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German Pages [121] Year 1956
.ABHANDLUNGEN DER AKADEMIE
DER
WISSENSCHAFTEN
PHILOLOGISCH-HISTORISCHE ----------Dritte
IN GÖTTINGEN KLASSE
Folge ---------Nr. 37
STUDIEN ZUR GRIECHISCHEN BIOGRAPHIE
VON ALBRECHT
GÖTTINGEN.
VANDENHOECK
DIHLE
& RUPRECHT,
1956
Vorgelegt von Ile11u Latte jn der Sitzung vom 24. Juni 1955
i
' G„amthent.elluug:
Huber1 & Cu., GGttlngm>
KURD DE HARDT VIRO HUMANISSIMO
INHALT
I. Einleitung
. . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Die Bedeutung Biographie Die ,Apologie'.
der Gestalt des Sokrates
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Andere Vor- und Frühformen
Xenophons Sooratioa '"
III. Individuum
für die Entstehung
der Biographie.
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und Gesellschaft in der Zeit um 400 v. Chr.
Begriffe doe Peripatos • • • • • • •
V. Die Kleomenes-Vite. des Plutarch
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VI. Satyros und Antigonos von Ka.rystos .
in der bio-
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der
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IV. Die ethisoh-psyohologisohen graphischen Tradition . • •
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I. EINLEITUNG
Seit dem Erscheinen des epochemachenden Buches von Friedrich Leo ist über die Geschichte der griechisch-römischen Biographie nicht wenig geschrieben worden. Leos scharf herausgearbeitete These von den beiden voneinander unabhängigen Gattungen der antiken Biographie blieb nicht lange unwidersprochen nnd erwies sich nicht erst durch das Bekanntwerden zweier wichtiger Papyri, des Ox. Nr. 1176 und dea Haun. p. 37, als unhaltbar. (Diese Papyri bezeugen, daß auch historische Persönlichkeiten in kurzen, kunstlosen Lebensabrissen, literarische in kunstvoll ausgestalteten Werken biographisch behandelt wurden.) Was vielmehr an den Ausfiibrungen Leos von vornherein z11m Widerspruch reizte, war die Kühnheit einer auf ausschließlich formgeschichtliche Überlegungen aufgebauten Konstruktion. Die Biographie ist eine relativ späte EI'Scheinungsform der Literatur, sie ist, nach dem Zeugnis des Erhaltenen, ·ver1nutlich nie in der Weise der Poesie oder der Historiographie durch eine lange und vieldiBkutierte Stiltradition diszipliniert worden und hat in vielen ihrer Werke eine Art Mittelstellung zwischen Literatur und Wissenschaft eingenommen, welch letztere in der Antike bekanntlich nur selten eine formal ausgestaltete Darstellungsweise verlangte. Dazu kommt, daß uns von der biographischen Produktion dea Altertums nur ein kleiner Bruchteil erhalten geblieben ist und daß unter den erhaltenen Teilen die Werke der Blütezeit der Biographie, des 3. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts, bis auf geringe Reste fehlen. Wenn aber irgendwelche Biographien auf die formale Tradition dieses Literaturzweiges Einfluß geübt haben, dann waren es diese, aus denen allenfalls inhaltliche Notizen auf uns gekommen sind, deren:' Form sich aber für uns nicht mehr abzeichnet. Alle fo:rmgeschichtlichen Indizien dieser an problematischen Produktion sich schon als literarische „Gattung'' stammen also aus den Werken einer sehr späten Zeit, aus der allein vollständige, in ihrer Form faßbare Biographien erhalten sind. • Herr Dr. Merkelba.oh hat während unvergeßlicher, gern.einssm verbra.obter Ferienmonate in der Fondation Ha.rdt am Genfer See de.s Entstehen dieser Arbeit mit Rat und Anteilns.h.me begleitet.. Reiche uncl ma.nnigfa.ohe Anregungen verdanke ioh Herrn Professor L&tte, wichtige Hinweise Herrn Professor Gundert..
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Einleitung
Das unbestrittene Verdienst Leos und seine Überragende Leistung liegt darin, daß er im Rahmen seiner sicherlich willkürlichen u.nd schwerlich richtigen Konstruktion das äußerst disparate, schwer zu überschauende Material in seltener Vollständigkeit zu erfassen und mit ungewöhnlicher kritischer Energie zu durchdringen vermochte. Sein Werk steht auf diese Weise turmhoch über allen Büchern, die seither zum Thema veröffentlicht worden sind und wird wohl noch auf lange Zeit hinaus das maßgebende Arbeits- und Informationsbuch bleiben 1 • Was nun an der seit Leo erschienenen Literatur auffällt, ist, daß dort, trotz des großen Lamento über den Formalisten Leo, nicht selten der Versuch unternommen wird, seine formgeschichtliche Theorie zu modifizieren oder durch eine andere, ebenfalls formgeschichtliche zu ersetzen. Es spricht für die Fruchtbarkeit und die Suggestivkraft jener im wesentlichen auf die Generation Leos zurückgehenden Konzeption der a11tiken Literaturgeschichte als einer Geschichte der literarischen Gattungen, daß auch in der Forschung zur Biographie immer wieder der Versuch unternommAn wurde, Plutarch und Sueton mit neuen gattungsgeschichtlichen Ahnen auszustatten, nachdem sich der Leosche Stammbaum nicht recht bewährt hatte. Nicht, daß in der Frage nach der Geschichte der literarischen Form kein legitimes philologisches Problem läge oder daß die in dieser Richtung seit Leo unternommenen Vorstöße ohne Ergebnis geblieben wären. Es sind eine ganze Anzahl sehr nützlicher Beobachtungen und kluger Kombinationen gemacht worden, die der Philologie nicht wenig weitergeholfen haben. Aber da die Schwäche der Theorie Leos nicht zuletzt in der schwankenden und zu schmalen Basis unserer Kenntnis liegt, auf der sie aufgebaut ist, kann man nicht erwarten, daß eine positive Widerlegung Leos dann gelingen wird, wenn man, von den gleichen Vora11ssetzungen ausgehend, im gleichen Sinne seine Fragen an die erhaltenen Texte stellt. Vielleicht ist es besser, sich eine „Widerlegung" Leos gar nicht als Ziel zu setzen. Angesichts des Trümmerfeldes unserer Überlieferung wird man sich in Sachen der Formgeschichte vorerst besser mit einem ignoramus begnügen. Es sei nur daran erinnert, welches Staunen die Erkenntnis auslöste, daß die Euripides-Vita des Satyros, die der Pap. Ox, 1176 wieder ans Licht brachte, in echter Dialogform angelegt ist .. Ähnliche Oberraschungen könnten uns vermutlich auch die Biographien des Aristoxenos, Sotion, Hermipp und all der anderen bereiten, wenn sie durch einen Papyiusfund bekannt würden. Auch wo wir die berechtigte Hoffnung haben können, daß sich der Umfang unserer Kenntnis vom Inhalt gewisser Biographien durch eine fortschreitende Analyse des Diogenes Laertios vergrößern wird, läßt sich Ähnliches für unsere Kenntnis ihrer Es sei hier nur a.n die meisterh&ften Analysen großer Partien des Diogenes Laertios erinnert, derentwegen man Laos Buch noch auf lange Zeit hin immar wieder konsultieren wird . 1
•
Einleitung
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literarischen Form b11rn erwarten. Aus den Biographien des Antigonos vo~ Karystos, dessen Werk und schriftstellerische Persönlichkeit durch die Forschungen Ulrichs von Wilamowitz recht deutlich vor unsP.>ren Augen stehen, kennen wir viele geschlossene Textpartien, ohne aber über die Komposition und die Anlage des Gesamtwerkes mehr als andeutungsweise Bescheid zu wissen. Die spätere biographische Tradition der Antike hat eben weithin nur den Inhalt, nicht die literarische Form zum Überlieferungsgegenstand. Es soll darum auch darauf verzichtet werden, in eine Diskussion neuerer Literatur zur griechischen und römischen Biographie einzutreten. Man kann sich über den Stand der Dinge recht gut in dem sorgsamen Literaturbericht informieren, den W. Steidle in der Einleitung seines Suetonbuches gibt 1 • Was indessen zur Gewinnung eines besseren Verständnisses der erhaltenen Biographien möglich sein müßte, ist der Versuch, die sich in ihnen manifestierenden biographischen Prinzipien näher zu fassen. Wenn diese verkürzende Formel gestattet ist, darf man also von einer inneren Geschichte der Biographie sprechen. So unmöglich und unstatthaft es erscheint, in der Darstellung eines literargeschichtlichen Gesamtablaufs diese Trennung von äußerer Form und innerem Gestaltungsprinzip, durchzuführen, so legitim ist sie in einer Situation, in der man von dem zu gewinnenden Gesamtbild, d. h. also einer wirklichen Geschichte der antiken Biographie, noch so weit entfernt ist. Es bedarf vorerst noch durchaus der Vorarbeiten, auch auf die Gefahr hin, daß der Umfang des Überlieferten nie eine glaubwürdige Gesamtdarstellung gestatten wird. Es mag also zunächst nur danach gefragt werden, wie man dazu kam, das Leben eines Menschen als Ganzes und als Selbständiges aufzufassen, welche Vorstellungen man vom Wesen menschlicher Persönlichkeit hatte, mit welcher Absicht man die Persönlichkeit eines Menschen in seinem Lebensablauf zu verstehen und darzustellen versuchte. Vielleicht ergibt sich daraus eine Antwort auf die Frage, wie sich der Sinn für das Biographische in Griechenland entwickelte und wieweit die Vor1
Sueton und die antike Biographie (Zetema.ta. H. 1) München 1951, vgl. Gött. Gel. Anz. 208, 1954, 45-ff. - Der Versuch Graf Uxkulls (Plutarch und dio griechische Biographie, Stuttgart 1927), zwei scharf getrennte Perioden in der eine ältere peripatetische Geschichte der griechischen Biographie herawzwtellen, und eine jüngere, eng mit dem Enkomion zu verbindende und auf Anregungen des Pe.na.itios und Poseidonios zurückgehende, in welche auch Plutarch zu rechnen sei, muß trotz Cic. de or. II 341-ff. als gescheitert betrachtet werden, denn Enkomion und Biographie sind ehen dooh zweierlei Dinge. Dio geschichtliohen Voraussetzungen für de.s Entstehen einer Biographie hat zuerst A. v. Mess (Rh, Mus. 70, 337ff. und 71, 79-ff.) zu verstehen versucht. Diese sehr klugen Darlegungen 1eiden nur an einer nicht ausreichenden Definition des eigentlich Biographisohen, das man mit individueller Porträtkunst, psyohologischer Erfassung einer historischen Person u. ä. nioht g]eichsetzen kMTI.
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Einleitung
stellungen, die zur Entstehung einer biographischen Literatur gefiihrt haben, auch ill der späteren biographischen Tradition lebendig geblieben sind. Ein ähnlicher Fragenkomplex ist für die Geschichte der Autobiographie in dem klassischen Bucb Georg Mischa angefaßt und bis zu einem denkbar hohen Grad der Vollkommenheit gelöst worden 1 • Die Dinge liegen bei der Biographie leider zu anders, als daß man die von Misch geübte Methode einfacl1 auf die Biographie übertragen könnte. Abgesehen davon, daß die aut.obiographische· Aussage, die man in Memoiren, Konfessionen, Tatenberichten und anderswo finden kann, ein sehr viel klarer definierbarer Begriff ist als „die biographiBche Aussage", unter welchem Begriff man ja alles zu verstehen hätte, was überhaupt über einen Dritten und über sein Handeln ausgesagt wird, ist die Lage auch schon dadurch verschieden, daß das Altertum den Begriff der Biographie besessen hat, während der Begriff der Autobiographie modern ist und keine als solche verstandenen Autobiographien in der vorchristlichen Antike geschrieben WUl'de11.Der von Misch verwendete Begriff der Autobiographie umfaßt alle Arten der literarischen Selbstdarstellung einer Person, der für uns notwendigerweise verbindliche Begriff der Biographie nur die Darstellung einer Person durch die Schilderung ihres als Ganzes verstandenen Lebensganges; denn es gibt eben antike Lebensbeschreibungen, an denen wir unsere Begriffsbildung zu orientieren haben. Was wir im Anschluß an die Gegebenheiten der antiken Literatur unter den Begriffen des Biographischen, des biographischen Elementes oder einfach der Biographie verstehen wollen, wird vielleicht am deutlichsten durch die Gegenüberstellung mit ähnlichen, z. T. komplementären Begriffen. Vom Enkomion unterscheidet sich die Biographie dadurcl1, daß jenes im Grunde nur die Leistungen eines Mannes durch biographische Einzelheiten erläutern und ins rechte Licht rücken will. Weniger das Leben des Mannes als solches als vielmehr seine Leistung ist also das, was die Anteilnahme des Verfassers wachruft. Ähnliches gilt für biographische Exkurse und Nekrologe, wie sie zuweilen in historischen Darstellungen eingeschoben sind. Auch hier ist es die Leistung, die historische Bedeutung - also etwas, das sich von dem Leben des betreffenden Mannes abgelöst betrachten läßt -, was den (scheinbaren) Biographen zur Feder greifen läßt. Nicht der Lebensablauf als solcher, als GanzP.S gefaßt, sondern als Erklärung für die bist.orische Wirkrmg und Bedeutung der Gestalt ist Gegenstand des betrachtenden Blickes. Der Begriff des literarischen Porträts ist durch lvo Bruns im philologischen Sprachgebrauch geläufig geworden. Der Unterschied zur 1
Geschicht.e der Autobiographie
1 3 1-2.
Frankfurt-Main
1949.
Einleitung
II
Biographie liegt auf der Hand. Das literarische Porträt braucht nicht unbedingt mit biographischen Mitteln entworfen zu werden, es genügt unter Umständen ein charakteristisches Faktum, eine Leistung oder auch eine direkte, objektive Beschreibung mit Hilfe bestimmter charakterologischer Begriffe. Gewiß :ißt eine Biographie im allgemeinen auch stets literarisches Porträt von größerer oder geringerer Ähnlichkeit mit dem Original, und eine entwickelte biographische Literatur kann es nur dort geben, wo die Kunst literarischer Porträtzeichnung geläufig ist. Der Unterschied zwischen beiden aber ist durch die einfache Tatsache gegeben, daß Biographie eben Lebensbeschreibung bedeutet. Das Gesagte resümierend, darl man also den Begriff der Biographie und des Biographischen vielleicht dahin definieren, daß es überall dort zu greifen ist, wo sich das Interesse an einer unverwechselbaren Persönlichkeit nicht in der bloßen Deskription ihres Wesens, nicht nur in ihrer Erfassung durch einzelne charakteristische Reden, Haudlungen oder Leistungen ausspricht, sondern wo das Wesen dieser Persönliohkeit durch die alB Einheit aufgefaßte Gesamtheit ihrer Handlungen und Schicksale, kurz durch ihren Lebenslauf, erlaßt und ausgedrückt wird. Wichtig ist dabei, daß das Interesse an der Person in dem Sinne primär sein muß, als die Lebensbesc11reibung nicht einem außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck client- etwa ein Werk oder einen historischen Vorgang zu erläutern-, sondern sich in der Darstellung und Deutung dieser einen Person erschöpft. Die Biographie, in diesem Sinn verstanden, enthält alBo das Element der Erzählung und Beschreibung sowohl wie das der Deutung und Erklärung einer Person, wobei im Idealfall clie künstlerische Gestaltung beides zu untrennbarer Einheit zu verschmelzen vermag. Die vorliegenden Studien wollen die Aufmerksamkeit des Lesers auf einige Punkte richten, die für die Entstehung und Entwicklung der antiken Biographie bedeutungsvoll sind, bisher aber keine oder nur in anderem Zusammenhang Beachtung gefunden haben. Es handelt sich um dreierlei: 1. Die Bedeutung des ersten, von einer bewußten, individuellen Sittlichkeit gestalteten Lebenslaufs für die Entstehung der Biographie. 2. Die im Ausgang des 5. Jahrhunderts, also zur Zeit des Sokrates, vorhandene Fähigkeit, Menschen aus der Alltagssituation heraus zu cbarakterisieren. 3. Das ethisch-psychologische Begriffssystem des Peripatos, das der biographischen Praxis offenbar seit hellenistischer Zeit die Theorie geliefert hat. Nicht, daß mit dem Nachweis der Bedeutsamkeit jener drei Dinge in den erhaltenen Monumenten der biographischen Literatur diese hinsichtlich ihrer Entstehung und Entwicklung schlechterdings erklärt wäre. Die lückenhafte Überlieferung der antiken biographischen Literatur und ihre mannigfachen Ausprägungen innerhalb des Erhaltenen geben noch manches Rätsel auf, nnd dementsprechend konnte im vorliegenden
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Einleitung
Zusammenhang vieles nur angedeutet werden. Eine auch nur annähernd vollständige Darlegung des inneren Werdegangs der antiken Biographie und aller auf sie wirkenden Einflüsse wird wohl erst in gera11mer Zeit geschrieben werden können, wenn mehr Klarheit über manche Einzelheiten des hellenistischen Geisteslebens gewonnen sein wird; jedenfalls liegt es nicht in der Absicht der folgenden Ausführungen, eine solche Darlegung zu versuchen. Aus der Beschl"ä,nkung auf die genannten drei Punkte ergab sich auch die Notwendigkeit, die Darstellung möglichst knapp zu halten: Es sollen lediglich Einzelzüge herausgearbeitet werden, die sich vielleicht später einmal in ein umfassenderes Bild einfügen lassen.
II. DIE
BEDEUTUNG FÜR
DIE
DER
ENTSTEHUNG
GESTALT DER
DES
SOKRATES
BIOGRAPHIE
Die 'Apologie' Die frühe§te und vielleicht auch vollkommenste geschlossene literarische Schöpfung, in der sich das oben definierte biographische Element verkörpert, ist Platons 'Apologie des Sokrates•. Diese Auffassung zu begründen, bedarf es eines näheren Eingebens auf jene Schrift. Die Frage, wieweit die ~ Apologie' wenigstens teilweise die wirklich gehaltene Verteidigungsrede des Sokrates widerspiegelt, mag dabei unerörtert bleiben: Sicher ist, daß die •Apologie' eine Fülle unbezweifelbaren biographischen Details enthält wie sonst keine erhaltene Schrift Platons. Wir erfahren den auch sonst bezeugten Wortlaut der Anklage; wir erfahren, daß Sokrates 70 Jahre alt war und zum ersten Mal vor Gericht stand (17d); daß der gerichtlichen Anklage mannigfache Verleumdungen und böswilliger Klatsch vorangegangen waren, gipfelnd im Angriff des Aristophanes (18b und 28a); wir erfahren weiter eine so bezeichnende Anekdote wie die vom Unterricht der Kinder des Kallias (20a-b), an deren Echtheit man schwerlich zweifeln wird, und die Geschichte vom Orakel des Chairepbon. Das Bild des Sokrates, der überall seine Mitbürger ausfragt und dem seine Anhänger es gleichzutun suchen, ist, zwar stilisiert, was aus der Einteilung der Befragten in die von drei Anklägern repräsentierten Berufsgruppen hervorgeht (21-24). Indessen wird man gegen die Faktizität einer Orakelerteilung an Chairephon schwerlich überzeugende Gründe anführen können, sowenig sie sich umgekehrt mit völliger Sicherheit erweisen läßt. Die Orakelgeschichte aber und das vom fragenden Sokrates entworfene Bild ist bei aller stilisierenden Vereinfachung doch offenbar so sehr aus der Wirklichkeit genommen und entspricht so ganz dem Eindruck, den die Zeitgenossen vom Wirken des Sokrates empfangen hatten, daß man auch jenem Abschnitt biographischen Wert beimessen darf. Wir hören weiterhin von einigen (negativen) Einzelheiten seiner Lehre (23d e und 26d), die ihn von Sophisten und Naturphilosophen scheidet; wir erfahren, daß Sokrates drei Feldzüge mitgemacht hat (28e) 1 , ferner, daß er nie Geld für seine Unterhaltungen In andoren einander erwähnt. 1
platonischen
Dia.logen finden sich nirgends
alle drei neben•
Sokrates
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und Belehrungen nahm und zeitlebens arm blieb (31c u. a.). Weiter hören wir von seiner Scheu vor öffentlicher Betätigung, vor der ihn seine innere Stimme warnte (31 c---d), und von den beiden Malen, wo er dUTch zwangsweise Beteiligung an den Staatsgeschäften als Richter in schwere Gefahr geriet, während des Arginusen-Prozesses und unter den Dreißig (32). Es werden die Namen vieler seiner Freunde genannt und ihr Verhältnis zu ibm beschrieben (33d), ferner auch Zahl und Alter seiner Kinder (34d). End.lieb kann man wohl auch das Bürgschaftsangebot des Platon und des Kriton (38b) kaum für erfunden halten. Das ist eine ganze Fülle nüchterner biographischer Fakten 1 , und wenn auch nicht übersehen werden darf, daß wir darüber hinaus andere Einzelheiten dieser Art aus anderen Schriften kennen (z.B. die Angabe, daß Sokrates nie Reisen machte und nur einmal als Festgesandter bei den Isthmien war, aus dem ~Kriton•, anderes wie den Namen der Frau des Sokrates aus anderen platonischen Dialogen, aus Xenophon und Diogenes Laertios), gibt es doch nirgends sonst eine derartige .A.t1häufung solcher Mitteilungen. In den zitierten Abschnitten handelt es sich nun um mehr oder weniger äußerliche biographische Notizen. Wichtiger sind die zahlreichen Stellen, an denen dem Sokrates Äußerungen über sein Wesen und über die Art seiner Lebensführung in den Mund gelegt werden, Äußerungen, die man in einem viel umfassenderen und tieferen Sinn biographisch nennen darf. Man kann sie schwerlich alle aufzählen, denn eigentlich hinter jedem Satz der ~Apologie' steht eine sehr bestimmte Gesamtaufiassung dieses seltsamen und erregenden Lebens, doch sollen einige charakteristische Beispiele ausgewählt werden. 28 e: Sokrates erklärt, daß ihn göttliche Autorität auf seinen so ungewöhnlichen Lebensweg gewiesen habe, was durch die ChairephonGeschichte begründet und erläutert wird. Diese Mitteilung muß man mit den Äußerungen über das batµ6vtov, über die innere Stimme, die Sokrates stets vor Verkehrtem gewarnt aber nie zum Handeln angetrieben habe, zusammenhalten (29b, 3lc-d, 40b). Sie sucht in anekdotisch stilisierter Form jene Kraft, jenen Antrieb zu beschreiben, der dieses merkwürdige Leben seinen Lauf nehmen ließ. Wir kennen Sokrates aus der Beschreibung der platonischen Dialoge als den strengen Rationalisten, in dessen Lehre wiederholt der Überzeugung, daß die Tugend wenn nicht !ehrbar so doch lernbar sei, Ausdruck gegeben wird. Sokrates lebt des festen Glaubens, daß richtiges Handeln nichts weiter als die rationale Einsicht in das Wesen des Guten zur Voraussetzung habe. Er ist gewohnt, jede den Menschen angehende Zur Frage nach der Historizität der von Platon mitgeteilten konkreten Einzelheiten vgl.jetzt O. Gigon, Gnomon 27, 1955, 259ft'. Für unseren Zusammen• bang ist diese Frage nicht übermäßig bedeutungsvoll, donn auch aus erfundenen Einzelzügen, sofern sie sieb im Rahmen des Wahrscheinlichen halten, vermag man e.uf die biographischen Ansche.urmgen des Verfassers zu schließen. 1
Die 'Apologie'
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Frage mit den Mitteln rationaler Begriffsbildung zu untersuchen. Noch im Gefängnis, im Angesicht des Todes, macht er sich - nach Platons Bericht - ganz nüchterne Gedanken über die Möglichkeiten eines Fortlebens nach dem Tode und ist bereit, auch in diesem Augenblick seine lebenslang gehegte Meinung von der Unsterblichkeit der Seele einem ihm einleuchtend erscheinenden rationalen Gegenargument zu opfern. Dieser strenge und ehrliche Rationalist bekennt an unserer Stelle, daß die eigentlich bewegende und leitende Kraft seines Lebens irrationaler, göttlicher Natur sei, und er macht gar nicht erst den Versuch, diese Erfahrung mit rationalen Mitteln, also begrifflich, zu erklären. Das gleiche gilt von den Aussagen über das daiµOvwv, in denen ebenfalls eine entscheidende und bestimmende sittliche Kraft des Sokrates dem Zugriff rationaler Erklärung entzogen wird. Die Art, in der Platons Sokrates vom Chairephon-Orakel und von seinem datµ611wvspricht, ist so selbstverständlich, daß es schwer hält, hier nur an eine platonische Erfindung zu glauben, ganz abgesehen davon, daß das '5atµ6vtov ja auch außerhalb der platonischen Schrüten in der uns erhaltenen Sokrates-Vberlieferung bezeugt ist. Aber selbst, wenn das alles reine Fiktion Platons wäre, liegt in diesen Aussagen der 'Apologie' doch eine Erklärung des gesamten, als Einheit verstandenen sokratischen Lebens, die wir im engsten Wortsinn biographisch nennen dürfen, insofern, als hier der Versuch einer Deutung der Person aus ihrem Leben unternommen wird. Das Nebeneinander einer kräftigen Rationalität, die sich in der ständigen Prüfung ausspricht, der Sokrates sich selbst und seine Mitmenschen unterzieht, und des durchaus irrationalen Impulses zu solchem Tun, das sein Leben beherrscht, wird von Platon als die Quintessenz sokratischen Lebens bezeichnet. Sie läßt sich in allen Einzelheiten und in der Gesamtheit des Lebensablaufs erkennen. Wir haben es also mit der echt biographischen Deutung einer Persönlichkeit zu tun, d. h. einer Deutung ihres Wesens aus der Gesamtheit des Tuns und Lassens und nicht nur aus ihrem Werk oder ihrer Leistung oder anderen Phänomenen, die vom Lebensablauf getrennt betrachtet werden können. Wieweit das von uns hier biographisch verstandene Nebeneinander von Rationalität und Irrationalität für den modernen Beobachter Charakteristikum der platonischen Philosophie überhaupt ist - man denke nur an Platons Mythopoiie, mit der ja in bestimmten ontologischen und theologischen Fragen auf eine Begriffsbildung geradezu verzichtet wird -, steht im gegenwärtigen Zusammenhang nicht zur Diskussion. Seine große Bedeutung besitzt dieses Problem natürlich, wenn es um die Einordnung der 'Apologie' in die Entwicklung des platonischen Denkens geht (s. unten S. 33f). Es gibt daneben auch ganz andere, zwar weniger grundlegende, jedoch sehr bezeichnende Züge, mit denen die 'Apologie' des Sokrates Lebensführung kennzeichnet. So etwa sein beinahe verschmitztes Zu-
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Sokrates
geständnis, daß es ihm Spaß mache, seine Mitmenschen zu prüfen und als unwissend-wie er selber- zu erweisen (33c). Oder sein Bekenntnis, nur in Athen leben zu wollen (37c--d), sein Bewußtsein, eine Sonderstellung unter seinen Mitbürgern einzUilehmen (34:d e, 35a, 38d e) einerseits, seine echte Bescheidenheit (23a,-b und 38c) andererseits. Und endlich die vielleicht in diesem ZusammAnbang wichtigste Aussage, daß er nur ein Leben ständiger sittlicher Prüfung bei sich und anderen führen wolle (37e-38a}, ja, daß ihm ein Leben ohne solche Prüfung menschenunwürdig erscheine (38a). Mit diesem Satz werden wir wieder daran erinnert, daß der Sokrates der ~ Apologie' den Impuls für diese seine sittliche Lebensführung irrationalen, göttlichen Kräften verdankt. Worauf es in diesem Zusammenhang an.kommt, ist mehr noch als die Glaubwürdigkeit eines solchen Sokratesbildes der schon erwähnte Umstand, daß die Gestalt des Sokrates hier stets aus ihrer Lebensfübt'Uilg verstanden und gedeutet wird. Sokrates sagt nicht, daß er diese oder jene Überzeugung besitze, daß er dieses oder jenes gelehrt habe, sondern daß er so und nicht anders gelebt habe und leben wolle. Aus dem Spruch des Gottes entni.mmt er unmittelbar das Gebot, in einer ganz bestimmten Weise zu leben - was nach der Formulierung des Orakels nicl1t selbstverständlich ist. In jedem Abschnitt der •Apologie' liegt der Akzent nicht auf der Lehre, sondern auf dem Leben des Sokrates, in dem sich seine Lehre verwirklicht, ja, das mit seiner Lehre identisch ist. Fragt man also, mit welchen Mitteln Platon den Sokrates charakterisiere, so gibt es gewiß auch Einzelszenen, EinZelaussagen über einen bezeichnenden Charakterzug - wesentlicl1 ist der Umstand, daß sich dem Platon das Wesen seines Meisters aus dem Gesamteindruck seiner Lebensführung darstellt. Unter dieser Voraussetzung wird es verständlich erscheinen, wenn man die o,;beeinflussen, so wie man einem Stein, der q;'Vaetnach unten fällt, nicht durch Gewöhnung den Fall nach oben beibringen kann (1103a 19ff.). Gewöhnung bedeutet hier jedoch ständiges Handeln im Sinne der betreffenden Tugend. Durch Handeln also entsteht die ethische Tugend überhaupt erst (1104a pass.). Aristoteles weist ausdrücklich und ausführlich die Auffassung zurück, nach der man, um tugendhaft handeln zu können, die Tugend bereits besitzen müsse ist für Aristoteles natürlich keii, millo,, (1105a 17-l 105b 18). Eine ae,...~ aber ebensowenig eine ~'V'llaµu;,ein Vermögen oder, psychologisch gesprochen, eine Anlage (1105b 28:lf.). Sie ist nach Aristoteles' Meinung bekanntlich eine §Eii;, eine Haltung, ein Aktionsmodus des MeDBChen, 1 Zur C'OPcbioht.e und Bedeutung dee Wortes vgl, E. Schwartz, Griechen, S. 14ff. und die dort zitierte Lit.eratur.
Ethik
der
Lehre vom
i'iflo;
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die zwar entsprechender Veranlagung bedarf, jedoch nur durch Handeln entsteht und nur im Handeln sich manifestiert, ohne Handeln also schlechterdings nicht existieren würde. mit Hilfe des Begriffs Die weitere aristotelische Definition dieser der neoa{eeai, ist für UIIBeren Zusammenhang zunächst nicht derart bedeutungsvoll wie die unlösliche Verklammerung der Begriffe und U()e-r7J,die so weit geht, daß man im Sinne der aristotelischen Begriffsbildung · sagen könnte, die äeeT1j sei überhaupt nichts weiter als die sittliche Essenz menschlichen Handelns, nicht aber eines in irgendeiner Weise zuständlich aufgefaßten menschlichen Seins. Das, was Aristoteles über die ethischen Tugenden sagt, kann man nach seinem eigenen Zeugnis {Rhet. 1388b 34) auch auf die ethischen Untugenden, also auf die Gesamtheit der menschlichen Wesenszüge, soweit sie l~et,, Verhaltensweisen, sind, übertragen. Aristoteles sagt selbst, daß die ~Nikomachische Ethik' nicht zu einem rein theoretischen Zweck abgefaßt sei, sondern der praktischen Belehrung und Besserung der Menschen dienen solle {1103b 26--29). Es ist darum nicht verwunderlich, wenn bei der Besprechung der ,j{}r/ und ihres Verhältnisses zu den n(!O~ei; fast ausschließlich. von U()eral rrf)i-;eatgeredet wird. Hätte erläutert, wäre der Wert dieser Aristoteles das gleiche an den -;ea-;elat Ausführungen ein rein theoretischer und kein paränetischer gewesen. Die Besprechung einiger -;ewctaiim 4. und 7. Buch der ~Nikomachischen Ethik' steht in anderem Zusammenhang, der für die Geschichte der Biographie und Charakterzeichnung nicht so wichtig ist. Aber auch ohne dieses ausdrückliche Zeugnis in der ~Rhetorik' berechtigt schon die einfache Überlegung, daß es sich bei den äeeTai ~Otxat um einen Bereich des i}&o, handelt, daß sie einen Teil des t}Oo,ausmachen, dazu, die Ausführungen des Aristoteles über die äeerai ~Otxal auf die ljihj ganz allgemein zu übertragen. Seine Abhandlungen über die menschlichen filhi im 2. Buch der 'Rhetorik' (1388b 3lff.) sind auch in der Tat nach dem Prinzip angelegt, eben die ljihj au den ~et, zu erläutern, genau wie die Charakterschilderungen Theophrasts. Das bedeutet also, daß es für Aristoteles faßbare Einzelzüge und Wesensbestandteile des menschlichen Charakters, der menschlichen Persönlichkeit, eigentlich nur in den Handlungen gibt. Nicht an den Handlungen wird die zugrundeliegende Eigenschaft erkannt - das ist selbstverständlich und bedarf keiner Darlegung 1 - sondern durch das Handeln im Sinn einer bestimmten ethischen Eigenart ·wird diese überhaupt erst konstituiert. Der Veranlagung, also der or;,Maxetv besitzt im Griechischen sehr verschiedene Bedeutungen, die jedoch sämtlich miteinander zusa.mmP,nhä:ngen. Für uns ist vor allem die Bedeutung des Wortes nf.l{}o~als ethischrhetorischer Terminus von Interesse, doch soll der besseren Verständlichkeit halber auch ein Blick auf andere Verwendungsmöglichkeiten des Wortes fallen. Zunächst einmW. kann die Vorstellung des Erleidens, die stets mit nf.l{}ot;,nE