.) und 40 (engl.); leicht abweichend: Antonio Manetti, Vita di Filippo Brunelleschi, hrsg. von D. De Robertis und G. Tanturli, Mailand 1976, S. 53. 54 Sarah Nienas, Die materialisierte Erscheinung. Aspekte zu Raum und Polychromie des Englischen Grußes von Veit Stoß, in: 500 Jahre Engelsgruß in St. Lorenz Nürnberg, hrsg. von der Evang.-Luth. Kirchengemeinde St. Lorenz, Lindenberg i. Allgäu 2018, S. 63–83. 55 Jean-René Gaborit und Dominique Faunières, Une Vierge en majesté, Paris 2009. 56 Diesem Themenfeld war die dritte Interdependenzen-Tagung „Spur der Arbeit“ (2014) gewidmet: Bushart und Haug 2018 (Anm. 16). 57 Rübel 2016 (Anm. 5), S. 88–95; Magdalena Bushart, Das eigene Ding. Medardo Rosso und der Bronzeguss, in: Formlos – formbar. Bronze als künstlerisches Material, hrsg. von M. Bushart und H. Haug, Köln u. a. 2016, S. 209–224. 58 Frits Scholten, Adriaen de Vries, Kaiserlicher Bildhauer, in: Adriaen de Vries, 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm, Ausst. Kat. (Augsburg, Maximilianmuseum, 2000), Augsburg 2000, 19–45, S. 37; Nancy Lloyd, Fingerprints, in: Harvard University Art Museums Bulletin, Cambridge MA, 6/3, 1999, S. 119–124. Für die genannten Modelle stehen vor allem die bozzetti Gian Lorenzo Berninis; siehe u. a.: Bernini Sculpting in Clay, Ausst.-Kat. (New York, The Metropolitan Museum of Art, 2012), hrsg. von C. D. Dickerson III u. a., New Haven 2012; Material Bernini, hrsg. von E.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Levy und C. Mangone, London/New York 2016, bes. Part 2 – Clay bozzetti, S. 123–218; Tony Sigel, The Clay Modeling Techniques of Gian Lorenzo Bernini, in: Harvard University Art Museums Bulletin, 4/3, 1999, S. 48–72.

59 Gaurico 1999 (Anm. 45) bzw. in deutscher Übersetzung: Pomponio Gaurico. De sculptura, hrsg. von H. Brockhaus, Leipzig 1885/1886; Giorgio Vasari, Introduzione alle tre arti del disegno, zur Oberflächenbearbeitung von Marmor: Kap. 9; Vasari ed. Bettarini/Barocchi (Anm. 32), Bd. 1, bes. S. 91–92; in deutscher Übersetzung: Vasari 2006 (Anm. 32), S. 82–83; Benvenuto Cellini. I trattati dell’oreficeria e della scultura, hrsg. von C. Milanesi, Florenz 1857 bzw. in deutscher Übersetzung: Benvenuto Cellini. Abhandlungen über die Goldschmiedekunst und die Bildhauerei, übers. von Ruth Fröhlich und Max Fröhlich, Basel 1974, zur Oberflächenbearbeitung von Marmor bes. S. 115–117; vgl. auch Bushart und Haug 2018 (Anm. 16), S. 14. 60 Baxandall 1984 (Anm. 52), S. 50. 61 Die Eigenschaften des Lindenholzes hebt auch Vasari in seinem 14. Kapitel der „Introduzione alle tre arti del disegno“ im Abschnitt „Über die Ausführung von Holzskulpturen und wie das dafür

Das Äußere und das Äußerste I 27

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1. KORREKTUR 2 3 4 Magdalena Bushart / Andreas Huth (Hg.): superficies MAGDALENA BUSHART, ANDREAS HUTH (HG.): SUPERFICIES. ISBN 978-3-412-52341-1 © 2022 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE. KG, WIEN KÖLN

verwendete Holz beschaffen sein muss“ besonders hervor: „Il migliore nientedimanco tra tutti i legni che si adoperano alla scultura è il tiglio, perché egli ha i pori uguali per ogni lato“; Vasari ed. Bettarini/Barocchi (Anm. 32), Bd. 1, S. 109; „Dennoch eignet sich die Linde unter allen Holzarten am besten für die Ausführung von Skulpturen, da ihre Poren auf allen Seiten gleichmäßig verteilt sind [...]“; Vasari 2006 (Anm. 32), S. 96. Zum Lindenholz als Material siehe Baxandall 1984 (Anm. 52), S. 50–54. 62 Der Hl. Rochus sei, schreibt Vasari, „senza alcuna coperta di colori o di pitture, nello stesso color del legname e con la sola pulitezza e perfezzione che maestro Ianni le diede, bellissima sopra tutte l’altre che si veggia intagliata in legno.“ Giorgio Vasari, Introduzione alle tre arti del disegno, in: Vasari ed. Bettarini/Barocchi (Anm. 32), Bd. 1, S. 110; „Ohne eine Spur von Farbe oder Malereien zeigt sie sich in dem eigentlichen Holzton nur mit der ihr von Maître Jean verliehenen Politur und Vollendung und ist unter allen in Holz geschnitzten Werken, die man zu Gesicht bekommt, das allerschönste.“ Vasari 2006 (Anm. 32), S. 96. Zum Hl. Rochus siehe Baxandall 1984 (Anm. 52), S. 199–204. Zum Hl. Rochus zuletzt Hartmut Krohm, Due sculture di Veit Stoss. L’arte dell’intaglio nel suo massimo compimento intorno al 1500, in: „Fece di scoltura di legname e colorì“. Scultura del Quattrocento in legno dipinto a Firenze, hrsg. von A. Bellandi, Florenz/Mailand 2016, S. 139–159. 63 „[...] ornamenti di noce bellissimi, i quali, quando sono di bel noce che sia nero, appariscono quasi di bronzo.“ Giorgio Vasari, Introduzione alle tre arti del disegno, in: Vasari ed. Bettarini/Barocchi (Anm. 32), Bd. 1, S. 109; Vasari 2006 (Anm. 32), S. 96. 64 Trotzdem wurde gelegentlich in Eichenholz gearbeitet, z. B. von Veit Stoss: Schmerzensmann und Mater dolorosa, Volckamer-Stiftung, St. Sebald, Nürnberg (1499 vollendet); Gerhard Weilandt, Die Volckamersche Gedächtnisstiftung des Veit Stoss. Bildprogramm und Bildkomposition im liturgischen und historischen Kontext, in: Wokół Wita Stwosza, hrsg. von A. Organisty, Krakau 2005, Bd. 2, S. 230–241; Claudia F. Albrecht, Stilkritische Studien zum mittleren Werk des Veit Stoß, unter besonderer Berücksichtigung der Volckamer-Stiftung, Würzburg 1997, S. 147–148 (mit Blick auf die ältere Forschung). 65 Giorgio Vasari, Vita di Luca della Robbia, in: Vasari ed. Bettarini/Barocchi (Anm. 32), Bd. 3, S. 51; hier zit. nach Vasari 2010 (Anm. 47), S. 69. 66 Giorgio Vasari, Vita di Luca della Robbia, in: Vasari ed. Bettarini/Barocchi (Anm. 32), Bd. 3, S. 52; hier zit. nach Vasari 2010 (Anm. 47), S. 70. Lediglich die schillernde Formulierung „si vanno ghiribizzando“ ist hier nicht mit „herumgetüftelt“, sondern mit „herumgewundert“ übersetzt, was der Bedeutung vielleicht näherkommt. 67 „[...] comeché il volgo migliore giudichi una certa delicatezza esteriore et apparente, che poi manca nelle cose essenziali ricoperte dalla diligenza, che il buono fatto con ragione e giudizio, ma non così di fuori ripulito e lisciato.“ Giorgio Vasari, Vita di Luca della Robbia, in: Vasari ed. Bettarini/Barocchi (Anm. 32), Bd. 3, S. 52; hier zit. nach Vasari 2010 (Anm. 47), S. 70. 68 Die Aufstellung im Innenraum der nahen Kirche Sant’Andrea delle Fratte ist laut Körner ein „Sieg der Kunst über die Funktion und Bekenntnis zur Schönheit der intakten Oberfläche“; Körner 2006 (Anm. 5), S. 187. Die Behandlung von Pugets Skulpturen überliefert Étienne La Font de Saint Yenne, Réflexions sur quelques causes de l’Etat présent de la peinture en France, avec un Examen des principaux Ouvrages exposés au Louvre, 1746 (1747), in: Étienne La Font de Saint Yenne, Œuvre critique, hrsg. von É. Jollet, Paris 2001, S. 58, hier zit. nach Körner 2006 (Anm. 5), S. 190. 69 Körner 2006 (Anm. 5), S. 188. 70 Körner 2006 (Anm. 5), S. 186–187, Anm. 11.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Magdalena Bushart / Andreas Huth (Hg.): superficies MAGDALENA BUSHART, HENRIKE HAUG (HG.): GETEILTE ARBEIT. ISBN 978-3-412-51682-6 © 2020 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE. KG, WIEN KÖLN WEIMAR

Hans Körner

Referenzmaterialien für Marmoroberflächen Materialimitation/Materialillusion Die angestrengte Frage nach Materialgerechtigkeit in der Moderne hat verschleiert, dass zumindest in der Vormoderne der künstlerische Umgang mit Materialien nicht zuletzt in der Fähigkeit bestand, das gegebene Material auf ein anderes Material hin zu überschreiten. Aus dem weiten Feld der Materialillusion seien einleitend einige wenige Hinweise zu Weißfassungen im 17. und 18. Jahrhundert gegeben, weil sich die Hochzeit von Weiß­ fassungen mit dem für diesen Beitrag ausgegrenzten Zeitraum deckt, weil weiße oder zumindest weißliche Materialien im Zentrum dieses Beitrags stehen und weil diesbezüglich die kunsttechnologische und historische Aufarbeitung eine solide Basis bereithält. Weiß gefasste Skulpturen konnten auch – das war gelegentlich der Fall bei frühen protestantischen Kirchenausstattungen – als Ausdruck demonstrativer Bescheidenheit (im positiven Sinne) oder (negativ) als für den religiösen Zweck unangemessene Knausrigkeit beurteilt werden.1 Demgegenüber bilden im 17. und 18. Jahrhundert Weißfassungen in aller Regel andere – kostbarere – Materialien ab. Seltener und fast nur für nicht figürliche Objekte – Gefäße, Gehäuse und Ornamente – geben zeitgenössische Texte Hinweise auf Fassungen, die die Oberflächenwirkung von Porzellan nachahmen.2 Zu den Ausnahmen zählen die Sandsteinfiguren, die Ferdinand Tietz für das Heckentheater von Schloss Veits-

ELEKTRONISCHER schof angeordnet, dieseSONDERDRUCK „Statuen auf Porzellain-art ... mahlen zu lassen“. Häufiger ver-

höchheim schuf, Figuren der Commedia dell’arte, die, weil für anstößig erachtet, 1791 entfernt wurden.3 Laut Hofkammerprotokoll vom 16. Mai 1768 hatte der Würzburger Bi4

weisen Verträge, Eintragungen in Entwurfszeichnungen oder die Rezepte von Malerbüchern bezüglich weißgefasster Holz-, Stein- oder Stuckplastiken auf Marmor.5 Beispiele wären Joseph Anton Feuchtmayers Altarfiguren aus weiß gefasstem Stuck in der Schlosskapelle auf der Mainau, die, wie der Künstler zusicherte, in „weis Marmor zu stehen“ kommen sollten. Noch häufiger ist in den Quellen von Alabaster als dem Ziel der Vortäuschung die Rede. Auch diese Weise der Materialimitation dokumentiert ein Werk Feuchtmayers: Der für die Ausstattung der Pfarrkirche von St. Peter im Schwarzwald mit dem Bildhauer 1728 geschlossene Vertrag verpflichtete diesen zur Herstellung von „allabastrischen Bildern aus Gybs“.6 Die Grenze zwischen Alabaster und Marmor ist allerdings als

Referenzmaterialien für Marmoroberflächen I 29

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eine offene zu denken. Bis ins 18. Jahrhundert hinein galt Alabaster als eine Marmorart – weicher zwar als beispielsweise Carrara-Marmor, dies aber deshalb, weil Alabaster eben noch „ungekochte(r) Marmor“ sei.7 Der erste Band von Diderots und d’Alemberts Encyclopédie lieferte eine moderne, weil physikalische Definition des Alabasters.8 Vorher umfasste die Definition von Marmor alle polierbaren Steine, damit auch Alabaster oder – das Beispiel kann ich aus autobiografischem Grund nicht übergehen – den Randersackerer Muschelkalkstein, den der Würzburger Fürstbischof Friedrich Karl von Schönborn 1736 zum „natirlichen randersackrer Marmor“ adelte.9 Elfenbein wäre ein weiteres anschauliches Telos, das Künstlern, Auftraggebern und den Autoren von Malerbüchern vor Augen stehen konnte, wenn sie einem Material den Anschein eines anderen, kostbareren weißlichen Materials verleihen wollten.10 Das Phänomen der Materialillusion bestimmt maßgeblich das ästhetische Spannungsfeld, in dem Materialien und ihre Materialitäten in der Geschichte der Kunst interagieren.11 Referenzmaterialien agieren gleichfalls in diesem Spannungsfeld, weshalb sie von der Praxis und der ästhetischen Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der Simulation von Materialität an der Oberfläche nicht unbetroffen sind. Wenn im Folgenden von Referenzmaterialien die Rede ist, dann nicht, um mit einem neuen Begriff die geläufigen Bezeichnungen Materialnachahmung bzw. Materialillusion zu ersetzen. Referenzmaterialien schieben sich nicht als nachgeahmte vor das sich verleugnende Ausgangsmaterial. Marmor (und auf Marmor beschränkt sich dieser Beitrag), soweit er sich auf ein Referenzmaterial bezieht, verleugnet sich als Material nicht. Referenzmaterialien sind solche, die Möglichkeiten sichtbar machen, die im Marmor angelegt sind bzw. scheinen, insofern die Kunst des Künstlers das Material auf diese Möglichkeiten hinführt oder weil die ästhetische Wertschätzung oder Missbilligung von Referenzmaterialien in die Wahrnehmung von Marmoroberflächen regulierend eingreift.

„den Marmor schmiegsam wie Wachs zu machen“ Ein solches Referenzmaterial für Marmoroberflächen ist Wachs. Domenico Bernini zufolge hatte sein Vater Gian Lorenzo „die Schwierigkeit gemeistert, den Marmor schmiegsam wie Wachs zu machen, und er verstand es so, Malerei und Skulptur gewissermaßen zu vermählen.“12 Luigi Pellegrini Scaramuccia erschien 1674 die Oberfläche von Berninis Apoll-und-Daphne-Gruppe so, als habe der Meißel Wachs statt Marmor bearbeitet.13 (Abb. 1) Joachim von Sandrart rühmte 1675 Berninis frühes Meisterwerk in eben diesem Sinne. Es sei alles von dünnem weissen Marmelstein sehr gut wie das Leben selbsten gibet ausgearbeitet [...], dass niemals einige solche Arbeit weder von denen Antiken noch Modernen gesehen worden, sintemal der Marmelstein so gut und sauber und besser als das Wachs gemeistert worden.14

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1. KORREKTUR 2 3 4

1  Gianlorenzo Bernini, Apoll und Daphne (Detail), Marmor, 1622–1624, Rom, Villa Borghese.

François Raguenet, um nur diesen Autor eines verbreiteten Romführers der Zeit um 1700 noch zu zitieren, begeisterte Berninis Apoll und Daphne-Gruppe wegen der Paradoxie der Mürbigkeit des Harten: „Es ist dies der härteste Marmor, mit dem man jemals gearbeitet hat, und doch ist er in einer solchen Feinheit behandelt, daß er aus Wachs, aus Teigmasse oder mehr noch aus Fleisch zu sein scheint.“15 Der Künstler hatte sich dieses Künstlerlob schon vor seinen Lobrednern zu eigen gemacht und sich auf diesem Weg von den Antiken

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

abgegrenzt. Den Künstlern der Vergangenheit habe, Bernini zufolge, der Mut gefehlt, „den Marmor zu falten“, das heißt, sich das Material so gefügig zu machen, als sei es Wachs.16

Anders als im Fall der Materialillusion mittels Farbfassung wird Marmor, der mit dem Verweis auf Referenzmaterialien über seine genuinen Möglichkeiten hinausgetrieben wird, als Bildstoff auffällig. Das Faszinosum der Anmutung von Wachs – und damit implizit der von Fleisch – treibt auf der Gegenseite die Faszination des Materials der Nachahmung hervor. Es musste nicht bei der Anmutung bleiben. Das Material Wachs selbst konnte den Marmor darin unterstützen, wächsern zu erscheinen. Der 1996 publizierte Restaurierungsbericht zu Apoll und Daphne dokumentiert auf fast der gesamten Oberfläche eine gelbliche Patina,17 die sich neben anderem aus der Komponente Wachs (vermutlich Bienenwachs) zusammensetzt.18 Besonders deutlich sieht man diese Patinierung an Berninis

Referenzmaterialien für Marmoroberflächen I 31

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nackter Wahrheit, deren morbidezza unter den Zeitgenossen in besonderem Maße die abgedankte und nach Rom emigrierte schwedische Königin Christina von Schweden begeisterte.19 In Anbetracht der üblichen Praxis, Oberflächen von plastischen Bildwerken gelegentlich zu reinigen und den Wachsüberzug aufzufrischen oder ganz zu erneuern, ist es zumindest derzeit nicht möglich, die kunsttechnologisch nachweisbaren Wachsanteile in der Oberfläche von Bernini-Skulpturen unzweifelhaft auf das 17. Jahrhundert, auf Bernini selbst, zurückzuführen.20 Gleichwohl: Wachs ist in der zeitnahen Rezeption der Marmor­ skulpturen Berninis das Referenzmaterial und hätte als solches vielleicht auch ohne die materielle Teilhabe von Wachs funktioniert. Berninis Suggestion des Wächsernen ist jedenfalls, um es nochmals zu betonen, nicht der Versuch der Täuschung.21 Seine Apoll-undDaphne-Gruppe, seine Veritas und die anderen sollen nicht als Wachsfiguren wahrgenommen werden, sondern als Marmorfiguren, als Figuren aus dem „härtesten Marmor“ sogar, wie Raguenet betont hatte. Die Spannung zwischen Hart und Weich bleibt bestehen und darf nicht aufgelöst werden. Das Wächserne zeigt eine Möglichkeitsform des Materials Marmor, die, um wirklich zu werden, der Kunst Berninis bedurfte. Insofern transportiert das Wächserne des Marmors ein Künstlerlob, das gegenstandslos wäre, wenn das Steinsein nicht sichtbar und nicht bewusst geblieben wäre. Das Referenzmaterial Wachs wurde allerdings auch herangezogen, als man im späteren 18. Jahrhundert begann, Bernini als Kunstverderber zu ächten.22 Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohrs Bericht Ueber Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst erschien zuerst 1787. Die im Folgenden zitierte Textstelle enthält bereits alles, weswegen man Bernini vormals so sehr geschätzt hatte und weshalb man ihn jetzt, im ausgehenden 18. Jahrhundert, so sehr verachtete. Ramdohr beschrieb Berninis Grabmal für Urban VIII.: Zu beiden Seiten eine Caritá und eine Gerechtigkeit. Die Carità hat ganz das Aussehn einer niederländischen Amme: ihr Lächeln würde einer Buhlerin anstehen, und die schlaffen Formen, die ungeheuren Brüste mit großen Warzen widersprechen diesem Charakter nicht. Die Kinder sind von gemeiner Natur und wassersüchtig; [...] Der Tod als Skelett, der den Nahmen des Pabstes in ein Buch zeichnet, ist eine ekelhafte, und die drei Bienen, die von dem Wappen des Pabstes aus, an den Sarg hinaufkriechen, eine kindische Idee. Was hat denn dieses Werk für sich, daß es ungebildete Augen noch anzieht? Niederländische Treue im Detail, den Schein mahlerischer Wirkung, und die Behandlung des Marmors, der unter Berninis Händen zu Wachs wurde.23

Dass mit dem nämlichen Referenzmaterial Wachs eine gegensätzliche Wertung begründet wurde, hängt fraglos damit zusammen, dass man Wachs selbst als bildnerisches Material im späteren 18. Jahrhundert anders bewertete. Wir erschrecken vor etwas, das sich anfühlt wie Fleisch, das zumindest so aussieht, als ob es sich wie Fleisch anfühlen würde, und das doch keines ist. Das Zusammenfallen von radikaler ontologischer und minimaler mi-

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1. KORREKTUR 2 3 4

metischer Differenz wird zum Grund des Erschreckens, zur Quelle des Unheimlichen. 1794 publizierte Joseph Friedrich Engelschall in Meusels Kunstzeitschrift seine Reflexionen Ueber Wachsbildnerei, in der er eine bemerkenswerte Ästhetik der Differenz entwickelt: [Der] Kontrast gefällt uns an dem belebten Marmor. Die Idee des Lebens und die des todten Steins verschmelzen in einander, und gewähren dem Verstande jenes feine und geistige Vergnügen, welches aus der schicklichen Vereinigung ganz verschiedener Gegenstände entspringt.24 [...] Was thut hingegen die Wachsbildnerei, wenn sie mit dem ihr eigenen Fleiß ein lebendes Individuum darzustellen wagt? Sie trägt die Oberfläche eines Gegenstands auf einen anderen Gegenstand über: aber weil diesem andern Gegenstand die Basis der Bildung, das ist, die innere aus sich selbst wirkende Kraft [...] mangelt, so tritt Kälte und Vereinzelung an die Stelle der gefälligen Einheit im Mannigfaltigen: das nachgeahmte Leben und der Mangel des Lebens machen einen widerlichen Kontrast [...]25 Die Energie des Lebens, welches der Mensch mit seinem Wesen verbindet [...] macht ihm jede seiner Natur analoge Erscheinung interessant. Tritt er näher hinzu, und findet diese Erscheinung gleichwohl von sich und seiner Natur wesentlich verschieden, so bebt er zurück; sein ganzes Gefühl sträubt sich gegen ein Wesen, das ihm zugleich äusserst ähnlich und äusserst unähnlich ist.26

Der letzte Satz gibt die beste Definition des Gespenstischen. Vier Jahre nach Engelschall publizierte Engelbert Wichelhaus, seines Zeichens Professor der Arzneikunde, eine Schrift, die im Gegensatz zu Engelschall eine Ehrenrettung der Wachsbildnerei versucht. Tatsächlich bestätigt sie ihn. Wie Engelschall empfand Wichelhaus Wachsfiguren gerade ihrer scheinbaren Lebendigkeit wegen als tot: Es kam mir vor: angekleidete, übermalte, und durch Kunst in Attitüden gebrachte Kadaver zu sehen. Gewiß würde mich ein Grauen und ein unwillkürlicher Schauder ergriffen haben, wenn ich nicht von Universitäts-Jahren her, und überhaupt als Arzt, am Anblick entseelter Leichname gewohnt gewesen wäre.27

ELEKTRONISCHER bewundernswerte Technik, man müsse sie nur auf die ihr gemäßen Gegenstände beSONDERDRUCK Trotz oder wegen seiner Wahrnehmung von Wachsfiguren als „angekleidete“ und „über-

malte [...] Kadaver“ brach Wichelhausen eine Lanze für die Wachsbildnerei. Sie sei eine schränken: „Anatomische Wachspräparate hingegen rissen mich zu staunender Bewunderung hin“.28 Der adäquate Ort der Wachsbildnerei ist jetzt die medizinische Lehrsammlung und das adäquate Thema der Wachsbildnerei – für Millins Dictionnaire des Beaux-Arts von 1806 sogar das ausschließliche Thema29  – sind Leichen oder Leichenteile. Solche „anatomische(n) Wachspräparate“, die Wichelhaus begeisterten, waren (und sind) seit 1775 in Florenz im Museo di Fisica e Storia Naturale in überwältigender Fülle und Qualität zu besichtigen. Ein junger Bildhauer, Clemente Susini, hatte im Herbst 1773 den Auftrag erhalten, in Zusammenarbeit mit Giuseppe Ferrini Demonstrationsobjekte aus Wachs für das neue Museum anzufertigen.30 (Abb. 2)

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2  Giuseppe Ferrini und Clemente Susini, Medici-Venus (geöffnet) (Detail), Wachs, 1773–1775, Florenz, Museo di Fisica e Storia Naturale.

Nicht von jeher standen sich Tod und Wachs so nahe. Als Pygmalion nach seinem Gebet an die Göttin sich über seine Statue beugt, sie küsst und ihre Brust berührt, wird das betastete Elfenbein weich, verliert seine Starrheit, / gibt seinen Fingern nach und weicht, wie hymettisches Wachs im / Strahl der Sonne erweicht, von den Fingern geknetet, zu vielen / Formen sich fügt und, gerade genutzt, seinen Nutzen bekundet.31

Pygmalions elfenbeinerne Geliebte ist wächsern, bevor sie lebendig wird, oder besser: das Wächsernsein ist bereits das Signum des Lebendigwerdens. Die Geschichte des Wachsfigurenkabinetts ist auch die Geschichte der Entwicklung vom Erstaunen über die Lebendig-

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1. KORREKTUR 2 3 4

keit von Figuren aus einem lebendig anmutenden Material hin zum Erschrecken über die Lebendigkeit von leichenhaft anmutenden Figuren aus einem mit dem Tod konnotierten Material. Am bekanntesten ist das Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud in London geworden. Madame Tussaud war zuerst in Paris tätig gewesen, wo sie unter anderem die Köpfe der während der Französischen Revolution Guillotinierten in Wachs abformen ließ. Ihr 1805 in London eröffnetes Wachsfigurenkabinett überschreibt den seit dem späteren 18. Jahrhundert empfundenen Ekel mit dem Spektakulären.32 In den Anfängen dieses Ausstellungsformats lagerten sich die Konnotationen des ­Morbiden noch nicht an den Wachsplastiken an. 1668 hatte der Wachsbildner Antoine Benoît von Ludwig XIV. das Privileg erhalten, Wachsfiguren gegen Eintrittsgeld öffentlich aus­zustellen.33 Sein „Cercle de la Cour“ in der Pariser Rue des Saints-Pères präsentierte Wachsbildnisse des Königs, der Königin, der Prinzen, der Prinzessinnen, von Herzögen und Herzoginnen, Grafen und Gräfinnen sowie weiterer „personnes de qualité“. Der Publikumserfolg war beträchtlich und Februar 1669 besichtigte die königliche Familie die Ausstellung.34 Das einzige erhaltene Werk des Wachsbildners Antoine Benoît ist ein Porträtrelief Ludwigs XIV. Die echte Perücke, die Bartstoppeln, der Verismus in der Modellierung der Gesichtszüge und nicht zuletzt die Materialität des Wachses geben seit dem späten 18. Jahrhundert Anlass zum Schaudern, doch als dieses Porträt entstand, dürfte niemand geschaudert haben, schon gar nicht der Porträtierte selbst: Ludwig XIV. saß dem Künstler mehrere Male für das Relief Modell,35 1706 erhob der König Benoît in den Adelsstand.36 Selbst Bernini brachte dem Wachsbildner Interesse entgegen und zollte ihm Anerkennung. Für den 14. Oktober 1665 notiert das Tagebuch des Herrn von Chantelou: „[W]ir [...] besuchten Benoît, dessen Wachsporträts der Cavaliere gut fand.“37 Die beiden Künstler, die wir heute in verschiedene Lager einzuteilen geneigt sind, scheinen sich vertragen zu haben. Dieses Einverständnis darf man auch auf die bildnerischen Materialien, Marmor und Wachs, beziehen. Bevor Bernini Benoîts Wachsplastiken in Augenschein nehmen konnte, hatte er sie allerdings als „Frauensache“ qualifiziert.38 Und nach der Besichtigung (und positiven Würdigung) merkte er an, dass wohl Liebespaare den größten Genuss aus

ELEKTRONISCHER den Tastsinn lebensnahen Materials (Wachs) von der ästhetischen Suggestivität des wächSONDERDRUCK solchen bildnerischen Praktiken ziehen könnten. Die Bewunderung hielt sich also in Gren-

zen; es ist die Grenze, die die Suggestivität des nicht nur für das Auge, sondern auch für sern erscheinenden Marmors trennt.

Auf den Schultern von Aby Warburg und Julius von Schlosser39 hat die kunstgeschichtliche Forschung der letzten Jahrzehnte der Keroplastik verstärkte Aufmerksamkeit entgegengebracht.40 Wenig Interesse fand demgegenüber das für die Wahrnehmung, allgemeiner: die Wirklichkeit plastischer Bildwerke eminent wichtige Phänomen, dass Marmorfiguren und Marmorreliefs Wachseffekte erzielten, eventuell verstärkt mittels einer wachshaltigen Politur, ohne über ihr Marmorsein hinwegtäuschen zu wollen. Das früheste erhaltene Werk Michelangelos, das Relief der Madonna an der Treppe, ist mit einer braunen, wachsähnlichen Schicht überzogen, die für sich allein die wächsern wirkende Oberfläche des Reliefs

Referenzmaterialien für Marmoroberflächen I 35

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3  Francesco Laurana, Büste der Isabella von Aragon (?), Marmor und Wachs, um 1490, Wien, Kunsthistorisches Museum.

nicht erzeugt, aber die entsprechend weiche Modellierung unterstützt.41 Auch in der Kentaurenschlacht erinnert nicht nur die weiche Modellierung der Körper an Wachsplastiken. Vermutlich nicht ursprünglich, wie der Restaurierungsbericht nahelegt, kann der braungelbe wachsartige Überzug aber sehr früh aufgebracht worden sein.42

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1. KORREKTUR 2 3 4

Michelangelo – oder diejenigen, die diese Reliefs wächsern fassten – folgten einer im Quattrocento üblichen Praxis. Die um 1490 von Francesco Laurana geschaffene polychrome Frauenbüste, vermutlich ein Bildnis der Isabella von Aragon (Abb. 3), wirkt bereits in der weichen Modellierung und der Lineares verschleifenden Politur ausgesprochen wächsern. Auf Wachs wird nicht nur angespielt: Farbiges Wachs markiert die Augen, Mund und Brauenbogen, Kleidung, Haare und Haarnetz; die Blumen im Haarnetz sind ganz aus Wachs geformt.43 Mit Lauranas Bildnisbüste geraten wir an die Grenze, an der das Referenzmaterial auch materialiter einen solchen quantitativen und die Anschauung bestimmenden Anteil hat, dass die Differenz zur Wachsplastik unscharf wird. Aufgehoben ist sie nicht. Marmor ist das angesehenere Material. Die Lebendigkeit des Wächsernen und der faktische Anteil an Wachsmaterial dienen selbst in diesem Fall dem höheren Ruhm des Steinbildhauers. Und so wollte sicher auch der junge Michelangelo seine Referenz an das Wächserne verstanden wissen. Nicht nur der junge: In einer seiner zuerst 1826 publizierten Conversations besprach der englische Maler James Northcote die Marmorbearbeitung in Michelangelos Grabfigur des Lorenzo de’ Medici. 44 Sie erweckte in ihm den Eindruck „einer Mischung von Leben und Tod, ein Eindruck[,] wie er sich bei Wachsarbeiten einstellt“.45 Erstaunlicherweise verband Northcote damit ein Lob von Michelangelos Kunst der Oberfläche und eine Kritik an der „marmorhaften“ Wirkung der antiken Skulptur. Doch dass man selbst Michelangelo-Figuren jetzt als gespenstisch erfahren konnte, zeigt in aller Nachdrücklichkeit, was sich um 1800 in der Wahrnehmung von Skulptur, in der Wahrnehmung von Kunst überhaupt geändert hatte.

Der Gipsabguss und die „reine Form“ Selbst der Blick auf die vorbildhafte griechische Skulptur musste, was die Anmutungsqualität des Wächsernen und die materielle Anteilnahme dieses Stoffs anbelangt, reglementiert

ELEKTRONISCHER „und man wird ohngefähr auf eben die Art, wie itzo verfahren seyn.“ Heute glätte man die SONDERDRUCK

werden. In seiner Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) kam Johann Joachim Winckelmann nicht umhin zu konstatieren, dass auch die Alten ihre Skulpturen geglättet hätten, Statuen zusätzlich noch mit Wachs. Das hätten auch die antiken Bildhauer getan, aber in

der Antike wurde Winckelmann zufolge „dieses Wachs [...] völlig abgerieben, und bleibet nicht, wie ein Firnis, eine Oberhaut auf demselben“.46 Woher Winckelmann wissen wollte, dass die antiken Bildhauer die Wachspolitur auch wieder abgerieben hätten, ist ein Rätsel. Aber er wollte es so wissen. Marmor sollte nicht mehr glanzpoliert sein und nicht mehr anschaulich so weich erscheinen wie die wächsernen Marmore Berninis. Zulässig war in den Augen Winckelmanns, wie die an späterer Stelle dieses Beitrags zu zitierende Passage aus der Geschichte der Kunst des Alterthums zeigen wird, Wächsernheit wohl nur noch in der Weise, wie sie vor den Marmorstatuen Antonio Canovas erfahrbar war.47 (Abb. 4)

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4  Antonio Canova, Hebe (Detail), Marmor, 1796–1817, Berlin, Alte Nationalgalerie

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1. KORREKTUR 2 3 4

Canova überließ zwar die Übertragung des Gipsmodells in Marmor gänzlich seinen Mitarbeitern, auf die Erscheinungsweise der äußersten Haut seiner Marmorstatuen legte er dagegen großen Wert.48 Um dem frisch behauenen Marmor das blendende Weiß zu nehmen und insgesamt der Oberfläche einen weichen Charakter zu geben, behandelte der junge Canova den Marmor mit einer Wachsschicht. Davon ging Canova in späteren Werken ab und pinselte seine Marmorfiguren, genauer: die nackten Teile derselben, stattdessen mit einer Flüssigkeit an, die Leopoldo Cicognara als „Acqua di rota“ und Canova selbst als sandiges Wasser bezeichnete. Gemeint ist das verschmutzte Wasser, das in einem Becken unter dem Schleifrad für die Bildhauerwerkzeuge gesammelt wurde.49 Ob materialiter mittels Auftrag von Wachs oder ohne, jeweils war der Effekt der, dass die Marmorhaut als weich und wächsern erfahren wurde. Unter Rücksicht auf eine reinere, abstraktere Konzeption des Formbegriffs konnte/musste dann in der späteren Phase des Klassizismus, die sich in der Person Bertel Thorvaldsens verkörperte, auch der von Canova realisierte, im Vergleich mit der Kunst Berninis dezentere, auf die Hochglanzpolitur und die forcierte Suggestion des Fleischlichen verzichtende Effekt der Wächsernheit kritisch rezipiert werden. Carl Ludwig Fernow vermutete, Canova streiche seine Marmore mit einer Tinktur aus Ofenruß an, und sah darin ein besonderes Streben [...], materiellen Reiz, für den des Künstlers Sinn sehr empfindlich zu seyn scheint, auszudrücken. Nicht zufrieden, der Oberfläche des Marmors durch Feile und Bimsstein die zarteste Bestimtheit, und jene milde, matte Politur gegeben zu haben, mit welcher der Stof auch bei der grösten Vollendung für sich selbst keinen Anspruch macht, sucht er vielmehr, diese schäzbare Eigenschaft des Marmors zu vertilgen und ihm den Schein eines weicheren Stoffes zu geben. Zu diesem Zwecke erhält die vollendete Statue nach der lezten bis an Glänzende getriebenen Politur einen Anstrich mit einer ins Gelbliche spielenden Beize aus Ofenrus, um das blendende Weis des Marmors zu brechen, und demselben für das Auge eine wächserne Mürbigkeit zu geben, die auf jedes Auge, das an Bildwerken den reinen Genuß der Form sucht, eine misfällige Wirkung macht. Aber dieser Anstrich ist für das mehr nach Reiz als nach Schönheit lüsterne Auge der Lieb-

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

haber berechnet, das sich um so stärker angezogen und geschmeichelt fühlt, je weicher und mürber der Stof, je verschmolzener und verblasener, oder, wenn man so sagen darf, je formloser die Form erscheint.50

Nicht der Kenner, der „den reinen Genus der Form sucht“, sei, wie zitiert, der Adressat eines solchen „Anstrich[s]“, sondern „das mehr nach Reiz als nach Schönheit lüsterne Auge der Liebhaber“.51 Fernow sah Canova diesbezüglich auf einer Linie mit der Kunst Berninis, über die jetzt selbstredend von ihm, und zwar auch und vor allem ihrer „gallertartigen Weichheit“ wegen, der Stab gebrochen wurde.52 Die Formlosigkeit der Kunst Berninis entspricht dem Wächsernen (oder, um den Ekel ausdrücklicher zu machen, dem „Gallertartigen“) der Oberflächenwirkung. Wenn die Schönheit einer Skulptur in der reinen Form lag, wenn, wie Fernow gefordert hatte, der „Stof auch bei der grösten Vollen-

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dung für sich selbst keinen Anspruch“ zu machen habe, dann konnte in der Konsequenz nicht nur die durch Überzüge welcher Art auch immer mürbe gemachte Statuenhaut, sondern jeder Oberflächenreiz zum Hindernis auf dem Weg zur ästhetischen Erfahrung dieser „reinen [...] Form“ werden. Das beförderte den Aufstieg eines Materials zum Referenzmaterial, dessen Qualität gerade im Mangel lag: Mangel an materieller Wertigkeit, Mangel an Oberflächenreiz, Unlebendigkeit. Ein solches Material ist der Gips. Der Gipsabguss war das Medium, in dem Canovas Kunst zuerst und zuvörderst erfahren und bewundert wurde. Johannes Myssok wies darauf hin, dass Canova, beginnend mit der Arbeit am Grabmal für Klemens XIV., originalgroße Tonmodelle anfertigte, denen der Gipsabguss Dauer sicherte, dass Canova überhaupt der Erste war, der den Gipsabguss nicht für die Reproduktion antiker Werke, sondern für seine eigenen neuen Kreationen nutzte,53 und dass Canova davon abgegangen war, derartige im Gips verstetigte Modelle nur für Auftragsarbeiten zu fertigen, sondern auf Vorrat arbeitete. Wurde bei Canova ein Marmorbild in Auftrag gegeben, dann war dies die Konsequenz der Bewunderung für das Gipsmodell – die Ausführung des Marmors blieb, abzüglich des „finish“, der Punktiermethode und den ausführenden Handwerkern überlassen.54 Bertel Thorvaldsen schloss sich in der Präsentations- und Vertriebsform an Canova an; auch er warb mit originalgroßen Gipsfiguren in seinem römischen Atelier, das zu den wichtigsten Zielen der Romtouristen zählte.55 Thorvaldsens zahlenmäßig und sozial weiter gefächerter Kundenkreis und, daraus resultierend, die häufige Marmorwiederholung des gleichen Modells verschaffte in den Augen der Zeitgenossen dem im römischen Atelier aufgestellten Gipsmodell in einem bis dahin auch bei Canova unbekanntem Maße den Status des Originals.56 Noch geringer als bei Canova war schließlich Thorvaldsens Anteil an der Marmorausführung;57 anders als der Ältere überließ er von wenigen Ausnahmen abgesehen (eine Ausnahme ist der Adonis für den bayerischen König, worauf dieser allerdings fast ein Vierteljahrhundert warten musste) die Marmorausführung bis zum letzten Schritt seinen Mitarbeitern.58 Lungenprobleme wurden von Thorvaldsens Freund, dem schwedischen Dichter Atterbom, ins Spiel gebracht,59 ein Argument, das, selbst wenn es biografisch begründet gewesen wäre, das Desinteresse des Künstlers am Marmor nur ­unzureichend hätte kaschieren können. Die so nicht nur, aber doch mitbestimmte mangelnde Weichheit und Gefälligkeit seiner Frauenfiguren,60 der Verlust an erotischer ­Attraktivität war gewolltes und positiv aufgenommenes Ergebnis einer Kunst,61 die auf Intellektualität und Form (im Sinne von Fernows „reine[m] Genuß der Form“) setzte.62 Die Neutralität der Gipsoberfläche mochte als tot erfahren werden (sogar gelegentlich von Thorvaldsen selbst: „Der Gips ist tot, man sieht Bilderleichen, aber keine Bilder“),63 für seine künstlerische Praxis, für die Rezeption seiner Erfindungen im römischen Atelier, selbst für die matten, unsinnlichen Oberflächen seiner Marmorwerke war Gips das Referenzmaterial. Julius Lange gab 1894 eine treffende Charakterisierung der Oberflächen der Tonplastiken und der Marmorskulpturen Thorvaldsens, die deutlich auf dieses Referenzmaterial anspielt, auch wenn es nicht explizit benannt ist: „Man hat oft das Gefühl, als

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1. KORREKTUR 2 3 4

5  Wilhelm Busch, Maler Klecksel (Kuno Klecksel zeichnet im Antikensaal), 1884.

wenn sein Modellierstecken oder Meissel nicht ganz die warme, bewegte Oberfläche der

ELEKTRONISCHER valdsens anbelangt, so machte im Übrigen derselbe Julius Lange darauf aufmerksam, dass SONDERDRUCK lebendigen Figur erreicht,  – ein stumpfer und kalter Überzug von abstrakter Idealität

bleibt dazwischen liegen.“64 Was die Bedeutung der antiken Skulptur für die Kunst Thor-

bei Thorvaldsens Ankunft in Rom (1797) Napoleon bereits die antiken Meisterwerke nach Paris hatte verbringen lassen, Thorvaldsen sich also hauptsächlich an Gipsen geschult haben muss, die für die Dependance der französischen Kunstakademie abgegossen worden waren.65 Mit dieser tragenden Rolle, die dem Gipsabguss im Produktionsvorgang und in der Vermarktungsstrategie der beiden führenden Bildhauer zuwuchs, ging die Formatierung der Wahrnehmung antiker Kunst einher, wie sie im späten 18. Jahrhundert beim Besuch der öffentlichen Gipssammlungen erfolgte, in denen insbesondere transalpine Betrachter zuerst und zuvörderst ihre Vorstellung von antiker Skulptur ausbildeten (Abb. 5). Beschrei-

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bungen des Mannheimer Antikensaals geben darüber einigen Aufschluss. Erwachsen aus der Gipsabgusssammlung, die Jan Wellem für Düsseldorf hatte zusammentragen lassen, wurde nach der Transferierung der Gipse von Düsseldorf nach Mannheim in den 1750erJahren und nach der anfänglichen provisorischen Unterbringung 1767 im neuen Gebäude der Mannheimer Kunstakademie der Antikensaal eingerichtet, ein Raum, der aus dem Bestand der Sammlung ca. 40 Statuen und Statuengruppen und mehr als 20 Porträtbüsten als Studienmaterial für die Akademiestudenten und als Galerie für kunstinteressierte Gäste bereitstellte. Attraktiv waren nicht zuletzt die Inszenierungsmöglichkeiten: Vorhänge erlaubten es, die Statuen unterschiedlichen Lichtverhältnissen auszusetzen. Die Gipse ließen sich durch einen Mechanismus über dem Sockel drehen, sodass man sie bequem von mehreren Ansichtsseiten her betrachten, genießen und beurteilen konnte. Hinzu kam die Mobilität der Figuren im Saal und nicht zuletzt die bei den ‚Originalen‘ (soweit man die römischen Kopien nach griechischen Bildwerken ‚Originale‘ nennen darf) nicht immer gestattete, in Mannheim aber problemfreie Möglichkeit der handgreiflichen Erfahrung.66 Diese wohl berühmteste Gipsothek des 18. Jahrhunderts gab Johann Wolfgang von Goethe lange vor seiner Italienreise einen Begriff von der Skulptur der Antike. Im Rückblick (Dichtung und Wahrheit) begeisterte sich Goethe über diesen „Wald von Statuen“, diese „große ideale Volksgemeinschaft, zwischen der man sich durchdrängen mußte“, und er lobte die Möglichkeit, durch das „Auf- und Zuziehen der Vorhänge“ die Bildwerke „in das vorteilhafteste Licht“ setzen zu können, sowie die Verfügbarkeit über die Ansichtigkeit der Werke dank des Drehmechanismus.67 Weil besser beleuchtet, weil von unterschiedlichen Seiten her betrachtbar, weil befühlbar ließe sich in Mannheim antike Skulptur besser studieren als in Rom, bemerkte Lessing 1777. Schiller schloss daran an und klagte, dass in Rom die Meisterwerke oft von minderwertiger Nachbarschaft in ihrer Wirkung beeinträchtigt seien, dass einige zu hoch aufgestellt und schlecht beleuchtet seien, nicht umschritten und nicht befühlt werden könnten.68 Wenige fühlten sich vom Material abgestoßen. So monierte August von Kotzebue 1790, dass man „[...] nichts als Abgüsse in Gips“ zu sehen bekäme, Abgüsse, die man in besserer Qualität im entsprechend spezialisierten Kunsthandel erwerben könne.69 Jens Immanuel Baggesen erlebte 1789 den Antikensaal als „Gipspolterkammer“, die zu seinem Mitleid mit den Qualen des Laokoon und seiner Söhne noch das Mitleid wegen der Zugehörigkeit zu diesem „Haufen Gipsfiguren“ hinzugefügt habe. Baggesens Enttäuschung hatte allerdings der desolate Zustand, in dem er den Saal vorfand, verursacht; seine Vorfreude auf den Besuch dieser Gipsothek war vom Wissen, keine Originale anzutreffen, noch ungetrübt, „denn Gips oder Marmor ist einerlei, wo es auf die Form ankommt!“70 Die Äußerung eines anonymen Mannheimtouristen, die 1795 in den Rheinischen Musen abgedruckt wurde, unterstreicht den ästhetischen Eigenwert des Surrogats. Neben dem üblichen Lob an die Mannheimer Sammlung (Beleuchtung, Drehbarkeit usw.) konzedierte der Autor der Gipsoberfläche den Vorteil gegenüber der Marmoroberfläche (zu-

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mindest hinsichtlich des Studiums), „indem die Originale von Marmor, wegen ihres eigentümlichen durch die Politur erhaltenen Glanzes, ein unsicheres, zerstreutes und falsches Licht geben; die Abgüsse von Gips aber nicht.“71 Allerdings hatte der Autor nicht das kalte Weiß des unbehandelten Gipses im Blick. Auf die Düsseldorfer/Mannheimer Gipse war zum Schutz eine Ölschicht aufgestrichen worden, die die Oberfläche ,wärmer‘ gemacht hatte.72 Diese dank nachgedunkeltem Ölanstrich „blaßgelbe“ Tönung des Gipses soll, wie Johann Friedrich Karl Grimm überlieferte, weniger vorbereitete und weniger aufmerksame Besucher getäuscht haben, sie im Glauben gelassen haben, Marmorskulpturen vor sich zu haben.73 Man wird also, wenn man von Gips als Referenzmaterial spricht, einrechnen müssen, dass Gips selbst auf andere Materialien verweisen bzw. andere Materialien simulieren kann. Doch diese zusätzliche Komplikation in der Geschichte des wechselseitigen Verweises der Materialien sei hier nur angedeutet. Was bei Grimm positiv besetzt war, erfuhr August Joseph Ludwig von Wackerbarth während seiner Rheinreise 1791 als Manko. Der zumindest partiellen Marmorähnlichkeit der getönten Gipse setzte er als Ideal die blendende, kalte weiße Gipsfarbe entgegen: Die „Figuren [würden] weit schöner seyn [...], wenn sie ganz weiss wie auf der göttinger Bibliothek wären.“74 Gips war eben nicht nur Surrogat, sondern konnte für sich als schön, ja gelegentlich als dem Marmor überlegen genossen werden. Im ersten Teil von Winckel­ manns Geschichte der Kunst des Alterthums wird der Beitrag der Farbe Weiß zur Schönheit der Skulptur betont. Die seiner Auffassung nach gegenüber dem Original gelegentlich sogar gesteigerte ästhetische Wirkung von Gipsabgüssen begründete Winckelmann farbphysiologisch: Da Weiß die meisten Lichtstrahlen reflektiere, wirkten weiße Gipse größer als die Werke, von denen sie abgeformt wurden: „So wird auch ein schöner Körper desto schöner sein, je weißer er ist“.75 Das Argument: je weißer, desto schöner, war zugunsten des Gipsabgusses bereits im 17. Jahrhundert ins Feld geführt worden. Zitiert wird in die Literatur häufig eine zuerst von Heinz Ladendorf bekannt gemachte Quelle von 1683, die feststellt, dass der Gipsabguss der Venus von Arles exakt der Marmorfigur

ELEKTRONISCHER Stadt Arles war gezwungen worden, ihre antike Venus für die königliche Sammlung SONDERDRUCK

entspreche und sogar angenehmer anzublicken sei, weil er so weiß und das Material so schön sei. Vor einer Überbewertung dieses Materiallobs warnt allerdings der Kontext: Die herauszugeben, und wurde mit einer Gipskopie entschädigt.76 Die Absicht korrumpiert das Argument: Wäre eine Gipsfigur tatsächlich „angenehmer anzublicken“ als eine Marmor­ figur, hätte sich der französische König mit einer solchen zufriedengeben können. Die dem Gipsabguss zugeschriebene ästhetische Qualität baute im späten 18. Jahrhundert weiterhin auf der Zuverlässigkeit des Surrogats auf, auf dem didaktischen Vorteil der Präsentation und vor allem auf der selbst in Rom nicht gegebenen Vollständigkeit dieser „große[n] ideale[n] Volksgemeinschaft“: Johann Georg Sulzer und Aubin-Louis Millin verglichen den Gipsabguss mit dem Buchdruck: Was Bibliotheken dem Gelehrten bedeuteten, seien Gipssammlungen für Künstler.77 Doch daneben bestand die grund­

Referenzmaterialien für Marmoroberflächen I 43

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sätzliche Qualität des Gipses eben doch in der Negation von Qualität. Es ist das Material, das sich in seiner materiellen Neutralität verbirgt und im Sich-Verbergen das Eigentliche der Kunst offenlegen will. Gips ist Referenzmaterial für die „reine Form“, insofern diese als eine immaterielle Qualität begriffen wird. Was im Materialwechsel von Marmor zu Gips verloren gehen kann – „die Empfindung für das Fleisch“ – sei, Claude Henri Watelet und Pierre-Charles Levesque zufolge, nicht nur vernachlässigbar, sondern ein positives Resultat. Schließlich sei die Sinnlichkeit der Oberfläche eines menschlichen Körpers nur Zeugnis seiner Hinfälligkeit. Der Gipsabguss bewahre demgegenüber das eigentlich Bewahrenswerte: die, wie es in dem Watelet und Levesque herausgegebenen Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure heißt, „wahrhafte Schönheit der Formen, ihre vollkommenste Reinheit, ihre erhabenste Größe“.78 Goethe wies auf die Oberflächenqualitäten des Marmors hin, auf „diese schwebenden Verbindungen, diese Glanzkraft [...], diese Übereinstimmung selbst [...], [die] Weichheit [...], [die] Lieblichkeit“ und warf die Frage auf, ob nicht der Gipsabguss den Künstler dieser „Quelle von Annehmlichkeiten“ beraube. Diese seine Bemerkung sei aber, wie Goethe fortfuhr, nur obenhin. Der Künstler findet die Zusammenstimmung weit stärker in den Gegenständen der Natur als in einem Marmor, der sie vorstellt. [...] Auch sucht der Bildhauer die Stimmung nicht in der Materie, woraus er arbeitet, er versteht sie in der Natur zu sehen, er findet sie so gut in dem Gips als in dem Marmor, denn es ist falsch, daß der Gips eines harmonischen Marmors nicht auch harmonisch sei.79

Goethe schrieb dieses Plädoyer für den Gipsabguss im Jahr 1776. Der kurze Text ist überschrieben: „Nach Falconet und über Falconet“, und setzt ein mit einer freien Übersetzung einer Passage aus Étienne-Maurice Falconets Observations sur la statue de Marc-Aurèle. Der junge Goethe reagierte mit seinem Essay (positiv) auf eine kunsttheoretische Position, die in der Tat das Verhältnis der wertvolleren Materialien der ‚Originale‘ zu ihrem Surrogat Gips neu justiert hatte. Die Arbeit am Reiterdenkmal Zar Peters in St. Petersburg hatte Falconet in eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der Antike hineingetrieben. Musste er sich bei seinem Pferd an das allenthalben als vorbildhaft gefeierte antike Vorbild – das Pferd des Marc Aurel – halten? Falconet verneinte und gab als Grund die mangelnde anatomische Korrektheit und das inkorrekte Bewegungsmotiv des antiken Bronzepferds an. Falconet war nie in Rom gewesen, hatte das Original des Denkmals auf dem Kapitol nie gesehen. Nach St. Petersburg hatte er sich Teilabgüsse des Pferds (abgenommen wiederum von einem Gipsabguss der Académie française in Rom) kommen lassen; den Reiter kannte er ausschließlich von Druckgrafiken.80 Den entsprechenden Vorwürfen, er wäre zu einem anderen Urteil gekommen, hätte er nicht allein Gipsabgüsse konsultiert,81 erwiderte Falconet, dass sich die Form einer Skulptur nicht nur ebenso gut, sondern sogar besser vor einem Gipsabguss beurteilen lasse.82

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Das Lexikon von Watelet und Levesque argumentiert mit dem Oberflächenglanz von Bronze, der anders als die gleichfarbige und stumpfe Gipsoberfläche die Form schwerer erkennbar mache;83 Falconet, dem sich Watelet und Levesque anschlossen, hatte sich erstaunlicherweise – schließlich war der Gegenstand seiner Polemik eine Bronze – auf die Differenz von Marmor und Gips kapriziert: Marmoroberflächen böten sicher Reizvolles: Gebe Marmor denn nicht eine harmonische Gesamtfarbigkeit und sei die Transparenz des Materials nicht dem grellen Weiß und der Opazität des Gipses überlegen?84 Falconet begegnete diesem Einwand mit einem Gedankenexperiment: Man nehme einen guten Gipsabguss des Apoll vom Belvedere. Er ist dem Marmororiginal hinsichtlich der Oberflächenqualitäten fraglos unterlegen. Führte nun ein Bildhauer nach dem Gipsabguss wiederum eine Marmorskulptur aus und wäre er in seiner Kopistentätigkeit exakt, dann kämen die nämlichen Vorteile des Marmors gegenüber dem Gips zutage, die bereits der Vergleich des ‚Originals‘ im Vatikan mit dem davon abgenommenen Gipsabguss manifestiert habe. „Sie werden also sehen, dass die Überlegenheit nur aus der Unterschiedlichkeit der Materialien resultiert und in keiner Weise von der Form“.85 Falconets fiktiver Vergleich wirkt zunächst bizarr. Er verglich nicht das ‚Original‘ mit dem Gipsabguss, sondern eine Marmorkopie nach einem Gipsabguss eines ‚Originals‘ mit einem Gipsabguss. Die Forschung gibt Falconet recht. Dass die erhaltenen Antiken, die im 18. Jahrhundert den Kanon der Meisterwerke ausmachten, als römische Marmorkopien nach (zumeist bronzenen) griechischen Werken ohnedies nicht den Status von Originalen beanspruchen dürfen, wurde im Verlauf des 18. und 19.  Jahrhunderts immer offensichtlicher. Doch vermutlich ist, wie nicht zuletzt der Fund von Gipsabgüssen in Baiae nahelegt, der Kopier­ vorgang nicht notwendig vor den Originalen erfolgt, was aufwendig gewesen wäre, sondern anhand von in Italien für die weitere Verwendung bereitliegenden Gipsen. 86 Falconets umständliche Konstruktion war  – vermutlich unbewusst  – eine durchaus realistische Darstellung antik-römischer Produktionsmethoden von Marmorkopien. Wenn, wie Falconet mit Nachdruck behauptet, das Wesentliche am plastischen Bildwerk die „Form“ ist, die der Gipsabguss ebenso gut transportiert wie der Marmor,

ELEKTRONISCHER stumpfe, gleichförmige,SONDERDRUCK „prosaische“ Oberfläche die „schwebenden Verbindungen, diese

dann – auch diese Konsequenz hatte Falconet gezogen – kann das Kunsturteil leichter vor dem Gipsabguss gefällt werden als vor dem Marmor- oder Bronzeoriginal, weil seine Glanzkraft des Marmors“ geschluckt hat und deshalb die „Form“ klarer zutage treten

lässt.87 Impliziert ist damit eine spirituelle Konzeption von künstlerischer „Form“, die vom Material der Kunst ‚übertragen‘ wird, im Material der Kunst aber nicht aufgeht, sondern mehr oder weniger – im Gips weniger – verdeckt wird. Von dieser Implikation bis zum Lob des Gipsabgusses im Stuttgarter Hofkalender von 1811 ist es nur ein Schritt, wenn auch ein nicht unwesentlicher, weil er die vom minderwertigen Material transportierte, mehr oder weniger verhüllte Form zum „Urbild“ adelt: „[...] ein guter Gipsabguß vertritt also die Stelle des Originals, und hat noch den Vorteil, daß er dem ungeübten Auge das Urbild reiner zeigt, als es in der Natur gesehen wird.“88

Referenzmaterialien für Marmoroberflächen I 45

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Es ist purer historischer Zufall, dass auf dem Höhepunkt der klassizistischen Verehrung der antiken Skulptur in Italien die meistverehrten antiken Skulpturen nur mehr in Form von Gipsabgüssen präsent waren, da Napoleon die Marmorbilder seinem Museum in Paris einverleibt hatte. Wie vorhin in Hinblick auf den jungen Thorvaldsen angedeutet, beförderte das den Aufstieg von Gips zum Referenzmaterial der klassizistischen Plastik. Doch in anderer Weise noch ließ das Musée Napoléon antike Marmorstatuen und Gipsabgüsse interferieren. Nicht in der Tribuna der Florentiner Uffizien, nicht in den Vatikanischen Museen hätte Goethe die Versammlung der Meisterwerke der Antike als „große ideale Volksgemeinschaft“ erleben können, als die er sie vor den Gipsabgüssen im Mannheimer Antikensaal erleben konnte. Erst im Paris Napoleons hatten sich die italienischen Kunstschätze zu einer solchen zusammenführen lassen. Die Antikensammlung des Musée Napoléon scheint eine in Marmor zurückübersetzte Gipsabgusssammlung zu sein,89 und als solche – Wilhelm Klein sprach den Zusammenhang bereits 1912 an – diente sie ihrerseits den Gipsabgusssammlungen des 19. Jahrhunderts, die aus den Schlössern und aus den Akademien nun auch in die Universitäten und in die Museen wanderten, als Vorbild.90

Unglasiertes Weichporzellan zwischen Gips und Marmor Ramdohr hatte, wie zitiert, die wachsartige Wirkung der Allegorien in Berninis UrbanGrabmal scharf kritisiert. In seiner abschließenden Charakterisierung von Berninis Stil und dem Stil der Nachfolger Berninis kam er auf den Wachsvergleich zurück und ergänzte ihn mit dem Verweis auf ein zweites, jetzt ebenfalls negativ besetztes Material: Die große Fertigkeit, die dieser Künstler in der Behandlung des Marmors hatte, welcher wirklich unter seinem Meißel zu Wachs wurde, hat ihn wahrscheinlich zu den ausschweifenden Irrthümern verführt, in die er verfallen ist. [...] Bernini vergaß, daß das Fleisch ohne elastische Muskeln und Knochen, die zum Halt dienen, zum Schlauch, und die Haut zur Porcellainglasur wird.91

Glasiertes Porzellan war für Ramdohr das zweite Referenzmaterial, mit dem die Ober­ flächenwirkung einer auf Hochglanz polierten Marmorskulptur verglichen werden und womit sie abgewertet werden konnte. Einige Jahrzehnte früher schon hatte allerdings zumindest in Frankreich Porzellan beschlossen, nicht mehr so zu glänzen wie Porzellan. Da erst Ende der 1760er-Jahre geeignete Kaolinvorkommen bei Saint-Yrieux entdeckt wurden, produzierte man das in der Herstellung sehr viel aufwendigere Weichporzellan. Weil die Glasurmasse bei niedrigeren Temperaturen gebrannt werden musste als das zu glasierende Objekt und Weichporzellan zudem, wenn es gebrannt ist, kaum Saugfähigkeit besitzt, war es notwendig, der Glasur genügend klebrige Stoffe zuzuführen.92 Die Wirkung dieser Glasur auf dem (falschen) Porzellan der Manufakturen von Vincennes und Sèvres

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kann hinreißend sein, wenn sie Geschirr und Vasen zum Glänzen bringt; weniger favorabel ist der Effekt jedoch bei Figürlichem. Die Glasur unterdrückt alle Details – die hier zudem differenzierter als beim ‚richtigen‘ Hartporzellan herausmodelliert werden können – und schafft eine undifferenzierte Oberfläche.93 Der Glanz des glasierten Weichporzellans ist ein vordergründiger, speckiger Glanz. Jean-Jacques Bachelier, der in Vincennes das Atelier für die figürliche Produktion leitete, schlug vor, auf die zu dickflüssige Glasur zu verzichten. 1751 ließ man zumindest Versuche mit unglasiertem Porzellan zu.94 Diese verliefen so erfolgreich und fanden solchen Anklang beim Publikum, dass man ab Ende 1752 verstärkt und ab 1755 ausschließlich unglasiertes figürliches Weichporzellan herstellte.95 Das sogenannte BiskuitPorzellan war geboren. Als Bachelier seinen Vorschlag machte, argumentierte er damit, dass schließlich auch Marmorstatuen weder glänzend noch farbig seien.96 Doch so einfach lagen die Dinge nicht. Berninis Allegorie der nackten Wahrheit beispielsweise ist zwar nicht bunt; dennoch gibt es eine farbige Abstufung durch die unterschiedliche Tönung der Wachspolitur. Außerdem: Berninis Allegorie glänzt. Bacheliers Argument ist bereits eine Entscheidung für eine bestimmte Oberflächenwirkung von Marmorskulpturen und gegen eine bestimmte andere. Der Oberflächenwirkung des in Vincennes, später in Sèvres produzierten BiskuitPorzellans am nächsten kommt die „Epidermis“ von Falconets Drohendem Amor,97 der 1755 als Gips- und 1757 als Marmorfigur auf dem Salon den Ruhm des Bildhauers begründete, und die der Marmorskulpturen der Folgejahre, die seinen Ruhm befestigten, Oberflächen, die glatt sind, aber nicht glänzend, und die lebendig wirken, aber nicht fleischlich, erotisch, aber auch distanziert. 1757 schlug Bachelier vor, die Leitung des Skulpturenateliers Falconet zu übergeben. Dessen Amtszeit wurde zur Blütezeit des figürlichen Sèvresporzellans; vor allem Boucher-Motive waren eine beliebte Vorlage für die Biskuitproduktion. Doch zahlreiche figürliche Darstellungen entwarf Falconet selber oder ließ sie nach seinen Marmorskulpturen anfertigen (Abb. 6). Und da die meisten M ­ armore in Privatsammlungen verschwanden, waren es allenthalben die Biskuitrepro-

ELEKTRONISCHER Man muss vielleicht SONDERDRUCK nicht so weit gehen, das unglasierte Weichporzellan von Vincen-

duktionen, die Falconets Kunst, also auch seine Gestaltung der Marmoroberfläche, repräsentierten.98

nes und Sèvres für ein Vorbild für Marmoroberflächen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu halten. Vielleicht wäre es korrekter, es als Material zu charakterisieren, das Marmor und seine Referenzmaterialien Wachs und Gips einander vermittelt. Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums liefert die Beschreibung einer schönen Marmoroberfläche, die andeutet, wie nahe die Uniformität und Kleinkörnigkeit der Gipsoberfläche, ebenso wie die delikate Reinheit und die matte, glatte, aber nicht hart erscheinende Oberfläche einer Biskuit-Plastik aus Weichporzellan, aber auch noch das (diskret) Wächserne eines Marmors von Canova dem jetzt aktuellen Ideal einer schönen Marmorober­ fläche waren:

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6  Étienne Maurice Falconet, Drohender Amor, Weichporzellan (Biskuit), zwischen 1757 und 1766, Paris, Musée des Arts décoratifs

Es giebt weißen Marmor von kleinen und großen Körnern, das ist, aus feinen und gröbern Theilen zusammengesetzet: je feiner das Korn ist, desto vollkommener ist der Marmor; ja es finden sich Statuen, deren Marmor aus einer milchigten Masse oder Teige gegossen scheinet, ohne Schein von Körnern, und dieser ist ohne Zweifel der schönste. Da nun der Parische der seltenste war, so wird derselbe diese Eigenschaft gehabt haben. Dieser Marmor hat außer den zwo Eigenschaften, welche dem schönsten Carrarischen nicht eigen sind: die eine ist dessen Mildigkeit, das ist, er läßt sich arbeiten wie Wachs [...], [...] die andere Eigenschaft ist dessen Farbe, welche sich dem Fleische nähert, da der Carrarische ein blendend weiß hat.99

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Winckelmann täuschte sich. Parischer Marmor ist im Gegenteil sogar ausgesprochen grobkörnig.100 Auch da aber gehorcht der Irrtum einem Programm: „Mildigkeit“ und Wachsähnlichkeit des zu bearbeitenden Materials (bei Winckelmann selbstverständlich nicht die „morbidezza“ Berninis, sondern das matt Wächserne eines Marmors von Canova), der Anschein einer „milchigten Masse“, das sind anschauliche Qualitäten einer Marmoroberfläche, die dem Referenzmaterial des unglasierten Weichporzellans sich annähert. So sah es bereits Friedrich Theodor Vischer: „Winckelmann hat sich geirrt, wenn er Marmor, der von milchiger Masse oder Teige gegossen scheint für den schönsten hält und annimmt, der parische werde so beschaffen sein. Solcher Marmor wäre gypsartig.“101 Erst dank der 1768 entdeckten Kaolin-Vorkommen bei Saint-Yrieux konnte man in Frankreich endlich ‚richtiges‘ Porzellan – Hartporzellan – herstellen. Doch dies führte nicht dazu, dass man jetzt die Glasur wieder in ihr Recht einsetzte. Auch Hartporzellanfigürchen wurden jetzt aus unglasiertem Porzellan gefertigt. Zum Zweiten: Die Produktion des falschen, weichen Porzellans wurde nicht eingestellt. Vorzüglich figürliches Porzellan wurde weiterhin auch in Weichporzellan hergestellt – und dies, obwohl die Herstellung des (richtigen) Porzellans einfacher und billiger war. Die Gründe dafür liegen offen zutage, oder, wie man auch sagen könnte, sie liegen auf der Hand, da man sie nämlich fühlen kann. Das Weiß des weichen Biskuitporzellans wirkt nicht hart, nicht kalt, sondern hat einen weichen, beinahe cremigen Charakter; auch im Farbton ist es wärmer. Hartporzellan ist dagegen nicht nur de facto härter, es wirkt auch härter. Seine Farbigkeit ist kälter und hat einen leichten grauen oder bläulichen Schimmer. Dass es spröder, härter, kälter ist, bestätigt auch der Tastsinn. Erst 1804 stellte man die Produktion ganz auf Hartporzellan um. Dass man bis dahin trotz der spät gewonnenen Möglichkeit, richtiges Porzellan herzustellen, immer noch dem porcelaine tendre anhing, zeigt, dass man die weichere, cremige Oberfläche und die wärmere Farbe der Kälte und Sprödigkeit des echten Porzellans immer noch vorzog, was wiederum Rückschlüsse auf die Wahrnehmung von Marmorskulptur zulässt. Auch die ausschließliche Fertigung von Hartporzellan in Sèvres ab 1804 ist signifikant. 1803

ELEKTRONISCHER Thorvaldsens über den SONDERDRUCK älteren Rivalen korrespondierte in Sévres der Sieg des Hart­porhatte Thorvaldsen sein Gipsmodell des Jason vollendet und ausgestellt. Die Konkurrenz

mit Canova und damit zweier Arten der Oberflächengestaltung war eröffnet. Dem Sieg zellans über das Weichporzellan.

Adorno hatte recht: „Material ist auch dann kein Naturmaterial, wenn es den Künstlern als solches sich präsentiert, sondern geschichtlich durch und durch.“102 Und Monika Wagner hatte recht, Adornos Historisierung des Materials zur methodischen Leitlinie ihrer materialgeschichtlichen Forschungen zu machen. 103 Die Frage nach Referenzmaterialien, die der vorliegende Beitrag zur Diskussion stellt, ist in diesem Zusammenhang vielleicht einer der möglichen methodischen Ansätze.

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Anmerkungen   1 Melissa Speckhardt, Weiß gefasste Skulpturen und Ausstattungen des 17.–19. Jahrhunderts in Deutschland. Quellenforschung, Technologie der Fassungen, künstlerische Phänomene und denkmalpflegerische Probleme, Petersberg 2014, S. 14.   2 Ulrich Schiessl, Rokokofassung und Materialillusion. Untersuchungen zur Polychromie sakraler Bildwerke im süddeutschen Rokoko, Mittenwald 1979, S. 70; Speckhardt 2014 (Anm. 1), S. 35, 113–114, 315–316.   3 Ferdinand Werner, Der Hofgarten in Veitshöchheim, Worms 1998, S. 24, Jürgen Wiener, Das Komische in der Gartenskulptur, in: Das Komische in der Kunst, hrsg. von R. Kanz, Köln u. a. 2007, S. 110–137, hier S. 127.  4 Johannes Taubert, Polychrome Sculpture. Meaning, Form, Conservation, übers. und hrsg. von M. D. Marincola) (1978 dt.), Los Angeles 2015, S. 112; vgl. Speckhardt 2014 (Anm. 1), S. 35.   5 Schiessl 1979 (Anm. 2), S. 55–56; Speckhardt 2014 (Anm. 1), ab S. 77, ab S. 312.   6 Schiessl 1979 (Anm. 2), S. 45.   7 Johann D. Schröder, Johann Schröders trefflich-versehene Medici-Chymische Apotheke [...], 1685; zit. nach Schiessl 1979 (Anm. 2), S. 46.   8 Aleksandra Lipin`ska, „Polished alabaster of Carrara“. Written sources and the meaning of sculpture material, in: Material rzezby Miedzy technika a semantyka/Material of sculpture. Between Technique and Semantics, hrsg. von A. Lipin`ska, Wroclaw (Breslau) 2009, S. 295–312, hier S. 300.   9 Schiessl 1979 (Anm. 2), S. 58. 10 Speckhardt 2014 (Anm. 1), S. 76–77. Eine Ausnahme soll nicht unterschlagen werden: Die aus der frühbarocken Barockisierungsphase (um 1630) stammenden Apostelfiguren an den Langhauswänden der Salemer Klosterkirche wurden in einem Text des mittleren 17. Jahrhunderts beschrieben als „wie in Gipsarbeit gemacht, obgleich sie aus Holz sind“ („quasi gypsato opere factae, licet sint e ligno“); zit. und dt. Übers. nach Schiessl 1979 (Anm. 2), S. 42. 11 Dass das hier aufgerufene „Spannungsfeld“ auf Pierre Bourdieus „Feldtheorie“ Bezug nimmt, muss vielleicht nicht eigens betont werden. 12 „[...] suo Scalpello, con cui vinto haveva la difficoltà di render il Marmo pieghevole come la cera, & haver con ciò saputo accoppiare in un certo modo insieme la Pittura e la Scultura“. Domenico Bernini, Vita del Cavalier Gio. Lorenzo Bernino descritta da Domenico Bernino suo figlio, Rom 1713, S. 149. Dazu und zum Folgenden Hans Körner, Die Venus von Medici und der „Eindruck des Fingers der Liebe“. Zu einer Kunstgeschichte des Grübchens, in: Nobilis arte manus. Festschrift zum 70. Geburtstag von Antje Middeldorf Kosegarten, hrsg. von B. Klein und H. Wolter-von dem Knesebeck, Dresden/Kassel 2002, S. 410–427, hier S. 414. 13 Andrea Bolland, „Desiderio“ and „Diletto“. Vision, Touch and the Poetics of Bernini’s „Apollo and Daphne“, in: The Art Bulletin 82/2, 2000, S. 309–330, hier S. 319. 14 Zit. nach Luise Welcker, Die Beurteilung Berninis in Deutschland im Wandel der Zeiten, Köln 1957, S. 13. 15 „C’est le marbre le plus dur qui ait jamais été travaillé, & cependant il est taillé avec tant de tendresse, qu’il paroît de la cire, de la pâte, ou plutôt de la chair même.“ François Raguenet, Les Monumens de Rome, ou Description des plus beaux ouvrages de peinture, de sculpture, et d’architecture, qui se voyent à Rome, & aux Environs [...] [1700], Amsterdam 1701, S. 18. So wörtlich auch bei Robert Samber, Roma Illustrata: or, a Description oft the most Beautiful Pieces of Painting, Sculpture, and Architecture, Antique and Modern, at and near Rome [1722], London 1723, S. 13.

50 I Hans Körner DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

Magdalena Bushart / Andreas Huth (Hg.): superficies MAGDALENA BUSHART, HENRIKE HAUG (HG.): GETEILTE ARBEIT. ISBN 978-3-412-51682-6 © 2020 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE. KG, WIEN KÖLN WEIMAR

1. KORREKTUR 2 3 4

16 Zit. nach Hans Kauffmann, Giovanni Lorenzo Bernini. Die figürlichen Kompositionen, Berlin 1970, S. 221. Weitere Beispiele für das Lob der „morbidezza“ von Skulptur: Karl Möseneder, „Morbido, morbidezza“. Zum Begriff und zur Realisation des „Weichen“ in der Plastik des Cinquecento, in: Docta Manus. Studien zur italienischen Skulptur für Joachim Poeschke, hrsg. von J. Myssok und J. Wiener, Münster 2007, S. 289–299, bes. ab S. 289; Joris van Gastel, Il marmo spirante. Sculpture and Experience in Seventeenth-Century Rome (Studien aus dem Warburg-Haus 12), hrsg. von U. Fleckner u. a., Berlin/Leiden 2013, ab S. 135. Zum Lob der „morbidezza“ von Werken der Malerei: Frank Fehrenbach, Calor nativus – Color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des „lebendigen Bildes“ in der frühen Neuzeit, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Max-Planck-Institut 3), hrsg. von U. Pfisterer und M. Seidel, 2003, S. 151–170, hier S. 160– 161. 17 Alfredo Aldrovandi u. a., Indagine scientifiche per lo studio delle superfici marmoree dell’Apollo e Dafne di Gian Lorenzo Bernini, in: OPD restauro 8, 1996, S. 30–39, hier S. 30. 18 Aldrovandi u. a. 1996 (Anm. 17), S. 39. 19 Zu Christina von Schwedens Rezeption der Statue: Kristina Herrmann Fiore, La Verità, in: Gian Lorenzo Bernini. Regista del Barocco. I restauri, Ausst.-Kat. (Rom, Museo del Palazzo di Venezia, 1999), hrsg. von C. Strinati und M. G. Bernardini, S. 27–35, hier S. 28. 20 Kristina Herrmann Fiore, Osservazioni sull’epidermide di „Apollo e Dafne“ di Bernini, in: OPD restauro 8, 1996, S. 40–47, hier S. 42; Herrmann Fiore 1999 (Anm. 19), S. 35. 21 So auch Maraike Bückling, Wachs und Marmor – Augenblick und Ewigkeit. Kunsttheoretische Überlegungen der Neuzeit, in: Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken, Ausst.-Kat. (Frankfurt, Liebieghaus Skulpturensammlung, 2014–2015), hrsg. von S. Roller, München 2014, S. 120–137, hier S. 130. 22 Das Folgende übernimmt eine Passage aus: Körner 2002 (Anm. 12), S. 416–417. 23 Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr, Ueber Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst, Dritter Theil (1787) Leipzig 1798, S. 232. 24 Joseph Friedrich Engelschall, Ueber Wachsbildnerei, in: Neues Museum für Künstler und Kunstliebhaber, hrsg. von J. G. Meusel, 1794, Bd. 1, S. 1–30, hier S. 11. 25 Engelschall 1794 (Anm. 24), S. 16. Zu Engelschall vgl. Bückling 2014 (Anm. 21), S. 134. 26 Engelschall 1794 (Anm. 24), S. 19. 27 Engelbert Wichelhausen, Ideen über die beste Anwendung der Wachsbildnerei nebst Nachrichten von den anatomischen Wachspräparaten in Florenz und deren Verfertigung [...], Frankfurt 1798, S. 3.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

28 Wichelhausen 1798 (Anm. 27), S. 3.

29 Aubin-Louis Millin, Céroplastique, in: Aubin-Louis Millin, Dictionnaire des Beaux-Arts, Paris 1806, Bd. I, S. 217–220, hier S. 220.

30 Antonio Martelli, La nascita del Reale Gabinetto di fisica e storia naturale di Firenze e l’anatomia in cera di Felice Fontana, in: La ceroplastica della scienza e nell’arte. Atti del I Congresso Internazionale (Florenz, 1975) (Biblioteca della „Rivista di storia delle scienze mediche e naturali“ 20), Florenz 1977, Bd. 1, S. 103–133, hier S. 108; Encyclopaedia Anatomica. Museo La Specola Florence, hrsg. von M. von Düring, Köln 1999. 31 „temptatum mollescit ebur positoque rigore / subsidit digitis ceditque, ut Hymettia sole / cera remollescit tractataque pollice multas / flectitur in facies ipsoque fit utilis usu.“ Publius Ovidius Naso, Metamorphosen (dt. Übers. u. hrsg. von E. Rösch), München/Zürich 1990, S. 372–373; vgl. Michelle E. Blooms auf Pygmalions Objekt der Begierde bezogenen Begriff der „gynomorphic waxes“; Michelle E. Bloom, Waxworks. A Cultural Obsession, Minnesota 2003.

Referenzmaterialien für Marmoroberflächen I 51

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32 Hans Körner, Christus aus Wachs. Die Gekreuzigten Josef Thoraks, in: Materialität des Heiligen. Materialwahl, Materialwirkung und Materialbewertung in der christlichen Kunst des 20. Jahrhunderts, hrsg. von H. Körner und J. Wiener, Essen 2017, S. 65–82, hier S. 76. 33 Julius von Schlosser, Tote Blicke. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch (1910/1911), hrsg. von Th. Medicus, Berlin 1993, S. 89, 92; Reinhard Büll, Vom Wachs. Hoechster Beiträge zur Kenntnis der Wachse, Frankfurt u. a. 1963, Bd. I, S. 448; Jessica Ullrich, Wächserne Körper. Zeitgenössische Wachsplastik im kunsthistorischen Kontext, Berlin 2003, S 257–258. 34 Adolphe Dutilleux, Antoine Benoist. Premier Sculpteur en Cire du Roi Louis XIV (1632–1717), in: Revue de l’histoire de Versailles et de Seine-et-Oise, 1905, S. 81–97, hier S. 83; Andrea Daninos, Qualque novità sulla scultura in cera fra Cinquecento e Settecento, in: Prospettiva 132, 2008, S. 88–99, hier S. 92. 35 Jean-René Gaborit und Jack Ligot, Sculptures en cire de l’ancienne Egypte à l’art abstrait (Notes et documents des musées de France 18), Paris 1987, o. S. 36 Schlosser 1993 (Anm. 33), S. 81. 37 „[N]ous sommes allés chez Benoît pour voir ces têtes de cire que le Cavalier a trouvées bien.“ Paul Fréart de Chantelou, Journal du voyage du cavalier Bernin en France (Extrait de la „Gazette des Beaux-Arts“), hrsg. von L. Lalanne, Paris 1885, S. 236; dt. Übers. unter Benutzung von Paul Fréart de Chantelou, Tagebuch des Herrn von Chantelou über die Reise des Cavaliere Bernini nach Frankreich (dt. Übers. von H. Rose), München 1919, S. 319. 38 Fréart de Chantelou 1885 (Anm. 37), S. 236. 39 Aby M. Warburg, Bildniskunst und florentinisches Bürgertum (1902), in: Aby M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen (Saecula spiritualia 1), hrsg. von D. Wuttke und C. G. Heise, Baden-Baden 1980, S. 65–102; Schlosser 1993 (Anm. 33). 40 Zoltan Kádár, Sul profilo barocco della cosidetta „Venere dei Medici“ di cera, in: La ceroplastica della scienza e nell’arte. Atti del I Congresso Internazionale (Florenz, 1975) (Biblioteca della „Rivista di storia delle scienze mediche e naturali“ 20), Florenz 1977, Bd. 2, S. 525–532; Martelli 1977 (Anm. 30); Claudia MacDaniel-Odendall, Die Wachsbossierungen des Caspar Bernhard Hardy (1726–1819), Köln 1990; Susanne Kress, Laurentius Medices – Salus Publica. Zum historischen Kontext eines Voto Lorenzos de’ Medici aus der Verrocchiowerkstatt, in: Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio, hrsg. von H. Beck, M. Bückling und E. Lein, Frankfurt 1996, S. 175–195; Georges Didi-Huberman, Die Ordnung des Materials, Berlin, 1999; Georges Didi-Huberman, Fleisch aus Wachs. Circuli vitiosi, in: Encyclopaedia Anatomica. Museo La Specola Florence, Köln 1999, S. 75–86; Jessica Ullrich, Körper im Transit. Wachs als Medium des Übergangs in Körperdarstellungen der Neunziger Jahre, in: Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktivität, hrsg. von A. Haus, F. Hofmann und Ä. Söll, Bonn 2000, S. 203–216; Jessica Ullrich, Wächserne Identitäten, in: Wächserne Identitäten. Figürliche Wachsplastik am Ende des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. (Berlin, Georg Kolbe Museum, 2002), hrsg. von J. Ullrich, Berlin 2002, S. 7–17; Ullrich 2003 (Anm. 33), Bloom 2003 (Anm. 31), Bettina Uppenkamp, Duplikanten in Wachs. Der Körper der Reproduktion, in: Reproduktion. Techniken und Ideen von der Antike bis heute. Eine Einführung, hrsg. von J. Probst, Berlin 2011, S. 84–97. 41 Zur wächsernen Wirkung der Madonna an der Treppe: Joachim Poeschke, Michelangelo und seine Zeit (Die Skulptur der Renaissance in Italien 2), München 1992, S. 68. 42 Agnese Parronchi, Nota sul restauro della „Battaglia dei centauri“, in: Il giardino di San Marco. Maestri e compagni del giovane Michelangelo, Ausst.-Kat. (Florenz, Casa Buonarroti 1992), hrsg. von P. Barocchi, Mailand 1992, S. 12–13, hier S. 12–13. 43 Joachim Poeschke, Donatello und seine Zeit (Die Skulptur der Renaissance in Italien 1), München 1990, S. 153; Bückling 2014 (Anm. 21), S. 124. Die Bedeutung der Keroplastik in der Renaissance ist bei Vasari hinreichend dokumentiert. Dazu: Vasari on Technique, hrsg. von B. Brown, London 1907, S. 188–189.

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1. KORREKTUR 2 3 4

44 Zu Northcote: https://en.wikipedia.org/wiki/James_Northcote (Zugriff 23.12.2018). 45 „[...] the effect of the mixture of life and death that is perceivable in wax-work“; William Hazlitt, Conversations with James Northcote [1830], Conversation; zit. nach Johannes Dobai, Die Kunstliteratur des Klassizismus und der Romantik in England, 4 Bde., Bern 1975, Bd. 2, S. 1032. 46 Johann Joachim Winckelmann, Johann Winckelmanns [...] Geschichte der Kunst des Alterthums. Erster Theil, Dresden 1764, S. 254. Dazu: Hans Körner, „Politesse“ und „Rusticité“. Zur Geschichte der polierten Skulptur im französischen 18. Jahrhundert, in: Pygmalions Aufklärung. Europäische Skulptur im 18. Jahrhundert, hrsg. von R. Kanz und H. Körner, München/Berlin 2006, S. 184–206, hier S. 194. 47 Das Folgende wiederholt und paraphrasiert Stellen aus Hans Körner, Die versteinerte Niobe im Marmorbild des Praxiteles. Ein Beitrag zu einer Kunstgeschichte der Oberfläche, in: The Humanities in the New Millennium (Kultur und Erkenntnis. Schriften der philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 24), hrsg. von S. Peters u. a., Tübingen/Basel 2000, S. 207– 235, hier ab S. 214. 48 Dazu v. a. Hugh Honour, Canova’s Studio Practice – I: The Early Years/II: 1792–1822, in: The Burlington Magazine 114, 1, 1972, S. 146–159 und 2, 1972, S. 214–229; Alex Potts, The Sculptural Imagination. Figurative, Modernist, Minimalist, New Haven/London 2000, S. 42–43. 49 Honour, II 1972 (Anm. 48), S. 219; Mark Norman und Richard Cook, „Just a tiny bit of rouge upon lips and cheeks“: Canova, Colour and the Classical Ideal, in: Canova. Ideal Heads, Ausst.-Kat. (Oxford, Ashmolean Museum 1997), hrsg. von K. Eustace, Oxford 1997, S. 47–58, hier S. 49, 50. Zu Canovas Weisen der Patinierung vgl. auch Guilhem Scherf, Le „dernier fini“. Débats sur l’achèvement en sculpture, in: La peinture de genre au temps du cardinal Fesch. Actes du colloque (Ajaccio 2007), hrsg. von Ph. Costamagne und O. Bonfait, Paris 2008, S. 167–177, hier S. 174–175. 50 Carl Ludwig Fernow, Über den Bildhauer Canova und dessen Werke, in: Römische Studien, Erster Theil, hrsg. von C. L. Fernow, Zürich 1806, S. 11–248, hier S. 91–92. 51 Fernow 1806 (Anm. 50), S. 92. 52 Fernow 1806 (Anm. 50), S. 67. 53 Johannes Myssok, Modern Sculpture in the Making. Antonio Canova and Plaster Casts, in: Plaster Casts. Making, Collecting and Displaying from Classical Antiquity to the Present (Transformationen der Antike 18), hrsg. von R. Frederiksen und E. Marchand, Berlin/New York 2000, S. 269–288, hier ab S. 272. 54 Myssok 2000 (Anm. 53), S. 285–286. Zum Anspruch des Gipsabgusses siehe auch: Pascal Griener, Plaster „versus“ Marble. Wilhelm and Caroline von Humboldt and the Agency of Antique Sculpture, in: Idols and Museum Pieces. The Nature of Sculpture, its Historiography and Exhibition History 1640–1880 (Studien aus dem Warburg-Haus 17), hrsg. von C. Eck, Berlin/Boston 2017,

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

S. 159–175, bes. 164, 244–248.

55 Dazu und zum folgenden: Körner 2000 (Anm. 47), S. 217–218. Wie Canova verlagerte Thorvaldsen seine tatsächliche Modelliertätigkeit wegen des Besucherandrangs in seine Privatwohnung, die aber ebenfalls nach Präsentation einer Visitenkarte Besuchern offenstand; Jürgen Wittstock, Geschichte der deutschen und skandinavischen Thorvaldsen-Rezeption bis zur Jahresmitte 1819, Hamburg 1975, S. 111. 56 Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Ausst.-Kat. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum Schleswig, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf 1991/1992), hrsg. von G. Bott und H. Spielmann, Nürnberg 1991, S. 599, 601. 57 Wittstock 1975 (Anm. 55), S. 115; Jürgen Wittstock, Zur Reproduzierbarkeit der künstlerischen Idee. Die Skulptur Bertel Thorvaldsens, in: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18.  Jahrhundert (Frankfurter Forschungen zur Kunst 11), hrsg. von H. Beck u. a., Berlin 1984, S. 105–117, hier ab S. 105.

Referenzmaterialien für Marmoroberflächen I 53

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1. KORREKTUR 2 3 4 Magdalena Bushart / Andreas Huth (Hg.): superficies MAGDALENA BUSHART, ANDREAS HUTH (HG.): SUPERFICIES. ISBN 978-3-412-52341-1 © 2022 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE. KG, WIEN KÖLN

58 Wittstock 1984 (Anm. 57), S. 105–106, 108; Ursula Peters, Erfinden ist göttlich – Multiplizieren ist menschlich. Bertel Thorvaldsen und die Vervielfältigung der künstlerischen Idee, in: Ästhetische Probleme der Plastik im 19. und 20. Jahrhundert (Schriftenreihe der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg 9), hrsg. von A. M. Kluxen, Nürnberg 2001, S. 143–150, hier S. 146–147. 59 Wittstock 1975 (Anm. 55), S. 205–206. 60 Wittstock 1984 (Anm. 57), S. 6 61 Vgl. Peter Laub, Wahrnehmung und Wahrheit. Überlegungen zum Bedeutungswandel von „Sinnlichkeit“ im Klassizismus, in: Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Ausst.-Kat. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Schleswig, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf 1991/1992), hrsg. von G. Bott und H. Spielmann, Nürnberg 1991, S. 241–248, hier S. 191; Dieter Rahn, Die Plastik und die Dinge. Zum Streit zwischen Philosophie und Kunst, Freiburg 1993, S. 152. 62 Wittstock 1984 (Anm. 57), S. 128. 63 Wittstock 1984 (Anm. 57), S. 128. 64 Julius Lange, Thorwaldsen’s Darstellung des Menschen, Berlin 1894, S. 133. 65 Lange 1894 (Anm. 64), S. 117. Thorvaldsen wird aber sicher auch vor den Gipsabgüssen seinen Begriff von antiker Skulptur gefestigt haben, die im vatikanischen Museo Pio Clementino zusammen mit neu angekauften Stücken den Verlust kompensieren sollten. Dazu Adelheid Müller, Sehnsucht nach Wissen. Friederike Brun, Elisa von der Recke und die Altertumskunde um 1800, Berlin 2012, S. 382. 66 Zur Geschichte des Mannheimer Antikensaals u. a. Eva Hofmann, Anton von Verschaffelt. Hofbildhauer des Kurfürsten Carl Theodor in Mannheim, Mannheim 1982, ab S. 312; Sebastian Socha, Der Antikensaal in der Mannheimer Zeichnungsakademie, in: Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701–1815, hrsg. von B. Savoy, Köln u. a. 2015, S. 385–412, hier ab S. 385. 67 Zit. und paraphrasiert nach Hofmann 1982 (Anm. 66), S. 318–319. 68 Wolfgang Schiering, Der Mannheimer Antikensaal, in: Antikensammlungen im 18. Jahrhundert (Frankfurter Forschungen zur Kunst 9), hrsg. von H. Beck u. a., Berlin 1981, S. 237–272, hier S. 261; Hofmann 1982 (Anm. 66), S. 321–322; Hans Ulrich Cain, Gipsabgüsse. Zur Geschichte ihrer Wertschätzung, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums und Berichte aus dem Forschungsinstitut für Realienkunde, 1995, S. 200–215, hier S. 205–206. 69 Hofmann 1982 (Anm. 66), S. 329–330. 70 Jens Baggesen, Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland in die Schweiz 1789, dt. Übers. von G. Perlet, München 1986, S. 303–304; vgl. Socha 2015 (Anm. 66), S. 404. 71 Zit. nach Hofmann 1982 (Anm. 66), S. 330–331; vgl. Cain 1995 (Anm. 68), S. 206. 72 Hofmann 1982 (Anm. 66), S. 331. 73 Socha 2015 (Anm. 66), S. 396. 74 Zit. nach Socha 2015 (Anm. 66), S. 396. 75 Winckelmann 1764 (Anm. 46), S. 147–148; vgl. Cain 1995 (Anm. 68), S. 206; Ingeborg Kader, Gipsabgüsse und die Farbe „weiss“. Zur Rolle der Farben in der zerebralen und mentalen Repräsentation und zur Bedeutung der zerebralen und mentalen Repräsentation für die Inhalte des zeit­ genössischen Diskurses und die Kunst/tékne¯ in: Les moulages de sculptures antiques et l’histoire de l’archéologie, hrsg. von H. Queyrel und F. Queyrel, Genf 2000, S. 121–155, hier S. 124. Winckelmanns Feier der weißen Farbe hat auch eine ethnologische Komponente. Dazu: Monika Wagner, „Reinheit und Gefährdung“. Weißer Marmor als ästhetische und ethnische Norm, in: Material rzezby Miedzy technika a semantyka/Material of sculpture. Between Technique and Semantics, hrsg. von A. Lipinska, Wroclaw (Breslau) 2009, S. 229–243.

54 I Hans Körner DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

76 Heinz Ladendorf, Antikenstudium und Antikenkopie. Vorarbeiten zu einer Darstellung ihrer Bedeutung in der mittelalterlichen und neueren Zeit (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse 46, 2), Berlin 1953, S. 70. 77 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste [...] [1792], Hildesheim 1970, Bd. 1, S. 6; Giuseppe Pucci, Les moulages de sculpture ancienne et l’esthétique du XVIIIe siècle, in: Les moulages de sculptures antiques et l’histoire de l’archéologie. Actes du colloque international (Paris 1997), hrsg. von H. Lavagne und F. Queyrel, Paris 2000, S. 45–55, S. 46. 78 „le sentiment de la chair [...] la veritable beauté des formes, leur plus parfaite pureté, leur grandeur la plus sublime“; Claude Henri Watelet und Pierre-Charles Levesque, Plâtre, in: Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure, hrsg. von C. H. Watelet und P.-Ch. Levesque, Paris 1792 (Repr. Genf 1972), Bd. 5, S. 103–104, hier S. 104. 79 Johann Wolfgang von Goethe, Nach Falconet und über Falconet [1776], in: J. W. von Goethe, Aufsätze zur bildenden Kunst (1772–1808). Winckelmann und sein Jahrhundert. Philipp Hackert (J. W. von Goethe, Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur bildenden Kunst 1), Berlin 1973, S. 65–70, hier S. 65–66; vgl. u. a. Roland Recht, Falconet, Diderot, Goethe. Le débat sur la nature et sur le discours autorisé, in: Penser l’art dans la seconde moitié du XVIIIe siècle. Théorie, critique, philosophie, histoire (Collection d’histoire de l’art. Académie de France à Rome – Villa Médicis), hrsg. von Ch. Michel und C. Magnusson, Paris 2013, S. 369–381. 80 Michèle Beaulieu, Les „écrits“ de Falconet sur la sculpture (1716–1791), in: Bulletin de la Société de l’Histoire de l’Art Français, 1991/1992, S. 173–185, hier S. 178. 81 Etienne-Maurice Falconet, Observations sur la statue de Marc-Aurèle et sur d’autres objets rélatifs aux Beaux-Arts à Monsieur Diderot, in: E.-M. Falconet, Traductions des XXXIV, XXXV et XXXVIe livres de Pline l’ancien avec des notes [...] On y a joint d’autres écrits rélatifs aux beaux-arts, La Haye 1773 (2. Ausg.), Bd. 2, S. 119. Zur kritischen Position seines Freundes Diderot: Herbert Dieckmann und Jean Seznec, The Horse of Marcus Aurelius. A Controversy between Diderot and Falconet, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, vol. 15, 1952, S. 198–228. 82 Vgl. Philippe Sénéchal, Originale e copia. Lo studio comparato delle statue antiche nel pensiero degli antiquari fino al 1770, in: Dalla tradizione all’archeologia (Memoria dell’antico nell’arte italiana 3), hrsg. von S. Settis, Turin 1986, S. 149–180, hier S. 156–157. Pucci 2000 (Anm. 77), S. 45– 46. Cicognara zufolge nutzte Canova seine Gipsabgüsse, um dank der nicht glänzenden, intransparenten und insgesamt weniger reizvollen Gipsoberfläche leichter Fehler in seinen Werken zu erkennen; vgl. Scherf 2008 (Anm. 49), S. 174. 83 Watelet und Levesque, Bd. 5 1792 (Anm. 78), S. 103; vgl. Pucci 2000 (Anm. 77), S. 46.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

84 Falconet 1773 (Anm. 81), S. 120.

85 „Vous verrez alors que la Supériorité ne venant que de la diférence de la matière & nullement de la Forme“; Falconet 1773 (Anm. 81), S. 120.

86 Dazu: Christa von Landwehr, Die antiken Gipsabgüsse aus Baiae. Griechische Bronzestatuen in Abgüssen römischer Zeit, Berlin 1985; Mary Beard, Between Art and Science, in: Les moulages de sculptures antiques et l’histoire de l’archéologie. Actes du colloque international (Paris 1997), hrsg. von H. Lavagne und F. Queyrel, Genf/Paris 2000, S. 157–166, hier S. 163; Uppenkamp 2011 (Anm. 40), S. 143. 87 Goethe 1973 (Anm. 79), S. 65. 88 Zit. nach Cain 1995 (Anm. 68), S. 206. 89 Müller 2012 (Anm. 65), S. 188. 90 Wilhelm Klein, Die Aufgaben unserer Gipsabguss-Sammlungen, in: Museumskunde, Berlin 1912, Bd. 8, S. 1–10, hier S. 5. 91 Ramdohr 1798 (Anm. 23), Bd. 3, S. 262; vgl. Welcker 1957 (Anm. 14), S. 71.

Referenzmaterialien für Marmoroberflächen I 55

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 92 Jan Divis, Europäisches Porzellan, Prag 1984, S. 128.   93 Vgl. Tamara Préaud, La sculpture à Vincennes ou l’invention du biscuit, in: Sèvres, No 1, 1992, S. 30–37, hier S. 34.  94 Jean-Jacques Bachelier, Mémoire historique de l’origine, du régime et des progrès de la Manufacture Nationale de Porcelaine de France [...] [1781], Paris 1878, S. 24–25.   95 Préaud 1992 (Anm. 93), S. 35.  96 Bachelier 1878 (Anm. 94), S. 25. Zur Ähnlichkeit von Biskuit-Porzellan und Marmor: Pucci 2000 (Anm. 77), S. 47.   97 Goethe 1973 (Anm. 79), S. 65.  98 Guilhem Scherf, Le biscuit est une sculpture. Sculptures à Sèvres, in: La Manufacture des Lumières. La sculpture à Sèvres de Louis XV à la Révolution, Ausst.-Kat. (Sèvres, Cité de la céramique, 2015– 2016), hrsg. von T. Préaud und G. Scherf, Dijon 2015, S. 67–75, hier S. 69.  99 Winckelmann 1764 (Anm. 46), S. 250; vgl. u. a. Uppenkamp 2011 (Anm. 40), S. 145. 100 Nikolaus Himmelmann, Utopische Vergangenheit. Archäologie und moderne Kultur, Berlin 1976, S. 146. 101 Zit. nach Wagner 2009 (Anm. 75), S. 234–235. 102 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main 1974, S. 223. 103 Wagner 2009 (Anm. 75), S. 229.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Johannes Myssok

Monolith und weiß Die Oberflächen von Michelangelos Skulpturen Die Oberfläche von Michelangelos Skulpturen ist bis heute kein Thema der kunsthistorischen Forschung. Zu viele Fragestellungen scheinen den Blick auf die Oberfläche verstellt zu haben, meinte man doch lange, nicht nur unter die Oberfläche, sondern ganz konkret auch durch die Skulpturen hindurch schauen zu müssen, um das zu erfassen, was das ­Wesen von Michelangelos Werken ausmacht. Der methodische Schlüssel hierzu war ein zweifacher, und wie es schien, ein geradezu intrinsischer, hatte Michelangelo doch selbst in seiner neoplatonisch grundierten Kunsttheorie, als die seine Gedichte gelesen wurden, behauptet, dass es eine enge Korrelation zwischen der künstlerischen Vorstellung und dem Marmorblock, zwischen Idee und Materie gebe.1 Derart, dass nicht einmal der allerbeste Künstler eine Formvorstellung entwickeln könne, die nicht bereits im Steinblock vorhanden sei.2 Mit anderen Worten: Jede Figur steckt bereits im Marmorblock, der Künstler muss sie nur noch ‚befreien‘.3 Vor diesem idealistischen Blickhorizont hat die Ober­ fläche naturgemäß keinen Platz – die Form ist ja grundsätzlich bereits vorhanden und entscheidend ist ihr concetto, ihr Haltungsmotiv, nicht ihre Oberflächengestalt. Lange Zeit war die Forschung zudem noch durch die Auseinandersetzung mit der ­unvollendeten Gestalt vieler Skulpturen Michelangelos geprägt, welche ebenfalls auf den Künstler selbst zurückgeführt wurde, wobei die inneren, psychischen Hindernisse weit vor den äußeren Umständen betont wurden, welche die Vollendung verhindert hatten.4 Als solches erlangte das non finito von Michelangelos Marmorskulpturen geradezu Emblem-

ELEKTRONISCHER am Ende sogar der Unvollendbarkeit des künstlerischen Schaffensprozesses, ja des ScheiSONDERDRUCK charakter für das heroische Ringen eines Künstlers mit zu hoch gesteckten Zielen der eige-

nen Kunst – Michelangelos non finito wurde zum tragischen Inbegriff des Unvollendeten, terns eines Künstlers an sich selbst.5 Zu Zeiten des abstrakten Expressionismus las man die unvollendeten Oberflächen jedoch nicht nur als tragische Ruinen, sondern auch als ­Vorläufer des offenen Kunstwerks oder begriff in noch ganz rodinscher Manier das Unvollendete als künstlerische Form.6 Damit wurde die suggestive Offenheit der Oberfläche romantisch als Projektionsraum aufgeladen, was nur dadurch weiter gesteigert werden konnte, indem beide Ansätze – die romantische Aufladung des non finito und die neo­ platonische Schaffensmetaphysik – miteinander verknüpft wurden. In dieser Perspektive kämpfen die Figuren im Stein geradezu um ihre Befreiung, haben schon halbwegs Gestalt gewonnen, werden aber noch durch die Fesseln der Materie zurückgehalten, die es ver-

Monolith und weiß I 57

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hindern, dass sie sich vollständig in ihrer idealen Gestalt zeigen können.7 Die unvollendete Oberfläche wird in dieser Sicht zu einem Diaphragma aus Materie, das die ideale Form hindurchscheinen lässt, diese jedoch so einhüllt, dass ihr Befreiungskampf aussichtslos erscheint. Zugleich wurde, wie insbesondere im Fall der sogenannten Gefangenen vom Juliusgrabmal, die Tragik des vermeintlich aussichtslosen Kampfs zum eigentlichen Thema der Skulpturen deklariert.8 Spätestens seit der von Horst Bredekamp heraufbeschworenen „Götterdämmerung des Neuplatonismus“ sind diese Ansätze aufgegeben worden.9 Eine nüchternere Aus­ einandersetzung mit dem Œuvre Michelangelos ist freilich nicht an ihre Stelle getreten, und es verwundert kaum, dass die Forschung zur Oberfläche von Skulpturen sich zumeist auf Farbfassungen an Bildwerken des 12. bis 16. Jahrhunderts einerseits oder andererseits auf die Oberfläche von Skulpturen der Aufklärungszeit konzentriert, da sich ab dem 18. Jahrhundert vermehrt Quellen hierzu äußern.10 In Abwesenheit von Selbstaussagen Michelangelos zur Oberflächengestalt seiner Werke oder vergleichbar relevanten Quellen aus zweiter Hand bleibt also nur die alte kunsthistorische Methode, die Werke selbst als Quelle zu befragen. Das Referenzfeld ­bewegt sich hier meiner Ansicht nach zwischen drei Polen: der Naturnachahmung, der Auseinandersetzung mit der Antike und schließlich mit der Tradition des Quattrocento. Alle drei sind untereinander in vielfältiger Weise verbunden, was es nicht leicht macht, eindeutige Aussagen zu treffen. Beginnen wir also mit dem, was schon seit Heinrich Wölfflin als konstitutiv für Michel­ angelos Skulptur angesehen worden ist: die Auseinandersetzung mit der Antike.11 Die jüngere Forschung hat die zentrale Rolle, die das antike Vorbild gespielt hat, nicht nur bekräftigt, sondern Michael Hirst folgend Michelangelo regelrecht zu einem Antikenfälscher stilisiert.12 In der Tat hatte der junge Michelangelo in Florenz einen heute nicht mehr erhaltenen schlafenden Cupido geschaffen, der dann von einem Händler – offenbar mit Zustimmung des Bildhauers – in Rom als antike Skulptur verkauft wurde und dadurch einen sehr hohen Preis erzielte. Der Schwindel flog auf, sorgte aber dafür, dass nach dem Bildhauer gefahndet wurde, der in der Lage war, ein derartig antikennahes Werk zu schaffen. Daraus resultierte schließlich, dass Michelangelo nach Rom gerufen wurde, um dort ein weiteres Werk zu arbeiten. Das durch die von Hirst veröffentlichten Dokumente ab­gesicherte corpus delicti ist der Bacchus, der schließlich in Rom im Antikengarten des J­ acopo Galli unter Antiken zur Aufstellung kam und so erkennen lässt, dass die Skulptur als vermeintlich antike Statue wertgeschätzt wurde (Abb. 1).13 Wenn sich die Zeitgenossen also durch den Betrugsversuch mit dem pseudoantiken Cupido Michelangelos genauso täuschen ließen, wie sie sodann offenbar auch den Bacchus als antikengleich akzeptierten, stellt sich heute dringend die Frage nach dem Antikenbild oder vielmehr nach dem, was die Zeitgenossen dazu veranlasste, das moderne Werk als antik zu akzeptieren. Ein direkter Vergleich mit antiken Bacchusstatuen wie dem Michelangelo sicherlich unbekannten Dionysos Farnese zeigt unmittelbar die eklatanten Unterschiede,14 wobei ich hier die Schulvergleiche hinsichtlich der

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1. KORREKTUR 2 3 4

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

1  Michelangelo Buonarroti, Bacchus, Carraramarmor, 1496–1497, Florenz, Museo Nazionale del Bargello

Monolith und weiß I 59

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statischen Konzeption einmal beiseitelasse und mich nur auf die bildhauerische Artikulation des Körpers beziehe. Diese allein ist freilich schon aussagekräftig genug, zeigt die antike Figur doch einen straffen Körperbau, wogegen Michelangelos Jüngling ja bekanntlich schon des Öfteren dem Wein zugesprochen und sich dies in den weichen Rundungen des Bauches und der Hüften niedergeschlagen hat, die von einer ebenso weich modellierten Epidermis umschlossen werden. Es ist also nicht nur das Körperbild als solches, das sich von demjenigen antiker Körper unterscheidet, sondern insbesondere auch die Oberfläche und ihre Gestalt.15 Mögliche Veränderungen durch Verwitterung berücksichtigend, geht die weiche Mattheit der Oberfläche von Michelangelos Bacchus doch deutlich über das hinaus, was als politurloses Oberflächenfinish für römische Marmorskulpturen rekonstruiert werden kann.16 Wenn also weder der Körper noch dessen Oberfläche zu einer sofortigen Akzeptanz des Werks als antik geführt haben mag, was war es dann, das den Bacchus abseits der Ikonografie als antikengleich erscheinen ließ? Hierfür lohnt es sich, auf das Detail zu schauen, und hier zeigt sich, dass Michelangelo in der Art, wie er den Bohrer einsetzte, und in dessen Nachbearbeitung die Faktur antiker Skulpturen imitierte.17 Wie wenig konsistent dies aber im Œuvre des Bildhauers war, lässt ein Blick auf den wenige Jahre später entstandenen David erkennen, der immer wieder als Höhepunkt von Michelangelos Auseinandersetzung mit der Antike charakterisiert worden ist (Abb. 2).18 Der direkte Vergleich mit antiken Kolossalstatuen, wie sie Michelangelo bekannt und sein wahrscheinlichstes Vorbild waren, die Rossebändiger vom Quirinalshügel,19 offenbart Ähnliches wie schon der Vergleich des Bacchus zu einer antiken Bacchusfigur: Auch diese weisen ein weitaus strafferes Körperbild auf als der David. Erneut ist es aber nicht nur der Körper als solcher, der straffer angelegt ist, sondern es ist insbesondere die Oberfläche, die am David weicher und weniger schematisch ausgearbeitet ist als an den Dioskuren. Dies ist nur bedingt durch ein größeres anatomisches Verständnis aufseiten Michelangelos zu erklären oder gar auf ein Fortwirken des Quattrocento im Detailreichtum, mit dem etwa die Handoberflächen ausgearbeitet sind.20 Es betrifft letztlich vielmehr durchgängig die Aufmerksamkeit, mit der die Epidermis gestaltet ist. Und hier verrät sich bei näherem Hinsehen ein durchaus widersprüchlicher Zug der vermeintlichen Idealskulptur par excellence, denn das gesamte Körperrelief ist keineswegs so glatt, wie zumeist angenommen, sondern aus zahllosen Hebungen und Senkungen aufgebaut, alle Flächen erweisen sich durch Modellierung belebt.21 Dies macht aus dem David keinen Rodin, deutet aber darauf hin, dass die Oberfläche Teil einer Verlebendigungsstrategie war, mit der Michelangelos sich sowohl von statuarischen Konzeptionen des Quattrocento als auch von der Antike absetzen wollte. Dabei geht es meines Erachtens allerdings kaum um eine gesteigerte Naturnachahmung, die gegen die Antikenrezeption ausgespielt würde, oder wie später in der klassizistischen Theorie ein Nachstudieren der Antike nach der Natur, denn das, was hier als Oberflächengestalt zu sehen ist, lässt sich nur bedingt durch eine mimetische Übertra-

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1. KORREKTUR 2 3 4

2  Michelangelo Buonarroti, David, Carraramarmor, 1501–1504, Florenz, Galleria dell’Accademia

ELEKTRONISCHER schaften. Diese liefert auch den Schlüssel zu den unmittelbar vorausgehenden Skulpturen, SONDERDRUCK gung von Naturbeobachtung erklären, sondern resultiert weitaus stärker aus einer bildhauerischen Auseinandersetzung mit dem Material Marmor und dessen Materialeigendarunter Michelangelos am weitesten vollendetes Werk, die römische Pietà (Abb. 3).22 Wie zu Recht hervorgehoben worden ist, ist keine weitere Skulptur des Bildhauers derartig ausgearbeitet und in ihrer Oberfläche vollendet worden wie die Pietà – ob dies in allen weiteren Fällen je beabsichtigt war, ist freilich eine andere Frage.23 Ihr außerordentlicher Vollendungsgrad korreliert mit der einzigen Künstlersignatur in Michelangelos bildhauerischem Œuvre, deren Zustandekommen Vasari mit einer berühmten Anekdote zur Künstlerkonkurrenz erklärte, was realiter aber wohl eher mit eben ihrem Vollendungsgrad und dem Künstlerstolz ihres Schöpfers zusammenhängen dürfte, worauf bekanntlich ja auch die besondere Zeitform der Inschrift hindeutet.24

Monolith und weiß I 61

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3  Michelangelo Buonarroti, Pietà, Carraramarmor, 1497–1499, Rom, St. Peter

Das Werk ist eine bildhauerische Tour de force,25 doch zu welchem Zweck? Was wollte Michelangelo beweisen und an welches Publikum richtete sich diese staunend machende Zurschaustellung bildhauerischer Virtuosität?26 Erneut scheinen die Koordinaten der Körperschilderung und Oberflächengestalt unscharf und sind in der älteren Forschung entsprechend oberflächlich mal als extreme Form der Einschreibung von Antikennachahmung in ein christliches Bildthema, mal als mimetische Meisterleistung, sprich als gesteigerter

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1. KORREKTUR 2 3 4

Naturalismus angesprochen worden.27 Christi Leib ist demnach einmal derjenige eines antiken Gottes,28 ein anderes Mal eine Betonung des eucharistischen Leibes und demzufolge ganz Fleisch.29 Vor allen weiteren Beobachtungen muss zunächst festgehalten werden, dass die Pietà die erste und einzige Skulptur Michelangelos ist, deren Hautpartien auf Hochglanz poliert worden sind. Dass dies der antiken Praxis widersprach, muss auch Michelangelo bewusst gewesen sein. Zwar könnte man diesbezüglich durchaus auf das Quattrocento verweisen, aber keine Skulptur des fünfzehnten Jahrhunderts in Italien erreicht diese Glanzstufe und damit eine derartige Geschlossenheit der Oberfläche. Die makellose, spiegelglatte Oberfläche steht unmittelbar im Widerspruch zur mimetisch genauen Schilderung des Körpers, an dem sowohl das Knochengerüst als auch sämtliche Arterien und Venen mit größter anatomischer Präzision artikuliert sind. Eine höchst genaue Naturnachahmung mithin, die mit einer unnatürlich glatten, sich der Mimesis von Haut verweigernden Oberfläche verbunden wird.30 Natürlich könnte man argumentieren, dass es sich hier ja schließlich um einen besonderen Körper handelt, den Maria dem Betrachter präsentiert, um einen göttlichen Leib,31 der durch die Politur geradezu von sich aus zu leuchten scheint.32 Doch ist selbst dies nicht eindeutig, denn keineswegs kontrastieren alle weiteren Oberflächen der Gruppe hierzu, etwa indem sie mimetische Texturen aufwiesen und natürliche Oberflächenwerte im Stein nachahmen würden.33 Dies zeigt sich zuvorderst an dem ebenfalls, wenn auch bei Weitem nicht so stark polierten Gewand Mariens, das genauso wenig wirkt, als sei es aus Stoff gemacht, wie das Tuch um die Lenden Christi. Neuralgisch wird dies an dem bekannten Punkt, an dem die tot herabhängende Hand Christi eine der großen Schüsselfalten von Mariens Gewand zwischen Zeige- und Ringfinger fängt und die glänzende, hyperrealistisch bis in das Wundmal durchgezeichnete Hand mit der ebenfalls leicht spiegelnden Oberfläche des Gewands zusammentrifft. Oberflächenschilderung und Formwahrnehmung fallen hier auseinander, da die Faltenorganisation zwar das Fallen eines schweren Wollstoffs suggeriert, die glatte Oberfläche aber letztlich diesen Eindruck negiert.

ELEKTRONISCHER Madonna, deren Gesicht ähnlich glatt und makellos ausgearbeitet ist wie dasjenige der SONDERDRUCK

Wie wenig mimetisch Michelangelo hier in Bezug auf die vermeintlich imitierten

­Materialien ‚Stoff‘ und ‚Haut‘ verfuhr, beweist sich mit größter Evidenz am Haupt der

Damenbüsten Francesco Lauranas.34 Nichts an der ebenmäßig verschliffenen und zu seidigem Glanz polierten Oberfläche erinnert an atmende Haut; genau so wenig wird die Idealform durch die Andeutung von Haaren an Augenbrauen oder Wimpern gestört. Das ‚bewegte Beiwerk‘, als das die Stoffe ornamental aufgefasst sind, welche das Gesicht rahmen, legt sich in gleicher Weise nicht in Bildungen, die von natürlichen Stoffen bekannt sind, sondern in kunstvoll geschichteten Röhren übereinander, deren tief hinterschnittene Öffnungen einen komplizierten visuellen Kontrapunkt zur Glätte des Gesichts ausformen. Blickt man weiter auf die wenig später entstandene Brügge-Madonna, erweist sich das Madonnenhaupt der römischen Pietà als Extremfall, denn die Brügge-Madonna zeigt in

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der Tat Andeutungen von Haaren an den Augenbrauen und überhaupt Haare unter dem in zwei Lagen gelegten Schleier.35 Nichtsdestotrotz fällt es auch angesichts dieses Werks schwer, von Haut oder Stoff zu sprechen, die hier nachgeahmt wären – der hohe Grad an Politur und deren Differenzierung an der römischen Pietà scheint hier einem gleichmäßig seidigen Finish gewichen zu sein. Einzig der Körper des Christuskinds ist erneut hochglänzend vollendet worden. Wollte man Analogien zu realen Materialien bilden, könnte man an der Brügge-Madonna am ehesten eine an Wachs erinnernde Oberflächenbeschaffenheit erkennen.36 Die Ausarbeitung der römischen Pietà folgte demgegenüber keiner materialimitativen Strategie, sondern scheint vielmehr einzig und allein der Perfektion verpflichtet zu sein, einer Perfektion in der Ausarbeitung von Marmor.37 Sie geht schließlich so weit, dass die mimetische Anlage der Form durch die Oberflächengestalt wieder negiert wird und den Eindruck von entrückter Künstlichkeit erzeugt.38 Das physische Aufeinandertreffen verschiedener imitierter Materialien im gleichen Material Marmor (wie etwa an der herabhängenden Hand Christi und dem Gewand der Madonna) war ein bildhauerisches Problemfeld, für das Michelangelo in seinem Œuvre auch weiterhin und wiederholt höchst eigentümliche Lösungen suchte. Ein weiteres Werk, an dem dies virulent wird, ist der ursprünglich für das Juliusgrabmal konzipierte sogenannte sterbende Sklave (Abb. 4).39 Als in einer labilen Pose stehende Aktfigur ist der Jüngling offenbar nur mit einem knappen ärmellosen Hemdchen bekleidet, das er traumverloren bis über die Brust emporgeschoben hat, sodass es sich wie ein Riemen über ihr spannt und staut. Daraus ergibt sich ein Zusammenspiel zwischen der exzentrischen Bewegtheit der Arme und dem Kleidungsstück, das in letzter Konsequenz zu einer Betonung der Nacktheit führt, wobei der hochgereckte linke Arm überhaupt erst den Spannungszug im Körper erzeugt.40 Während die Hand des emporstoßenden linken Arms in die weiche Haarmasse des Hinterkopfs greift  – ein leider unvollendeter Bereich der Skulptur  – ist die angewinkelte Rechte zur Brust zurückgeführt und berührt diese mit den Fingerspitzen. Marmorfinger ertasten hier eine Haut fingierende Marmoroberfläche. Doch reichte Michelangelo diese augenfällige Thematisierung von Oberfläche durch den visuellen Appell an den Tastsinn anscheinend nicht, und er verkomplizierte die an sich eindeutige Situation dadurch, dass er den abgewinkelten Zeigefinger der Hand in eine Gewandschlaufe greifen ließ, die auf den ersten Blick von dem besagten Hemdchen herabzuhängen scheint und sich wie eine zweite Haut an die Brust des Jünglings anschmiegt. Schaut man genauer, trägt der Gefangene gar kein Hemdchen, sondern über seine Brust spannt sich ein breiter Gurt, unter dem ein von der linken Schulter herablaufender schmalerer Riemen hindurchgeführt ist, den er mit dem Zeigefinger fasst und ihn mit dem Handrücken emporschiebt, bevor dieser unter dem breiten Gurt durchlaufend wieder über die Schulter geführt wird.41 Was aus der Frontalansicht so aussieht, als schöbe der Jüngling ein eng anliegendes Hemd hoch, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Übereinander verschiedener flacher

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1. KORREKTUR 2 3 4

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

4  Michelangelo Buonarroti, Sterbender Sklave, Carraramarmor, 1513–1515, Paris, Musée du Louvre

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5  Andrea del Verrocchio, Dame mit Blumenstrauß, um 1475, Florenz, Museo Nazionale del Bargello

Gurte – was bleibt, ist jedoch das erklärungsbedürftige Berühren dieser zweiten Ober­ flächenschicht durch den Zeigefinger. Das ist umso augenfälliger, als dieses Motiv im Zentrum der Skulptur steht. Formal betrachtet könnte man sich an das Halten der Christusfigur mit untergescho­ benem Stoff in der römischen Pietà erinnert fühlen, denn auch hier wird den Fingern

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Mariens eine zweite Oberflächenschicht unterlegt, die es verhindert, dass sie den Leib Christi direkt berühren. Stattdessen sinken ihre Finger in den weichen Stoff ein, der mit der als hart charakterisierten, hochglänzenden Oberfläche des Christusleibs kontrastiert. Allerdings hat dies in der Pietà die offensichtlich aus der Antike entlehnte Bedeutung, dass etwas Heiliges nur mit verhüllten Händen entgegengenommen oder präsentiert ­werden durfte.42 Eine derartige sakrale Bedeutungsdimension fehlt dem sterbenden Sklaven, weshalb sich die sinnliche Berührung und selbstbezügliche Thematisierung von Oberfläche aus anderen Traditionen herzuleiten scheint. Meines Erachtens war dies die jüngere Tradition des Quattrocento, in der sich wie bereits angedeutet in Ausnahmefällen eine größere, der Antike so unbekannte Differen­ zierung von Oberflächentexturen ausgebildet hatte. Möglicherweise wird Michelangelo aus seiner Zeit im Haushalt der Medici ein Werk aus dieser Tradition bekannt gewesen sein, das alle genannten Aspekte vereint und ein unmittelbares Vorbild sowohl für die bildhauerische Artikulation von selbstbezüglicher Berührung als auch für die Thematisierung von Oberfläche darstellt – die Rede ist von Verrocchios Damenbüste im Bargello, der Dama col mazzolino (Abb.  5).43 An dieser findet sich nicht nur die Berührung eines ­Marmordaumens auf einem marmornen Handrücken, sondern auch eine zweite Oberflächenschicht, auf die ein abgewinkelter Zeigefinger trifft – hier der Schleier der Dame, den sie ähnlich wie später der Sklave mit dem Zeigefinger vor die Haut des Unterarms zieht. Diese selbstbezüglichen Momente ebenso wie die Differenzierung verschiedener Ober­ flächenschichten und stofflicher Valeurs bis hin zur hochglänzenden Politur der Hände lassen Verrocchios Büste zum ersten bildhauerischen Werk werden, in dem Berührung im wahrsten Sinne in den Mittelpunkt gerückt ist, und es ist nicht zuletzt die zarte Berührung des Blumenstraußes vor der Brust, welche das Thema einführt und auf seine Zentralität hinweist.44 Man könnte sich nun trefflich darüber streiten, ob dies malerische Effekte sind, die Verrocchio im farblosen Marmor nachahmte, oder gar paragonal gemeinte Verweise, die mit der

ELEKTRONISCHER im Vordergrund zu stehen, doch deutet ein zur gleichen Zeit wie der Sklave entstandenes SONDERDRUCK

Wirklichkeitsnähe von Skulptur operieren, nur um sogleich ihren Kunstcharakter offen­ zulegen. Auch bei Michelangelo scheint mir die Erzeugung einer in sich schlüssigen Fiktion Werk weitaus eindeutiger in Richtung Malerei und Paragone. Denn der Moses zählt nicht

nur zu den nahezu vollständig ausgearbeiteten und immer geschützt in einem Innenraum aufbewahrten Werken des Künstlers, sondern er war auch bereits zu seiner Zeit ein Inbegriff skulpturaler Mimesis (Abb. 6).45 Verantwortlich hierfür war nicht die Auseinanderlegung stofflicher Valeurs zwischen Gewandstoff, Lederstiefeln und Haut, welche die Figur ebenfalls vorführt, sondern einzig und allein der wallende Marmorbart, der die uneingeschränkte Bewunderung der Zeitgenossen – allen voran Vasaris – erfuhr. Drei Jahre nach Varchis Paragone-Umfrage schrieb der Künstlerbiograf 1550 in der Erstauflage der Viten:

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6  Michelangelo Buonarroti, Moses, Carraramarmor, 1513–1515, Rom, S. Pietro in Vincoli

[...] mit der anderen [Hand] hält er seinen Bart, der im Marmor derart gearbeitet ist, dass ausgerechnet die Haare, mit denen die Skulptur doch so große Schwierigkeiten hat, in höchstem Maße weich fließend und strähnig gearbeitet sind, so dass – obwohl es eigentlich unmöglich scheint – der Meißel zum Pinsel geworden ist [...]46

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1. KORREKTUR 2 3 4

Dies ist natürlich ein paragonal gewendetes Lob des Divino, welcher nun mit dem Bart des Moses sogar als Bildhauer die Malerei auf ihrem eigenen Terrain besiegt,47 doch abseits aller Sprachakrobatik Vasaris geht das Werk in der Tat nochmals einen Schritt weiter als die zuvor diskutierten Arbeiten, indem bildhauerische Oberfläche und ihre (Selbst-)Berührung durch die Statue hier weitaus intensiver in Beziehung gesetzt werden. Die Haptik der Oberflächentextur ist an sich schon skulptural durch die Differenzierung und hochvirtuose Hinterschneidung der einzelnen Strähnen illusionistisch so herausgearbeitet, dass sich zusammen mit der unterschiedlich tief eingegrabenen Texturierung eine diffuse Streuung und Brechung des Lichts auf der Oberfläche ergibt und auf diese Weise ein weiches Material suggeriert. Doch erst der Griff der Hand in diese Masse, die illusionistisch unter dem Druck des Zeigefingers nachzugeben scheint, akzentuiert optisch deren vorgeblich weiche Konsistenz. Dadurch wird der Marmor in der Wahrnehmung entmaterialisiert, zugleich aber rückbezüglich der Akt der Berührung thematisiert. Für Vasari übertraf der Moses deshalb alle modernen und sogar alle antiken Werke.48 Unter den Oberflächen der monochromen Marmorskulpturen in der Neuzeit nehmen diejenigen von Michelangelos Werken eine Sonderstellung ein, da sie weder ausschließlich mimetisch konzipiert sind noch eindeutig die Antike nachahmen. Zugleich bauen seine Oberflächen ein komplexes Verhältnis zur Form auf, da sie keineswegs nur als deren ‚Hülle‘ begriffen sind, sondern Form und Oberfläche sich vielfach wechselseitig bedingen und reziprok aufeinander Bezug nehmen. So faszinierend die unvollendeten Oberflächen von vielen Skulpturen Michelangelos auch wirken mögen, es fehlt ihnen letztlich doch eine weitere Bedeutungsschicht, eine Schicht, die sich erst aus der Auseinandersetzung mit dem Material, mit seinen Möglichkeiten und Grenzen ergab.

Anmerkungen 1

David Summers, Michelangelo and the language of art, Princeton/N. J. 1981, S. 234–241; Erwin

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Panofsky, Die neoplatonische Bewegung und Michelangelo [1939], in: Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1980 [1939], S. 251–304, bes. 256–258. 2

Gemeint ist das Sonett LXXXIII in der Zählung Freys „Non ha l’ottimo artista alcun concetto“, Die Dichtungen des Michelangniolo Buonarroti, hrsg. von C. Frey, Berlin 1964, S. 89 und S. 375; Hugo Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt/Main 1964, S. 391; zuletzt mit ausführlichem Kommentar Benedetto Varchi. Paragone. Rangstreit der Künste. Italienisch und Deutsch, hrsg. von O. Bätschmann und T. Weddigen, Darmstadt 2013, S. 42–47.

3

Zu dieser, besonders dann von Vasari propagierten Sicht der Skulptur Giorgio Vasari. Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, hrsg. von P. Barocchi und R. Bettarini, Florenz 1966–1987, Bd. 1, S. 82–110.

4

Josef Gantner, Il problema del „non finito“ in Leonardo, Michelangelo e Rodin, in: Atti del Seminario di Storia dell’arte 1954, S. 47–61; Josef Gantner, Formen des Unvollendeten in der neueren Kunst, in: Das Unvollendete als künstlerische Form, hrsg. von J. Schmoll gen. Eisenwerth, Bern u. a. 1959, S.  47–67; Herbert von Einem, Unvollendetes und Unvollendbares im Werk Michel­

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angelos, in: Das Unvollendete als künstlerische Form, hrsg. von J. Schmoll gen. Eisenwerth, Bern u. a. 1959, S. 69–82.   5 Von Einem 1959 (Anm. 4).   6 So der Titel des grundlegenden Werks von Schmoll 1959 (Anm. 4); zuvor Josef Gantner, Rodin und Michelangelo, Wien 1953; Michael Bockemühl, Vom unvollendeten zum offenen Kunstwerk. Zur Diskussion des non-finito in der Plastik von Michelangelo, in: Studien zu Renaissance und Barock. Manfred Wundram zum 60. Geburtstag, hrsg. von M. Hesse und M. Imdahl, Frankfurt/Main 1986, S. 111–133.   7 In diesem Sinne die Interpretation von Panofsky [1939] 1981 (Anm. 1); Erwin Panofsky, The first two projects of Michelangelo’s tomb of Julius II, in: The Art Bulletin 19, 1937, S. 561–579 und ihm folgend Charles de Tolnay, Michelangelo, Bd. 4, The tomb of Julius II, Princeton N. J. 1954, S. 61: „They [die sog. Boboli-Sklaven in der Accademia, J.M.] seem scarcely to have emerged from the original matter. [...] The Atlas and the Slave who seem to be waking from sleep have not yet fully emerged from the matrix of matter [...] They seem to suffer from the very matter of which they are made, and at the same time to struggle against it“. Zuletzt in diesem Sinne Antonio Forcellino, Michelangelos Statuen für das Grabmal Julius II. in S. Pietro in Vincoli, in: Michelangelo. Marmor und Geist. Das Grabmal Papst Julius’ II. und seine Statuen, hrsg. von C. Frommel, Regensburg 2014, S. 289–295, bes. S. 291.  8 Ebd.   9 Horst Bredekamp, Götterdämmerung des Neuplatonismus, in: kritische berichte 14, 1986, 4, S. 39–48. 10 Hans Körner, Versteinerte Skulpturen. Oberflächenwerte der Skulptur von Gianlorenzo Bernini bis zu Antonio Canova und Bertel Thorvaldsen, in: Sinne und Verstand, hrsg. von C. Welsh und C. Dongowski, Würzburg 2001, S. 103–126; Hans Körner, „Politesse“ und „Rusticité“. Zur Geschichte der polierten Skulptur im französischen 18. Jahrhundert, in: Pygmalions Aufklärung, hrsg. von R. Kanz und H. Körner, München 2006, S. 184–206; Hans Körner, „Die Epidermis der Statue“. Oberflächen der Skulptur vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Weder Haut noch Fleisch, hrsg. von D. Bohde und M. Fend, Berlin 2007, S. 105–132; Mechthild Fend, Die Substanz der Oberfläche. Haut und Fleisch in der französischen Kunsttheorie des 17. bis 19. Jahrhunderts, in: Weder Haut noch Fleisch, hrsg. von D. Bohde und M. Fend, Berlin 2007, S. 87–104; Roberta Panzanelli, The color of life. Polychromy in sculpture from antiquity to the present, Los Angeles 2008; Polychrome Steinskulptur des 13. Jahrhunderts. Beiträge zur Tagung des Naumburg-Kollegs (Naumburg/Saale, 2011), hrsg. von T. Danzl u. a., Görlitz 2012; Spur der Arbeit. Oberfläche und Werkprozess, hrsg. von M. Bushart (Interdependenzen 3), Köln 2018. 11 Heinrich Wölfflin, Die Jugendwerke des Michelangelo, München 1891, bes. S. 25. 12 Erstmalig Michael Hirst, Michelangelo in Rome. An altar-piece and the ‚Bacchus‘, in: The Burlington magazine 123, 1981, S. 581–593; dann Michael Hirst, The artist in Rome, 1496–1501, in: The young Michelangelo, Ausst.-Kat. (London, The National Gallery, 1994–1995), hrsg. von M. Hirst und J. Dunkerton, London 1994, S. 13–81. Zuvor jedoch schon Herbert von Einem, Michelangelo (Urban-Bücher 42), Stuttgart 1959, S. 25, der davon ausging, dass bereits der Auftrag eine „Antikenkopie“ wünschte. Die Diskussion um Michelangelos ‚Antikenfälschung‘ hat letztlich den Boden für die Zuschreibung des New Yorker Bogenschützen bereitet, den ich hier allerdings ausklammere. Dieser stand im Mittelpunkt der Ausstellung Giovinezza di Michelangelo, Ausst.-Kat. (Florenz, Palazzo Vecchio und Casa Buonarroti 1999–2000), hrsg. von K. Weil-Garris Brandt und C. Acidini Luchinat, Florenz 1999. Zuvor Kathleen Weil-Garris Brandt, A marble in Manhattan. The case for Michelangelo, in: The Burlington magazine 138, 1996, S. 644–659. Zuletzt Francesco Caglioti, Michelangelo scultore. I problemi dell’attività giovanile e il „Cupido“ Galli di Manhattan, in:

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Paragone 69, 2018, S.  3–29. Siehe aber auch die Rezension von Detlef Heikamp und Joachim Poeschke, Ein Michelangelo in New York? Ausstellungen in Florenz und Paris präsentieren den umstrittenen „Fanciullo arciere“, in: Kunstchronik 53, 2000, S. 189–209. 13 Charles de Tolnay, Michelangelo, Bd. 1, The youth of Michelangelo, Princeton N. J. 1947, S. 89–90 und S. 141–145; Hirst 1981 (Anm. 12); Joachim Poeschke, Michelangelo und seine Zeit (Die Skulptur der Renaissance in Italien 2), München 1992, S. 73–75; Christoph Luitpold Frommel, Raffaele Riario, la Cancelleria, il teatro, e il Bacco di Michelangelo, in: Giovinezza di Michelangelo, Ausst.Kat. (Florenz, Palazzo Vecchio und Casa Buonarroti 1999–2000), hrsg. von K. Weil-Garris Brandt und C. Acidini Luchinat, Florenz 1999, S. 143–148; Nicoletta Baldini, Donatella Lodico und Anna Maria Piras, Michelangelo a Roma. I rapporti con la famiglia Galli e con Baldassare del Milanese, in: Giovinezza di Michelangelo, Ausst.-Kat. (Florenz, Palazzo Vecchio und Casa Buonarroti 1999– 2000), hrsg. von K. Weil-Garris Brandt und C. Acidini Luchinat, Florenz 1999, S. 149–162; Eike D. Schmidt, Katalogeintrag, in: Giovinezza di Michelangelo, Ausst.-Kat. (Florenz, Palazzo Vecchio und Casa Buonarroti 1999–2000), hrsg. von K. Weil-Garris Brandt und C. Acidini Luchinat, Florenz 1999, S. 362–364; Linda A. Koch, Michelangelo’s Bacchus and the art of self-formation, in: Art history 29, 2006, S. 345–386; Frank Zöllner, Christof Thoenes und Thomas Pöpper, Michelangelo 1475–1564. Das vollständige Werk, Hong Kong 2007, S. 25–26; Erin Sutherland Minter, Discarded deity. The rejection of Michelangelo’s Bacchus and the artist’s response, in: Renaissance studies 28, 2014, S. 443–458. Zuletzt Ilona Wolff, Der Bacchus von Michelangelo. Aspekte des Paragone oder Ein Wettstreit mit der Antike (Reihe Geisteswissenschaften), Saarbrücken 2016. 14 Wie Poeschke unterstrichen hat, lassen sich keine bestimmten antiken Vorbilder benennen, Poeschke 1992 (Anm. 13), S. 75; in diesem Sinne bereits Martin Weinberger, Michelangelo. The sculptor, London 1967, S. 65. Dagegen aber Herbert von Einem, Michelangelo und die Antike, in: Stil und Überlieferung. Aufsätze zur Kunstgeschichte des Abendlandes, hrsg. von T. Gaehtgens und R. Haussherr, Düsseldorf 1971, S. 147–164, bes. 151–152. Ähnlich wie von Einem äußerte sich auch Freedman, die den Vergleich zum Dionysos Farnese in die Literatur eingebracht hat, im Übrigen aber bekräftigt, dass es kein einzelnes antikes Vorbild für den Bacchus gegeben habe, sondern dieser eine Synthese aus verschiedenen Vorbildern darstelle, Luba Freedman, Michelangelo’s reflections on Bacchus, in: Artibus et Historiae 24, 2003, S. 121–135, bes. 124–125. In diesem Sinne auch Chrysa Damianaki, Il Bacco di Michelangelo. Aspetti tecnico-stilistici e questioni interpretative, in: Michelangelo scultore. Lo sguardo indiscreto, Rom 2010, S. 65–93, bes. S. 71–77. 15 Ähnlich Weinberger 1967 (Anm. 14), S. 64; Damianaki 2010 (Anm. 14) hebt nur die Politur hervor, vergleicht diese aber nicht weiter mit den Oberflächen antiker Skulpturen.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

16 Wilde verglich die Oberflächengestalt dessen ungeachtet mit derjenigen von Skulpturen aus der Hadrianischen Zeit; Johannes Wilde, Michelangelo. Six lectures (Oxford studies in the history of art and architecture), Oxford 1978, S. 33. Tolnay sah in der Faktur dagegen noch Reminiszenzen der Bologneser Skulpturen und damit des Quattrocento, folgend Tolnay 1947 (Anm. 13), S. 90. 17 Friedrich Kriegbaum, Michelangelo Buonarroti. Die Bildwerke, Berlin 1940, S. 43: „Ganz vollendet und poliert bis auf wenige Stellen, an denen absichtlich – wohl nach dem Vorbild spätrömischer Skulpturen – Spuren des Bohrers stehengelassen sind“; ähnlich Hirst 1994 (Anm. 12), S. 34–35: „another, more remarkable feature, is the widespread use of a drill and the artist’s evident unconcern about its obstrusiveness“; Damianaki 2010 (Anm. 14), S. 69. Poeschke betont Vasari folgend insbesondere die „außerordentliche Schärfe der Detailbehandlung und der Konturen“ als Kennzeichen des Antikenstudiums, Poeschke 1992 (Anm. 13), S. 75. 18 Zuletzt Arnold Victor Coonin, From marble to flesh. The biography of Michelangelo’s David, Prato 2014, S. 97–100; John T. Paoletti, Michelangelo’s David. Florentine history and civic identity, New York, NY 2015, S. 99.

Monolith und weiß I 71

DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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19 So schon Vasari 1966–1987 (Anm. 3), Bd. 6, S. 21; Wölfflin 1891 (Anm. 11), S. 37; Carl Justi, Michel­ angelo. Neue Beiträge zur Erklärung seiner Werke, Berlin 1909, S. 141–142; Weinberger 1967 (Anm. 14), S. 89–90; Poeschke 1992 (Anm. 13), S. 85–87, bes. S. 86. 20 Von Einem 1959 (Anm. 4), S. 32 u. von Einem 1971 (Anm. 14), S. 153. 21 Dies wurde bereits von Wölfflin beobachtet, Wölfflin 1891 (Anm. 11), S. 36; Tolnay beschrieb dies so: „the richness of forms in bones, muscles, veins, and soft parts in the breast and belly is extraordinary. The finest surface gradations are given; there is an all-pervasive tension as though the body were a veritable reservoir of energies“, Tolnay 1947 (Anm. 13), S. 95. 22 Tolnay 1947 (Anm. 13), S. 90–92 und 145–150; Weinberger 1967 (Anm. 14), S. 67–74; Wilde 1978 (Anm. 16), S. 33; Michael Hirst, Michelangelo, Carrara, and the marble for the Cardinal’s Pietà, in: The Burlington magazine 127, 1985, S. 154–159; Maurizio Calvesi, La “Pietà” di Michelangelo, in: La Basilica di San Pietro, hrsg. von C. Pietrangeli, Florenz 1989, S.  125–127; Poeschke 1992 (Anm. 13), S. 75–77; Antonio Paolucci, Michelangelo. Le Pietà, Mailand 1997; Hirst 1994 (Anm. 12); S. 47–55; Kerstin Schwedes, Wortlose Beredsamkeit. Evokatorische Bildsprache von Michelangelos Römischer Pietà und dem Minerva-Christus, in: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 35), Wiesbaden 2000, Bd. 1, S. 355–372; Kerstin Schwedes, Michelangelos „Römische Pietà“, in: Michelangelo. Neue Beiträge, hrsg. von M. Rohlmann und A. Thielemann, München 2000, S. 93–112; Zöllner 2007 (Anm. 13), S. 26–36; Cristina Acidini Luchinat, La Pietà di Michelangelo, in: Il ’400 a Roma, Mailand 2008, Bd. 1, S. 257–263; Antonio Paolucci, La Pietà di Michelangelo, in: La basilica di San Pietro, hrsg. von P. Iacobone, Forlì 2015, S. [123]–129. 23 Während William. E. Wallace, Michelangelo’s Rome Pietà. Altarpiece or grave memorial?, in: Verrocchio and late Quattrocento Italian sculpture, hrsg. von S. Bule und A. Phipps Darr, Florenz 1992, S. 243–255 und Hirst 1994 (Anm. 12), S. 54 den hohen Grad der Oberflächenpolitur auf die ursprüngliche Aufstellungs- und Beleuchtungssituation in S. Petronilla zurückführen, ist dieser laut Damianaki 2010 (Anm. 14), S. 67 nur allgemein dadurch zu erklären, dass die Gruppe für eine Aufstellung in einem Innenraum konzipiert worden sei. 24 Lisa Pon, Michelangelo’s first signature, in: Source 15, 1996, S. 16–21; Livio Pestilli, Michelangelo’s Pietà. Lombard critics and Plinian sources, in: Source 19, 2000, S.  21–30; Aileen June Wang, Michelangelo’s signature, in: The sixteenth century journal 35, 2004, S. 447–473; Rudolf Preimesberger, Trübe Quellen. Noch einmal zu Michelangelos Signatur der „Pietà“ in St. Peter, in: Künstler-Signaturen, hrsg. von N. Hegener, Petersberg 2013, S. 142–149; Irving Lavin, Divine grace and the remedy of the imperfect. Michelangelo’s signature on the St. Peter’s “Pietà”, in: Künstler-Signaturen, hrsg. von N. Hegener, Petersberg 2013, S. 150–187; Irving Lavin, Divine grace and the remedy of the imperfect. Michelangelo’s signature on the St Peter’s Pietà, in: Artibus et historiae, 34, 2013, S. 277–328; Anne Durand, L’amort dans l’âme. Enquête à propos de l’étrange signature de Michel-Ange sur sa Piétà…, Paris 2014. 25 William E. Wallace, La bella mano, Michelangelo the craftsman, in: Artibus et historiae 32, 2011, S. 85–99. 26 Die Rezeptionsgeschichte diskutiert Rebekah Jane Smick-McIntire, Evoking Michelangelo’s Vatican Pietà. Transformations in the topos of living stone, in: The eye of the poet. Studies in the reciprocity of the visual and literary arts from the Renaissance to the present, hrsg. von A. Golahny, Lewisburg 1996, S. 23–52. Zum Auftrag und zur Aufstellungsgeschichte siehe Kathleen Weil-Garris Brandt, Michelangelo’s Pietà for the Cappella del Re di Francia, in: „Il se rendit en Italie“. Études offertes à André Chastel, Rom 1987, S. 77–119; William E. Wallace, Michelangelo’s Rome Pietà. Altarpiece or grave memorial?, in: Verrocchio and late Quattrocento Italian sculpture, hrsg. von S. Bule und A. Phipps Darr, Florenz 1992, S. 243–255; Anna Maria Voci, Il figlio prediletto del

72 I Johannes Myssok DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

papa. Alessandro VI, il duca di Gandia e la Pietà di Michelangelo in Vaticano. Committenza e destino di un capolavoro (Studi di storia moderna e contemporanea 21), Rom 2001; Jens Niebaum, Die spätantiken Rotunden an Alt-St.-Peter in Rom. Mit Anmerkungen zum Erweiterungsprojekt Nikolaus’ V. für die Peterskirche und zur Aufstellung von Michelangelos römischer Pietà, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 34, 2007, S. 101–161; Emily A. Fenichel, Michelangelo’s Pietà as tomb monument. Patronage, liturgy, and mourning, in: Renaissance quarterly 70, 2017, S. 862–896. 27 Von Einem 1959 (Anm. 4), S. 29; Wallace 2011 (Anm. 25). 28 So von Einem 1959 (Anm. 4), S. 29, für ihn nimmt der Körper Christi „schon hier die Gestalt Apollos an“. 29 Von Einem 1959 (Anm. 4), S. 28; Wallace 1992 (Anm. 26), S. 250; Elizabeth Lev, Reading theological context. A Marian interpretation of Michelangelo’s Roman Pietà, in: ReVisioning. Critical Methods of Seeing Christianity in the History of Art (Art for faith’s sake 10), hrsg. von J. Romaine und L. Stratford, Cambridge 2014, S. 206–222, bes. 213–214. 30 Umberto Baldini spricht hier von einer „astratta ricerca formale“ und weiter davon, dass „il plasticismo affidato alle forme risulta talmente idealizzato che la realtà, perseguita nell’estrema raffinatezza e perfezione di levigatura del marmo, si trasferisce in un’altra realtà poetica di costante intensità lirica“, Umberto Baldini, Michelangelo Scultore, Mailand 1973, S. 92. 31 Lev 2014 (Anm. 29), S. 213–214 argumentiert, dass es sich hier um Christi Leib im Sinne der Hostie handle, der dem Gläubigen wie in der Eucharistie von Maria dargeboten werde, da die Skulptur als Altar fungiert habe. 32 In diesem Sinne Lev 2014 (Anm. 29), S. 214: „[...] the shining body, recalling that Christ is light [...]“. 33 So aber Zöllner 2007 (Anm. 13), S. 33. 34 Zu diesen Joachim Poeschke, Donatello und seine Zeit (Die Skulptur der Renaissance in Italien 1), München 1990, S. 153–154; Britta von Götz-Mohr, Laura Laurana. Francesco Lauranas Wiener Porträtbüste und die Frage der wahren Existenz von Petrarcas Laura im Quattrocento, in: StädelJahrbuch 14, 1993, S. 147–172; Hanno-Walter Kruft, Francesco Laurana. Ein Bildhauer der Frührenaissance, München 1995, S. 132–159; Chrysa Damianaki, The female portrait busts of Francesco Laurana, Rom 2000; Chrysa Damianaki, I busti femminili di Francesco Laurana tra realtà e finzione, Sommacampagna (Verona) 2008. 35 Zur Brügge-Madonna siehe Tolnay 1947 (Anm. 13), S. 99–101; Weinberger 1967 (Anm. 14), S. 110– 116; Harold R. Mancusi-Ungaro, Michelangelo. The Bruges Madonna and the Piccolomini Altar,

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Yale 1971; Poeschke 1992 (Anm. 13), S. 80–81.

36 Siehe zu dieser Materialanalogie den grundlegenden Beitrag von Hans Körner in diesem Band. 37 Wie Hirst nicht müde wurde hervorzuheben, war der Marmorblock, aus dem die Pietà gearbeitet worden ist, der makelloseste in Michelangelos gesamtem Œuvre, Hirst 1985 (Anm. 22); Hirst 1994 (Anm. 12), S. 55. 38 Tolnay sieht die Pietà und den Bacchus abschließend als „Inkarnationen“ der gleichen Seinsgründe, wertet aber unverständlicherweise ihre inhaltliche Bedeutung ab, da Michelangelo vor allem damit beschäftigt gewesen sei, „seine Werkzeuge vollständig in Griff zu bekommen“, Tolnay 1947 (Anm. 13), S. 92. 39 Tolnay 1954 (Anm.  7), S.  37–38 und 97–100; Weinberger 1967 (Anm.  14), S.  171–175; Claudia Echinger-Maurach, Studien zu Michelangelos Juliusgrabmal I, Hildesheim 1991, S. 339–344; Poeschke 1992 (Anm. 13), S. 89–98; Zöllner 2007 (Anm. 13), S. 230–234; Claudia Echinger-Maurach, Michelangelos Grabmal für Papst Julius II., München 2009, S. 38–43; Wallace 2011 (Anm. 25), S. 87; Forcellino 2014 (Anm. 7), S. 289–290.

Monolith und weiß I 73

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40 Vgl. aber ergänzend die magistrale Beschreibung Claudia Echinger-Maurachs, die den Bewegungszug aus dem ganzen Körper erklärt und auf die seelische Verfasstheit der Figur zurückführt; Echinger-Maurach 1991 (Anm. 39), S. 339–341. 41 Tolnay 1954 (Anm. 7), S. 99 beschrieb dies so: „the breast is bound with a piece of cloth which has shoulder straps. There are also straps around the arms. These are evidently symbols of his fettered state“. 42 Ähnlich schon Frederick Hartt, Michelangelo. The complete sculptures, New York 1976, S. 83, der das untergelegte Tuch in der Pietà mit demjenigen verglich, mit dem der Priester die Hostie hält; analog Weil-Garris 1987 (Anm. 26), S. 91 und Hirst 1994 (Anm. 12), S. 52 und 78, Anm. 22. 43 Günter Passavant, Verrocchio. Skulpturen, Gemälde und Zeichnungen, London 1969, S. 36–38; Poeschke 1990 (Anm. 34), S. 186–187; Andrew Butterfield, The Sculptures of Andrea del Verrocchio, New Haven/London 1997, S. 90–103; Dario Alessandro Covi, Andrea del Verrocchio. Life and Work, Florenz 2005, S. 131–138; Marco Campigli, Katalogeintrag, in: Verrocchio. Master of Leonardo, hrsg. von F. Caglioti und A. De Marchi, Venedig 2019, S. 80; Alison Luchs und Dylan Smith, Katalogeintrag, in: Verrocchio. Sculptor and Painter of Renaissance Florence, hrsg. von A. Butterfield, Washington 2019, S. 135–138. 44 Alexander Perrig gebührt das Verdienst, als erster diese Momente herausgestellt zu haben, die er allerdings noch in ausschließlich erotischer Hinsicht las und dabei die Selbstbezüglichkeit der Berührung übersah, Alexander Perrig, Mutmaßungen zu Person und künstlerischen Zielvorstellungen Andrea del Verrocchios, in: Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio, hrsg. von H. Beck u. a., Frankfurt/Main 1996, S.  81–101, bes. 91–92. Differenzierter Jeanette Kohl, Splendid isolation. Verrocchios Mädchenbüsten. Eine Betrachtung, in: Re-Visionen. Zur Aktualität von Kunstgeschichte, hrsg. von B. Hüttel u. a., Berlin 2001, S. 49–75. Obwohl Randolph umfassend die Geste (gesture) und ihren Zusammenhang mit der Berührung in Verrocchios Skulptur erörtert, bleibt er letztlich aber dem eigentlichen Phänomen fern. Adrian W. B. Randolph, Touching objects. Intimate experiences of Italian fifteenth-century art, New Haven 2014, S. 38–39 und 66. 45 Tolnay 1954 (Anm. 7), S. 39–42 und 102–105; Weinberger 1967 (Anm. 14), S. 172–175; Poeschke 1992 (Anm.  13), S.  99–100; Echinger-Maurach 2009 (Anm.  39), S.  101–113; Forcellino 2014 (Anm. 7), S. 295. Tolnay beschrieb Michelangelos Mimesis durch Analogien zu anderen Materialien: „Surprising is Michelangelo’s art in differentiating the effect of marble by his treatment of it: the hardness of rock in the muscular arms; lava-like flowing in the mantle around the right knee; rippling movements of the substance of water in the beard [...] leaping up like flames in the hair itself. And yet never in any way does Michelangelo lose the feeling of matter“, Tolnay 1954 (Anm. 7), S. 40 – diese forcierten Vergleiche bereiten aber letztlich nur seine These vor, der Moses sei eine Verkörperung der vier Elemente. 46 Vasari 1966–1987 (Anm. 3), Bd. 6, S. 28. Hier meine Übersetzung, die von der jüngsten Übersetzung Victoria Lorinis abweicht, vgl. Giorgio Vasari, Das Leben des Michelangelo, hrsg. von C. Gabbert, Berlin 2009, S. 65; siehe aber den Kommentar von Gabbert auf S. 297–300, Anm. 140. 47 Vasari-Gabbert 2009 (Anm. 46), S. 298, Anm. 140. Siehe auch Scritti d’arte del Cinquecento, hrsg. von P. Barocchi, Mailand 1971–1977, Bd. 1, S. 101–104 und 139–151; Weddigen und Bätschmann 2013 (Anm. 2). 48 Vasari 1966–1987 (Anm. 3), Bd. 6, S. 28: „[...] alla quale statua non sarà mai cosa moderna alcuna che possa arrivare di bellezza, e delle antiche ancora si può dire il medesimo [...]“.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Carina A.E. Weißmann

Das Prinzip der Weichheit Die Bronzen des Massimiliano Soldani Benzi im Kontext der Florentiner Bronzetradition Am 5. Juli 1695 gratulierte Massimiliano Soldani Benzi dem Fürsten von Liechtenstein zu der Entscheidung, Kopien der berühmtesten antiken Bildwerke der Florentiner Tribuna von ihm in Bronze gießen zu lassen: „Eure Hoheit haben in der Tat sehr richtig entschieden, denn Marmorkopien der Statuen anfertigen zu lassen, wäre sehr unvorteilhaft, so kann man nie jene Weichheit und Anmut der Konturen erreichen.“1 Auch als Soldani dem Fürsten einige Jahre später, am 20. April 1703, die Fertigstellung der bestellten Venus Medici ankündigte, versicherte er dem Auftraggeber erneut eine exzellente Ausarbeitung der Oberfläche: „Ich hoffe nun, dass sich Eure Hoheit am Anblick der Venus erfreuen wird, die so zart und weich ist, als sei sie aus Fleisch.“2 Zwischen 1695 und 1707 schuf Soldani für den Fürsten mehr als neunzehn Statuen, Büsten, Reliefs und kleinformatigen Bronzegruppen  – sowohl Reproduktionen antiker und moderner Meisterwerke als auch eigene Inventionen. Die originalgroßen Abgüsse waren jedoch keine Surmoulés, also 1:1-Kopien, sondern subtile Umdeutungen, in denen der Künstler die antiken Originale virtuos mit der Sensualität der Florentiner Plastik um 1700 verband. In der zitierten Korrespondenz mit dem Fürsten von Liechtenstein hob Massimiliano Soldani Benzi – Florentiner Bronzebildner, Hofkünstler und Münzmeister von Großherzog Cosimo III. de’ Medici – insbesondere die Weichheit der Oberfläche hervor, ihre morbi-

ELEKTRONISCHER Anmut verleihe, darunter neben der weichen, nuancierten Modellierung auch eine SanftSONDERDRUCK dezza oder tenerezza, welche dem Betrachter die Fleischigkeit seiner Statuen suggerieren

sollte. Zum anderen unterstrich er deren grazia, die den Bronzen durch vielerlei Faktoren heit und Süße des Ausdrucks, feine Gesichtszüge, die Grazie der Pose und die vollendete Ausführung.3 Die grazia, auch als vaghezza oder buon gusto italiano bezeichnet, kann als ekphratischer Topos bis zu den Schriften Leon Battista Albertis zurückverfolgt werden. Als Synonym für Lieblichkeit, Harmonie und Gefälligkeit fand sie ein breites Echo in der Kunstliteratur Anfang des 18. Jahrhunderts, allen voran in Bologna und Rom.4 Wenngleich beide Charakteristika im Schaffen Soldanis eng zusammenhängen, soll der Fokus im Folgenden auf der tenerezza und morbidezza liegen, die sich im Schaffen des Künstlers insbesondere als preziöse Oberflächenveredelung niederschlugen, die er in seinen Briefen explizit an-

Das Prinzip der Weichheit I 75

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pries und die dem decorum und den Vorlieben der europäischen Fürstenhöfe um 1700 entsprach. Das Phänomen ist jedoch nicht nur interessant in Bezug auf die Rezipienten, die frühneuzeitlichen Sammler von Florentiner Bronzen, sondern es wirft Fragen auf, die die Produzentenebene betreffen: Wie ist Soldanis berühmte morbidezza in die Florentiner Bronzetradition einzuordnen, wie wurde sie generell von der zeitgenössischen Kunstkritik bewertet und wie setzte der Künstler dieses Charakteristikum zum Lobe seiner Schöpfungen oder zu dem seiner Fähigkeiten ein?

Die Florentiner Bronzetradition Wie die Bronzebildner vorangegangener Jahrhunderte arbeitete auch Soldani als Leiter eines funktionierenden Werkstattbetriebs, in dem eine große Zahl hoch qualifizierter Mitarbeiter in präzise synchronisierten Arbeitsabläufen beschäftigt war. Schon Vasari stellte fest, dass die Werkstätten der in Bronze arbeitenden Bildhauer wesentlich höhere Material- und Personalkosten zu tragen hatten als jene der Maler.5 Anders als etwa von Vannoccio Biringuccio in seinem 1540 publizierten Traktat De la Pirotechnia gefordert, waren selbst die bekanntesten Meister seiner Zeit nicht eigenhändig am Guss ihrer Bronzebildwerke beteiligt.6 So waren auch Donatello, Luca della Robbia oder Bertoldo di Giovanni auf fähige Bronzegießer angewiesen, was ihren Ruf jedoch keinesfalls schmälerte, sondern sogar als Prestigefaktor galt.7 Laut Baccio Bandinelli beschäftigte Donatello achtzehn bis zwanzig Mitarbeiter, Cellini für den Guss des Perseus mindestens zehn und selbst der große Individualist Michelangelo benötigte einen Geschützgießer und drei weitere Gehilfen zur Fertigung der kolossalen Sitzstatue von Julius II.8 In Massimiliano Soldani Benzis Werkstatt in der Alten Münze in Florenz arbeiteten bis zu zehn Mitarbeiter.9 Aufgrund seiner Ausbildung zum Münzmeister war er, vergleichbar einem Goldschmied, in der Arbeit im kleinsten Maßstab geschult und wollte, wie dies auch Benvenuto Cellini wiederholt betont hatte, am gesamten Herstellungsprozess beteiligt sein, was sich in der für ihn typischen Detailverliebtheit und ausgiebigen Kaltarbeit niederschlug. Wie an seiner Kopie der Venus Medici für den Fürsten von Liechtenstein deutlich zu erkennen, zog er Details wie Haare und Hautfältchen, beispielsweise in den Mund- und Augenwinkeln, fein in all ihren Linien nach. Lippen, Nase und Augenlider erscheinen zierlicher und feiner als am Original, die Ohrläppchen sogar gänzlich seinen eigenen Idealvorstellungen angepasst. Der weich-träumerische Ausdruck der antiken Venus ist einem interessierten Blick gewichen.10 Bereits Giambologna hatte darauf hingewiesen, dass die Konturen durch einen ungeübten Ziseleur verloren gehen könnten.11 Er arbeitete eng mit einer Reihe von Goldschmieden zusammen, welche die aufwendige Prozedur der Kaltarbeit, das Polieren und Ziselieren, für ihn übernahmen, allen voran Antonio Susini oder dessen Lehrmeister Felice Traballesi. Unter den Giambologna-Schülern wurde die Bedeutung der Kaltarbeit sehr un-

76 I Carina A.E. Weißmann DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

terschiedlich bewertet. Während Adriaen de Vries, so in seinem Relief Schmiede des Vulkan,12 großen Wert auf eine perfekte Glättung und Veredelung der Oberfläche seiner Bronzen legte, welche „wie Gold scheine“ und mit Lichtreflexen spiele,13 arbeitete er die Textur von Haut und Haaren im Modell genau aus, verzichtete jedoch auf eine weitergehende Akzentuierung durch Ziselierungen. Die Bronzen Antonio Susinis hingegen zeichnen sich – wie bei seinem Raub einer Sabinerin zu beobachten – durch eine ausgiebige und präzise Ziselierung in all ihren Teilen aus,14 die Susini selbst ausführte. Wenngleich Susini von Giambologna für die Ziselierung seiner Bronzen geschätzt wurde, erhielten die nach dem Tod des Meisters von Antonio und später Giovanni Francesco Susini nach den Entwürfen Giambolognas gefertigten Kleinbronzen weniger Anerkennung. Bereits Zeitgenossen wie der Gesandte Simone Fortuna erkannten in der charakteristischen Kaltarbeit dieser Kopien keinen eigenen Kunstwert, sondern unterstrichen stattdessen den Mangel an Inventionskraft.15 Dieser Standpunkt hinsichtlich der Wertschätzung vom Entwurf gegenüber der Vollendung fand auch in der zeitgenössischen Kunstliteratur ihren Niederschlag, am eindrücklichsten in dem von Filippo Baldinucci kolportierten Zusammentreffen von Michelangelo und Giambologna. Demnach hatte Giambologna ein mit größter Sorgfalt ausgearbeitetes Modell eigener Erfindung vorbereitet, um es Michelangelo zur Demonstration seines Könnens vorzulegen. Michelangelo habe den bozzetto jedoch vor seinen Augen auseinandergebrochen und nach eigenen Vorstellungen wieder zusammengefügt. Anschließend gab er ihm laut Baldinucci den Rat: „Geh und lerne zuerst das Entwerfen, dann sorge dich ums Vollenden!“.16 Ob Giambologna diese Geschichte selbst verbreitete oder sie ihm nach seinem Tode in den Mund gelegt wurde, sei dahingestellt. Dass der Flame einen Abguss des Modells von Michelangelos nicht ausgeführter Samson-Philistergruppe besaß und so sehr schätzte, dass er sich mit diesem prominent ins Bild gesetzten Studienobjekt porträtieren ließ, belegt eine Zeichnung Federico Zuccaris.17 Offensichtlich ist, dass die beiden Meister dem Modell und dessen Gebrauch im Schaffensprozess eine diametral entgegengesetzte Bedeutung beimaßen. Während der Ältere den disegno in den Mittelpunkt stellte, war für

ELEKTRONISCHER Künstlerselbstverständnis betrachtet werden, deren bekanntester Vertreter und VerfechSONDERDRUCK

den Jüngeren die rinettatura, die Vollendung, und damit auch die Vollendung der Oberfläche, von ebenso großer Bedeutung. Diese Szene kann als paradigmatisch für das neue

ter Il Divino selbst war. Die Loslösung des kreativen Schaffensprozesses von der handwerklichen Tätigkeit ging einher mit einer deutlichen Aufwertung der schöpferischen Figurenfindung und einer Geringschätzung der technischen Ausführung. Indem Michelangelo das Entwurfsmodell Giambolognas neu zusammensetzte und dabei auch die bereits ausgearbeitete Oberfläche ruinierte, gab er diesem neuen Anspruch Ausdruck, der dem Selbstbild des Architekten ähnlich nur den Entwurf, nicht aber die Ausführung als seine Aufgabe und Gegenstand seiner künstlerischen Gabe und seines Ruhms erachtete.18 Doch auch das non-finito als künstlerisches Ausdrucksmittel in Michelangelos Marmorbildwerken wurde, wenngleich weniger drastisch, von dem überwiegend in Bronze arbeitenden Bildhauer

Das Prinzip der Weichheit I 77

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Giambologna als Stilmittel verwendet, um seinen Werken eine größere Natürlichkeit und Spontaneität zu verleihen. Er schuf damit wie bereits Donatello Kunstwerke, die ihren Entstehungsprozess schonungslos offenlegen.19 Es verwundert kaum, dass Michelangelos Bewunderer Vasari die diligenza, die säuberliche Ausarbeitung des Entwurfs (disegno), im Gegensatz zum furore, dem Inspirationsmoment, das laut Federico Zuccari gar göttlichen Ursprungs war,20 dementsprechend abwertete – ungeachtet der Mühen, die darauf zu verwenden waren.21 Er schrieb die wahre Kunstfertigkeit in der Herstellung von Bronzen der perfekten Modellierung und späteren Ausführung des Gusses zu, deren Beleg eine makellose Gusshaut sei. Die Tatsache, dass er neben der Herstellung des Modells und dem Gelingen des Gusses in der Vita Lorenzo Ghibertis auch der rinettatura Lob und Anerkennung zuteil werden ließ, sind eher als subtile Herabsetzung seines Konkurrenzreliefs für die Bronzetüren des Florentiner Baptisteriums zu deuten.22 Denn wenngleich er sich dem Lob der Zeitgenossen wie Gianozzo Manetti und Domenico Boninsegni anschloss und Ghibertis Paradiestür als schönstes Kunstwerk der Welt lobte, nutzte er doch jede Gelegenheit, um die von ihm bevorzugten Konkurrenten Donatello und Brunelleschi als überlegen herauszustellen. Bildhauermodelle waren trotz ihres unbeständigen und unedlen Materials bereits zu Giambolognas Zeiten sowohl von den Käufern der Bronzen als auch anderen Interessenten als verehrungs- und sammelwürdige Objekte betrachtet worden,23 da in ihnen der furore, der schöpferische Geist des Künstlers, am unmittelbarsten zum Ausdruck kommt.24 Soldani hingegen bagatellisierte die Wertschätzung seiner Modelle. So schrieb er 1717 seinem Londoner Agenten Gian Giacomo Zamboni von der Verehrung, die man seinen Terrakottamodellen entgegenbrachte – der preziösen Aufbewahrung seiner modelli der Jahreszeitenreliefs im Audienzzimmer von Erbprinz Ferdinando de’ Medici sowie jener seiner Bronzegruppen und -vasen in den Palästen des Florentiner Adels – um zugleich seine Scham darüber zum Ausdruck zu bringen.25 Im gleichen Atemzug betonte er die Schwierigkeiten des Transports dieser Terrakotten, insbesondere der Gruppen, weshalb er gerne die mit „amore“ vollendeten Bronzen für den Versand über Italiens Grenzen hinweg anpries und die originalen Terrakottamodelle in der Werkstatt behielt – auch um sie weiter zu vervielfältigen.26 Auch die geschäftspolitischen Aspekte einer solchen Äußerung sind nicht zu unterschätzen, waren ihm doch Käufer seiner Bronzen weitaus lieber als solche der vergleichsweise günstigen Modelle. Wie die Frage, ob eine Bronze allein vom Meister ausgeführt wurde, wann also ein Giambologna ein Giambologna oder ein Soldani ein Soldani sei, geht eine verallgemeinernde Geringschätzung gegenüber der Kaltarbeit an den historischen Produktionsbedingungen vorbei. Sie entsprach dem dezidierten Wunsch einer fürstlichen Auftraggeberschaft, wie die Korrespondenz des Fürsten von Liechtenstein mit dem Florentiner Bronzebildner anschaulich belegt: „[...] Sie müssten sich selbst dieser Mühe annehmen, denn die Jungen sind nicht fähig in einer Art und Weise die Oberfläche zu glätten, so dass die Kunstwerke ihre Weichheit behalten und nicht die Konturen verdorben werden.“27

78 I Carina A.E. Weißmann DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

Soldani versprach dem Fürsten, dass die Formen mit aller Sorgfalt von den Originalen abgenommen und meisterlich gegossen sowie von seiner eigenen Hand überarbeitet würden.28 Innovationswille und Künstleremanzipation standen auf einem anderen Blatt. Nicht zuletzt hatte sich auch Michelangelo, wenngleich unter großem Klagen, gut ein halbes Jahr der Kaltarbeit seiner Juliusstatue gewidmet.29 Die viel beschworene Dichotomie zwischen den Polen rinettatura und disegno, die Diskussion darüber, ob eine Oberfläche durch eine vollendete Modellierung oder erst durch eine ebensolche Kaltarbeit vollkommen sei, entpuppt sich als ideologisch aufgeladener Schaukampf, der technische Innovation und Geniekult instrumentalisiert. Es stellt sich demnach nicht die Frage nach dem Ob, sondern nach dem Wie der Kaltarbeit, insbesondere dem Grad der Glättung, dem Glanz, der Farbe der Patinierung, dem Einsatz von Ziselierungen und schließlich nach dem Zusammenspiel all dieser Charakteristika.

Tenerezza und carnosità im Rahmen des paragone Die Bezeichnungen morbida, tenere oder delicata unterstreichen die Fähigkeit des Künstlers, dem Material Ausdrucksqualitäten des Weichen und Zarten und damit des Lebendigen und Atmenden zu verleihen – also die Weichheit der Haut und des Fleischs im unbelebten Werkstoff illusioniert zu haben.30 Das Bemühen des Terminus carnosità verweist auf die Fleisch- und Hautdarstellung, wie sie in der Frühen Neuzeit sowohl für Plastik als auch für Malerei verwendet wurde. Während Haut als dünne Hülle des Körpers überwiegend negativ konnotiert und mit Alter und Tod assoziiert wurde, repräsentierte das Fleisch, also Muskeln und Fett, in seiner Fülle und Weichheit die Substanz des Lebens.31 Eine Haut, die wie Fleisch aussieht, war und ist demnach eine gute Haut.32 Lodovico Dolce betonte bereits 1557 in seinem Aretino den Anspruch, mit Tönungen und Farben die Weichheit der Fleischpartien, „la morbidezza delle carni“, so lebendig darzustellen, dass ihnen lediglich der Atem fehle.33 Der Topos der morbidezza spielte auch bei Giorgio Vasari eine wichtige

ELEKTRONISCHER Als antike Referenz konnte sich Vasari sowohl auf Cicero und Plinius d. Ä. SONDERDRUCK

Rolle, dem zufolge es der Wiedergeburt der Künste, der maniera moderna, zu verdanken

sei, dass die Weichheit über die Härte und Sprödigkeit der vorangegangenen Epochen triumphierte.34

als auch auf Vergil berufen, die allesamt ein historiografisches Modell des Fortschritts vom Harten und Steifen zum Weichen und Geschmeidigen entworfen hatten.35 So konnte bereits Kallistratos in seinen Kunstbeschreibungen zwei Bronzen des Bildhauers Praxiteles für ihre Weichheit und Fleischigkeit loben: Er [der Jüngling] war zart, obwohl die Substanz [des Bildes] im Widerstreit zu dieser Zartheit stand, und, obwohl der geschmeidigen Weichheit beraubt, tendierte er doch zu dieser Geschmeidigkeit hin; und ganz und gar trat die Bronze aus den Grenzen ihrer eigenen Natur heraus und ging über in den wahren Ausdruck ihres Gegenstandes.36

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[...] Man hätte sehen können, wie die Bronze sich gleichsam zierte und in unmöglicher Weise in wohl geratenes Fleisch aufging, und wie, kurz gesagt, die Materie sich selbst genug war, das Notwendige auszufüllen. Er [der Eros] hatte fließende Konturen, ohne doch Anteil an Weichheit zu haben; obwohl er eine mit Bronze übereinstimmende Farbe hatte, sah man ihn als einen prächtig blühenden; und obwohl er der Leistungen der Bewegungen beraubt war, war er doch bereit, Bewegung zu zeigen.37

Rekurrierte man in der Frühen Neuzeit demonstrativ auf die Antike, war es nur folgerichtig, auch diesen so hoch gelobten Aspekt der antiken Kunst zu berücksichtigen. Peter Paul Rubens warnte in seinem zwischen 1608 und 1612 entstandenen Traktat De Statuaria die Maler davor, beim Antikenstudium die Darstellung des Fleischs zugunsten der Anatomie zu vernachlässigen. Subtile Oberflächeneigenschaften wie die Verschiedenheit der Schatten, die Transparenz des Fleischs, der Haut und der Knorpel, welche die harten Übergänge und Konturen sowie die Dunkelheit der Schatten mildern, nicht zu vergessen die unebenen Weichteile des menschlichen Körpers seien unbedingt zu berücksichtigen, um nicht eine grobe und hart begrenzte Statue, sondern menschliches Fleisch abzubilden.38 Diese zunächst für die Malerei erhobene Warnung vor Härte und Sprödigkeit, auch wenn sie von den besten Vorbildern herrührte, fand bald Eingang in die Skulptur eines Algardi oder Bernini. Unabhängig von der literarischen Konvention des Künstlerlobs spielte die morbidezza und tenerezza in Rom auch programmatisch eine Rolle, zum einen, indem sie ein Bewusstsein für fleischähnliche und taktile Qualitäten zeitgenössischer Skulptur schuf, und zum anderen, indem sie diese Qualitäten von den Bildhauern einforderte.39 Die Generierung von Affekten durch eine besonders sinnliche Oberfläche lässt sich in besonderem Maße für die Bronzen Soldanis diagnostizieren; neben seinen Antikenkopien seien seine Puttendarstellungen exemplarisch herausgegriffen.

Die pausbäckigen Milchmäuler Dekorativ eingesetzte Puttendarstellungen bevölkern nahezu alle mythologischen Bronzegruppen und -reliefs des Florentiner Hofkünstlers, wie etwa an den zwei Reliefs des VierJahreszeiten-Zyklus zu sehen (Abb. 1 und 2).40 Zum alleinigen Bildgegenstand machte er sie beispielsweise in der für den Fürsten von Liechtenstein geschaffenen Bronzegruppe Kindlicher Bacchant stutzt die Flügel des schlafenden Amors.41 Wie schon der Titel verrät, handelt es sich nicht um universell begabte Säuglinge, sondern um Kleinkinder, also einen Typus, wie ihn bereits Alessandro Algardi, beispielsweise in seiner Allegorie des Schlafs, heute in der Galleria Borghese, verwendet hatte und wie er in der Kunstliteratur kontrovers diskutiert wurde.42 Die Zartheit ihres Alters und ihrer Körper, der pausbäckigen Wangen und der weichen, properen Glieder spiegelt sich in ihrem kindlichen Treiben – unschuldig im Schlaf oder auch schelmisch wie der mit einer Schere ans Werk gehende Bacchusknabe – und soll in ihrer naturgegebenen morbidezza gleichsam das Herz des Betrachters erweichen.

80 I Carina A.E. Weißmann DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1  Massimiliano Soldani Benzi, Der Frühling, Detail, Bronze, mattgoldene Patina, 1711, München, Bayerisches Nationalmuseum

1. KORREKTUR 2 3 4

2  Massimiliano Soldani Benzi, Der Winter, Detail, Bronze, mattgoldene Patina, 1711, München, Bayerisches Nationalmuseum

Bereits in der ersten Anfrage an Soldani brachte Johann Adam von Liechtenstein seinen Wunsch nach „Putti, ò dell’Algardi, o del Flammingo [also Duquesnoys]“ zum Ausdruck.43 Mit diesem Bedürfnis stand der Fürst in einer langen Traditionslinie des Sammelns von Putten, welche ausgehend von Tizians Venusfest (1520) und Annibale Carraccis Schlafender Venus (1602) nicht nur die Maler, sondern auch die Bildhauer des Cinque- und Seicento kontinuierlich beschäftigte.44 Ein wesentliches Charakteristikum von Duquesnoys Putten

ELEKTRONISCHER spiegelt sich in zahlreichen Kopien wie dem nicht mehr im Original erhaltenen Relief eines SONDERDRUCK war ihre morbidezza oder tenerezza – sowohl in Bezug auf die Darstellung des Fleischs als auch auf die Darstellung spezifischer Bewegungen oder Gemütszustände.45 Ihr Renommee

Schlafenden Silens,46 aber auch in der Kunstliteratur des 17. Jahrhunderts wider. Orfeo

Boselli hatte 1650 in seinen Osservazioni die tenerezza als Charakteristikum des „putto moderno“ gegenüber dem „putto antico“ zuerst herausgestellt.47 Joachim von Sandrart wiederum hob in seiner Teutschen Academie die besondere „Natürlichkeit“ der Putten Duquesnoys gegenüber jenen der Antike hervor: In diesem Stuck hat er seinen schönen Geist stark verspüren laßen/ auch seine große Wißenschaft der nackenden Leiber/ besonderlich an Kindern und Knaben/ die er ganz anmutig und artig/ als ob es natürliches Fleisch wäre/ gemacht/ sehen laßen/ dann er dem Fleisch gleichsam ein bewegliches

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Leben gegeben/ und den Kindern pratschete feißt- und dick-backete Milch-Mäuler/ mit Grüblein auf den Knien/ Elenbogen und Fingern/ gestaltet/ der Natur so ähnlich/ daß niemals auch keiner von den Antichen diese Natürlichkeit erreichet.48

Mit dieser auf das Kindchenschema rekurrierenden Weichheit, mit ihren von der Milch wohlgenährten Kindern, verbanden jedoch gerade Kunsthistoriografen wie Giovan Pietro Bellori, die dem Ideal der Antike Vorrang gaben, eine Unzulänglichkeit, die Anlass zur Kritik gab: Francesco entwickelte eine Idee bezüglich der Form seiner Putten anhand des Studiums der Werke Tizians und anhand von Naturstudien, für die er die zartesten und jüngsten auswählte, so dass er die Härte des Marmors weich werden ließ, und so schienen sie vielmehr aus Milch als aus Felsblöcken. Aber obwohl sie von genauester Nachahmung waren, war jene Weichheit unvereinbar mit ihrer schicklichen Angemessenheit [...].49

Bellori erkannte also durchaus an, dass Duquesnoys Putten die Natur auf das Genaueste imitierten, jedoch betrachtete er den Naturalismus dieser pausbäckigen, fleischigen Putten zugleich als etwas Defizitäres, als nicht vereinbar mit der „proprietà del costume“, also den angemessenen Tätigkeiten eines Babys bzw. Kleinkinds sowie deren Bildwür­ digkeit. Soldani wiederum bevorzugte in seinen Kleinbronzen eigener Invention antikische, weniger mollig gearbeitete Putten, was deutlich in einem Brief an seinen Londoner Agenten zum Ausdruck kommt, in dem der Künstler zur Verteidigung seiner Bronzegruppen sogar Raffael und Michelangelo als Verfechter eines weniger naturalistischen Puttentypus’ ins Feld führte: Ich wünschte[,] dass mir jene Kunstkenner meine Schwäche an den zwei genannten Bronzegruppen der Leda und des Ganymed verzeihen, und während ich darüber nachdenke, was sie über die Physiognomie der Gesichter der Leda und des Amorknaben gesagt haben, sei ihnen erwidert, dass ich den Kopf der Leda nach einem sehr schönen antiken Marmorkopf studiert und ausgewählt habe, ebenso wie jenen des Amor, um ihm mehr Ausdruck zu verleihen, denn es ist so, dass auch wenn man die schönste Frau und den schönsten Knaben studieren würde, den man finden könnte, nie einen solchen Ausdruck schüfe[,] wie ihn die Antiken hätten, und Eure Herrschaft denke an die Werke Raffaels und Michelangelos und er wird die Köpfe, die sie geschaffen haben, nicht weich und zart finden, wie man sie in der Natur sieht [...].50

Ähnlich einer süßen Versuchung, könnte man sagen, gelang es Soldani, der naturbedingten Weichheit der Kindergestalten zu widerstehen und stattdessen der über den niederen Sinnesreiz erhabenen Überzeitlichkeit der antiken Vorbilder treu zu bleiben.

82 I Carina A.E. Weißmann DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

Moderne Antiken Neben den Kopien der berühmtesten Antiken der mediceischen Sammlung fertigte Soldani auch Bronzen nach als besonders „klassisch“ erachteten Meistern des 16. und 17. Jahrhunderts an, darunter Werke von Michelangelo, Cellini, Sansovino, Giambologna und Duquesnoy. Genau wie bei den Antikenkopien tat er dies in dem Anspruch, die Antike zu übertreffen. Michelangelos Trunkener Bacchus nimmt eine Sonderstellung unter seinen Antikenkopien ein, denn die antichità des Marmororiginals galt von jeher als strittig, was sich auch in der Anerkennung der Bronzekopie fortsetzen sollte (Abb. 3).51 Zwischen 1496 und 1497 im Auftrag Raffaele ­Riarios entstanden, kaufte Jacopo Galli den Bacchus, ließ ihn zusammen mit anderen frisch aus dem römischen Boden geborgenen Antiken aufstellen und brach ihm möglicherweise absichtlich die Hand ab, um ihn authentischer zu machen (Abb.  4).52 Der

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

3  Massimiliano Soldani Benzi, Bacchus (nach Michelangelo), Bronze, braunrote Lackpatina, 1699–1701, LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna

4  Michelangelo Buonarroti, Trunkener Bacchus, Marmor, 1496/1497, Florenz, Museo Nazionale del Bargello

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­Hofbildhauer von Cosimo III. de’ Medici, Giovanni Battista Foggini, schuf zwischen 1685 und 1686 für König Ludwig XIV. diverse Marmorkopien, unter anderem vom Schleifer, vom Faun und vom Porcellino, aber auch von Michelangelos Bacchus, der in der unter Cosimo III. neu eingerichteten Galleria delle Statue zusammen mit der Antikensammlung der Medici aufgestellt worden war. Als Soldani 1695 von Johann Adam den Auftrag erhielt, Vorschläge für Antikenkopien zu unterbreiten, fiel seine Wahl neben dem Tanzenden Faun auch auf dieses in Florenz hochgeschätzte Werk. Jedoch sollte dieses Urteil vom Fürsten nicht geteilt werden. Empört schrieb er Soldani, die endlich in Wien eingetroffene Statue sei „schlecht entworfen [...], habe eine üble Haltung und einen miserablen und trockenen Entwurf“.53 Wenngleich das Sujet des trunkenen Weingotts dem Fürsten aus seiner eigenen Gemäldegalerie bekannt war, entsprach doch die Interpretation, die der junge Michelangelo vorgenommen hatte, nicht dem decorum, wie bereits die zeitgenössische Kritik an der Statue deutlich macht. Michelangelo zeigte weder drollig beschwipste Putten noch einen träge auf einem Maulesel liegenden fetten alten Mann, sondern hatte die rauschhafte Entgleisung eines schönen Jünglings mit frappierender Wirklichkeitstreue eingefangen. Bereits Vasari hatte die weibliche Fleischigkeit des göttlichen Körpers hervorgehoben, welche insbesondere durch den verlagerten Schwerpunkt der Figur und den somit weit nach vorn gewölbten Bauch in markantem Widerspruch zu antiken Bacchusstatuen und in reizvollem Kontrast zu dem muskulösen Rücken und den straffen Gliedern der Statue steht.54 Dass der schwankende Bacchus mit dem lasziv geöffneten Mund und dem glasigen Blick dennoch in Rom und Florenz wenn nicht als Antike, so doch als antikische Moderne bewundert wurde, verdankt er dieser athletischen, dem David verwandten Statur, der ­Virtuosität, mit der Oberflächentexturen wie Haare und Weintrauben ausgeführt sind, sowie der neckischen Beigabe des kleinen Satyrs, der an antike Statuen des Hermes oder des Silens mit dem Dionysosknaben erinnert.55 Doch vermutlich war es genau jene moralische Unschärfe zwischen göttlicher Schönheit und menschlicher Schwäche, welche den Fürsten abstieß. Man kann Soldani nicht vorwerfen, dass es seiner Bronzekopie an Treue zum Vorbild mangelte: Körperhaltung, Torsion und Größe wurden auch dank des privilegierten Zugangs des Münzmeisters zum Original sorgfältig übernommen, wenngleich er wie bei seiner Kopie des Tanzenden Fauns auf die Baumstütze verzichtete, deren Michel­ angelos Marmororiginal aus statischen Gründen bedurfte. Soldani veränderte die eher ovale Basis zu einer rechteckigen Plinthe und entfernte hierbei die ursprüngliche Künstlerinschrift. Bei einem genauen Vergleich von Original und Kopie kann man feststellen, dass Soldani auch bei der Physiognomie seines Bacchus Linien wie jene der Augenbrauen, Locken oder Augenlider stärker akzentuierte, Rundungen wie beispielsweise an den Nasenflügeln zierlicher gestaltete und dem jugendlich weichen Original markantere Züge gab, wie besonders an den Wangenknochen oder den Sehnen der die Trauben haltenden Hand des Bacchus zu erkennen ist (Abb. 5 und 6). Der frappierendste Unterschied ist jedoch materialimmanent: der Glanz. Während der Marmor mit einer matten Oberfläche

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1. KORREKTUR 2 3 4

5  Massimiliano Soldani Benzi, Bacchus (nach Michelangelo), Detail, Bronze, braunrote Lackpatina, 1699–1701, LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna

6  Michelangelo Buonarroti, Trunkener Bacchus, Detail, Marmor, 1496/1497, Florenz, Museo Nazionale del Bargello

ELEKTRONISCHER wie der Weichheit und SONDERDRUCK Fleischigkeit von Soldanis Bronzen. Auch Michelangelo differen-

Weichheit durch eine leichte Konturunschärfe provoziert, verunklärt der starke Glanz der polierten Bronzeoberfläche die volle visuelle Entfaltung von Oberflächeneigenschaften zierte zwischen den unterschiedlichen Texturen von Haut und Haar, doch wirkt deren Darstellung ohne Lackpatina realistischer. Der Glanz muss im Lieferzustand noch um einiges intensiver gewesen sein, verlöre sich jedoch mit der Zeit, wie der Fürst von Liechtenstein lakonisch feststellte.56 Wenngleich der starke Glanz der Bronzeoberfläche bei der Darstellung von Fleisch kontraproduktiv ist, so verfügt die Bronzestatue doch über spezifische Charakteristika, die für die Evokation von Weichheit produktiv gemacht werden können. Bereits ihre Herstellung wurde vielfach als Metapher auf den Blutkreislauf des Menschen interpretiert: indem die flüssige Bronze durch Kanäle in die Gussform geleitet wird und erst dort ihren Aggre-

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gatzustand ändert, also aus der rot glühenden Flüssigkeit ein fester Körper wird. Mit dem Abkühlen des Gusses erstarrt auch die Flexibilität, welche die Bronze im Formungsprozess hat und die es ihr erlaubt, in komplizierte Hinterschneidungen und statisch anspruchsvolle Posen zu gerinnen. Die Vitalität des Schöpfungsprozesses überliefert die Farbe ihrer durch den Bronzebildner vollendeten Oberfläche. Die rotbraungoldenen Färbungen der Patina wurden stilprägend für die Florentiner Bronzetradition. Hergestellt aus einer Mischung von Nuss- oder Leinöl und roten Pigmenten wurde sie von Soldani zur Perfektion gebracht. Sein Rezept ist überliefert.57 Der Ziselierung kommt die Aufgabe zu, die polierte Bronze zu akzentuieren, die Texturen der Oberflächen zu differenzieren und in einen wirkungsvollen Kontrast zu setzen. Hierin unterscheidet sich Soldani von Bronzebildnern wie Donatello oder Giambologna, welche immer wieder auch Non-finito-Partien zu hochpolierten Hautpartien in Kontrast setzten. Soldani benutzte morbidezza und tenerezza funktionsübergreifend für die spezifischen Oberflächenwerte seiner Bronzen – also ihre Glätte –, die ausgewogene Komposition und den Ausdruck seiner Bronzen und feiert damit zugleich seine technischen Fähigkeiten als Münzmeister und die auf dem Studium der antiken Kunstwerke basierende Ausbildung, die er dank seines Mäzens Cosimo III. in Rom und Paris genossen hatte. Der Florentiner Bronzebildner profitierte so von der Anziehungskraft der morbidezza und demonstrierte in den sinnlichen Oberflächen seiner Bronzen sein Wissen um die Affektstimuli der Skulptur. Allerdings folgte er dem Prinzip der Weichheit nur in wohlkalkulierten Dosen, welche der antikischen Wirkung seiner Bronzen keinen Abbruch taten: Schließlich sollten sie nicht welken wie das Fleisch, sondern waren ausdrücklich für die Ewigkeit geschaffen.

Anmerkungen 1

Die im fürstlich-liechtensteinischen Hausarchiv in Wien befindliche, fünfzehn Jahre umfassende Korrespondenz zwischen Johann Adam I. von Liechtenstein und dem Bronzebildner ist vollständig ediert: Klaus Lankheit, Florentinische Barockplastik. Die Kunst am Hofe der letzten Medici, 1670–1743, München 1962; Herbert Haupt, „Ein Liebhaber der Gemähl und Virtuosen…“. Fürst Johann Adam I. Andreas von Liechtenstein (1657–1712) (Quellen und Studien zur Geschichte des Fürstenhauses Liechtenstein 3), Wien 2012. Zum Mäzenatentum Johann Adams I. von Liechtensteins siehe: Carina A.E. Weißmann, Die Bronzen des Massimiliano Soldani Benzi (1656–1744). Repräsentationsstrategien des europäischen Adels um 1700, Berlin/Boston 2022 (Sammler, Sammlungen, Sammlungskulturen in Wien und Mitteleuropa, 3); „V.A. veramente ha benissimo considerato, che a far le copie di marmo di queste statue, non sia bene, perchè non si può mai arrivare a copiarle con quella tenerezza, e grazia di contorni [...].“ HAL, FA 68; zit. nach Haupt 2012 (Anm. 1), S. 282, Dok. 2203.

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„Spero dunque che quando vedrà la Venere abbi da restare l’A.V. contenta, per esser delicata, e morbida come se fusse carne [...].“ HAL, FA 68; zit. nach Haupt 2012 (Anm. 1), S. 353, Dok. 2326. (s. o.)

86 I Carina A.E. Weißmann DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

Paris, Bibliothèque Nationale, MS 16986; zit. nach Dwight C. Miller, Marcantonio Franceschini and the Liechtensteins. Prince Johann Adam Andreas and the decoration of the Liechtenstein Garden Palace at Rossau-Vienna (Cambridge studies in the history of art), Cambridge 1991, S. 35. Vgl. Luigi Grassi, Vaghezza, in: Dizionario della critica d’arte, Turin 1978, Bd. 2, S. 628–629.

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„E di tutte le parti li [il pittore] piacerà non solo renderne similtudine, ma più aggiugnervi bellezza, però che nella pittura la vaghezza non meno è grata che richiesta. A Demetrio, antiquo pittore, mancò ad acquistare l’ultima lode che fu curioso di fare cose assimigliate al naturale molto più che vaghe. Per questo gioverà pigliare da tutti i belli corpi ciascuna lodata parte. E sempre ad imperare molta vaghezza si contenda con istudio e con industria. Qual cosa bene che sia difficile, perché nonne in uno corpo solo si truova compiute bellezze, ma sono disperse e rare in più corpi, pure si debba ad investigarla e impararla porvi ogni fatica.“ Leon Battista Alberti. Della Pittura [1436, Libro Terzo, Capitolo III], hrsg. von A. Bonucci, Florenz 1843–1849, Bd. 4, S. 78. Zum Bologneser Kunstdiskurs ausgehend von Malvasia siehe Angela Castellano, Storia di una parola letteraria: it. vago, in: Archivio glottologico 48, 1963, S. 126–169; Giovanna Perini, Kunst­ literatur und Gesellschaft in Bologna, in: Giuseppe Maria Crespi, 1665–1747, hrsg. von A. Emiliani und A. B. Rave, Bologna 1990, S. 219–237. Zur Debatte um die Sprödigkeit und Härte antiker Kunst ausgehend von Bellori, siehe Lorenzo Pericolo, Statuino: an Undercurrent of Anticlassicism in Italian Baroque Art Theory, in: Art History 38, 2015, S. 862–889.

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„Quanto a’ maggiori pregi delle sculture, [i scultori] rispondono [ai pittori] che quando i loro fussino bene migliori, non hanno a compartirli, contentandosi di un putto che macini loro i colori e porga i penelli o le predelle di poca spesa; dove gli scultori, oltre alla valuta grande della materia, vogliono di molti aiuti e mettono più tempo in una sola figura che non fanno essi in molte e molte [...].“ zit. nach Giorgio Vasari. Le vite de’ più eccelenti pittori, scultori e architettori, hrsg. von G. Milanesi, Florenz 1878–1885, Bd. 1, S. 97.

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„Hor per concludere vedute le fadighe, le grandi spese, li pericoli & glinciampi & tante concordantie, che a tale arte bisognano, e forzo chi non ha per mezzo di tale esercitio bisogno di esaltarsia, llassarlo fare agente naturata nele fadighe & ne disagi, & tanto piu quanto io cognoscho esser di necessita che quanto piu puo facci di sua mano, overo intervenga con la vista in tutto per non haversi affidare alle mani ne agli occhi di ministri, quali spesso o per non sapere, o per fuggir fadiga come la stia, o faccino la cosa pocho curano.“ Vannocchio Biringuccio. De la pirotechnia [1549], hrsg. von A. Carugo, Mailand 1977, S. 76.

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Accursio Baldi an Scipione Cibo am 6. April 1585: „Nè Donatello, nè quei della Robbia, tanto fa-

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mosi scultori, sono men chiari per non saper cuocere senza i fornaciai l’opere loro.“ zit. nach Edgar Lein, Die Kunst des Bronzegießens und die Bedeutung der Bronze in der florentinischen Renaissance, Mainz 2004, S. 144. 8

Bandinelli verweist – vermutlich, um eine bessere Entlohnung herauszuhandeln – in einem Brief an Cosimo I. vom 7. Dezember 1547 darauf, dass Donatello nach Auskunft von dessen Bekannten achtzehn oder zwanzig Gehilfen gehabt habe, siehe Giovanni Bottari und Stefano Ticozzi, Raccolta di lettere sulla pittura, scultura ed architettura scritte da’ più celebri personaggi dei secoli XV, XVI e XVII, Mailand 1822, S. 70–71. Cellini nennt unter den Mitarbeitern neben Bronzegießern auch Handlanger und Bauern, siehe Benvenuto Cellini, La Vita, hrsg. von L. Bellotto, Parma 1996, S. 668 und 591. Zur Herstellung seines bedeutendsten Bronzebildwerks beschäftigte Michel­ angelo Lodovico di Guglielmo del Buono, genannt Lotti, sowie den Florentiner Bronzegießer Lapo d’Antonio und zum Guss zudem den Geschützgießer Bernardo d’Antonio del Porte aus Mailand und einen unbekannten Franzosen, siehe Charles de Tolnay, The youth of Michelangelo, Princeton/NJ 1947, S. 38 und 219. Vgl. Lein 2004 (Anm. 7), S. 144–146 und 216–217.

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  9 In einem Brief an Zamboni weist Soldani auf seine hohen Personalkosten hin: „siccome io devo mantenere di continouo dieci persone“, Oxford, Bodleian Library, Rawlinson Mss., Letters, 132, fol. 120r. 10 Vgl. Carina A.E. Weißmann, Massimiliano Soldani Benzi e le copie dall’antico sotto Cosimo III, in: Plasmato dal fuoco. La scultura in bronzo nella Firenze degli ultimi Medici, Ausst.-Kat. (Florenz, Palazzo Pitti, 2019–2020), hrsg. von E. D. Schmidt u. a., Livorno 2019, S. 65–77. 11 „Le due predette Figure [...] se non saranno di quella perfetzione [sic] che merita la grandezza, et cortesia dell’ Ecc. mo Animo suo, saranno non di meno, quali ha saputo dondurli il debile saper mio, condito certo di maggiore studio nel farle et di piu diligenza che ho saputo (massime nel rinettarle) accio che (come spesso adviene) se nulla di buono vi fosse stato, il rinettatore non l’havesse poi, o stravolto, o con la lima portato via“, Giambologna an Ottavio Farnese, Herzog von Parma, am 13. Juni 1579 über die von ihm gelieferten Gruppen Raub der Sabinerin und Raub der Proserpina; zit. nach Elisabeth Dhanens, Jean Boulogne. Giovanni Bologna Fiammingo; Douai 1529–Florence 1608. Bijdrage tot de studie van de kunstbetrekkingen tussen het graafschap Vlaanderen en Italie, Brüssel 1956, S. 344. Vgl. Dimitrios Zikos, Fürst Johann Adam Andreas I. von Liechtenstein und Massimiliano Soldani Benzi. Die florentinische Bronzeplastik des Spätbarock, in: Barocker Luxus Porzellan. Die Manufakturen Du Paquier in Wien und Carlo Ginori in Florenz, Ausst.-Kat. (Wien, Liechtenstein Museum, 2005), hrsg. von J. Kräftner, München 2005, S. 157–177, hier S. 157. 12 Adriaen de Vries, Die Schmiede des Vulkan, 1611, Bronze vergoldet, Höhe 64,7 cm, Breite 71,8 cm, Tiefe 13,5 cm, München, Bayerisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. 69/57.1–2. 13 „Adrian Vrieß Antwortet vff meine Jungste brieffe, erstlich daß die beyden letzten Guardiani vnd 3 Toro nicht rein gegossen, daß er die Gilles Sadeler vnd andre virtuosi zuvor hab besehen laßen, die alle gesagt, sie wehren so polit vnnd rein gemachet, alß wen sie von Golte wehren.“ Adrian de Vries an Fürst Ernst zu Schaumburg am 15. Mai 1620; zit. nach Robert Bruck, Ernst zu Schaumburg. Ein kunstfördernder Fürst des siebzehnten Jahrhunderts, Berlin 1917, S. 81. Zu den Antikenkopien von De Vries, bes. deren Oberflächenbehandlung, siehe Lars Olof Larsson, Imitatio and aemulatio. Adriaen de Vries and classical sculpture, in: Adriaen de Vries, 1556–1626. Imperial sculptor, Ausst.-Kat. (Amsterdam, Rijksmuseum und Stockholm, Nationalmuseum, 1998–1999), hrsg. von F. Scholten, Zwolle 1998, S. 53–58, hier S. 56. Die heute im Schlossmuseum von Gotha befindliche Bronze zeigt noch Spuren der goldfarbenen Patinierung. 14 Antonio Susini, Raub der Sabinerin, 1582/1612, Bronze, Höhe 58,9 cm, München, Bayerisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. 52/118. 15 „Questo [Antonio Susini] è certo che non ha mai fatto nulla di suo cervello, lavorando sempre i modelli di Gio. Bologna“, Fortuna an den Herzog von Urbino am 10. Februar 1582; zit. nach Dhanens 1956 (Anm. 11), S. 350. 16 „[...] or va prima ad imparare a bozzare e poi a finire [...].“ Filippo Baldinucci. Notizie dei professori del disegno da Cimabue in qua, hrsg. von F. Ranalli, 7 Bde., Florenz 1974, Bd. 2, S. 556. 17 Federico Zuccari, Porträt des Giambologna, schwarze und rote Kreide auf Papier, 261 × 188 mm, Edinburgh, National Gallery of Scotland, Inv. D 1851. 18 Vgl. Beschwerde des Bildhauers Accursio Baldi bei Scipione Cibo am 6. April 1585 über die mangelnde Entlohnung seiner Entwürfe und Modelle, siehe Lein 2004 (Anm. 7), S. 146. 19 Baptiste Tochon-Danguy, La matière dans la sculpture de Michel-Ange. De la technique à la métaphysique, in: Accademia 18, 2016, S. 123–156; Nicholas Penny, Non-finito in Italian fifteenth-century bronze sculpture, in: Antologia di belle arti 48/51, 1994, S. 11–15; Alexander Rudigier und Blanca Truyols, Giambologna. Court sculptor to Ferdinano I. His art, his style and the Medici gifts to Henri IV, London 2019, S. 81–95.

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20 Federico Zuccari leitete in seinem 1607 erschienenen kunsttheoretischen Traktat L’idea de’ scultori, pittori e architetti die Herkunft eines disegno esterno von einem disegno interno ab, das durch eine göttliche Inspiration zutage tritt, welche er wiederum etymologisch von „segno di dio“ (Zeichen Gottes) herleitete. Siehe Federico Zuccari. L’ idea de’ pittori, scultori, et architetti, hrsg. von D. Heikamp, Florenz 1961, S. 300–303. 21 Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccelenti pittori scultori e architettori, Florenz 1568, Bd. 1, S. 263. 22 „[...] condusse un modello molto ben lavorato e senza nessun difetto. E così fatte le forme e gittatolo di bronzo, venne benissimo; onde egli con Bartoluccio suo padre lo rinettò con amore e pazienza tale che non si poteva condurre né finire meglio.“ ebd., S. 276. Vgl. Giorgio Vasari, Das Leben des Lorenzo Ghiberti, hrsg. von A. Nova, Berlin 2011, insb. S. 7–11, 55, Anm. 30, S. 56., Anm. 33. So unterstrich Vasari beispielsweise Donatellos und Brunelleschis virtù und Bedeutung bei der Wahl des Siegers, betonte Ghiberti hätte sich wiederholt Anleitung und Rat während des Wettbewerbs geholt und erfand gar Donatellos Teilnahme an der wichtigen Konkurrenz. 23 Borghini nannte zahlreiche Figuren Giambolognas aus Wachs, Ton und Bronze im Besitz seines Florentiner Mäzens, des kunstverständigen Florentiner Bankiers Bernardo Vecchietti, „[...] di Giambologna molte figure di cera, di terra e di bronzo, in diverse attitudini, rappresentanti varie persone, come prigioni, donne, dee, fiumi e uomini famosi.“ Raffaello Borghini. Il riposo di Raffaello Borghini, in cui della pittura e della scultura si favella, de’ piu illustri pittori, scultori, e delle piu famose opere loro si fa mentione: e le cose principali appartenenti a dette arti s’insegnano, Florenz 1584, hrsg. von G. Bottari, Mailand 1807, S. 15. Mit wachsendem Wert dieser vermeintlich unmittelbar die Idee des Künstlers ausdrückenden Ton- und Wachsmodelle stieg die Zahl der Kopien, siehe das gegossene bzw. abgeformte Wachsmodell des Herkules mit der Hydra Giambolognas, ehemals in der Sammlung Bernardo Vecchiettis, heute im Palazzo Vecchio in Florenz; siehe Volker Krahn, Die Entwurfsmodelle des Giambologna, in: Giambologna. Triumph des Körpers, hrsg. von W. Seipel, Wien 2006, S. 70–101, hier S. 95–96. 24 Soldani an Zamboni am 7. Januar 1716/1717, Oxford, Bodleian Library, Rawlinson Mss., Letters, 132, fols. 11r&v. – Zu jenen „amici“ zählte beispielsweise die Familie Vitelli, siehe Rita Balleri, I Soldani del marchese Clemente Vitelli, in: Paragone/Arte 58, 2007, S. 62–73. 25 „[...] e i modelli di terra cotta di questi sono dentro un superbo adornamento con il cristallo d’avanti nella camera dell’Audienza attaccati, dove allore gli fece collocare l’ A.S. fra le più belle cose, che avesse, e io hò rossore, che abino si degno luogo , perche non lo meritano e molti altri lavori di terracotta da me fatti sono in diverse mani di cavalieri miei amici che mi fanno l’onore di conservarli [...].“ Soldani an Zamboni am 7. Januar 1716/1717, Oxford, Bodleian Library, Rawlin-

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son Mss., Letters, 132, fols. 11r&v.

26 „[...| non averò più tempo d’applicare à cose piccole, e così crederej che dovessero crescere di prezzo, non perchè [...] elle sien buone, ma perchè son finite, e condotte con amore.“ Soldani an Zamboni am 20. September 1720, Oxford, Bodleian Library, Rawlinson Mss., Letters, 132, fol. 144r. 27 „[...] V.S. deverebbe stesso pigliarsi questa faticha, perchè i Giovini non sono Capaci di pulire in modo che le cose restino morbide, a che non si guasti qualche contorno.“ Liechtenstein an Sol­ dani am 18. Juni 1695, HAL, FA 68, fol. 22; zit. nach Lankheit 1962 (Anm. 1), S. 328, Dok. 643. 28 „formate con ogni diligenza sopra li medesimi originali, e gettate di bronzo con somma maestria“, „rinettate con le mie mani“; Soldani an Liechtenstein am 5. Juli 1695, HAL, FA 68, zit. nach Haupt 2012 (Anm. 1), S. 282, Dok. 2203. 29 Michelangelo an seinen Bruder zw. dem 12. und 26. Juli 1507, „Buonarroto, la chosa mia poteva venire molto meglio e anchora molto peggio: tant’è ch’ella è venuta tucta, per quello che io posso comprendere, ché ancora non l’ò scoperta tucta. Stimo ci sarà qualche mese di tempo a rinectarla, perché è venuta mal necta; o pure bisognia ringratiare Idio, perché, come dico, poteva

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venire peggio.“ sowie sein Klagen an denselben am 10. November 1507: „[...] perché sto qua chon grandissimo disagio e chon fatiche istreme e non actendo a altro che a.llavorare el dì e.lla nocte, e ò durata tanta faticha e duro, che, se io n’avessi a.rrifare un’altra, non chrederrei che.lla vita mi bastassi, perché è stato una grandissima opera, e.sse ella fussi stata alle mani d’un altro, ci sarebe chapitato male dentro.“ zit. nach Michelangelo Buonarroti, Il carteggio di Michelangelo, hrsg. von P. Barocchi und R. Ristori, 5 Bde., Florenz 1965–1983, Bd. 1, S. 48, 55. 30 Eine umfassende Untersuchung zu morbidezza und carnosità bei Karl Möseneder, „Morbido, Morbidezza“. Zum Begriff und zur Realisation des „Weichen“ in der Plastik des Cinquecento, in: Docta Manus. Studien zur italienischen Skulptur für Joachim Poeschke, hrsg. von J. Myssok und J. Wiener, Münster 2007, S. 289–299, hier S. 289. 31 Dieser Topos des lebendigen Fleischs bleibt auch im Zuge der Aufklärung und des medizinischen Fortschritts bestehen, jedoch werden der Haut neue Funktionen übertragen: dem Körper Form zu verleihen und die Reizaufnahme, also die Anerkennung als eigenständiges Sinnesorgan. Bohde diskutiert diese verschiedenen Aspekte unter dem Leitmotiv des Inkarnats. Siehe Daniela Bohde, „Le tinte delle carni“. Zur Begrifflichkeit für Haut und Fleisch in italienischen Kunsttraktaten des 15. bis 17. Jahrhunderts, in: Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst 3), hrsg. von D. Bohde und M. Fend, S. 41–63. Körner zitiert Francesco Algarotti in einem Brief an Jacopo Bartolomeo Beccari vom 16. Mai 1744, in dem er vom Schmerz der französischen Kunstliebhaber über den Verlust der „Epidermis“ der Antiken nach deren Reinigung berichtet: Dadurch, dass den Statuen „die Epidermis weggeputzt wurde“, sei der Anschein blühenden Fleischs, aber eben auch „diese kostbare Patina“ verloren gegangen, die harmonisiere und den Stein weicher erscheinen lasse. Siehe Hans Körner: „Die Epidermis der Statue“. Oberflächen der Skulptur vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst 3), hrsg. von D. Bohde und M. Fend, Berlin 2007, S. 105–132, hier S. 109. 32 Bohde 2007 (Anm. 31), S. 45. 33 Lodovico Dolce. Dialogo della pittura, intitolato l’Aretino, in: Trattati d’arte del Cinquecento fra manierismo e controriforma, hrsg. von P. Barocchi, Bari 1960, Bd. 1: Varchi, Pino, Dolce, Danti, Sorte, S. 141–206, hier S. 183. 34 Vasari-Milanesi 1878–1885 (Anm. 5), Bd. 1, S. 215–216. 35 „Wer nämlich von denen, die auf diese weniger wichtigen Dinge achtgeben, nimmt nicht wahr, daß die Standbilder des Kanachos zu steif sind, als daß sie naturwahr wirken könnten; daß die des Kalamis zwar immer noch hart (,dura‘),aber doch schon weicher (,molliora‘) als die des Kanachos sind; daß die Myrons noch nicht genug der Naturwahrheit angenähert, aber doch schon so sind, daß man sie ohne Zögern ,schön‘ nennt, daß noch schöner die des Polyklet sind und schon schlechthin vollkommen – wie sie mir jedenfalls gewöhnlich vorkommen.“ Cicero, Brutus, 70; ­„Polyclitus Sicyonius, Hageladae discipulus, diadumenum fecit molliter iuvenem, centum talentis nobilitatum, idem et doryphorum viriliter puerum“, Plinius d. Ä., Naturalis Historia, XXXIV, 55; mit Verweis auf die Errungenschaften Roms „Weicher werden aus Erz einst andere atmend Gebilde treiben, – ich glaube es –, formen lebendige Züge aus Marmor“, Vergil, Aeneis, VI, 847–848; zit. nach Möseneder 2007 (Anm. 30), S. 290. Generell benutzte Vasari die Bezeichnung morbida jedoch mit Vorliebe auf dem Gebiet der Malerei und beschränkt sie im Bereich der Plastik auffallend auf die Wiedergabe von Haar, welches beispielsweise an Michelangelos Moses so wollig und weich sei, dass der Meißel scheinbar zum Pinsel geworden war, „sotilissimamente piumosi, morbidi“, siehe Vasari-Milanesi 1878–1885 (Anm. 5), Bd. 7, S. 166. 36 Ars et Verba. Die Kunstbeschreibungen des Kallistratos, hrsg. von B. Bäbler und H.-G. Nesselrath, München 2006, S. 113.

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37 Ebd. S. 42. 38 Zu dem als Kampfansage an den Jansenismus geschriebenen, nur in Abschriften erhaltenen Traktat siehe Andreas Thielemann, Rubens’ Traktat De imitatione statuarum, in: „Imitatio“ als Transformation. Theorie und Praxis der Antikennachahmung in der Frühen Neuzeit, hrsg. von U. Rombach und P. Seiler, Petersberg 2012, S. 95–150, S. 136. 39 Joris van Gastel, Ambiguities of the flesh. Touch and Arousal in Italian Baroque Sculpture, in: Magische Bilder. Techniken der Verzauberung in der Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. von U. Fleckner und I. Wenderholm, Berlin/Boston 2017, S. 161–181. 40 Massimiliano Soldani Benzi, Der Frühling, 1711, Bronze, mattgoldene Patina, 47,5  ×  63,5  cm, München, Bayerisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. R3924; Massimiliano Soldani Benzi, Der Winter, 1711, Bronze, mattgoldene Patina, 46,3 × 64 cm, München, Bayerisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. R 3927. 41 Massimiliano Soldani Benzi, Kindlicher Bacchant stutzt die Flügel des schlafenden Amors, 1696, Bronze, braune Lackpatina, 31 × 35 cm, LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna, Inv.-Nr. SK123. 42 Alessandro Algardi, Allegorie des Schlafs, 1635–1636, 48 × 90 cm, Marmor, Rom, Galleria Borghese, Inv.-Nr. CLX. 43 Soldani an Liechtenstein am 20. März 1695, FLHA, Kart. 68; zit. nach: Haupt 2012 (Anm. 1), S. 272, Dok. 2191. 44 Anthony Colantuono, Titian’s tender infants. On the imitation of Venetian painting in Baroque Rome, in: I Tatti studies 3, 1989, S. 207–234. Zu Fleisch und Tastsinn in der römischen Barockskulptur siehe Hans Körner, Der fünfte Bruder. Zur Tastwahrnehmung plastischer Bildwerker von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Artibus et historiae 21, 2000, S. 165–196; Geraldine A. Johnson, Touch, Tactility, and the Reception of Sculpture in Early Modern Italy, in: A Companion to Art Theory, hrsg. von P. Smith und C. Wilde, Oxford 2002, S. 61–74. Zuletzt: Joris van Gastel, Il Marmo spirante: Sculpture and Experience in Seventeenth-Century Rome, Berlin 2013, S. 135–212. 45 „[...] egli fu per certo un artefice singolarissimo, in quanto appartiene particolarmente alla bella idea, che egli si formò nell’esprimere le forme de’ putti, per lo grande studio fatto da quel di Tiziano e dal naturale stesso, ricercando i più teneri sino nelle fascie; osservando minutamente essa tenerezza, non pure nelle forme loro, ma eziando negli atti, ne’ moti e nelle attitudini.“ Filippo Baldinucci, Notizie de’ professori del disegno da Cimabue in qua. Secolo V. dal 1610 al 1670, Florenz 1728, S. 285–286. Zu den Putten Duquesnoys siehe Marion Boudon-Machuel, François du

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Quesnoy. 1597–1643, Paris 2005, S. 45–83; Estelle Cecile Lingo, François Duquesnoy and the Greek ideal, New Haven 2007, S. 42–48 und 78–82.

46 François Duquesnoy, Der schlafende Silen, Modell um 1636, vergoldete Bronze, Lapislazuli, um 1665, Antwerpen, Rubenshuis.

47 Orfeo Boselli. Osservazioni della scoltura antica. I manoscritti di Firenze e di Ferrara, hrsg. von A. P. Torresi, Ferrara 1994, S. 172–174. 48 Joachim von Sandrart. Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste [Nürnberg 1675– 1680], Wissenschaftlich kommentierte Online-Edition, hrsg. von T. Kirchner u. a. [http://ta.sandrart.net/de/text/576?query=milch-mäuler&truncation=#querystring1] [zuletzt aufgerufen 11. März 2020], 2008–2012, S. TA 1675, II, Buch 3 (niederl. u. dt. Künstler), S. 348. 49 Giovanni Pietro Bellori, Le vite de’ pittori, scultori e architetti moderni, hrsg. von E. Borea, Turin 1976, S. 289, 299. 50 „Ho caro che questi virtuosi dilettanti abbino avuto la bontà di compatire le mie debolezze e nei due consaputi gruppi della Leda e del Ganimede, e reflettendo à quanto dicono in ordine alle

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finosomie [sic] delle teste della Leda e del Amore, V.S. resti servita, che la testa della Leda l’ho studiata, e preso l’idea da una testa antica di marmo bellissima, siccome quella dell’amore per darli maggiore aria, poiche, quando ancora si studiassero dalla più bella donna, e dal più bel fanciullo, che si potesse trovare, non si farebbe mai un aria che avesse della maniera antica, e V.S. refletta all’opere di Raffaello, e di Michelangiolo, che troverà le teste, che anno fatto del grande, e non sono molli, e tenere, come si vedono nei naturali [...]“, Soldani an Zamboni am 29. Oktober 1717, Oxford, Bodleian Library, Rawlinson Mss., Letters, 132, fols. 48v–49r. Vgl. Renaissance and baroque bronzes from the Fitzwilliam Museum, Cambridge, Ausst.-Kat. (London, 2002), hrsg. von V. J. Avery und J. Dillon, London 2002, S. 101. 51 Massimiliano Soldani Benzi, Bacchus (nach Michelangelo), 1699–1701, Bronze, braunrote Lackpatina, Höhe 198 cm (mit Basis), LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna, Inv.-Nr. SK573; Plasmato dal fuoco 2019 (Anm. 10), S. 328–329, Kat. 76. 52 Michelangelo Buonarroti, Trunkener Bacchus, 1496/1497, Marmor, Höhe 203 cm (mit Basis), Florenz, Museo Nazionale del Bargello, Inv.-Nr. 10. 53 „una cosa mal dissegnata [...] che abbia un’ attitudine cativa, idea pessima e seccha“, Liechtenstein an Soldani am 4. April 1703, HAL, FA 68; zit. nach Haupt 2012 (Anm. 1), S. 352–353, Dok. 2325. 54 „[...] nella qual figura si sconosce che egli ha voluto tenere una certa mistione di membra meravigliose, e particolarmente avergli dato la sveltezza della gioventú del maschio, e la carnosità e tondezza della femina.“ Vasari-Milanesi 1878–1885 (Anm. 5), Bd. 7, S. 150. 55 Condivi schrieb in seiner Beschreibung des Bacchus, die Statue entspräche in „Gestalt und Aussehen in jeglichem Theile den Vorstellungen der alten Schriftsteller“; Ascanio Condivi, Das Leben des Michelangelo Buonarroti, hrsg. von R. von Eitelberger von Edelberg, Wien 1874, S. 25. Plinius der Ältere erwähnte in seiner Naturalis Historia (XXXIV, 69) eine Statuengruppe des Polyklet, welche Bacchus, Methe (die Trunkenheit) und einen Satyr zeige und deren Beschreibung Michelangelo womöglich als Vorlage diente. Diese Ansicht wurde jedoch angezweifelt, vgl. David Summers, Michelangelo and the language of art, Princeton/NJ 1981, S. 265–268. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Johannes Myssok in diesem Band. 56 „Ma questo passerà, come sà visto nella Statua del Fauno.“ Liechtenstein an Soldani am 4. Januar 1707, HAL, FA 69; zit. nach: Haupt 2012 (Anm. 1), S. 385, Dok. 2378. 57 Soldani an Zamboni vermutlich im Mai/Juli 1717, Oxford, Bodleian Library, Rawlinson Mss., Letters, 132, fol. 250v. Versuche, dieses Rezept umzusetzen, scheiterten an der genauen Identifikation der Zutaten bzw. ihrer veränderten Zusammensetzung im Laufe der Jahrhunderte. Ich danke Johann Kräftner für diesen Hinweis.

92 I Carina A.E. Weißmann DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

Doris Carl

Die Madonna ‚dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano Ein Beitrag zur Plinius-Rezeption des Quattrocento Obwohl Louis Courajod bereits 1888 polychrome Fassungen für Skulpturen des Mittelalters und der Frührenaissance nachgewiesen hatte,1 wurden die kunstgeschichtliche Forschung und die Methoden, die bei der Restaurierung der Kunstwerke verwendet wurden, bis weit in das 20. Jahrhundert von der Vorstellung bestimmt, dass die plastischen Werke der Vergangenheit keine farbige Fassung besäßen. Die feste Überzeugung, dass Farbe auf einer Stein- oder Marmorskulptur nichts zu suchen habe und der „Natur“ der Bildhauerkunst widerspräche, war von der klassizistischen Ästhetik geprägt, deren Wurzeln bis ins Cinquecento und in den Disput über das Primat der Künste zurückreichten.2 Sie hatte zur Folge, dass nicht nur die Skulpturen der Antike, sondern auch die der Renaissance, seien sie nun aus Stein, Marmor oder Ton, rigoros von allen Spuren ursprünglicher Bemalung befreit wurden. Dabei ging die Vorliebe für die nackte Oberfläche, die das Material und die vom Künstler intendierten Formen unverfälscht zur Geltung bringen sollte, Hand in Hand mit den drastischen und weniger aufwendigen Reinigungsmethoden alla cieca, die damals bei Restaurierungen üblich waren.3 Dies änderte sich erst in den 60er- und 70erJahren des letzten Jahrhunderts, als sich mit dem wachsenden Respekt für die historische Identität des Kunstwerks der Blick für die komplexe Beschaffenheit polychromer Ober­

ELEKTRONISCHER Inzwischen haben dieSONDERDRUCK Restaurierungen der letzten Jahrzehnte gezeigt – ich stütze mich

flächen schärfte, und dementsprechend feinere Methoden für die restauratorischen Maßnahmen entwickelt wurden.4

hier besonders auf die vom Opificio delle Pietre Dure in Florenz vorgelegten Ergebnisse –, dass an der mittelalterlichen Tradition, Stein und Marmor farbig zu fassen, auch in der von

der humanistischen Kultur geprägten Toskana bis zum Ende des 15. Jahrhunderts festgehalten wurde. Allerdings verzichtete man in dieser Zeit meistens auf eine vollständige Bemalung, die auch die Inkarnate einschloss, und beschränkte sich auf die farbige Fassung bestimmter Partien. Dies belegen z. B. die Grabmäler, die den beiden Florentiner Kanzlern Leonardo Bruni und Carlo Marsuppini in Santa Croce in Florenz errichtet wurden.5 Hier ließen sich an den Gewandsäumen und auf den Haaren Vergoldungen sowie Farbe auf den Gewändern und den Draperien nachweisen. Ähnliche farbige Teilfassungen wurden auch

Die Madonna ,dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano I 93

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an einigen Statuen der Florentiner Kirche Or San Michele gefunden, so am Heiligen Markus von Donatello und an den Heiligen Philippus und Eligius von Nanni di Banco.6 Anders verhielt es sich hingegen bei den in Ton ausgeführten Werken dieser Epoche. Diese wurden in den meisten Fällen mit einer vollständigen farbigen Fassung versehen, die auch die Inkarnate einbezog. Dies belegt eine Vielzahl von Madonnen-Reliefs, die eine gut erhaltene originale Polychromie aufweisen. Von anderen wissen wir allerdings nur durch Dokumente oder durch die Restaurierungsergebnisse, dass sie eine farbige Fassung besaßen. So wurden z. B. bei der Restaurierung der lebensgroßen Statue von Johannes dem Täufer, die Michelozzo für die Serviten-Kirche SS. Annunziata in Florenz anfertigte, zahlreiche Farbspuren gefunden, die darauf hindeuten, dass die Figur ursprünglich eine umfangreiche Polychromie zeigte.7 Dagegen ist für die Statue des Propheten Joshua, von Donatello 1410 für einen der nördlichen Strebepfeiler des Doms von Florenz geschaffen, durch Dokumente gesichert, dass sie mehrfach mit einer weißen Fassung versehen wurde.8 Die Statue ist nicht erhalten. Sie war aber die erste monumentale Statue der sogenannten rinascita della terracotta und auch eine der frühesten Figuren,9 die durch eine weiße Bemalung ad modum marmoris den Eindruck einer Marmorstatue hervorrufen sollten.10 Die erhaltenen Werke, das Zeugnis der Dokumente sowie die Ergebnisse der Restaurierungen der letzten Jahrzehnte erlauben daher die Schlussfolgerung, dass im 15. Jahrhundert alle in Terrakotta ausgeführten Kunstwerke eine farbige Fassung erhielten. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Tonmodelle, die aber nicht den Status eines autonomen Kunstwerks besaßen. So hatte schon Adolfo Venturi 1935 kurz und bündig erklärt: „alla vita della terracotta era necessario il colore“ – ein Ausspruch, den Paolo Bensi 1996 als Titel seines wegweisenden Aufsatzes wählte, in dem er die ersten Restaurierungsergebnisse zu den unterschiedlichen Verfahren und den Materialien polychromer Terrakotta-Fassungen zusammengetragen hatte.11 Dieser brachte die allgemeine Auffassung zum Ausdruck, dass die Tonskulptur notwendigerweise der Farbe bedürfe und dass sie es im Wesentlichen gewesen sei, die die Werke naturalistisch erscheinen ließ, ihnen „Leben“ einhauchte.12 Darüber hinaus erfüllte die Polychromie jedoch auch den Zweck, durch die Verwendung von kostbaren Pigmenten und elaborierten Vergoldungen ein Material zu verhüllen, das gegenüber Marmor als ärmlich, unedel und alltäglich galt und das man daher mithilfe oft aufwendiger polychromer Fassung zu nobilitieren trachtete.13 Die Forschung widmete ihr Augenmerk daher auch der Frage nach der Zusammenarbeit von Malern und Tonbildnern und der Rolle, die der farbigen Fassung in der formalen Gestaltung und der endgültigen Definition eines plastischen Kunstwerks zukam. Bahnbrechend im Hinblick auf diese Fragestellung war die Ausstellung des Jahrs 1987, die sich der gefassten Holzskulptur Sienas widmete. In der Einführung des Katalogs definierte Alessandro Bagnoli die gefasste Skulptur generell als ein „prodotto della collaborazione paritetica fra lo scultore e il pittore“ und billigte damit dem Maler eine gleichgewichtige Rolle wie dem Bildhauer zu.14 Weitere wissenschaftliche Debatten galten dem Problem, ob und wie die Auftraggeber auf die Gestaltung der Werke Einfluss genommen haben könnten, z. B. durch die Auswahl der

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1. KORREKTUR 2 3 4

Farben,15 und last but not least auch der kunsttheoretischen Frage, welcher Kunstgattung eine gefasste Skulptur zuzurechnen sei, ob sie als „scultura dipinta“ oder als „pittura a ­rilievo“ verstanden werden müsse.16 Die folgenden Ausführungen gelten einem Werk, das eine Ausnahme von der allgemeinen Regel darstellt, in Ton ausgeführte plastische Werke farbig zu fassen. Dies ist die Prateser Madonna von Benedetto da Maiano, die heute eine ungefasste Oberfläche aufweist (Abb. 1). Es stellt sich die Frage, wie dies zu erklären ist.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

1  Benedetto da Maiano, Madonna mit Kind, Ton, vor 1480, Prato, Dom

Die Madonna ,dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano I 95

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2  Prato, Dom, Giuliano, Giovanni und Benedetto da Maiano, Tabernakel der Madonna dell’Ulivo, 1480

Im Folgenden werde ich zunächst den Nachweis erbringen, dass die Statue nie eine Fassung besessen hat und so von vorneherein geplant war. Danach werde ich versuchen, eine Antwort auf die Frage zu geben, ­warum die Figur in diesem für das Quattrocento gänzlich unüblichen Zustand belassen wurde. Wie wir sehen werden, verfolgte Benedetto mit dieser Entscheidung bestimmte Ziele, die von der Antike und seiner Lektüre der Naturalis Historia von Plinius angeregt wurden.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Die Prateser Madonna steht heute in einer flachen Nische im südlichen Seitenschiff des Doms von Prato (Abb. 2). Dies entspricht jedoch nicht ihrer ursprünglichen Aufstellung. Vielmehr war sie für die kleine, vorne offene Kapelle konzipiert, die die Brüder Da Maiano in der Nähe ihres Landguts ‚dell’Ulivo‘ vor den Toren von Prato errichtet hatten.17 Ferdinando Baldanzi, der die Madonna 1838 noch in situ sah und eine Zeichnung anfertigen ließ, beschrieb den Bau als eine halbkreisförmige, frei stehende Struktur, die sich auf einem hohen Sockel über das Niveau der Straße erhob. Im Inneren stand ein Altar, an dessen Vorderseite das Pietà-Relief angebracht war.18 Dieses trug auf der untersten Profilleiste die Widmungsinschrift der drei Brüder Da Maiano.19 Oberhalb der Altarmensa erhob sich die Madonna in einer tiefen Nische.20 Aus der Beschreibung von Baldanzi ergeben sich zwei Schlussfolgerungen, die in unserem Zusammenhang von Bedeutung sind: 1. Benedettos Statue war ursprünglich relativ gut geschützt im Inneren einer Kapelle aufgestellt und nicht wie heute in einer flachen Nische und 2. die Statue wies zu diesem Zeitpunkt keine Bemalung auf. Letzteres ergibt sich aus den Erörterungen über den unterschiedlichen Umgang mit der Terrakotta, die Baldanzi mit seiner Beschreibung der Madonnenstatue verknüpfte: Ton habe gemeinhin als „rozza materia“ gegolten. Doch sei es Luca della Robbia gelungen, durch die Erfindung der Glasur die „ignobile creta“ zu verbergen und so zu veredeln, dass seine Werke als denen der Malerei oder Bildhauerei gleichrangig betrachtet wurden. Doch auch ohne dieses „prestigio dell’invetriatura“ könne man in Ton lobenswerte Werke hervorbringen. Dies treffe auch auf Benedetto zu, denn seine Madonna wäre im antiken Rom als „ad unguem factus“ bezeichnet worden. Das Zitat stammt aus den Schriften des Horaz und wurde von seinen Kommentatoren auch auf den Marmorbildhauer bezogen, der mit dem Daumennagel über die Oberfläche seiner Figuren strich, um sich zu vergewissern, dass auch das kleinste Detail perfekt ausgeführt war.21 Baldanzi überträgt diese Deutung des „ad unguem factus“ auf die Tonbildnerei und betont, dass Benedetto mit den Fingern und dem Modellierholz die feinsten und winzigsten Details modelliert und durch diese „finitezza di esecuzione“ seinem Werk die Vollkommenheit einer Marmorstatue verliehen habe (Abb. 1, 3, 4).22

ELEKTRONISCHER dafür gewertet werden,SONDERDRUCK dass die Oberfläche der Terrakotta in einem ungefassten Zustand Die Erwähnung der Arbeitsspuren, die die von Benedetto verwendeten Instrumente

und seine Finger auf der Madonnenstatue hinterlassen hatten, darf als ein klares Indiz

war, da ein Farbauftrag diese verdeckt und unsichtbar gemacht hätte. Doch war die ­Statue offenbar nicht erst zu Baldanzis Zeiten, sondern schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts ohne eine malerische Fassung. Dies lässt sich aus der Vita entnehmen, die Giorgio Vasari

Benedetto da Maiano widmete. Darin erwähnt er die „bellissima cappelletta“, die die Brüder Da Maiano in Prato errichtet hatten, und die Madonna selber mit folgenden Worten: „ed in una nicchia una Nostra Donna col figliuolo in collo, di terra, lavorata tanto bene, che, così fatta senza altro colore, è bella quanto se fusse di marmo.“23 Vasaris ­Beschreibung der Madonna als „aus Ton gearbeitet“ und „ohne andere Farbe“ belegt zunächst einmal, dass das Werk keine polychrome Bemalung aufwies. Darüber hinaus

Die Madonna ,dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano I 97

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3  Benedetto da Maiano, Kopf der Madonna in Prato, Ton, vor 1480, Prato, Dom

4  Benedetto da Maiano, Kopf des Christuskinds der Madonna in Prato, Ton, vor 1480, Prato, Dom

­präzisiert der Wortlaut „così fatta senza altro colore“ in Bezug auf „di terra“, dass man keine andere Farbe als die des Tons an der Statue sah. Allerdings ist der Passus wegen des Vergleichs mit einer Marmorstatue auch so verstanden worden, dass die Madonna mit einer weißen Fassung versehen war. In der Tat könnte man die Formulierungen: „ohne andere Farbe“ und „als ob sie aus Marmor sei“ auch als einen Hinweis auf ein marmorähnliches Erscheinungsbild deuten.24 Weiße Fassungen von Terrakottawerken ad modum marmoris wurden schon seit Beginn des 15. Jahrhunderts vorgenommen.25 Bei der Joshua-Statue von Donatello wissen wir, dass die Fassung aus Bleiweiß bestand, das in Leinöl gebunden war.26 In Öl gebundenes Bleiweiß diente im Mittelalter als Grundierung für die farbige Fassung von Steinskulpturen.27 Donatello verwendete es in der Joshua-Statue jedoch als Farbe, um die Tonfigur wie eine Marmorstatue erscheinen zu lassen. Ähnlich verfuhr der Bildhauer in der Cavalcanti-Verkündigung in Santa Croce, die er in Pietra Serena ausführte, während er für die Puttenpaare der Be­ krönung Ton wählte. Sowohl die Pietra-Serena-Elemente als auch die in Ton gearbeiteten Figuren wiesen ursprünglich eine Bleiweiß-Fassung auf, die, wie bei der Joshua-Statue, direkt auf das Material aufgetragen worden war und in der chromatischen Wirkung den Eindruck antiken Marmors hervorrufen sollte.28 Es wäre daher gut denkbar, dass Benedettos Statue eine ähnliche weiße Bemalung aufwies. Doch sprach schon Baldanzis Beschreibung der Arbeitsspuren gegen eine solche Vermutung, da diese auch durch eine weiße Bemalung verdeckt worden wären. Endgültige Klarheit brachten die Ergebnisse der Restaurierung, da diese zeigten, dass Benedettos Madonnenstatue weder eine weiße noch eine farbige Fassung besessen hat.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Das Werk wurde 1996 und erneut in den Jahren 2017/2018 einer gründlichen Restaurierung unterzogen.29 Bei der vorsichtigen Säuberung der Oberfläche achtete man besonders auf Spuren von Farben. 1996 wurden auch zwei kleine Materialproben entnommen und untersucht: eine vom Mantel unterhalb der rechten Hand der Madonna, die andere vom Untergewand, das links auf dem Boden ausgebreitet ist.30 Doch wurden weder 1996 noch bei der kürzlich erfolgten Untersuchung Spuren einer Gips- oder Kreidegrundierung, von Bleiweiß oder überhaupt von Farbpigmenten gefunden. Die Madonna kann daher weder eine weiße noch eine farbige Fassung gehabt haben, sondern war gänzlich unbemalt. Die Materialproben, die 1996 entnommen worden waren, wiesen jedoch einen dünnen Film von rotem Bolus auf, der direkt auf den Ton aufgetragen und dann durch mechanische Einwirkung poliert worden war (Abb. 5). Fein zerriebener Bolus, mit Leim oder Eiklar gebunden und in mehreren dünnen Schichten aufgetragen, wird gewöhnlich als Grundierung für Vergoldungen verwendet. Doch kann der Bolus hier nicht einem solchen Zweck gedient haben, da jede Polimentvergoldung eine Gips- oder Kreidegrundierung auf der unbehandelten Oberfläche des Bildwerks voraussetzt. Eine solche Grundierung wurde bei der Madonna in Prato nicht gefunden. Es bietet sich jedoch eine andere Erklärung an, um das Vorhandensein von Bolus zu erklären. Benedetto hat seine Madonna in zwei separaten Stücken und wahrscheinlich ohne die Hilfe eines ephemeren Gerüsts modelliert, nach dem Antrocknen von hinten und unten ausgehöhlt, dann zusammengefügt und gebrannt. Diese Sektionierung erleichterte die Herstellung der Figur, erhöhte aber die Wahrscheinlichkeit, dass die einzelnen Teile im Brennvorgang eine unterschiedliche Färbung annahmen. Diese Gefahr war beim Brennen von größeren Objekten in Ton immer gegeben, da in den damaligen, mit Holz betriebenen Brennöfen keine gleichmäßigen Temperaturen zu erreichen waren. Auch konnte die chemische Zusammensetzung der einzelnen Teile variieren. Die sich daraus ergebenden farblichen Unterschiede spielten keine Rolle, wenn eine malerische Fassung oder eine Glasur vorgesehen war. Sollte die Statue jedoch ohne eine weitere Ober­flächengestaltung bleiben, dann konnte ein Auftrag mit rotem Bolus Verfärbungen und andere Defekte des

ELEKTRONISCHER Ein ähnliches VerfahrenSONDERDRUCK konnte beim Puttenfries der Alten Sakristei von San Lorenzo Brennvorgangs kaschieren und der Figur ein farblich homogenes Erscheinungsbild verlei-

hen. Es ist daher sehr gut möglich, dass der Bolus hier in dieser Absicht eingesetzt wurde. nachgewiesen werden, wo roter Ocker aufgetragen wurde, ebenfalls, wie Paolo Bensi vermutete, um die Farbe der Terrakotta zu vereinheitlichen.31 Darüber hinaus könnte der Auftrag von Bolus auch als schützende Maßnahme gedacht gewesen sein, da Ocker und Eisenoxide zu den Pigmenten gehören, die, ganz gleich in wel-

chem Bindemittel, gegen Licht, Wärme und Feuchtigkeit relativ unempfindlich sind. Auch die Politur der Terrakotta, die Benedetto vorgenommen hatte, war eine Schutzmaßnahme. Poli­ turen führte man durch, wenn der Ton angetrocknet, aber noch elastisch war – „a durezza cuoio“, wie es in den Traktaten heißt – und zwar mithilfe eines weichen Tuchs, eines Schwamms oder eines feuchten Pinsels mit kurzen Borsten. Sie diente dazu, die Unebenheiten zu glätten

Die Madonna ,dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano I 99

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5  Ergebnisse der chemischen Analyse von Tonpartikeln des Mantels und des Untergewands der Madonna in Prato. A = Oberfläche der Terrakotta B = Bolus C = Wachs

und die Porosität der Oberfläche zu verringern, sodass der Ton resistenter gegen Witterungseinflüsse wurde.32 Die Berichte von Vasari und Baldanzi, ebenso wie die Restaurierungsergebnisse und die chemische Analyse zeigen daher, dass die Madonna von Benedetto da Maiano keine malerische Fassung aufwies. Vielmehr war sie offenbar von vorneherein so konzipiert, dass die Oberfläche der Terrakotta zu sehen war. Benedetto hat außerdem Maßnahmen ergriffen, um die Statue vor Wind und Wetter zu schützen. Ihr erstaunlich guter Zustand ist daher nicht nur dem Umstand zu verdanken, dass sie relativ geschützt aufgestellt gewesen ist, sondern auch dem technischen Know-how, mit dem der Künstler die Figur ausführte. Die Prateser Madonna ist ein Unikum in der Terrakotta-Skulptur des Quattrocento. Auch im Oeuvre von Benedetto steht sie einzigartig da. Denn andere, von Benedetto eigenhändig ausgeführten Tonfiguren, wie z. B. die Berliner Madonna (Abb. 6), seine holzgeschnitzten Kruzifixe, ja sogar seine Werke in Marmor zeigen farbige Fassungen oder Spuren einer solchen. Es stellt sich daher die Frage, warum Benedetto diese Arbeit entgegen allen damaligen Gewohnheiten nicht mit einer malerischen Fassung versehen ließ. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Madonna kein Auftragswerk war, sondern im Rahmen der Stiftung der Brüder Da Maiano entstand. Benedetto konnte daher, ohne auf die Wünsche eines Auftraggebers Rücksicht nehmen zu müssen, seine eigenen künstlerischen Ideen und Vorstellungen verwirklichen.

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1. KORREKTUR 2 3 4

6  Benedetto da Maiano, Madonna mit Kind, gefasster Ton, um 1485, Berlin, Bode-Museum

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Benedettos Prateser Madonna muss vor dem Hintergrund der sogenannten rinascita della terracotta betrachtet werden. Dass zu Beginn des 15. Jahrhunderts ein künstlerisches Material „wiederentdeckt“ wurde, das in der Antike weit verbreitet, im Mittelalter aber so gut wie unbekannt war, ist in der Literatur überzeugend mit dem Einfluss der Naturalis Historia von Plinius (ca. 24–79 n. Chr.) erklärt worden.33 Erste Handschriften des Werks gelangten Anfang des Jahrhunderts nach Florenz und sowohl Humanisten wie Niccolò Niccoli und Leon Battista Alberti als auch bedeutende Mäzene wie Cosimo il Vecchio de’ Medici und Palla Strozzi besaßen ein Exemplar.34 Dabei wurde das Buch des antiken Autors

Die Madonna ,dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano I 101

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nicht nur als ein enzyklopädisches Kompendium geschätzt, das das gesamte naturkund­ liche Wissen des Altertums überliefert. Das besondere Interesse der Künstler und Humanisten galt seiner chronologisch gegliederten, mit Anekdoten ausgeschmückten Darstellung der Entwicklung der griechischen Kunst anhand der Viten der wichtigsten Künstler und den damit verknüpften Informationen über die Materialien und Techniken, die in der Antike in den Kunstgattungen entwickelt worden waren. Im Rahmen seiner Ausführungen über das Vorkommen, die Beschaffenheit und die Verwendung der verschiedenen Erdarten im 35. Buch erzählt Plinius auch die Anekdote vom Töpfer Butades von Sikyon, der zum ersten Mal ein porträtähnliches Bild aus Ton formte und so die Tonbildnerei erfand. Sie war daher die älteste aller Künste und sei von dem Bildhauer Pasiteles als die „Mutter“ der Ziselierkunst, Bronzegießerei und Bildhauerei bezeichnet worden. Auch seien die Viergespanne der Tempel und die Götter- und Heroenstatuen der Städte und Tempel aus diesem Material gewesen.35 Plinius’ Bericht von der Bedeutung des Tons in der Antike, seine Hinweise auf dessen variable Verwendungsmöglichkeiten ebenso wie seine technischen Ratschläge zu Modellen, Formen und Abgussverfahren fielen nicht nur in dem experimentierfreudigen Kreis um Filippo Brunelleschi und Donatello, sondern auch bei den ebenso praktisch wie theoretisch interessierten Künstlern wie Lorenzo Ghiberti und Leon Battista Alberti auf fruchtbaren Boden.36 Sie alle profitierten von dem Studium der Naturalis Historia und setzten das dort Gelesene auf unterschiedliche Weise um. So geht z. B. Giancarlo Gentilini davon aus, dass die neuartige Idee, die monumentalen Prophetenfiguren der Strebepfeiler des Doms von Florenz aus Ton statt aus Marmor zu arbeiten, von dem Lob angeregt wurde, das Plinius der Tonbildnerei gezollt hatte.37 Das gleiche nimmt er für Brunelleschis Verfahren, Tonziegel statt Steinquader für die Domkuppel zu verwenden, an. Brunelleschi erfand dafür einen neuartigen Typ des Backsteins, der es ihm erlaubte, die statischen Probleme des gewaltigen Kuppelbaus zu lösen,38 wobei er sich auf die technischen Ratschläge von Plinius stützen konnte.39 Dagegen wurde das von Plinius beschriebene Abgussverfahren, das eine serielle Produktion sowohl in Ton als auch in Stuck erlaubte, besonders in der Werkstatt von Lorenzo Ghiberti aufgenommen. Zahlreiche noch erhaltene Madonna-mit-Kind-Darstellungen, die mit dem Namen Ghibertis verbunden werden, veranschaulichen den Erfolg der neuen Technik, in der nun erschwingliche Devotionalien für den freien Markt produziert werden konnten. Ghiberti war wahrscheinlich auch derjenige, der erstmals in großem Umfang Tonmodelle anstelle der bislang üblichen Zeichnung zur Vorbereitung plastischer Kunstwerke benutzte. So brüstete er sich damit, viele derartige Tonmodelle, „moltissimi provvedimenti di cera e di creta“, auch für andere Künstler angefertigt zu haben.40 Beides, sowohl das der Vorbereitung dienende Modell als auch die Herstellung von Tonformen und Tonrepliken, waren Verfahren, die Ghiberti im Zusammenhang mit den Arbeiten und dem Guss der Nordtür des Baptisteriums von Florenz entwickelte.41 Sie wurden im Laufe des 15. Jahrhunderts zu einer Praxis, die allgemein in den Florentiner Werkstätten Anwendung fand. Diese kurzen Ausführungen zur Plinius-Rezeption des Quattrocento verdeutlichen den Einfluss und die Auswirkung, die

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die Naturalis Historia auf das künstlerische Schaffen des 15. Jahrhunderts hatte. Auch das Œuvre von Benedetto legt von dieser durch Plinius angeregten Rehabilitierung der Terrakotta ein deutliches Zeugnis ab, da sich von ihm ungewöhnlich viele in Ton ausgeführte Werke erhalten haben, darunter kleinformatige Arbeiten, große Statuen und eine Reihe von Modellen. Von weiteren Werken, darunter eine mehrfigurige Pietà-Darstellung, haben wir durch Dokumente Kenntnis.42 Auch hat Benedetto – wie viele seiner Zeitgenossen – in großem Umfang von der seriellen Herstellung Gebrauch gemacht, wie die zahlreichen Repliken nach seinen Madonnendarstellungen zeigen. Er war daher mit den verschiedenen künstlerischen Techniken sowohl des Modellierens als auch des Reproduzierens vertraut. Doch haben alle diese Werke entweder Modellcharakter oder waren für die Bemalung vorgesehen.43 Dagegen zeichnet sich die Prateser Madonna dadurch aus, dass hier Ton als Ton, „ungeschminkt“ und als künstlerisches Material dem Marmor gleichwertig für eine lebensgroße, religiöse Statue verwendet wurde. Die Historia Naturalis lag seit 1476 in der Volgare-Übertragung des Cristoforo Landino vor. Wie aus dem Inventar des Haushalts von Benedetto da Maiano vom 15. April 1498 zu entnehmen ist, besaßen die Brüder Da Maiano ein Exemplar des Plinius „tratto per messer Christoforo Landino“.44 Eve Borsook hat nachgewiesen, dass sowohl die Übersetzung als auch die Drucklegung auf die Initiative von Filippo Strozzi zurückgingen.45 Dieser gehörte während der langen Jahre seines Exils in Neapel zu den offiziellen Ratgebern von König Ferrante I. und wurde zu seinem engen Vertrauten. Da der König eine gute Übersetzung ins Volgare wünschte, übertrug Filippo Strozzi diese Aufgabe dem Florentiner Humanisten Cristoforo Landino, der die Übersetzung im Frühling des Jahrs 1474 begann und am 20. August des folgenden Jahrs vollendete. Filippo Strozzi sorgte dann dafür, dass der ursprünglich nicht für die Drucklegung vorgesehene Text in Venedig publiziert wurde. Benedetto war in diesen Jahren, die der Planung der Übersetzung und des Drucks vorausgingen, mit der Ausführung von Arbeiten sowohl für das aragonesische Königshaus als auch für Filippo Strozzi beschäftigt. So entstand als Geschenk des Filippo Strozzi an Alfons von Kalabrien ein luxuriöser, mit Intarsien und Diamanten geschmückter lettuccio,

ELEKTRONISCHER Benedetto die Porträtbüste des Bankiers ausführte, könnte Benedetto von den ÜbersetSONDERDRUCK den Benedetto selber im April 1473 nach Neapel brachte und dort aufbaute.46 Wenn nicht

bereits bei dieser Gelegenheit, dann spätestens in den folgenden Jahren 1474/1475, als zungsplänen Kenntnis erhalten haben,47 denn die Beziehungen zwischen Benedetto und

Filippo Strozzi gingen über das rein Geschäftliche hinaus und müssen von freundschaftlicher Natur gewesen sein.48 Es ist daher durchaus denkbar, dass der kostspielige Band in der Bibliothek der Brüder nicht käuflich erworben wurde, sondern ein Geschenk des vermögenden Bankiers an den von ihm besonders geschätzten Bildhauer war.49 In eben diese Jahre, in denen Benedetto in den Besitz eines eigenen Exemplars der Naturalis Historia gelangte, fällt nun auch die Errichtung der kleinen Kapelle in Prato, in der die Madonnenstatue von Benedetto Aufstellung finden sollte. Hier findet sich neben der Inschrift auf der unteren Profilleiste des Pietà-Reliefs das Datum „1480“ eingraviert.

Die Madonna ,dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano I 103

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Doch kann sich dieses nicht auf die Planung und Ausführung, sondern nur auf die Errichtung des Kapellenbaus selber beziehen. Wie schon von Luitpold Dussler bemerkt wurde, verweist der Wortlaut der Inschrift darauf, dass alle drei Brüder an der Kapelle beteiligt waren, wobei Giuliano die Architektur, Giovanni das Pieta-Relief und Benedetto die Madonnenstatue ausgeführt hatte.50 Giovanni da Maiano starb am 10. August des Jahrs 1478.51 Dies bedeutet, dass nicht nur die Ausführung des Pietà-Reliefs, sondern auch die Planung der gesamten plastischen Ausstattung vor diesem Datum stattgefunden haben müssen. Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Planung der Madonnenstatue und dem mutmaßlichen Zeitpunkt, an dem die Naturalis Historia in der Übertragung des Cristoforo Landino in die Hände von Benedetto da Maiano gelangte, legt daher die Annahme nahe, dass von der Lektüre der nun leicht lesbaren und verständlichen VolgareVersion entscheidende Anregungen für die besondere Konzeption der Figur ausgegangen sind. Denn hier fand der Bildhauer nicht nur die Ausführungen des Plinius, die das ehrwürdige Alter der Tonbildnerei bezeugten. Hier konnte er auch lesen, dass die Tonstatuen der Götter und Heroen, die die Tempel und Städte schmückten, keine farbige Fassung besaßen.52 Sie waren in den Augen von Plinius: „bewundernswert durch die erhabene Arbeit und Kunst und durch ihre Dauerhaftigkeit“: „mira caelatura et arte suique firmitate“,53 „facti con grande arte et da durare lungo tempo“, wie Cristoforo Landino, den Text von Plinius etwas verkürzend, übersetzte.54 Das hohe Ansehen, die Dauerhaftigkeit und die künstlerische Meisterschaft, die in diesem Material zu erreichen war – es könnten diese von Plinius besonders gepriesenen Vorzüge gewesen sein, die für Benedetto ausschlaggebend waren, die Prateser Madonna nicht in Marmor, sondern in Ton auszuführen. Dabei mag auch die Rückbesinnung auf die eigene „toskanische“ Vergangenheit, d. h. der aufkommende mito etrusco eine Rolle gespielt haben, da es ja gerade Etrurien war, das laut Plinius meisterhafte Tonstatuen hervorgebracht habe.55 Auch hat Benedetto die Dauerhaftigkeit seiner Statue noch durch zusätzliche Maßnahmen erhöht, wie wir gesehen haben. Er reihte sich damit unter Künstler wie Brunelleschi und Donatello ein, die, ebenfalls angeregt von Plinius, in den Jahrzehnten vorher mit der Terrakotta und deren Wetterfestigkeit experimentiert hatten. Besonders stimulierend dürfte jedoch für Benedetto die Erkenntnis gewesen sein, dass ein wichtiges Charakteristikum antiker Tonstatuen die ungefasste Oberfläche war. Auch seine Madonna musste daher, wollte sie den antiken Vorbildern gerecht werden, das künstlerische Material in reiner Form und frei von Farbe zeigen. Doch darf darin auch eine Kritik an der allgemeinen Praxis, Werke in Ton zu fassen, gesehen werden, da diese auf eine widersprüchliche Weise mit einem Werkstoff umging, der einerseits auf eine antike Kunstgattung verwies und dadurch nobilitiert war, dessen Materialität aber andererseits durch Fassung oder Glasur kaschiert und oft gänzlich verborgen wurde. Neben diesen, auf eine wahre Rehabilitierung des antiken Werkstoffs zielenden Motiven dürfte jedoch auch das Selbstbewusstsein eines Künstlers eine Rolle gespielt haben,

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der auf der Höhe seines Schaffens stand und auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken konnte. Nur ein Werk, das weder durch Bemalung noch Glasur „verfremdet“ wurde, war ganz die eigene Schöpfung, ließ nur die eigene Handschrift erkennen und war geeignet, die eigene Meisterschaft im Umgang mit der antiken Materie unter Beweis zu stellen. In der Tat hat Benedetto in der Prateser Madonna die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten der Terrakotta voll ausgeschöpft und zugleich gezeigt, dass diese ein expressives Potenzial besaß, das einer polychromen Fassung gleichwertig, wenn nicht überlegen war. Stellt man z. B. der Madonna in Prato die etwas später entstandene, vollständig gefasste Berliner Madonna gegenüber, so wird deutlich, dass das Werk in Prato das in Berlin in der Frische und Lebendigkeit übertrifft, mit der die subtilen, psychologisch differenzierten und nuancenreichen Beobachtungen in der Mimik von Mutter und Kind eingefangen sind (Abb. 3, 4). Entscheidenden Anteil daran haben die deutlichen Spuren, die der kreative Prozess, die Instrumente und die Hände des Künstlers auf der Oberfläche hinterlassen haben. Diese wurden von Benedetto bei der Politur des Tons bewusst nicht geglättet und verwischt. Sie lassen so die souveräne Beherrschung aller technischen und künstlerischen Ausdrucksmittel, derer sich Benedetto bei der Ausführung der Figuren bediente, klar erkennen und sollten seine docta manus anschaulich vor Augen führen.56 Fassen wir unsere Überlegungen zu der ungewöhnlichen Konzeption zusammen, die der Prateser Madonna von Benedetto da Maiano eine Sonderstellung innerhalb der Terrakotta-Skulptur des Quattrocento zuweist, so lässt sich sagen, dass das ostentative ZurSchau-Stellen der Materialität in diesem Werk als ein Versuch verstanden werden kann, der Terrakotta die Würde zurückzugeben, die sie als autonomes künstlerisches Medium in der Antike besessen hatte. Wichtige Anregungen dürften dabei von Benedettos Lektüre der Naturalis Historia ausgegangen sein. Terrakotta, schon durch die auctoritas ihres antiken Ursprungs und durch ihr hohes Ansehen in der antiken Welt geadelt, war, wie Plinius sagte, „sanctiora auro“, heiliger als Gold,57 und bedurfte keiner Nobilitierung durch kostbare Polychromie oder eine marmorähnliche Fassung. In diesem bewussten Verzicht auf Polychromie steht die Madonna von Prato der Auffassung des 16. Jahrhunderts nahe, das

ELEKTRONISCHER wurden nun als ZeugnisSONDERDRUCK künstlerischer Meisterschaft und Virtuosität geschätzt.

die farbige Fassung von Skulptur kategorisch ablehnen sollte.58 Die ungefasst belassene Oberfläche von Terrakotta- und Holzskulpturen und die Spuren des kreativen Prozesses

Anmerkungen 1

Louis Courajod, La polychromie dans la statuaire du Moyen Age et de la Renaissance, in: Mémoires de la Société nationale des antiquaires de France 5/48, 1888 (Sonderdruck). Schon er kritisierte die damalige Restaurierungspraxis scharf, da sie jeder wissenschaftlichen Basis entbehre, und mahnte, vorhandene Polychromie nicht zu zerstören, damit sie weiteren Forschungen dienen könne.

Die Madonna ,dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano I 105

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  2 Vgl. z. B. Leopoldo Cicognara, Storia della scultura dal suo risorgimento sino al secolo di Napoleone, Bd. 2, Venedig 1816, S. 113, der die Widernatürlichkeit farbiger Fassung von Skulptur damit begründete, dass dadurch nicht nur „la freschezza degli ultimi tocchi“ des Künstlers verloren gingen, sondern „si accinge l’artista così a un tale genere di contesa colla natura, quantunque a prima vista desti meraviglia, finisce poi col generare il digusto e la sorpresa si cangia in ribrezzo.“ Dagegen ist „la statua del suo colore naturale, secondo la materia in cui viene scolpita, dimostra essere una pura imitazione della natura.“ Ähnlich hatte sich schon Vincenzo Borghini. Selva di Notzie, ca. 1550–1580, publiziert in: Scritti d’arte del Cinquecento, hrsg. von P. Barocchi, Bd. 1, Mailand 1971, S. 643–644, geäußert, als er kurz und bündig erklärte: „I colori non sono degli scultori“, sondern Bemalungen seien eher für die Wachsbildner oder für diejenigen geeignet, die Porträts aus Gips herstellten: „[...] e se qualche goffo nel’ arte usa i colori, esce della natura di quel’ arte.“ Die Wurzeln dieser Auffassung lagen letztendlich im Rangstreit der Künste und in Michelangelos berühmter Definition der wahren Skulptur als Marmorbildhauerei: „io intendo scultura quella che si fa per forza di levare.“ Dagegen seien die plastischen Werke, die durch das Hinzufügen von Materie entstehe, d. h. die Tonbildnerei: „quelle che si fa per via di porre“ der Malerei ähnlich. Die Definition findet sich in Michelangelos Brief an Benedetto Varchi, in: Trattati d’arte del Cinquento tra Manierismo e Controriforma, hrsg. von P. Barocchi, Bd. 1, Bari 1960, S. 82. Bekanntlich führte dies zu einem allgemeinen Niedergang der autonomen Terrakottaplastik im Cinquecento, der nunmehr kein eigenständiger künstlerischer Rang, sondern nur noch in Form von Modellen eine untergeordnete Rolle im vorbereitenden Stadium eines Kunstwerks zugebilligt wurde.   3 Anna Maria Giusti, Il colore ritrovato. Esperienze in pietra dipinta. Akten des Kongresses Il colore nel Medievo. Arte, simbolo, tecnica (Lucca, 1995), hrsg. von P. A. Andreuccetti und J. Lazzareschi Cervelli, Lucca 1996a, S. 67–76, bes. S. 69; Dies., Sculture lapidee e cromia. Una tradizione che dura nel Quattrocento, in: I Medici, il Verrocchio e Pistoia. Storia e restauro di due capolavori nella cattedrale di S. Zeno. Il monumento al Cardinale Niccolò Forteguerri. La Madonna di Piazza, hrsg. von F. Falletti, Livorno 1996b, S. 38–43, bes. S. 39.   4 Vgl. Giusti 1995 (Anm. 3), S. 67–76; Falletti 1996b (Anm. 3), S. 38–43.   5 Anna Maria Giusti, Angelo Venticonti, Monumento funebre di Leonardo Bruni. Bernardo Rossellino e aiuti, fra il 1444 e il 1451, Firenze, chiesa di Santa Croce, in: OPD restauro 4, 1992, S. 161– 169; Cristina Danti, Scultura e affresco. Novità dal restauro del monumento Marsuppini, in: OPD restauro 10, 1998 (1999), S. 36–56.   6 Anna Maria Giusti, Carlo Biliotti und Cristina Samarelli, Alcuni casi di utilizzo del laser nella pulitura dei marmi, in: OPD restauro 8, 1996 (1997), S. 120–126.   7 Maria Grazia Vaccari, Il restauro del San Giovanni Battista di Michelozzo, in: Michelozzo scultore e architetto (1396–1472), hrsg. von G. Morolli, Florenz 1998, S. 115–120.   8 Donatello hatte versucht, die Statue durch eine Bemalung aus Bleiweiß und Leinöl wetterfester zu machen. Vgl. Paolo Bensi, „Alla vita della terracotta era necessario il colore“. Appunti sulla policromia della statuaria fittile, in: La scultura in terracotta. Tecniche e conservazione, hrsg. von M. G. Vaccari, Florenz 1996, S. 34–46, bes. S. 34–35; Giancarlo Gentilini, Luca della Robbia. La scultura invetriata nel Rinascimento, Bd. 1, Florenz 1992, bes. S. 24–28. Zu weiteren gemeinsamen Experimenten von Donatello und Brunelleschi, vgl. ebd., S. 26.   9 Vgl. zur rinascita della terracotta meine Ausführungen S. 101. 10 Vgl. zu Marmorimitationen meine Ausführungen, S. 98. 11 Adolfo Venturi, Storia dell’arte italiana, Bd. 10: La scultura del Cinquecento, I, S. 540; Bensi 1996 (Anm. 8), S. 34.

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12 Maria Grazia Vaccari, „Colorite de boni colori et ornate secundo il naturale.“ La terracotta policroma. Simulare, imitare la natura. Akten des Kongresses Terres Cuites de la Renaissance. Matière et couleur (Paris, 2011), hrsg. von M. Bormand und A. Bouquillon in: Techne 36, 2012, S. 18–25, und den programmatischen Titel der Ausstellung: The color of life. Polychromy in sculpture from Antiquity to the Present, Ausst.-Kat. (Los Angeles, J. Paul Getty Museum, 2008), hrsg. von R. Panzanelli, Los Angeles 2008. 13 Vaccari 2012 (Anm. 12), S. 18; Giancarlo Gentilini, Scultura dipinta o pittura a rilievo? Riflessioni sulla policromia nel Quattrocento fiorentino, Akten des Kongresses Terres Cuites de la Renaissance. Matière et couleur (Paris, 2011), hrsg. von M. Bormand und A. Bouquillon, in: Techne 36, 2012, S. 9–17, bes. S. 13. 14 Scultura dipinta. Maestri di legname e pittori a Siena, 1250–1450, Ausst.-Kat. (Siena, Pinacoteca Nazionale, 1987), hrsg. von A. Angelini, Florenz 1987; vgl. auch die Beiträge in: La statua e la sua pelle. Artifici tecnici nella scultura dipinta tra Rinascimento e Barocco. Akten des Kongresses (Lecce, 2007), hrsg. von R. Casciaro, Lecce 2007; zu dem engen Zusammenhang zwischen Ton- und Holzskulptur vgl. den Beitrag von Giancarlo Gentilini, La tradizione del legno e la rinascita della terracotta. Un confronto sotto la pelle della scultura dipinta, in: La statua e la sua pelle. Artifici tecnici nella scultura dipinta tra Rinascimento e Barocco. Akten des Kongresses (Lecce, 2007), hrsg. von R. Casciaro, Lecce 2007, S. 63–79. 15 Vgl. Vaccari 2012 (Anm. 12), S. 19. 16 Vgl. Gentilini 2007 (Anm. 14). 17 Vgl. Doris Carl, Benedetto da Maiano. Ein Florentiner Bildhauer an der Schwelle zur Hochrenaissance, Regensburg 2006, S. 113–117. Die Kapelle lag direkt an der Hauptstraße, die von Florenz nach Prato führte, bei der Porta Fiorentina. Vgl. Giorgio Vasari. Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architettori, hrsg. von G. Milanesi, Bd. 3, Florenz 1906, S. 343–344, und Ferdinando Baldanzi, La Madonna detta dell’Ulivo presso Prato disegnata e descritta, Prato 1838, S. 4. 18 Baldanzi 1838 (Anm. 17), S. 7. Die Kapelle gehörte daher zu einem Typus von Straßentabernakeln, die in der Toskana häufig errichtet wurden und der allgemeinen Volksfrömmigkeit dienten. Vgl. Renato Stopani, I tabernacoli stradali, Radda in Chianti 1998. 1867 wurde die Madonna samt der Altarnische, nicht aber die Kapelle selber, in den Dom von Prato übertragen und dort wiederaufgebaut. Dabei wurde auch die Altarmensa entfernt und stattdessen das Pietà-Relief flach unterhalb der Madonna in die Wand eingelassen. Vgl. Giuseppe Marchini, Il Duomo di Prato, Mailand 1957, S. 66. Bei der heutigen Kapelle der Madonna ‚dell’Ulivo‘, die an der Kreuzung der Via Ferrucci und der Via Santa Gonda in Prato steht, handelt es sich um einen modernen Bau, der

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

vermutlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach dem Abriss des Straßentabernakels errichtet wurde. Vgl. zur Geschichte der Kapelle bis 1838 Baldanzi 1838 (Anm. 17), S. 5–6. 19 Baldanzi 1838 (Anm. 17), Taf. I. und II, und S. 11. Sie lautet: IVLIANVS ET IOVANNI ET BENEDICTVS MAIANII LEONARDI FILII HANC ARAM POSVERVNT SCVLPSERVNTQVE MCCCCLXXX. Da sich die Kapelle auf eine ca. 1,80  m höheren Niveau oberhalb der Straße befand, muss sich die Widmungsinschrift der Pietà ursprünglich etwa auf Augenhöhe der Passanten befunden haben, sodass sie gut zu lesen war, im Gegensatz zur heutigen Anbringung, bei der sich die Inschrift in der Nähe des Fußbodens befindet (Abb. 2). 20 Baldanzi 1838 (Anm. 17), ebd., S. 7, beschreibt den Aufstellungsort der Statue als innerhalb eines „commodo vacuo a guisa di nicchia.“ 21 Vgl. zu Horaz und den verschiedenen Interpretationen des „ad unguem factus“ Armand J. D’Angour, Ad Unguem, in: The American Journal of Philology 120, 3, 1999, S. 411–427, bes. S. 413. 22 Vgl. Baldanzi 1838 (Anm. 17), S. 8–9. 23 Vasari-Milanesi (Anm. 17), Bd. 3, Florenz 1906, S. 343–344.

Die Madonna ,dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano I 107

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24 So hat Ulrich Middeldorf, Some painted Madonna Reliefs, in: Raccolta di scritti, that is collected writings, Bd. 3, Florenz 1981, S. 223–224, die Meinung vertreten, dass die Madonna weiß gefasst war. Dieser Meinung war die Autorin in ihrer Monografie über Benedetto da Maiano gefolgt, da ihr die Ergebnisse der petrochemischen Analyse damals nicht bekannt waren. Vgl. dazu meine Ausführungen weiter oben und Carl 2006 (Anm. 17), S. 115. 25 Vgl. Middeldorf 1981 (Anm. 24), S. 223; Bensi 1996 (Anm. 8), S. 38–40. 26 Vgl. Bensi 1996 (Anm. 8), S. 34–35. 27 Vgl. Giusti 1996a (Anm. 3), S. 70. 28 Roberto Manni, Annunciazione Cavalcanti, in: OPD restauro 7, 1995 (1996), S. 185–192; Andreina Andreoni u. a., I putti dell’ Annunciazione di Donatello in Santa Croce. Vicende, ipotesi e interventi, in: La scultura in terracotta 1996 (Anm. 8), S. 246–254; Maria Grazia Vaccari, The Cavalcanti Annunciation, in: The Sculpture Journal, 9, 2003, S. 19–37. Vgl. zu den unterschiedlichen Techniken und zur Verwendung von weißer Farbe als Marmorimitation, z. B. in den Skulpturen von Antonio Begarelli Vaccari (Anm. 12), S. 19; Bensi 1996 (Anm. 8), S. 38–40, und die Beiträge in: Emozioni in terracotta. Guido Mazzoni, Antonio Begarelli. Sculture del Rinascimento emiliano, Ausst.-Kat. (Modena, Foro Boario, 2009), hrsg. von G. Bonsanti und F. Piccinini, Modena 2009. 29 Mein herzlicher Dank gilt dem Restaurator Andrea Fedeli, in dessen Werkstatt die Restaurierungen vorgenommen wurden, und Lia Brunori, die die jüngste Untersuchung leitete. Sie gestattete mir, die Statue genau zu untersuchen. Einen besonderen Dank schulde ich den beiden Restauratoren Laura Amorosi und Rocco Spina, die sich die Zeit genommen haben, die Restaurierungsbefunde mit mir zu diskutieren. 30 Die petrochemische Analyse wurde von Marcello Spampinato durchgeführt. Auch ihm danke ich herzlich für eine ausführliche Diskussion seiner Resultate. 31 Vgl. Bensi 1996 (Anm. 8), S. 36 und meine Ausführungen in Anm. 52. 32 Vgl. zu den Traktaten und zu den technischen Verfahren Giancarlo Gentilini, La scultura fiorentina in terracotta del Rinascimento. Tecniche e tipologie, in: La scultura in terracotta 1996 (Anm. 8), S. 64–103, bes. S. 80. 33 Lange Zeit als künstlerischen Material zweiten Rangs geringgeschätzt und dementsprechend vernachlässigt, ist Ton als künstlerisches Medium erst in der Forschung der letzten Jahrzehnte in seiner Bedeutung für die Kunst der Renaissance erkannt worden. Bahnbrechend war der 1977 erschienene Aufsatz von Luciano Bellosi, Ipotesi sull’origine delle terracotte quattrocentesche, in: Jacopo della Quercia fra gotico e Rinascimento. Akten des Kongresses (Siena, 1975), hrsg. von G. Chelazzi Dini, Florenz 1977, S. 163–179. Bellosis Rehabilitierung der Terrakotta-Plastik und seine These, dass dabei die Naturalis Historia von entscheidender Bedeutung gewesen sei, stieß auf allgemeine Zustimmung und wurde in der Forschung der folgenden Jahrzehnte u. a. von Laura Martini, Giancarlo Gentilini und in späteren Beiträgen von Bellosi selber aufgenommen und thematisch erweitert. Eine auch nur annähernd vollständige Liste dieser Beiträge würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Es sei hier daher nur auf das Buch von Adalgisa Luglio, Guido Mazzoni e la rinascita della terracotta nel Rinascimento, Turin 1990 verwiesen. Nach meiner Kenntnis hat nur Bruce Boucher, Italian Renaissance terracotta. Artistic revival or technological innovation, in: Earth and fire. Italian terracotta sculpture from Donatello to Canova, Ausst.-Kat. (Houston, Tex. Museum of Fine Arts und London, Victoria and Albert Museum, 2001–2002), hrsg. von B. Boucher, P. Motture und A. Radcliffe, New Haven 2001, S. 1–31, das Phänomen der rinascita della terracotta als eines „revivals all’antica“ in Frage gestellt. So hält Boucher die Verweise von Theoretikern und Künstlern wie Leon Battista Alberti und Lorenzo Ghiberti auf antike Quellen, wie z. B. Plinius, für eine „ex post facto justification“. Dagegen sind nach seiner Meinung die entscheidenden Impulse in den technischen Innovationen von Töpfern und Keramikern zu suchen. Diese

108 I Doris Carl DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

These kann jedoch, zumal für das humanistische Florenz, wo die Blüte der neuartigen Tonplastik einsetzte, nicht überzeugen. Auch ist der bestimmende Einfluss, den das Werk von Plinius auf das künstlerische Schaffen des Quattrocento ausgeübt hat, erst kürzlich erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt worden. Vgl. Sarah Blake McHam, Pliny and the artistic culture of the Italian Renaissance. The legacy of the „Natural History“, New Haven 2013. 34 Vgl. zu den frühen Exemplaren des Plinius Blake McHam 2013 (Anm. 33), S. 93–100. 35 C. Plinius Secundus. Naturalis historia/Naturkunde, hrsg. von R. König und G. Winkler, Düsseldorf 2007, Buch 35, S. 114 und 118. 36 Vgl. zu Ghiberti und Alberti Blake McHam 2013 (Anm. 33), S. 103–118. 37 Brunelleschi und Donatello experimentierten gemeinsam mit den Tonfiguren und den Möglichkeiten, sie wetterfest zu machen. Von den geplanten 12 gigantischen Prophetenfiguren für die Strebepfeiler wurde der erste 1410 von Donatello ausgeführt. Weitere Statuen folgten 1456 und 1463. Vgl. Gentilini 1992 (Anm. 8), S. 24–28. 38 Vgl. Gentilini 1992 (Anm. 8), S. 28. 39 Vgl. Plinius 2007 (Anm. 35), S. 126–130. 40 Vgl. Lorenzo Ghibertis Denkwürdigkeiten (I Commentari), hrsg. von J. von Schlosser, Berlin 1912, S. 50–51; zum Einfluss der Naturalis Historia auf Ghibertis Commentari vgl. Blake McHam 2013 (Anm. 33), S. 109–118. 41 Vgl. dazu Gentilini 1992 (Anm. 8), S. 28–29, und zur Gusstechnik der Nordtür, bes. zur Verwendung von Formen a tasselli Maria Concetta Muscolino Russo, Tecnica della fusione, in: Lorenzo Ghiberti. Materia e ragionamenti, Ausst.-Kat. (Florenz, Galleria dell’Accademia und Museo di San Marco, 1978), hrsg. von M. Bacci, Florenz 1978, S. 576–580; Blake McHam 2013 (Anm. 33), S. 118– 119, unterstreicht zu Recht, dass die Anfertigung von Repliken nicht nur als eine Methode der billigen Reproduktion verstanden werden darf. Vielmehr lag ihr eine Neubewertung der von Plinius beschriebenen Techniken des Modellierens und des Abgusses in einem Material zugrunde, das in der Antike für Götterbilder verwendet worden war. 42 Vgl. dazu Carl 2006 (Anm. 17), S. 98–100. 43 Die in Ton ausgeführten Nischenbüsten an der Fassade des Palazzo Spannocchi in Siena weisen heute keinerlei Fassung auf. Doch ist unklar, ob dies der ursprüngliche Zustand war, da sie im Laufe der Jahrhunderte mehrfach restauriert wurden. Vgl. Doris Carl, Die Büsten im Kranzgesims des Palazzo Spannocchi in Siena, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, 43, 1999, S. 628–638, und dies., I busti imperiali di Palazzo Spannocchi a Siena e il loro contesto mediceo, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, 52, 2008, S. 8–24.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

44 Vgl. Carl 2006 (Anm. 17) S. 38. Leider ist mir bei der Drucklegung des Inventars selber ein Fehler unterlaufen, da in der Liste der Bücher (ebd., Dok. 26, S. 528–530, Nr. 72) an der betreffenden Stelle S. 530 „Livio“ statt „Plinio“ zu lesen ist.

45 Vgl. Eve Borsook, Filippo Strozzi and the two Plinys. Civic pride, diplomacy, and private taste in Quattrocento Naples and Florence, in: I Tatti Studies in the Italian Renaissance, 23, 2020, S. 77-99. Ich bin der Autorin, die mir erlaubte, den Aufsatz vor der Publikation zu lesen, zu herzlichem Dank verpflichtet. 46 Vgl. Carl 2006 (Anm. 17), S. 61, 157, 159, 588–589. 47 Vgl. Carl 2006 (Anm. 17), S. 157. Die Büste ist dokumentarisch durch die Zahlungsurkunde vom 15. Juni 1475 für Benedetto gesichert, der 15 Florin für die Ausführung erhielt. 48 Vgl. Carl 2006 (Anm. 17), S. 157–160. 49 Der Band kostete sieben Florin. Vgl. zu den Preisen und der Höhe der Auflage von 1476 Borsook (Anm. 45). Sieben Florin entspricht der Hälfte der Summe, die von der Florentiner Steuerbehörde als jährlicher Aufwand für den Lebensunterhalt veranschlagt und daher von der Steuer abgezo-

Die Madonna ,dell’Ulivo‘ von Benedetto da Maiano I 109

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gen wurde. Leider ist es im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, näher auf die Bibliothek der Da Maiano einzugehen. Dies soll an anderer Stelle geschehen. So viel kann jedoch gesagt werden, dass diese ein großes Interesse an antiker und moderner Geschichte verrät und insgesamt ein erstaunlich hohes intellektuelles Niveau der Brüder Da Maiano zu erkennen gibt. 50 Vgl. Luitpold Dussler, Benedetto da Maiano. Ein Florentiner Bildhauer des späten Quattrocento, München 1924, S. 53 und die in Anm. 19 zitierte Inschrift. 51 Vgl. Carl 2006 (Anm. 17), S. 29. 52 Plinius 2007 (Anm. 35), S. 118 erwähnt aber, dass man die Tonstatue des Jupiter, die Tarquinius für das Kapitol gestiftet hatte, mit rotem Ocker zu bestreichen pflegte: „Tarquinius Priscus Iovis effigiem in Capitolio dicandam; fictilem eum fuisse et ideo miniari solitum.“ Dieser Zusatz fehlt an der entsprechenden Stelle in der Übersetzung von Cristoforo Landino. Vgl. das digitalisierte Exemplar der Historia natvrale di C. Plinio secondo tradocta di lingva latina in fiorentina per Christophoro Landino fiorentino, Venedig 1476 in der Bayrischen Staatsbibliothek in München, Inc. 520, c. 387v. Doch war das antike Verfahren, das sowohl zur Vereinheitlichung der Farbe als auch als Schutzmaßnahme gedient haben könnte, schon im Umkreis von Brunelleschi und Donatello bekannt, sodass auch Benedetto davon gewusst haben könnte, auch wenn es in seinem Plinius nicht stand. Vgl. dazu meine Bemerkungen zum Puttenfries der Alten Sakristei von San Lorenzo, weiter unten, S. 99, und Bensi 1996 (Anm. 8), S. 30. 53 Vgl. Plinius 2007 (Anm. 35), S. 120–121. 54 Vgl. Historia natvrale 1476 (Anm. 52), c. 387v. 55 Vgl. Plinius 2007 (Anm. 35), S. 155–156. Bezeichnend ist, dass Cristoforo Landino an dieser Stelle „Etrurien“ mit „Toskana“ übersetzte. Vgl. Plinius 2007 (Anm. 35), S. 118: „[...] praeterea elaboratum hanc artem Italiae et maxime Etruriae“ und Landinos Übersetzung in der Historia Natvrale 1476 (Anm. 52), c. 387v: „Finalmente conclude questa arte essere stata celebrata in Italia & maxime in thoscana.“ Zu den patriotischen Konnotationen des aufkommenden mito etrusco und der Gleichsetzung von etruskisch und toskanisch vgl. Giovanni Cipriani, Il mito etrusco nel Rinascimento fiorentino, Florenz 1980; zum Einfluss auf die Kunst des 15. Jahrhunderts vgl. André Chastel, Arte e umanesimo a Firenze al tempo di Lorenzo Magnifico, Turin 1964, S. 99–110; Simonetta Valtieri, Il „revival“ etrusco nel Rinascimento Toscano. Il mito etrusco contrapposto al mito romano, in: L’architettura 17, 1971, S. 546–554; Giovannangelo Camporeale, La scoperta degli Etruschi nel Rinascimento, in: Atene e Roma 48, 2003, S. 145–165. 56 Benedetto war mit dem Topos der docta manus wohlvertraut. Vgl. dazu Doris Carl, Il ritratto commemorativo di Giotto di Benedetto da Maiano nel Duomo di Firenze, in: Santa Maria del Fiore. The Cathedral and its sculpture. Akten des Kongresses (Florenz, 1997), hrsg. von M. Haines, Fiesole 2001, S. 129–147, bes. S. 143–144, und Carl 2006 (Anm. 17), S. 168–173. 57 Plinius 2007 (Anm. 35), S. 118. 58 Vgl. das Zitat von Vincenzo Borghini: „I colori non sono degli scultori“ in Anm. 2.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Helen Boeßenecker

„... il colore di marmo, che paiono proprio di quella pietra“ Oberflächengestaltung und Materialevokation bei den Tonplastiken Antonio Begarellis Der italienische Plastiker Antonio Begarelli (1499–1565) aus Modena war insbesondere in den Kunstgegenden der Emilia-Romagna Modena und Parma sowie in Mantua aktiv und arbeitete, soweit wir wissen, ausschließlich mit dem Material Ton. Aufgrund fehlender ­eigener Marmorvorkommen und der ungünstigen Anbindung an Steinbrüche besaß die Produktion von Tonwaren in der Region Emilia-Romagna eine ausgeprägte lokale Tra­­di­ tion.1 Im Unterschied zu Niccolò dell’Arca (1435–1494) und Guido Mazzoni (1445–1518), den bedeutenden emilianischen Tonplastikern der älteren Generation, stattete Begarelli seine Figuren jedoch nicht mit einer umfassenden Polychromierung aus. Zeitnahe Schriftquellen deuten vielmehr darauf hin, dass er einen Großteil seiner Figuren mit einer Weißfassung versah und die Zeitgenossen diese dezidiert mit dem Werkstoff Marmor assoziierten. So vergleicht Giorgio Vasari an mehreren Stellen seiner Viten die Farbigkeit von Begarellis Terrakottafiguren mit jener von Marmor und beschreibt, dass die Figuren tatsächlich wirken würden, als seien sie aus diesem Stein gemacht: „[...] alle quali tutte figure ha dato tanto bene il colore di marmo, che paiono proprio di quella pietra [...].“2 Bei Vasaris

ELEKTRONISCHER sprüngliche, Marmor evozierende Weißfassung schließen. SONDERDRUCK

Äußerungen mag es sich auch um einen rhetorischen Topos handeln, doch lassen weitere Quellen wie Vertragsdokumente und nicht zuletzt Restaurierungsergebnisse auf eine ur3

Der folgende Beitrag untersucht Begarellis Oberflächengestaltungen aus material­

ästhetischer Perspektive und diskutiert die Frage nach der Oberflächenbehandlung in ­Relation zum Trägermaterial. Hierbei werden zwei Aspekte in den Mittelpunkt gestellt: Erstens betrifft die Frage nach der Oberflächengestaltung die von Begarelli modellierte Tonoberfläche, deren plastische und atmosphärische Werte eingehender beleuchtet werden sollen. Begarellis Plastiken zeichnen sich durch die Qualitäten des Weichen und Lebendigen aus, und wie im Folgenden argumentiert werden soll, treten diese Ausdrucksqualitäten maßgeblich an der Oberfläche, der Epidermis von Begarellis Plastiken, in Erscheinung. Zweitens stehen Begarellis Weißfassungen im Fokus und die Frage, welche

„… il colore di marmo, che paiono proprio di quella pietra“ I 111

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semantischen und wirkungsästhetischen Implikationen mit der Farbreduktion und der dadurch hervorgerufenen Materialevokation verbunden sind. In diesem Zusammenhang soll der Hypothese nachgegangen werden, dass Begarellis Weißfassungen nicht als bloße Marmorimitationen zu begreifen sind, die lediglich auf die Nobilitierung des „armen“ oder „bescheidenen“ Materials Ton abzielen. Diese Fragestellungen werden im Folgenden anhand exemplarisch ausgewählter Werke Begarellis diskutiert, wobei zunächst die „weiche“ Gestaltung und differenzierte Oberflächenstruktur von Begarellis Tonoberflächen und anschließend die Weißfassungen behandelt werden. Um der Frage nachzugehen, welche künstlerische Absicht mit der Anspielung auf das Material Marmor verbunden war, sind Überlegungen zu den materialspezifischen Eigenschaften und der Materialsemantik von Ton und Marmor anzustellen. Abschließend sollen weitere Beispiele materialevozierender Fassungen im Quattro- und Cinquecento und terminologische Fragen angesprochen werden. Mit dem Beitrag ist das Anliegen verbunden, Begarellis innovative Oberflächengestaltungen in den Blick zu nehmen und hiermit den Fokus auf künstlerische Zwischenfelder zu richten, die jenseits der dichotomischen Vorstellung von monochromer Bronze- und Marmorskulptur auf der einen und polychromer, lebensnaher Terrakottaplastik auf der anderen Seite angesiedelt sind. Bevor eine Auseinandersetzung mit exemplarischen Werken Begarellis erfolgt, erscheint noch eine Bemerkung zu der bisherigen Forschungslage und zu den Oberflächen von Begarellis Plastiken angebracht. Ein wichtiger Anstoß zur Neubewertung der frühneuzeitlichen Tonplastik ging von Kathleen Weil-Garris’ Aufsatz „Were this Clay but Marble“. A Reassessment of Emilian Terra Cotta Group Sculpture (1982) aus, in dem sie auf das Problem aufmerksam machte, dass die Terrakottaplastik des Quattro- und Cinquecento lange Zeit als provinziell und volkstümlich galt, ihr im Vergleich zu Bronze- und Marmor­ skulpturen innerhalb des kunsthistorischen Kanons lediglich eine Nebenrolle zugewiesen wurde und sie vorrangig im Fokus lokaler Forschungen stand.4 Einhergehend mit dem in den letzten Jahren stark angestiegenen Interesse an der Materialität von Kunstwerken und der Ästhetik und Semantik von künstlerischen Materialien erfährt die italienische Terrakottaplastik der Frühen Neuzeit aktuell eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der internationalen Forschung,5 wobei insbesondere die glasierten Arbeiten der Della Robbia oder neuerdings die lebensnahen Figuren der Sacri Monti in Oberitalien im Zentrum des Interesses stehen.6 Der Bekanntheitsgrad des Modeneser Plastikers Antonio Begarelli hingegen ist – sieht man von der Spezialliteratur ab – insbesondere außerhalb Italiens nach wie vor gering.7 Auch wenn die lange Zeit auf die Kunstzentren Rom, Florenz und Venedig fokussierte Kunstgeschichtsschreibung und die in diesem Kontext häufig anzutreffende Vorstellung einer von den kulturellen Zentren in ländliche Regionen einseitig ausstrahlenden Kunstproduktion in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion zunehmend problematisiert werden und an deren Stelle die Auffassung von einem dynamischen ­Verhältnis von „Zentrum“ und „Peripherie“ tritt, so ist es bezeichnend, dass Antonio Be-

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1. KORREKTUR 2 3 4

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garelli, dessen Werke ausschließlich in dem engen geografischen Umkreis von Modena entstanden, in der internationalen Forschung nach wie vor eine „periphere“ Stellung einnimmt.8 Dies mag durch den Umstand befördert worden sein, dass sich seine Werke einer leichten Einordnung in gängige Stil- und Epochenkategorien entziehen bzw. vermeintlich widerstrebende Stiltendenzen vereinen. Aufgrund der häufig symmetrisch aufgebauten Kompositionen und der in seinen Werken nachgewiesenen Bezüge zur Kunst Raffaels wird Begarelli eine „klassische“ Kunstauffassung attestiert, was zu seiner Zuschreibung als „Hochrenaissance-Künstler“ 9 geführt hat, während er aufgrund seiner narrativen ­Fi­gurengruppen und ihrer dramatisch-bewegten Gewänder zugleich als „Vorläufer“ des Barock bezeichnet wird.10 Dass auch bei der Bewertung und Deutung von Begarellis ­Marmor evozierenden Fassungen seitens der Forschung bestimmte normative, mit der sogenannten Hochrenaissance verbundene Vorstellungen zum Ausdruck kommen, wird weiter unten zur Sprache kommen. Bei der Auseinandersetzung mit Begarellis Plastiken sieht man sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass viele der Figuren im Zuge späterer Überarbeitungen polychromiert wurden oder ihre Fassung verloren haben, sodass sie sich heute häufig materialsichtig mit Fassungsresten präsentieren. Damit berührt die Frage nach der Materialillusion bei Begarelli ein grundsätzliches Problem gefasster Tonplastik, deren Oberflächengestaltung häufig nicht mehr ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild entspricht, sondern im Laufe der Jahrhunderte durch Übermalungen verändert wurde. Bei dem Versuch, die ursprünglichen Weißfassungen im Œuvre Begarellis näher zu charakterisieren, ist folglich einige Vorsicht geboten, und es bleiben weitere Forschungen und kunsttechnologische Analysen abzuwarten, bevor umfassendere Aussagen zu den Oberflächengestaltungen getroffen werden können.

Begarellis Oberflächengestaltungen I: Oberflächenstruktur und Weichheit

ELEKTRONISCHER nen sich Begarellis Plastiken durch ein „tender modeling and soft chiaroscuro“ aus. SONDERDRUCK

Wie Ronald Lightbown zutreffend festgestellt, aber nicht konkreter ausgeführt hat, zeich11

Im

Folgenden soll ausgeführt werden, dass diese von Lightbown angesprochenen Qualitäten von Begarellis Werken maßgeblich von deren differenziert gestalteten Tonoberflächen abhängen. Diese zeigen häufig ein Zusammenspiel von sorgfältig geglätteten und reliefartig strukturierten Partien. So wurde beim Putto der Gruppe Hl. Laurentius mit dem ­Engel für

das Kloster San Benedetto in Polirone die Haut- und Stoffpartie glatt und homogen gestaltet, während bei den auch durch Einritzungen detailliert ausgearbeiteten Federn die materielle Beschaffenheit von Engelsflügeln akzentuiert wurde (Abb. 1). Auch die Nachahmung der stofflichen Texturen von Haaren, Bärten, Engelsflügeln sowie Tierfellen bei anderen Werken bildet einen spannungsvollen Kontrast zu den glatten Partien (Abb. 2). Begarelli

„… il colore di marmo, che paiono proprio di quella pietra“ I 113

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1  Antonio Begarelli, Hl. Laurentius mit dem Engel (Detail), Terrakotta, zwischen 1541 und 1559 (?), San Benedetto Po (Provinz Mantua), San Benedetto in Polirone, Museo della Basilica

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1. KORREKTUR 2 3 4

2  Antonio Begarelli, Presepio (Detail Ochse und Esel), Terrakotta, 1527, Modena, Dom

3  Antonio Begarelli, Madonna di Piazza (Detail), Terrakotta, 1522, Modena, Museo Civico

setzte die Oberflächengestaltung offenbar gezielt ein, um bestimmte Ausdrucksqualitäten seiner Figuren hervorzurufen. Im Fall des Puttos tragen seine glatte Haut und die rundlichen

ELEKTRONISCHER Der Eindruck der „Weichheit“ wird insbesonSONDERDRUCK Formen des Kinderkörpers dazu bei, die Illusion von weichem, lebendigem Fleisch zu erzeugen. dere bei den Werken erweckt, bei denen das Nachgeben des Fleischs unter dem Druck eines Fingers vor Augen geführt wird. Bei gleich mehreren seiner Madonnenfiguren weichen Haut und Fleisch des Christuskinds unter dem sanften Druck von Marias Finger zurück, was die Tonoberfläche durch plastisch-haptische Werte bereichert und ein sanftes Hell-DunkelSpiel entstehen lässt (Abb. 3).12

„… il colore di marmo, che paiono proprio di quella pietra“ I 115

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4  Antonio Begarelli, Kreuzabnahme, Terrakotta, 1531, Modena, San Francesco

Im Malereidiskurs des Cinquecento wurde die Wiedergabe des Inkarnats und der Weichheit des Fleischs (morbidezza delle carni) als eine zentrale Fähigkeit der Maler angesehen, um ihren Figuren den Anschein von Lebendigkeit (vivacità) zu verleihen.13 Im Hinblick auf die Skulptur bezogen die frühneuzeitlichen Kunstliteraten und Poeten den in der Antike wurzelnden Topos der Lebendigkeit vor allem auf den „lebendigen Marmor“, indem sie das Vermögen der Bildhauer rühmten, durch den virtuosen Umgang mit dem Material den harten, spröden Stein weich und geschmeidig erscheinen zu lassen.14 Neben der Formsprache und Bewegungsmotiven konnte zur Evokation von „Lebendigkeit“ und „Weichheit“ somit auch entschieden die Marmoroberfläche beitragen, die durch eine differenzierte

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Bearbeitung  – beispielsweise auf Hochglanz polierte gegenüber rauen Partien, die Er­ zeugung von Hell-Dunkel-Effekten durch Bohrlöcher und Hinterschneidungen – belebt werden konnte. Die Reize, die von einer weich erscheinenden und sinnlich gestalteten Marmoroberfläche ausgehen, können die Tastwahrnehmung des Betrachters maß­ geblich anregen.15 Bei Michelangelos Moses (1513–1516) in San Pietro in Vincoli in Rom erfährt die Ansprache der sinnlich-taktilen Wahrnehmung eine zusätzliche Steigerung ­darin, dass der Prophet mit seinen Fingern in seinen in weichen Wellen hinabfallenden Bart hineingreift.16 Im Fall des Materials Marmor stellte es für die frühneuzeitlichen Bildhauer eine besondere difficoltà dar, die Verwandlung des harten, toten Stoffs in lebendiges Fleisch zu illusionieren. Wie Karl Möseneder im Hinblick auf die Plastiken Giovanni Angelo Montorsolis und seiner Affinität zu den Materialien Ton und Wachs herausgestellt hat, sind dem Werkstoff Ton, der erst nach dem Trocknungsprozess und Brennvorgang hart wird, die Eigenschaften des Weichen und Geschmeidigen in besonderer Weise inhärent.17 Dass es ein Anliegen Begarellis war, diese im Ton angelegten Qualitäten in seinen Werken pointiert hervorzukehren, soll nun anhand seiner Kreuzabnahme (1531) in San Francesco in Modena verdeutlicht werden, die der Künstler ursprünglich für die Modeneser Kirche Santa Cecilia der Observanten des Franziskanerordens geschaffen hatte (Abb. 4).

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

5  Antonio Begarelli, Kreuzabnahme (Detail), Terrakotta, 1531, Modena, San Francesco

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Im Zentrum der dreizehn lebensgroße Figuren umfassenden Gesamtkomposition steht die virtuose Darstellung der Abnahme des erschlafften toten Körpers Christi vom Kreuz (Abb. 5). Dargestellt sind vier männliche Figuren, die auf zwei steilen, an das Kreuz gelehnten Leitern balancieren und damit beschäftigt sind, den Leichnam vom Kreuz zu lösen und ihn unter Zuhilfenahme eines Tuchs hinabzulassen. Am Fuß des Kreuzes befindet sich die ohnmächtig zusammengesunkene Muttergottes, die von den drei Marien begleitet wird.18 Die Mariengruppe wird auf der linken Seite von Johannes dem Täufer und Hieronymus und auf der rechten Seite von Franz von Assisi und Antonius von Padua flankiert, die, symme­ trisch in einem Halbkreis angeordnet, mit affektiven Gebärden auf das Ereignis reagieren. Bei der Kreuzabnahme sah sich Begarelli mit der technischen Herausforderung konfrontiert, den in der Luft gehaltenen Körper Christi im Medium der Plastik darzustellen. Begarelli bringt die der Szene inhärenten gegenläufigen Bewegungsrichtungen, die durch das Hinablassen des leblosen Körpers vom Kreuz und gleichzeitige Stützen des Körpers erzeugt werden, anschaulich zum Ausdruck. Die links über den Querbalken gelehnte Figur greift mit ihren Fingern in das gestraffte Tuch hinein, mit dem der Körper Christi auf der Höhe des Beckens hinabgelassen wird. Der Oberkörper wird durch einen auf der rechten Leiter stehenden Helfer, bei dem es sich wahrscheinlich um Johannes handelt, von unten gestützt. Durch Johannes’ Griff unter die Achsel drücken sich seine Finger in das Fleisch hinein. Dieses Detail, das Begarelli, wie erwähnt, häufig auch bei seinen Maria-Kind-Gruppen einsetzte, stimuliert die taktile Wahrnehmung des Betrachters. Ihm lässt sich zugleich eine selbstreflexive Dimension zuschreiben, denn wenn vor Augen geführt wird, wie die Epidermis unter dem Druck der Finger nachgibt, wird der Arbeitsprozess des plastischen Modellierens wachgerufen, wenn sich die Finger des Plastikers in den weichen Ton einprägen. Zu dem Eindruck von morbidezza tragen bei der Kreuzabnahme noch weitere, die Oberfläche betreffende Gestaltungsmittel bei. Die herabfallenden Locken des Gottessohns sind weich modelliert und liegen auf dem Gewandärmel des Jüngers auf, wodurch in diesem Bereich eine bewegte Oberflächenstruktur entsteht. Dass Begarelli die weiche Textur der Haare betonte, korrespondiert mit dem Umstand, dass in der frühneuzeitlichen Kunstliteratur die topisch erwähnte Ausdrucksqualität der morbidezza in Bezug auf die Skulptur vor allem hinsichtlich der gelungenen „weichen“ Wiedergabe von Haaren und Bärten diskutiert wurde.19 Und schlussendlich tragen auch die weich fließenden, dynamisch-bewegten Draperien einzelner Figuren der Kreuzabnahme zu einer Bewegung der Oberfläche bei. Durch die plastische Modellierung der voluminösen Gewänder entstehen verschattete Bereiche, wodurch auf der Terrakottaoberfläche eine atmosphärische Hell-Dunkel-Wirkung erzeugt wird. Von der Forschung ist wiederholt eine stilistische Verwandtschaft zwischen den Arbeiten Begarellis und Correggios (1489–1534) angesprochen und, basierend auf einer im 17.  Jahrhundert einsetzenden kunsthistoriografischen Tradition, eine Zusammenarbeit zwischen dem Plastiker und dem Maler vermutet worden.20 Dass die beiden Künstler aus der Emilia-Romagna im Kontext einzelner Aufträge tatsächlich zusammengearbeitet haben – in Bezug auf Begarellis Kreuzabnahme wurde von Kunstliteraten kolportiert, Cor-

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reggio habe drei Figuren modelliert –, ist aufgrund fehlender Schriftquellen nicht zweifelsfrei belegt und kann hier nicht weiter verfolgt werden.21 Im Zusammenhang mit der Frage nach der Oberflächenwirkung von Begarellis Werken ist jedoch von Relevanz, dass sich Correggios Gemälde bekanntlich durch ein ausgeprägtes Helldunkel und sanfte, weich modellierte Übergänge auszeichnen.22 Ein produktiver Austausch der beiden Künstler erscheint gerade im Hinblick auf diese gemeinsamen künstlerischen Qualitäten und Ausdrucksformen denkbar, und es ist zu vermuten, dass sich Begarelli bei seiner Oberflächengestaltung mit der von Vasari mehrfach gerühmten morbidezza delle carni in Correggios Gemälden auseinandersetzte.23

Begarellis Oberflächengestaltungen II: Die Weißfassungen Wurde bislang die Frage nach Begarellis Oberflächengestaltungen im Hinblick auf das Material Ton diskutiert, soll nun die Fassung eingehender in den Blick genommen werden. Für eine exemplarische Betrachtung der Weißfassungen bieten sich die Nischenfiguren von San Benedetto in Polirone an, die Begarelli in den 1540er und 1550er-Jahren für das bedeutende Benediktinerkloster in der Provinz Mantua geschaffen hatte und von ­denen 31 erhalten sind.24 Seit den 1980er-Jahren wurde die Restaurierung einzelner Figuren in Angriff genommen. Hierbei wurden Weißfassungen freigelegt, die, wie im Fall des Hl. Benedikt, von der Forschung als originale Erstfassungen angesehen werden (Abb. 6).25 Der hl. Benedikt trägt Ornat und steht aufrecht in der Nische. Links zu seinen Füßen sitzt ein agiler, nackter Putto, der mit seiner linken Hand einen Stab emporhält. Seine von der Sitzfläche herabhängenden Beine dringen energisch in den Betrachterraum vor. Schuhe, Untergewand, Haut und Bart des Heiligen sowie Haut und Haare des Puttos sind weiß gefasst. Beim hl. Benedikt handelt es sich nicht um ein strahlendes, sondern vielmehr um ein gebrochenes Weiß, einen creme- oder elfenbeinfarbenen Ton, der sich zudem nicht gänzlich homogen präsentiert, sondern unterschiedliche Nuancen aufweist. Gold gefasst sind hinge-

ELEKTRONISCHER Der Eindruck des Monochromen wird jedoch nicht nur durch die partiellen VergoldunSONDERDRUCK

gen ornamentale Details an der Mitra, am reich verzierten Stoff des Pluviales, dem Buch, der Krümme des Stabs sowie am Stab des Puttos, dessen Flügel sogar komplett vergoldet sind.

gen aufgebrochen: Begarelli hat einen grünen Farbton verwendet, um die Iris der Augen zu akzentuieren und damit den Gesichtsausdruck und die Intensität des Blicks zu steigern.26 Durch das spannungsvolle Zusammenwirken der großflächig aufgetragenen „unbunten“ Farbe Weiß27 mit Teilvergoldungen und punktuell eingesetzten buntfarbigen Akzenten gelang Begarelli bei seinem Hl. Benedikt mit dem Engel eine differenzierte Oberflächengestaltung. Dabei wird der Eindruck der Plastik durch die Farbigkeit der räumlichen Umgebung zusätzlich unterstützt: Rahmung und Wand der Nische sind in­ ­einem ähnlichen Farbton gehalten wie die Figuren, während das Muschelmotiv in der Kalotte vergoldete Details aufweist.28

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6  Antonio Begarelli, Hl. Benedikt mit dem Engel, Terrakotta, zwischen 1541 und 1559 (?), San Benedetto Po (Provinz Mantua), San Benedetto in Polirone, Museo della Basilica

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Doch welche Technik wandte Begarelli an, um seine charakteristischen Weißfassungen, das sogenannte bianco begarelliano, zu erzielen?29 Basierend auf den Angaben von Uber Ferrari, der verschiedene Werke Begarellis restauriert hat, ging die Forschung bislang davon aus, dass Begarelli die Tonfiguren in der Regel über einem Holzgerüst modellierte, danach die Figuren in Teile schnitt und aushöhlte und vor dem Brennvorgang einen feinen Überzug aus Kaolin aufsprühte, um eine homogene Oberfläche der verschiedenen Teilstücke zu erzielen. Nach dem Brennvorgang sollen die Teilstücke mithilfe einer Stuckmasse zusammengefügt und eine Bleiweißschicht bzw. Teilpolychromierungen aufgetragen worden sein.30 Dem hat der Restaurator Pietro Tranchina aufgrund neuerer Restaurierungsergebnisse die Hypothese entgegengestellt, dass das bianco begarelliano aus einer vor dem Brennvorgang erfolgten Behandlung der Tonoberfläche mit Kalkwasser resultiere: Das Kalkwasser sei in die Oberfläche der Tonmasse eingedrungen und habe den hellen Ton der Terrakotta erzeugt.31 Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Vermutung im Zuge weiterer kunsttechnologischer Untersuchungen bestätigt, wobei natürlich auch die Möglichkeit besteht, dass Begarelli verschiedene Arbeitstechniken erprobt hat. Begarelli muss jedenfalls über hohe technische Fertigkeiten in der Tonbearbeitung verfügt haben, worauf auch die relativ geringe Anzahl von Rissen in seinen großformatigen Terrakottawerken schließen lässt, die durch die Schrumpfung des Tons beim Trocknen und Brennen entstehen.32 Dass er vor dem Brennvorgang die Oberfläche des Tons behandelte – sei es durch das Aufsprühen von Kaolin, sei es durch die Behandlung mit Kalkwasser –, offenbart, dass er dessen finale Wirkung im Arbeitsprozess gezielt vorbereitete. Vor dem Hintergrund, dass die Zeitgenossen die Farbfassung von Begarellis Werken eindeutig mit dem Werkstoff Marmor assoziierten, stellt sich die Frage, auf welche Art von Marmor die Materialevokation abhob. Ende des 16.  Jahrhunderts charakterisiert Francesco Forciroli in seiner Schrift Antiqua, et recentia Illustrium Virorum Mutinensium Monumenta die Oberflächenwirkung von Begarellis Figuren als „candidissimo marmo“, also weißesten Marmor.33 Beim Hl. Benedikt wie auch bei anderen restaurierten Nischenstatuen in San Benedetto zeigt sich hingegen ein abgetöntes Weiß, das zudem gelblich-

ELEKTRONISCHER Dass der Künstler tatsächlich beabsichtigte, eine durch Alterung veränSONDERDRUCK

bräunliche Nuancierungen aufweist. Interessant ist in diesem Zusammenhang die These

einiger Autoren, dass Begarelli bei seinen Werken die Nachahmung antiken Marmors intendiert habe.34

derte Marmoroberfläche zu evozieren, um damit möglicherweise den Eindruck einer antiken Marmorstatue wachzurufen, wäre denkbar, müsste jedoch, wie bereits Markus Küffner betont hat, unter Einbeziehung kunsttechnologischer Untersuchungen überprüft werden.35 Da auch aufgrund der überlieferten und im Quattro- und Cinquecento wiederentdeckten antiken Statuen eine enge gedankliche Verbindung von weißem Marmor mit der Antike existierte,36 ist aber anzunehmen, dass zumindest eine generelle Anspielung auf die „Alten“ bei Begarellis Weißfassungen eine Rolle spielte. Darüber hinaus erscheint im Hinblick auf die Farbästhetik eine Auseinandersetzung ­Begarellis mit der römischen Marmorskulptur des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts

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7  Jacopo Sansovino, Hl. Jakobus, Marmor mit Vergoldungen, 1518–1519, Rom, Santa Maria in Monserrato (ursprünglich für die Cappella Serra in Rom, San Giacomo degli Spagnoli)

denkbar. Andrea Bregno (1418–1503) und Jacopo Sansovino (1486–1570) haben bei einigen ihrer monochrom weißen Marmorstatuen und -reliefs aus römischer Zeit ornamentale Details wie Gewandsäume oder Buchbeschläge mit Vergoldungen akzentuiert. Zu nennen wären beispielsweise Andrea Bregnos Grabmal des Louis D’Albret (1464, Rom, Santa Maria in Aracoeli) und Jacopo Sansovinos Altarstatue des Hl. Jakobus (um 1518/1519) für die Cappella Serra in S. Giacomo degli Spagnoli (Abb. 7). Eine mögliche Rom-Reise Begarellis ist aufgrund von formalen und motivischen Bezügen zu Werken Raffaels, Michelangelos und Jacopo Sansovinos von der Forschung wiederholt angenommen, jedoch bislang nicht nachgewiesen worden.37 Auch wenn Begarelli keine Reise nach Rom unternommen haben sollte, könnte er durch Zeichnungen oder Stiche Kenntnisse von den Kunstwerken in Florenz und

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Rom besessen haben, oder, was in Bezug auf die Farbgestaltung noch plausibler erscheint, könnten ihm diese über den Raffael-Mitarbeiter Pellegrino da Modena (ca. 1460–1523) vermittelt worden sein, der in Rom mit Jacopo Sansovino in der Cappella Serra gearbeitet hatte und nach dem Tod Raffaels nach Modena zurückkehrte.38 Jedenfalls ist anzunehmen, dass Begarelli nicht nur die lokale emilianische Kunstproduktion vor Augen stand, sondern er im Hinblick auf die Farbästhetik seiner Bildwerke auch Anregungen von außerhalb aufnahm. In der Literatur wurde verschiedentlich argumentiert, dass sich Begarelli mit seinen farbreduzierten, Marmor evozierenden Fassungen von der lokalen Tradition polychromierter Tonplastik abgewandt habe und bestimmten ästhetischen Idealen der mittel­ italienischen „Hochrenaissance“ Rechnung trage.39 Im florentinisch-römischen Kunst­ diskurs bildete die an die Antike erinnernde Marmorskulptur den Maßstab, wie anhand der folgenden, viel zitierten Anekdote evident wird, die Vasari in der Vita Michelangelos schildert: Als er [Michelangelo] einmal den Weg über Modena nahm, sah er von der Hand des Meisters ­Antonio Bigarino, eines Bildhauers aus Modena, viele schöne Statuen aus Terrakotta, die wie ­Marmor angemalt waren und ihm als vortreffliche Werke erschienen. Weil jener Bildhauer sich nicht auf die Arbeit in Marmor verstand, sagte Michelangelo: „Wehe den antiken Statuen, wenn dieser Ton zu Marmor würde.“40

Zwar offenbart die Anekdote die Wertschätzung gegenüber Begarellis Arbeiten, doch wird diese im gleichen Zug relativiert, da die Tonplastik gegenüber der Marmorskulptur letztendlich als minderwertig eingestuft wird. Vasari selbst lässt bisweilen eine eindeutig negative Haltung gegenüber der Tonbildnerei erkennen. So schrieb er Begarellis Zeit­ genossen Alfonso Lombardi (1497–1537) aus Ferrara einen unmoralischen Charakter zu und verknüpfte dies mit dessen Tätigkeit als Tonplastiker.41 Bei der ambivalenten Bewertung spielen auch bestehende Materialhierarchien in der Frühen Neuzeit eine Rolle. Als in der Natur häufig vorkommendes und auch für Gebrauchsgegenstände verwendetes Mate-

ELEKTRONISCHER Begarelli mit der Nachahmung des Werkstoffs Marmor, eines edleren Materials, das in der SONDERDRUCK

rial rangierte Ton innerhalb der Hierarchie der Materialien mit Holz und Wachs an unterer Stelle.42 Vor diesem Hintergrund besteht eine verbreitete Forschungsmeinung darin, dass

Region als Ressource nicht vorkam und nur mit einem hohen Kosten- und Arbeitsaufwand zu beschaffen war, in erster Linie die materielle Aufwertung der Terrakottaplastik beabsichtigt habe.43 Zwar mag dieser Aspekt durchaus eine Rolle gespielt haben, doch erscheint es verkürzt, Begarellis Fassungen lediglich eine Surrogat-Funktion zuzuschreiben. Auch wäre zu einseitig, die Marmorevokation primär vor der Folie einer bestimmten, vermeintlich normsetzenden Kunstauffassung zu begreifen. Eine Rom-Reise Begarellis und seine produktive Auseinandersetzung mit den Kunstwerken und Kunstdiskursen der kulturellen „Zentren“ werden hier als plausibel erachtet, doch geht es mir vielmehr darum, Begarelli als einen Künstler herauszustellen, der bei seinen Fassungen zu eigenständigen und inno-

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vativen Lösungen gelangte. Zudem ist zu vermuten, dass aufgrund der Verbreitung und Tradition des Materials Ton in der Region Emilia-Romagna dem Werkstoff dort eine be­ sondere Wertschätzung entgegengebracht wurde, was für eine Relativierung tradierter Materialhierarchien spricht.44 Im Folgenden soll der These nachgegangen werden, dass mit der Materialevokation weitere Wirkungsabsichten verbunden waren und aus ihr ein Bedeutungszuwachs in materialsemantischer Hinsicht und eine Wirkungssteigerung resultieren. Wie Monika Wagner aufgezeigt hat, handelt es sich beim Material Ton aufgrund seiner Verknüpfung mit diversen Schöpfungsmythen gewissermaßen um den „plastische[n] Urstoff“ schlechthin:45 Gott formte den Menschen aus Erde (Gen. 2,7), und in der griechisch-römischen Mythologie ist es Prometheus, der die Menschen aus Erde, Samen und Flusswasser nach dem Bildnis der Götter modellierte. Die frühneuzeitlichen Tonplastiker konnten sich somit in die Tradition des deus artifex einreihen. Nicht zuletzt ist mit dem Material Ton eine zentrale Ursprungslegende der Kunst verknüpft: Laut Plinius formte der Töpfer Butades aus Sikyon die erste Porträtplastik, indem er die Umrisse des Geliebten seiner Tochter, die diese auf die Wand gezeichnet hatte, mit Ton ausfüllte.46 Ton, der sich auch für Abformungen nach der Natur eignet, wurde ebenso wie Holz in der frühneuzeitlichen Kunstliteratur als ein besonders „natürliches“ und im Vergleich zu Marmor oder Bronze weniger „künstliches“ Material angesehen.47 So kommt Alberti zu Beginn seines Traktats De Statua auf die Ursprünge der Künste zu sprechen und stellt die Ähnlichkeit zwischen in einem Baumstumpf oder einem Erdklumpen zufällig vorgefundenen Formen und Umrissen und den tatsächlichen Erscheinungen in der Natur heraus.48 Es lässt sich mutmaßen, dass die Materialität der Tonplastik entschieden dazu beitrug, der zeitgenössischen Forderung nach Mimesis nachzukommen.49 Als leicht formbares Material mit einer hohen Flexibilität eignete sich Ton zudem nicht nur in besonderer Weise für das Anfertigen von bozzetti, sondern auch für statisch kühne Kompositionen, was gerade im Fall von Begarellis mehrfigurigen Kompositionen von Vorteil war. Ton galt somit als bescheidenes und unter materiellen Gesichtspunkten wenig geschätztes Material, das sich jedoch aufgrund seiner Materialeigenschaften und mythologischen beziehungsweise biblischen Konnotationen als archetypischer Stoff für eine Verwendung in religiösen Kontexten in besonderer Weise anbot.50 Bei Begarellis Werken werden durch die Weißfassungen jedoch zugleich Assoziationen zum Werkstoff Marmor hervorgerufen. Als zentrale Eigenschaften des weißen Marmors wurden in der Kunstliteratur der Frühen Neuzeit Reinheit, weißer Glanz, Dauerhaftigkeit und Beständigkeit geschätzt.51 Insbesondere die an den weißen Marmor gekoppelten Bedeutungen Reinheit und Beständigkeit konnten zur Semantik der Bildwerke beitragen. Es lässt sich argumentieren, dass bei der Marmorevokation diese semantischen Konnotationen wachgerufen werden und hierdurch das Material Ton ein zusätzliches Bedeutungspotenzial erfährt. Auch unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten erweist sich der Verzicht auf eine extensive Buntfarbigkeit als bedeutsam. Durch die Nachahmung des Materials Marmor

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wird das mit der Natur assoziierte Material Ton ästhetisch aufgeladen, sodass aus der Materialevokation ein Spannungsverhältnis von Natürlichkeit und Artifizialität resultiert. Die Farbreduktion, der Verzicht auf eine buntfarbige Fassung, bedeutet eine Abkehr von der Mimesis und erzeugt eine Differenz zur Realität. Da es sich um das Vortäuschen eines anderen bildhauerischen Materials handelt, erscheint es angemessener, nicht bloß – wie es im Zusammenhang mit Begarellis Weißfassungen in der Forschung üblich ist – von einer Materialimitation, sondern vielmehr von einer Materialfiktion zu sprechen, um den schöpferischen und kreativen Anteil des künstlerischen Nachahmungsprozesses herauszustellen.52 Hiermit verbunden stellt sich die Frage, ob die Materialevokation auf die vollständige Illusion eines Marmorwerks abhebt oder ob durch die Darstellung eines anderen künstlerischen Materials nicht vielmehr eine eigenständige Materialästhetik hervorgerufen wird. So werden bei manchen Kompositionen Begarellis die Darstellungsmöglichkeiten und Grenzen der Marmorskulptur negiert, wobei gerade diese Elemente der Flexibilität des Materials Ton zuzuschreiben sind – beispielsweise die in der Luft schwebenden Engel der Beweinung (um 1524, Modena, Sant’Agostino) oder der tote Körper Christi in der Kreuzabnahme in San Francesco (Abb. 5).53 Wenn hier einerseits der Eindruck von hartem, schwerem Marmor erzeugt wird, andererseits das Material jedoch elastisch und schwerelos erscheint, da es sich in Wirklichkeit um Ton handelt, läuft dies gängigen Erwartungen und Sehgewohnheiten zuwider.54 Gerade diese Spannungsbezüge können aber zur Wirkungssteigerung beitragen, weshalb für die Wahrnehmung der Werke das Oszillieren zwischen Ton und Marmor relevant zu sein scheint. Dass sich Begarelli bei seinen statisch gewagten Kompositionen über die Darstellungsmöglichkeiten und -konventionen von Marmorskulpturen hinwegsetzte, kann als Indiz gewertet werden, dass es ihm nicht um die bloße Imitation von Marmorskulpturen ging. Begarelli demonstriert seinen virtuosen Umgang mit dem lokalen Material Ton und evoziert eine Materialästhetik, die auf eine ambivalente Wahrnehmung abhebt und einen potenziellen Spielraum eröffnet. Dass Zeitgenossen wie Vasari Begarellis Figuren eben nicht für Marmorstatuen hielten, sondern erkannten, dass es sich um Terrakottafiguren handelte, die aufgrund ihrer Farbe

ELEKTRONISCHER flüchtigen Blick die Illusion eines Marmorwerks hervorgerufen werden, rücken bei eingeSONDERDRUCK

den Anschein von Marmor erweckten, lässt sich als weiteres Argument anführen, dass von dem Künstler keine durchgängige Marmorillusion angestrebt wurde.55 Mag beim ersten

hender Betrachtung neue Materialqualitäten und eine ganz eigene Materialästhetik in den Fokus. Vergleicht man die Farbigkeit von Plastiken wie dem Hl. Benedikt mit dem Engel mit Marmorskulpturen wie Jacopo Sansovinos Hl. Jakobus, zeigt sich, dass Begarellis Tonoberflächen einen viel wärmeren Farbton besitzen als der gräulich-weiße Marmor (Abb. 6 und 7). Sollte es sich bei den Weißfassungen zudem um einen eher leichten, lasierenden und nicht stark deckenden Farbauftrag gehandelt haben, wie in der Literatur gelegentlich beschrieben wird, besteht zudem die Möglichkeit, dass das Trägermaterial Ton durch die Weißfassung nicht gänzlich verdeckt wurde, sondern durchschien, was sich allerdings an dieser Stelle nicht näher verifizieren lässt.56 Anstatt die auf Rezipientenseite er-

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kannte Täuschung als Defizit der Materialillusion zu begreifen, „die die angestrebte Gleichwertigkeit mit echten Marmor- und Bronzearbeiten wieder aufhob“,57 soll die Dialektik von Illusion und Desillusionierung als subtiles Spiel des Künstlers mit Materialitäten und Oberflächenwirkungen aufgefasst werden. Es lässt sich festhalten, dass für die Oberflächenwirkung von Begarellis Werken somit zwei Aspekte von Bedeutung sind: Zum einen die gestaltete Tonoberfläche, der Begarelli den Anschein von Weichheit und Geschmeidigkeit verlieh und eine spannungsreiche Oberflächentextur mit Hell-Dunkel-Effekten kreierte, und zum anderen die auf der Oberfläche der Terrakotta aufgetragene, annähernd monochrome Weißfassung, die offenbar den Eindruck von Marmor evozierte. Diese beiden Aspekte voneinander zu trennen, erscheint nicht sinnvoll, da in der Wahrnehmung des Betrachters beides zusammenspielt. Es ist anzunehmen, dass die durch die Weichheit und differenzierte Strukturierung hervorgerufenen Hell-Dunkel-Effekte gerade bei weiß gefassten Plastiken eine besonders suggestive Wirkung entfalten. Dass es sich bei den Fassungen offenbar zudem nicht um ein homogenes, sondern, wie im Fall des Hl. Benedikt in San Benedetto in Polirone, um ein nuanciertes Weiß handelte, mag den Eindruck einer weichen, belebten Oberfläche zusätzlich unterstrichen haben. Begarellis spezifische Oberflächengestaltung trägt dazu bei, die lebendige Wirkung seiner Figuren zu unterstreichen, die zudem maßgeblich aus den häufig figurenreichen, bewegten Kompositionen und ihrem narrativen Potenzial resultiert. Bei der Kreuzabnahme in San Francesco wird der Anschein von Lebendigkeit durch die szenische Anordnung eines dreizehnköpfigen Figurenpersonals, die dynamischen Bewegungsmotive und affektiven Gesten der Figuren sowie durch die Bewegtheit der Gewänder hervorgerufen (Abb. 4). Doch auch bei weniger bewegten Werken, wie der Zweifigurengruppe des Hl. Benedikt mit dem Engel, wird durch den agilen Putto und seine partielle Herauslösung aus der Nische eine räumliche Aktivierung erzeugt, die den Betrachter in die Szene involviert. Die emotionale Anteilnahme des Betrachters und seine Versenkung in die sakralen, häufig passionsgeschichtlichen Themen scheinen eine zentrale Wirkungsabsicht von Begarelli gewesen zu sein. In seinen bewegten Kompositionen und in der Oberflächengestaltung seiner Bildwerke, mit denen er die Betrachteransprache forciert, kommt das Innovationspotenzial des emilianischen Tonplastikers zum Ausdruck.

Materialevokation in der Plastik und Skulptur des Quattro- und Cinquecento Die Materialevokationen lassen sich somit nicht lediglich als Verlegenheitslösung deuten, weil Begarelli das teurere oder aufwendiger zu beschaffende Material Marmor nicht zur Verfügung stand, sondern müssen vielmehr als kreative künstlerische Entscheidungen aufgefasst werden. Seine Marmorfiktionen stellen sicherlich einen Sonderfall dar, doch handelt es sich bei der Materialevokation keinesfalls um ein peripheres Phänomen. So lassen sich weitere

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1. KORREKTUR 2 3 4

Bildhauer aus dem Quattro- und Cinquecento nennen, die mit der Oberflächengestaltung ihrer Bildwerke experimentierten, um so ein anderes, in der Regel höherwertigeres Material wie Marmor, Bronze oder Gold zu fingieren.Vasari nennt beispielsweise ein von Jacopo della Quercia (1374–1438) anlässlich des Begräbnisses von Giovanni d’Azzo gefertigtes ephemeres Reiterstandbild, das aus einer innovativen Mischtechnik unter anderem aus Ton, Schurwolle, Teig und Lehm hergestellt war. Den Eindruck des Materials beschreibt Vasari wie folgt: Tatsächlich war und ist diese Methode mehr als jede andere für diese Art von Werken geeignet, denn obwohl die so realisierten Arbeiten den Eindruck großer Schwere vermitteln, sind sie doch nach dem Trocknen leicht und wirken weiß getüncht wie aus Marmor [Herv. d. Verf.], was sie dem Auge gefällig macht, wie es bei besagtem Werk von Jacopo der Fall war.58

Die Evokation des Materials Marmor scheint auch bei Donatellos (1386–1466) CavalcantiVerkündigung in Santa Croce in Florenz eine Wirkungsabsicht gewesen zu sein, denn im Zuge der Restaurierung des grauen Sandstein-Tabernakels konnte nachgewiesen werden, dass ursprünglich offenbar das gesamte Relief in einem elfenbeinfarbenen Ton mit punktuellen Vergoldungen gefasst war.59 Donatello evozierte weißen Marmor und damit ein edleres Material,60 doch ist zu vermuten, dass es ihm darum ging, eine eigenständige, mit dem spezifischen Werkstoff macigno verbundene Materialästhetik zu erschaffen.61 Bei macigno handelt es sich um einen bei Florenz gebrochenen Stein, der in der Region vor allem im Bereich der Architekturdekoration zum Einsatz kam. Es ist denkbar, dass sich Donatello mit dem grauen Sandstein, der zwar weniger wertvoll als Marmor war, in der Toskana aber eine lokale Tradition besaß, gezielt auseinandersetzte und sein Potenzial als bildhauerisches Material erprobte.62 Wie Donatello schuf der zunächst in Florenz, dann in Rom und ab 1527 in Venedig tätige Bildhauer Jacopo Sansovino nicht nur Werke aus Marmor und Bronze, sondern arbeitete auch mit kostengünstigeren oder weniger dauerhaften Materialien wie Terrakotta, Cartapesta und stucco. Von Sansovino und seiner Werkstatt sind diverse Madonnenreliefs

ELEKTRONISCHER ren, hat die Restaurierung des Reliefs Madonna mit Kind (um 1545–1550) aus dem Museo SONDERDRUCK aus Cartapesta (Papiermaché) überliefert.63 Während einige der Cartapesta-Reliefs, wie

die sogenannte Madonna mit dem Pardelfell (Berlin, Bode-Museum), polychromiert wa-

del Cenedese in Vittorio Veneto gezeigt, dass es ursprünglich weiß gefasst war, wodurch offenbar der Anschein von Marmor erweckt werden sollte.64 Auch lassen sich gerade im Cinquecento weitere Beispiele materialfingierender Fassungen von Terrakottaplastiken nennen: So rühmt Sabba da Castiglione in einer 1560 ­publizierten Quelle „una figura di un San Girolamo di terra, ma finta di bronzo“ des Tonplastikers Alfonso Lombardi, die sich in seinem Besitz befand.65 Giovanni Angelo Montorsolis (1507?–1563) weiß gefasste Terrakottafiguren Moses und Hl. Paulus (um 1536) im Kapitelsaal von Santissima Annunziata in Florenz imitieren Birgit Laschke zufolge ebenfalls Marmorskulpturen.66

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Es ist anzunehmen, dass so bedeutende Künstler wie Donatello, Jacopo Sansovino und Montorsoli, die auch Marmorskulpturen schufen, ihre Bildwerke nicht aus der Not heraus mit einer Marmor evozierenden Fassung ausstatteten. Die Materialevokation in der Plastik und Skulptur des Quattro- und Cinquecento sollte daher vielmehr als eine künstlerische Invention, als eine kreative Auseinandersetzung der Künstler mit Oberflächen und Materialien begriffen werden. Die Bildwerke unterlaufen die dichotomische Vorstellung von monochromen Bronzeplastiken und Marmorstatuen auf der einen Seite und polychromer, lebensnaher (Terrakotta-)Plastik auf der anderen Seite – eine Unterscheidung, die schon in der frühneuzeitlichen Kunstliteratur zumindest latent vorhanden war. Begarellis Oberflächengestaltungen, die im Einzelfall noch genauer zu untersuchen wären, könnten als Ausgangspunkt dafür dienen, Materialevokationen bei Bildwerken des Quattro- und Cinquecento in Oberitalien systematischer zu beleuchten. Allerdings wäre auch hier Vorsicht geboten, da stets geklärt werden müsste, ob die materialevozierende Fassung auch tatsächlich der originalen Fassung entspricht. An dieser Stelle eröffnet sich allerdings ein komplexer Problembereich, denn bei einigen Werken hat sich herausgestellt, dass die materialfingierende Fassung erst zu einem viel späteren Zeitpunkt angebracht worden ist. Als Beispiel ist das Terrakottarelief des Altarretabels der Cappella Ovetari in der Eremitani-Kirche in Padua aus dem Quattrocento zu nennen. Das 1448 in Auftrag gegebene und den DonatelloSchülern Giovanni da Pisa und Niccolò Pizzolo zugeschriebene Bildwerk ist mit einer dunklen, das Material Bronze fingierenden Farbfassung versehen, die von der kunsthistorischen Forschung noch bis in die 2000er-Jahre als original angesehen wurde.67 Schriftquellen und Restaurierungsbefunde lassen jedoch darauf schließen, dass das Relief ursprünglich polychromiert war und Vergoldungen aufwies und dass der bronzefarbene Anstrich aus dem 18.  Jahrhundert stammt.68 In diesem Fall erweist sich die Fassung des Reliefs nicht als ursprüngliche Intention der Künstler, sondern als Produkt eines nachträglichen Eingriffs. In diesem Kontext wäre es erforderlich, den Blick auf die Rezeptionsgeschichte, die Objektbiografie des Bildwerks zu lenken und nach der Umwertung zu fragen, die es im 18. Jahrhundert erfuhr.

Terminologische Überlegungen: „Monochromie“ und „Polychromie“ Zudem stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer geschärften Begrifflichkeit, um die Fassung der Werke adäquat zu beschreiben. Begarellis Plastiken, wie auch Werke anderer Bildhauer, deren Oberflächengestaltung auf eine Materialevokation abhebt, zeichnen sich in der Regel nicht durch eine extensive, auf eine Naturnähe abzielende Mehrfarbigkeit aus, sondern weisen eine Farbreduktion auf, die den Eindruck eines (annähernd) monochromen Bildwerks hervorrufen kann. Der Begriff „Monochromie“ wurde von der kunsthistorischen Forschung bislang vor allem im Hinblick auf die Gattung Malerei intensiv diskutiert.69 Bisherige Überlegungen

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zur monochromen Skulptur galten vor allem den frühneuzeitlichen Marmor- und Bronzebildwerken Italiens sowie der Holzskulptur um 1500 im nordalpinen Raum.70 In diesen Fällen betrifft die Monochromie materialsichtige Werke, wobei der Verzicht auf eine buntfarbige Bemalung mit einem neuen Interesse an Materialien und Oberflächenreizen sowie der Zurschaustellung einer virtuosen Arbeitstechnik zusammenzuhängen scheint. Angesichts der Materialität und Farbigkeit vieler Steine (Adern, Flecken etc.), differenzierter Oberflächenbehandlungen – glatt polierte gegenüber rauen Partien, dem Einsatz von Teilvergoldungen, Farbpigmenten oder Lasuren – lässt sich in der aktuellen Forschung allerdings die Tendenz erkennen, den Begriff zu problematisieren.71 Die Terrakottaplastik wurde aus dieser Diskussion bislang weitgehend ausgeklammert. Dies mag damit zusammenhängen, dass in der Frühen Neuzeit für Tonplastiken eine Bemalung in den meisten Fällen offenbar als notwendig angesehen wurde, sodass ungefasste Tonplastiken im Quattro- und frühen Cinquecento eben nicht die Regel waren.72 Und schließlich handelt es sich auch bei Begarellis Werken nicht um unbehandelte Oberflächen, sondern der Eindruck des Monochromen wird vielmehr durch die Fassung, durch den Einsatz der „unbunten“ Farbe Weiß, hervorgerufen. Da Begarellis Bildwerke aber häufig nicht völlig monochrom weiß erscheinen, ist fraglich, ob der Begriff Monochromie adäquat ist. Im Vergleich zu monochromen Skulpturen werden polychromierte Skulpturen und Plastiken in der Regel in stärkerem Maße mit einer naturalistischen Gestaltungsweise in Verbindung gebracht.73 Polychromie muss jedoch nicht immer auf eine Naturimitation abheben; so kann beispielsweise durch den Einsatz von Vergoldungen oder durch nuancierte Weißtöne ebenfalls eine ästhetische Differenz hervorgerufen werden. 74 Wenn einerseits Polychromie nicht per se eine naturnahe Farbgebung bedeutet, andererseits Monochromie selten in Reinform existiert, ist die Gegenüberstellung dieser Termini im Hinblick auf dreidimensionale Bildwerke zu hinterfragen.

Für die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Künstler bildete die Oberflächengestaltung

ELEKTRONISCHER dellierten, durch atmosphärische Helldunkel-Werte belebten Tonoberflächen von Antonio SONDERDRUCK

ihrer Bildwerke ein wichtiges Mittel, um die Wirkung ihrer Werke zu steigern oder den semantischen Gehalt der Kunstwerke zu unterstützen oder zu erweitern. Die weich moBegarellis Plastiken stimulieren die taktile Wahrnehmung des Betrachters und tragen zu dem „lebendigen“ Ausdruck seiner Figuren bei. Mit seinen spezifischen Fassungen erzeugte der Modeneser Tonplastiker zudem eine neuartige Farb- und Materialästhetik, die in der Wahrnehmung zwischen den Materialien Ton und Marmor und den damit verbundenen Wirkungen und Valenzen oszilliert. Seine Werke, die sich gängigen Stil- und Epochenzuschreibungen entziehen, sind nicht einfach als Marmorimitationen zu begreifen, sondern regen vielmehr dazu an, die dichotomische Gegenüberstellung von Monochromie und Polychromie, hohen und niederen Materialien, Peripherie und Zentrum und damit verbundene kunsthistoriografische Zuschreibungen neu zu verhandeln.

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Anmerkungen 1

Bereits Plinius erwähnt in seiner Naturkunde Modena (lat. Mutina) als wichtigen Herstellungsort für Tonwaren; C. Plinius Secundus d. Ä., Naturalis historiae/Naturkunde. Lat.  – dt., hrsg. und übers. von R. König, München 1978, Buch 35, S. 114; vgl. Kathleen Weil-Garris, „Were this clay but marble“. A reassessment of Emilian terracotta group sculpture, in: Le Arti a Bologna in Emilia dal XVI al XVII secolo (Comité International d’Histoire de l’Art), hrsg. von A. Emiliani, Bologna 1982, S. 61–79, hier S. 66; Markus Küffner, Die Figurengruppe des von Engeln umgebenen Christus am Kreuz. Ein neoklassizistisches Arrangement von Bildwerken Begarellis, in: Das Bode-Museum. Projekte und Restaurierungen, hrsg. von D. Köcher und B. Buczynski, Lindenberg im Allgäu 2011, S. 194–225, hier S. 197, Anm. 25.

2

Giorgio Vasari. Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architettori, hrsg. von G. Milanesi, 9 Bde., Florenz 1878–1885, Bd. 6, S. 483. Siehe auch: „[...] ed in San Benedetto di Mantova ha fatto buon numero di figure tutte tonde e grandi quanto il naturale, fuor della chiesa, per la facciata e sotto il portico in molte nicchie, tanto belle, che paiono di marmo.“ Ebd., S. 484.

3

Beispielsweise wurde bei Begarellis erstem Auftragswerk, seiner sogenannten Madonna di Piazza (1522, Modena, Museo Civico), vertraglich festgelegt, dass die Terrakottafigur wie Marmor wirken solle („que de marmore videbitur“); zit. nach Sabine Fett, Studien zum Werk des Antonio Begarelli. Eine rezeptionsästhetische Analyse des „Kunstwerk“-Charakters (Diss. Kiel 1993), Frankfurt/Main u. a. 1996, Anhang 1, S. 273. Die dezidierte Orientierung der Farbfassung an Marmor resultierte wahrscheinlich daraus, dass die Modeneser Kommune, die das Werk in Auftrag gab, zunächst eine Statue aus Carrara-Marmor vorgesehen hatte; ebd., S. 125–128. Durch Restaurierungen und kunsttechnologische Untersuchungen konnten an verschiedenen Werken Begarellis Reste ursprünglicher Weißfassungen nachgewiesen werden. Für Angaben siehe insbesondere: Giorgio Bonsanti, Antonio Begarelli, Modena 1992; Uber Ferrari, Il restauro, in: Antonio Begarelli. Il gruppo plastico di S. Domenico, hrsg. von G. Bonsanti, Modena 1986, S. 47–51; Uber Ferrari, Note sul complesso delle statue di Antonio Begarelli nella chiesa di San Benedetto Polirone, in: Dal Correggio a Giulio Romano. La committenza di Gregorio Cortese, hrsg. von P. Piva und E. Del Canto, Manuta 1989, S. 263–266. Zu den Restaurierungsbefunden der Kreuzigungsgruppe im Berliner Bode-Museum siehe ausführlich Küffner 2011 (Anm. 1), hier bes. S. 212–225.

4

Weil-Garris 1982 (Anm. 1), bes. S. 62–63.

5

Dabei hat sich die kunsthistorische Forschung bislang insbesondere mit materialikonologischen Fragestellungen beschäftigt. Aus der Fülle an Beiträgen seien hier erwähnt: Günter Bandmann, Bemerkungen zu einer Ikonologie des Materials, in: Städel-Jahrbuch 2, 1969, S. 75–100; Wolfgang Kemp, Material der bildenden Kunst. Zu einem ungelösten Problem der Kunstwissenschaft, in: Prisma (Gesamthochschule Kassel) 9, 1975, S. 25–34; Thomas Raff, Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe (Kunstwissenschaftliche Studien 61), München 1994; Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, hrsg. von M. Wagner, D. Rübel und S. Hackenschmidt, München 2010; Ann-Sophie Lehmann, How Materials Make Meaning, in: Meaning in Materials, 1400–1800 (Netherlands Yearbook for History of Art 2012, 62), hrsg. von A.-S. Lehmann, F. Scholten und P. Chapman, Leiden/Boston 2013, S. 6–27.

6

Exemplarisch sei hier auf die Ausstellung zu den Della Robbia in den Vereinigten Staaten verwiesen: Della Robbia. Sculpting with Color in Renaissance Florence, Ausst.-Kat. (Boston, Museum of Fine Arts und Washington, National Gallery, 2016–2017), hrsg. von M. Cambareri, Boston 2016. Insbesondere die Literatur zu den Sacri Monti hat in jüngster Zeit stark zugenommen, verwiesen sei lediglich auf folgende Titel: Alessandro Nova, „Popular“ Art in Renaissance Italy. Early Response to

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1. KORREKTUR 2 3 4

the Holy Mountain at Varallo, in: Reframing the Renaissance. Visual Culture in Europe and Latin America 1450–1650, hrsg. von C. Farago, New Haven/London 1995, S. 113–126 und 319–321; Gabriele Landgraf, Die Sacri Monti im Piemont und in der Lombardei. Zwischen Wirklichkeitsillusion und Einbeziehung der Primärrealität (Diss. Heidelberg 1999), Frankfurt/Main/New York 2000; Christine Göttler, The Temptation of the Senses at the Sacro Monte di Varallo, in: Religion and the Senses in Early Modern Europe (Intersections 26), hrsg. von W. de Boer und C. Göttler, Leiden/Boston 2013, S. 393–451; Guido Gentile, Sacri Monti, Turin 2019; Geoffrey Symcox, Jerusalem in the Alps. The Sacro Monte of Varallo and the Sanctuaries of North-Western Italy, Turnhout 2019.   7 Vgl. Küffner 2011 (Anm. 1), S. 194. Für einen Literaturbericht siehe ebd., S. 194–196. Verwiesen sei hier auf die maßgeblichen Forschungen zu Antonio Begarelli von Giorgio Bonsanti; Bonsanti 1992 (Anm. 3); Emozioni in Terracotta. Guido Mazzoni/Antonio Begarelli, sculture del Rinascimento emiliano, Ausst.-Kat. (Modena, Foro Boario, 2009), hrsg. von G. Bonsanti und F. Piccinini, Modena 2009. Sabine Fett lieferte mit ihrer 1996 erschienenen Dissertation die bislang einzige umfassende monografische Studie zu Begarelli aus dem deutschsprachigen Raum; Fett 1996 (Anm. 3). Von den aktuellen Studien zu Begarelli sei die Dissertation von Erin Giffin hervorgehoben, die unter Berücksichtigung materialspezifischer Fragestellungen Begarellis Kreuzabnahme (1531, Modena, S. Francesco) behandelt: Erin Giffin, Body and Apparition. Material Presence in Sixteenth-Century Religious Sculpture (Diss., University of Washington, 2017), bes. S. 77–105.   8 Auf die periphere Stellung Begarellis in der Skulpturenforschung hat auch Erin Giffin hingewiesen; Giffin 2017 (Anm. 7), S. 78. Wichtige Fragen für eine Problematisierung des starren Verhältnisses von „Zentrum“ und „Peripherie“ wurden von Nicos Hadjinicolaou aufgeworfen; Nicos Hadjinicolaou, Kunstzentren und periphere Kunst, in: kritische berichte 11/4, 1983, S. 36–56. Im Bemühen, die „Renaissance“ als gesamteuropäisches Phänomen zu betrachten, hat Peter Burke den Blick auf die Randgebiete Europas verlagert; Peter Burke, The European Renaissance. Centres and Peripheries, Oxford 1998.   9 Ursula Schlegel, Eine Neuerworbene Christusbüste des Ludovico Begarelli, in: Berliner Museen 11/2, 1961, S. 44–51, hier S. 46. 10 Kathleen Weil-Garris bezeichnet Begarellis Stil als „lyrical classicism“ und zugleich als „genuine proto-Baroque“; Weil-Garris 1982 (Anm. 1), S. 69. Dabei wurden von der frühen Kunstgeschichte die auf die Bildhauerei des Seicento vorausweisenden Elemente negativ beurteilt, so flattern Jacob Burckhardt zufolge die Draperien bei Begarellis Kreuzabnahme „als wehte von Neapel her bereits der berninische Scirocco hinein.“ Jacob Burckhart, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Architektur und Sculptur (Jacob Burckhardt Werke. Kritische Ge-

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samtausgabe 2), hrsg. von B. Roeck u. a., München/Basel 2001, S. 517.

11 Ronald W. Lightbown, Correggio and Begarelli. A Study in Correggio Criticism, in: The Art Bulletin 46, 1964, S. 7–21, hier S. S. 7.

12 Neben der Madonna di Piazza sind zu nennen: Madonna mit Kind (Maria immaculata), 1532– 1536, Modena, San Pietro; Maria mit Kind und Johannesknaben, 1543/1544, Parma, San Giovanni Evangelista; Madonna mit Kind, um 1535–1540, Modena, Galleria Estense; Madonna mit Kind, 1545, Monteorsello di Guiglia, Pfarrkirche. 13 Als paradigmatisches Quellenbeispiel kann Lodovico Dolce (L’Aretino, 1557) angeführt werden: „E certo il colorito è di tanta importanza e forza, che, quando il pittore va imitando bene le tinte e la morbidezza delle carni e la proprietà di qualunque cosa, fa parer le sue pitture vive e tali che lor non manchi altro, che ’l fiato.“ Lodovico Dolce. Dialogo della pittura intitolato l’Aretino, in: Trattati d’arte del Cinquecento fra Manierismo e Controriforma (Scrittori d’Italia 219), hrsg. von P. Barocchi, Bari 1960, Bd. 1, S. 141–206, hier S. 183. Für weitere Quellenbeispiele siehe Karl ­Möseneder, „Morbido, morbidezza“. Zum Begriff und zur Realisation des „Weichen“ in der Plastik des Cinquecento, in: Docta

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Manus. Studien zur italienischen Skulptur für Joachim Poeschke, hrsg. von J. Myssok und J. Wiener, Münster 2007, S. 289–299. Der Topos der „Lebendigkeit“ in der Kunst der Frühen Neuzeit ist von Frank Fehrenbach umfassend untersucht worden. Verwiesen sei auf die jüngst erschienene Publikation Quasi vivo, die auf verschiedenen früheren Veröffentlichungen des Autors basiert, und in der er seine Überlegungen zu diesem Thema bündelt und erweitert; Frank Fehrenbach, Quasi Vivo. Lebendigkeit in der italienischen Kunst der Frühen Neuzeit (Naturbilder. Images of Nature 5), Berlin/Boston 2021. 14 Einen Höhepunkt erfährt dieser bildhauerische Topos im Seicento; siehe hierzu Joris van Gastel, Il Marmo Spirante. Sculpture and Experience in Seventeenth-Century Rome (Studien aus dem Warburg-Haus 12), Berlin 2013; Kinew, Shawon: La morbidezza in pietra. Il concetto di scultura nella „Rosa da Lima“ di Melchiorre Cafà, in: Gli allievi di Algardi. Opere, geografia, temi della scultura in Italia nella seconda metà del Seicento, hrsg. von A. Bacchi, A. Nova und L. Simonato, Mailand 2019, S. 249–269; Helen Boeßenecker, Skulpturale Altäre im römischen Seicento. Die Vergegenwärtigung des Sakralen (Diss. Bonn 2017), Petersberg 2020, bes. S. 315–378. Zur Weichheit als „Prinzip“ siehe den Beitrag von Carina A.E. Weißmann in diesem Band. 15 Vgl. Hans Körner, Versteinerte Skulpturen. Oberflächenwerte der Skulptur von Gianlorenzo Bernini bis zu Antonio Canova und Bertel Thorvaldsen, in: Sinne und Verstand. Ästhetische ­Modellierungen der Wahrnehmung um 1800 (Stiftung für Romantikforschung 18), hrsg. von C. Welsh und C. Dongowski, Würzburg 2001, S. 103–126, bes. S. 106–108. 16 Bereits von Vasari wurde der wallende Bart des Moses als flaumig weich charakterisiert; VasariMilanesi 1878–1885 (Anm. 2), Bd. 7, S. 166; vgl. Möseneder 2007 (Anm. 13), S. 292. 17 Vgl. ebd., S. 294. 18 Das Kompositionsschema dieser beiden Figurengruppen geht auf eine Bildfindung Raffaels zurück, die durch einen Stich Marcantonio Raimondis und einen Holzschnitt Ugo da Carpis druckgrafisch verbreitet wurde; vgl. Fett 1996 (Anm. 3), S. 43. 19 Vasari-Milanesi 1878–1885 (Anm. 2), Bd. 1, S. 149; vgl. Möseneder 2007 (Anm. 13), S. 292. 20 Von der Freundschaft und Zusammenarbeit der beiden Künstler berichtet erstmals der Modeneser Historiker Lodovico Vedriani in seiner Schrift Raccolta de’ Pittori, Scultori, et Architetti Modonesi più celebri (1662). Vgl. Lodovico Vedriani. Raccolta de’ Pittori, Scultori, et Architetti Modonesi più Celebri, Modena 1662, S. 48 und S. 50. Der geradezu topischen Erwähnung der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Begarelli und Correggio in der Kunsthistoriografie ist Ronald W. Lightbown nachgegangen; Lightbown 1964 (Anm. 11). Zu einem möglichen künstlerischen Austausch zwischen dem Plastiker Begarelli und dem Maler Correggio siehe ferner Davide Gasparotto, Begarelli e Correggio. Tracce di un dialogo fra scultura e pittura, in: Correggio, Ausst.-Kat. (Parma, Galleria Nazionale, 2008–2009), hrsg. von L. Fornari Schianchi, Mailand 2008, S. 427–435; Giorgio Bonsanti, Correggio e Begarelli fra realtà e leggenda, in: Taccuini d’arte 6, 2012, S. 35–42. 21 Vgl. Vedriani 1662 (Anm. 20), S. 48. 22 Vgl. Lorenz Dittmann, Farbgestaltung und Farbtheorie in der abendländischen Malerei. Eine Einführung, Darmstadt 1987, S. 160–161. Correggio hat das sanfte chiaroscuro vor allem bei seinem ursprünglich für die Kirche San Prospero di Castello in Reggio Emilia geschaffenen Altarbild Anbetung der Hirten (um 1530, Dresden, Kunstsammlungen) als Gestaltungsmittel eingesetzt. Siehe hierzu Claudia Steinhardt-Hirsch, Correggios „Notte“. Ein Meisterwerk der italienischen Renaissance, München/Berlin 2008, bes. S. 67–71. Zu Correggio siehe weiterführend: David Ekserdjian, Correggio, New Haven/London 1997. 23 „[...] tanta era la morbidezza delle carni ch’egli faceva, e la grazia con che finiva i suoi lavori.“ Vasari-Milanesi 1878–1885 (Anm. 2), Bd. 4, S. 112; „[...] di morbidezza colorite e d’ombre di carne lavorate, che non parevano colori, ma carni.“ Ebd., S. 115. Vgl. auch die Beobachtungen bei Fett 1996 (Anm. 3), S. 85.

132 I Helen Boeßenecker DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

24 Die Bedeutung und der Einfluss des im Jahr 1007 gegründeten Klosters verdanken sich den Verbindungen zu der Familie Canossa. Die Auftragsvergabe an Begarelli erfolgte wahrscheinlich durch Anregung von Gregorio Cortese, der von 1538 bis 1542 Abt des Klosters war. Die Nischenfiguren befinden sich heute im Portikus, im Quer- und Langhaus, im Chorumgang, in der Chorapsis und in der Sakristei; Fett 1996 (Anm. 3), S. 67–68. An der im 16. Jahrhundert erfolgten Neuausstattung des Klosters waren neben Begarelli die Künstler Giulio Romano und Correggio beteiligt. 25 Vgl. Ferrari 1989 (Anm. 3), S. 265. Dass die Nischenfiguren in San Benedetto in Polirone von Beginn an weiß gefasst waren, wird durch die Angaben bei Vasari als zeitnaher Quelle gestützt (siehe Anm. 2). 26 Wie Frank Fehrenbach ausgeführt hat, stellte der „gemalte Blick“ für die frühneuzeitlichen Künstler offenbar ein zentrales Anliegen dar. So wird auch bei den farbreduzierten glasierten Terrakotta-Bildwerken der Della Robbia der Blick der Figuren durch den Einsatz von schwarzer oder blauer Farbe intensiviert; Frank Fehrenbach, „Eine Zartheit am Horizont unseres Sehvermögens“. Bildwissenschaft und Lebendigkeit, in: kritische berichte 38/3, 2010, S. 33–44, hier S. 38. Zur Wirkkraft des intersubjektiven Blicks siehe grundsätzlich Hans Belting, Zur Ikonologie des Blicks, in: Ikonologie des Performativen, hrsg. von C. Wulf und J. Zirfas, München 2005, S. 50–58. 27 Neben Schwarz und Grau wird Weiß üblicherweise zu den sogenannten unbunten Farben und folglich nicht zu den Farben im engeren Sinne gerechnet; vgl. Barbara Oettl, Weiss in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Studien zur Kulturgeschichte einer Farbe, Regensburg 2008, S. 16. Oettl spricht sich jedoch für eine erweiterte Begrifflichkeit aus, da nicht zuletzt im Hinblick auf das Farbmaterial, die Materialität des Pigments, Weiß als Farbe gegriffen werden kann; ebd., S. 17– 18. Zum Weiß siehe ferner Weiß, hrsg. von W. Ullrich und J. Vogel, Frankfurt/Main 2003; Weiß. Aspekte einer Farbe in Moderne und Gegenwart, Ausst.-Kat. (Würzburg, Museum im Kulturspeicher, 2014), hrsg. von M. Lauter, Würzburg 2014. 28 Allerdings ist nicht gesichert, ob die Nische bzw. Nischengestaltung der ursprünglichen Aufstellungssituation entspricht. 29 Ferrari 1989 (Anm. 3), S. 265. Der Terminus hat sich insbesondere in der italienischsprachigen Forschung als Bezeichnung für Begarellis Weißfassungen etabliert. 30 Vgl. Ferrari 1986 (Anm. 3), S. 50–51; Ferrari 1989 (Anm. 3), S. 264–265; Fett 1996 (Anm. 3), S. 132; Bruce Boucher, Italian Renaissance Terracotta. Artistic Revival or Technological Innovation?, in: Earth and Fire. Italian Terracotta Sculpture from Donatello to Canova, Ausst.-Kat. (Houston, ­Museum of Fine Arts und London, Victoria and Albert Museum, 2001–2002), hrsg. von B. Boucher, New Haven/London 2001, S. 1–31, hier S. 24–26; Küffner 2011 (Anm. 1), S. 214.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

31 Vgl. Pietro Tranchina, Scultura in terracotta. Trattamenti superficiali di finitura, in: Materiali e strutture 6, 2008 (2009), S. 34–57, bes. S. 51–57. 32 Vgl. Tranchina 2009 (Anm. 31), S. 44.

33 Francesco Forciroli. Vite dei modenesi illustri, hrsg. von S. Cavicchioli, Modena 2007, S. 100. 34 Ferrari 1986 (Anm. 3), S. 51; Fett 1996 (Anm. 3), S. 133 und S. 135–136; Maria Grazia Vaccari, Guido Mazzoni e Antonio Begarelli. Due maestri della terracotta tra tecnica e problemi di conservazione, in: Emozioni in Terracotta. Guido Mazzoni/Antonio Begarelli, sculture del Rinascimento emiliano, Ausst.-Kat. (Modena, Foro Boario, 2009), hrsg. von G. Bonsanti und F. Piccinini, Modena 2009, S. 85–90, hier S. 87. 35 Vgl. Küffner 2011 (Anm. 1), S. 206–207, Anm. 116. 36 Vgl. Weil-Garris 1982 (Anm. 1), S. 66; Monika Wagner, Marmor, in: Lexikon des künstlerischen Materials 2010 (Anm. 5), S. 174–182, hier S. 177. Zur Auffindung und Wertschätzung der antiken Statuen in der Frühen Neuzeit siehe Francis Haskell und Nicholas Penny, Taste and the Antique. The Lure of Classical Sculpture, 1500–1900, New Haven u. a. 1982; Leonard Barkan, Unearthing

„… il colore di marmo, che paiono proprio di quella pietra“ I 133

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the Past. Archaeology and Aesthetics in the Making of Renaissance Culture, New Haven u. a. 1999; Phyllis Pray Bober, Ruth Rubinstein und Susan Woodford, Renaissance Artists and Antique Sculpture. A Handbook of Sources, London 2010. 37 Vgl. Fett 1996 (Anm. 3), S. 26. Zu Reflexen von Werken Raffaels, Michelangelos und Jacopo Sansovinos im Œuvre Begarellis siehe Schlegel 1961 (Anm. 9), S. 46, Anm. 6; Martin Gaier, Antonio Begarelli und Jacopo Sansovino. Grabmäler für Kardinäle und Protonotare in Rom und Modena, in: Grab – Kult – Memoria. Studien zur gesellschaftlichen Funktion von Erinnerung, hrsg. von C. Behrmann, A. Karsten und P. Zitzlsperger, Köln u. a. 2007, S. 159–180, bes. 168–174. 38 Vgl. Lightbown 1964 (Anm. 11), S. 17, Anm. 54; Gaier 2007 (Anm. 37), S. 169. 39 Vgl. Weil-Garris 1982 (Anm. 1), S. 69: Küffner 2011 (Anm. 1), S. 202. 40 „Passando da Modana, vedde di mano di maestro Antonio Bigarino modanese, scultore, che aveva fatto molte figure belle di terra cotta e colorite di colore di marmo, le quali gli parsono una eccellente cosa; e perchè [sic] quello scultore non sapeva lavorare il marmo, disse: Se questa terra diventassi marmo, guai alle statue antiche!“; Vasari-Milanesi 1878–1885 (Anm. 2), Bd. 7, S. 281 (dt. Übers.: Giorgio Vasari. Das Leben des Michelangelo, neu übers. von V. Lorini, hrsg. von C. Gabbert, Berlin 2009, S. 210). 41 Vasari-Milanesi 1878–1885 (Anm. 2), Bd. 5, S. 87. Vasaris negatives Urteil drückt die Haltung aus, dass die Herstellung von Marmor- und Bronzeskulpturen eine schwierigere und anspruchsvollere Tätigkeit darstellt als die Bearbeitung der plastischen Materialien Ton, Stuck und Wachs, weshalb sich Vasaris Auffassung nach Alfonso Lombardi, den er als eitel und ruhmsüchtig beschreibt, den plastischen Materialien zuwendete, um sich nicht „mit der Bemeißelung von Stein abzuplagen.“ Norberto Gramaccini, Alfonso Lombardi (Neue kunstwissenschaftliche Studien 9), Frankfurt/Main 1980, S. 10; vgl. Weil-Garris 1982 (Anm. 1), S. 66; Küffner 2011 (Anm. 1), S. 200–201, Anm. 62. 42 Vgl. Monika Wagner, Ton, in: Lexikon des künstlerischen Materials 2010 (Anm. 5), S. 224–231, hier S. 226. 43 Vgl. Ferrari 1986 (Anm. 3), S. 51; Fett 1996 (Anm. 3), S. 175–177 und S. 187; Vaccari 2009 (Anm. 34), S. 87; Küffner 2011 (Anm. 1), S. 203. Erin Giffin hingegen plädiert dafür, Begarellis Werke als „more than mere facsimiles“ zu begreifen; Giffin 2017 (Anm. 7), S. 102. 44 Vgl. Weil-Garris 1982 (Anm. 1), S. 69. 45 Wagner 2010 (Anm. 42), S. 224–225. Die Bezeichnung des Töpfertons als „Urstoff“ stammt von Gottfried Semper. Siehe Gottfried Semper, Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik (Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde 2), München 1863, S. 1. 46 Vgl. Plinius Nat. Hist. (Anm. 1), Buch 35, S. 108. 47 Vgl. Iris Wenderholm, The Gaze, Touch, Motion. Aspects of Hapticity in Italian Early Modern Art, in: Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit, hrsg. von M. Rath, J. Trempler und I. Wenderholm, Berlin 2013, S. 51–68, hier S. 57–58. 48 „Artes eorum, qui ex corporibus a natura procreatis effigies et simulacra suum in opus promere aggrediuntur, ortas hinc fuisse arbitror. Nam ex trunco glebave et huiusmodi mutis corporibus fortassis aliquando intuebantur lineamenta nonnulla, quibus paululum immutatis persimile quidpiam veris naturae vultibus redderetur.“ Leon Battista Alberti. Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, Darmstadt 2000, hrsg. von O. Bätschmann und C. Schäublin, § 1, S. 142. Vgl. Wenderholm 2013 (Anm. 47), S. 58. 49 Zum Konzept der Mimesis siehe grundlegend Nicola Suthor, Mimesis. Bildende Kunst, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von G. Ueding, Tübingen 2001, Bd. 5, Sp. 1294–1316. 50 Vgl. Wenderholm 2013 (Anm. 47), S. 57.

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Magdalena Bushart / Andreas Huth (Hg.): superficies MAGDALENA BUSHART, HENRIKE HAUG (HG.): GETEILTE ARBEIT. ISBN 978-3-412-51682-6 © 2020 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE. KG, WIEN KÖLN WEIMAR

1. KORREKTUR 2 3 4

51 Leon Battista Alberti nennt Reinheit und weißen Glanz als Merkmale des weißen Marmors („perpurissimi marmoris candor“); Leon Battista Alberti. L’Architettura [De Re Aedificatoria], hrsg. und übers. von G. Orlandi, 2 Bde., Mailand 1966, hier Bd. 2, S. 663. Der Bildhauer und Kunstliterat Orfeo Boselli schreibt im Seicento in seinem Skulpturentraktat: „Il Marmo Bianco fù, et sarà sempre la più proporzionata Matteria che possa trovarsi per fare le statue; et tengo per certo, che la Natura a questo effetto lo generasse, Candido, Lavorabile, et Durevole.“ Orfeo Boselli. Osservazioni della scoltura antica, dai manoscritti Corsini e Doria e altri scritti, hrsg. von P. Dent Weil, Florenz 1978, fol. 9. Zur Materialität des monochromen Marmors im Spiegel kunsttheoretischer Schriften der Frühen Neuzeit siehe Boeßenecker 2020 (Anm. 14), S. 316–321. 52 Beispielsweise bezeichnet Markus Küffner Begarellis Fassungen als „Marmorimitationsfassung“; Küffner 2011 (Anm.  1), S.  202 und 203. Auch Sabine Fett spricht an mehreren Stellen von einer„marmorimitierenden Malerei“ (S. 128) bzw. „materialimitierenden Fassung“ (S. 175). Vgl. Fett 1996 (Anm. 3). 53 Vgl. Giffin 2017 (Anm. 7), bes. S. 89–91. 54 Eine ähnliche Beobachtung bereits bei Fett 1996 (Anm. 3), S. 177. 55 Siehe Anm. 2. und Anm. 40. 56 Sabine Fett zufolge handelt es sich um eine „leichte, marmorimitierende Fassung“; Fett 1996 (Anm. 3), S. 138. Auch Pietro Tranchina spricht von einer „leggera colorazione chiara“; Tranchina 2009 (Anm. 31), S. 51. 57 Fett 1996 (Anm. 3), S. 177. 58 „Il qual modo di fare fu veramente ed è il miglior di tutti gli altri per simili cose; perchè, sebbene l’opere che in questo modo si fanno, sono in apparenza gravi, riescono nondimeno, poi che son fatte e secche, leggieri, e, coperte di bianco, simili al marmo e molto vaghe all’occhio, siccome fu la detta opera di Iacopo.“ Vasari-Milanesi 1878–1885 (Anm. 2), Bd. 2, S. 110 (dt. Übers. nach Giorgio Vasari. Das Leben des Bildhauers Jacopo della Quercia, Niccolò Aretino, Nanni di Banco und Luca della Robbia. Neu übersetzt und kommentiert, hrsg. von A. Nova u. a., Berlin 2010, S. 19–20). 59 Vgl. Diane Finiello Zervas und Brenda Preyer, Donatello’s ‚Nunziata del Sasso‘: The Cavalcanti Chapel at S. Croce and its Patrons, in: The Burlington Magazine 150, 2008, S. 152–165, hier S. 158. 60 Vgl. Fehrenbach 2010 (Anm. 26), S. 37; vgl. auch Frank Fehrenbach, Coming Alive. Some Remarks on the Rise of „Monochrome“ Sculpture in the Renaissance, in: Notes in the History of Art 30/3, 2011, S. 47–55, bes. S. 47. 61 Zu dieser Vermutung bereits Boeßenecker 2020 (Anm. 14), S. 106.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

62 In diesem Kontext ist interessant, dass im Umkreis von Donatello und Desiderio da Settignano weitere Skulpturen aus macigno entstanden. Siehe Alan Phipps Darr und Brenda Preyer, Donatello, Desiderio da Settignano and His Brothers and „Macigno“ Sculpture for a Boni Palace in Florence, in: The Burlington Magazine 141, 1999, S. 720–731.

63 Ausgehend von einer Unterscheidung Wilhelm von Bodes differenziert die Forschung bei Sansovinos Cartapesta-Reliefs zwischen zwei verschiedenen Madonnen-Typen, zum einem dem sogenannten Pardelfell-Typus, zum anderen dem Vittorio-Veneto-Typus, wobei von Letzterem eine größere Anzahl an Ausführungen erhalten ist; vgl. Bruce Boucher, The Sculpture of Jacopo Sansovino, 2 Bde., New Haven/London 1991, Bd. 2, S. 347. 64 Vgl. Christoph Zindel, Die Madonna mit dem Pardelfell von Jacopo Sansovino (1486–1570), in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 6/1, 1992, S. 95–138, bes, 98. Vgl. auch Boucher 1991 (Anm. 63), Bd. 2, S. 351. 65 Sabba da Castiglione. Ricordi di monsignor Sabba da Castiglione, cavalier gierosolimitano, Venedig 1560, 58v; Fett 1996 (Anm. 3), S. 176, Anm. 120.

„… il colore di marmo, che paiono proprio di quella pietra“ I 135

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66 Vgl. Birgit Laschke, Fra Giovan Angelo da Montorsoli. Ein Florentiner Bildhauer des 16. Jahrhunderts (Diss. Freie Universität Berlin, 1990), Berlin 1993, S. 35. 67 Siehe beispielsweise Keith Shaw und Theresa Boccia-Shaw, A Reconstructive Model for Donatello’s Santo Altar, in: The Sculpture Journal 11, 2004, S. 4–31, hier S. 17–18. 68 Die Restaurierungsergebnisse des Ovetari-Reliefs sind publiziert bei Fabrizio Magani, La terracotta della Cappella Ovetari, in: Andrea Mantegna. Impronta del genio, convegno internazione di studi, hrsg. von R. Signorini, V. Rebonato und S. Tammaccaro, Florenz 2010, Bd. 1, S. 99–135. Siehe auch Davide Banzato, Note sulla scultura e la plastica a Padova fra Quattro e Cinquecento, in: Donatello e la sua lezione. Sculture e oreficerie a Padova tra Quattro e Cinquecento, Ausst.Kat. (Padua, Musei Civici agli Eremitani und Palazzo Zuckermann, 2015), hrsg. von D. Banzato und E. Gastaldi, Mailand 2015, S. 15–24, hier S. 17; Elisabetta Gastaldi, Katalogeintrag zu Antonio Gradenigo (Nr. 21), ebd., S. 96–97. 69 Dabei hat sich die Forschung mit der Monochromie in der frühneuzeitlichen Malerei vor allem im Kontext von Grisaillen beschäftigt. Vgl. Kirsten Lee Bierbaum und Claudia Lehmann: Einleitung, in: Plain white? Zur Monochromie frühneuzeitlicher Skulptur und Stuckplastik, hrsg. von Kirsten Lee Bierbaum und Claudia Lehmann, Zeitschrift für Kunstgeschichte 82/3, 2019, S. 291–298, hier S. 291 und S. 296, Anm. 2 mit der Diskussion einschlägiger Literatur. 70 Siehe Patrik Reuterswärd, The Breakthrough of Monochrome Sculpture during the Renaissance, in: Konsthistorisk tidskrift 69/3–4, 2000, S. 125–149; Fehrenbach 2011 (Anm. 60). Das von Kirsten Lee Bierbaum und Claudia Lehmann jüngst herausgegebene Themenheft der Zeitschrift für Kunstgeschichte Plain white? Zur Monochromie frühneuzeitlicher Skulptur und Stuckplastik (siehe Anm. 69) stellt die Frage nach der Funktion und Semantik von monochrom weißen Skulpturen und Raumausstattungen in der Vormoderne. Zur farbreduzierten Holzskulptur im nordalpinen Raum siehe Johannes Taubert, Zur Oberflächengestalt der sog. ungefaßten spätgotischen Holzplastik, in: Städel-Jahrbuch 1, 1967, S. 119–139; Jörg Rosenfeld, Die nichtpolychromierte Retabelskulptur als bildreformerisches Phänomen im ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit (Diss. Hamburg, 1990), Ammersbek bei Hamburg 1990; Georg Habenicht, Das ungefasste Altarretabel. Programm oder Provisorium, Petersberg 2016; Britta Dümpelmann, Farbreduktion und Fiktionalität in der Skulptur und den graphischen Künsten des 15. und 16.  Jahrhunderts, in: Chiaroscuro als ästhetisches Prinzip. Kunst und Theorie des Helldunkels 1300–1550, hrsg. von C. Lehmann u. a., Berlin 2018, S. 311–332. 71 Vgl. Fehrenbach 2011 (Anm. 60), S. 51–53. 72 Pomponius Gauricus nennt in seinem Skulpturentraktat De sculptura (1504) die Farbfassung als notwendigen finalen Arbeitsschritt bei der Anfertigung einer Plastik. Siehe Pomponio Gaurico. De sculptura (1504), hrsg. von A. Chastel und R. Klein, Genf 1969, S. 241; vgl. Fett 1996 (Anm. 3), S. 174. Eines der wenigen Beispiele einer ungefassten Terrakottaplastik bildet die Madonna dell’Ulivo in Prato von Benedetto da Maiano (1442–1497); siehe hierzu den Beitrag von Doris Carl in diesem Band. 73 Da durch den Einsatz von echten Haaren, Glasaugen etc. die Illusion von Lebensechtheit bei manchen polychromierten Werken, wie beispielsweise den Terrakottafiguren der Sacri Monti in Italien, noch einmal gesteigert wird, werden bisweilen Begriffe wie Verismus oder Hyperrealismus zu ihrer Charakterisierung angewendet. Zur „veristischen“ Skulptur siehe weiterführend Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken, Ausst.-Kat. (Frankfurt, Liebighaus, 2014–2015), hrsg. von S. Roller, München 2014. Siehe hierzu auch den Beitrag von Sven Jakstat in diesem Band. 74 Zu dem differenzierten Einsatz der Farbe Weiß in der polychromierten (Holz-)Skulptur des Mittelalters siehe Elisabeth Sobieczky, White in Medieval Sculpture Polychromy. Iconography, Reception, Restoration, in: Plain white? Zur Monochromie frühneuzeitlicher Skulptur und Stuckplastik 2019 (Anm. 69), S. 299–320.

136 I Helen Boeßenecker DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

Sven Jakstat

Inkarnationen Verismus und Materialästhetik in spanischen Bildwerken des 17. Jahrhunderts

Der Mund der Mater Dolorosa ist zu einem leisen flehentlichen Stöhnen geöffnet (Abb. 1).1 Über ihre zart modellierten Wangen rinnen feucht glänzende Tränen, deren Verlauf sich deutlich auf dem hellen Inkarnat abzeichnet. Gedankenverloren sind ihre ­Augen nach oben ins Leere gerichtet. Auf bestürzende Weise macht die in der Berliner Gemäldegalerie ausgestellte Büste die Schmerzen erfahrbar, die Maria in Anbetracht des Opfertods ihres Sohns erfahren hat.2 Trotz der Reduktion auf den Kopf und die Schulterpartie evoziert das Bildwerk die physische Präsenz der Gottesmutter. Dieser Effekt ist maßgeblich auf das fein austarierte Zusammenspiel zwischen dem dreidimensional gestalteten Bildkörper und der weitgehend original erhaltenen farbigen Fassung zurückzuführen.3 Insbesondere die Hautpartien vermitteln den Eindruck, als habe der Werkstoff fleischliche Eigenschaften angenommen. Nicht nur im Bereich des sanft gewellten Doppelkinns erscheint das Material, aus dem die ­ Büste gefertigt wurde, geschmeidig weich. Allein durch die Betrachtung ist kaum zu entscheiden, welches Material sich unter der Oberfläche verbirgt.4 Das Pappelholz wird vollständig von der

ELEKTRONISCHER Verbindung mit der Farbe SONDERDRUCK

Farbe verdeckt. Keinerlei Spuren deu-

ten auf die Tätigkeit des Bildschnitzers hin. In

scheint sich der Werkstoff in fleischliche Substanz verwandelt zu haben.

1  Pedro Roldán, Mater Dolorosa, Pappelholz polychromiert, Glas, ca. 1670/1675, 33 × 28,5 × 18,3 cm (ohne Platte), Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzanti­ nische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz

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2  Röntgenaufnahme von Abb. 1 (Pedro Roldán, Mater Dolorosa)

Velázquez’ Schwiegervater, der Maler und Kunsttheoretiker Francisco Pacheco (1564–1644), beschrieb in seinem 1649 posthum publizierten Malereitraktat Arte de la pintura den Prozess der farbigen Fassung von Holzskulpturen als „encarnación“.5 Wie der deutschsprachige Fachterminus für Hautfarbe, Inkarnat, leitet sich das Wort encarnación vom kirchenlateinischen incarnare, „zu Fleisch werden“, ab.6 Die Bezeichnung ist etymologisch eng mit dem Begriff Inkarnation, also dem christlichen Mysterium der Fleischwerdung von Gottes Wort verwandt. Im Kontext polychromierter Holzskulpturen beschreibt der Begriff demzufolge nicht nur die Oberflächengestaltung eines dreidimensionalen Bildwerks mit Hautfarbe, sondern impliziert in einem metaphorischen Sinn zugleich auch die Fleischwerdung des durch die Skulptur vergegenwärtigten und durch den Farbauftrag verlebendigten Körpers.7 Die ästhetische Wirkung derart inkarnierter Bildwerke wird heute häufig als „veristisch“ beschrieben.8 Nach dem Lexikon für Ästhetik wird unter dem Begriff „Verismus“ auf systematischer Ebene die „Zuspitzung eines mimetischen Kunstverständnisses bis hin zur scheinbaren Aufhebung der Differenz von Abbild und Realität“ verstanden.9 Dieser ­Aspekt erweist sich im Hinblick auf die Frage nach der Funktion und Bedeutung der Oberflächengestaltung polychromer Skulpturen als ebenso zentral wie die Beschreibung des Prozesses der farbigen Fassung als encarnación. Zugleich insinuiert die Vorstellung der In-

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1. KORREKTUR 2 3 4

karnation eines Bildwerks mithilfe der farbig gestalteten Oberfläche eine grundlegende Abhängigkeit der Bildhauerei von der Malerei: Insofern, als der Eindruck entsteht, dass die Bildhauerei nur mithilfe der Malerei in der Lage sei, eine lebensechte Bildwirkung zu erzielen. Das auf diese Weise implizierte Abhängigkeitsverhältnis, das sich an der mit Farbe gestalteten Oberfläche der Skulpturen spannungsreich zuspitzt, hat dazu geführt, dass sich – im Rekurs auf die Paragonedebatten des 16. Jahrhunderts in Italien – in der Forschung der Eindruck einer tiefgreifenden Konkurrenz von Malerei und Bildhauerei verfestigt hat.10 Das wirkungsästhetische Potenzial, das Maler und Bildhauer in der produktiven Zusammenarbeit an der Oberfläche farbig gefasster Bildwerke entfalten, wurde im Zusammenhang mit der Bildproduktion in Spanien hingegen nur selten zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht.11 Farbig gefasste Holzskulpturen wie die Mater Dolorosa werden aufgrund ihres kollaborativen Herstellungsprozesses zumeist ­einer handwerklich geprägten Tradition zugerechnet, die mit dem spätestens seit Vasari etablierten Ideal des kraftvoll schaffenden Künstlergenies nur schwer in Einklang zu bringen ist.12 Im Vergleich etwa zu materialsichtigen Marmor- oder Bronzeskulpturen, die als Verkörperungen reinen Formwillens und geistiger Schöpferkraft einen festen Platz im intellektuellen Kunstdiskurs gefunden haben, tut sich die Kunstgeschichte mit dem Verismus der spanischen Barockskulptur, die auf eigentümliche Weise aus der Zeit gefallen zu sein scheint, nach wie vor schwer.13 Die Auseinandersetzung mit der Oberflächengestaltung polychromer Holzskulpturen des spanischen Siglo de Oro kann dazu beitragen, dieses Bild mithilfe eines auf die materiellen und medienspezifischen Eigenschaften der Bilder Wert legenden Forschungsansatzes zu differenzieren.14 Die Mater Dolorosa und der Cristo ­Yacente (Abb. 3), die im Mittelpunkt des Beitrags stehen, bieten sich als exemplarische Untersuchungsgegenstände für ein derartiges Vorhaben deshalb an, da sie trotz eines vergleichbaren Anspruchs auf Präsenz und Lebendigkeit hinsichtlich ihrer Materialität und Oberflächengestaltung fundamentale Unterschiede aufweisen.15

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

3  Gregorio Fernández, Cristo yacente, Pinienholz polychromiert, Glas, Kork, Elfenbein, tierisches Horn, ca. 1625–1630, 46 × 191 × 74 cm, Valladolid, Museo Nacional de Escultura (Dauerleihgabe des Museo Nacional de Prado, Madrid)

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Nicht zuletzt befördert die Annahme einer vermeintlichen Verwandlung des Werkstoffs durch den Farbauftrag, wie sie in der Bezeichnung der farbigen Fassung als encarnación anklingt, die Idee einer sich (vor allem im Rahmen religiöser Rituale) beinahe vollständig einlösenden Wirklichkeitsillusion, bei der die Gläubigen wie bei einer „Sinnestäuschung“ kaum mehr in der Lage sind, zwischen Abbild und Realität zu unterscheiden.16 Wie am Beispiel des Cristo Yacente von Gregorio Fernández gezeigt werden soll, bleiben bei einer solchen Interpretation veristisch gestalteter Skulpturen zentrale Charakteristika farbig ­gefasster Bildwerke unberücksichtigt (Abb. 3). Im konkreten Fall des Cristo Yacente geht es dabei um die Frage, inwieweit die Erkennbarkeit des Holzes unter der farbigen Fassung relevant für die ästhetischen Erscheinung des Bildwerks sein konnte und inwieweit die auf diese Weise bewerkstelligte Offenlegung des Gemachtseins der Skulptur vor dem H ­ intergrund religiöser und künstlerischer Debatten eine semantische Aussagedimension zukommt.

Die Augen der Mater Dolorosa Bei der Mater Dolorosa spielt die Oberflächengestaltung eine zentrale Rolle für das Verfahren der ästhetischen Illusionserzeugung (Abb. 1). Das Holz, aus dem die Büste geschnitzt ist, bleibt aufgrund der Opazität der polychromen Fassung dem menschlichen Auge verborgen. Eine Transformation des Werkstoffs in fleischliche Substanz wird suggeriert. Die lebendige Wirkung der lebensgroß gestalteten Büste ist jedoch nicht nur auf die Polychromie zurückzuführen. Sie ist in gleichem Maße bereits in der plastischen Gestaltung des Holzes angelegt. Dies gilt bereits für grundlegende Entscheidungen bezüglich der Anlage der Büste, wie etwa die energische Wendung des Kopfs zur Seite. Aber auch nebensächlich erscheinende Details wie der krumme Nasenrücken, die leicht zusammengezogenen Brauen oder die asymmetrische Stellung der Augen befördern die angestrebte Illusion von Lebendigkeit. Die farbige Fassung nimmt dabei subtil auf die bereits im skulptierten Bildträger angelegten Ausdruckswerte Bezug. Den zart modellierten Gesichts­formen wird mithilfe fein gesetzter Schattierungen zusätzliche Plastizität verliehen. Das zarte Rot der Lippen lässt den Eindruck entstehen, als ob in ihnen Blut pulsiere, und die Augenhöhlen wirken aufgrund der subtilen Färbung des Inkarnats, als wären sie vom Weinen gerötet. Um den Realitätseindruck der Büste zu steigern, wurden bestimmte Elemente nicht aus Holz geschnitzt oder mit Farbe gemalt, sondern separat aus anderen Materialien gefertigt. Im Spanischen werden derartige Hinzufügungen postizos genannt, was so viel bedeutet wie „falsche“ oder „künstliche“ Materialien.17 Im deutschen Sprachraum hat sich dafür die Bezeichnung „Fremdmaterialien“ etabliert.18 Es kann sich dabei sowohl um organische als auch künstlich hergestellte Materialien handeln. Bei der Mater Dolorosa kommen postizos unter anderem bei der Gestaltung der Augen und Tränen zum Einsatz, die aus Glas beziehungsweise aus Harz gefertigt sind. Abbruchstellen an den oberen Lidern weisen zudem darauf hin, dass dort ursprünglich Echthaarwimpern befestigt waren.19

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1. KORREKTUR 2 3 4

Einen wesentlichen Anteil an der lebenswirklichen Erscheinung der Mater Dolorosa haben zudem die mit einer glänzenden Glasschicht überzogenen Augen. Um das feuchte Glänzen der Tränenflüssigkeit auf der Hornhaut des Auges zu imitieren und um den Eindruck realer Augen zu evozieren, wurden die Iris, die Pupille und die Sklera mit zarten Pinselstrichen auf die Rückseite von Glaskappen gemalt. Diese Kappen, die im Spanischen als tapillas bezeichnet werden, wurden anschließend mit einer modellierbaren Füllmasse in den Augenhöhlen befestigt, wie die kürzlich erstellten Röntgenaufnahmen belegen (Abb. 2).20 Dass die Augen essenziell für die lebenswirkliche Erscheinung dreidimensionaler Bildwerke sind, ist seit Langem bekannt. Bereits in der Antike ist die Praxis belegt, die Augen separat, aus einem anderen Material anzufertigen, um auf diese Weise eine möglichst überzeugende Wirklichkeitsillusion zu erzielen.21 Auch in der spanischen Barockskulptur kam der Ausarbeitung der Augen große Bedeutung zu.22 In zahlreichen Dokumenten wird über die verlebendigende Wirkung von Augen reflektiert. So erkannte bereits der Maler und Theoretiker Francisco de Holanda (um 1517/1518–1584) im Glanz der Augen das Element, das entscheidend zur lebenswirklichen Erscheinung figürlicher Darstellungen beiträgt. In seinem um 1548 verfassten und bereits 1563 ins Spanische übersetzten Traktat De la pintura antigua empfahl er den Malern, genau zwischen die Iris und die Sklera einen glänzend weißen Lichtpunkt zu setzen, den er „realzo“ nannte. Dieser entfalte solche „Anmut und Kraft“ („gracia y vigor“), dass die Augen so lebendig erscheinen, als ob sie sich tatsächlich bewegen würden.23 Und auch in einer vielfach zitierten Passage aus dem 1603 geschlossenen Vertrag für den Cristo de la Clemencia in Sevilla wird die verlebendigende Wirkung der Augen explizit benannt.24 Die von Juan Martínez Montañés (1568– 1649) geschnitzte und von Francisco Pacheco gefasste Christusfigur sollte dem Wunsch des Auftraggebers, Mateo Vázquez de Leca, entsprechend so gestaltet werden, dass der Eindruck entstünde, als ob die Skulptur mit den Augen den Bewegungen der vor sie tretenden Gläubigen folge.25 Die Anfertigung der Augen stellt zugleich eine Sonderform der Oberflächengestaltung dar. Bei den tapillas, die bei der Mater Dolorosa zum Einsatz kommen, handelt es

ELEKTRONISCHER Abrieb und verleiht ihnen dauerhaft einen lebensechten Glanz. Wer im Fall der Dolorosa SONDERDRUCK sich um eine spezielle Variante der Hinterglasmalerei.26 Die Malschicht liegt hier nicht auf der Oberfläche des Glases auf, sondern befindet sich unter ihr. Dies schützt die Augen vor

für die Anfertigung der Glaskappen und ihre Bemalung verantwortlich war, ist nicht geklärt. Wahrscheinlich wurden die Glaskappen von spezialisierten Handwerkern angefer-

tigt, während die Ausführung der Malerei vermutlich in den Verantwortungsbereich der Fassmaler fiel.27 In seiner Monografie zu Pedro Roldán (1624–1699), dem die Mater Dolorosa seit einer frühen Publikation Frieda Schottmüllers zugeschrieben wird, nennt José Roda Peña eine Vielzahl von Malern, mit denen Roldán im Laufe seiner Karriere zusammengearbeitet hat, darunter so namhafte Künstler wie Juan de Valdés Leal.28 Auch wenn die Aufgabenverteilung heute nicht mehr bis ins Detail zu bestimmen ist, so wird erneut deutlich, dass das wirkungsästhetische Potenzial polychromer Holzskulpturen nicht das

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Resultat einer individuellen künstlerischen Leistung ist, sondern ganz grundsätzlich aus der produktiven Zusammenarbeit zahlreicher Akteure resultiert.29 Der Herstellungsprozess einer farbig gefassten Holzbüste setzte ein hohes Maß an ­Koordination und Planung voraus. Obwohl die Augenkapseln der Dolorosa separat hergestellt wurden, berücksichtigte man dabei die Bedingungen, unter denen die Büste später betrachtet wurde. Zwar ist ihr ursprünglicher Aufstellungsort nicht bekannt, die unterschiedliche Größe der Pupillen und das Fehlen der unteren Zahnreihe weisen jedoch auf einen idealen Standpunkt für die Betrachtung von schräg unten rechts hin. 30 Nur von ­einem solch erhöhten Standpunkt aus erscheinen die Pupillen in etwa gleich groß und auch das Fehlen der unteren Zahnreihe fällt aus diesem Winkel nicht auf.31 Darüber hinaus legt die nicht gefasste flache Rückseite der Büste nahe, dass sie ausschließlich für eine Betrachtung von vorn oder von der Seite konzipiert war, da die unbehandelte Holzfläche ursprünglich mit Sicherheit nicht sichtbar war. Folglich muss die Büste leicht erhöht vor einer Wand, etwa an einem Altar oder in einem Privatoratorium, aufgestellt gewesen sein. Möglicherweise wurde sie in einem nach vorne offenen Schaukasten präsentiert, wie dies heute bei der Mater Dolorosa in San Alberto in Sevilla der Fall ist, die ebenfalls mit dem Umfeld Pedro Roldáns in Verbindung gebracht wird.32 Wie diese, wird auch die Berliner Dolorosa ursprünglich eine Büste Christi im gleichen Maßstab als Pendant gehabt haben. In der Gegenüberstellung mit Christus tritt die Passion als Gegenstand der Trauer Mariens noch deutlicher in den Vordergrund als dies bei der isolierten Büste der Fall ist. Durch die kontemplative Betrachtung der Mater Dolorosa sollte der Opfertod Christi unmittelbar nachfühlbar werden. Im Vordergrund stand nicht ein konkreter Augenblick in Marias Leben, sondern, wie Iris Wenderholm schreibt, ein „überzeitlicher Zustand der Trauer“.33 Das affektive Potenzial des Bildwerks basiert dabei maßgeblich auf dem durch die veristische Gestaltung hervorgerufenen Präsenzeffekt.34 Zwar ist – nicht nur aufgrund der Reduktion auf den Kopf und die Schultern – immer klar, worum es sich handelt, nämlich um eine skulptierte und mit Farbe gefasste Repräsentation Mariens. Dennoch vermittelt die Büste den Eindruck, als wäre Maria leibhaftig anwesend. Die Irritation, die dieser Seheindruck auslöst, wird durch die Diskrepanz zwischen der geringen Stofflichkeit der das Gesicht rahmenden Textilien einerseits und der frappierenden fleischlichen Wirkung des Inkarnats andererseits verstärkt. Es drängt sich zwangsläufig die Frage auf, wie es möglich war, mit den Mitteln der Bildhauerei und der Fassmalerei einen derart überzeugenden Wirklichkeitseindruck zu erzeugen.35

Die Oberflächengestaltung dreidimensionaler Bildwerke in Francisco Pachecos Arte de la Pintura Die eingangs erwähnten Bemerkungen Pachecos zum Prozess der sogenannten encarnación sind nicht nur hinsichtlich ihres bildtheoretischen Potenzials von großem Interesse.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Sie sind auch insofern exzeptionell, als in der spanischen Kunstliteratur des 17. Jahrhunderts keine vergleichbaren Stellungnahmen zur Oberflächengestaltung polychromer Holzskulpturen zu finden sind.36 Wie die Mehrzahl der Malereitraktate des spanischen Barocks zielte ein erheblicher Teil der Abhandlung Pachecos auf die Nobilitierung der Malerei als Freie Kunst.37 Wie Karin Hellwig in ihren grundlegenden Studien zum Thema verdeutlicht hat, hofften die Maler auf diese Weise eine Verbesserung der sozioökonomischen Be­ dingungen zu bewirken, unter denen sie lebten und arbeiteten.38 Ein Mittel, um diesen Anspruch zu rechtfertigen, war der kompetitive Vergleich von Malerei und Bildhauerei.39 In diesem Kontext sind auch einige der häufig zitierten Einlassungen Pachecos zur Fassung von Bildwerken zu verorten, in denen er den Malern eine essenzielle Rolle bei der Vollendung der Skulpturen zuerkannte. Dieser Aspekt erlangte auch deshalb Brisanz, da die farbige Fassung von Skulpturen aufgrund der damals auf der Iberischen Halbinsel bestehenden Zunftregeln zumeist nur von spezialisierten Fassmalern, nicht aber von den Bildhauern selbst ausgeführt werden durfte.40 Infolgedessen entbrannte eine Debatte darüber, ob die lebendige Wirkung der Bildwerke in erster Linie auf die Fähigkeiten des Fassmalers oder auf das Gestaltungsvermögen des Bildschnitzers zurückzuführen sei. Pacheco selbst hatte zahlreiche Skulpturen von Juan Martínez Montañés, einem der erfolgreichsten Bildhauer seiner Zeit, polychromiert.41 Vor diesem Hintergrund ist es ­wenig erstaunlich, dass es seiner Meinung nach erst die farbige Fassung war, die den Skulpturen Leben einhauchte.42 Hierin sah er auch die Ursache für die Abhängigkeit der Bildhauerei von der Malerei, wie er in der 1622 verfassten Schrift „An die Lehrmeister der Kunst der Malerei“ (A los profesores del Arte de la Pintura) darlegte.43 Mit dem Kurztraktat positionierte er sich innerhalb eines Disputs zwischen den Malern und Bildhauern Sevillas.44 Entgegen den bestehenden Übereinkünften hatte Martínez Montañés den Gesamtauftrag für ein Altarbild im Kloster Santa Clara übernommen und dem von ihm beauftragten Fassmaler nicht nur einen deutlich geringeren Anteil an den Einnahmen zugestanden als sich selbst, sondern auch die Ausführung der Malerei bis ins Detail vertraglich vorbestimmt. Pacheco kri­tisierte daraufhin das Verhalten des Bildhauers als inakzeptabel, da dieser sich

ELEKTRONISCHER Malerei. Dagegen setzteSONDERDRUCK er die Überzeugung, dass „eine Figur aus Marmor und Holz die

ohne Berechtigung ein Urteil über Malerarbeiten anmaßen würde und allem Anschein nach die Meinung vertrete, dass der Skulptur ein höherer Stellenwert zukomme als der Hand des Malers benötigt, um zum Leben zu erwachen.“45 Ähnlich explizit äußerte sich Pacheco auch in seinem Opus Magnum, dem bereits zitierten Traktat Arte de la Pintura. Darin führte er aus: „Die Skulptur allein kann ohne das Leben der Malerei [sin la vida de la pintura] noch nicht einmal die Tiere täuschen [engañar], (denn man sieht stets das Ma­ terial, aus dem sie geschaffen wurde) [porque se ve la materia de que es formada].“46 Demnach sei eine überzeugende Wirklichkeitsillusion nur dann zu erreichen, wenn das Malmaterial den Werkstoff, aus dem eine Skulptur gefertigt ist, vollständig verdeckt. Die Gemachtheit einer Skulptur sollte nach Pacheco folglich nicht mehr mit dem bloßen Auge erkennbar sein.

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In Anbetracht solcher Äußerungen erlangt die Beschreibung der Oberflächenbehandlung dreidimensionaler Bildwerke als encarnación, im Sinne einer vorgeblichen Verwandlung lebloser Substanz in vermeintlich Lebendiges, tiefere Bedeutung. Dies umso mehr, als Pacheco in dem bereits zitierten Kurztraktat das Inkarnieren der Skulpturen mit dem göttlichen Akt der Schöpfung des Menschen verglich.47 In der entsprechenden Passage, in dem es ihm eigentlich um das höhere Alter der Malerei ging, führte er aus: „[...] und der Mensch aus Lehm war nicht lebendig, bis ihn der Herr durch seinen göttlichen Atem mit Farben bemalte und ihm die Augen öffnete.“48 Die umfangreicheren Äußerungen Pachecos zur Oberflächengestaltung von Holzskulpturen finden sich jedoch nicht in dem Teil seines Traktats, in dem er versucht hat, die Überlegenheit der Malerei über die Bildhauerei zu beweisen, sondern in dem auf die handwerkliche Praxis fokussierten dritten Buch, in dem er unterschiedliche Maltechniken und ihre Wirkungen beschrieb.49 Darin diskutierte er unter anderem, ob mit einem glänzenden oder einem matten Farbauftrag („encarnación de polimento“ beziehungsweise „encarnacion de mate“) eine lebensechtere Wirkung der Skulpturen erzielt werden könne.50 Beide Verfahren unterscheiden sich sowohl im „Grundierungsaufbau“ als auch in der unterschiedlichen Beschaffenheit „der abschließend aufgetragenen Farbschicht“, wie Beate Fücker in ihrem grundlegenden Aufsatz zum Thema resümiert.51 Hinsichtlich der erzielten ästhetischen Wirkung differieren beide Verfahren aber vor allem im unterschiedlichen Verhalten des Lichts auf der Oberfläche der Bildwerke.52 Bei einer glänzenden Fassung wird das einfallende Licht reflektiert, bei einer matten Fassung hingegen absorbiert. Aufgrund der vermeintlich lebendigeren Wirkung favorisierte Pacheco die Verwendung matter, also lichtabsorbierender Fassungen, als deren Erfinder er sich zugleich präsentierte.53 Bei der Gestaltung der Augen empfahl Pacheco seinen Malerkollegen jedoch, sich die Glanzeffekte der polierten Oberflächen zunutze zu machen. „Denn“, so Pacheco, „da alles andere matt ist, erscheinen die Figuren lebendig, wenn ihre Augenlinsen glänzen.“54 Beide Verfahren, der glänzende und der matte Farbauftrag, konnten folglich in Kombination differenziert eingesetzt werden, um auf diese Weise spezifische visuelle Effekte zu erzielen. Karin Hellwig leitet aus dieser kurzen Bemerkung Pachecos ab, dass er die damals weit verbreitete Praxis, „Glasaugen einzufügen, als unangebracht“ erachtete, da „man nach seiner Ansicht mit auf die Holzfläche gemalten Augen den gleichen Effekt erzielen könne.“55 In der Tat ist es bemerkenswert, dass Pacheco die damals häufig praktizierte Technik gänzlich unerwähnt ließ. Doch ob er der Verwendung sogenannter postizos tatsächlich kritisch gegenüberstand, kann meiner Meinung nach aus dieser Passage nicht zwingend abgeleitet werden. Obwohl Pacheco grundsätzlich matt gestaltete Oberflächen bei Bildwerken bevorzugte, war es seiner Meinung nach bei schlecht gearbeiteten Skulpturen – er spricht ausdrücklich von „mala escultura“ – durchaus empfehlenswert, das in der Ausführung aufwendigere Verfahren der polierten Oberflächengestaltung anzuwenden: „Denn das Licht und die Glanzeffekte täuschen über die Defizite“ einer minderwertigen Skulptur hinweg.56 „Gute

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1. KORREKTUR 2 3 4

Skulpturen“ – er spricht in diesem Fall von den „mejores cosas de Escultura“ – sollten seiner Meinung nach hingegen stets matt inkarniert werden. Er begründet dies damit, dass die Skulpturen, wenn sie matt bemalt sind, noch „vollendeter werden und [die Farbe] sich besser mit dem Holz verbinde [...]“.57 Bei dem von Pacheco favorisierten matten Farbauftrag weisen sowohl die Farbschicht als auch die Grundierung zumeist nur eine minimale Stärke auf.58 Dies wiederum hatte zur Folge, dass bei einer derart gestalteten Oberfläche die Qualität der Bearbeitung des Holzes erkennbar bleiben konnte. Folglich würde die Gemachtheit des Bildwerks auf andere Weise erfahrbar werden, als dies etwa bei der Mater Dolorosa der Fall ist, bei der die materielle Beschaffenheit des Werkstoffs unter der opaken Malschicht nicht mehr zu erfassen ist. Ein Aspekt, auf den im Zusammenhang mit dem Cristo Yacente von Gregorio Fernández noch zurückzukommen sein wird (Abb. 3). Vorerst bleibt festzuhalten, dass es Pacheco mit seinem Traktat nicht ausschließlich ­darum ging, die Vorrangstellung der Malerei gegenüber der Bildhauerei darzulegen. Dies zeigt sich besonders deutlich in den Passagen zur handwerklichen Praxis. Seine Bemerkungen zur Oberflächenbehandlung farbig gefasster Holzskulpturen zielten nur in dem Teil seines Traktats auf die Konkurrenz beider Gattungen, in dem er im Rückgriff auf italienische Kunsttraktate die Aufwertung der Malerei als Freie Kunst zu rechtfertigen versuchte. Das auf die künstlerische Praxis und das Materialwissen fokussierte dritte Buch zeugt hingegen von der Wertschätzung des technischen Könnens seiner Bildschnitzerkollegen. Im Vordergrund stand dort nicht der kompetitive Wettstreit beider Gattungen, sondern das wirkungsästhetische Potenzial, das beide Künste in der produktiven Zusammenarbeit und insbesondere bei der Oberflächengestaltung dreidimensionaler Bildwerke entfalten konnten.

Farbe, Holz, Elfenbein, Glas, Horn und Kork. Zur Materialität des Cristo Yacente von Gregorio Fernández Bei der Mater Dolorosa wird das Holz, aus dem sie geschnitzt ist, vollständig von der farbi-

ELEKTRONISCHER abschließend diskutiert SONDERDRUCK werden, inwieweit die latente Transparenz der farbigen Fassung

gen Fassung verborgen (Abb. 1). Die Erkennbarkeit des Werkstoffs spielt für die Wahrnehmung der Büste keine Rolle. Am Beispiel des Cristo Yacente von Gregorio Fernández soll eine grundsätzliche Eigenschaft dieser Skulpturengruppe darstellt, und ob diesem von der Forschung bisher kaum beachteten Aspekt eine semantische Aussagedimension zugesprochen werden kann. Gregorio Fernández (1576–1636) war einer der einflussreichsten Bildschnitzer Kastiliens im 17. Jahrhundert. Im Laufe seiner Karriere hat er zahlreiche lebensgroße Liegefiguren Christi geschnitzt und damit eine überaus erfolgreiche und viel rezipierte Werkgruppe geschaffen.59 Im Folgenden konzentriere ich mich auf jenes Exemplar, das heute im Museo Nacional de Escultura in Valladolid ausgestellt ist (Abb. 3, 4). Diese Skulptur wurde in Vorbereitung auf die Ausstellung The Sacred Made Real aufwendig restauriert, weswegen

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4  Gregorio Fernández, Cristo yacente, Pinienholz poly­chromiert, Glas, Kork, Elfenbein, tierisches Horn, ca. 1625–1630, 46 × 191 × 74 cm, Valladolid, Museo Nacional de Escultura (Dauerleihgabe des Museo Nacional de Prado, Madrid)

umfassende kunsttechnologische Befunde zum Objekt vorliegen.60 Es kann davon ausgegangen werden, dass der heutige Zustand dem vom Künstler intendierten sehr nahekommt.61 Das ist deshalb wichtig, da viele Yacentes bis heute im Rahmen liturgischer Handlungen Verwendung finden und deshalb deren Oberflächen in den vergangenen 400 Jahren häufig erneuert und übermalt wurden. Ursprünglich war der Cristo Yacente in Valladolid für die heute zerstörte Casa Profesa der Jesuiten in Madrid geschaffen worden. Die von Jesús Urrea publizierten Dokumente legen nahe, dass Diego de la Peña und Jerónimo de Calabria das Bildwerk 1627 gefasst haben.62 Die ursprüngliche Positionierung der Skulptur innerhalb der Jesuitenkirche ist jedoch nicht überliefert.63 Einige Yacentes waren in die Predellenzonen großformatiger Retablos eingefügt oder in architektonisch gestaltete Monumenta integriert. Für ­andere Exemplare der Werkgruppe ist die Aufbewahrung und Ausstellung in durchsichtigen Glaskästen, sogenannten urnas, belegt. Letzteres ist auch für den hier behandelten

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1. KORREKTUR 2 3 4

Yacente anzunehmen. Viele der Skulpturen befanden sich zudem in der Klausur von ­Klöstern. Sie wurden nur anlässlich von Karfreitagsprozessionen einem größeren Publikum präsentiert. Sieht man von diesen besonderen Augenblicken ab, so scheinen diese Yacentes insbesondere für eine intime Betrachtung aus der Nähe konzipiert gewesen zu sein, wie auch die zahlreichen berührungsbedingten Abnutzungsspuren an den Skulp­ turen belegen.64 Das Werk bietet den lebensgroß gestalteten Leichnam Christi auf einem zackige Falten werfenden, weißen Tuch dar. Die Schulterpartie ist tief in die weichen Kissen unter dem Kopf eingesunken.65 Offen klaffende Wunden entstellen den idealschön geformten Leib. Schönheit und Schauer sind ebenso spannungsreich in Beziehung zueinander gesetzt wie die harmonisch modellierten Formen des Körpers, die mit den harten Falten der Stoffe kontrastieren. Die Verletzungen sind mit derselben Akribie ausgearbeitet wie die Anatomie des an klassische Statuen erinnernden Körpers. Die Grausamkeit der täuschend echten Wunden erzeugt eine nicht minder starke Anziehungskraft und Faszination wie die erotische Schönheit des beinahe vollständig nackten Körpers, dessen Scham lediglich von einem hellblauen Textil verborgen wird. Da das Lendentuch das Becken nur partiell umschließt, wird die verführerische Nacktheit des Leibs zusätzlich betont.66 Die Wundmale und die bläulichen Verfärbungen der Haut verdeutlichen auf drastische Weise, dass es sich um den leblosen, nach dem Kreuzestod aufgebahrten Leib handeln muss. Die angespannten Muskeln, das feuchte Glänzen der halb geöffneten Augen sowie die Körperhaltung mit dem angezogenen linken Bein, der griffbereiten linken Hand und dem leicht nach oben gereckten Kopf bezeugen zugleich eine paradox anmutende Lebendigkeit des Toten. Die Skulptur changiert permanent zwischen Leben und Tod. Die Wunden rufen aber nicht nur Abscheu und Ekel hervor, sie ermöglichen es auch, sich die Stationen der Leidensgeschichte Christi im imaginativen Nachvollzug zu vergegenwärtigen. Das Blut am Haaransatz verweist auf die Dornenkrönung, die geschundenen Knie und die Wunde an der linken Schulter zeugen vom Tragen des Kreuzes auf dem Weg nach Golgatha. Die blutigen Striemen am Oberkörper evozieren die Peitschenhiebe der

ELEKTRONISCHER renden Lanzenstich des SONDERDRUCK Longinus. Auch die Abnahme vom Kreuz wird mithilfe der BlutGeißelung und die Wundmale an Händen und Füßen stammen von den Nägeln, mit denen

der schwere Leib ans Kreuz geschlagen war. Die Seitenwunde verweist auf den offenbabahnen, die den Körper hinabrinnen, sinnlich erfahrbar gemacht. Als der bereits leblose

Körper vom Kreuz genommen wurde, war das aus den Wunden fließende Blut offenbar noch nicht vollständig geronnen, weswegen es während des Herabnehmens mehrmals die Fließrichtung änderte. Um einen möglichst überzeugenden Wirklichkeitseindruck hervorzurufen, setzte ­Gregorio Fernández verschiedene postizos, separat gearbeitete und anschließend fest mit dem Bildkörper verbundene Fremdmaterialien, ein.67 Die halb geöffneten Augen des ­Yacente bestehen aus buntem Glas, das wahrscheinlich von der Rückseite aus in den ausgehöhlten Bildkörper eingesetzt wurde.68 Die Färbung der Augen ist so fein nuanciert,

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dass an den Rändern der strahlend weißen Bindehaut feine blutunterlaufene Rötungen zu erkennen sind. An den Lidern sind laut dem Restaurierungsbericht noch minimaler Reste echter Wimpern erhalten. Die Zähne wiederum sind aus Elfenbein und die Nägel an Händen und Füßen aus tierischem Horn gefertigt. Mit besonderer Sorgfalt wurden auch die Fleischwunden ausgearbeitet. Um ihnen das Aussehen realer Wunden zu verleihen, setzte man in die dafür vorgesehenen Aussparungen im Holz Korkstücke ein, die anschließend „zerschnitten und zerkrümelt und anschließend gefasst“ wurden.69 In Anbetracht der Vielzahl der zur Verwendung kommenden postizos fällt auf, dass, abgesehen von den Wimpern, auf die Applikation von Echthaar verzichtet wurde. Dies ist umso erstaunlicher, als für den Einsatz künstlicher oder echter Haare auf der Iberischen Halbinsel berühmte Vorbilder, wie der sogenannte Cristo de Burgos, zur Verfügung gestanden hätten.70 Stattdessen sind die Haare des Yacente auf höchst diffizile Art mit dem Schnitzwerkzeug ausgearbeitet. In unzähligen Windungen breiten sich die kräftigen Locken auf dem weißen Kissen aus. Auch das die Scham bedeckende Lendentuch ist mit großer Kunstfertigkeit aus Holz geschnitzt. Bei einem anderen Werk, dem Ecce Homo im Diözesanmuseum in Valladolid, hatte Gregorio Fernández den Körper hingegen völlig nackt ausgeführt und anschließend ein in Leim getränktes Leinentuch (tela encolada) als Lendenschurz verwendet.71 Beim Yacente breiten sich die tief eingeschnittenen Falten des Tuchs hingegen auf komplizierte Weise über der Scham Christi aus. Es scheint, als habe der Bildhauer gerade in der grazilen Ondulierung des Haars und in der auffälligen Komposition des Textils die Virtuosität seines Könnens unter Beweis stellen wollen. Normalerweise wird in den postizos ein künstlerisches Gestaltungsmittel erkannt, das in erster Linie zur Steigerung des Realitätseffekts eingesetzt wurde. Agathe Schmiddunser, die 2008 eine umfassende Studie zu den Yacentes vorgelegt hat, sieht im Einsatz dieser Materialien den Versuch, „die Distanz zwischen Artefakt und Wirklichkeit zu überbrücken: Die Augen reflektieren einen letzten Glanz, Elfenbein und Horn verzögern als langsam vergängliche Materialien scheinbar den Verfall [...]“.72 Sie sieht darin also nicht wie bisher nur ein Experimentieren mit fremden Materialien, um einen größeren Wirklichkeitseffekt zu erreichen, sondern schreibt den postizos darüber hinaus auch eine semantische Dimension zu. Folgt man dieser Interpretation, so handelt es sich um Elemente, die aufgrund ihrer materiellen Eigenschaften dem Begehren nach der andauernden Präsenz des in den Himmel aufgefahrenen und somit dauerhaft absenten Leibs Christi Ausdruck verleihen. Es handelt sich um ein Begehren, das in der ausgestellten Lebendigkeit des Leichnams eine abermalige Zuspitzung erfährt.73 Einen anderen Ansatz verfolgt Tiffany Lynn Hunt in einem unlängst publizierten ­Beitrag.74 Ihrer Meinung nach zielte die veristische Gestaltung der Yacentes nicht nur auf das Einfühlen in die Schmerzen Christi ab. Vielmehr sollte, so Hunt, durch eine Art somästhetisches Rezeptionserlebnis das Erleiden der Qualen am eigenen Leib erfahrbar werden. Um dies zu erreichen, hätten die Bildhauer und Fassmaler, wie die Autorin zu beweisen versucht, unter anderem auf anatomische Studien zurückgegriffen. Das auf diese

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1. KORREKTUR 2 3 4

Weise hervorgerufene Rezeptionserlebnis beschreibt sie wie folgt: „[...] the spectator does not merely see the wound; rather, he or she organizes the visual data into a tactile, ­participatory experience, and reconstructs the acts of trauma onto his or her own body.“75 Und sie fährt fort: „Sculptures like Fernández’s Cristos yacentes trigger empathy by ­convincing the spectator of their anatomical authenticity.“76 Die Annahme, dass eine ­möglichst authentische, mithilfe der postizos die Realität exakt wiedergebende Darstellung der Wunden zu einer intensiveren Wirklichkeits- und Schmerzerfahrung beitrage, führt meiner Meinung nach dazu, dass die Yacentes als bloße Naturnachahmungen, ­jedoch nicht als künstlerisch gestaltete Produkte wahrgenommen werden. Dabei ist es gerade das Wechselspiel zwischen engaño und desengaño, zwischen Täuschung und ­Enttäuschung, zwischen Schein und Sein, das die Eigensinnlichkeit der Yacentes begründet. Interpretationen wie der Hunts liegt die in der Auseinandersetzung mit den Yacentes häufig anzutreffende Annahme einer sich weitgehend ungebrochen einlösenden Wirklichkeitsillusion zugrunde. Grundlegende künstlerische Gestaltungsentscheidungen, die wesentlich für die ästhetische Erscheinung der Yacentes sind – und die maßgeblich auch die Oberflächengestaltung der Skulpturen betreffen –, bleiben dabei zumeist unberücksichtigt. Als der Yacente im Museo Nacional de Escultura in Valladolid restauriert wurde, gelang es, die originale Polychromie der Skulptur größtenteils wiederherzustellen. Dabei bemerkte man, dass sich die farbige Fassung, wie bei anderen Yacentes auch, ursprünglich durch eine latente Transparenz auszeichnete.77 Bei einer nahsichtigen Betrachtung schimmern die Maserungen der verwendeten Holzstücke deutlich sichtbar unter dem Farbauftrag hervor (Abb. 5, 6).78 Die Jahresringe zeichnen sich unter der Gesichtshaut an den Wangen genauso ab wie auf den Gliedmaßen oder auf dem hellblauen Tuch, das die Scham Christi bedeckt. Die farbig gestaltete Oberfläche verbirgt den Bildträger also nicht vollständig. Vielmehr fungiert sie als eine Art Membran, die durch die Oberfläche hindurch auf den Bildkörper blicken lässt. Die Skulptur gibt sich somit als das zu erkennen, was sie ist, als

ELEKTRONISCHER mung unaufhörlich zwischen beiden Rezeptionsebenen, zwischen Illusion einerseits und SONDERDRUCK eine aus Holz geschnitzte und mit Farbe gefasste Repräsentation des toten Leibs Christi.79

Ist man einmal auf diesen Umstand aufmerksam geworden, so changiert die WahrnehIllusionsbrechung andererseits.

Die postizos vergegenwärtigen diese Spannung sehr eindringlich. Haare und Textilien sind normalerweise jene Elemente, an denen bei vergleichbaren Skulpturen die Verwendung von Fremdmaterial besonders offensichtlich zutage tritt. Da beim Yacente auf ­Echthaar verzichtet wurde, fällt der delikate Einsatz der postizos für die Fingernägel, die Wunden, die Zähne und die Augen zuerst gar nicht auf. Erst bei einer nahsichtigen Betrachtung wird ihre andersartige materielle Beschaffenheit überhaupt erst erfahrbar. Auf diese Weise untermauern die postizos auf subtile Art die Virtuosität der künstlerischen Leistung, insofern als der in der Zusammenarbeit von Malerei und Bildhauerei erreichte

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5  Detailaufnahme von Abb. 3 (Gregorio Fernández, Cristo yacente)

Illusionsgrad so hoch ist, dass die Verwendung von echtem tierischem Horn oder von Glasaugen ohne Vorwissen kaum zu erkennen ist. In entgegengesetzter Richtung vergegenwärtigen die postizos aber auch die Grenzen der herkömmlichen mimetischen Bildgebungsverfahren, insofern als sie bewusst machen, dass es mit den Mitteln der Malerei und der Bildhauerei nur bis zu einem gewissen Grad möglich ist, eine vergleichbare illusionistische Wirkung zu erzielen wie mit Horn, Kork oder Elfenbein. Erst in der Gegenüberstellung mit den unter der farbigen Oberfläche sichtbaren Maserungen des Holzes gewinnen diese Aspekte ihre volle Bedeutung.

Idolatrie und Kunst Das Wissen um die spätere Erkennbarkeit der Oberfläche des Holzes unter der transparenten farbigen Fassung war Gregorio Fernández sicherlich Ansporn für eine besonders virtuose künstlerische Leistung. Zugleich stellt sich aber auch die Frage, inwiefern man durch die Zurschaustellung der materiellen Beschaffenheit des Bildwerks nicht auch der

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1. KORREKTUR 2 3 4

6  Detailaufnahme von Abb. 3 (Gregorio Fernández, Cristo yacente)

häufig beschriebenen Gefahr der idolatrischen Verehrung derartiger Bildwerke begegnen wollte. Die idolatrische Verehrung stellte zum Entstehungszeitpunkt der Yacentes eine durchaus mögliche Rezeptionsform dar.80 Repräsentationen der Gottesmutter und des menschlichen Leibs Christi wurden von zahlreichen Theologen auf der Iberischen H ­ albinsel damals der höchstmögliche Grad der kultischen Verehrung, die Latria, zu­erkannt.81 Auch in Francisco Pachecos Arte de la Pintura haben die Fragen nach dem ­richtigen ­Umgang mit sakralen Bildern unmittelbaren Niederschlag gefunden. Wie Felipe ­Pereda aufgezeigt hat,

ELEKTRONISCHER (1522–1597) zum richtigen Umgang mit sakralen Bildern dahin­gehend, dass nicht nur SONDERDRUCK ergänzte Pacheco in jenem Teil seines Traktats, in dem er den ­religiösen Nutzen religiöser Bilder darlegte, die subtilen Ausführungen des italienischen Kardinals Gabriele Paleotti Gottvater, seinem Sohn und dem Heiligen Geist der höchste Grad der Verehrung zukommen sollte, sondern ausdrücklich auch ihren heiligen Bildern („a sus divinas imágenes“) und dem Heiligen Sakrament („al Santísimo Sacra-mento“).82 Dies ist nicht nur insofern relevant, als Paleottis Discorso intorno alle immagini sacre e profane von 1582 zu den wirkmächtigsten bildtheoretischen Schriften aus der Zeit nach dem Konzil von Trient zählt. Pacheco, der Paleottis Text teilweise wörtlich ins Spanische übersetzte und um signifikante Details erweiterte, war neben seinen Aktivitäten als Maler und Kunsttheoretiker auch als Gutachter der Inquisition tätig und im Rahmen dieser Funktion von offizieller Seite mit der Kontrolle religiöser Bilder betraut.

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Die Auftraggeber und der Bildhauer müssen sich darüber im Klaren gewesen sein, dass veristisch gestaltete Skulpturen wie die Yacentes die Gefahr der idolatrischen Verehrung beförderten. Sicherlich war dies ein Grund dafür, warum bei zwei der frühesten Versionen der Yacentes einmal eine Blutreliquie Christi und das andere Mal eine konsekrierte Hostie in die Seitenwunde eingelassen waren.83 Die Seitenwunde des Yacente im Kloster Santa Clara in Lerma (um 1610) barg eine goldene Kapsel mit einem Blutstropfen Christi.84 Der zwischen 1609 und 1612 geschaffene Yacente im Dominikanerkloster San Pablo in Valladolid hatte dort eine Art Kasten, in den die konsekrierte Hostie eingesteckt werden konnte.85 Eine mögliche Verehrung galt hier, so konnte man argumentieren, nicht dem Bildwerk selbst, sondern dem in der Reliquie beziehungsweise in der gewandelten Hostie präsenten Göttlichen. Das Bildwerk trug in beiden Fällen dazu bei, die angenommene Realpräsenz Christi in der Hostie beziehungsweise in der Reliquie durch die sinnlich erfahrbare Repräsentation des Leibs Christi begreifbar zu machen. Demnach scheint es auch kein Zufall zu sein, dass es sich bei diesen beiden frühen Versionen der Yacentes zugleich um jene handelte, bei denen weder postizos noch ein matter Farbauftrag zum Einsatz kamen.86 Dementsprechend war bei diesen Exemplaren eine Erkennbarkeit des Werkstoffs durch die farbig gestaltete Oberfläche hindurch nicht gegeben. Es liegt also nahe, dass bei den späteren Yacentes, wie dem im Museo Nacional de Escultura in Valladolid, die nicht mehr für die Aufnahme von Reliquien vorgesehen waren, durch die Möglichkeit, das Holz bei einer nahsichtigen Betrachtung wahrzunehmen, der kultischen Verehrung des Bildwerks zumindest argumentativ begegnet werden sollte. In diesem Kontext ist auch eine im Zusammenhang mit dem Entstehungsprozess der Cristo Yacentes oft zitierte Anekdote von Interesse. In der frühesten biografischen Notiz des Bildhauers, die im El museo pictórico y escala óptica enthalten ist, berichtet Antonio Palomino (1655–1726), dass Gregorio Fernández keine „efigie“ Christi oder seiner Mutter angefertigt habe, ohne sich zuvor mit Gebeten, Fasten, Bußübungen und Abendmahls­ feiern auf die Anfertigung der Bildnisse vorzubereiten, „damit Gott ihm Gnade für das Vorhaben spende.“87 Das Bildwerk wird hier somit zu einer Art „materiellen Manifestation göttlicher Inspiration“88 und suggeriert einen quasi göttlichen Ursprung.89 In der von ­Palomino wiedergegebenen Anekdote nehmen der Künstler und das von ihm geschaffene Werk folglich eine Mittlerfunktion zwischen göttlicher und irdischer Sphäre ein. Die ­Oberflächengestaltung des dreidimensionalen Bildwerks mit Farbe spielt innerhalb dieses Narrativs ebenso wenig eine Rolle wie die materielle Beschaffenheit des Bildträgers. Das „Material ist in dieser Konzeption“, wie Ann-Sophie Lehmann in einem anderen Zusammenhang anmerkt, „lediglich ein Träger, der notwendig ist, um immaterielle Bilder in tastbare Formen zu übersetzen.“90 Dass die Materialität der Skulpturen für die zeitgenössische Rezeption aber durchaus Relevanz besaß, konnte Javier Portús anhand humoristisch aufzufassender Schriften der Entstehungszeit der Yacentes nachweisen.91 In ihnen ist immer wieder vom sogenannten „San Ciruelo“, also vom Heiligen Pflaumenbaum, die Rede. Da ein Heiliger mit dem Na-

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1. KORREKTUR 2 3 4

men Ciruelo auch damals nicht existierte, spielten diese und vergleichbare Wortbildungen, wie Portús zeigen konnte, auf das Bewusstsein für die Materialität der von den Gläubigen verehrten Heiligenbildnisse an. In den Witzen über die materielle Beschaffenheit der Bildnisse der Heiligen kanalisierte sich nach Portús die Verunsicherung der Gläubigen bezüglich der Wirkmacht der Heiligenskulpturen, die von ihnen einerseits wie Idole und somit wie magische Objekte behandelt würden, und die andererseits doch nur aus demselben minderwertigen Holz bestünden wie die Gegenstände, die sie tagtäglich benutzten.92 Ein überwiegender Teil der Gläubigen musste sich demzufolge bewusst gewesen sein, dass die Skulpturen, denen sie huldigten, trotz ihrer veristischen Gestaltung aus demselben Material gefertigt waren wie ein beliebiger Gebrauchsgegenstand. Gleichzeitig rief die Tatsache, dass die Skulpturen aus einfachem Holz bestanden und durch die Hand der Künstler in lebendig wirkende Heilige verwandelt worden waren, ­Bewunderung und Erstaunen hervor. Gerade in intellektuellen Kreisen wurde, so Portús, das Bewusstsein um die Machart der Skulpturen im Sinne des Künstlerlobs verwendet.93 Hierbei ging es um die von den Künstlern bewerkstelligte Transformationsleistung, also darum, wie es den Bildschnitzern gelingen konnte, allein durch ihr Tun das mindere ­Ausgangsmaterial Holz in scheinbar Lebendiges und vermeintlich im Hier und Jetzt Anwesendes zu verwandeln. Dass der Oberflächengestaltung der Bildwerke hierbei ein zentraler Stellenwert zukam, steht außer Frage; das klingt bereits in der Beschreibung des Produktionsprozesses als encarnación an. Doch trotz der potenziellen Nachvollziehbarkeit ihres Gemachtseins liegt die beunruhigende Faszination der hier vorgestellten Bildwerke gerade darin begründet, dass ihr technischer Entstehungsprozess letztlich ein für die ­Betrachtenden nicht vollständig aufzulösendes Mysterium bleibt.94

Anmerkungen 1

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Für hilfreiche Hinweise danke ich den Teilnehmer:innen der Tagung sowie Claudia Reufer, die eine frühere Version des Texts kritisch kommentiert hat.

2

Obwohl es sich um die einzige polychromierte Holzskulptur des spanischen Siglo de Oro in einer öffentlich zugänglichen Sammlung im deutschsprachigen Raum handelt, hat die Büste von der Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren. Zur Büste vgl. den Katalogeintrag von Iris Wenderholm, in: Das Bode-Museum. 100 Meisterwerke, hrsg. von I. Wenderholm und A. Köllermann, Berlin 2006, S. 196, sowie zuletzt Sven Jakstat, in: El Siglo de Oro. Die Ära Velázquez, Ausst.-Kat. (Berlin, Gemäldegalerie und München, Kunsthalle, 2016), Berlin/München 2016, S. 264–265 (dort auch Hinweise auf ältere Literatur).

3

Eine eingehende kunsttechnologische Untersuchung der Büste steht nach wie vor aus. Dass die Büste im Bereich des Inkarnats keine oder nur geringe spätere Übermalungen aufweist, legen die Stellen nahe, an denen einzelne Tränen abgebrochen sind. Hier ist mit bloßem Auge die direkt unter der Malschicht liegende weiße Grundierung zu erkennen. Auch mithilfe der eigens für diesen Beitrag erstellten Röntgenaufnahmen der Büste kann diese Frage nicht eindeutig beant-

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wortet werden. Für die Realisierung der Röntgenaufnahmen im Dezember 2019 danke ich Julien Chapuis, Hiltrud Jehle und Christoph Schmidt.   4 Vergleichsbeispiele, welche die Relevanz dieses Aspekts verdeutlichen, sind die von Gaspar Núñez Delgado (ca. 1555–1606) in Sevilla gefertigten Ecce homo-Büsten aus gebranntem Ton. Bei ihnen ist der Ton ebenfalls nicht unter der farbigen Fassung zu erkennen. Zu den entsprechenden ­Werken von Núñez Delgado zuletzt José Roda Peña, Entre el manierismo y el primer naturalismo. La escultura sevillana a la llegada de Juan Martínez Montañés, in: El Dios de la madera. Juan Martínez Montañés (1568–1649), Ausst.-Kat. (Alcalá la Real, Aula Magna de Capuchinos, 2018), hrsg. von J. Cartaya Baños, Alcalá la Real 2018, S. 51.  5 Francisco Pacheco. Arte de la pintura, hrsg. von B. Bassegoda i Hugas, Madrid 1990 [Erstveröff. 1648], S. 494–496.   6 Zur Etymologie des Worts siehe den Eintrag in Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 242002, S. 441, sowie die ausführlichen Anmerkungen zur Herkunft und Bedeutung des Worts in Christiane Kruse, Fleisch werden – Fleisch malen. Malerei als „incarnazione“. Mediale Verfahren des Bildwerdens im Libro dell’Arte von Cennino Cennini, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63, 2000, S. 305–325, bes. S. 314–325, sowie Daniela Bohde und Mechthild Fend, Inkarnat. Eine Einführung, in: Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte, hrsg. von D. Bohde und M. Fend, Berlin 2007, S. 9–19. Maßgeblich für die Wortbildung ist das lateinische Wort für Fleisch, carnis. Vgl. hierzu auch Felipe Pereda, Crimen e ilusión. El arte de la verdad en el Siglo de Oro, Madrid 2017, S. 124–126.   7 Diese Doppeldeutigkeit findet sich bereits im ersten Wörterbuch der spanischen Sprache von 1611, das unter dem Eintrag „encarnar“ sowohl die Fleischwerdung des Worts Gottes als auch den Auftrag von Fleischfarbe durch die Maler aufführt. Vgl. Sebastián Covarrubias Orozco, Tesoro de la lengua castellana, o española, Madrid 1611, S. 347.   8 Oft ist vom ergreifenden „Verismus“ spanischer Bildwerke des 17. Jahrhunderts die Rede. Selten wird dabei zwischen „Verismus“, „Naturalismus“ und „Realismus“ unterschieden. Stefan Roller verwendet alle drei Begriffe in seiner hilfreichen Überblicksdarstellung zur Tradition veristisch gestalteter Skulpturen bewusst synonym. Vgl. Stefan Roller, „… als ob die Haar würklich von dem Kopff herauswachsen“. Veristische Skulpturen und ihre Techniken. Einblicke in ein vermeintliches Randgebiet der Kunstgeschichte, in: Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken, Ausst.-Kat. (Frankfurt/Main, Liebighaus Skulpturensammlung, 2014), hrsg. von S. Roller, München 2014, S. 12–65, hier S. 13.   9 Robert Felfe, Verismus, in: Metzler Lexikon für Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, hrsg. von A. Trebeß, Stuttgart/Weimar 2006, S. 404–405, hier S. 405. Der Begriff ist somit spezifischer als der Begriff des Naturalismus, der auf systematischer Ebene „im weitesten Sinne alle Positionen, die die Natur und die Naturwissenschaften zur alleinigen Grundlage und Norm aller Erscheinungen und Entwicklungen erklären“, umfasst. Matthias Harder, Naturalismus, in: Metzler Lexikon für Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, hrsg. von A. Trebeß, Stuttgart/Weimar 2006, S. 275–276, hier S. 275. Realismus wiederum „bezeichnet vom alltäglichen Sprachgebrauch her die Darstellung erfahrungsmäßiger Wirklichkeit in ihrer unmittelbaren Erscheinung.“ Carolin Duttlinger, Realismus, in: Metzler Lexikon für Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, hrsg. von A. Trebeß, Stuttgart/Weimar 2006, S. 314–316, hier S. 314. 10 Zur Paragonedebatte in Spanien siehe Karin Hellwig, Die spanische Kunstliteratur im 17. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1996, S. 139–201 (darin zum Thema Polychromie bes. S. 185–188), sowie die aktuellen Publikationen dieser Autorin zum Thema: El parangón en la España del Siglo de Oro. Un debate entre la teoría y la práctica del arte, in: Sacar de la sombra lumbre. La teoría de la pintura en el Siglo de Oro (1560–1724), hrsg. von J. Riello, Madrid 2012, S. 223–238; Künstleriden-

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tität und Signatur in Spanien im 17. Jahrhundert. Velázquez, Zurbarán, Ribera und Palominos Kommentare im Parnaso Español Pintoresco Laureado, in: Künstlersignaturen von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von N. Hegener, Petersberg 2013, S. 316–339, hier S. 324–326; Theorie und Praxis. Die bildenden Künste im Spanien des 17. Jahrhunderts, in: El Siglo de Oro (Anm. 2), S. 31– 39, hier S. 34–38. 11 Richtungsweisend für zukünftige Studien ist Pereda 2017 (Anm. 6). Für die hier behandelten Themen bes. S. 124-132 und 367-417. Für eine Verortung dieses Phänomens in einem weiteren Problemzusammenhang siehe Joris van Gastel, Yannis Hadjinicolaou und Markus Rath, Paragone als Mitstreit, in: Paragone als Mitstreit, hrsg. von J. van Gastel, Y. Hadjinicolaou und M. Rath, Berlin 2014, S. 15–32, mit einem expliziten Rekurs auf polychrome Holzskulpturen des 17. Jahrhunderts in Spanien (ebd. S. 29–31). Siehe hierzu auch Yannis Hadjinicolaou, Synagonismus, in: 23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung, hrsg. von M. Lauschke und P. Schneider, Berlin/Boston, S. 149–157. 12 Für eine kritische Auseinandersetzung mit der polychromen Skulptur Spaniens in der Kunstgeschichte siehe etwa die pointierte Darstellung von Gridley McKim-Smith, Spanish Polychrome Sculpture and its Critical Misfortunes, in: Spanish Polychrome Sculpture 1500–1800 in United States Collections, Ausst.-Kat (New York, The Spanish Institute u. a., 1993), hrsg. von S. L. Stratton, New York 1993, S. 13–31. 13 Einen Paradigmenwechsel bedeutete in diesem Zusammenhang die viel rezipierte Ausstellung The Sacred Made Real, die nachhaltig für die Signifikanz intermedialer Relationen in der spanischen Kunst des 17. Jahrhunderts sensibilisierte. Von der Beobachtung ausgehend, dass viele der damals auf der Iberischen Halbinsel tätigen Maler sich darum bemühten, im Medium der Malerei vergleichbare plastische Effekte zu erzielen, wie sie dreidimensionalen Bildwerken eigen sind, beschäftigte sich die Ausstellung mit der Frage, inwieweit diese Tendenz auf die Präsenz polychromierter Holzskulpturen sowie die Tätigkeit vieler Maler als Fassmaler zurückzuführen sei, anstatt die besondere ästhetische Erscheinung dieser Gemälde mit der Aneignung der Helldunkelmalerei in der Nachfolge Caravaggios zu erklären. Vgl. The Sacred Made Real. Spanish Painting and Sculpture 1600–1700, Ausst.-Kat. (London, National Gallery und Washington, The National Gallery of Art, 2009), hrsg. von X. Bray, London 2009. Anlässlich der Ausstellung in Valladolid erschien der Ausstellungskatalog auf Spanisch unter dem Titel Lo Sagrado hecho Real. Pintura y escultura española 1600–1700, Ausst.-Kat. (Valladolid, Museo Nacional Colegio de San Gregorio, 2010), hrsg. von X. Bray, Madrid 2010. Auch in zahlreichen jüngeren Ausstellungsprojekten wurde veristisch gestalteten Skulpturen größere Aufmerksamkeit zuteil. Vgl. Like Life. Sculpture, Color,

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and the Body, Ausst.-Kat. (New York, The Metropolitan Museum of Art, 2018), hrsg. von L. Syson u. a., New Haven/London 2018 und Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken, Ausst.-Kat. (Frankfurt/Main, Liebighaus Skulpturensammlung, 2014), hrsg. von S. Roller, München 2014 sowie Almost Alive. Hyperrealistische Skulptur in der Kunst, Ausst.-Kat. (Tübingen, Kunsthalle, 2018), hrsg. von O. Letze und N. Fritz, München 2018. 14 Der im Titel verwendete Begriff „Materialästhetik“ bezieht sich hier nicht auf die historischen Debatten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinsichtlich des Verhältnisses „von künstlerischer und gesellschaftlicher Produktion“ geführt wurden, sondern in erster Linie auf materialästhetische Phänomene und deren Wirksamkeit. Vgl. Monika Wagner, Material, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von K. Barck u. a., Stuttgart/Weimar 2001, Bd.  3, S.  866–882, hier S.  877. Wichtige Quellentexte zur historischen Debatte sind zusammengestellt in: Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, hrsg. von D. Rübel u. a., Berlin 2005. Für die methodische Fundierung eines Forschungsansatzes, der auf die Theoretisierung des Materials in der Frühen Neuzeit abzielt, siehe etwa Ann-Sophie Lehmann,

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Das Medium als Mediator. Eine Materialtheorie für (Öl-)Bilder, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 57, 2012, S. 69–88. 15 Im Rahmen dieses Beitrags ist es freilich nicht möglich, alle relevanten Gesichtspunkte der Oberflächengestaltung spanischer Bildwerke des 17. Jahrhunderts umfassend zu erläutern. 16 Für die Unterscheidung zwischen Sinnestäuschung und „ästhetische[r] Illusion“ siehe Gertrud Koch und Christiane Voss, „… kraft der Illusion“, in: … kraft der Illusion, hrsg. von G. Koch und C. Voss, München 2006, S. 7–13, bes. S. 8–9. Die Autorinnen verstehen „ästhetische Illusion“ in systematischer Hinsicht „als eine genuin wirkungsästhetische Kategorie [...], für die im Unterschied zur rein epistemischen Illusion (Täuschung) gerade die willentliche Suspension von Wahrheitsorientierung und Wirklichkeitsüberprüfung angesichts der Wahrnehmung eines Kunstwerks ebenso bezeichnend ist wie die lustvolle Bereitschaft des Betrachters/Zuschauers zur affektiv-emphatischen Verstrickung mit dem ästhetisch Dargestellten. Illusion kennzeichnet aus dieser Sicht einen lustvollen Wahrnehmungsmodus, in dem der Illudierte wissentlich einen fiktiven Gegenstand vorübergehend so wahrnimmt/erfährt, als wäre dieser seiner Existenz nach ein mehr oder weniger wahrhaftiger Teil der umgebenden Wirklichkeit. Illusionäre Effekte, in diesem Sinne verstanden, zielen nicht auf Lüge und Täuschung, sondern vielmehr auf den Eindruck von Authentizität und Lebendigkeit des Dargestellten.“ Ebd. 17 Eine wissenschaftliche Studie, die sich systematisch mit der Verwendung von postizos sowie deren Funktion und Bedeutung auseinandersetzt, steht nach wie vor aus. Richtungsweisend ist in diesem Zusammenhang die Untersuchung von Beate Fücker, Zur Gestaltung von Inkarnaten an polychromen Barockskulpturen in Spanien, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 20/1, 2006, S. 19–46. Siehe hierzu auch die kurzen Anmerkungen in: Juan J. Martín González, La policromía en la escultura castellana, in: Archivo Español de Arte 26, 1953, S. 295–312, hier S. 303– 304. 18 Mit „fremd“ und „anders“ sind vom eigentlichen Werkstoff verschiedene Materialien gemeint, die mit dem Werkkörper verbunden werden. Vgl. Fücker 2006 (Anm. 17). Die postizos unterscheiden sich von den sogenannten añadidos dadurch, dass sie dauerhaft mit dem eigentlichen Bildkörper verbunden sind und im Gegensatz zu den añadidos nicht ausgetauscht werden können. Beispiele für añadidos sind etwa Kleidungsstücke, Kronen etc. 19 Ich danke Beate Fücker für diesen Hinweis. 20 Siehe hierzu Anm. 3 weiter oben. 21 Für einen Überblick siehe zuletzt Roller 2014 (Anm. 8), bes. S. 50–53, sowie Beate Fücker, Geschichte, Herstellung und Verwendung von Glasaugen an barocker, polychromer Großplastik im deutschsprachigen Raum, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 27/1, 2013, S. 151–170. Letztere berücksichtigt in ihrem umfangreichen Beitrag auch die Praxis in Spanien. 22 Vgl. Fücker 2006 (Anm. 17), S. 29–31; Fücker 2013 (Anm. 21), S. 152–153. Nicholas Penny hat vermutet, dass die Technik des Einsetzens der Glasaugen in Spanien von jesuitischen Missionaren aus Japan importiert worden sein könnte, wo diese Technik bei den so genannten Kamakura-Skulpturen angewendet wurde. Vgl. Nicholas Penny, The Materials of Sculpture, New Haven/London 1993, S. 142. 23 Das Zitat lautet: „[...] tocarleheis en el medio de las niñas de los ojos y en el medio de lo negro con un punto de limpidísimo blanco (lo cual se llama realzo), y este tal punto si es dado en su lugar tiene tanta gracia y vigor que hace luego parecer vivos los ojos y casi moverse, si no les faltaba otra cosa; y si por el contrario, es puesto fuera de su lugar y tiempo, muchas veces apaga los ojos más y los hace ciegos.“ Francisco de Holanda (1548). De la pintura antigua, versión castellana de Manuel Denis (1563), hrsg. von E. Tormo, Madrid 1921, S. 274. Den Hinweis auf diesen Textabschnitt verdanke ich einem Vortrag Frank Fehrenbachs.

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24 Vgl. Xavier Bray, The Sacred Made Real. Spanish Painting and Sculpture 1600–1700, in: The Sacred Made Real. Spanish Painting and Sculpture 1600–1700, Ausst.-Kat. (London, National Gallery und Washington, The National Gallery of Art, 2009), hrsg. von X. Bray, London 2009, S. 15–43, hier S. 25, und David Freedberg, The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago/London 1991, S. 242–244. Die Skulptur ist heute Eigentum des Museo de Bellas Artes in Sevilla und befindet sich als Dauerleihgabe in der Kathedrale von Sevilla. 1614 wurde sie vom Auftraggeber der Kartause Santa María de las Cuevas in Sevilla geschenkt. Zuvor befand sie sich in dessen Privatoratorium. Zur Skulptur siehe Pacheco [1648] 1990 (Anm.  5), S.  498; Beatrice Gilman Proske, Juan Martínez Montañés. Sevillian Sculptor, New York 1967, S. 39–41; Pereda 2017 (Anm. 6), S. 128–132, sowie zuletzt die ausführliche kunsttechnologische Untersuchung von ­Fuensanta de la Paz Calatrava und Carmen Álvarez Delgado, Cristo de la Clemencia. Técnica y restauración, in: Montañés. Maestro de maestros, Ausst.-Kat. (Sevilla, Museo de Bellas Artes, 2019), hrsg. von I. Cano Rivero, I. Hermoso Romero und M. del Valme Muñoz Rubio, Sevilla 2019, S. 94–109, und den Katalogeintrag von María del Valme Muñoz Rubio im selben Katalog, S. 261– 263, mit früherer Literatur. 25 Das Zitat lautet: „[...] el dho Xpo crucificado a de estar bibo antes de aver espirado con la cabeça ynclinada sobre el lado derecho mirando a qualquiera Persona que estuuiere orando a El pie del, como qne le esta el mismo Xpo Hablandole [...]“; Jaime Passolas Jáuregui, Juan Martínez Montañés, Sevilla 2008, Bd. 2, S. 38. Dort zit. nach Joaquín Hazañas y la Rúa, El arcediano Mateo Vázquez de Leca. 1573–1649, Sevilla 1918. Tritt man heute nahe vor die Skulptur, wie dies im Rahmen der Ausstellung Montañés. Maestro de maestros 2019 (Anm. 24) möglich war, entzieht sich der Blick Christi selbst bei einer unmittelbaren Positionierung vor dem Kruzifix. Der im Vertrag geforderte Blickkontakt mit den Gläubigen kommt nicht zustande. 26 Zur Technik der Anfertigung der tapillas vgl. Fücker 2013 (Anm. 21), S. 158–160, und Fücker 2006 (Anm. 17), S. 29–31. 27 Wer für die Anfertigung welcher postizos verantwortlich war, ist auch bei den meisten anderen Skulpturen heute nicht mehr eindeutig zu klären. Vgl. Fücker 2006 (Anm. 17), S. 22–23. Im konkreten Fall eines Kruzifixes in San Marcelo in León kann Fücker nachweisen, dass die Zähne und Fingernägel laut Vertrag vom Bildschnitzer gefertigt werden sollten und die Glasaugen vom Fassmaler oder einer anderen Person. Sie geht davon aus, dass die Fassmaler generell „für alle postizos, die über dem Inkarnat lagen zuständig“ waren. 28 Vgl. José Roda Peña, Pedro Roldán. Escultor 1624–1699, Madrid 2012, S. 153–165. Zur Frage der Zuschreibung siehe den Katalogeintrag von Frieda Schottmüller in: Spanische und portugiesische

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Bildwerke des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die Bildwerke des Kaiser-Friedrich-Museums. Die italienischen und spanischen Bildwerke der Renaissance und des Barock, hrsg. von F. Schottmüller, Berlin 1933, S. 240–241. Zuvor wurde die Büste Martínez Montañés zugeschrieben. 29 Im Rahmen der Ausstellung The Sacred Made Real hat man erstmals versucht, dem kollaborativen Entstehungsprozess der farbig gefassten Skulpturen Rechnung zu tragen, indem man in den Bildtiteln neben dem Namen des Bildschnitzers gleichberechtigt den des Fassmalers erwähnte. Vgl. The Sacred Made Real 2009 (Anm. 13). 30 Wilhelm von Bode hatte sie laut eigener Aussage 1881 „zufällig“ im Wohnzimmer eines in Sevilla ansässigen Kunsthändlers entdeckt. Eine ausführliche Schilderung der teils abenteuerlichen Vorgänge findet sich sowohl in: Wilhelm von Bode, Bemalte Holzbüste der schmerzensreichen Maria von Juan Martínez Montañez, in: Jahrbuch der Königlich Preussischen Kunstsammlungen 6, 1885, S. 66–68, hier S. 68, sowie ausführlicher in Wilhelm von Bode, Mein Leben (1930), hrsg. von T. Gaehtgens und B. Paul, Berlin 1997, Bd. 1, S. 165–167. 31 Diese Beobachtung verdanke ich Amanda Robledo.

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32 Die Mater Dolorosa in San Alberto weist deutliche Übereinstimmungen mit der Büste der Staatlichen Museen auf. Vgl. Roda Peña 2012 (Anm. 28), S. 61–62. Zweifel an der Zuschreibung der Büste in San Alberto an Roldán äußern Álvaro Dávila-Armero del Arenal und Jose Carlos Pérez Morales, Pedro Roldán, Sevilla 2008, S. 372. Aufgrund der höheren Qualität der Berliner Dolorosa ist davon auszugehen, dass sie das Vorbild für die Büste in San Alberto war. 33 Wenderholm 2006 (Anm. 2), S. 196. 34 Vgl. Ars – Visus – Affectus. Visuelle Kulturen des Affektiven in der Frühen Neuzeit, hrsg. von A. Pawlak, L. Zieke und I. Augart, Berlin/Boston 2016, S. 7. 35 Für eine methodische Fundierung derartiger Fragestellungen hat sich Alfred Gells Beitrag zur „verzauberten Technologie“ als hilfreich erwiesen. Vgl. Alfred Gell, The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology, in: Anthropology, Art and Aesthetics, hrsg. von J. Coote und A. Shelton, Oxford 1992, S. 40–63. Für Studien, die diesen Ansatz für kunsthistorische Untersuchungen fruchtbar machen, siehe Lehmann 2012 (Anm. 14), S. 81–82, oder Adrian Bremenkamp und Sven Jakstat, Medialität und agency des gestickten Bildes. Zu einem Hauptwerk der Florentiner Seidenstickerei des 14. Jahrhunderts in Manresa (Katalonien), in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 42, 2015/2016 (2018), S. 87–129, bes. S. 103–106. 36 Dies ist auch deshalb erstaunlich, da das Fassen von Holzskulpturen damals für viele Maler eine wichtige Einnahmequelle darstellte. Vgl. Hellwig 2012 (Anm. 10), S. 230–231. 37 Dies betrifft vor allem das lange erste von insgesamt drei Büchern, in die der Traktat untergliedert ist. Vgl. Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5), S. 73–276. 38 Siehe Anm. 10. Für aktuelle Forschungsansätze zur Kunstliteratur in Spanien vgl. zudem die Beiträge in: Sacar de la sombra lumbre 2012 (Anm. 10) sowie Corinna Albert, Sehen im Dialog. Bedeutungsdimensionen intermedialer Phänomene in den spanischen Renaissancedialogen zu Kunst und Malerei, Stuttgart 2017. 39 Vgl. Anm. 10, 11 und 13. 40 Vgl. Fücker 2006 (Anm. 17), S. 22, und Bray 2009 (Anm. 24), S. 18. Pacheco zitiert eine derartige Bestimmung aus dem 15. Jahrhundert in seinem am 16. Juli 1622 verfassten Kurztraktat A los profesores del arte de la pintura. Dieses ist abgedruckt in: La teoría de la Pintura en el Siglo de Oro, hrsg. von F. Calvo Serraller, Madrid 1991, S. 185–191, hier S. 189. Freilich gibt es berühmte Ausnahmen wie Alonso Cano, der als Bildhauer und Maler tätig war. Da er über eine Ausbildung zum Fassmaler verfügte, fasste er einen Großteil seiner Skulpturen selbst. 41 Siehe hierzu zuletzt Ignacio Hermoso Romero, Montañés, Pacheco y la pugna por la supremacía de las artes, in: Montañés. Maestro de maestros, Ausst.-Kat. (Sevilla, Museo de Bellas Artes, 2019), hrsg. von I. Rivero, I. Romero und M. del Valme Muñoz Rubio, Sevilla 2019, S. 63–77, bes. S. 67–68, sowie Ignacio Hermoso Romero, Policromía y pintura decorativa en la obra de Francisco Pacheco, in: Pacheco. Teórico, artista, maestro (1564–1644), Ausst.-Kat. (Sevilla, Museo de Bellas Arte, 2016), hrsg. von M. del Valme Muñoz Rubio und I. Rivero, Sevilla 2016, S. 85–101, bes. S. 86. Als die bekanntesten erhaltenen Beispiele ihrer Zusammenarbeit gelten, neben dem bereits erwähnten Cristo de la Clemencia (siehe weiter oben S. 142), der Heilige Ignatius von Loyola, der 1610 anlässlich von dessen Seligsprechung gefertigt wurde, und der Heilige Francisco Borja (um 1624). Beide befinden sich in der Iglesia de la Anunciación in Sevilla. Zu den Skulpturen siehe zuletzt die Katalogeinträge von Luis Méndez Rodríguez in: El Siglo de Oro 2016 (Anm. 2), S. 122–123, und Maria Fernanda Morón de Castro in: The Sacred Made Real 2009 (Anm. 13), S. 116–121 (dort jeweils weiterführende Literatur). Siehe hierzu auch die Bemerkungen Pachecos in: Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5), S. 497–498 und S. 709–710. Bei den Skulpturen handelte es sich um sogenannte Imagenes de vestir, bei denen ausschließlich die Hände und der Kopf geschnitzt und farbig gefasst sind. Die Körperpartien waren hingegen über einem Gestell mit echten Gewändern bedeckt.

158 I Sven Jakstat DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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Erst im 18. Jahrhundert wurden die jetzigen Soutanen in Kunstharz getränkt und dauerhaft mit den Händen und dem Kopf verbunden. 42 Bezüglich der von ihm gefassten Skulptur des Heiligen Ignatius schreibt er: „[...] pintado de mi mano, estoy persuadido que se aventaja a cuantas imágenes se han hecho deste glorioso Santo, porque parce verdaderamente vivo. Hízolo el año 1610.“ Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5), S. 710. 43 Pacheco [1622] 1991 (Anm. 40). Für eine partielle Übersetzung des Texts ins Englische siehe The Sacred Made Real 2009 (Anm. 13), S. 194–195. 44 Vgl. hierzu zuletzt Hermoso Romero 2019 (Anm. 41), S. 73–77, sowie La teoría de la Pintura en el Siglo de Oro 1991 (Anm.  40), S.  181–183, und ausführlich Hellwig 1996 (Anm.  10), S.  54 und S. 170–176. 45 Das Zitat lautet: „[...] la figura de mármol y madera está necesitada de la mano del pintor para tener vida, y la Pintura no ha menester ayuda de nadie para hacer esto.“ Pacheco [1622] 1991 (Anm. 40), S. 188. Deutsche Übersetzung zitiert nach Fücker 2006 (Anm. 17), S. 19. Nach Christina Neilson belegen solche Äußerungen, dass in einigen Fällen die farbige Fassung als Erweiterung der lebenden Qualität des Materials verstanden wurde. Vgl. Christina Neilson, Carving Life. The Meaning of Wood in Early Modern European Sculpture, in: The Matter of Art. Materials, Practices, Cultural Logics, c. 1250–1750, hrsg. von C. Anderson u. a., Manchester 2015, S. 223–239, hier S. 231. 46 Das Zitat lautet: „No puede la escultura a solas, sin la vida de la pintura, engañar (porque se ve la materia de que es formada) ni aun a los animales; y pienso que si alguna vez lo ha hecho ha sido estando ayudada del pintor con el color natural de las cosas.“ Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5), S. 123; eigene Übersetzung. 47 In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass auch Cennino Cennini sein Libro dell’Arte mit der Schöpfungsgeschichte beginnt. Vgl. hierzu Bohde und Fend 2007 (Anm. 6), S. 10, sowie Kruse 2000 (Anm. 6), S. 318. 48 Das Zitat lautet: „[...] y aun el mesmo hombre de barro no tuvo vida hasta que el Señor con su soplo divino lo pintó de colores, y abrió sus ojos [...]“; Pacheco [1622] 1991 (Anm. 40), S. 186; eigene Übersetzung. 49 Vgl. Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5), S. 433–558. 50 Vgl. Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5), S. 490–502. Siehe hierzu bereits Bray 2009 (Anm. 24), S. 19, 21; Fücker 2006 (Anm. 17), S. 27–29; Ronda Kasl, Painters, Polychromy and the Perfection of Images, in: Spanish Polychrome Sculpture 1500–1800 in United States Collections, Ausst.-Kat. (New York, The Spanish Institute u. a., 1993), hrsg. von S. Stratton, New York 1993, S. 32–53, hier S. 36, und

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Martín González 1953 (Anm. 17), S. 302–303. 51 Fücker 2006 (Anm. 17), S. 26.

52 Vgl. Bray 2009 (Anm. 24), S. 19, 21.

53 Vgl. Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5), S. 497.

54 Das Zitat lautet: „Últimamente después de muy secos los rostros, encarnados de mate, en cualquiera materia, viene bien con un barniz de sombra muy claro barnizar los ojos, solamente; es seguro el barniz de clara de güevo para esto, dado dos veces, porque, como todo lo restante es mate, parecen vivas las figuras y luce lo cristalino dellos.“ Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5), S. 50; eigene Übersetzung. 55 Hellwig 2016 (Anm. 10), S. 275. 56 Das Zitat lautet: „[...] y es bien usarla en mala escultura, porque, con las luces y resplandor, se disimulan sus defetos.“ Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5), S. 496. 57 Das Zitat lautet: „Siempre habemos de suponer que si las mejores cosas de Escultura se pintan de mate que estarán más bien acabadas y lixadas en la madera [...]“; Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5),

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S. 499; eigene Übersetzung. Die Bezüge dieser Passage sind nicht eindeutig. Mit „estarán más bien acabadas y lixadas en la madera“ könnte auch gemeint sein, dass diese Skulpturen „vollendeter und besser geschliffen seien“. 58 Vgl. Fücker 2006 (Anm. 17), S. 26. Für eine detaillierte Beschreibung des technischen Verfahrens siehe ebd., S. 28–29. 59 Für einen Überblick zu den erhaltenen Cristo Yacentes und die historischen Voraussetzungen ihrer Produktion und Rezeption vgl. die umfangreiche Studie von Agathe Schmiddunser, Körper der Passionen. Die lebensgroße Liegefigur des toten Christus vom Mittelalter bis zum spanischen Yacente des Frühbarock (Diss. München 2005), Regensburg 2008 sowie zuletzt Ilenia Colón Mendoza, The Cristos Yacentes of Gregorio Fernández, Aldershot 2015. Für eine Analyse der Werke vor dem Hintergrund der zeitgenössischen religiösen und künstlerischen Debatten siehe Pereda 2017 (Anm. 6), bes. S. 367–372 und S. 401–417. Für frühere Publikationen siehe die Standardwerke von Juan J. Martín González, El escultor Gregorio Fernández, Madrid 1980, bes. S. 189–201; María Elena Gómez-Moreno, Gregorio Fernández, Madrid 1953, bes. S. 25–26, 38; Ricardo de Orueta, Gregorio Hernández, Madrid 1920, bes. S. 27–28, 46–48. 60 Die Restaurierung des Werks erfolgte von Juli 2006 bis August 2007 am Museo Nacional de Escultura unter der Leitung von Carmen Wattenberg. Für eine Einsicht in die Restaurierungsakten danke ich Manuel Arias. 61 Darüber hinaus wurde der Yacente aus Valladolid in den vergangenen Jahren mehrmals im Rahmen großer Sonderausstellungen präsentiert. Vgl. Like Life 2018 (Anm. 13), S. 256–257, 260, und El Siglo de Oro 2016 (Anm. 2), S. 172–175. 62 Vgl. Jesús Urrea Fernández, El escultor Gregorio Fernández, 1576–1636 (apuntes para un libro), Valladolid 2014, S. 23. 63 Antonio Ponz gibt lediglich einen Hinweis darauf, dass sie sich im 18. Jahrhundert in einer Seitenkapelle des Kirchenschiffs auf der Evangelienseite befand. Vgl. Martín González 1980 (Anm. 59), S. 198, und Antonio Ponz. Viaje de España. Seguido de los dos tomos del viaje fuera de España, hrsg. von C. del Rivero, Madrid 1947, S. 467 [Erstveröff. 1772–1794 in 18 Bänden]. 64 Vgl. Pereda 2017 (Anm. 6), S. 414–415 (dort weiterführende Literatur). Zu den Präsentationsmöglichkeiten vgl. ausführlich Schmiddunser 2008 (Anm. 59), S. 110–137. 65 Das zweite Kissen wird von dem weißen Tuch verdeckt und ist nur von der Kopfseite aus zu sehen. 66 Gridley McKim-Smith spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von „erotisierter Gewalt“ („eroticized violence“). McKim-Smith 1993 (Anm. 12), S. 22. 67 Zum Einsatz von postizos vgl. bereits weiter oben S. 142 und S. 146. Martín González vermutet, dass die Glasaugen, das Horn an den Fingernägeln und die Elfenbeinzähne in der Werkstatt von Gregorio Fernández eingesetzt wurden und die Korkstücke in der des Fassmalers. Vgl. Martín González 1980 (Anm. 59), S. 52. 68 Dieses Verfahren nimmt Fücker beim Yacente aus San Plácido in Madrid an. Vgl. Fücker 2006 (Anm. 17), S. 24. Röntgenaufnahmen des Yacente in Valladolid belegen, dass der Bildkörper auch in diesem Fall ausgehöhlt ist. 69 Fücker 2006 (Anm. 17), S. 38. 70 Der mittelalterliche Cristo de Burgos besitzt vermeintlich selbständig nachwachsenden Echthaarbesatz, Hornnägel und bewegliche Gliedmaßen, die unter polychromiertem Leder verborgen waren. Zur ästhetischen Wirkung des Werks und seiner Rezeption vgl. zuletzt Felipe Pereda, Images of Discord. Poetics and Politics of the Sacred Image in Fifteenth-Century Spain, Turnhout 2018, S. 61–66. Für weitere Beispiele siehe Fücker 2006 (Anm. 17), S. 33–36. 71 Zum Ecce Homo (vor 1621) vgl. den Katalogeintrag von Xavier Bray, in: The Sacred Made Real 2009 (Anm. 13), S. 130–135 (dort ältere Literatur).

160 I Sven Jakstat DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

72 Schmiddunser 2008 (Anm. 59), S. 97. 73 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang die von Christina Neilson vertretene These der Bedeutung des Holzes als „living material that operated like a human body“. Neilson 2015 (Anm. 45), hier S. 223. 74 Vgl. Tiffany Lynn Hunt, Empathetic Wounds. Gregorio Fernández’s Cristos yacentes as a Nexus of Art, Anatomy, and Counter-Reformation Theology, in: Visualizing Sensuous Suffering and Affective Pain in Early Modern Europe and the Spanish Americas, hrsg. von H. Graham und L. KilroyEwbank, Leiden/Boston 2018, S. 383–427. 75 Hunt 2018 (Anm. 74), S. 391. 76 Hunt 2018 (Anm. 74), S. 393. 77 Die Transparenz der farbigen Fassung der Yacentes wurde immer wieder konstatiert. Der Beobachtung wurde zumeist aber keine Bedeutung beigemessen. Vgl. Fücker 2006 (Anm. 17), S. 26; Schmiddunser 2008 (Anm. 59), S. 97, 200. 78 Offensichtlich wurde weitestgehend auf eine Grundierung verzichtet und die Farbe direkt auf das Holz aufgetragen. 79 Vor dem Objekt ist gut zu erkennen, dass der Holzblock aus mehreren Stücken zusammengesetzt wurde. 80 Vgl. Schmiddunser 2008 (Anm. 59), S. 71–137. 81 Vgl. Felipe Pereda, Sombras y cuadros. Teorías y culturas de la representación en la Europa de la reforma católica, in: Sacar de la sombra lumbre. La teoría de la pintura en el Siglo de Oro (1560– 1724), hrsg. von J. Riello, Madrid 2012, S. 69–86, bes. S. 83–86 (dort weiterführende Literatur). 82 Vgl. Pereda 2012 (Anm. 81), S. 82. Das vollständige Zitat lautet: „Pues sea lo postrero, necesario a este discurso (si bien breve en palabras, importante en las cosas) las tres maneras de adoración que se dan a las imágenes sagradas. La primera llamanda Latría, se debe a sólo Dios Padre, e hijo y Espíritu Santo, a sus divinas imágenes y al Santísimo Sacramento del altar [...]“; Pacheco [1648] 1990 (Anm. 5), S. 262–263. 83 Vgl. Schmiddunser 2008 (Anm. 59), S. 99, 119, 127, 200–201; Pereda 2017 (Anm. 6), S. 369–372. Beide entstanden im Auftrag des mächtigen Herzogs von Lerma. 84 Schmiddunser beschreibt die Skulptur als „menschlich geformtes Gefäß für eine kleine Reliquie des Blutes Christi.“ Schmiddunser 2008 (Anm. 59), S. 119. 85 Vgl. Schmiddunser 2008 (Anm. 59), S. 127. 86 Als der früheste Yacente, bei dem Gregorio Fernández postizos einsetzte, gilt der sogenannte

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Cristo del Pardo im dortigen Kapuzinerkloster, der 1614 im Auftrag König Philipp III. angefertigt wurde. Es handelt sich zugleich um das erste Exemplar mit einem matten Farbauftrag. Vgl. Schmiddunser 2008 (Anm. 59), S. 97, 200 sowie Pereda 2017 (Anm. 6), S. 402–404. 87 Antonio Palomino de Castro y Velasco. El museo pictórico y escala óptica, hrsg. von J. Ceán y Bermúdez, Madrid 1947 [Erstveröff. 1715], Bd. 2, S. 414. Das Zitat lautet: „Está el dicho Gregorio en opinion de venerable, por sus muchas virtudes; pues no hacia efigie de Christo Señor nuestro, y de su Madre Santísima, que no se preparase con la oracion, ayunos, penitencias, y comuniones, porque Dios le dispensase su gracia para el acierto.“ 88 Lehmann 2012 (Anm. 14), S. 70. Sie bezieht sich hier nicht auf die Yacentes, sondern auf die Konzeption des hylomorphen Modells im Allgemeinen, bei dem „ein virtuelles Idealbild seiner Erscheinung in der physischen Welt vorausgeht.“ 89 In Matheo de Anguianos Parayso en el desierto donde se gozan espirituales delizias von 1713 wird der Kopf des Yacente zum Werk Gottes und der Körper zum Werk des Bildhauers. Zit. in Pereda 2017 (Anm. 6), S. 401. Die Anekdote wurde später von einem anonymen Autor im Com-

Inkarnationen I 161

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pendio de la Historia del Santísimo Cristo de El Pardo von 1807 erneut aufgegriffen. Vgl. Martín Gonzalez 1980 (Anm. 59), S. 194, sowie Schmiddunser 2008 (Anm. 59), S. 100. 90 Lehmann 2012 (Anm. 14), S. 70. 91 Vgl. Javier Portús Pérez, De madero a imagen. San Ciruelo, in: Cuadernos de Arte e Iconografía 6, 12, 1993, S. 160–167, hier S. 163. 92 Vgl. Portús Pérez 1993 (Anm. 91), S. 163. 93 Zu einem Cristo de la Pasión von Martínez Montañés schreibt etwa Fray Juan Guerra: „Es admiración el ser en un madero haber esculpido obra tan semejante al natural.“ Portús 1993 (Anm. 91), S. 167 (dort weitere Belege). 94 Vgl. Gell 1992 (Anm. 35).

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1. KORREKTUR 2 3 4

Dieter Köcher

Beobachtungen zur Polychromie des älteren Hochaltarretabels aus dem Mindener Dom Einführung Unter den Altaraufsätzen der Berliner Skulpturensammlung ist das ehemalige Hochaltarretabel des Mindener Doms das außergewöhnlichste Werk.1 Eine markante Besonderheit ist die ungewöhnliche Zusammenstellung aus dem um 1425 gefertigten Schrein mit ­Flügeln und einem um ca. 200 Jahre älteren Untersatz.2 Im Mittelpunkt dieser Betrachtungen steht ausschließlich das ältere Werk, dessen ursprüngliche Form heute allerdings nur schwer nachvollziehbar ist. Deshalb ist die Rekonstruktion des originalen Aussehens ­sowohl für das Verständnis der Polychromie als auch für die Deutung der ursprünglichen Funktion des Objekts von zentraler Bedeutung.3 Erstmals hatte sich Elisabeth Simon 1927 mit diesem Problem auseinandergesetzt und gelangte dabei zu Schlussfolgerungen, die das Bild lange Zeit dominierten und gegen die nie ernsthafte Bedenken erhoben wurden. Unbestritten lenkte sie die Diskussion in eine fundierte Richtung. Die schrägen Abarbeitungen an den Pfostenenden des Mittelrisalits korrekt deutend, hatte sie auf ein Satteldach über dem Mittelbau geschlossen.4 Indes scheiterte ihr Versuch, das quer dazu stehende Dach fehlerfrei zu rekonstruieren, da sie eine Reduktion der Rückseite ausschloss: „Bei der Untersuchung der Rückseite ließen sich

ELEKTRONISCHER ­Simon folglich ein bis zur Dachhöhe des Mittelbaus ansteigendes Pultdach mit daran anSONDERDRUCK

keine Anzeichen einer späteren Zersägung an der Grundplatte und an den Seitenwänden wahrnehmen.“5 In Analogie zum Reliquienschrein des Klosters Loccum rekonstruierte schließendem horizontalem Abschluss.6

Einer genauen Überprüfung hält diese Folgerung aber nicht stand. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Seitenwände des Mindener Retabels ganz offensichtlich abgesägt wurden. Zumindest fehlt ein halbes Fach der Arkaden, und die nachlässigen senkrechten Sägeschnitte an den Rückwänden der Wangenarkaden untermauern das ebenfalls. Bei richtiger Deutung zahlreicher Merkmale ergibt sich die Form eines Schreins mit sich durchschneidenden Satteldächern (Abb. 1). Damit nimmt das Werk offensichtliche architektonische Anleihen an den Reliquienschreinen der Goldschmiedewerkstätte. Diesen Zusammenhang demonstriert die Polychromie auf signifikante Weise.

Beobachtungen zur Polychromie des älteren Hochaltarretabels aus dem Mindener Dom I 163

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1  Mindener Retabel, Holz, zeichnerische Rekonstruktion

Polychromie Die wenigen Rudimente der typisch spätromanischen Fassung lassen nur noch erahnen, welch prachtvollen Anblick das Retabel einst bot. Eine Vorstellung davon gibt die 2002 im Chor des Mindener Doms aufgerichtete Replik (Abb. 2). Aufgrund der spärlichen Primärbefunde zwar nicht in allen Einzelheiten stimmig und in der Qualität der handwerklichen Umsetzung vom Original abweichend, veranschaulicht die Nachbildung die Idee einer mit malerischen Mitteln imitierten Goldschmiedearbeit in eindrucksvoller Manier. Die oftmals nur mikroskopisch erkennbaren Relikte und die begrenzte Zahl der Abbildungen zwingen dazu, viele Details ohne entsprechende Bilder zu beschreiben. Gewichtige Indizien bestätigen, dass der Fassungsauftrag vor dem Zusammenfügen der Teile erfolgte. Eine Vorleimung oder Imprägnierung des Holzes ist zwar nicht feststellbar, war aber unbedingte Voraussetzung für den Grundierungsauftrag und ist daher mit Sicherheit vorhanden. Alle sichtbaren Bereiche überzieht eine relativ gleichmäßige emulsionsgebundene Kreidegrundierung, die ein- oder mehrschichtig aufgetragen wurde. Die Grundierung mildert die Schärfe der plastischen Formulierung, ohne Details zu verdecken. Auf der weißen Unterlage ist nahezu die gesamte sichtbare Holzkonstruktion vergoldet. Farbige Akzente heben verschiedene Komponenten aus der Vergoldung hervor.

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1. KORREKTUR 2 3 4

2  Replik des Mindener Retabels, Holz, grundiert, gefasst und vergoldet, Minden, Dom

3  Mindener Retabel (Detail), Polychromie in den Zwickeln der seitlichen Arkaden­ bretter; farbig bemalte Inkarnate (roter Pfeil), braune Striche zur Trennung der Finger (grüner Pfeil), vergoldete Gewänder mit schwarzen Strichen zur Gliederung (blauer Pfeil), schwarz ausgelegte Tiefen der Kapitelle (gelber Pfeil)

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Zweischichtiges Rot findet man an der Vorderkante des Bodenbretts, auf den Böden der Nischen und an den Laibungen der Arkadenbögen. In den Nischen der Eckrisalite ist das Rot nur einschichtig. Die vergoldeten Bogenprofile besaßen keine farbige Abstufung, eventuell trennten aber schwarze Linien die einzelnen Segmente. Zusätzliche schwarze Ausmalungen der Tiefen gliedern die Einzelformen der vergoldeten Basen und Kapitelle und steigern deren Plastizität (Abb. 3). In den Eckrisaliten deuten vereinzelte Rudimente auf vergoldete Säulenschäfte. Hier stehen die Dreiviertelsäulen vor dunkel ausgelegten Ecken.

Beobachtungen zur Polychromie des älteren Hochaltarretabels aus dem Mindener Dom I 165

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4  Mindener Retabel (Detail), Gesicht eines Apostels

In den Zwickeln der Bogenreihen heben sich Gesichter und Hände der vergoldeten Figurenbüsten durch einen rosa Hautton und abwechselnd rotbraun oder braun bemalte Haare ab (Abb. 3). Reste brauner Striche belegen eine feinteilige farbige Nuancierung der Gesichter und die Trennung der Finger. Dünne schwarze Linien trennen die Inkarnate von der vergoldeten Kleidung und ordnen die Gewandteile. Eine solche Akzentuierung war auch an den Adlerköpfen und der vergoldeten Architektur in den seitlichen Zwickeln v­ orhanden. Vor allem die eingestellten Skulpturen bildeten durch ihre vielfältige malerische Ausstaffierung einen Gegenpol zu den großzügig vergoldeten Regionen. Die Polychromie entfaltet dabei einen enormen Detailreichtum, der heute allerdings nur mühsam anhand geringer Rudimente zu rekonstruieren ist. Dennoch ist die hohe Qualität der Ausführung unübersehbar. Auf dem rosafarbenen Grundton der Inkarnate modellieren fein vertriebene Rottöne Wangen, Hals und vereinzelt Nasenrücken, Kinn, Stirn, Augenhöhlen oder das Innere der Ohren, ergänzt durch rote Münder sowie fein gezeichnete braune Lidkanten und Augenbrauen (Abb. 4 u. 6). In der Mitte der weißen Augäpfel bezeichnen dünne blaue Kreise die

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1. KORREKTUR 2 3 4

Iriden, allein beim Christus sind diese braun. Weiße Konturen umranden die schwarzen Pupillen. Die Farben von Haaren und Bärten variieren in verschiedenen Abstufungen von Rot- bis Schwarzbraun und bisweilen in Grau bis Blaugrau. Dunkelbraune, schwarze, dunkelgraue und dunkelblaue Linien kennzeichnen die Haare und zarte Striche vermitteln die Übergänge zwischen Bärten und Haut. Einzig die Maria der Krönungsgruppe, die stehenden weiblichen Heiligen und die beiden heute im Hamburger Museum für Kunst und ­Gewerbe aufbewahrten Ritterheiligen Gorgonius und Mauritius erfahren durch ver­ goldete Haare mit braunen bzw. schwarzen Zeichnungslinien eine besondere Auszeichnung (Abb. 6). Die vergoldeten Außenseiten der Mäntel, Umhänge und Kaseln binden alle Skulpturen in die Gesamtkomposition ein. An einigen Figuren ist über dem Gold ein rötlichbrauner Farblacküberzug feststellbar, der dem Gold einen wärmeren Charakter verleiht und eine Differenzierung zum Goldhintergrund bewirkt. Rote Innenfutter kontrastieren die Vergoldung der Außenseiten, getrennt durch etwa 1  mm breite Linien unterschiedlicher Anzahl und Farbfolge. Plastisch hervorgehobene Kreuze kennzeichnen die Kleidungsstücke einiger Figuren als Kaseln. Lediglich auf dem Kreuz einer Bischofsfigur überdauerten noch Reste der Vergoldung mit dünnem rotem Überzug, wiederum begrenzt durch eine Folge unterschiedlicher Linien. In der Mitte des Kreuzes sitzt ein rundes Medaillon. Dessen äußeren goldenen Ring umgibt eine schmale schwarze Linie. Das innere Muster bildet eine fünfblättrige flachplastisch gearbeitete Blüte, deren vergoldete Blütenblätter ein dichter roter Lüster überzieht, umgeben von einer weißen Kontur und schwarz ausgelegten Binnen­flächen. Nur noch wenige Fragmente zeugen von der raffinierten Gestaltung der Untergewänder. Außen zeigen sie weiße, blaue und grüne Grundtöne, innen rote oder weiße. Die Muster auf den Außenseiten wirken wie Emailleeinlagen, die kleinteilige vierblättrige Blüten in Rot, Rotbraun, Weiß oder Blau mit roten Punkten im Zentrum nachbilden (Abb. 5). Schwarze Konturen fassen kleine rhombusförmige Goldblättchen ein und entwickeln kreuzblumenähnliche Formen. Ihren größten Reichtum entfaltet die Polychromie an den beiden Ritterheiligen. Vor

ELEKTRONISCHER deren Farbigkeit keine SONDERDRUCK Metallteile realer Schuppenpanzer wiedergibt, sondern durch-

allem ihr besserer Erhaltungszustand verstärkt diesen Eindruck. Die Inkarnate gleichen denen der Berliner Figuren. Ganz außergewöhnlich ist die Fassung der antiken Rüstungen, scheinende Emaille imitiert. Die für das Medaillon beschriebene Lüsterung mit ihrer feinen

Zeichnung ist an den Hamburger Werken weitaus besser zu beobachten. Auf goldenem Untergrund tragen die Eichenlaubschuppen des Mauritius eine rote und grüne Lüsterung, gefolgt von einem dünnen weißen Strich und schwarz ausgelegten vertieft geschnittenen Konturen (Abb. 6). Die Lüsterfarben der langen unteren Schuppen alternieren zwischen den Reihen in Rot und Grün. Auch hier folgen dem Lüster ein dünner weißer Strich und eine schwarze Kontur. In gleicher Weise ist der ausschließlich aus langen Schuppen zusammengesetzte Panzer des Gorgonius gestaltet. Die Glieder der goldenen Schwertgehänge mit rot gelüsterten Zentren umgeben weiße und schwarze Konturen.

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5  Mindener Retabel (Detail), Gewand eines Bischofs mit kleinteiligen Blüten und goldenen Kreuzblumen

Über der Rüstung tragen die Ritter Umhänge mit vergoldeten Außen- und roten Innenseiten. Ärmel und Beinkleider zeigen ein Braun mit darauf befindlichen Fragmenten schwarzer Linien ohne konkret rekonstruierbare Formen. Ein einheitliches Kleidungsstück andeutend, werden die schwarzen Beinlinge und Schuhe plastisch nicht getrennt. Auf den grünen Rockaußenseiten sind die Fragmente goldener Kreuzblumen mit schwarzen Konturen und ein weißer Punkt als Überbleibsel von Blüten zu erkennen, die den Außenseiten der Berliner Gewänder entsprechen. Beide Ritter halten Schwerter in schwarzer Scheide, umwunden von einem weißen Band mit schwarzen Zeichnungsstrichen. An der Kopfbedeckung des Gorgonius sind Reif und Spangen vergoldet, eingefasst von schwarzen Begleitstrichen. Dazu kontrastiert das zweischichtige Rot der dazwischen liegenden Felder. Eine schwarze Kontur trennt die vergoldete, rötlich gelüsterte Kugel von den Spangen. Desgleichen ist das Gold auf Schild und Adler rot gelüstert. Schwarze Zeichnungslinien dienen der Gliederung einzelner Teile, am schwarzen Adlerkopf verdeutlicht ein kleiner weißer Kreis das Auge.

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1. KORREKTUR 2 3 4

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

6  Mindener Retabel (Detail), Rüstung des Mauritius, Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, Inv.-Nr. 1899.180

Beobachtungen zur Polychromie des älteren Hochaltarretabels aus dem Mindener Dom I 169

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Für romanische Fassungen stellt sich immer wieder die Frage nach der originalen Ober­ flächenerscheinung. Durch einen Öl- bzw. Öl-Harz-Überzug vereinheitlichte Glanzeffekte spielen dabei eine wichtige Rolle. Ein solcher Überzug konnte für die etwa zeitgleich gefertigten Skulpturen des Triumphkreuzes aus der Naumburger Moritzkirche nachgewiesen werden.7 Aufgrund der Glanzreduzierung ist dieser aber heute nicht mehr wahrnehmbar, sondern nur noch anhand von Proben nachzuweisen. Auch die ausgewerteten Strati­ grafien des Mindener Retabels legen nahe, dass es einen Überzug gab. Belege dafür finden sich über Gold, Rot und Grün, ja selbst auf Partien mit Azuritblau. Ein so gehäuftes Auf­ treten ist ein relativ sicheres Indiz für dessen Zugehörigkeit zur Erstfassung. Welche optische Wirkung ein derartiger Überzug hervorrief, ist schwer zu beantworten, da nicht festzustellen ist, ob er neben Öl weitere Bestandteile enthielt. Indes muss man sich wohl vorstellen, dass damit ein relativ einheitlicher Glanz erzielt wurde.

Farb- und Bindemittel Bei den festgestellten Farb- und Bindemitteln handelt es sich um zeittypische Materialien, die über einen langen Zeitraum Anwendung fanden. Als Grundierung diente emulsionsgebundene Kreide. Das beweisen die positiven Reaktionen auf die Protein- und Öl-Anfärbungen, die auf eine Mischung aus in Wasser gelöstem Glutinleim und Öl oder Ölfirnis hinweisen.8 Dieses Gemisch bot den Vorteil, die Saugfähigkeit der Grundierung ohne ­separate Isolierung zu regulieren. Ein solches Bindemittelsystem ist in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Auch bei den Skulpturen des Triumphkreuzes aus der Naumburger Moritzkirche wurde eine emulsionsgebundene Kreide zumindest in Teilbereichen verwendet.9 Auf allen Teilen des Retabels erfolgte der Grundierungsauftrag ein- oder mehrschichtig. Die histochemischen Anfärbungen zeigen in den Proben eine etwas ungleichmäßige Verteilung beider Bindemittel, die auf mehrere Schichten schließen lässt. Wie die Befestigung des Golds auf der emulsionsgebundenen Kreideschicht geschah, ist nicht mit Sicherheit zu analysieren. Die Auswertung verweist darauf, dass das Blattgold unmittelbar auf den noch feuchten Aufstrich angeschossen wurde. Damit war eine vorherige Glättung unmöglich. Auf jeden Fall schloss die emulsionsgebundene Grundierung ein Polieren der Metallfolie aus. In den hellen Malschichten ist Bleiweiß analytisch nachweisbar, das sicher auch für die Ausmischung der Inkarnate verwendet wurde. Die Bemalung aller roten Partien erfolgte mit einer Mischung aus Zinnober und Mennige. Die Proben dokumentieren dieses Farbmittelgemisch entweder allein, wie in der Bogenlaibung des linken Eckrisalits, oder als Unterlage für einen roten Farblack. Bei dem Rotlack treten allerdings Unterschiede in der Auftragsweise und möglicherweise auch der Zusammensetzung auf. In den Laibungen ist er nur dünn, auf dem Gewand eines Heiligen deutlich dichter aufgestrichen. Grünspan vermischt mit Bleiweiß ist für die grünen Fas-

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sungsteile eingesetzt. Als Blau gebrauchte der Fassmaler Azurit ohne farbige Unterlage, die für die kleinen blau bemalten Flächen nicht notwendig schien. Für alle Malfarben kam als Bindemittel Öl zum Einsatz, wobei in der Grünschicht der Nachweis von Leinöl erbracht werden konnte. Ferner ist Öl für den abschließenden Überzug verwendet. Bei der gewählten Anfärbemethode bleiben weitere Bestandteile allerdings unerkannt. Zur Steigerung des Glanzes könnte ein Harz zugesetzt worden sein, das auf die Anfärbung gleichfalls positiv reagieren würde. Die reichliche Verwendung von Öl ist für Fassungen dieser Zeit keineswegs ungewöhnlich und an vielen Objekten nachgewiesen.10 Der Vergleich mit anderen Kunstwerken dieser Epoche demonstriert deutliche technologische Parallelen. Wie bereits ausgeführt, gibt es eine emulsionsgebundene Grun­ dierung an den Skulpturen der Triumphkreuzgruppe aus der Naumburger Moritzkirche, dort ist sie aber lediglich partiell unter der eigentlichen ölgebundenen Bleiweißgrun­ dierung aufgetragen. Als alleinige Unterlage unter Vergoldung und Malschichten wurde sie bisher an keinem anderen Kunstwerk dieser Zeit beobachtet. Möglicherweise sind e ­ ntsprechende Analysen auch nicht exakt interpretiert. Weit verbreitet sind hingegen Grun­dierungen mit ölgebundenem Bleiweiß. Sie dienen sowohl als Unterlage für die Farbschichten als auch als Anlegemittel für matte Vergoldungen. So an den Skulpturen der Naumburger Triumphkreuzgruppe, am Kruzifix aus Hemse oder der Viklauer Madonna.11 Der extensive Einsatz von Öl als Bindemittel in Grundierungs- und Malschichten sowie im Überzug ist für romanische und frühgotische Fassungen kein Einzelfall. Mit Ausnahme des Azurits kann man Ölbindemittel sogar als typisch erachten. Die Frage nach einer Korrelation mit den kunsttechnologischen Traktaten ist folglich von speziellem Interesse. Zwar spiegeln diese Quellen die vom Mindener Fassmaler genutzte Maltechnik nicht in den Details wider, zeigen aber zumindest deren Grundzüge auf. So gibt Theophilus Presbyter im Ersten Buch seiner Abhandlung De diversis artibus an mehreren Stellen Hinweise auf Öl als Bindemittel. Etwa, wenn er im 20. Kapitel „Vom roten Farbanstrich der Türen

ELEKTRONISCHER 27. Kapitel „Von der durchscheinenden Malerei“ auf die Ölmalerei für Lüsterfarben über SONDERDRUCK

und vom Leinöl“ berichtet, wie das Öl aus Leinsamen hergestellt wird und anschließend damit Mennige oder Zinnober angerieben werden.12 Explizit bezieht sich Theophilus im Zinnfolie,13 die ihre Analogie in den Lüstern der Mindener Skulpturen findet. Höchst interessant ist Kapitel 25 „Von den mit Öl und Gummi angeriebenen Farben“. Dort erläutert er, dass man auf einer mit Öl vermalten Farbschicht die darauffolgende erst nach dem völligen Durchtrocknen der vorigen aufstreichen soll, „[...] was“, wie er ausführt, „bei figürlichen Darstellungen sehr langwierig und ermüdend sein kann.“14 Das zeigt wohl, dass der Verfasser das Ineinander-Vertreiben nasser Ölfarben und die damit erreichbare feine Modellierung nicht als technische Möglichkeit erkennt. Vielmehr entsprechen seine Anweisungen dem Prinzip des aus der Temperatechnik hergeleiteten schichtweisen Aufbaus mit eher grafischem denn malerischem Charakter.

Beobachtungen zur Polychromie des älteren Hochaltarretabels aus dem Mindener Dom I 171

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Heraclius beschreibt im Dritten Buch seiner Schrift De coloribus et artibus Romanorum die Vorbereitung einer Holztafel mit einer mehrschichtigen ölgebundenen Bleiweißgrundierung.15 Ausschließlich mit Öl vermischte Farbmittel zum Bemalen der so vorbereiteten Tafel schildert Heraclius aber nicht für die Malerei auf diesem Bildträger. Indirekt geht er darauf ein, wenn er im 25. Kapitel „Wie man eine Säule zum Bemalen herrichtet“, aussagt: „[...] dann aber kannst du mit allen ölgemengten Farben darauf malen.“16 Obwohl sich das Rezept auf die Fassung von Stein bezieht, eignen sich die auf der identischen Grundierung empfohlenen ölgebundenen Farbmittel gleichermaßen für Holzskulpturen. Einen weiteren Hinweis gibt der Autor in Kapitel 28 „Von der allgemeinen Praxis, alle Farben zu reiben“, in dem Öl in einer Reihe mit anderen Bindemitteln genannt wird. Das folgende Kapitel 29 „Von dem Oele, wie es zur Tempera der Farben dient“, widmet sich der Aufbereitung des Malöls durch Kochen mit Kalk und anschließendes Stehenlassen an der Sonne bei gleichzeitiger Zugabe von Bleiweiß.17 Besonders auffällig ist die an den Mindener Skulpturen beobachtete Verwendung des Azurits in Öl, da man das in diesem Bindemittel vermalte Blaupigment allgemein für nicht stabil hält und ein Vergrünen und Nachlassen der Farbintensität befürchtet.18 Hochmittelalterliche Quellenschriften vermerken die Verarbeitung dieses blauen Farbmittels mit Öl nicht. Erst der um 1500 entstandene Liber illuministarum aus dem Kloster Tegernsee führt an zwei Stellen das Vermischen mit Öl an.19 Als Überzug für die fertige Malerei beschreibt Theophilus zwei Herstellungsvarianten eines mit Harz vermengten Leinöls im 21. Kapitel „Vom klebrigen Firnis“.20 Heraclius verweist auf das Thema nur indirekt im Kapitel 21 „Wie man Gold firnisst, damit es die Farbe nicht verliere“. Nach der Erläuterung des Überziehens von Gold mit einem gefärbten ÖlHarz-Firnis schreibt er abschließend: „Bilder aber und anderes Gemaltes kannst du mit blossem Firniss, d. i. fettem (dickem) Oele, firnissen.“21 Es bleibt jedoch unklar, ob er damit ein durch Erhitzen eingedicktes Öl ohne Harzzusatz oder lediglich ohne das Färbemittel meint. Für den Überzug der Goldauflage des Mindener Retabels ist ein Harzzusatz mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, da Öl allein relativ schnell an Glanz einbüßt und der Zweck dieses Überzugs damit verfehlt wäre.

Ergebnisse und Diskussion der kunsttechnologischen Untersuchung Augenscheinlich zeigt die Polychromie des Mindener Retabels eine nahe Verwandtschaft zu den Objekten der Goldschmiedekunst. Als umgebende Hülle nimmt sie den Charakter eines Goldschmiedeschreins auf und imitiert ihn ausschließlich mit fasstechnischen Mitteln. Hauptsächlich die großzügige Verwendung von Gold evoziert die Wirkung einer Goldschmiedearbeit, die in der Ausgestaltung markante Anleihen in den Techniken dieses Handwerks nimmt. Die matte Vergoldung mit dem Überzug konnte jedoch den Glanz

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1. KORREKTUR 2 3 4

­eines Goldschmiedeschreins nicht imitieren. Deshalb bleibt die Frage, warum der Fassmaler seine Blattgoldauflage nicht auf einen proteingebundenen Kreidegrund auftrug und polierte, womit er diese Wirkung viel eher erreicht hätte. Einzelne Elemente setzen durch eine farbige Bemalung einen Kontrast zum Gold und vermitteln den Eindruck differenzierter farbiger Emailles in flächig gemalter oder zierlich detaillierter Ausführung. Die reichliche Verwendung von Öl als Bindemittel gibt den Farbflächen ihren Glanz, den der Öl- bzw. Öl-Harz-Überzug nochmals steigerte und vereinheitlichte. In den zweischichtigen Rotpartien, deren orangerote Untermalung mit einem roten Farblack übermalt ist, tritt neben dem Glanz als zweiter Faktor die Transluzenz dieses Farb-Bindemittel-Gemischs hinzu. Ihre höchste Lichtdurchlässigkeit entfalten die über Gold aufgetragenen roten und grünen Lüsterfarben, die die Wirkung durchsichtiger Emailles imitieren. Schwarz ausgelegte Tiefen und Zeichnungslinien enthüllen eine weitere direkte Nachahmung einer Goldschmiedetechnik, das Niello. Mit diesen Anleihen beweist die farbige Ausstaffierung einmal mehr die unmittelbare Beziehung zwischen Goldschmiede- und Fassungstechniken. Kaum ein Bildwerk dieser Zeit demonstriert diese Bezugnahme auf eine so direkte Weise. Der Fassmaler greift Vorbilder aus den Techniken des Goldschmiedehandwerks auf und setzt sie in eine raffinierte Polychromie mit ihren spezifischen optischen Effekten um. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, welch enger Zusammenhang zwischen den Techniken der Goldschmiedekunst und der mit maltechnischen Mitteln realisierten Fassung besteht, so offenbart ihn dieses außergewöhnliche Kunstwerk. Andererseits dokumentieren die eingesetzten Techniken in den Inkarnaten, Haaren, Gewändern, Büchern oder Thronbänken einen komplementären Gestaltungsmodus im Habitus virtuoser Malerei, die das technisch-künstlerische Potenzial der Ölmalerei voll ausschöpft. Das kommt besonders in den fein vertriebenen dunkleren Partien der Inkarnate oder den sanften Übergängen von Bart- und Hauttönen zum Tragen. Rein grafisch bleiben hingegen die feinen Haar-, Bart- und Begrenzungslinien. Dieses vielfältige Wechselspiel setzt einen bestimmt nicht unbeabsichtigten Kontrapunkt zur visuellen Qualität realer

ELEKTRONISCHER neue gestalterische Perspektive. SONDERDRUCK

Goldschmiedearbeiten. Die Polychromie des Mindener Retabels erschließt mit der Verflechtung einer Goldschmiedeimitation mit gemalten „realistischeren“ Elementen eine Damit ist das Retabel nicht einfach die Imitation eines Goldschmiedeschreins mit ande-

ren Materialien, vielmehr vermittelt es zwar die Vorstellung eines solchen Werks, geht aber darüber hinaus und markiert mithin ein Bindeglied zu den überwiegend malerisch ausgeführten Antependien und Altarretabeln.

Beobachtungen zur Polychromie des älteren Hochaltarretabels aus dem Mindener Dom I 173

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Anmerkungen   1 Abbildung in: Tobias Kunz (Berarb.), Technologische Berichte von Marion Böhl u. a., in: Bildwerke nördlich der Alpen 1050 bis 1380, Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung. Staatliche Museen zu Berlin, Petersberg 2014, S. 152.   2 Kunz u. a. 2014 (Anm. 1), S. 151–168.   3 Eine ausführliche Publikation zu den Ergebnissen der Untersuchungen und den sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen ist in Vorbereitung.   4 Elisabeth Simon, Der Mindener Altar, ein Schnitzwerk des XIII. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 48, 1927, S. 209–220, bes. S. 211 und Abb. 6, S. 217.   5 Simon 1927 (Anm. 4), S. 212.   6 Abbildungen im Internet unter URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Kloster-Loccum_-_Kirche_-_Reliquienschrein.JPG URL: https://www.flickr.com/photos/frodul/28141128304 [zuletzt aufgerufen am 22. Februar 2020].   7 Dieter Köcher, Die Skulpturen des Triumphkreuzes der Naumburger Moritzkirche. Untersuchungen zur Restaurierungsgeschichte und Kunsttechnologie, Teil 2, in: Berliner Beiträge zur Archäometrie, Kunsttechnologie und Konservierungswissenschaft 24, 2016, S. 103–128, bes. S. 114–115.   8 Die Anfärbungen erfolgten mit Ponceau S für Proteine und Sudanschwarz B für Öle bzw. Harze. Zum Vorgehen siehe Hans-Peter Schramm und Bernd Hering, Historische Malmaterialien und ihre Identifizierung, Berlin 1989, S. 216.   9 Köcher 2016 (Anm. 7), S. 106–107. 10 Tångeberg, Peter, The Crucifix from Hemse, in: Medieval Painting in Northern Europe. Techniques, Analysis, Art History, hrsg. von J. Nadolny, London 2006, S. 1–11, bes. S. 5–9; Unn Plahter, The Crucifix from Hemse. Analyses of the Painting Technique, in: Medieval Painting in Northern ­Europe. Techniques, Analysis, Art History, hrsg. von J. Nadolny, London 2006, S. 1–19, bes. S. 12–18. 11 Köcher 2016 (Anm. 7), S. 105–108 u. 111; Tångeberg, Peter, Mittelalterliche Holzskulpturen und Altarschreine in Schweden. Studien zu Form, Material und Technik, Stockholm 1986, S. 63; Plahter 2006 (Anm. 10), S. 12–13. 12 Erhard Brepohl, Theophilus Presbyter und das mittelalterliche Kunsthandwerk, Köln u. a. 1999, S. 66. 13 Brepohl 1999 (Anm. 12), S. 71. 14 Brepohl 1999 (Anm. 12), S. 70. 15 Heraclius, Von den Farben und Künsten der Römer (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 4), übers. und hrsg. von A. Ilg, Wien 1873, S. 70–73. 16 Heraclius 1873 (Anm. 15), S. 72–73. 17 Heraclius 1873 (Anm. 15), S. 74–75. 18 Zum Beispiel: Der „Liber illuministarum“ aus Kloster Tegernsee, hrsg. und übers. von A. Bartl u. a., Stuttgart 2005, S. 551 u. S. 601–602; Harald Theiss, „Ihr habt dem Mittelalter seine Aura genommen“. Die experimentelle Farbrekonstruktion einer spätmittelalterlichen Skulptur, in: Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken, hrsg. von S. Roller, München 2014, S. 88–118, bes. S. 111–113. 19 Bartl u. a. 2005 (Anm. 18), S. 179 u. S. 185. 20 Brepohl 1999 (Anm. 12), S. 66–67. 21 Heraclius 1873 (Anm. 15), S. 66–69.

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Lars Zieke

Wiederholung und Variation Zur Ästhetik der Oberflächengestaltung gefasster Stuckreliefs im Florenz des 15. Jahrhundert In ihrer Fixierung auf Bronze und Marmor hat die Kunstgeschichtsschreibung zur Plastik und Skulptur der italienischen Renaissance andere Materialien weitestgehend außer Acht gelassen. Besonders stiefmütterlich wurden in diesem Zusammenhang polychrom gefasste Stuckreliefs behandelt.1 Bereits Jakob Burckhardt stellte Stuck als reproduzierendes Material mit der Bezeichnung „Surrogatstoff“ in den Dienst von Marmorskulpturen.2 Verwunderlich ist die hierarchische Unterordnung des Materials Stuck nicht nur, weil sich auch von prominenten Meistern wie Donatello Werke in stucco policromo etwa in der Alten Sakristei von San Lorenzo aus der Zeit zwischen 1437 und 1443 erhalten haben.3 Hier befinden sich die Stuckreliefs mit den Szenen Die Himmelfahrt des Heiligen Johannes, Die Auferweckung der Drusina, Das Martyrium des Heiligen Johannes und Der Heilige Johannes auf Patmos in monumentalem Ausmaß und an exponierter Stelle in den Tondi der vier Pendentifs. An dem Beispiel zeigen sich die gestalterischen Eigenheiten polychrom gefassten Stucks: Jenseits der plastischen Qualitäten des Reliefs vermittelt die farbige Abstufung mit Zwischentönen des Rot- oder Ockertons auf der Oberfläche vor allem bei der Architekturdarstellung eine gesteigerte Illusion von Dreidimensionalität. Die so evozierten Schattierungen stellen die Raumlogik eindeutiger her, als es mit einer monochromen Fassung möglich gewesen wäre. Aufgrund der geringen Herstellungskosten und der praktikablen Handhabbarkeit ist

ELEKTRONISCHER den Prozessen und Dynamiken eines marktähnlichen Kunstschaffens im Florenz des QuatSONDERDRUCK Stuck für die Wiederholung von Objekten ideal geeignet.4 Hat die neuere Forschung Stuckreliefs deswegen vor allem aus wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Perspektive in

trocento kontextualisiert, sollen sie im Folgenden als Artefakte ernstgenommen und trotz des vermeintlichen Status als serielle ‚Massenware‘ in ihrer ästhetischen Eigenleistung und besonders hinsichtlich der Gestaltung ihrer Oberfläche betrachtet werden.5 Es wird in diesem Beitrag darum gehen, das Verhältnis zwischen Wiederholung und Variation auszuloten. Denn einerseits wird bei den hier aufgefächerten Beispielen ersichtlich, dass die Bildwerke im Kern die Bildfindung eines Prototyps gleich einem Zitat wiederholen, andererseits führt die gestalterische Überarbeitung und Erweiterung der Vorlage zu einem eigenständigen Werk, bei dem man nicht mehr von einer Reproduktion sprechen kann. Zentraler Ort der Variation – so die These – ist die Oberfläche von Stuckreliefs, denn

Wiederholung und Variation I 175

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1  Madonna und zwei musizierende Engel, Stuck, um 1430/1440, München, Bayerisches Nationalmuseum.

gerade die Fassung erlaubt einen hohen Grad an Abweichung im Verhältnis zu Vorbildern und Referenzwerken. In der Synthese von Plastik und Malerei modifiziert sich die ästhetische Wahrnehmung dieser Bildwerke. Daraus ergeben sich medientheoretische und rezeptionsästhetische Fragen: Bleibt die Oberfläche als Relief erkennbar? Unterstützt die Malerei die plastischen Eigenschaften oder soll das Relief die Illusion von Dreidimensionalität des Mediums der Malerei unterstützen? Auf der aus Stuck geformten Oberfläche mit ihrer haptisch erfahrbaren Plastizität und der darauf liegenden Ebene der Fassung, welche die Plastizität ­wiederum illusionistisch verstärken kann, lösen sich die zwei eigentlich gegenläufigen ­Eigenschaften beider Medien in der Wahrnehmung ihrer Synthese im Bild auf: Die materielle Opazität des Stuckreliefs kann durch den Farbauftrag durchbrochen werden, da die illusionistische Wirkung der Fassung die Eigenschaft der Oberfläche als physische Grenze der Figur auflöst. Vice versa ist die Malerei auf der Oberfläche des Reliefs nicht mehr allein auf die Transparenz  – im Sinne des Zurücktretens der materiellen Präsenz des Träger­

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mediums – angewiesen, da sie mit der Plastizität des Reliefs einen haptischen Körper als Untergrund erhält, der auf der Ebene der Darstellung mit der Figur identisch ist.6 Die Oberfläche zeigt sich auf der Grundlage dieses Spannungsverhältnisses als „Wahr­ nehmungsmedium“, wie Clemens Rathe sie jüngst materialitäts- und medientheoretisch definiert hat.7 Im Zentrum der Überlegungen steht ein bisher kaum bekanntes Stuckrelief aus dem Bayerischen Nationalmuseum in München, das durch seine formale wie ikonografische Gestaltung viele Fragen aufwirft (Abb. 1).8 Es besteht aus einem querrechteckigen Bildfeld mit profiliertem Rahmen, das von einem ebenso gerahmten Dreiecksgiebel bekrönt wird. Im Zentrum des unteren Relieffelds thront Maria, die den Jesusknaben an ihrer Brust stillt. Sie hat sich in ihrer Sitzposition gänzlich zur rechten Seite gewendet, wobei ihr Körper fast vollkommen von einem voluminösen Umhang bedeckt wird, der ihre Körperformen nur vage erahnen lässt. Der Jesusknabe steht mit seinem linken Bein auf dem Schoß der Mutter und streckt das rechte nach hinten aus. Sie umfasst die Schulter des Kindes stützend mit ihrer linken Hand, während sie mit ihrer rechten – gemäß dem Typus der Maria Lactans – dem Kind ihre Brust hinhält.9 Das Profil des Gesichts der Gottesmutter zeichnet sich vor einem aufgespannten Tuch ab, das an zwei Girlanden gebunden ist, die in den oberen Ecken des Bildfelds sowie dem Mittelpunkt der zentralen Achse über der Madonna befestigt sind. Als Ehrentuch dient es gemeinsam mit den zwei Girlanden als Würdemotiv der Jungfrau. Seitlich umgeben ist die Madonna von zwei Engeln in kleinerem Figurenmaßstab. Stehend nehmen sie die gleiche Höhe wie die Sitzende ein. Zu erklären ist die Gestaltung der Engelfiguren möglicherweise damit, dass sie, obwohl hierarchisch untergeordnet, die thronende Gottesmutter andernfalls überragt hätten. Damit wird deren herausgehobene Positionierung in der Mittelachse und unter dem Trifrons noch verstärkt. Der Größenunterschied soll jedenfalls keinerlei Tiefenräumlichkeit suggerieren, da alle Figuren auf demselben Bodenniveau stehen. Jene Strategie der Reliefgestaltung zeigt in diesem Fall eine Entfernung von an konsequenter Mimesis orientierten Darstellungs­ strategien zugunsten der Vermittlung religiöser Bedeutung. Zugleich ist dies auch in der

ELEKTRONISCHER nes Gewands der Gruppe zu. Die Figur des linken Engels ist nur noch teilweise erhalten SONDERDRUCK Bildkomposition begründet, die offensichtlich eine Anordnung der Köpfe auf einer horizontalen Linie anstrebt. Der rechte Engel spielt eine Laute und neigt sich im Schwung seiund seine Tätigkeit schwer zu erkennen. Eine heute nicht mehr existente Version der gleichen Darstellung, die sich bis 1945 im Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin befand, zeigt, wie

dieser Engel das Tuch an der Girlande befestigt (Abb. 2).10 Im Unterschied zur Version in Berlin lehnt am Thron der Madonna ein Saiteninstrument: Womöglich verweist es darauf, dass der Engel das Musizieren unterbrochen hat, um sich dem Aufhängen des Tuchs zu widmen. Das Motiv scheint für die Bildfindung eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen, bewirkt es doch eine narrative Aufladung der sonst eher statischen Wirkung der Figurengruppe. Eine Dynamisierung ist auch bei der Gestaltung des Jesusknaben zu beobachten, der in seiner kindlichen Unruhe anscheinend mit Mühe von der Jungfrau festgehalten

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2  Madonna mit zwei Engeln, Stuck, um 1440, ehemals Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum (Kriegsverlust).

wird. Zurückzuführen ist die verspielte Darstellung des Kindes auf einen Typus, der ins Due- und Trecento zurückreicht, bei dem die Nähe zwischen Mutter und Kind durch intime Gesten gesteigert wird, um damit den menschlichen Charakter beider Figuren zu unterstreichen.11 Trotz des beeinträchtigten Zustands der Arbeit ist in den genannten Bereichen eine Detailfreude zu erkennen, die auch in der feinteiligen Gestaltung der Girlande und den Faltenwürfen der Gewandung der Madonna noch zu erahnen ist. Letztere bilden im Vergleich zu den Gewandfalten der Engelfiguren eine deutlichere Tiefe heraus und geben der Jungfrau damit mehr Volumen. Im bekrönenden Giebel ist eine Gestalt mit drei Köpfen zu erkennen, von deren Häuptern Strahlen ausgehen. Sie ist als Darstellung der Dreifaltigkeit zu deuten, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch in anderen bildhauerischen Werken in Florenz zu finden ist. So gibt es eine solche auch auf Donatellos Tabernakel der Parte Guelfa an der Fassade von Orsanmichele, die um 1422–1425 zu datieren ist und ursprünglich als Rahmung für seine Bronzeplastik des Heiligen Ludwig von Toulouse geschaffen wurde.12 Auch

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auf der Frontseite eines ursprünglich in der Florentiner Kirche Santissima Annunziata lokalisierbaren Altars befindet sich ein ähnlich gestalteter Trifrons auf einem zentral platzierten Medaillon.13 Im Unterschied zu den anderen Beispielen besitzen die Köpfe des Münchner Reliefs keine eigenen Nimben, sondern werden von gemeinschaftlich aus dem Zentrum hervorgehenden, spitz zulaufenden Strahlen hinterfangen, was den Gedanken der Einheit der Dreifaltigkeit noch potenziert. Es ist anzunehmen, dass die Ikonografie der Dreifaltigkeit in der Darstellung der drei Häupter vielfältig und mit unterschiedlichen Aufgaben in der visuellen Kultur des Quattrocento in Florenz verbreitet war. Die Konjunktur des Motivs besonders in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wird häufig vor dem kirchengeschichtlichen Hintergrund der Diskussion über die Trinität während der Fortführung des Kirchenkonzils in Florenz 1439 diskutiert.14 Wegen des paganen Ursprungs der Darstellung lehnte Antonino Pierozzi, der Erzbischof von Florenz, die Ikonografie des Trifrons als „monstruum in rerum natura“ ab, was das rasche Verschwinden des Motivs in Florenz nach der Jahrhundertmitte erklärt.15 Die Oberfläche des Werks ist nur noch fragmentarisch erhalten, trotzdem sind deut­ liche Spuren einer polychromen Fassung vor allem an den Gewändern der Figuren erkennbar. Der Umhang der Jungfrau zeigt an vielen Stellen – insbesondere in den tief liegen-den Faltenöffnungen – Reste einer blauen Bemalung. Die purpurrote Fassung auf dem Stoff hinter der thronenden Madonna ist der am besten erhaltene Bereich des ­gesamten Reliefs. Er bildet einen dunklen Fond, der das helle Inkarnat von Mutter und Kind besonders hervortreten lässt. In den oberen Ecken des Bildfelds kann man an den Stellen, an denen die Girlanden befestigt sind, Reste einer blauen Fassung erkennen. Daher ist hier ein blauer Hintergrund anzunehmen, von dem sich das rote Ehrentuch deutlich abhob. Beim Ankauf durch den Verein der Kunstfreunde in München 1908 wurde das Stuck­ relief fälschlicherweise Luca della Robbia zugeschrieben, was aufgrund der Komposition und Figurenauffassung wenig überzeugt, da keine vergleichbare Anordnung bei Darstellungen der thronenden Madonna und insbesondere keine derartige Gestaltung des Kopfs

ELEKTRONISCHER derartigen Seitenansicht, die das Gesicht im absoluten Profil präsentiert. Ein Künstler oder SONDERDRUCK der Jungfrau oder einer starken Bewegtheit des Jesusknaben im Oeuvre der Della Robbia

zu finden sind.16 Ebenso wenig positionierte Luca della Robbia seine Madonnen in einer eine Werkstatt sind für das Münchner Relief nicht konkret zu benennen, da die Bildfin-

dung auf verschiedene künstlerische Lösungen des ersten Drittels des 15. Jahrhunderts zurückgreift. So lässt die Darstellung der Madonna im Profil an Donatellos Madonnenreliefs denken, die im Folgenden noch von Interesse sein werden. Der C-Schwung des rechten Engels erinnert an Figuren von Lorenzo Ghiberti, wie er etwa bei den zwei im Vordergrund stehenden Engeln seines 1427–1429 entstandenen Bronzereliefs mit der Taufe Christi auf dem Taufbecken des Baptisteriums in Siena zu finden ist. Auch hier dominieren die fast gleichmäßig in eine Richtung verlaufenden und die gesamte Partie des Gewands bestimmenden Falten den Eindruck von der Körperhaltung der Engelsfigur. Bei der Fülle

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der Referenzen auf ganz unterschiedliche Künstler entsteht der Eindruck, dass eine Werkstatt hier bewusst verschiedene erfolgreiche und gefragte Motive kompilierte. Auf der Grundlage dieser stilkritischen Beobachtungen ist anzunehmen, dass das Relief um 1430/1440 in Florenz geschaffen wurde.17 Es fällt damit in eine Zeit, zu der man für die serielle Herstellung von Bildwerken vor allem Stuck und Gips verwendete, bevor Luca della Robbia mit seiner Weiterentwicklung der figürlichen Terrakotta durch den Einsatz buntfarbiger Glasuren ab Mitte der 1440er-Jahre das Spektrum der angemessenen Materialien in Florenz erweiterte.18 Denn gerade im Florenz der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts war ein rapider Anstieg der Wiederholung von Bildwerken Donatellos oder Ghibertis in Stuck zu beobachten, insbesondere anhand von Reliefs mit der Ikonografie der Madonna mit dem Kind, für die eine besonders große Nachfrage bestand.19 Dabei handelt es sich um ein lokales Phänomen, da die Überzahl der erhaltenen Stuckreliefs des 15. Jahrhunderts aus Florenz stammt, mit wenigen Ausnahmen aus Siena. Die Technik tauchte demnach schlagartig im frühen 15. Jahrhundert auf und verschwand ebenso schnell wieder zum Ende des Quattrocento.20 Für viele Werkstätten bot die serielle Produktion eine zusätzliche und sichere Einnahmequelle, denn die Stuckarbeiten konnten schnell, günstig und auf Vorrat gefertigt werden.21 Erfolgreiche Bildwerke wurden daher kopiert und zu einem vergleichsweise geringen Preis vertrieben.22 Wegen des geringen Materialwerts und der häufigen Verwendung als Reproduktionsmedium von Vorlagen bekannter Künstler passten Stuckreliefs nicht zu den Leitlinien von Originalität und Invention der tradierten Meistererzählungen älterer Kunstgeschichtsschreibung.23 Ein Problem bei dieser Bewertung stellt das Missverhältnis der oft seriell hergestellten Werke zum modernen Kunstverständnis dar, welches durch eine Überhöhung des Originals bestimmt ist und die Wiederholung eher als minderwertig erachtet. Die Trennung von High and Low, zwischen Hoch- und Gebrauchskunst, definiert sich dabei nicht nur durch eine Hierarchisierung der Kategorien von Originalität und Nachahmung oder des von der Hand des Meisters geschaffenen oder von der Werkstatt gefertigten ­Bildes, sondern auch mittels einer Negation des künstlerischen und kulturgeschichtlichen Werts von Variationen eines gemeinsamen Vorbilds.24 In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist die Wahrnehmung solcher Bilder aber eine völlig andere und die Kategorie der Werkstatt-Arbeit existierte noch nicht in ihrer heutigen negativ wertenden Form.25 Die autorschaftliche Eigenhändigkeit einer Bildfindung war demnach ein weniger wichtiges Kriterium im Entstehungs- und Rezeptionskontext von Stuckreliefs im Quattrocento. ­Zudem stand die aufkeimende Kunsttheorie, die im Verlauf des 15. Jahrhunderts die dichotomen Vorstellungen von Hoch- und Gebrauchskunst durch die Überhöhung von invenzione und ingenio etablierte, einer alltäglichen Praxis der Herstellung und des Vertriebs von Bildwerken gegenüber.26 In der Folge gewann der erkenn- und benennbare Personalstil für die qualitative Bewertung und preisliche Einschätzung des Kunstwerks an Bedeutung, welches damit auch als Ausdruck der Person des Künstlers greifbar wurde und in Anerkennung der intellektuellen Leistung seiner sozialen Aufwertung zugutekam.27

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Vor dem Hintergrund eines neuen Kunstverständnisses im Spannungsverhältnis zu diversen Bildpraktiken innerhalb der visuellen Kultur des Quattrocento in Florenz ist für die hier betrachteten Gegenstände von Interesse, dass bei den seriell hergestellten Bildwerken insbesondere die polychrome Fassung das Potenzial besaß, den individuellen Charakter eines Werks zu sichern. Auf diese Weise konnte sich das Stuckrelief sowohl von seinem Vorbild als auch von verwandten Repliken abheben. Im Folgenden sind anhand von Variationen von Donatellos Pazzi-Madonna und Desiderio da Settignanos Turiner Madonna die gestalterischen Möglichkeiten des Materials Stuck in der Florentiner Bildkultur des Quattrocento zu beleuchten. Der Fokus liegt dabei auf dem Spannungsverhältnis zwischen der notwendigen Ähnlichkeit zum Prototyp und den weitreichenden Möglichkeiten der Veränderung und Entfernung von ihm. Die behandelten Werke sollen dabei jedoch nicht als reine Reproduktionen einer Vorlage klassifiziert, sondern vielmehr als eigenständig gestaltete Objekte betrachtet werden, die trotz Formen der Überarbeitung, Veränderung und Ergänzung im Kern gleichwohl den Bezug zu einem prominenten Prototyp erkennbar lassen. Bei der Herstellung unterscheiden sich die Stuckreliefs des Quattrocento nicht so sehr von Variationen in Terrakotta: Auch hier wurde die Masse in eine Form gepresst und ließ sich danach noch weiterbearbeiten.28 Die Formen, die nach einem Prototyp gefertigt wurden, waren mehrfach verwendbar.29 Abgüsse oder Abformungen konnten nach der Herausnahme aus der Negativform verändert werden, was vor allem Attribute, Wappen oder weitere Details betrifft. Die Vervielfältigung war demnach häufig durch künstlerische Überarbeitung geprägt, denn die Vorlagen wurden dabei nicht nur kopiert, sondern modifiziert und kompiliert. Das Mittel intensivster Überarbeitung und Variation stellte vor allem die farbige Fassung der Oberfläche dar.30 Waren die als Vorlage dienenden Marmorreliefs zumeist nicht bemalt, konnte damit im wiederholten Bild ein hoher Grad an Individualisierung erreicht werden. Zudem konnte die plastische Wirkung eines solchen Stücks dadurch noch deutlich gesteigert, aber auch gemindert werden. Daraus ergibt sich die Frage, wie der rezeptionsästheti-

ELEKTRONISCHER Eine intensive Rezeptionsgeschichte erfuhr Donatellos um 1420 fertiggestellte PazziSONDERDRUCK

sche Status der Bemalung zu bewerten ist und welche Ziele die Oberflächengestaltung der Stuckreliefs im Verhältnis zu Materialimitation und im Wettstreit mit der Malerei verfolgt.

Madonna.31 Wir wissen nicht, wer das Relief in Auftrag gegeben hat. Mit seinen Referenzen an antike Kunst – etwa mit der an römische Gemmen erinnernden Profilansicht und

dem antikisierenden Gesichtstypus der Maria32 – richtete es sich jedoch vermutlich an eine elitäre Klientel, welche nicht nur über die aktuellen Tendenzen der Kunstproduktion in Florenz informiert, sondern auch maßgeblich an ihrer Förderung beteiligt war. 33 Überliefert sind eine Terrakotta-Arbeit und sieben Stuckbildwerke, die größtenteils im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts nach dem Vorbild der Pazzi-Madonna entstanden sind.34 Hinsichtlich der Verwendung von Materialien und den Graden der Umarbeitung unterscheiden sich die Objekte voneinander, sind aber in ihrem Kern durch Donatellos Figurenkom-

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position miteinander verbunden. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Oberfläche als aktiver Ort künstlerischer Variation im Spannungsverhältnis von Nähe zum Vorbild und Individualisierung dient. Ein Beispiel aus Prag weist unter den Wiederholungen in Stuck die größte Nähe zum Original auf,35 betrachtet man die Übernahme der stark auf den Mittelpunkt zulaufenden, schräg zurückgesetzten Seitenwände der Rahmung, mit der Donatello im rilievo schiacciato Tiefenräumlichkeit zu erzeugen und den Blick ins Zentrum des Bildes zu lenken versuchte (Abb. 3).36 Dies lässt auch einen idealen Betrachter:innenstandpunkt mit starker Untersicht annehmen. Während der räumliche Charakter des Hintergrunds von Donatellos Relief unbestimmt bleibt, definiert die rote Fassung im Prager Relief ihn deutlicher als eine flache Begrenzung hinter den Figuren. Damit wird gleichsam ein Kontrast zu den ­Figuren aufgebaut, der die räumliche Logik des Vorne und Hinten stärker herausstellt, als es im ungefassten Marmorrelief der Fall ist. Zudem erhalten Mutter und Kind mit der farblichen Ausführung von Augen und Mund eine gegenwärtigere Wirkung. Ihnen wird dadurch ein stärkerer menschlicher Ausdruck verliehen, als es bei den Figuren der PazziMadonna der Fall ist. Um dem Anspruch eines Rekurses auf antike Bildhauerei gerecht zu werden, gestaltete Donatello die Madonna nicht nur durch eine klassische Profilansicht, sondern verlieh ihr zudem eine zurückhaltende, fast emotionslose Mimik. 37 Der durch ­Affektreduzierung charakterisierte Gesichtsausdruck, der im Kontrast zur körperlichen Nähe zum Jesusknaben steht, ist als Würdemotiv im Sinne emotionaler Gefasstheit zu deuten. Befördert wird diese Wirkung durch den Farbverzicht und die Marmorsichtigkeit. Dabei entsteht ein Effekt der Distanzierung, der sich von parallel bestehenden Darstellungskonventionen unterscheidet, die eine Annäherung der Betrachter:innen durch eine besonders menschliche Darstellung der Maria bewirken sollten. Der farbigen Fassung der Prager Madonna mit Kind kommt demnach die Rolle zu, das Bildwerk zu verlebendigen (Abb. 3).38 Damit soll der distanzierende Gesichtsausdruck des Vorbilds zugunsten des Eindrucks einer intensiveren Nähe der Rezipient:innen zu den heiligen Figuren überwunden werden. In diesem Zusammenhang sei auf Quellen verwiesen, welche die mimetischen Möglichkeiten und die ästhetische Wirkung aufgetragener Farbe auf Skulptur beschreiben und beispielsweise mit dem Begriff der versimilitas – der Wahrheitsnähe – assoziieren.39 Bereits Petrarca beschrieb in De remediis utriusque fortunate (1354–1366) „statue colorate“ und erwähnte, wie er vor einem Bild des Heiligen Ambrosius aus bemaltem Stuck mit großer Ähnlichkeit („somigliantissima“) zum Porträtierten in andächtige Kontemplation versank, dem allein die Stimme fehlte, um zu glauben, es sei der leibhaftige Ambrosius („manca solo la voce, perché tu creda di vedere Ambrogio vivo“).40 Bei der Schilderung des Eindrucks einer Vergegenwärtigung des Repräsentierten geht es nicht um eine Ähnlichkeit des Wiedererkennens, da Petrarca wahrscheinlich keine Kenntnis über das genaue Antlitz des Heiligen hatte, sondern um die glaubwürdige Darstellung. Der Fassung („colorate“) der Skulptur ist hier daher eine entscheidende Rolle für die lebendige Wirkung des Bildes beizumessen.

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ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

3  Donatello-Umkreis (?), Jungfrau mit Kind, Stuck, 15. Jahrhundert, Prag, Národní galerie.

Bei einem wohl um 1450 nach Donatellos Pazzi-Madonna entstandenen Stuckrelief im Louvre ist zu beobachten, wie das für die Raumkomposition entscheidende Element der nach hinten fluchtenden, rahmenden Seitenwände weggelassen wird (Abb. 4).41 Auch wenn wir nichts über einen möglichen Rahmen von Donatellos Marmorrelief wissen, so fällt hier doch auf, dass die Figurenkomposition in ein hochrechteckiges Format übertragen wurde und einen Ädikula-Rahmen mit flankierenden Pilastern sowie einem bekrönenden Giebel mit Gottvater und Cherubim erhielt. Das Beifügen eines exponierenden Rahmens ist mit der Wirkung des Rahmens beim Münchner Relief zu vergleichen, der die Erweiterung des ikonografischen Programms durch zusätzliche Figuren ermöglichte. Ergänzt wurden im

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4 Donatello-Umkreis, Jungfrau mit Kind, Stuck, um 1450, Paris, Musée du Louvre.

Bildwerk des Louvre zudem plastische Heiligenscheine. Mit der Gestaltung eines flachen Hintergrunds, der durch den Verzicht auf die Übernahme des perspektivisch stark verkürzten Gewändes und der dadurch gewonnenen Suggestion von Tiefenräumlichkeit der PazziMadonna zustande kam, wurde hier im Bildraum Platz geschaffen für die Nimbus-Scheiben. Damit wurde die antikisierende Wirkung von Donatellos Berliner Relief durch eine Gestaltung ersetzt, die im unmittelbaren Anschmiegen an das Köpfchen des Erlösers Assoziationen mit der Darstellungsweise des Ikonentypus der Eleusa freisetzt.42 Der Typus, wie er etwa in der bekannten Notre-Dame de Grâce in Cambrai (um 1340) zu finden ist, sollte mit der Darstellung von Innigkeit und Zärtlichkeit der Mutter und des Kindes Barmherzigkeit vermitteln.43 Technische Untersuchungen im Zuge einer Restaurierung 2012 bestätigten, dass das Stuckrelief in Paris nicht erst in einer späteren Epoche übermalt wurde, son-

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1. KORREKTUR 2 3 4

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

5  Nach Donatello, Jungfrau mit Kind, Stuck und Holz, um 1435–1440, London, Victoria & Albert Museum.

dern von Beginn an polychrom gefasst war.44 Die Analysen ergaben zudem, dass für die Beispiele in Prag und Paris verschiedene Gussformen verwendet wurden.45 Es ist daher anzunehmen, dass die Variationen nach Donatello nicht zwingend aus dessen Werkstatt hervorgegangen sein müssen, womit sich die intensive Art der Überarbeitung und die Abweichung vom Prototyp erklärt. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich ein Bildhauer einer anderen Werkstatt an das prominente Vorbild anlehnte – was zu dieser Zeit möglich war, da es noch keine geschützte Urheberschaft von Bildfindungen gab.

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Mit dem intensiven Einsatz von Farbigkeit zur Steigerung der Naturähnlichkeit und der Illusion von Dreidimensionalität auf einer zusätzlichen Ebene jenseits der plastischen Möglichkeiten des Reliefs entfernen sich die Stuckreliefs in ihrer Wirkung vom Prototyp Donatellos. Er hatte bei der Pazzi-Madonna trotz der Flachheit des rilievo schiacciato den höchsten Eindruck plastischer Wirkung erzielt, einer Technik, die als bildhauerische Auseinandersetzung mit dem zweidimensionalen Medium des Tafelbilds zu verstehen ist.46 Trotz aller Verschiedenheiten untereinander und zum Prototyp wird deutlich, dass die Ähnlichkeit zu Donatellos Bildfindung notwendig für die Gestaltung und Wahrnehmung dieser Objekte bleibt. Mit der Bildfindung der Pazzi-Madonna verwandt, eventuell aber auch auf eine nicht ­erhaltene Bronzeplakette Donatellos zurückgehend, hat sich im Victoria and Albert ­Museum ein Stuckrelief erhalten, das um 1435–1440 entstanden ist (Abb.  5).47 Gefasst wurde das Werk wohl von Paolo Schiavo.48 Trotz des materiellen Unterschieds des Stuckreliefs im Zentrum zum Holzrahmen bilden beide Elemente mittels der Vergoldung und Bemalung eine Einheit. Die Materialität der Trägermedien spielt folglich eine untergeordnete Rolle. Die Verwendung des Stucks erklärt sich hier eher aus den Möglichkeiten zur Formung einer tatsächlichen plastischen Oberfläche, die für den Bezug zu Donatellos Madonna als Prototyp von Bedeutung ist. Teile des Holzrahmens werden gar zur Bildfläche, indem sie als Erweiterung des Bildfelds im Zentrum fungieren. Mit den aufeinandertreffenden schrägen Schnittseiten der Leisten des Holzrahmens wird versucht, einen tiefenillusionistischen Eindruck im Sinne von in den Hintergrund fluchtenden Linien, mit der Konstruktion des Bildraums in Donatellos Pazzi-Madonna vergleichbar, zu erzeugen; sie fingieren so einen dreidimensionalen Kastenraum. Durch den Goldgrund wird dieser aber nicht als ein der irdischen Wirklichkeit entsprechender Ort definiert – mit Ausnahme der Grasfläche im unteren Bereich, auf der die nackte Eva lagert. Durch das Hinzufügen von zwei Engeln auf dem Rahmen, die ein Tuch gleich einem Baldachin über die Mutter mit Kind spannen, wird die Raumillusion noch gesteigert, denn sie scheinen seitlich vor der Madonna zu schweben, die in ihrem rilievo aus der Fläche herausragt. Zudem bestimmt der Eindruck der Schrägstellung das Verhältnis der Engel zur Madonna ähnlich der Klappfunktion von Seitenflügeln, womit die suggerierte Tiefenwirkung verstärkt wird. Das Relief ist durch die zusätzlichen Figuren in seinem ikonografischen Programm komplexer ausgebaut, wodurch weitere Bedeutungsebenen eröffnet werden. So verweist die liegende Eva auf die typologische Deutung Marias als „Zweiter Eva“ oder „Neuer Eva“.49 Mit diesem Motiv wird die heilsgeschichtliche Bedeutung der Maria betont, die durch das Gebären des Gottessohns – des „Neuen Adams“ – zur Überwindung der Erbsünde beiträgt. Etabliert hatte sich die Ikonografie der Kombination einer thronenden Madonna mit der lagernden Eva vor allem in der Sieneser Malerei des 14. Jahrhunderts und fand durch die Rezeption eines Freskos von Ambrogio Lorenzetti in Montesiepi Verbreitung in der Tafelmalerei.50 An gleicher Stelle wurde in einem polychrom gefassten Stuckrelief der Madonna mit Kind, das nach einem prominenten Prototyp der sogenann-

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ten Madonna ghibertiana geschaffen wurde,51 auf dem Sockel eine lagernde Eva ergänzt, die bei Ghibertis Vorbild nicht vorgesehen war, jedoch die Figur der oberen rechten Leiste seiner Paradiestür des Florentiner Baptisteriums (1425–1452) wiederholt, die horizontal über dem Bronzerelief mit Erschaffung, Sündenfall und Vertreibung Adams und Evas verläuft.52 Das freie Hinzufügen eines autonomen ikonografischen Bestandteils mit gewichtigen Auswirkungen für den Sinnzusammenhang ähnelt der Ergänzung der Dreifaltigkeit im Giebel des Münchner Bildwerks. Das Bildprogramm des Werks aus dem Victoria and Albert Museum wurde an gleicher Stelle durch Gottvater und einen Propheten mit Schriftrolle im Konsolensockel erweitert. Die Madonna ghibertiana mit lagernder Eva zeigt, dass auch Bronzearbeiten in stucco reproduziert wurden, selbst wenn die Materialität des Prototyps für das neu geschaffene Objekt keine große Bedeutung gehabt zu haben scheint, sondern eher die funktionsbedingte Mobilität ausschlaggebend war. Über den konkreten Gebrauchskontext des Werks aus London lässt sich nur spekulieren, jedoch ähnelt die oben angebrachte Ringhalterung der Anhängerfunktion der Bronzeplakette. Gleichwohl kommt es in der Form eines anderen Bildmediums – wie etwa ein Altarretabel oder ein Bild zur häuslichen Andacht – daher, was anhand des Ädikula-Rahmens deutlich wird. Die formalen Bezüge zur Tafelmalerei legen ein Bedürfnis zum Aufbringen einer farbigen Fassung nahe. Mit den genannten Modifikationstechniken entfernen sich die hier behandelten Objekte von ihren Referenzwerken wie dem Marmorrelief der Pazzi-Madonna vor allem hinsichtlich der farbigen Gestaltung der Oberfläche. Bei aller Überarbeitung und Veränderung bleibt im Ergebnis jedoch die Wiedererkennbarkeit des Prototyps ein wichtiger Faktor für die Rezeption. Durch die Hinzufügung der Fassung als zusätzlicher Schicht auf der als Ort der Variation identifizierten Oberfläche entsteht ein neues Bild, bei dem jedoch der Prototyp als Träger der neuen Bildgestaltung erkennbar bleibt. Ein weiteres und besonders vielschichtiges Beispiel der Überarbeitung und Variation eines Marmorvorbilds ist die Madonna mit Kind aus dem Liebieghaus in Frankfurt (Abb.  6).53 Das Relief zeigt die Jungfrau als Halbfigur dicht am Bildvordergrund, den

ELEKTRONISCHER das im Quattrocento in vielen Werken mit der Madonna oder anderen Heiligen in HalbfiSONDERDRUCK

­Jesusknaben, auf den ihr Blick gerichtet ist, mit beiden Händen umfassend. Er steht auf dem unteren Rand des Bildes und eröffnet damit ein Spiel mit der ästhetischen Grenze, gur zum Topos wurde.54 Vorbild war die sogenannte Turiner Madonna von Desiderio da

Settignano, bei der unklar ist, ob ein Marmorrelief in der Galleria Sabauda in Turin den Status als Prototyp einnimmt oder letzteres selbst erst nach einem Tonmodell Desiderios als Vorbild entstanden war.55 Die Komposition ähnelt dem ikonografischen Typus der Eleusa, in dem – wie bereits oben beschrieben – das Verhältnis zwischen Jungfrau und Kind durch eine besondere Intimität geprägt ist. Auf das Vorbild der Turiner Madonna gehen weitere Reliefs in zahlreichen anderen Museen zurück, welche in die 1450er-Jahre zu datieren sind.56 Eine wesentliche Veränderung erreicht das Stuckrelief durch die Modifikation hin zu ­einem halbrund geschlossenen Hochformat, was der Künstler nutzt, um

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6  Nach Desiderio da Settignano und Neri di Bicci, Madonna mit Kind, Stuck, um 1460/1465, Frankfurt/Main, Liebieghaus, Skulpturen­ sammlung.

einen Vorhang zu ergänzen, der von zwei Engeln in kleinerem Figurenmaßstab zur Seite gezogen wird und die Madonna in der Mitte rahmend hervorhebt. Obwohl sich die Engel zwar offensichtlich durch die Überschneidung durch Jungfrau und Jesusknaben im Hintergrund befinden, wird offengehalten, ob sie den Eindruck evozieren sollen, mit dem Aufziehen des Vorhangs die heiligen Figuren enthüllt zu haben. Auffällig ist aber vor allem, wie sich das Bildwerk durch die Bemalung vom Prototyp entfernt und wesentliche Ele-

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mente ergänzt, um damit letztlich eine nahezu neue Bildfindung hervorzubringen. Die Malerei gewinnt hier derart an Oberhand, dass sich von „pittura a rilievo“ statt „scultura dipinta“ sprechen ließe, wie es Giancarlo Gentilini für einige polychrom gefasste Reliefs des Quattrocento vorschlug.57 Einen Mehrwert bietet unter anderem die Möglichkeit zu einer differenzierten Darstellung der Gewandfarben, eine Goldfassung der Nimben sowie eine reiche Gestaltung des Vorhangs als mit floralen Elementen geschmückter Brokatstoff. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Inkarnat, das mit der Rottönung der Wangen und den Schattierungen der Augenlider eine subtile Plastizität vor allem im Gesicht der Madonna verstärkt. Auch Gewand- und Körperfalten werden mit dem Auftragen dunklerer Farbschichten in den tieferliegenden Furchen in ihrer Plastizität verstärkt, die an sich bereits im Flachrelief vorhanden ist. Malerische Effekte ästhetischer Illusion durch chiaroscuro sollen demnach – wie in der Malerei auf flachem Grund – die plastischen Eigenschaften des Reliefs potenzieren. In diesem Fall ist das jedoch nicht in einen Paragone zwischen Malerei und Skulptur einzuordnen, in dem die Malerei als unterstützende und aushelfende Kunst triumphieren würde.58 Denn gemäß dem Begriff des rilievo, der in der Kunstliteratur des Quattrocento eigentlich für den illusionistischen Effekt von Plastizität in der Malerei verwendet wird, würde eine der Skulptur überlegene Malerei keiner tatsächlichen skulpturalen Eigenschaften der Bildoberfläche bedürfen, sondern allein durch Farbe eine dreidimensionale Wirkung erzielen.59 Vielmehr wirken hier divergierende Eigenschaften der unterschiedlichen Techniken zusammen, die jenseits normierender Vorstellungen der Kunsttheorie auf ein vergleichbares Ziel hinarbeiten. Die malerische Ausführung wurde anhand der länglichen Engelsköpfe dem Florentiner Maler Neri di Bicci zugeschrieben.60 Jenseits stilkritischer Erklärungsversuche lässt sich die Zuschreibung auch arbeitsökonomisch erklären, denn Fassungen auf Stuck wurden oft Malerwerkstätten übertragen, da sie dafür besser ausgebildet waren.61 Dergleichen ist insbesondere für die Werkstatt des Neri di Bicci nachgewiesen.62 Dessen Ricordanze der Jahre 1453 bis 1475 geben Aufschluss über seine regelmäßige Zusammenarbeit mit Desiderio da Settignano, wenn das auch nicht zwangsläufig für die Frankfurter Madonna zutreffen

ELEKTRONISCHER erkennen, dass die Werkstatt Stuckarbeiten hundertfach zur Bemalung und zum anschlieSONDERDRUCK

muss.63 So erwähnt der Maler in einem Eintrag vom 19. Februar 1464 die Bearbeitung einer „Muttergottes aus Gips von der Hand Desiderios“.64 In Neris Rechnungsbüchern lässt sich

ßenden Verkauf übernahm.65 Die Kooperation zwischen einer Bildhauer- und Malerwerkstatt ist daher im Fall beider Künstler als ökonomisches Erfolgsmodell zu bewerten. Wie ist der ästhetische Status der Farbfassung von Stuckreliefs im Verhältnis zu den Qualitäten der Tafelmalerei als konkurrierendem Medium zu bewerten? Offensichtlich ist, dass der Einsatz von Farbe in der Tafelmalerei technische Unterschiede aufweist und eine differente Funktion hinsichtlich der Erzeugung von ästhetischer Illusion bei der Wahrnehmung des Bildes verfolgt. Wie gezeigt wurde, soll die Fassung von Stuckreliefs vor allem eine verlebendigende Wirkung erzeugen, da Plastizität durch die Reliefoberfläche bereits vorgegeben ist und durch den Farbauftrag eventuell verstärkt werden kann. Der Vorteil

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einer tatsächlichen und nicht fingierten Dreidimensionalität liegt in der haptischen Evidenz. Gerade im Hinblick auf den wahrscheinlichen Gebrauch der meisten Madonnen­ reliefs im Bereich der häuslichen Frömmigkeitspraxis lässt erwarten, dass ein Berühren des Bildes von großer Bedeutung war. 66 Für die Imagination körperlicher Nähe zur Madonna bietet sich bei den Reliefs ein deutlicher Mehrwert für den andächtigen Bildgebrauch. Berührbar ist ein Tafelbild zwar auch, jedoch stellt hier die Opazität der Bildoberfläche als Grenze eine größere Distanz zum Dargestellten her, als es beim Berühren einer Reliefoberfläche und ihrer Andeutung des Körpervolumens der Fall ist. Die im Relief gewonnene Plastizität bewirkt folglich einen stärkeren Präsenzeffekt der Figuren. Demnach geht es zwangsläufig nicht nur darum, ein Bildwerk zu besitzen, das unter Umständen preiswerter als ein gemaltes Tafelbild ist, sondern mit seiner Plastizität den für die religiöse Versenkung wichtigen Wunsch nach Nähe zum Dargestellten im Kontext des häuslichen Bildgebrauchs zu erfüllen. Mit dem Relief aus München und den Variationen nach der Pazzi-Madonna oder der Turiner Madonna haben sich Werke erhalten, die nicht die Nachfrage einer sozial hochrangigen Klientel und deren Wunsch nach Repräsentation durch neuartige, singuläre Kunstobjekte befriedigen sollte. Verbunden mit diesen Objekten ist vielmehr eine Geschmackswanderung durch soziale Schichten, indem sich eine mittlere Schicht mit eigenen Distinktionsabsichten an der Kunstförderung der Eliten orientierte. Besonders der Prozess der Rezeption der Pazzi-Madonna zeigt für die Bildkultur des Quattrocento in Florenz, wie ausgehend von einem Objekt, das für einen elitären Auftraggeberkreis geschaffen wurde, durch Variationen in Stuck neuartige Bildfindungen zu einem breiteren Käuferkreis durchdringen und dabei einen vielfältigen Prozess der Umgestaltung durchlaufen. Insbesondere die Fassung der Oberfläche bot, wie die hier behandelten Objekte zeigen, einen hohen Grad an Individualisierung, womit die Stuckreliefs deutlich über den Status als bloße Repliken hinausgehen. Die Oberfläche von Florentiner Reliefs in stucco policromo offenbart sich damit als aktiver Ort der Variation.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Anmerkungen   1 Für eine Zusammenfassung der Forschungsliteratur zu Stuckreliefs des Quattrocento mit einer kritischen Kommentierung einer den Kanon prägenden Bevorzugung hochwertiger Materialien in der älteren und aktuellen Kunstgeschichtsschreibung siehe Sarah Blake McHam, Now and then. Recovering a Sense of Different Values, in: Depth of Field. Relief Sculpture in Renaissance Italy, hrsg. von D. Cooper und M. Leino, Oxford 2007, S. 305–350, etwa wird Polychromie in Standardwerken wie John W. Pope-Hennessy, Introduction to Italian Sculpture, 3 Bde., London 1955– 1963, nicht erwähnt, vgl. Roberta Panzanelli, Beyond the Pale. Polychromy and Western Art, in: The Color of Life. Polychromy in Sculpture from Antiquity to the Present. Beiträge des Sympo­ siums Rediscovering Color. New Perspectives on Polychrome Sculpture (Malibu, 2008), hrsg. von R. Panzanelli, Los Angeles 2008, S. 2–17, hier S. 3.   2 Jacob Burckhardt, Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien. Das Altarbild, das Porträt in der Malerei, die Sammler, Basel 1898, S. 301; Jacob Burckhardt. Das Altarbild – Das Porträt in der Malerei – Die Sammler. Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien (Jacob Burckhardt. Werke. Kritische Gesamtausgabe 6), hrsg. von S. von Boch, München/Basel 2000, S. 294: „Durch ihre Fähigkeit der Vervielfachung, wobei sie auch in Surrogatstoffen den Originalien so nahe kommen kann, wird diese Kunst von selbst den Sammlergeist geweckt haben; jene bisweilen lebensgroßen Reliefhalbfiguren der Madonna mit dem Kinde seit Jacopo della Quercia und Ghiberti, namentlich aber seit Donatello leben bekanntlich nicht bloß als Marmorexemplare weiter, sondern auch in Thon, Stucco und Gyps, und zwar von Anfang an und öfter nur in diesen Stoffen.“   3 Vgl. Rolf C. Wirtz, Donatello, Köln 1998, S. 56–65.   4 Zu Stuckabgüssen nach Antiken im 15. Jh. vgl. Norberto Gramaccini, Ideeller Besitz. Paduaner Gipsabgüsse des Quattrocento, in: Reproduktion. Techniken und Ideen von der Antike bis heute, hrsg. von J. Probst, Berlin 2011, S. 58–83.   5 Eine kritische Zusammenfassung zur Forschungsliteratur und den wenigen Ausnahmen einer Berücksichtigung des Materials Stuck bei der Beschäftigung mit Skulpturen der Madonna mit Kind im Quattrocento siehe Blake McHam 2007 (Anm. 1).   6 Vgl. Klaus Krüger, Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001, S. 27–45; Louis Marin, Opacité de la peinture. Essais sur la représentation en Quattrocento, Paris 1989.   7 Vgl. Clemens Rathe, Die Philosophie der Oberfläche. Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Äußerlichkeiten und ihre tiefere Bedeutung, Bielefeld 2020, S. 69–71.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

 8 Florentinisch, Madonna und zwei musizierende Engel, um 1430/1440, Stuck, farbig gefasst, 70 × 56 cm, München, Bayerisches Nationalmuseum, Inv. Nr. R 8700. Mein besonderer Dank gilt Dr. Matthias Weniger, Bayerisches Nationalmuseum, München, der mich auf das Objekt aufmerksam gemacht hat.   9 Zur Ikonografie der Maria lactans vgl. Wolfgang Braunfels u. a., Maria, Marienbild, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3, Freiburg im Breisgau 1994, Sp. 154–210, hier Sp. 158–159. 10 Florentinisch, Madonna mit zwei Engeln, um 1430/1440, Stuck, farbig gefasst, 42,5 × 48 cm, ehemals Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum (Kriegsverlust), vgl. Skulpturen, Möbel (Dokumentation der Verluste 7), hrsg. von Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 2006, Nr. 141. 11 Vgl. Günter Passavant, Zu einigen toskanischen Terrakotta-Madonnen der Frührenaissance, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 2/3, 1987, S. 197–236, hierzu S. 200–202. Er schließt an die Beobachtungen von Krautheimer an, siehe Richard Krautheimer, Terracotta Madonnas, in: Parnassus 8, 1936, Heft 7, S. 4–8. 12 Vgl. Luisa Becherucci, Com’era il San Ludovico di Tolosa?, in: Donatello-Studien (Italienische Forschungen 16), hrsg. von Kunsthistorisches Institut in Florenz, München 1989, S. 183–185.

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13 Pagno di Lapo Portigiani und Michelozzo (?), Altarfront, 1449–1452, Marmor, 82 × 132 × 62 cm, Florenz, Museo Stefano Bardini, vgl. The Springtime of the Renaissance. Sculpture and the Arts in Florence 1400–60, Ausst.-Kat. (Florenz, Palazzo Strozzi und Paris, Musée du Louvre, 2013–2014), hrsg. von B. Paolozzi Strozzi und M. Bormand, Florenz 2013, Nr. III.26, S. 338; Il Museo Bardini a Firenze. Le Sculture, hrsg. von E. Neri Lusanna und L. Faedo, Mailand 1986, S. 252–254. 14 Vgl. Paolo Viti, The 1439 Council, in: The Springtime of the Renaissance. Sculpture and the Arts in Florence 1400–60, Ausst.-Kat. (Florenz, Palazzo Strozzi und Paris, Musée du Louvre, 2013–2014), hrsg. von B. Paolozzi Strozzi und M. Bormand, Florenz 2013, S. 197–203. 15 Zit. nach Springtime of the Renaissance 2013 (Anm. 13), S. 338. 16 Brief des Bayerischen Verein der Kunstfreunde (Museums-Verein) vom 19. Juli 1908 an die Direktion des Bayerischen Nationalmuseums: „Zugleich habe ich Ihnen mitzuteilen, dass der Verein durch Vermittlung Sr. Kgl. H. des Prinzen Rupprecht ein Relief erworben hat, das nach Geheimrat Strack in die erste Schaffenszeit des Luca della Robbia gehört. Der Verein wird das Relief dem B. Nationalmuseum zur Aufstellung überlassen u. erbittet hierfür Ihre Zustimmung.“ Im Zuge der Verhandlungen um den Ankauf war anfangs nicht sicher, dass das Relief ins Nationalmuseum gelangen würde, da auch die Alte Pinakothek Interesse an dem Objekt zeigt, was der Antwortbrief des Direktors, Georg Hager, vom 6. August 1908 belegt: „Doch möchten wir nicht verschweigen, daß Herr Geheimrat v. Reber durch seinen Assistenten schon vor einigen Wochen bei uns anfragen ließ, ob wir nicht unter Umständen auf dieses Relief zu Gunsten der Alten Pinakothek, wo ein Raum mit italienischer Plastik eingerichtet werden soll, verzichten würden.“ 17 Wilhelm von Bode, Die italienische Plastik, Berlin 1911, S. 155, datiert es um 1430. 18 Vgl. Burce Boucher, Italian Renaissance terracotta. Artistic revival or technological innovation?, in: Earth and fire. Italian terracotta sculpture from Donatello to Canova, hrsg. von B. Boucher, New Haven/London 2001, S. 1–31, hier S. 13–16; Giancarlo Gentilini, I Della Robbia. La scultura invetriata nel Rinascimento, Florenz 1992, Bd. 1, 39–81; Ronald Kecks, Madonna und Kind. Das häusliche Andachtsbild im Florenz des 15. Jahrhunderts, Berlin 1988, S. 141; Antony Radcliffe, Multiple Production in the Fifteenth Century. Florentine Stucco Madonnas and the della Robbia Workshop, in: Renaissance and Later Sculpture, with Works of Art in Bronze. The Thyssen-Bornemisza Collection, hrsg. von A. Radcliffe, M. Baker und M. Maek-Gérard, London 1992, S. 16–23. 19 Vgl. Ulrich Middeldorf, Some Florentine painted Madonna reliefs, in: Collaboration in Italian Renaissance Art, hrsg. von W. Stedman Sheard und J. T. Paoletti, New Haven 1978, S. 77–90; Kecks 1988 (Anm. 18), S. 136–142; Geraldine A. Johnson, Art or Artefact? Madonna and Child Reliefs in the Early Renaissance, in: The Sculpted Object 1400–1700, hrsg. von S. Currie und P. Motture, Farnham 1997, S. 1–24. 20 Vgl. Middeldorf 1978 (Anm. 19); Kecks 1988 (Anm. 18), S. 136; Giancarlo Gentilini, Scultura dipinta o pittura a rilievo? Riflessioni sulla policromia nel Quattrocentro fiorentino, in: Techne 36, 2012, S. 8–17. 21 Vgl. Kecks 1988 (Anm. 18), S. 149–150.; Rita Maria Comanducci, Produzione seriale e mercato dell’arte a Firenze tra Quattro e Cinquecento, in: The art market in Italy. 15th–17th centuries, hrsg. von M. Fantoni u. a., Modena 2003, S.  105–113, hier S.  107; Susanne Kubersky-Piredda, Kunstwerke – Kunstwerte. Die Florentiner Maler der Renaissance und der Kunstmarkt ihrer Zeit, Norderstedt 2005, S. 234–235. 22 Auf diese Werkstattpraxis verweist bereits Wilhelm von Bode, Italienische Portraitsculpturen des XV. Jahrhunderts in den Königlichen Museen zu Berlin, Berlin 1883, S. 27. 23 Vgl. Andreas Huth, Fassung verloren. Das Verhältnis der Kunstgeschichte zu gefassten Bildwerken des Quattrocento, in: VDR-Beiträge zur Erhaltung von Kunst- und Kulturgut 2020, Heft 1, S. 23– 37, hier S. 26–28.

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1. KORREKTUR 2 3 4

24 Vgl. Wolfgang Augustyn, Original – Kopie – Zitat. Versuch einer begrifflichen Annäherung, in: Original – Kopie – Zitat. Kunstwerke des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Wege der Aneignung – Formen der Überlieferung, hrsg. von W. Augustyn und U. Söding, Passau 2010, S. 1–14; Marion Heisterberg, Susanne Müller-Bechtel und Antonia Putzger, Einleitung, in: Nichts neues schaffen. Perspektiven auf die treue Kopie 1300–1900, hrsg. von M. Heisterberg u. a., Berlin 2018, S. 7–16, hier S. 8–9; Doris Reisinger, Was ist ein Original? Eine Begriffsbestimmung jenseits genieästhetischer Stereotype, Bielefeld 2020, S. 23–25. 25 Vgl. Blake McHam 2007 (Anm. 1), S. 311–316. 26 Zum Begriff des ingenium und der sozialen Aufwertung des Künstlers vgl. Ulrich Pfisterer, Donatello und die Entdeckung der Stile. 1430–1445, München 2002, S. 70–72. 27 Vgl. Martin Kemp, From ‚Mimesis‘ to ‚Fantasia‘. The Quattrocento Vocabulary of Creation, Inspiration and Genius in the Visual Arts, in: Viator 8, 1977, S. 347–398, hier S. 348–361; Pfisterer 2002 (Anm. 26), S. 68–79. 28 Vgl. Kecks 1988 (Anm. 18), S. 136–138; G. M. Helms, The Materials and Techniques of Italian Renaissance Sculpture, in: Looking at Italian Renaissance Sculpture, hrsg. von S. Blake McHam, Cambridge 1998, S. 18–39, hier S. 23–27. 29 Vgl. Kubersky-Piredda 2005 (Anm. 21), S. 234. 30 Vgl. Kecks 1988 (Anm. 18), S. 144; Huth 2020 (Anm. 23). 31 Donatello, Pazzi-Madonna, um 1420, Marmor, 74,5 × 73 cm, Berlin, Staatliche Museen, Skulpturensammlung, Inv. Nr. SKS 51, vgl. Anna Jolly, Madonnas by Donatello and his circle, Frankfurt/ Main 1998, Nr. 16; Charles Avery, Donatello, Florenz 1991, Nr. 30. 32 Laut der Forschung finden sich Vorbilder für den Darstellungstypus des Gesichts der Maria im klassischen Profil in antiken Münzen und Gemmen, vgl. Jolly 1998 (Anm. 31), S. 101. 33 Vgl. Springtime of the Renaissance 2013 (Anm. 13), Nr. VIII. 5. 34 Vgl. Jolly 1998 (Anm. 31), S. 102–103. 35 Florentinisch, Jungfrau mit Kind, Stuck, farbig gefasst, 76 × 71 cm, Prag, Národní galerie, Inv.-Nr. P379, vgl. Jolly 1998 (Anm. 31), Nr. 16.2. 36 Zum Begriff des rilievo schiacciato vgl. Andrea Niehaus, Florentiner Reliefkunst von Brunelleschi bis Michelangelo, München 1998, S. 87; David G. Wilkins, The Invention of Pictorial Relief, in: Depth of Field. Relief Sculpture in Renaissance Italy, hrsg. von D. Cooper und M. Leino, Oxford 2007, S. 71–96, hier S. 79; Blake McHam 2007 (Anm. 1), S. 347. 37 Vgl. John Pope-Hennessy, The Madonna Reliefs of Donatello, in: Apollo 103, 1976, S. 172–191; Jolly 1998 (Anm. 31), S. 100–101.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

38 Vgl. Frank Fehrenbach, „Eine Zartheit am Horizont unseres Sehvermögens“. Bildwissenschaft und Lebendigkeit, in: kritische berichte 38, 2010, S. 33–44, hier S. 34; Luke Syson, Polychrome and Its Discontents. A History, in: Like Life. Sculpture, Color, and the Body, Ausst.-Kat. (New York, The Metropolitan Museum of Art, 2018), hrsg. von L. Syson u. a., New Haven/London 2018, S. 14–41; Huth 2020 (Anm. 23), S. 25. 39 Vgl. Roberta Panzanelli, Ephemeral Bodies. Wax Sculpture and the Human Figure, Los Angeles 2008, S. 18–21. 40 Francesco Petrarca, Episulae de rebus familiaribus; hier zit. nach Adalgisa Lugli, Guido Mazzoni e la rinascita della terracotta nel Quattrocento, Turin 1990, S. 20–27. Vgl. Gentilini 2012 (Anm. 20), S. 12. 41 Donatello-Umkreis, Jungfrau mit Kind, um 1450, Stuck, farbig gefasst, 70 × 55 cm, Paris, Musée du Louvre, Département du Sculpture, Inv. Nr. RF 744, vgl. Jolly 1998 (Anm. 31), Nr. 16.3. 42 Zum Typus der Eleusa vgl. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, S. 42; Konrad Onasch und Annemarie Schnieper, Ikonen. Faszination und Wirklichkeit, Luzern 1995, S. 35 und 169–171.

Wiederholung und Variation I 193

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43 Sienesisch, Madonna, um 1340, Tempera und Gold auf Holz, 35,7 × 25,7 cm, Cambrai, Notre-Dame de Grâce, vgl. Belting 1990 (Anm. 42), S. 490, Taf. X. 44 Vgl. Agnès Cascio, Cercle de Donatello. La Vierge et l’Enfant, in: Kermes 25, 2012, S. 24–29, hier: S. 25–28. 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. Iris Wenderholm, Hell/Dunkel/Grau. ‚rilievo schiacciato‘ und ‚chiaroscuro‘, in: Chiaroscuro als ästhetisches Prinzip. Kunst und Theorie des Helldunkels 1300–1550, hrsg. von C. Lehmann u. a., Berlin 2018, S. 263–275. 47 Nach Donatello, Jungfrau mit Kind, um 1435–40, Stuck in Holzrahmen, farbig gefasst, 36,5 × 20,2 cm, London, Victoria and Albert Museum, Inv. Nr. A.45–1926, vgl. Jolly 1998 (Anm. 30), Nr. 43.2. 48 Vgl. Jolly 1998 (Anm. 31), Nr. 43.2. 49 Vgl. Anne Dunlop, Flesh and the Feminine. Early Renaissance Images of the Madonna with Eve at her Feet, in: Oxford Art Journal 25, 2000, Heft 2, S. 129–147; Ernst Guldan, Eva und Maria. Eine Antithese als Bildmotiv, Graz 1966. 50 Ambrogio Lorenzetti, Thronende Madonna mit dem Kind, Heiligen und Eva, 1334–36, Fresko, Montesiepi, San Galgano, vgl. Die Erfindung des Bildes. Frühe italienische Meister bis Botticelli, Ausst.-Kat. (Hamburg, Bucerius Kunst Forum, 2011–2012), hrsg. von M. Philipp, München 2011, S. 94, Abb. 27. 51 Zu Ghibertis Madonna als Prototyp zahlreicher Repliken, wie z. B. im Museo Bardini oder der Arciconfraternita della Misericordia in Florenz, vgl. La Madonna di Fiesole. Scoperta e restauro di un capolavoro, Ausst.-Kat. (Florenz, Opificio delle Pietre Dure, 2008), hrsg. von L. Speranza und R. Moradei, Florenz 2008, S. 11–14. 52 Umkreis des Lorenzo Ghiberti, Madonna mit Kind, Mitte des 15. Jahrhunderts, Stuck, farbig gefasst, 78  ×  54  cm, Berlin, Staatliche Museen, Skulpturensammlung, Inv.-Nr. 7181, vgl. Ronald Kecks, Zur Künstlerischen Entwicklung Lorenzo Ghibertis in der Madonnendarstellung, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 32, 1988, S. 525–536, hier S. 528; Ave Eva. Ein wiederentdecktes Hauptwerk des Renaissancemeisters Guillaume de Marcillat, Ausst.-Kat. (Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie, 2013), hrsg. von A. Galizzi Kroegel und R. Contini, Petersberg 2013, Nr. 7, S. 93–96, hierzu S. 94. 53 Nach Desiderio da Settignano und Neri di Bicci, Madonna mit Kind, um 1460/1465, Stuck, farbig gefasst, 79 × 51,5 cm, Frankfurt/Main, Liebieghaus, Skulpturensammlung, Inv.-Nr. LH 121, vgl. Florenz und seine Maler. Von Giotto bis Leonardo da Vinci, Ausst.-Kat. (München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, 2018–2019), hrsg. von A. Schumacher, München 2018, Nr. 22. 54 Vgl. Sixten Ringbom, Icon to narrative. The rise of the dramatic close-up in fifteenth-century devotional painting, Doornspijk 1984, S. 42–44. 55 Desiderio da Settignano, Turiner Madonna, um 1450, Marmor, 61 × 36 cm, Turin, Galleria Sabauda, Inv.-Nr. 7, vgl. Desiderio da Settignano. Sculpteur de la Renaissance Florentine, Ausst.-Kat. (Paris, Musée du Louvre, u. a., 2006–2007), hrsg. von M. Bormand, B. Paolozzi Strozzi und N. Penny, Paris/Mailand 2006, S. 200–203, Nr. 16. 56 Nach Desiderio da Settignano, Madonna mit Kind, 1450er, Stuck, polychrom gefasst, Berlin, Staatliche Museen, Skulpturensammlung, Inv.-Nr. 79; Chicago, Art Institute, Inv.-Nr. 1985.111; London, Victoria & Albert Museum, Inv.-Nr. 5767–1859; Lyon, Musée des Beaux-Arts, Inv.-Nr. D 489; Melbourne, National Gallery of Victoria, Inv.-Nr. 4108–D3; Paris, Musée du Louvre, Département des Sculptures, Inv.-Nr. RF 897. 57 Vgl. Gentilini 2012 (Anm. 20), S. 9.

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1. KORREKTUR 2 3 4

58 Vgl. Christine Hessler, Zum Paragone. Malerei, Skulptur und Dichtung in der Rangstreitkultur des Quattrocento, Berlin 2014. 59 Zu Verwendung und Bedeutung des Begriffs rilievo in der Kunstliteratur und -theorie der Renaissance, der im 15. Jahrhundert ausschließlich für illusionistischer Qualitäten der Malerei verwendet wird, vgl. Luba Freedman, ‚Rilievo‘ as an Artistic Term in Renaissance Art Theory, in: Rinascimento 29, 1989, S. 217–247, bes. S. 221–231. 60 Vgl. Florenz und seine Maler 2018 (Anm. 53), Nr. 22. 61 Vgl. Comanducci 2003 (Anm. 21), S. 106–108; Werner Jacobsen, Die Maler von Florenz zu Beginn der Renaissance, München 2001, S. 58. 62 Vgl. Comanducci 2003 (Anm. 21), S. 106; Kecks 1988 (Anm. 18), S. 143. 63 Vgl. Susanne Kubersky-Piredda, Immagini devozionali nel Rinascimento fiorentino. Produzione, commercio, prezzi, in: The art market in Italy. 15th–17th centuries, hrsg. von M. Fantoni u. a., Modena 2003, S. 115–125, hier S. 122; Kubersky-Piredda 2005 (Anm. 21), S. 237–238. 64 Vgl. Florenz und seine Maler 2018 (Anm. 53), Nr. 22. 65 Neri di Bicci. Ricordanze, hrsg. von B. Santi, Pisa 1976, S. XXII–XXIV. 66 Vgl. Hans Belting, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981, S. 93–94; Belting 1990 (Anm. 42), S. 458–459; Iris Wenderholm, Bild und Berührung. Skulptur und Malerei auf dem Altar der italienischen Frührenaissance, München 2006, S. 95–96.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Wiederholung und Variation I 195

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1. KORREKTUR 2 3 4

In Erinnerung an Hartmut Krohm

Sarah Nienas

Körper zwischen Himmel und Erde Funktionen polychromer Fassung am Beispiel des Rothenburger Hochaltarretabels von Friedrich Herlin (1466) 1 Das Hochaltarretabel von St. Jakob in Rothenburg ob der Tauber, signiert 1466 von Friedrich Herlin, zeigt in seinem zur Mitte hin gestaffelten Schrein die Kreuzigung Christi mit Maria und Johannes (Abb. 1). Flankiert wird die Szene von vier vollplastischen Heiligen­figuren, darunter auch dem Namenspatron der Kirche, Jakobus dem Älteren. Den Blick der Betrachtenden aufnehmend, zeigt der heilige Apostel auf das Mysterium der am Altar zelebrierten Eucharistie, die das zentrale Thema des Retabelprogramms bildet. Der liturgischen Elevation der konsekrierten Gaben gleich, erhebt sich Christus im Schrein über die Köpfe seiner Begleiter. Mit den Mitteln der Fassung wird die herausragende Bedeutung seines Körpers betont, vor allem durch die Kontrastsetzung zwischen dem Inkarnat und den kostbaren Partien in Gold und Blau, die ansonsten die optische Erscheinung des Retabels dominieren. Die kunsthistorische Forschung hat sich intensiv mit der Ikonografie und mit der Zuschreibung der aus verschiedenen Werkstätten stammenden Skulpturen des Retabels beschäftigt.2 Das Anliegen meiner Ausführungen bildet hingegen die exemplarische Erschließung der vielfältigen Funktionen polychrom gefasster Oberflächen unter der Leitfrage: Was

ELEKTRONISCHER ­Retabel gehört zu den wenigen komplexen Werken des Spätmittelalters, deren erste FasSONDERDRUCK leistet die Fassung für das Werk, was trägt sie zur inhaltlichen Aussage bei?3 Im Fokus der

Analyse steht daher der Schrein mit seinem Skulpturenprogramm:4 Das Rothenburger

sung noch weitgehend intakt und außerdem umfassend dokumentiert ist.5 Zudem handelt es sich beim heutigen Standort noch immer um den für das Retabel vorgesehenen Aufstellungsort.6

Inszenierung des zur Tiefe hin gestaffelten Raums Der nach gewandelten Flügeln offene Schrein weist eine markante Vertikale mit der Er­ hebung Christi am Kreuz und der zur Höhe hin getreppten Schreinmitte auf (Abb. 2). Die

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1  Friedrich Herlin, Hochaltarretabel mit geöffneten Flügeln, Holz mit polychromer Fassung, 1466, Rothenburg ob der Tauber, St. Jakob

übrigen Heiligenfiguren bilden eine strenge Horizontale. Inszeniert wird ein in die Tiefe gestaffelter Raum, bestehend aus mehreren hintereinanderliegenden Bildebenen, die, den Betrachtenden am nächsten, mit der roten Kante der Kastenbretter beginnen.­ Diese Kante rahmt den Schrein und grenzt ihn zugleich zum Betrachter ab.7 Hinter dieser

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1. KORREKTUR 2 3 4

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK 2  Schreinkasten und Predella, Detailaufnahme des Hochaltarretabels mit geöffneten Flügeln, Holz mit polychromer Fassung, 1466, Rothenburg ob der Tauber, St. Jakob

äußeren Raumgrenze erhebt sich zuerst das plastische Zierwerk des Schreins, dahinter das Skulpturenprogramm und als Abschluss die Rückwand. Auf dieser aus flachen Brettern bestehenden Wand sind wiederum zwei Raumebenen angegeben: das große goldene Tuch und, noch dahinter, der blaue Himmel.

Körper zwischen Himmel und Erde I 199

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3  Vorhang auf der inneren Schreinrückwand, Detailaufnahme des Hochaltarretabels mit geöffneten Flügeln, Holz mit polychromer Fassung, 1466, Rothenburg ob der Tauber, St. Jakob

Auf dem azuritblauen Hintergrund, über und unter dem Tuch sichtbar, sind goldene Sterne appliziert. Durch die unverkennbare Darstellung des Himmels wird ein Raum mit unendlicher Ausdehnung suggeriert. Die Holzwand des 60 cm tiefen Schreins wird illusionistisch entfernt. Zu diesem Tiefeneffekt tragen auch die kleinen Engel bei, die Christus umschweben. Aus der blauen Tiefe des Himmels kommend, scheinen sie sich in Richtung Bildvordergrund zu bewegen. Im größten Kontrast allerdings zum abstrakten, grenzenlosen Raum des Himmels steht das konkret gegenständliche Tuch (Abb. 3). Es schränkt den Zugang zum Himmelsraum wie auch dessen Sichtbarkeit ein. Dass es sich um einen Vorhang handelt, zeigt die hauchdünn gemalte Stange, an der der Stoff an schmalen roten Schlaufen hängt. Das gespannte Tuch ist auffällig flächig wiedergegeben, nirgendwo wird eine Raffung angedeutet; es erinnert stark an einen ornamentierten Goldgrund. Die räumliche Inszenierung besteht also aus einem Spiel mit Kontrasten: oben und unten, vorn und hinten, tief und flach. Die Oberflächengestaltung trägt zu dieser Kontrastset-

200 I Sarah Nienas DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

zung effektiv bei. Die polychrome Fassung ermöglicht eine bessere Unterscheidbarkeit und damit Lesbarkeit. Sie setzt als dramaturgisches Mittel darüber hinaus auch gezielt Akzente hinsichtlich Leserichtung und Lesart.

Materielle Realisierung der Körper: Christus im Schrein Während die Heiligenfiguren durch schlanke Säulchen voneinander separiert sind, spart die Zierarchitektur für die Kreuzigungsgruppe in der Schreinmitte eine größere Öffnung aus, wodurch ihr ein eigener Raum zugewiesen wird. Wenn auch Maria und Johannes auf das Geschehen reagieren, sind sie doch nicht direkt an ihm beteiligt. Der Gekreuzigte ist im Vergleich zu den Begleitfiguren ungewöhnlich weit oben platziert. Im wörtlichen Sinne erfährt der Gekreuzigte eine Erhebung über die Köpfe der anderen Figuren hinweg; zudem ist ihm der Himmel als eigener Bildbereich zugeordnet. Aber es ist auch die materielle und farbige Ausgestaltung des Schreins, die Christus besonders betont. Die dunkelbraune Farbe der Kreuzbalken verschwindet fast vor dem Azuritblau des Hintergrunds, wodurch es umso deutlicher das helle Inkarnat ist, durch das sich Christus in starkem Kontrast vom blauen Hintergrund absetzt. Auf diese Weise erfährt der Körper Christi eine sehr starke Heraushebung.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

4  Christus am Kreuz, Detailaufnahme des Hochaltarretabels mit geöffneten Flügeln, Holz mit polychromer Fassung, 1466, Rothenburg ob der Tauber, St. Jakob

Körper zwischen Himmel und Erde I 201

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5  Christus am Kreuz, Detailaufnahme des Hochaltarretabels mit geöffneten Flügeln, Holz mit polychromer Fassung, 1466, Rothenburg ob der Tauber, St. Jakob

Der Gekreuzigte wird im Dreinageltypus gezeigt (Abb. 4 und Abb. 5). Seine Körperachse ist leicht zur rechten Seite geneigt, Arme und Oberkörper sind voll gestreckt, die Beine angewinkelt, der Bauch ist eingezogen, der Rippenkorpus tritt unter der dünn gespannten Haut deutlich in Erscheinung. Augen und Mund sind leicht geöffnet. Farblich heben sich die Adern ab, die am ganzen Körper sichtbar sind. Die Verletzungen sind auf die wichtigsten fünf Wunden reduziert: Blut tritt an Händen, Füßen, der Seitenwunde sowie aus den Wunden an der Stirn aus; dick und dunkelrot rinnt es an Körper und Kreuzbalken entlang. Optisch dominiert allerdings der Inkarnatton den Gesamteindruck. Diese Wirkung entsteht, weil die Verletzungen sehr zurückgenommen sind. Die helle Haut ist daher weitgehend unversehrt und bleibt dadurch großflächig sichtbar. Zwar ist das Inkarnat durch Blässe gekennzeichnet, es lassen sich jedoch nirgendwo Farbpartien finden, die den eintretenden Tod in seiner Drastik veranschaulichen. Die Farbschichten des Inkarnats wurden dünn aufgetragen. Bestimmte Partien sind zusätzlich mit Lasuren schattiert. Für das herabrinnende Blut wurde der zähe Fluss von Krapplack genutzt, der an manchen Stellen tatsächlich zu Tropfen geronnen ist (Abb. 5). Die Haare sind entweder geschnitzt vorgegeben und farbig gefasst (Kopfhaar, Bart) oder

202 I Sarah Nienas DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

gänzlich aufgemalt (Augenbrauen, Achsel-, Brusthaar). Auch Übergänge – beispielsweise zwischen Gesicht und Kopfhaar oder Schulter und Schulterhaar – wurden durch gemalte Haarsträhnen gestaltet (Abb. 5).8

Zwei Naturen und eucharistischer Leib Die Darstellung von Christus am Kreuz kannte über Jahrhunderte hinweg verschiedenste Akzentuierungen, zum Beispiel als Christus triumphans oder Cruzifixus dolorosus, um nur zwei besonders konträre Typen zu nennen. Mit der Frage der Darstellung wurde auch die Frage berührt, wie man sich den Körper Christi vorstellen sollte. Zwei verschiedene Konzepte, die in Rothenburg zusammenwirken, müssen dabei zunächst unterschieden werden, zum einen der Körper von Jesus Christus, in dem sich Gott als Mensch inkarniert hat (ZweiNaturen-Lehre), und zum anderen der Corpus Christi, der in der Eucharistie präsent wird.9 Mit der Heraushebung des Körpers und seiner Verwundbarkeit ist die menschliche ­Natur Christi charakterisiert. Auch in Rothenburg wurde der zerbrechliche, menschliche Körper besonders ausgestellt. In der exponierten Inszenierung des Inkarnats liegt die herausragende Bedeutung der polychromen Fassung. Durch sie wird die Inkarnation des ­Logos optisch bestmöglich veranschaulicht; das Menschsein wird nachvollziehbarer gemacht. Mit der Verwendung von natürlichen Farbtönen und kleinsten mimetischen Details kamen genau solche künstlerischen Mittel zum Einsatz, die der Darstellung Glaubwürdigkeit und Eindringlichkeit verleihen. Dazu gehören in Rothenburg neben dem Inkarnat beispielsweise auch die Holzbalken. Die Fassung des Kreuzes in einem Holzton ist durchaus nicht zwingend. Der gewählte Farbton soll dazu beitragen, die Historizität der Kreuzigung zu bestätigen. Glaubwürdigkeit ließ sich allerdings nicht nur mit veristischen Mitteln erzeugen. Andere gefasste Oberflächen im Schrein – glänzende Goldauflagen und leuchtende Farbpartien – kommen genauso bewusst und mit ähnlicher Absicht zur Anwendung: Auch sie tragen dazu bei, die inhaltliche Aussage oder den sakralen Kontext glaubhaft zu

ELEKTRONISCHER Haut selbst, sondern auf den ganzen Leib bezieht. Die Darstellung vermischt zwei TheSONDERDRUCK vermitteln.

Die helle Körperoberfläche Christi evoziert ein Leuchten, das sich aber nicht auf die

men, den dem Bildmoment nach sterbenden Christus und die kommende Materialisierung des verklärten Körpers. Mit dieser gezielten Heraushebung des Leibs kann deshalb nicht allein der historische Körper gemeint sein, sondern auch der eucharistische Corpus Christi.10 Der Altar ist der Ort, an dem die Eucharistiefeier begangen wird; das Altarretabel nimmt hierauf Bezug. Darüber hinaus wurde in Rothenburg schon seit der Mitte des 13.  Jahrhunderts und damit äußerst früh eine Blutreliquie verwahrt. Im Rothenburger ­Reliquienverzeichnis ist von „tres guttae sanguinis perfusae super corporale“ zu lesen.11 Gemeint sind hiermit Tropfen des bereits konsekrierten Weins, der nach der Wandlung durch den Priester, wohl versehentlich, verschüttet wurde. Es handelt sich somit um eine

Körper zwischen Himmel und Erde I 203

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Sakramentsreliquie.12 Sie unterscheidet sich vom Blut, das während der Kreuzigung aufgefangen worden sein soll, und von den blutenden Wunderhostien. Die überkommenen Rothenburger Wunderverzeichnisse aus der Mitte des 15. Jahrhunderts legen nahe, dass die Wallfahrt bereits vor und während der Entstehung des Herlin-Retabels lebendig war.13 Im christlichen Verständnis bedeutete das Mysterium der Eucharistie, dass Christus in konsekriertem Brot und Wein Gestalt annimmt, so wie Gott sich selbst in Fleisch und Blut inkarniert hat.14 Diese Wandlung, die sich theologisch gesehen während der Messfeier an jedem Altar immer wieder neu vollzieht, feiert und erhebt Leib und Blut Christi. Weil sich die Akzidenzien nicht wandeln, bleiben sie wahrnehmbar als körperhaft und weiß (Brot – Leib) sowie flüssig und rot (Wein – Blut). Mit der Anerkennung der Transsubstantiationslehre veränderte sich ab dem 13. Jahrhundert auch der Anspruch an das Bild. Die „Realpräsenz“ blieb dem Sakrament vorbehalten. Mithilfe der Bilder konnte dargestellt werden, was in der Feier der Eucharistie nicht visualisierbar war: Leib und Blut Christi. Hierin liegen die besondere Spannung und die wechselseitigen Überschneidungen zwischen Repräsentation (Bild) und Präsenz (Sakrament) begründet.15 Es gehört zu den wichtigen Funktionen der Fassung, diese Eigenschaften weiß – rot, Leib – Blut und fest – flüssig, die für die Darstellung von Christus enorm wichtig sind, zu visualisieren, wenn solche Erkenntnisse auf den ersten Blick auch banal erscheinen. Körper und Blut konnten auf Ebene der Gestaltung ganz unterschiedlich akzentuiert werden; am Rothenburger Retabel erfuhren sie durch ihre subtile Form eine raffinierte Betonung. Das bildhauerische Werk geht hier eine Symbiose mit der Fassung ein, die den Körper stofflich und damit sensorisch erfahrbar macht. Gerade in der Sublimität der Fassung des Rothenburger Gekreuzigten lässt sich die Aufforderung an die Betrachtenden erkennen, ganz genau hinzuschauen, die Wunden zu suchen, den Körper zu studieren, dem Leiden emotional nachzuspüren. Die Bedeutung der polychromen Fassung lässt sich auch im assoziativen Zusammenspiel mit den anderen Elementen des Schreins herausarbeiten. Indem die Himmelsfarbe Blau und das Gold auf Sakralität und Transparenz verweisen, wird durch sie ein abstrakter Raum unendlicher Ausdehnung geschaffen, der weder Anfang noch Ende kennt und damit überzeitlich ist. Dagegen veranschaulicht das Inkarnat mit seiner belebten, fleischigen Stofflichkeit das menschliche Leben. Materielle Eigenschaften wie die Dauerhaftigkeit des Himmels und die Flüchtigkeit menschlichen Lebens werden hier gegenübergestellt. Die Begrenztheit körperlicher menschlicher Existenz bringt ja gerade die Kreuzigung zum Ausdruck  – gleichzeitig ist sie es, die im theologischen Verständnis mit dem Tod des christlichen Gottessohns die Überwindung der menschlichen Endlichkeit verkörpert. Das Inkarnat enthält semantisch deshalb auch den Verweis auf die Inkarnation des Gottessohns. Mit der bildkompositorischen und farblichen Hervorhebung von Christus wird sein Körper in der materiellen Hierarchie im Schrein als wichtigste Materie gekennzeichnet, die den semantisch hochbedeutenden Materialien Gold und Himmelsblau eng zugeordnet ist, sie letztlich aber übertrifft.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Materielle Realisierung der Körper: Die Heiligen im Schrein Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass die sechs vollplastischen Heiligenskulpturen aus einer anderen Bildhauerwerkstatt stammen als das Kruzifix mit den Engeln. Obwohl sich hierzu keine schriftlichen Quellen erhalten haben, lässt sich die Annahme sowohl stilkritisch als auch kunsttechnologisch begründen.16 Herlin ist als Nördlinger Malermeister nachweisbar und bezog Zulieferungen von Bildhauern. Das sagt freilich nicht viel darüber aus, in welcher Werkstatt die Fassung ausgeführt wurde. Gerade in diesem Punkt ist das Rothenburger Retabel ein hervorragendes Beispiel dafür, wie unterschiedlich offenbar Kooperationen aussehen konnten.17 Während der Gekreuzigte mit den Engeln fertig gefasst geliefert wurde, kamen die sechs übrigen Figuren ungefasst an und wurden erst in der Herlin-Werkstatt zusammen mit den übrigen Elementen des Retabels vollendet. Hierfür sprechen spezifische Merkmale im technischen Aufbau der Fassung und der Tafelmalerei des Retabels  – die Tafeln sind sicher bei Herlin entstanden. Dazu gehört außerdem die Wiederholung konkreter Muster, die an den sechs Figuren, den Tafeln des gleichen Retabels und an anderen Werken Herlins vorkommen. Der kunsttechnologische Befund spricht deshalb dafür, dass in der Herlin-Werkstatt grundsätzlich nicht nur Mal-, sondern auch Fassarbeiten ausgeführt werden konnten, diese aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht jedes Mal dort ausgeführt worden sein konnten. Wie nun ist das Heiligenbild im Schrein inszeniert? Alle sechs Skulpturen erwecken einen voluminösen, blockhaften Eindruck; die Fassung sorgt für eine einheitliche Präsentation. Die Figuren unterscheiden sich in ihrer individuellen Ausstattung, nicht aber im grundsätzlichen Kleidungsaufbau. Der materielle und letztlich auch farbliche Eindruck wird dominiert von den riesigen goldenen Mänteln, in die die Figuren gehüllt sind. Die Außenseite ist dabei glatt und unverziert; technisch gesehen handelt es sich um eine ­polierte Polimentvergoldung mit ihrem charakteristischen Hochglanzeffekt. An allen Mänteln sind die Säume umgeschlagen, sodass die Innenseiten sichtbar sind. Diese Innenseiten sind farbig gefasst, wobei die Farbgebung einem einfachen Rhythmus von links

ELEKTRONISCHER Über den Farbton hinaus lassen sich die Oberflächen der farbigen Mantelinnenseiten SONDERDRUCK

nach rechts folgt: Grün (Elisabeth), Rot (Jakobus) und Blau (Maria) und auf der gegenüberliegenden Seite wieder Grün (Johannes), Rot (Bischof/Leonhard), Blau (Antonius).

auch fasstechnisch unterscheiden. Bei den grünen und roten Partien handelt es sich um

Lüster, das heißt eine transparente Farbschicht, die auf eine Versilberung aufgetragen ist (Abb.  6). Bei dieser Technik dringt das Licht durch die Farbschicht bis zum Edelmetall durch, auf dessen Oberfläche es sich bricht. Ursprünglich haben die Lüsterpartien das Licht sehr viel stärker reflektiert. Das Silber der grünen Lüster (Elisabeth, Johannes) ist inzwischen verschwärzt. Anders als die glänzenden Rot- und Grüntöne erscheinen das blaue Mantelinnenfutter und die blaue Schreinrückwand matt. Bei diesen Azuritpartien, die ohne Metallauflage auskommen, wurde mithilfe übereinandergelegter Schichten für Farbtiefe gesorgt; unter dem blauen Azurit liegen meist keine hellen Töne, sondern dun-

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6  Die Heiligen Elisabeth und Jakobus mit verschieden gemusterten Untergewändern und vor verschiedenen Tuchmustern, Detailaufnahme des Hochaltarretabels mit geöffneten Flügeln, Holz mit polychromer Fassung, 1466, Rothenburg ob der Tauber, St. Jakob.

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kelblaue, graue oder schwarze. Die matt-blaue Farbpartie wirkt vor allem im Nebeneinander mit dem Hochglanzgold stumpf. Das verringert allerdings keineswegs ihre Brillanz: Ein frisch aufgetragenes, relativ grobkörniges Azuritpigment sorgt für bemerkenswerte Blaueffekte. Die Fassung liefert folglich nicht allein den gewünschten Farbton, sondern strukturiert und differenziert auch die Oberflächenbeschaffenheit (glänzend, matt, glatt, porös, graviert u. a.) Neben dem Mantel mit seiner goldglänzenden Außenseite und dem farbigen Inneren ist allen Figuren das lange Untergewand gemeinsam, das aufwendig mit Pressbrokat verziert wurde (Abb. 6).18 Mit dieser reichen Verzierung bilden die Untergewänder einen Kontrast zu den unverzierten goldenen Mänteln. Pressbrokatapplikationen sind in ihrer Herstellung sehr aufwendig. Weil sie so fragil sind, haben sich oft nur Fragmente erhalten. Mit Pressbrokat wurden sehr kostbare Textilien dargestellt; als Vorbilder dienten vor allem edle Seidenstoffe. Das imitierte Gewebe variiert in Rothenburg hinsichtlich seines Musters von Figur zu Figur. Die auf Gold aufgelegten Muster wirken heute sehr stark schwarz konturiert, die Binnenstruktur wurde tatsächlich aber aus den Farben Blau, Rot und Grün gebildet (Abb. 3. und Abb. 6).

Der besondere Farbenkanon In Hinblick auf den Materialien- und Farbenkanon aus Gold, Blau, Rot und Grün veranschaulicht das Rothenburger Retabel exemplarisch eine Konvention, die sich hinsichtlich der Dominanz dieser Farben beinahe ausnahmslos bestätigen lässt.19 Für die Fassung des plastischen Heiligenbilds wurden leuchtende, meistens ungemischte Farben genutzt. An den Gewändern kommt Rot vor, aber kein Rosa und kein Orange. Blau und Grün – Letzteres heute verschwärzt – sind ebenfalls zu finden, aber nicht in hellen oder dunklen Abstufungen. Für alle roten Farbpartien des Retabels wurde der gleiche rote Farbton gewählt,

ELEKTRONISCHER flächig betrifft das meistens allerdings ausschließlich das Inkarnat. Davon abgesehen SONDERDRUCK an allen blauen Farbpartien kam der gleiche blaue Farbton zum Einsatz und so fort.

Selbstverständlich kannte auch die Fassmalerei Farbaufträge aus gemischten Farben, groß­finden sich nur selten Partien in gemischten Farben, am Rothenburger Retabel sind das die grauen Haare der älteren Heiligen, der Brotlaib in der Hand der Elisabethfigur, das Muschelabzeichen an Hut und Arm der Darstellung von Jakobus. Weil es sich dabei eher um kleine Flächen handelt, ändert sich nichts an der Dominanz der Vergoldungen und Lokalfarben in Blau, Rot und Grün. Durch die materielle und farbliche Gestaltung sind die plastischen Heiligenbilder­­ihrem Aussehen nach verwandt. Damit wird die Oberflächengestaltung zu einem Merkmal der Skulpturen, denn die ähnliche Polychromierung erzeugt einen sehr hohen Wiedererkennungswert, sie kennzeichnet und kontextualisiert die Figuren. Der Funktion eines Attri-

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buts vergleichbar hilft die Fassung bei der schnellen Orientierung, weil das materielle und ­farbige Konzept einen Deutungsrahmen im sakralen Kontext des Altars vorgibt. Der besondere Farbenkanon ist ein Alleinstellungsmerkmal der Skulptur, denn aufgrund ihres Verzichts auf gemischte Farben und Binnenabstufungen weicht die farbige Gestaltung der Skulpturen von der Farbpalette der Tafelmalerei ab, was eine separate Untersuchung ­lohnen würde.20 Mit ihren großflächigen, auf Hochglanz polierten Vergoldungen und den intensiven Farben sind die Figuren vor allem dazu bestimmt, zu leuchten. Das Holz tritt als Trägermaterial vor allem in seiner geschnitzten Form in Erscheinung. Sollte die polychrome Fassung mit ihren großzügigen Vergoldungen womöglich suggerieren, dass es sich vornehmlich um Körper aus purem Gold handelt? Die Materialität ließ sich für die meisten Betrachtenden ausschließlich visuell erfassen. Welche Inszenierungsstrategie auch beabsichtigt war, die Farbfassung trug erheblich dazu bei, die Materialität der Objekte neu zu definieren. Davon, dass es sich hier um ein bewusstes Spiel handelt, ist meines Erachtens unbedingt auszugehen. Mit der kostbaren und kostspieligen materiellen Ausstattung kommt der Fassung auch die Bedeutung einer Investition zu: In Form einer wertvollen Opfergabe kann sie im religiös-rituellen Kontext durchaus auch selbst als Dienst an Gott verstanden werden und erfüllte darüber hinaus auch repräsentative Zwecke für den Auftraggeber. Aus schriftlichen Quellen geht hervor, dass die Kosten für Fassarbeiten nicht selten drei- bis vierfach so hoch waren wie die Schreiner- und Bildhauerarbeiten.21 Details zum Auftrag haben sich für das Hochaltarretabel der Rothenburger Pfarrkirche nicht erhalten; möglicherweise handelt es sich um eine städtische Stiftung.

Der Vorhang im Schrein als eschatologischer Deutungsrahmen Im letzten Abschnitt ist die semantische Funktion der konkreten Oberflächengestaltung und -inszenierung zu erörtern. Dazu rückt noch einmal der inszenierte Raum in den Fokus, besonders das gespannte Tuch auf der Retabelrückwand. Die Bedeutung des Vorhangs im Schrein geht selbstverständlich über die bloße Dekoration hinaus und bietet viel Potenzial für Interpretationen. In der Geschichte der Kunst gehört der Vorhang zunächst einmal zu den viel genutzten Bildmitteln, mit denen eine Grenze markiert wird.22 Flügelretabel bedienen in vielfacher Hinsicht das Spiel mit ästhetischen Grenzen und solchen, die materiell realiter existieren.23 Im christlichen Kontext tradiert der Vorhang einerseits die alttestamentliche Überlieferung von konkreten Abgrenzungen verschiedener sakraler Bereiche, insbesondere der Abgrenzung des Allerheiligsten. Nach exegetischer Lesart kann Christus sogar selbst dieses Tuch sein: Das Neue Testament berichtet vom Reißen des Vorhangs in Verbindung mit dem

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1. KORREKTUR 2 3 4

Tod, den Christus am Kreuz findet.24 Im Rothenburger Schrein ist es Christus vorbehalten, die horizontale Trennung zwischen Himmel und Tuch auf der Schreinrückwand zu überspannen und damit beide Bildräume zu verbinden. Der Kreuzesstamm deutet in der Vertikalen optisch bereits an, wie und wo der Riss durch den Vorhang vorzustellen wäre. Während die goldenen Figuren der Heiligen sich vor dem goldenen Vorhang nur wenig absetzen, strahlt der helle Körper Christi vor dem blauen Himmel. Der Aufgabe der Bedeutungsperspektive nicht unähnlich, manifestiert sich im Kontrast zwischen Inkarnat und den übrigen Farbpartien der Vorrang des Erlösers. Durch Lenkung der Blickrichtung wird die fundamentale Relevanz Christi betont. Der Vorhang ist mit Pressbrokat verziert, wobei jedem Heiligen ein eigenes Muster zugewiesen wird (Abb. 6). Lediglich Maria und Johannes scheinen dasselbe Tuch – den erwähnten Vorhang – zu teilen, was die szenische Verbundenheit mit Christus am Kreuz ausdrückt. Mit der Brokatgestaltung der Gewänder vor der Brokatgestaltung des Vorhangs entsteht der eigentlich unvorteilhafte Effekt von Muster auf Muster. Die klaren Konturen der Heiligenkörper werden auf diese Weise diffus. Das ist besonders gut an der Figur des Johannes zu beobachten, da hier das Gewand in einer größeren Partie auch am Oberkörper sichtbar ist und der Apostel als einziger keine Kopfbedeckung, sondern ­gelocktes, goldenes Haar trägt. Die Verunklärung der Konturen bewirkt die Reduzierung der Blockhaftigkeit und Schwere. Vor dem Hintergrund des goldenen Vorhangs scheinen die Körper der Heiligen luftig-leicht in diesem Vorhang aufzugehen oder aus diesem herauszutreten. Die Heiligenskulpturen sind kompositorisch, materiell und auch semantisch daher eng mit der christlichen Tuchmetapher verbunden. Bei der Inszenierung der plastischen Heiligenbilder stellt sich daher die grundsätzliche Frage: Aus welcher Materie ist der von goldenem Tuch umhüllte, also nur suggerierte Körper der Heiligen? Über Gold lässt sich grundsätzlich sehr viel sagen.25 Gold diente zweifellos der Sakralisierung des Bildes. Ihm ist das Licht zugeordnet, also eine eigentlich ­materielose Materie. Was also ist hier eigentlich dargestellt? Betrifft die materialisierte Darstellung das Aussehen der Heiligen als sie noch lebten, nachdem sie bereits starben –

ELEKTRONISCHER und Seele voneinander getrennt. Während die körperlichen Überreste auf Erden zunächst SONDERDRUCK oder weder noch?

Mit dem Tod eines Menschen werden nach christlicher Vorstellung bekanntlich Körper

vergehen, werden sie bei der Auferstehung erneut mit der Seele zusammengeführt, im sogenannten verklärten Leib.26 Auch die Heiligen, die nach christlicher Vorstellung bereits im Paradies residieren, haben dort bis zu ihrer Auferstehung keinen Körper, im Gegenteil. Ihre körperlichen Überreste werden auf der Erde als Reliquien gesammelt und verehrt, sie sind obligatorisch für jeden Altar.27 Die Heiligen waren einmal Menschen. Menschsein und Heiligkeit sind in mittelalterlichen Darstellungen stets in Spannung zueinander gesetzt. Gerade das plastische Heiligenbild ist durch eine Entrückung aus dem irdischen Erfahrungsbereich charakterisiert. Dafür sorgt insbesondere die kostbar gestaltete Oberfläche, die die ikonografische Darstellung

Körper zwischen Himmel und Erde I 209

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beeinflusst. In den skulpturalen Darstellungen der Heiligen sind diese immer in goldene Mäntel gehüllt, was den Eindruck erzeugt, dass sie nicht von dieser Welt seien. In der materiellen Kostbarkeit liegt aber nicht nur eine Nobilitierung. In der edlen Materialität kumuliert auch der paradiesische Sehnsuchtsort. Denn wollte man sich ein Bild vom aktuellen Zustand verehrter Heiliger machen, wie sähe es aus? Die Heiligenverehrung fand Ausdruck im Spannungsbereich ihrer materiellen Reste (Reliquien) und ihres transzendenten Seelenkörpers. Dieser ist wie ihre virtus aber letztlich unsichtbar. Einem Reliquiar nicht unähnlich, gehört zur Inszenierung des plastischen Heiligenbilds seine materielle Hülle, die mit ihrer ganzen Kostbarkeit – die teuersten irdischen Materialien  – auf etwas verweist, das noch wertvoller ist, aber unsichtbar bleibt: den transparenten Zustand des Seelenkörpers, aber auch allgemein die Gnade Gottes, durch die die Heiligen Wunder wirken.28 Die Materialien der polychromen Fassung, Edelmetalle und leuchtende Pigmente, sind meines Erachtens nicht vom Assoziationsbereich besonders reiner, leuchtender, glänzender, gar transparenter Materialien zu trennen. Auch das Himmlische Jerusalem wird als farbig und leuchtend beschrieben.29 Die Gestaltung der plastischen Heiligenbilder musste zweifellos suggerieren, dass die Materialien himmlischen Ursprungs seien, was die Teilhabe der Heiligen am Paradies beglaubigen sollte. Der Glanz ihrer Verherrlichung spiegelt sich folglich in der materiellen Realisierung der Objekte ihrer Verehrung.30 Damit wäre der materiellen Inszenierung ein zukunftsweisender Charakter inhärent, verstanden als eine Vorausschau, als Erhaschen eines Blicks vom Paradies – eine Unmöglichkeit, auf die die Kunst zu antworten versuchte. Denn Vorstellungen vom Paradies stützen sich auf Prophezeiungen, Visionen und Imaginationen. Möglicherweise dient also die polychrome Fassung dazu, eine Veranschaulichung des Wesens und Aussehens des verklärten Leibs zu wagen. Der Tod Christi wird im Rothenburger Schrein zum Dreh- und Angelpunkt des Heilsversprechens und damit auch der eigenen Auferstehung erhoben. Auch die Farben bilden einen Abglanz des eucharistischen Corpus Christi und des verklärten Leibs der Heiligen, in deren Nachfolge sich Betrachtende in der Mitte des 15. Jahrhunderts wähnten. Zusammenfassend sind noch einmal die wesentlichen Aspekte der Fassung zu be­ nennen: Mit dem überschaubaren Materialien- und Farbenkanon der polychromen Fassung entsteht zunächst der Effekt einer materiellen und farblichen Vereinheitlichung. Die Fassung harmonisiert die Erscheinung und sorgt gleichzeitig für Struktur und Lesbarkeit. Mithilfe der polychromen Oberfläche werden die einzelnen Bildpartien vergegenständlicht und verstofflicht und auf diese Weise auch unterschieden (z. B. Haut, Textilien). Die typischen Kontraste (z. B. Gold-Blau, Gold-Rot) und Konvergenzen (z. B. Gold auf Gold, Muster auf Muster) sorgen für eine ästhetische wie semantische Spannung. Das gilt auch für das Neben-, Gegen- und Miteinander verschiedener, durch den Einsatz bestimmter Materialien und Techniken erzeugter Oberflächen, deren physische Eigenschaften (Glanz bzw. Leuchten) erst Assoziationen mit Ewigkeit, Reichtum, Immaterialität und Transzen-

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1. KORREKTUR 2 3 4

denz erlauben. Damit leistet die Fassung einen elementaren Beitrag zur Verdichtung und Zuspitzung des Bildprogramms. Die Gestaltung der Oberfläche ist dementsprechend kein Selbstzweck, sondern nur in Verbindung mit der Ikonografie und dem funktionalen Kontext des gesamten Retabels zu verstehen. Das Rothenburger Beispiel zeigt, dass es vor allem die Fassung ist, die den Bildwerken den Charakter einer visualisierten Vision verleiht.

Anmerkungen 1

Der Beitrag behandelt Aspekte meiner Dissertation zur Funktion und Bedeutung spätmittelalterlicher Polychromie, die am Fachgebiet Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin entsteht. Wenn nicht anders erwähnt, beziehen sich meine allgemeinen Aussagen ausschließlich auf Skulpturen, die im nordalpinen, deutschsprachigen Raum entstanden sind. Im ungefähren Zeitraum zwischen 1420 und 1520 weist die polychrome Fassung dort spezifische Merkmale auf. Das betrifft sowohl verwendete Materialien und angewandte Techniken als auch konkrete Darstellungskonventionen.

2

Rainer Kahsnitz, Die großen Schnitzaltäre. Spätgotik in Süddeutschland, Österreich, Südtirol, München 2005, S. 58–75; Christof Metzger, Friedrich Herlins Rothenburger Altar, in: Die oberdeutschen Reichsstädte und ihre Heiligenkulte. Traditionen und Ausprägungen zwischen Stadt, Ritterorden und Reich, hrsg. von K. Herbers, Tübingen 2005, S. 101–118; Ralf Krüger, Friedrich Herlin. Maler und Altarbauunternehmer, Rothenburg ob der Tauber 2004; Hartmut Krohm, Bemerkungen zur kunstgeschichtlichen Problematik des Herlin-Retabels in Rothenburg o. T., in: Jahrbuch der Berliner Museen 33/1, 1991, S. 185–208. Die ausgewählten Titel enthalten Angaben über weitere Literatur.

3

Zur polychromen Fassung spätmittelalterlicher Skulpturen grundsätzlich (Auswahl): Ernst Willemsen, Die Bedeutung der Oberfläche bei der spätgotischen Polychromie, in: Beiträge zur Untersuchung und Konservierung mittelalterlicher Kunstwerke, hrsg. von H. Althöfer u. a., München 1974, S. 95–147; Johannes Taubert, Farbige Skulpturen. Bedeutung, Fassung, Restaurierung, München 1978 (neu hrsg. von M. Marincola 2015); Fritz Buchenrieder, Gefaßte Bildwerke. Untersuchung und Beschreibung von Skulpturenfassungen mit Beispielen aus der praktischen Arbeit der Restaurierungswerkstätten des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege. 1958–1986, Mün-

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

chen 1990; Eike Oellermann, Die künstlerische Komponente spätgotischer Faßmalertechniken, in: Polychrome Skulptur in Europa. Technologie, Konservierung, Restaurierung, hrsg. von U. Schießl und R. Kühnen, Dresden 1999, S. 9–16; Harald Theiss, A Brief Overview of the Decorative Techniques Used in Sculptural Polychromy in the Middle Ages, in: Circumlitio. The Polychromy of Antique and Mediaeval Sculpture, hrsg. von V. Brinkmann u. a., München 2010, S. 136–153; Hannelore Hägele, Colour in sculpture. A Survey from Ancient Mesopotamia to the Present, Newcastle upon Tyne 2013, bes. S. 144–174; Ursula Marinelli, Polychrome Metamorphosen. Mittelalterliche Skulpturen in neuzeitlichen Fassungen, Innsbruck 2015. 4

Das Programm des Retabels enthält die Darstellung der 12 Apostel (Predella, Malerei), Szenen aus dem Leben und Wirken des Heiligen Jakobus (Flügelaußenseiten, Malerei), Szenen aus dem Leben Mariens und Christi (Flügelinnenseiten, Malerei), diverse Darstellungen des Schmerzensmanns (Gesprenge, Skulptur; Schreinwange und äußere Schreinrückwand, Malerei). An den äußeren Seiten- und Rückwänden ferner die Darstellung Heiliger und des Schweißtuches der Veronika.

Körper zwischen Himmel und Erde I 211

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  5 Eike Oellermann, Die Schnitzaltäre Friedrich Herlins im Vergleich der Erkenntnisse neuerer kunsttechnologischer Untersuchungen, in: Jahrbuch der Berliner Museen, 1991, Bd. 33, H. 1, S. 213– 238; Karl Werner Bachmann u. a., The Conservation and Technique of the Herlin Altarpiece (1466), in: Studies in Conservation, 15/4, 1970, S. 327–369 (Veröffentlichung auf Deutsch, in: Taubert 1978 (Anm. 3), bes. S. 180–208.   6 Zu St. Jakob in Rothenburg ob der Tauber grundsätzlich: Anton Ress, Die Kunstdenkmäler von Bayern (Rothenburg o. d. T. Kirchliche Bauten 8), München 1959; 500 Jahre St. Jakob Rothenburg o. d. T., hrsg. von Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde St. Jakob Rothenburg o. d. T., Rothenburg ob der Tauber 1985.   7 Wie in Rothenburg ist diese äußere Kante des Schreins im Spätmittelalter fast immer rot gefasst.   8 Vgl. Anm. 5.   9 Die Liturgiereform mit Beschluss über die Transsubstantiation im Jahre 1215 auf dem vierten Laterankonzil veränderte schließlich auch die bildlichen Darstellungen von Christus nachhaltig; Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005, bes. S. 86–101; Tobias Frese, Aktual- und Realpräsenz. Das eucharistische Christusbild von der Spätantike bis ins Mittelalter, Berlin 2013. 10 Die die Eucharistie betonende Ikonografie setzt sich vor allem in der Malerei an den Rück- und Außenwänden des Schreinkastens fort. Dort finden sich unter anderem zwei Darstellungen von Christus als Schmerzensmann, eine zeigt ihn vor dunkelrotem Vorhang, ferner die Darstellung der Heiligen Barbara mit Kelch und Hostie. 11 So ist es im Reliquienverzeichnis von 1442 notiert. Außerdem trägt ein Zettel an der Reliquie selbst die Beschriftung: „gutta sanguinis Christi supra corporali“; Ludwig Schnurrer, Kapelle und Wallfahrt Zum Heiligen Blut in Rothenburg, in: 500 Jahre St. Jakob Rothenburg o. d. T., hrsg. von Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde St. Jakob Rothenburg o. d. T., Rothenburg ob der Tauber 1985, S. 89–96, S. 90, Schnurrers Artikel bedauerlicherweise ohne Angabe von Quellen. 12 Die Transsubstantiationslehre wurde 1215 zum Dogma erklärt (IV. Laterankonzil), das Fronleichnamsfest wurde 1264 päpstlich legitimiert (Bulle von Papst Urban IV.). Erst in der Folge verbreitete sich die Verehrung solcher Sakraments-Blutreliquien. Unter den als Heilig-Blut verehrten Reliquien waren im Spätmittelalter die sogenannten Wunderhostien sehr viel verbreiteter als die Verehrung konsekrierten Weins. Zur Bedeutung des Bluts grundsätzlich: Caroline Walker Bynum, Wonderful Blood. Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond, Philadelphia 2007; Peter Dinzelbacher, Das Blut Christi in der Religiosität des Mittelalters, in: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung in Weingarten. 1094–1994, hrsg. von N. Kruse und H. U. Rudolf, Sigmaringen 1994, Bd. 1, S. 415–434 S. 415. 13 Zur Situation in Rothenburg vgl. Die oberdeutschen Reichsstädte und ihre Heiligenkulte. Traditionen und Ausprägungen zwischen Stadt, Ritterorden und Reich, hrsg. von K. Herbers, Tübingen 2005. 14 Heb 2,14. Zur Eucharistie im Mittelalter grundsätzlich: Peter Browe, Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht, Münster 2003. 15 Thomas Lentes, Ereignis und Repräsentation. Ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Liturgie und Bild im Mittelalter, in: Die Bildlichkeit symbolischer Akte, hrsg. von B. Stollberg-Rilinger und T. Weißbrich, Münster 2010, S. 155–184; Reinhard Hoeps, Gottes Gegenwart im Bild? Vom Streit zwischen Bild und Sakrament, in: Christusbild. Icon und Ikone. Wege zu Theorie und Theologie des Bildes, hrsg. von A. Matena und P. Hofmann, Paderborn 2010, S. 101–115, S. 101–102; Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne, hrsg. von D. Ganz und T. Lentes, Berlin 2004; Belting 2005 (Anm. 8), bes. S. 89–93. 16 Vgl. Anm. 2.

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1. KORREKTUR 2 3 4

17 Zur Arbeitsteilung grundsätzlich: Hans Huth, Künstler und Werkstatt der Spätgotik, Augsburg 1923. 18 Die Skulptur des Heiligen Antonius weicht in der Gestaltung davon ab. Die Innenseite seines Mantels weist zwei Farben auf (Rot und Blau), sein Untergewand wurde nicht mit Pressbrokat verziert. Inwieweit die Gestaltung das Resultat einer Planänderung, eines Kompromisses oder einer gezielten Abweichung ist, muss letztlich offenbleiben. Grundsätzlich lassen sich am gesamten Retabel ähnliche andere Unstimmigkeiten entdecken, die dafür sprechen, dass einige praktische Kompromissentscheidungen getroffen wurden. 19 Vgl. Anm. 1. 20 Die Tafelmalerei auf den Flügeln lässt eine Fülle unterschiedlich abgetönter Farben erkennen. Sogar die Darstellungen konkreter Heiliger, die innerhalb derselben Retabelanlage sowohl gemalt als auch farbig gefasst gezeigt werden, weichen voneinander ab, vgl. Jakobus (Flügelaußenseiten, Flügelinnenseiten, Predella, Schrein). 21 Quellen haben sich in Rothenburg diesbezüglich nicht erhalten. Bei den Zahlungen der Kirchenpflege an Herlin handelt es sich um kleine Summen, bei denen es sich um Raten oder gänzlich andere Abgeltungen handeln kann. Letztlich bleibt die Höhe der Kosten für dieses Retabel unbekannt. Grundsätzlich jedoch waren Retabel dieser Größe hochpreisig; das gilt insbesondere für Hochaltarretabel, vgl. Georg Habenicht, Das ungefasste Altarretabel. Programm oder Provisorium, Petersberg 2016, S. 61, S. 66. 22 Wolfgang Kemp, Rembrandt. Die Heilige Familie mit dem Vorhang, Kassel 2003. Zum Goldgrund und Vorhang vgl. Claudia Blümle, Glitzernde Falten. Goldgrund und Vorhang in der frühneuzeitlichen Malerei, in: Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste, hrsg. von G. Brandstetter und S. Peters, Freiburg i. Br. 2008, S. 45–66; Iris Wenderholm, Himmel und Goldgrund. Konkurrierende Systeme in der Malerei um 1500, in: Paragone als Mitstreit, hrsg. von Y. Hadjinicolaou u. a., Berlin 2013, S. 119–139. 23 Solche Mechanismen werden aktuell unter dem Begriff der Liminalität diskutiert, vgl. Klaus Krüger, Bildpräsenz – Heilpräsenz. Ästhetik der Liminalität, Göttingen 2018; Lynn F. Jacobs, Thresholds and Boundaries. Liminality in Netherlandish Art (1385–1530), Oxon 2018. 24 Mt 27,50–51. Zu der Vorstellung, dass Christus selbst Tuch sei: Heb 10,20; Stefanie Seeberg, Verhüllen und Enthüllen unsichtbarer Geheimnisse. Textilien in der Ausstattung des Altares im Mittelalter, in: Hüllen und Enthüllungen. (Un-)Sichtbarkeit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, hrsg. von I. Klein, N. Mai und R. Tumanov, Berlin 2017, S. 204–226; Barbara Schellewald, Hinter und vor dem Vorhang: Bildpraktiken der Enthüllung und des Verbergens im Mittelalter, in: Hinter

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

dem Vorhang. Verhüllung und Enthüllung seit der Renaissance – von Tizian bis Christo, Ausst.Kat. (Düsseldorf, Museum Kunstpalast, 2016–2017), hrsg. von B. Schellewald und B. Wismer, München, S. 124–131.

25 Bruno Reudenbach, „Gold ist Schlamm“. Anmerkung zur Materialbewertung im Mittelalter, in: Material in Kunst und Alltag, hrsg. von M. Wagner, Berlin 2002, S. 1–12; Christel Meier-Staubach, Schönheit – Wert – Bedeutung. Zur Materialität und Symbolik von Gold und Edelsteinen im Mittelalter, in: Westfalen 91, 2013, S. 29–55. 26 Phil 3,21; 1 Kor 15,44. 27 Zu Heiligenverehrung und Reliquienkult vgl. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die ­Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994; Arnold ­Angenendt, Figur und Bildnis, in: Hagiographie und Kunst. Der Heiligenkult in Schrift, Bild und Architektur, hrsg. von G. Kerscher, Berlin 1993, S. 107–119. 28 Hedwig Röckelein, Die Hülle der Heiligen. Zur Materialität des hagiographischen Mediums, in: Reliquiare im Mittelalter, hrsg. von B. Reudenbach, Berlin 2005, S. 75; Bruno Reudenbach, Re-

Körper zwischen Himmel und Erde I 213

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liquiare als Heiligkeitsbeweis und Echtheitszeugnis. Grundzüge einer problematischen Gattung, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, 4, 2000, S. 3–29; Anton Legner, Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt 1995; Arnold Angenendt, „Der Leib ist klar, klar wie ein Kristall“, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hrsg. von K. Schreiner, München 2002, S. 387–398. 29 Zur Interpretation der Retabel als Abbild des Himmlischen Jerusalems und zu ihrer Funktion: Herbert Schindler, Der Schnitzaltar. Meisterwerke und Meister in Süddeutschland, Österreich und Südtirol, Regensburg 1978, bes. S. 15–16; Eva Zimmermann, Der spätgotische Schnitzaltar. Bedeutung, Aufbau, Typen, dargelegt an einigen Hauptwerken, Frankfurt/Main 1979, bes. S. 13–14. 30 Legner 1995 (Anm. 28), bes. S. 4–7; vgl. auch Frank Fehrenbach, Die Goldene Madonna im Essener Münster, Ostfildern 1996, bes. 62–72.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Katharina Christa Schüppel

Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen Zur Medialität weiblicher Heiligkeit im Mittelalter Die kunsthistorische Forschung hat sich für mittelalterliche Madonnenskulpturen lange mit Blick auf deren Inneres interessiert: für ihre mögliche Reliquiarfunktion. Den epistemologischen Subtext dieser Diskussion bildete die These, die Reliquiarfunktion habe die Existenz mittelalterlicher Skulpturen in religiösen Kontexten erst legitimiert.1 Aus entgegengesetzter Perspektive lässt sich argumentieren, dass für Madonnenskulpturen als Repräsentationen des Heiligen in materieller Form die Oberfläche und ihre Gestaltung von ebenso großer Bedeutung waren: Die Oberfläche eines religiösen Objekts ist Kontaktzone zum Heiligen, sie ist Blicken und Berührungen ausgesetzt, vor allem aber interagiert sie mit ihrer Umgebung, sie ist performativ. Für sie gilt, was Christina Lechtermann und Stefan Rieger in Das Wissen der Oberfläche über Oberflächen und deren Wirkung schreiben: Die Oberfläche erscheint in mehrfacher Hinsicht: Sie erscheint als Ort eines vielfältigen Ausdrucks, ausdifferenziert etwa in Praktiken des Schmückens, des Tarnens oder des Kaschierens, des Simulierens und Dissimulierens. Umgekehrt stellt sie auch einen Ort dar, durch den die Tiefenstrukturen der Dinge hervortreten oder zum Erscheinen gebracht werden.2

ELEKTRONISCHER delns, in dem sich das Artefakt in einem Akt der Ko-Präsenz realisiert: In diesen Prozessen SONDERDRUCK

Die Oberfläche als performativer Raum verhandelt Bedeutungen. Gleichzeitig entfaltet sie ihr volles Bedeutungsspektrum erst im performativen Prozess, im Prozess des Objekthanwerden die oftmals fragilen Objekte von unterschiedlichen Akteur:innen berührt, sie werden bewegt, beleuchtet, geschmückt, gemeinsam mit anderen Objekten neu gruppiert, kurz gesagt: Sie interagieren auf komplexe Weise mit selbst in permanenter Veränderung befindlichen Umgebungen.3 Zeitgenössische Künstler wie Katharina Fritsch und Thomas Bayrle haben Madonnen entworfen, die nur Oberfläche sind. In Katharina Fritschs Werk ist die Gelbe Madonna, von der Künstlerin selbst in unterschiedlichsten Formaten repliziert, seit Langem eine Konstante. Eine lebensgroße Version (170 × 40 × 34 cm), aus Duroplast gegossen und leuchtend gelb lackiert, begegnete bei den Skulptur Projekten Münster 1987 den Passanten in der

Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen I 215

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1  Katharina Fritsch, Madonna, Skulptur Projekte Münster 1987.

innerstädtischen Salzstraße in etwa auf Augenhöhe. Alle Madonnen Fritschs variieren das berühmte Gnadenbild von Lourdes. Das bei den Skulptur Projekten gezeigte Stück wurde als religiöses Objekt wahrgenommen und mit Blumen geschmückt. Wiederholte Beschädigungen waren der Grund dafür, dass die ursprüngliche Version aus Duroplast noch vor dem Opening durch einen Steinguss ersetzt wurde (Abb. 1).4 Thomas Bayrles Madonna Mercedes (1989) ist eine Collage (198 × 146 cm), die den halbfigurigen Körper der Madonna mit Kind im Typ der Glykophilousa aus einer Vielzahl gereihter, verzerrter, einander überlagernder Schwarz-Weiß-Fotos einer Mercedes-Limousine konstruiert, wobei die miteinander verfließenden Bilder einen metallisch spiegelnden Effekt erzeugen.5 Beide Werke nehmen auf eine ganz besondere Oberflächeneigenschaft vieler Madonnen Bezug, ihren Glanz beziehungsweise das Leuchten kostbarer Materialien, und deuten diese um: Im einen Fall wird aus Gold mattes Gelb, aus Spiritualität Konvention, im anderen verliert das Heilige seine Körperlichkeit und wird zum Spiegel: Reflexion ersetzt Kommunikation. Bereits früh begegnen metallene Oberflächen in den materiellen und visuellen Kulturen weiblicher Heiligkeit. Schlüsselwerke sind das Reliquiar der hl. Fides in Conques (spätes 9. und 10. Jahrhundert), aber auch die seit der Französischen Revolution verlorene ­goldene Madonna der Kathedrale in Clermont-Ferrand sowie die goldenen Madonnen des 10. und 11. Jahrhunderts in Essen und Hildesheim.6

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1. KORREKTUR 2 3 4

Neben die goldenen Madonnen tritt vom 11. Jahrhundert an eine kleine Gruppe silberbekleideter Marienbilder. Zu dieser Gruppe gehören die Marienfiguren im belgischen Walcourt), in Astorga (12. Jahrhundert), Pamplona (zwischen 1167 und 1175/1185) und Irache (1176/1185 bis 1194), die Madonnen in Beaulieu-sur-Dordogne und Orcival (beide zweite Hälfte 12.  Jahrhundert), und auch, wie anhand kleiner Metallspuren gezeigt ­werden konnte, das berühmte Kultbild der Schwarzen Madonna (spätes 12. Jahrhundert?) in Rocamadour, einem der bedeutendsten südfranzösischen Heiligtümer am Pilgerweg nach San­ tiago di Compostela (Abb. 2).7 Jede Silberbekleidung ist einzigartig. Wir finden silberne Hüllen, die den gesamten Körper einschließlich der Gesichter und Hände bedecken, ebenso wie Silberbekleidungen, die Gesicht und Hände freilassen und auf diese Weise kostbar metallen leuchtende Gewänder ins Bild setzen. Und es gibt Silberbekleidungen, die partiell eingesetzt werden, um Teile einer Skulptur zu schützen und zugleich zu akzentuieren – wie der silberne Fuß der nach diesem Detail benannten, heute musealisierten Vierge au pied d’argent in Compiègne: eine Steinskulptur der Zeit um 1270, aus der Abteikirche Saint-Corneille, deren linker Fuß beschädigt und in Silberblech gehüllt ist.8 In Compiègne markiert der silberne Fuß ein durch Berührung stark beanspruchtes und zerstörtes Körperteil und das Material Silber einen Prozess der Reparatur. Die Reparatur selbst wiederum sagt etwas über die religiöse Praxis aus, die sie verursacht hat. Darüber hinaus gibt es Madonnen, die ihre silberne

ELEKTRONISCHER metallbekleideten Zustand ­beschreiben, aber auch SONDERDRUCK Hülle im Laufe ihrer Objektgeschichte verloren haben, wie anhand von Quellen, die den früheren,

anhand der Objektevidenz, anhand von Nagel­ spuren und Metallresten, nachweisbar ist.9 Restaurierungstechnologische Erkenntnisse lassen die Objektgruppe deshalb weiter wachsen. So konnte anlässlich ihrer Restaurierung nachgewiesen werden, dass die im heutigen Zustand farbig gefasste Vierge en majesté im Musée du Louvre in Paris aus der Mitte des 12. Jahrhunderts ursprünglich eine Bekleidung aus Silberblech besaß.10 Ein weiterer Fall ist

2  Madonna, Walcourt, Saint-Materne © KIK-IRPA, Brüssel

Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen I 217

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die bereits genannte Madonna in Rocamadour. Schon seit Längerem ist bekannt, dass die heute holzsichtige thronende Madonna im Schatz der Kathe-drale in Girona mit Silberblech bekleidet war.11 Die Kulturanthropologin Gudrun M. König bemerkt zur Oberfläche aus der Perspektive der Forschung zur materiellen Kultur: Die Oberflächenbedeutung der Dinge ist von Gestalt, Funktion und Stoff als klassischer Aufmerksamkeitstrias der Dingbedeutung nicht zu trennen. Die Mehrdeutigkeit der Dinge zum einen, Material, Form und Funktion zum anderen verweisen jedoch auf multiple Optionen der Kontextualisierung.12

Was bedeutete es also, einer Madonnenskulptur eine plastische, silberne Oberfläche zu verleihen? Worin liegt das besondere, performative Potenzial des Materials – Silber – für die Madonnen als materiale Präsenzen des Heiligen im multisensorischen Kirchenraum? Worin die Herausforderungen des Umgangs mit einem transformativen Material, das auf vielfältige Weise mit seiner Umwelt reagiert? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, Materialität, Objektbedeutung und Praktiken des Objekthandelns in Relation zueinander zu setzen und die Objekte zudem über die gesamte Dauer ihrer Objektgeschichte hinweg in den Blick zu nehmen: Dabei erweist sich die metallene Oberfläche als semantisch polyvalent und als geschichteter, gebrochener Raum, der aufgrund seiner Materialität Tiefe besitzt und in den sich Akteur:innen mit den kulturgeschichtlichen bedeutsamen Praktiken des Reinigens, des Flickens und des Bekleidens einschreiben.13 Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass „Maria“ in Spätantike und Mittelalter ein überaus komplexes Modell weiblicher Heiligkeit repräsentiert, das keineswegs statisch und überzeitlich ist, sondern Gegenstand kultureller Aushandlungs- und Verortungsprozesse: Nicht umsonst umschreiben Dominique Iogna-Prat, Éric Palazzo und Daniel Russo die Madonna in der Einleitung des von ihnen publizierten Bands Marie. Le culte de la Vierge dans la Société médiévale (1996) als „personnage multiforme“ und „système de valeurs“.14 Die folgenden Überlegungen gelten der silbernen Hülle der Madonna des frühen 11. Jahrhunderts im belgischen Walcourt, ein mittelalterliches Kultbild, das bis vor wenigen Jahren im Fokus einer bedeutenden Zeremonie stand: eines auf einem militärischen Modell basierenden folkloristischen Marschs anlässlich des Trinitätsfests (am ersten Sonntag nach Pfingsten), der gemeinsam mit 14 weiteren Märschen der wallonischen Region Entre-Sambre-et-Meuse im Jahr 2012 zum immateriellen kulturellen Welterbe erklärt wurde.15 Bei der Tour de Notre-Dame kommt heute anstelle der fragilen Skulptur des 11. Jahrhunderts eine Kopie zum Einsatz. Die Vorbereitungen zur Anfertigung dieser Kopie im Jahr 1988 waren zugleich Anlass einer restaurierungstechnologischen Untersuchung des Originals durch das Institut royal du Patrimoine artistique (IRPA),16 der sich neue Erkenntnisse zur Materialität dieses frühen Kultbilds verdanken, insbesondere zu den komplexen Schichtungen seiner Oberfläche.

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1. KORREKTUR 2 3 4

Silber: Stoffgeschichten und Materialsemantiken Zwei Besonderheiten der Walcourt-Madonna sind ihr frühes Entstehungsdatum und ihre Materialität. Stilanalyse und C-14-Datierung weisen auf eine Entstehung in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts;17 möglicherweise besteht eine Verbindung zur Weihe der Kollegiatskirche im Jahr 1026.18 Die 62 cm hohe Holzskulptur ist in eine Hülle aus millimeterdünnem, extrem fragilem Silberblech gekleidet. Ihre Fragilität, aber auch anhand der Objektevidenz nachweisbare Beschädigungen zum Beispiel durch einen Brand haben dazu geführt, dass diese Hülle sich durch die Jahrhunderte hindurch in einem permanenten Prozess der Reparatur befand. Das Aufbringen des dünnen Silberblechs auf den hölzernen Kern der Madonna lässt sich am adäquatesten als Akt des Bekleidens beschreiben: die silberne Oberfläche als „zweite Haut, die die erste umhüllt, schützt, gestaltet“ und als solche eine „Nahtstelle zwischen Körper und Gesellschaft bildet“.19 Im Laufe ihrer Objektgeschichte hat die Madonna zahlreiche weitere Veränderungen erfahren, die ihre materielle Substanz ebenso betreffen wie die Formen und Orte ihres Displays als religiöses Objekt. Aus nachmittelalterlicher Zeit sind zwei Altäre bekannt, in denen die Madonna inszeniert wurde: ein barocker Altar im nördlichen Querschiff und das neogotische Retabel mit Szenen aus dem Leben Mariens, ein Werk Léopold Blanckaerts aus dem Jahr 1911, am gleichen Ort (Abb. 3).20 Zu ihrer Ausstattung gehören Kronen und Gewänder.21 Ihre Bekleidung und auch die im 17. Jahrhundert ergänzten Gesichtsmasken, die Mutter und Kind tragen und auf die später zurückzukommen sein wird, lassen die kostbare mittelalterliche Substanz nicht einmal erahnen.22 Die Situation zeugt von einem über die Jahrhunderte hinweg lebendigen Kult. Unter der Silberbekleidung befindet sich eine Skulptur aus Lindenholz. Wie Robert Didier festgehalten hat, lässt sich der Grad der Ausarbeitung des Körpers ohne eine vollständige Abnahme der Silberbleche nicht bestimmen.23 Anlässlich der Restaurierung der Madonna entstandene Aufnahmen des Marienhaupts im Profil lassen ruhige, klare Gesichtszüge er-

ELEKTRONISCHER Wie die Augen ursprünglich gestaltet waren, ist nicht bekannt. Im gegenwärtigen Zustand SONDERDRUCK

kennen, hohe Wangenknochen und einen fein gezeichneten Mund (Abb. 4). Von vorn betrachtet, bestimmen die großen, ausgehöhlten Augen die Wahrnehmung des Gesichts. ist eine Glasperle als Pupille erhalten. Wann es zu dieser Gestaltung kam, lässt sich jedoch nicht sagen.24 Der Kopf ist nach vorn und unten geneigt. Eine detaillierte Ausarbeitung, auf der die Silberbekleidung mithilfe kleiner Nägel befestigt wurde, ist aus anderen Zusammenhängen bekannt: Auch die 48 cm hohe Madonna der Kathedrale in Girona, deren hölzerne Oberfläche heute aufgrund des Verlusts der Silberbekleidung dauerhaft sichtbar ist, und die ebenfalls bereits genannte Vierge en majesté im Musée du Louvre, beide Mitte des 12. Jahrhunderts, sind voll ausgearbeitete Holzskulpturen.25 Dies ist aber keinesfalls absolut zu setzen: Die ebenfalls silberbekleidete Madonna im Schatz der Abtei St-Pierre in Beaulieu-sur-Dordogne besitzt einen kaum ausgearbeiteten Holzkern.26

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3  Madonna, Walcourt, Saint-Materne, in Altar-Setting © KIK-IRPA, Brüssel

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1. KORREKTUR 2 3 4

4  Madonna, Walcourt, Saint-Materne, Detail © KIK-IRPA, Brüssel

Die Walcourt-Madonna ist frontal in sitzender Haltung dargestellt. Eine Besonderheit ist die diagonale Position des Kindes auf den Knien Mariens. Die rechte Hand des Kindes ist im Segensgestus erhoben. Die rechte Hand Mariens umfasst die langen schlanken Beine des Kindes. Auch im Fall der Goldenen Madonna im Essener Münster ist die Sitzposition des Kindes diagonal: ein seltenes Detail, das beide Stücke verbindet.

ELEKTRONISCHER aus einer Vielzahl dünner, geschichteter, gebrochener Falten – eine Oberfläche, die lebSONDERDRUCK Eine Besonderheit besteht in Walcourt darin, dass das dünne Silberblech den gesamten

Körper Mariens einschließlich des Gesichts bedeckt. Das Gewand ist ein fragiles Gebilde

haft mit ihrer Umgebung reagiert haben muss, beispielsweise mit der im Tages- und Jahresverlauf wechselnden Beleuchtung durch die Fenster des mittelalterlichen Kirchenraums oder mit dem unruhigen Licht von Kerzen und Öllampen im Kontext religiöser Zeremonien. Wird die Eigenschaft des Oberflächenglanzes aktiviert, verleiht sie dem Objekt Sichtbarkeit27 und Lebendigkeit, „transforming the fixity of form into a multiplicity (varietas in Latin, poikilia in Greek) of appearances“.28 In welchem Verhältnis steht die metallene, silberne Oberfläche zur Medialität weiblicher Heiligkeit im Mittelalter – im Sonderfall Mariens? Die metallbekleideten Madonnen gehören zu den mittelalterlichen Objekten, die ihre Materialität besonders offen zur

Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen I 221

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Schau stellen – was in der Vergangenheit ihre von der Kunstgeschichtsschreibung inzwischen kritisch bewertete Kategorisierung als fremde, archaische Objekte zur Folge hatte.29 Aus mittelalterlicher Perspektive ist die offensichtliche Materialpräsenz der Madonnen jedoch nicht defizitär zu lesen,30 sie stellt im Gegenteil eine Qualität dar, die diskursive Welten eröffnet. Und sie ist semantisch polyvalent: Die starke materielle Präsenz des Objekts ist immer auch Zeichen der Absenz des Urbilds.31 Zugleich lässt sich die Bedeutung der silbernen Oberfläche nicht auf ihre lichtreflektierende Qualität reduzieren. Natürlich ist sie Spiegel göttlichen Lichts, sie antwortet aber auch auf mittelalterliche Konzeptionen des Marienkörpers als aus sich selbst heraus leuchtend.32 Silber leuchtet heller und strahlender als Gold – Plinius beschreibt es in der Naturalis historia als so hell wie das Tageslicht.33 Es ist flexibel und leicht formbar. Damit es bearbeitet werden kann, ist eine kleine Kupferbeigabe erforderlich. Silber ist – anders als Gold – klangvoll.34 Darüber hinaus gehört Silber zu den in mittelalterlichen religiösen Kontexten besonders geschätzten transformativen Materialien: Materialien, die aktiv sind, ihren Aggregatzustand oder – in unserem Fall – ihre Farbe ändern:35 Anders als Gold, das nicht mit anderen Elementen reagiert und auch nicht rostet,36 ist Silber Umwelteinflüssen gegenüber keineswegs unempfindlich. In Kontakt mit Luft und Wasser oxidiert es und wird dunkel. Berührung und Benutzung dagegen stellen seinen Glanz wieder her – glänzendes Silber galt als Anzeichen einer lebendigen kultischen Verehrung: Gregor der Große (590– 604) kontrastiert in den Moralia in Iob die Helligkeit in Gebrauch befindlichen Silbers mit der schwarzen Verfärbung des ruhenden Metalls. Das dunkle Metall vergleicht er mit der Weisheit der alttestamentlichen Propheten, die Christus mit seiner Inkarnation zum Strahlen gebracht habe. Gregor benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff vom Reinigen („tergere“) durch Berührung mit der Hand.37 Mit Blick auf konkrete Objekte sind es die kostbaren silbernen Bekleidungen oder Mixed-Media-Oberflächen von Ikonen, von denen wir wissen, dass sie regelmäßig gereinigt wurden, um ihren Glanz zu erhalten: Ein Beispiel ist die Metallbekleidung der Salvatorikone der päpstlichen Schatzkammer Sancta Sanctorum in Rom, für deren Reinigung die Mitglieder der Salvatorbruderschaft Sorge trugen.38 Die Madonna in Walcourt entstand zu einem Zeitpunkt, als die Aktivität der europäischen Silberminen relativ schwach war und viele Regionen das kostbare Metall in Form arabischer Silbermünzen im Austausch gegen lokale Produkte erwarben.39 Ihre Schwestern in Girona, Astorga oder Irache profitierten sicherlich von der, wie Marie-Christine BaillyMaitre schreibt, „Explosion“ der Minenaktivität in Südfrankreich und Spanien im 12. Jahrhundert.40 Einer der wichtigsten biblischen Texte zum Thema Silber ist Psalm 11, der Silber – aufgrund seines Gewinnungsprozesses, eines Prozesses der Reinigung – mit dem Wort Gottes gleichsetzt: Das reine Wort Gottes tritt hervor wie das leuchtende, reine Silber.41 Die Schedula diversarum artium, ein Text des frühen 12. Jahrhunderts, der künstlerische Techniken und Materialien diskutiert, darunter die Goldschmiedekunst, beschreibt die Reinigung des Silbers:

222 I Katharina Christa Schüppel DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

Siebe Asche, vermische sie mit Wasser, nimm einen im Feuer erprobten Topfscherben von solcher Grösse, dass du darin das Silber schmelzen zu können glaubst, welches gereinigt werden soll, ohne es zu verschütten; gieb die Asche darein, in der Mitte leicht, dicht an dem Saume und trockne sie auf Kohlen. Nachdem sie getrocknet, entferne die Kohlen etwas vom Ofen und stelle den Topf sammt der Asche unter die Oeffnung vor dem Ofen, so dass die Luft aus dem Blasbalge auf sie streiche, bringe die Kohlen darüber und blase, bis es weissglühend ist. Dann gieb das Silber darein, füge ein wenig Blei hinzu, mache es auf Kohlen flüssig, habe zur Hand ein Zaunholz, welches im Winde getrocknet ist, decke hiemit sorgfältig auf und reinige das Silber von Allem, was du Unreines auf demselben gewahr wirst. Nachdem du dann einen Feuerbrand, das ist ein im Feuer angebranntes Stück Holz, daraufgelegt hast, so blase ziemlich langsam. Hast du nach diesem das Blei herausgeworfen und du siehst, dass das Silber noch nicht gereinigt wäre, so setze abermals das Blei hinzu und verfahre mit den daraufgesetzten Kohlen wie vorher. Siehst du, dass das Silber koche und sprudle, so wisse, dass ein Zinn oder Messingerz beigemischt ist, brich ein Stück Glas in kleine Stückchen, streue sie über das Silber, gieb Blei hinzu, schaffe die Kohlen bei und blase tüchtig. Dann sieh nach wie früher, entferne mit dem Holze die Unreinigkeit des Glases und Bleies, lege den Brand wie früher darauf und das so oft, bis es gereinigt ist.42

Auch Beda Venerabilis nimmt auf Psalm 11 Bezug, wenn er Gold mit Weisheit gleichsetzt, das Wort hingegen mit Silber. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, wie bereits zuvor für Gregor den Großen in den Moralia in Iob, die Beschreibung der Säulen für den Vorhang des Tabernakels im Buch Exodus, die vergoldet sind, aber auf silbernen Basen ruhen: Du wirst auch einen Vorhang machen aus hyazinthfarbenem Stoff und Purpur und doppelt gefärbtem Scharlach und gezwirntem Byssus, mit Brokatstickerei und schöner Musterung verziert, den du vor vier Säulen aus Schittimholz aufhängen wirst, die selbst zwar vergoldet sein werden und goldene Kapitelle haben werden, doch silberne Füße.43

Bereits Gregor der Große erkennt in Silber das Material, das für die menschliche Natur

ELEKTRONISCHER tion, der Kommunikation. Den Überlegungen Gregors liegt das in der Gottesvision HeseSONDERDRUCK Christi steht, und entsprechend, mit den Worten von Herbert Kessler, einen „channel of

communication“ zwischen Gott und den Menschen bildet: Silber als Material der Mediakiels (Hes 1, 4) entworfene Bild Gottes als Elektron zugrunde, eine Legierung aus Silber

und Gold, in der nicht das warme Leuchten des Golds, sondern der helle Glanz des Silbers besonders hervortritt.44 Im frühen 11. Jahrhundert, zur Zeit der Entstehung der WalcourtMadonna, stehen wir tatsächlich an einem Punkt, an dem die Idee von Maria als mediatrix, als Vermittlerin, zunehmend neben die Königin Maria tritt.45 Wie Herbert Kessler zeigt, wird die von Gregor etablierte Materialsemantik von nachfolgenden Theologen wie Hrabanus Maurus (um 780–856), Petrus Damiani (1006–1072), Bruno von Segni (1045/1049– 1123) und anderen rezipiert und erweitert.46 Materialsemantisch ist die Entscheidung, den Körper der Walcourt-Madonna silbern zu bekleiden, somit auf doppelte Weise adäquat:

Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen I 223

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Indem die Materialwahl die menschliche Natur Christi und die Bedeutung Mariens für die Inkarnation ins Bild setzt, betont sie zugleich die Notwendigkeit der Vermittlung zwischen irdischer und göttlicher Sphäre.

Schichtungen Die silberne Oberfläche der Madonna in Walcourt ist auch deshalb von besonderem Interesse für die Forschung zu den Oberflächen mittelalterlicher Madonnenskulpturen, weil sie permanent in Transformation begriffen ist. Das fragile Silber ist zerdrückt, beschädigt, fragmentiert und zugleich fortwährend repariert worden, wie sich anhand kleinster Ergänzungen nachweisen lässt.47 In unbekleidetem Zustand, ohne textile Ge­ wänder, st es dieses „Gemacht-Sein“ (Gudrun M. König) der Oberfläche, das die Wahrnehmung bestimmt und wertvolle Spuren des Umgangs mit einem religiösen Objekt in sich birgt: Herstellungs- und Gebrauchsspuren kommen bei der Ästhetik und Poetik der Oberfläche zu kurz, denn die Oberfläche ist nicht nur Fakt, sondern auch Faktum: Sie ist gemacht. Sie fordert nicht nur zum Handeln auf, sondern sie ist Produkt des Handelns. Die ProtagonistInnen in diesem Prozess sind in der Regel strukturell nicht identisch: Es sind die ProduzentInnen zum einen und die KonsumentInnen zum anderen, die aktuell durch die ProsumentInnen der neuen DIY-Bewegung Konkurrenz bekommen. Sie prägen die Oberflächen wie die Dinge in beziehungsreichen Sinn-, Diskurs- und Handlungskomplexen.48

Teil der Objektgeschichte der Madonna sind komplexe Schichtungen: Für das Gesicht Mariens sind drei silberne Masken nachweisbar, die übereinander liegen. Die zweite Maske liegt auf dem Fragment der ersten, das Brandspuren aufweist und von der vergoldeten Bordüre des Schleiers bedeckt wird. In diese zweite Maske wurden Öffnungen geschnitten, damit die Augen aus Glasfluss sichtbar blieben. Auf dieser Maske liegt bis heute die in den 30erJahren des 17. Jahrhunderts gefertigte, völlig geschlossene dritte Maske.49 Wie Robert Didier festhält, ist diese Form der Schichtung außergewöhnlich. Sie folgte keiner technischen Notwendigkeit. Vielmehr kann sie als Versuch gelesen werden, die Ganzheit der Madonna als heiliges Objekt zu bewahren – ein Versuch, der sich nicht auf physische Ähnlichkeitsrelationen beschränkte, sondern das Material einschloss.50 Im Fall der Walcourt-Madonna besitzt die Frage der Authentizität möglicherweise besondere Relevanz: Der Legende nach handelt es sich bei ihr um ein „wahres Abbild“ Mariens, geschaffen im ersten Jahrhundert vom hl. Maternus, einem der 70 Schüler Christi und Subdiakon Petri, der die Region um Walcourt evangelisiert haben soll. Die Legende begegnet erstmals in der Chronik der Abbaye du Jardinet in Walcourt aus dem frühen 17. Jahrhundert.51 Die gleiche Chronik inszeniert die silberne Madonna als für die Gründungsgeschichte der Abtei wesentliches Objekt:

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1. KORREKTUR 2 3 4

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

5  Madonna, Walcourt, SaintMaterne, Rückseite © KIK-IRPA, Brüssel

Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen I 225

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Die Abtei du Jardinet sei an dem Ort errichtet worden, an dem in einem Baum in einem Garten die Madonnenskulptur aufgefunden worden sei, nachdem sie auf wunderbare Weise, von Engeln getragen, dem Stadtbrand von 1228 entkommen sei.52 In die Zeit um 1260 fällt möglicherweise ein größerer Eingriff in die Substanz der Madonna, der ihre Rückseite betrifft: Die Rückseite erhielt eine neue Bekleidung durch eine Tafel aus vergoldetem Kupfer (47 × 19 cm). Die Tafel ist ziseliert (Abb. 5). Sie zeigt in vier Registern die zwölf Apostel. Die Tafel gewährleistet die für Prozessionen wichtige Allansichtigkeit der Figur – wobei ihre Sichtbarkeit, worauf schon Robert Didier hinweist, vom Zustand der Bekleidung abhängt: Wie viele andere Madonnenskulpturen auch besitzt die Walcourt-Madonna kostbare Gewänder für unterschiedliche Zeiten des liturgischen Jahrs und hohe Festtage.53 Tatsächlich war die Walcourt-Madonna Prozessionsfigur: Seit dem 17. Jahrhundert dokumentiert ist der Tour de Notre-Dame anlässlich des Trinitätsfests. Die Prozession erinnerte auch an das Auffindungswunder, wobei die zweite silberne Madonna in Walcourt, die sogenannte Vierge de la Trésorerie, eine silberne Marienstatue des 13. Jahrhunderts, ins Spiel kommt. Für eine statio am Ort der früheren Abtei du Jardinet wurde ein besonderes Setting entworfen: Ein temporär aufgestellter Baum, in dessen Äste die Vierge de la Trésorerie gehängt wurde.54 Bei der Restaurierung der Madonna im Jahr 1993 wurden sieben textile Reliquien, zwei Beutel, ein Stückchen Holz und drei kleine Knochen gefunden. Die Textilien datieren in eine Zeitspanne zwischen dem 11. und 17. Jahrhundert. Die Reliquien befinden sich in einem hölzernen Kasten (21  ×  8,5  ×  6,5  cm), der in das rückseitige Depositorium (26 × 16 cm) eingestellt ist. Bei der ersten Auffindung der Reliquien im Zuge von Sicherungsmaßnahmen im Jahr 1887 war es zu Überlegungen gekommen, die das Reliquiendepot auf die Person des hl. Maternus zurückführten und in den textilen Fragmenten Reliquien der Gewänder Mariens erkannten.55 Diese an Objekte geknüpfte „Erfindung“ einer Tradition ist im Kontext der neuen Aktualität zu lesen, die die europäische Marienverehrung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnen sollte. Für die Walcourt-Madonna bedeutet die Existenz des Depositoriums, dass ihre metallene Hülle nicht allein Kontaktzone und Nahtstelle zur Außenwelt ist, sondern zugleich Container, wobei es die seit dem 13. Jahrhundert bildlich präsenten Apostel sind, die als irdische Zeugen des Lebens Jesu über das Depositorium wachen.

Farbfassung vs. Metallbekleidung Die silberne Oberfläche der Walcourt-Madonna weist jedoch nicht nur Gebrauchsspuren und Spuren von Reparaturen auf. Wie Myriam Serck-Dewaide und Leopold Kockaert anlässlich der Untersuchung der Madonna durch die Restaurator:innen des Institut royal du

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1. KORREKTUR 2 3 4

Patrimoine artistique (IRPA) in Brüssel zeigen konnten, liegen unter der metallenen Oberfläche Farbspuren. Die Untersuchung der Madonna durch die Restaurator:innen des Institut royal du Patrimoine artistique (IRPA) in Brüssel erweiterte diese Beobachtung um einen zusätzlichen, neuen Aspekt: Wie Myriam Serck-Dewaide und Leopold Kockaert zeigen konnten, liegen unter der metallenen Oberfläche Farbspuren. Gefunden wurden so viele Spuren, dass sich den Restaurator:innen zufolge tatsächlich von einer Fassung sprechen lässt. Die Farben liegen auf einer dünnen Grundierung. Die Inkarnate zeigen ein intensives Rosa, das Haar des Kindes ist braun. Im rechten Auge Mariens sind Spuren von Weiß sichtbar und ein roter Punkt im Augenwinkel. Der Schleier Mariens ist weiß mit Spuren von Rot, das Gewand des Kindes blau oder blaugrün.56 In welchem Verhältnis stehen Farbfassung und Metallbekleidung zueinander? Im Fall mittelalterlicher Madonnenskulpturen und -reliefs ist das Übereinanderliegen einer farbigen Fassung und einer Metallbekleidung tatsächlich kein Einzelfall. Drei weitere Objekte, deren Metallbekleidung eine vollständige Farbfassung bedeckt, sind die Imad-Madonna in Paderborn (Mitte 11. Jahrhundert), die bereits genannte Vierge en Majesté im Musée du Louvre in Paris (ca. 1150) und die Marienikone des Monastero della Visitazione in ­Treviso. In Paderborn sind die Inkarnate nachweisbar, Tunika und Palla Mariens in Weiß mit roten Säumen und eine blaue Tunika für das Christuskind. Es handelt sich um die erste von insgesamt vier Fassungen. Die linke Seite der außergewöhnlich hohen Skulptur (112 × 45 × 52 cm) weist Brandspuren auf, die erste Farbfassung Rußspuren. Die Bekleidung der Skulptur mit einer reich mit Filigran und Edelsteinen geschmückten Hülle aus vergoldetem Kupferblech wird Bischof Imad von Paderborn zugewiesen. Die Gesichter von Maria und Kind blieben frei. Seit dem Jahr 1762 existiert diese Hülle nicht mehr: Ihr Metall wurde als Kriegskontribution benötigt.57 Eine detaillierte kunsttechnologische Untersuchung konnte zeigen, dass auch die Vierge en majesté im Musée du Louvre (84 × 27 × 36 cm) unter ihrer Silberbekleidung eine vollständige Farbfassung besaß. Der Mantel Mariens war blau mit hellblauem Revers. Er lag über einem grünen Gewand mit schwarzem Rautenmuster. Das Kind trug einen roten Mantel mit blauem Revers über ei-

ELEKTRONISCHER Dies erklärt, weshalb dieSONDERDRUCK Gesichter bis zu acht Fassungsschichten aufwiesen, die Gewänder nem gelben Gewand. Anhand von Nagelspuren konnte nachgewiesen werden, dass die

silberne Hülle die gesamte Skulptur bedeckte, mit Ausnahme der Gesichter und Hände. aber nie übermalt wurden.58 Auch das flache hölzerne Relief der Marienikone des Monastero della Visitazione in Treviso (ca. 139 × 48 cm, 9./10. Jahrhundert?) war vollständig farbig gefasst. Die heute sichtbare Metallbekleidung geht auf das 12. bis 14. Jahrhundert zurück und lässt nur die Gesichter Marias und des Kindes frei. Maria steht frontal mit dem Christuskind auf dem linken Arm, gerahmt von zwei Säulen und dem sie überfangenden Bogen. Die Ikone besteht aus zwei klappbaren Tafeln – eine Vorder- und einer Rückseite,

zwischen denen sich ein auf einer Seite mit Seide ausgekleideter Hohlraum befindet. Sie ist erstmals im 17. Jahrhundert im venezianischen Kloster San Giuseppe di Castello dokumentiert.59

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Wie ist also der Akt des „Bekleidens“ mit dem kostbaren Material zu werten? Als Planänderung, als Reparatur oder als bewusstes Umhüllen, beispielsweise infolge einer Änderung des Objektstatus der Skulptur als religiöses Objekt? Eine auf alle Madonnen zutreffende Antwort kann es mit Blick auf die klaren Unterschiede hinsichtlich Objektevidenz und Objektkontexten nicht geben. In Walcourt und Paderborn gibt es Brandspuren. In Paris dagegen ist keine der Bekleidung vorangehende Beschädigung festgestellt worden. In Girona und Orcival wiederum wurden keine Spuren einer Polychromie nachgewiesen.60 Darüber hinaus stellen sich weitere Fragen: War die Polychromie des Stücks in Walcourt so vollendet wie in Paris, Treviso und Paderborn? Wann kam es zur Metallbekleidung des Gesichts? Wann kam es überhaupt zur Metallbekleidung?61 Ein wesentliches Ergebnis ist die Erkenntnis, dass die Metallbekleidung in Walcourt die zweite Schicht einer mehrlagigen Umhüllung der hölzernen Marienskulptur ist, später – temporär – ergänzt um weitere, textile Schichten prachtvoller Madonnengewänder, um Schmuck und Kronen. Stets wird ergänzt, nie reduziert.

Flickwerk: Religiöse Medaillen als Medien der Reparatur Ein weiterer Eingriff in die materielle Substanz der Walcourt-Madonna ist mit bloßem Auge sichtbar. Wieder handelt es sich um eine Praxis des offen sichtbaren Hinzufügens von Material, um „Flickwerk“: das Schließen von Fehlstellen in der silbernen Hülle mithilfe religiöser Medaillen im 19. Jahrhundert.62 „Reparieren“ mit kostbarem Material – ist das überhaupt vorstellbar und was bedeutet es? In globaler, transkultureller Perspektive ist an dieser Stelle auf die Technik des Kintsugi zu verweisen, der japanischen Methode der Reparatur von Keramik mit Goldlack, die im größeren Kontext der ästhetischen Wertschätzung von Einfachheit und des natürlichen Alterns von Materialien, von Wabi (Armut, Anspruchslosigkeit) und Sabi (Alterung, Patina, Verfall) steht.63 Mit Blick auf Europa und die Objektgruppe der mittelalterlichen Madonnenskulpturen stellt sich die Frage nach vergleichbaren Praktiken. Sicher ist dies der Fall bei der bereits genannten Vierge au pied d’argent in Compiègne, einer Steinskulptur, deren linker, beschädigter Fuß in Silberblech gehüllt wurde. Nicht die Objektevidenz, sondern die schriftliche Überlieferung dokumentiert die Fragmentierung einer Madonnenskulptur im portugiesischen Faro und ihre anschließende Wiederherstellung mithilfe kostbarer Metalle: Die erstmals im späten 12. Jahrhundert beim englischen Chronisten Roger de Hoveden fassbare Legende erzählt, wie eine auf den Stadtmauern aufgestellte Marienskulptur nach der muslimischen Eroberung fragmentiert, ins Meer geworfen, später aber von der Stadtbevölkerung mithilfe von Netzen geborgen und mit Gold und Silber repariert worden sei. Anlass für Bergung und Reparatur waren Hungersnöte infolge ausbleibender Ernten, eine Notsituation also, die durch die Wiederherstellung des ursprünglichen religiösen Settings „geheilt“ werden sollte:

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1. KORREKTUR 2 3 4

6  Madonna, Walcourt, SaintMaterne, Detail Silberbekleidung © KIK-IRPA, Brüssel

Et cum praedictam yconiam supra murum stantem invenissent, amputaverunt caput et brachia et pedes illi in contemptum fidei christianae et beatae Mariae; et projecerunt illam longius in mare. Quod facto mare et tellus facta sunt sterilia, et fames praevaluit super terram illam, adeo quod fere omnes homines illius provinciae fame interirent. Tunc seniores populi et juvenes omnes a

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

maximo usque ad minimum die ac nocte plorantes, et in sacco et cinere poenitentiam agentes, recordati sunt yconiae cujus caput e manus et pedes absciderant [...]. Et miserunt sagenas in mare ubi projecerant caput et manus et pedes, et trahentes ea ad terram, apposuerunt caput collo, et manus brachiis et pedes tibiis; et solidaverunt ea auro et argento primo et purissimo [...].64

In diesem besonderen Fall kaschieren die kostbaren Materialien Gold und Silber die Fragmentierung nicht, sie setzen im Gegenteil die Reparatur und damit die Geschichte des Objekts offen ins Bild. Jean-Marie Sansterre und Patrick Henriet haben auf den besonderen multireligiösen Rahmen der Erzählung aufmerksam gemacht: „Nous apprenons qu’une ville musulmane pouvait revendiquer la protection de la mère du Sauveur en plaçant sa statue dans la muraille, et que cette pratique remontait à l’époque préislamique (‚les chrétiens qui construisirent celle-ci‘)“.65

Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen I 229

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In Walcourt war es im 19. Jahrhundert möglich, silberne ex-votos zum Erhalt der metallenen Bekleidung der Madonnenskulptur zu stiften. Mit diesen werden nicht nur Fehlstellen geschlossen, vielmehr entsteht für multiple Akteur:innen die Möglichkeit, sich selbst als Autor:in in die Oberfläche der Madonna „einzuschreiben“. Bis heute erkennbar sind religiöse Medaillen, die unbearbeitet, in ihrer ursprünglichen Form, patchwork-artig auf besonders beschädigte Partien gelegt wurden, zum Beispiel das Gewand Mariens unterhalb der Knie (Abb. 6). Die Bildthemen mehrerer Medaillen sind bis heute lesbar: Es gibt mehrere Heilige Herzen und eine Médaille miraculeuse.66 Letztere zeigt Maria aufrechtstehend und mit offenen Händen, von denen Strahlen ausgehen, auf einer Wolke. Als Objekt verweist sie auf das Marienheiligtum in der Rue du Bac in Paris.67 Dort, in der Kirche der Filles de la Charité, war im Jahr 1830 Maria der Vinzentinerin Cathérine Labouré als Immaculata erschienen und hatte diese aufgefordert, ihrer Vision die materielle Gestalt einer Medaille zu verleihen.68 Religiöse Medaillen wurden im 19. Jahrhundert in großen Mengen angefertigt: Zwei Millionen Exemplare allein der Medaille aus der Rue du Bac entstanden zwischen 1832 und 1842 in Gold und Silber, weitere 18 Millionen aus Kupfer.69 Die Existenz der Medaillen ist Anzeichen der Aktualität des Kults der Walcourt-Madonna im 19. Jahrhundert und ihrer Aneignung als mittelalterliches religiöses Objekt durch das „goldene Zeitalter“ der Marienverehrung.70 Die Präsenz von Medaillen wie der „Wundertätigen Medaille“, die auf ein anderes Heiligtum verweist, verortet Walcourt im Netzwerk der europäischen Marienverehrung des 19. Jahrhunderts. Ihre Verwendung zum Schließen von Fehlstellen in der silbernen Oberfläche lässt diese zur „Karte“ werden, die räumliche Relationen und Austauschbeziehungen verzeichnet.

Schluss Die Oberflächen mittelalterlicher Objekte sind sicht- und berührbar. Aufgrund ihrer Materialität erfahren sie spezifische kulturelle Bedeutungszuweisungen: Silber als Material im Kontext einer Madonnendarstellung verhandelt den religiösen Konflikt zwischen Transzendenz und Immanenz, die Vermittlerrolle Mariens zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre. Die Hülle der Walcourt-Madonna ist aber auch Kleidung, Container und Karte: Aus millimeterdünnem Silber gefertigt, ist sie Nahtstelle zur Außenwelt, mit der sie auf vielfältige Weise reagiert. Sie leuchtet, reflektiert, kann sich im Kontakt mit Luft dunkel verfärben und durch Berührung ihren Glanz wiedererlangen – sie erweckt und fordert Aufmerksamkeit. In sich birgt sie eine farbig gefasste Holzskulptur sowie ein textiles Reliquienset, dessen Depositorium wiederum eine aufwendig ziselierte Tafel mit den Darstellungen der Zwölf Apostel bedeckt. Das dichte Flickwerk der fragilen, immer wieder reparierten Oberfläche birgt Hinweise auf andere Orte der Marienverehrung, wenn im

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1. KORREKTUR 2 3 4

19. Jahrhundert religiöse Medaillen als Medien der Reparatur zum Einsatz kommen, um Fehlstellen zu schließen. Das Reparieren ist aus dieser Perspektive eine Qualität des Umgangs mit religiösen Objekten – keineswegs ein Defizit. Die sicherlich ungeplante Obsoleszenz, der materielle Verfall, eröffnet ein Feld der Interaktion. In der longue durée betrachtet erweist sich die Fragilität der Oberfläche so keineswegs als Nachteil, sondern als Chance für viele unterschiedliche Akteur:innen, sich in die Oberfläche eines religiösen Objekts einzuschreiben.

Anmerkungen 1

Explizit bei Harald Keller, Zur Entstehung der sakralen Vollskulptur in der ottonischen Zeit, in: Festschrift für Hans Jantzen, hrsg. von K. Bauch, Berlin 1951, S. 71–91. Bereits in den 1960er und den frühen 1970er Jahren haben die Forschungen Reiner Haussherrs zu mittelalterlichen Kruzifixen sowie Ilene H. Forsyths zu mittelalterlichen Madonnenskulpturen die These Kellers deutlich relativiert; vgl. Reiner Haussherr, Der tote Christus am Kreuz. Zur Ikonographie des Gerokreuzes, Bonn 1963, S. 40; Ilene H. Forsyth, The Throne of Wisdom. Wood Sculptures of the Madonna in Romanesque France, Princeton/NJ 1972, bes. S. 76–80. Hans Belting beschreibt Reliquiar und Statue, die Reliquien enthalten kann, aber nicht muss, als zwei Formen der Auseinandersetzung mit der „physischen Präsenz“ des Heiligen; Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2011, S. 333.

2

Christina Lechtermann und Stefan Rieger, Einleitung. Das Wissen der Oberfläche. Epistemologien des Horizontalen und Strategien der Benachbarung, in: Das Wissen der Oberfläche. Epistemologien des Horizontalen und Strategien der Benachbarung, hrsg. von C. Lechtermann und S. Rieger, Zürich/Berlin 2015, S. 11.

3

In Anlehnung an den theaterwissenschaftlichen Performativitätsbegriff: Erika Fischer-Lichte, ­Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2014, S. 47.

4

Skulptur Projekte Archiv: https://www.skulptur-projekte-archiv.de/de-de/1987/projects/83/ [zuletzt aufgerufen 6. Januar 2020]. Vgl. Skulptur Projekte in Münster 1987, Ausst.-Kat. (Münster, Institution (Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte?), 1987), hrsg. von K. Bußmann und K. König, Köln 1987, Kat. 20/N5, S. 89–90; Andreas Schalhorn, Was vom Glauben übrig-

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

bleibt. Religiöses Sujet und bildnerische Gestaltung bei Katharina Fritsch, in: Bedeutung in den Bildern. Festschrift für Jörg Traeger zum 60. Geburtstag, hrsg. von K. Mösenender und G. Schüßler, Regensburg 2002, S. 281–282; Yvonne Scheja, Katharina Fritschs Madonna. Eine (reproduzierbare) Ikone der Gegenwartskunst, in: Madonna: Frau – Mutter – Kultfigur, Ausst.-Kat. (Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum und Sprengel Museum, 2015), hrsg. von K. Lembke, Dresden 2015, S. 340–341. 5

https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/madonna-mercedes [zuletzt aufgerufen 24. Januar 2020]; Der montierte Mensch, Ausst.-Kat. (Essen, Museum Folkwang, 2019), hrsg. von Nadine ­Engel u. a., Bielefeld 2019. Mein Dank gilt Nathaniel Prottas (Wien), der die Madonna Mercedes im Frankfurter Städel Museum gesehen und mich auf dieses Werk aufmerksam gemacht hat.

6

Zum Reliquiar der hl. Fides in Conques: Jean Taralon und Dominique Taralon-Carlini, La majesté d’or de Sainte Foy de Conques, in: Bulletin monumental 155, 1997, S. 7–73; Le Trésor de Conques, Ausst.-Kat. (Paris, Musée du Louvre, 2001), hrsg. von D. Gaborit-Chopin und E. Taburet-Delahaye, Paris 2001, Kat. 1, S. 18–29; Beate Fricke, Ecce Fides, Die Statue von Conques, Götzendienst und

Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen I 231

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Bildkultur im Westen, München/Paderborn 2007. Zu Clermont-Ferrand: Forsyth 1972 (Anm. 1), S. 95–100; Monique Goullet und Dominique Iogna-Prat, La Vierge en Majesté de Clermont-Ferrand, in: Marie. Le culte de la Vierge dans la société médiévale, hrsg. von D. Iogna-Prat u. a., Paris 1996, S. 383–405; Rebecca Müller, Das geträumte Bild. Die Marienstatue in Clermont, mit einer Übersetzung der ‚visio Rotberti‘, in: Intellektualisierung und Mystifizierung mittelalterlicher Kunst. Kultbild – Revision eines Begriffs (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst 10), hrsg. von M. Büchsel und R. Müller, , Berlin 2010, S. 99–132. Zur Goldenen Madonna in Essen in Auswahl: Frank Fehrenbach, Die Goldene Madonna im Essener Münster. Der Körper der Königin (KunstOrt Ruhrgebiet 4), Ostfildern 1996; Birgitta Falk, ‚ein Mutter gottesbild mit gold plattirt …‘. Zum Erhaltungszustand der Goldenen Madonna des Essener Doms, in: Das Münster am Hellweg 56, 2003, S. 159–173; Birgitta Falk, Katalogeintrag, in: Gold vor Schwarz. Der Essener Domschatz auf Zollverein, Ausst.-Kat. (Essen, Zeche Zollverein, 2008), hrsg. von B. Falk, Essen 2008, Kat. 5, S. 62– 63; Anna Pawlik, Das Bildwerk als Reliquiar? Funktionen früher Großplastik im 9. bis 11. Jahrhundert, Petersberg 2013, Kat. 11, S. 205–212. Zur großen Madonna im Hildesheimer Domschatz: Michael Brandt, ‚und gezieret mit Edelgesteinen‘, in: Bernwardinische Kunst, hrsg. von M. Gosebruch und F. N. Steigerwald, Göttingen 1988, S. 195–210; Michael Peters, Katalogeintrag, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Ausst.-Kat. (Hildesheim, Dom- und Diözesanmuseum und Roemer und Pelizaeusmuseum, 1993), hrsg. von M. Brandt und A. Eggebrecht, Hildesheim/Mainz 1993, Bd. 2, Kat. VII-32, S. 500–502; Pawlik 2013 (Anm. 6), Kat. 17, S. 234–244.   7 Walcourt, Basilika St-Materne: Forsyth 1972 (Anm. 1), S. 129–130; Robert Didier, Notre-Dame de Walcourt – Onze-Lieve-Vrouw van Walcourt. Une vierge ottonienne et son revers du XIIIe siècle, in: Bulletin Institut Royal du Patrimoine Artistique 25, 1993 (1995), S. 9–33; Pawlik 2013 (Anm. 6), Kat. 44, S. 318–320. Astorga, Catedral de Santa María, Pamplona, Catedral Santa María la Real und Irache, Kloster Santa María la Real: Clara Fernández-Ladreda, Imagineria medieval mariana en Navarra, Pamplona 1988, S. 41–59 (Pamplona und Irache); Francesca Español, Las imágenes medievales y su contexto, in: Imágenes medievales de culto. Tallas de la colección El Conventet, Ausst.-Kat. (Murcia, Museo Archéologico, 2010), hrsg. von G. Boto Varela, Murcia 2009, S. 197 (Irache und Astorga). Beaulieu-sur-Dordogne, Abtei St-Pierre, Abteischatz: Forsyth 1972 (Anm. 1), Kat. 101, S. 195–197 (mit Literatur). Orcival, Kirche Notre-Dame: François Enaud, Remise en état de la statue de la Vierge à l’Enfant d’Orcival, in: Les monuments historiques de la France, 1961, S. 79–88; Forsyth 1972 (Anm. 1), Kat. 31, S. 168–170. Rocamadour, Chapelle Notre-Dame: Forsyth 1972 (Anm. 1), Kat. 78, S. 185; Nicolas Bru, Deux vierges pour le prix d’une? Considérations rapides autour de la datation des statues de Rocamadour, in: Sedes Sapientiae. Vierges noires, culte marial et pèlerinages en France méridionale, hrsg. von S. Brouquet, Toulouse 2016, S. 59–71.   8 Compiègne, Musée Vivenel: Pierre-Yves Le Program, Katalogeintrag, in: Saint Louis, Ausst.-Kat. (Paris, Conciergerie, 2014–2015), hrsg. von P.-Y. Le Pogam, Paris 2014, Kat. 120, S. 262–263.   9 Zum Konzept der Objektgeschichte: Hans Peter Hahn, Dinge sind Fragmente und Assemblagen, in: Biography of Objects. Aspekte eines kulturhistorischen Konzepts (Morphomata 31), hrsg. von D. Boschung u. a., Paderborn 2015, S. 11–33. 10 Jean-René Gaborit und Dominique Faunières, Une Vierge en majesté, Paris 2009. 11 Francesca Español, El scenario litúrgico de la cathedral de Girona (s. XI–XVI), in: Hortus artium medievalium. Journal of the International Research Center for Late Antiquity and the Middle Ages 11, 2005, S. 220–221. 12 Gudrun M. König, Die Oberfläche der Kultur?, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 67/116, 2013, S. 42. 13 Zum Flicken und Ausbessern: Gabriele Schabacher, Im Zwischenraum der Lösungen. Reparaturarbeit und Workarounds, in: Workarounds. Praktiken des Umwegs (ilinx. Berliner Beiträge zur Kul-

232 I Katharina Christa Schüppel DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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turwissenschaft 4), hrsg. von H. Brohm u. a., Berlin 2017, S. 13–28. Zu Praktiken des Bekleidens in religiösen Kontexten: Daria Pezzoli-Olgiati und Anna-Katharina Höpfinger, Second Skin. Ein religionstheoretischer Zugang zu Körper und Kleidung, in: Second Skin. Körper, Kleidung, Religion (Research in Contemporary Religion 14), hrsg. von M. Glavac u. a., Göttingen 2013, S. 7–26. 14 „La lente élaboration du personnage multiforme de la Vierge, ou plutôt l’histoire de la configuration de ses fonctions, est faite d’interactions entre idéaux religieux et séculiers, plus subtilement entre présent médiéval et antiquité classique, enfin entre les positions masculines et féminines au sein des sociétés considérées. La Vierge représente ainsi un ‚système de valeurs‘, en perpétuel réaménagement, dont il convient de bien relever les éléments constitutifs et les combinatoires.“ Georges Rupalio u. a., La Vierge comme „système de valeurs“, in: Marie 1996 (Anm. 6), S. 5. 15 Les marches de l’Entre-Sambre-et-Meuse  – patrimoine immatériel  – Secteur de la culture  – UNESCO: https://ich.unesco.org/en/RL/marches-of-entre-sambre-et-meuse-00670 [zuletzt aufgerufen 6. Januar 2020]. 16 Gilberte Dewanckel, Étude technologique et restauration, in: Bulletin Institut Royal du Patrimoine Artistique 25, 1993 (1995), S. 53. 17 Mark van Strydonck, Datation par le radiocarbone, in: Bulletin Institut Royal du Patrimoine Artistique 25, 1993 (1995), S. 74–78. 18 Didier 1993 (Anm. 7), S. 26–29. Zur Basilika und ihrer Baugeschichte: Françoise Josis-Roland, La basilique Notre-Dame de Walcourt, in: Bulletin de la Commission Royale des Monuments et des Sites 1, 1970/1971, S. 65–106. 19 Pezzoli-Olgiati und Höpflinger 2013 (Anm. 13), S. 8. 20 Didier 1993 (Anm. 7), S. 16–17. 21 Didier 1993 (Anm. 7), S. 16. 22 Zu den Masken: Didier 1993 (Anm. 7), S. 22, 25; und weiter unten im Text. 23 Didier 1993 (Anm. 7), S. 19. 24 Didier 1993 (Anm. 7), S. 19; Myriam Serck-Dewaide, La statue en bois polychrome, in: Bulletin Institut Royal du Patrimoine Artistique 25, 1993 (1995), S. 45. 25 Español 2005 (Anm. 11), S. 221 und Anm. 71, S. 230. 26 Dies berichtet François Enaud anlässlich der Restaurierung der silbernen Madonna in Orcival. Vgl. Enaud 1961 (Anm. 7), S. 86. 27 König 2013 (Anm. 12), S. 41. 28 Bissera Pentcheva, Glittering Eyes. Animation in the Byzantine ‘eikon’ and the Western ‘imago’,

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in: Codex Aquilarensis 32, 2016, S. 210. Vgl. auch Jane Bennett zu Metall als „vibrant matter“: Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, London/Durham 2010, S. 53–61. 29 Mit Blick auf die Goldene Madonna im Essener Münster in der älteren Forschung: Annegret Friedrich, „Ich seh’ dir nicht in die Augen, Kleines“. Zur Rezeption der Essener ‚Goldenen Madonna‘, in: Zeitenspiegelung, hrsg. von P. K. Klein und R. Prange, Berlin 1998, S. 21–32. 30 „Overt materiality is a distinguishing characteristic of medieval art. [...] The materials do not vanish from sight through the mimicking of the perception of other things; to the contrary, their very physicality asserts the essential artifice of the image or object.“ Herbert L. Kessler, Seeing Medieval Art (Rethinking the Middle Ages 1), Peterborough/Ont. 2004, S. 19. 31 Hans Belting, Iconic Presence. Images in Religious Traditions, in: Material Religion. The Journal of Objects, Art and Belief, 12/2, 2016, S. 235–237. 32 Seit dem frühen Mittelalter setzen östliche und westliche, liturgische und nicht-liturgische Quellen den Marienkörper in Relation zu Konzepten des Leuchtens bzw. Strahlens. Venantius Fortunatus beschreibt Maria als von leuchtender Erscheinung. Für Ephraim den Syrer ist Maria das

Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen I 233

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übernatürlich erleuchtete Auge, das alle körperlichen Sinne zum Strahlen bringt. Hrotsvit von Gandersheim entwirft das Bild Mariens als heller Stern im Diadem Christi. Vgl. Gabriela Signori, Maria zwischen Kathedrale, Kloster und Welt. Hagiographische und historiographische Annäherungen an eine hochmittelalterliche Wunderpredigt, Sigmaringen 1995, S. 55; Anne Jensen, Vorformen des Marienkultes in der frühen Kirche, in: Maria – für alle Frauen oder über allen Frauen?, hrsg. von E. Gössmann und D. R. Bauer, Freiburg u. a. 1989, S. 36–62; Monique Goullet, Hrotsvita de Gandersheim, Maria, in: Marie. Le culte de la Vierge dans la société médiévale, hrsg. von D. Iogna-Prat u. a. Paris 1996, S. 441–470. 33 C. Plinius Secundus, Naturkunde/Naturalis historia. Buch 33: Metallurgie, hrsg. und übers. von R. König und G. Winkler, Düsseldorf 2013, Kap. XIX/58, S. 48–49. 34 Danielle Gaborit-Chopin, Argento, in: Enciclopedia dell’Arte medievale, hrsg. von A. M. Romanini, Rom 1991, Bd. 2, S. 433–436; Herbert L. Kessler, The Eloquence of Silver. More on the Allegorization of Matter, in: L’Allégorie dans l’art du Moyen Âge. Formes et fonctions, héritages, créations, mutations. Actes du colloque du RILMA, Institut Universitaire de France (Paris, 2010), hrsg. von C. Heck, Turnhout 2011, S. 56. 35 Zu transformativen Materialien vgl. Caroline Walker Bynum, Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe, New York 2011, S. 29. 36 Rebecca Zorach und Michael J. Phillips, Gold. Nature and Culture, London 2016, S. 31. 37 „Argenti quippe claritas ex usu servatur, sine usu autem in nigredinem ueritur. Prophetarum quoque dicta ante Mediatoris aduentum, quia in usu spiritualis intelligentiae non errant, dum conspici prae obscuritate non poterant, quasi nigra rimanebant. At postquam Mediator ueniens ea ante oculos nostros incarnationis suae manu tersit, quicquid lucis in eis latebat inclaruit, sensusque patrum praecendentium in usum dedit, quia verba rebus exposuit.“ Gregor der Große, Moralia in Iob 28, 7, hrsg. von M. Adriaen, CCSL 143 B, Turnhout 1985, S. 1409. Vgl. Kessler 2011 (Anm. 34), S. 60. 38 Kirstin Noreen, Re-Covering Christ in Late Medieval Rome. The Icon of Christ in the Sancta Sanctorum, in: Gesta 49/2, 2010, S. 129. 39 Ivonne Burghardt u. a., Aus der Erde – in die Erde. Silber im Mittelalter, in: Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland, Begleitband zur Ausstellung (Berlin, Gropius-Bau, 2018–2019), hrsg. von M. Wemhoff, Petersberg 2018, S. 255–265. 40 Marie-Christine Bailly-Maître, L’Argent. Du minerai au pouvoir dans la France médiévale, Paris 2002, S. 17–18. 41 Kessler 2011 (Anm. 34), S. 50, mit Bezug auf Psalm 11: „eloquia Domini eloquia casta | argentum igne examinatum probatum terrae | purgatum septuplum; Die Aussprüche des Herrn sind fleckenlose Aussprüche, [sie sind] Silber, mit dem Feuer geprüft, von der Erde gesäubert, siebenfach gereinigt.“ Sophronius Eusebius Hieronymus, Biblia Sacra vulgata. Lateinisch-deutsch, hrsg. von M. Fieger u. a., Berlin/Boston 2018, Bd. 3, S. 66. 42 Theophilus Presbyter, Schedula diversarum artium, drittes Buch, Kapitel 23, De purificando argento / Vom Reinigen des Silbers, übers. von Albert Ilg (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 7), Wien 1874, S. 177–178 (lat./dt.); zit. nach Schedula-Projekt, http://schedula.uni-koeln.de/index.shtml [zuletzt aufgerufen 30. Dezember 2019]. Zur Schedula diversarum artium und der Person Theophilus (in Auswahl): Zwischen Kunsthandwerk und Kunst. Die ‚Schedula diversarum artium‘ (Miscellanea mediaevalia 37), hrsg. von A. Speer, Berlin 2014; Heidi C. Gearhart, Theophilus and the Theory and Practice of Medieval Art, University Park/Pennsylvania 2017. 43 Ex 26,31–32; „facies et velum de hyacintho et purpura | coccoque bis tincto et bysso retorta | opere plumario et pulchra varietate contextum | quod adpendes ante quattuor columnas de

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1. KORREKTUR 2 3 4

­lignis setthim | quae ipsae quidem deauratae erunt | et habebunt capita aurea | sed bases argenteas“; Biblia Sacra vulgata, hrsg. von M. Fieger u. a., Berlin 2018, Bd. 1, S. 348–349. Wie Beda nimmt auch Gregor Bezug auf Psalm 11. Beide Stellen (Gregor der Große, Moralia in Iob, Buch 28, 7 und Beda Venerabilis, De Tabernaculo, Buch 2, 8, werden diskutiert bei Kessler 2011 (Anm. 34), S. 50). 44 „Electrum quippe ex auri argentique metalli miscetur, in qua permistione argentum quidem clarius redditur, sed tamen fulgor auri temperatur. Quid ergo in electro nisi mediator Dei et hominum demonstratur? Qui dum semetipsum nobis ex divina atque humana natura composuit, et humanam per deitatem clariorem reddidit, et divinam per humanitatem nostris aspectibus temperavit. Quia enim virtute divinitatis ejus tot miraculis humanitas fulsit, ex auro crevit argentum; et quod per carnem Deus cognosci potuit, quodque per carnem tot adversa toleravit, quasi ex argento temperatum est aurum.“ Gregor, Moralia in Iob, 28, 5; Moralia in Iob, hrsg. von M. Adriaen, CCSL 143 B, S. 1397–1398). Vgl. Kessler 2011 (Anm. 34), S. 54. 45 Éric Palazzo und Ann-Katrin Johansson, Jalons pour une histoire du culte de la Vierge dans l’Occident latin (Ve–XIe siècles), in: Marie. Le culte de la Vierge dans la société médiévale, hrsg. von D. Iogna-Prat u. a., Paris 1996, S. 26 (mit Blick auf den erst christologischen, dann mariologischen Schwerpunkt des Fests Purificatio Mariae). 46 Kessler 2011 (Anm. 34), S. 54–55 und S. 63, Anm. 33 und 35. 47 Didier 1993 (Anm. 7), S. 24–25. 48 König 2013 (Anm. 12), S. 41. 49 Didier 1993 (Anm. 7), S. 22, 25; Dewanckel 1993 (Anm. 16), S. 54–58. Vgl. auch Anne-Marie Lamboray-Didier, Notes sur les poinçons et les ex-voto, in: Bulletin Institut Royal du Patrimoine Artistique 25, 1993 (1995), S. 48–49. 50 Didier 1993 (Anm. 7), S. 25. 51 Didier 1993 (Anm. 7), S. 9. 52 Didier 1993 (Anm. 7), S. 11. 53 Zur Praxis des Bekleidens von Madonnenskulpturen: Statue vestite. Prospettive di ricerca, hrsg. von A. Capitanio (Studi e fonti per la storia della scultura 6), Pisa 2017. Ein Fall, in dem eine mittelalterliche Madonnenskulptur mit neuzeitlichen Gewändern bekleidet wird, ist die schwarze Madonna im Dom von Pontremoli. Dabei erweisen sich sowohl die kunstvolle Anfertigung der Gewänder als auch der Akt des Schenkens als für die religiöse Gemeinschaft konstitutiv: Francesca Pisani und Isabella Botti, Gratis et ex devotione. Il corredo della Madonna del Popolo di Pontremoli attraverso le testimonianze storiche, in: Statue vestite. Prospettive di ricerca (Studi e fonti

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

per la storia della scultura 6), hrsg. von Antonella Capitano, Pisa 2017, S. 87–102. 54 Zu diesem Stück: Gilberte Dewanckel, Restauration de la Vierge de la Trésorerie de Walcourt (1250–1260), in: Bulletin Institut Royal du Patrimoine Artistique 33, 2009 (2012), S. 63–70. 55 Kathryn Housiaux und Daniel De Jonghe, Les textiles du coffret reliquaire, in: Bulletin Institut Royal du Patrimoine Artistique 25, 1993 (1995), S. 65–73. 56 Myriam Serck-Dewaide, La statue en bois polychrome, in: Bulletin Institut Royal du Patrimoine Artistique 25, 1993 (1995), S. 45–47; Leopold Kockaert, Composition et structure des polychromies, in: Bulletin Institut Royal du Patrimoine Artistique 25, 1993 (1995), S. 62–64. 57 Klaus Endemann, Das Kultbild des Bischofs. Zur Imad-Madonna des Paderborner Doms, in: Westfalen 87, 2009 (2011), S. 129–131; Pawlik 2013 (Anm. 6), Kat. 35, S. 290–296. 58 Gaborit und Faunières 2009 (Anm. 10), S. 10–11. 59 L’icona della ‚Madre di Dio‘ e il Crocifisso del Monastero della Visitazione di Treviso, hrsg. von G. Delfini Filippi, Treviso 2002, bes. Elisabetta Fedeli und Guglielmo Stangherlin, Le analisi stratigrafiche, S. 55–59; Mara Mason, Una eccezionale icona lignea bizantina d’età macedone „tutta

Madonnenskulpturen mit silbernen Oberflächen I 235

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vestita d’argento massiccio“. La Beata Vergine della Cintura di Costantinopoli nel monastero della Visitazione di Treviso, in: Bisanzio fuori da Costantinopoli, hrsg. von M. della Valle, Mailand 2008, S.  71–93; Valentino Pace, Una scultura di maniera greca nel mediterraneo dei Franchi. L’icona della Madre di Dio con il Figlio nel Monastero della Visitazione di Treviso, in: Receuil des travaux de l’Institut d’études byzantines 44, 2007, S. 325–331; Bissera V. Pentcheva, Moving Eyes. Surface and Shadow in the Byzantine Mixed-media Relief Icon, in: Res 55/56, 2009, S. 222–234. 60 Gaborit und Faunières 2009 (Anm. 10), S. 21–22. 61 Mit der gleichen Frage: Pawlik 2013 (Anm. 6), S. 320. 62 Zur Praxis des Austauschens und Flickens im Unterschied zum Reparieren durch Austauschen (beispielsweise mithilfe eines Ersatzteils): Schabacher 2017 (Anm. 13), S. 10–11. 63 Charly Iten, Ceramics Mended With Lacquer. Fundamenal Aesthetic Principles, Techniques and Artistic Concepts, in: Flickwerk. The Aesthetics of Mended Japanese Ceramics, Ausst.-Kat. (Ithaca/ NY, Herbert F. Johnson Museum of Art, Cornell University, und Münster, Musem für Lackkunst, 2008), Münster 2008, S. 18–24. 64 Roger de Hoveden, Gesta regis Ricardi, hrsg. von W. Stubbs, London 1867, Bd. 2, S. 121–122. Die Quelle wird diskutiert bei Jean-Marie Sansterre und Patrick Henriet, De l’inanimis imago à l’omagem mui bella. Méfiance à l’égard des images et essor de leur culte dans l’Espagne médiévale (VIIe–XIIIe siècle), in: Edad Media 10, 2009, S. 73–75. 65 Ebd. 66 Zur Objektgruppe der religiösen Medaillen im 19. Jahrhundert: Eli Heldaas Seland, 19th Century Devotional Medals, in: Instruments of Devotion. The Practices and Objects of Religious Piety from the Late Middle Ages to the 20th Century, hrsg. von H. Lauderud, Aarhus 2007, S. 157–172. Zu silbernen ex-votos: Ittai Weinryb, Votive Materials. Bodies and Beyond, in: Agents of Faith. Votive Objects in Time and Place, Ausst.-Kat. (New York, Bard Graduate Center Gallery, 2019), hrsg. von I. Weinryb, New York 2019, S. 33–59, bes. S. 46–50. 67 Lamboray-Didier 1993 (Anm. 49), S. 50–51. 68 Vgl. Hans Körner, Die falschen Bilder. Marienerscheinungen im französischen 19. Jahrhundert und ihre Repräsentationen, München 2018, S. 11–56. 69 Körner 2018 (Anm. 68), S. 15. 70 Signori 1995 (Anm. 32), S. 13.

236 I Katharina Christa Schüppel DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

Bildnachweise Beitrag Körner 1

Wikimedia Commons (Fotograf: Alvesgaspar – https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Apollo_%26_Daphne_September_2015-1a.jpg [zuletzt aufgerufen 30. Dezember 2019]).

2 in: Encyclopaedia Anatomica. Museo La Specola Florence (Fotografien: Saulo Bambi), Köln 1999, S. 426. 3

in: Joachim Poeschke, Die Skulptur der Renaissance in Italien. Bd. 1: Donatello und seine Zeit, München 1990, Taf. 225.

4

in: Wikimedia Commons (Fotograf/in: Vassil – https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Antonio_ Canova_Hebe_Berlin_Alte_Nationalgalerie_27042018_4.jpg [zuletzt aufgerufen 30. Dezember 2019]).

5

in: Wilhelm Busch. Und die Moral von der Geschicht. Sämtliche Werke und eine Auswahl der Skizzen und Gemälde, Bd. 1 (hrsg. von R. Hochhuth), Gütersloh 1959, S. 641.

6 in: Falconet à Sèvres 1757–1766 ou L’art de plaire, Ausst.-Kat. (Sèvres, Musée national de Céramique 2001–2002), hrsg. von M.-N. Pinot de Villechenon, Paris 2001, S. 161.

Beitrag Myssok 1

in: Joachim Poeschke, Michelangelo und seine Zeit (Die Skulptur der Renaissance in Italien 2), München 1992, Tafel 14.

2

© Jörg Bittner Unna, Creative Commons Attribution 3.0 Unported license.

3 in: Écrire la sculpture. De l’Antiquité à Louise Bourgeois, Paris 2011, S. 127. 4 5

© Autor. in: Joachim Poeschke, Donatello und seine Zeit (Die Skulptur der Renaissance in Italien 1), München 1990, Tafel 268.

6

in: Claudia Echinger-Maurach, Michelangelos Grabmal für Papst Julius II., München 2009, Tafel 9.

ELEKTRONISCHER Beitrag Weißmann SONDERDRUCK 1

© München, Bayerisches Nationalmuseum München.

2

© München, Bayerisches Nationalmuseum München.

3

© LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna.

4

© Florenz, Kunsthistorisches Institut – Max-Planck-Institut; Fotograf Roberto Sigismondi.

5

© LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna.

6

© Florenz, Kunsthistorisches Institut – Max-Planck-Institut; Fotograf Roberto Sigismondi.

Bildnachweise I 237

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Beitrag Carl 1

© Autorin.

2

© Autorin.

3

© Autorin.

4

© Autorin.

5

© Marcello Spampinato.

6

© Autorin.

Beitrag Boeßenecker 1 in: Emozioni in Terracotta. Guido Mazzoni/Antonio Begarelli, sculture del Rinascimento emiliano, Ausst.-Kat. (Modena, Foro Boario, 2009), hrsg. von G. Bonsanti und F. Piccinini, Modena 2009, S. 181. 2 in: Emozioni in Terracotta. Guido Mazzoni/Antonio Begarelli, sculture del Rinascimento emiliano, Ausst.-Kat. (Modena, Foro Boario, 2009), hrsg. von G. Bonsanti und F. Piccinini, Modena 2009, S. 221. 3 in: Emozioni in Terracotta. Guido Mazzoni/Antonio Begarelli, sculture del Rinascimento emiliano, Ausst.-Kat. (Modena, Foro Boario, 2009), hrsg. von G. Bonsanti und F. Piccinini, Modena 2009, S. 217. 4 in: Emozioni in Terracotta. Guido Mazzoni/Antonio Begarelli, sculture del Rinascimento emiliano, Ausst.-Kat. (Modena, Foro Boario, 2009), hrsg. von G. Bonsanti und F. Piccinini, Modena 2009, S. 224. 5 in: Emozioni in Terracotta. Guido Mazzoni/Antonio Begarelli, sculture del Rinascimento emiliano, Ausst.-Kat. (Modena, Foro Boario, 2009), hrsg. von G. Bonsanti und F. Piccinini, Modena 2009, S. 223. 6 in: Emozioni in Terracotta. Guido Mazzoni/Antonio Begarelli, sculture del Rinascimento emiliano, Ausst.-Kat. (Modena, Foro Boario, 2009), hrsg. von G. Bonsanti und F. Piccinini, Modena 2009, S. 248. 7

© Rom, Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte.

Beitrag Jakstat 1

© Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Foto: Antje Voigt.

2

© Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Foto: Christoph Schmidt.

3

© Madrid, Museo Nacional de Prado, Foto: Javier Muñoz und Paz Pastor.

4

© Madrid, Museo Nacional de Prado, Foto: Javier Muñoz und Paz Pastor.

5

© Madrid, Museo Nacional de Prado, Foto: Javier Muñoz und Paz Pastor.

6

© Madrid, Museo Nacional de Prado, Foto: Javier Muñoz und Paz Pastor.

238 I Bildnachweise DIESER eSONDERDRUCK DARF NUR ZU PERSÖNLICHEN UND Deutschland WEDER DIREKTGmbH NOCH INDIREKT FÜR ELEKTRONISCHE © 2021 byZWECKEN Böhlau | Brill PUBLIKATIONEN DURCH DIE VERFASSERIN ODER9783412523411 DEN VERFASSER DES BEITRAGS GENUTZT WERDEN. ISBN Print: – ISBN E-Book: 9783412523428

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1. KORREKTUR 2 3 4

Beitrag Köcher 1–6 © Dieter Köcher.

Beitrag Zieke 1

Archiv des Verfassers.

2

© Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin.

3 in: The Springtime of the Renaissance. Sculpture and the Arts in Florence 1400–60, Ausst.-Kat. (Florenz, Palazzo Strozzi und Paris, Musée du Louvre, 2013–2014), hrsg. von B. Paolozzi Strozzi und M. Bormand, Florenz 2013, S. 182. 4

in: Agnès Cascio, Cercle de Donatello. La Vierge et l’Enfant, in: Kermes 25, 2012, S. 24–29, Fig. 1.

5

© London, Victoria and Albert Museum.

6

Archiv des Verfassers.

Beitrag Nienas 1

in: Rainer Kahsnitz, Die großen Schnitzaltäre. Spätgotik in Süddeutschland, Österreich, Südtirol, München 2005, Tafel 12.

2

in: Rainer Kahsnitz, Die großen Schnitzaltäre. Spätgotik in Süddeutschland, Österreich, Südtirol, München 2005, Tafel 14.

3

© Hartmut Krohm, Privatbesitz. Mit freundlicher Erlaubnis von Renate Krohm.

4

© Hartmut Krohm, Privatbesitz. Mit freundlicher Erlaubnis von Renate Krohm.

5

in: Rainer Kahsnitz, Die großen Schnitzaltäre. Spätgotik in Süddeutschland, Österreich, Südtirol, München 2005, Tafel 15.

6

in: Rainer Kahsnitz, Die großen Schnitzaltäre. Spätgotik in Süddeutschland, Österreich, Südtirol, München 2005, Tafel 13.

ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK

Beitrag Schüppel 1

LWL-Museum für Kunst und Kultur, Westfälisches Landesmuseum, Münster / Rudolf Wakonigg © VG Bild-Kunst Bonn 2021.

2

© KIK-IRPA, Brüssel.

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