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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)
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Matthias Konradt
Studien zum Matthäusevangelium herausgegeben von
Alida Euler
Mohr Siebeck
Matthias Konradt, geboren 1967; Studium der Ev. Theologie in Bochum und Heidelberg; 1996 Promotion; 1999 Ordination; 2002 Habilitation; seit 2009 Professor für Neues Testament an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Alida Euler, geboren 1987; Studium der Ev. Theologie und Economics in Heidelberg, Helsinki und Mainz; seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
e-ISBN PDF 978-3-16-153887-2 ISBN 978-3-16-153886-5 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2016 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Der vorliegende Sammelband vereinigt Aufsatzstudien zum Matthäusevangelium, die im Zeitraum von 2003 bis 2015 entstanden sind. Für die Initiative zu diesem Sammelband möchte ich Herrn Henning Ziebritzki vom Verlag Mohr Siebeck meinen herzlichen Dank aussprechen. Seine Einladung und seine Ermutigung zu diesem Projekt haben es mir ermöglicht, nach meiner Monographie „Israel, Kirche und die Völker nach dem Matthäusevangelium“ (WUNT 215, Tübingen 2007, in überarbeiteter und erweiterter englischer Übersetzung: Israel, Church, and the Gentiles in the Gospel of Matthew, BMSEC 2, Tübingen – Waco 2014) und nach meinem Kommentar (Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015) die in Aufsatzform erschienenen Arbeiten zum Matthäusevangelium zusammenhängend zu publizieren. Bei der Annahme der Einladung habe ich mir selbst zwei Bedingungen gesetzt: Zum einen sollte der Band neue, noch unveröffentlichte Arbeiten enthalten; zum anderen sollten die bereits erschienenen auf den aktuellen Stand der Forschung gebracht werden. So bietet dieser Band fünf Studien, die hier erstmals veröffentlicht werden (zwei von ihnen werden noch an anderer Stelle erscheinen). Die übrigen zehn Aufsätze sind durchgesehen und z.T. erheblich überarbeitet worden; in einem Fall hat sich dies auch in der Veränderung des Titels niedergeschlagen („Das Matthäusevangelium als judenchristlicher Gegenentwurf zum Markusevangelium“). Nur ein Beitrag wird in seiner ursprünglichen Fassung wieder abgedruckt. Bei der Überarbeitung habe ich mich ferner bemüht, die Aufsätze aufeinander abzustimmen; sofern es einzelne Überschneidungen gab, sind diese, soweit dies um des Verständnisses des jeweiligen Argumentationsgangs willen möglich war, reduziert worden. Die Beiträge sind nach drei Rubriken geordnet. Zu Beginn stehen Studien, die das Matthäusevangelium in seinem frühjüdischen und frühchristlichen Kontext verorten. Für anregende Diskussionen zu diesem Themenbereich habe ich den Kolleginnen und Kollegen zu danken, die sich im Rahmen des von Wolfgang Kraus, William Loader und mir geleiteten Seminars „Matthew in Context. An Exploration of Matthew in Relation to the Judaism and Christianity of its Time“ im Rahmen der General Meetings der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) von 2011 bis 2015 mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben. Die den Band eröffnende Studie „Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n)
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Vorwort
zum Judentum“ geht auf einen von mir im ersten Jahr des Seminars gehaltenen Vortrag zurück. Meine Überlegungen zur Stellung des Matthäusevangelisten zum Markusevangelium konnte ich 2012 im Rahmen des Seminars zur Diskussion stellen. In der zweiten Rubrik sind Aufsätze zusammengestellt, die christologische und israeltheologische Fragen behandeln. Die dritte Rubrik dokumentiert einen weiteren Schwerpunkt meiner Beschäftigung mit dem Matthäusevangelium: die Analyse der matthäischen Ethik und der Stellung der Tora darin. Die Rubrik wird ergänzt durch eine Studie zum matthäischen Glaubensbegriff. Zu danken habe ich den Verlagen, bei denen die Erstfassungen erschienen sind, für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks. Namentlich sind dies die Verlage Brill (Leiden), Kohlhammer (Stuttgart), Neukirchener (Neukirchen-Vluyn), Peeters (Leuven), SBL Press (Atlanta) sowie Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen). Die Details sind am Ende des Buches in dem Nachweis der Erstveröffentlichungen zu finden. Mein herzlicher Dank gilt ferner allen, die bei der Vorbereitung dieses Bandes geholfen haben, allen voran meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Alida Euler. Sie hat alle Aufsätze mit großer Sorgfalt durchgesehen, sie so weit wie möglich formal vereinheitlicht, die Druckvorlage vorbereitet, die Federführung bei der Erstellung der Register übernommen und mir nicht zuletzt zahlreiche wertvolle inhaltliche Hinweise gegeben. Für ihren großen Einsatz und die hohe Kompetenz, die sie in das Projekt eingebracht hat, habe ich sehr zu danken. Wichtige Vorarbeiten bei der formalen Bearbeitung der Beiträge hat als studentische Hilfskraft Salome Lang geleistet. Bei der Erstellung der Register waren ferner meine studentischen Hilfskräfte Carina Kammler und Anja Steinberg sowie meine Mitarbeiterin Annette Dosch behilflich. Mein Dank gilt ferner Jörg Frey für die freundliche Aufnahme der Aufsatzsammlung in die „Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament“ sowie Herrn Matthias Spitzner und den übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Mohr Siebeck für die gute Zusammenarbeit und umsichtige Betreuung der Drucklegung. Heidelberg, am 29. Januar 2016
Matthias Konradt
Inhaltsverzeichnis Vorwort ……………………………………………………………………… V
I Matthäus im Kontext Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum ………………………………………………… 3 Das Matthäusevangelium als judenchristlicher Gegenentwurf zum Markusevangelium …………………………………………………………. 43 Matthäus als Zeuge eines unpaulinischen Christentums. Anmerkungen zur These einer antipaulinischen Ausrichtung des Matthäusevangeliums ………………………………………………………. 69 The Love Command in Matthew, James and the Didache ………………… 95
II Christologie und Israeltheologie Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie ...……………………………….. 115 Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie ……………………………………………………………….. 146 „Ihr wisst nicht, was ihr erbittet“ (Mt 20,22). Die Zebedaidenbitte in Mt 20,20f und die königliche Messianologie im Matthäusevangelium ……………………………………………………… 171 Die Taufe des Gottessohnes. Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium (Mt 3,13–17) …….. 201
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Inhaltsverzeichnis
Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Matthäusevangelium ……………………………………………………… 219
III Glaube und Handeln Die Rede vom Glauben in Heilungsgeschichten und die Messianität Jesu im Matthäusevangelium ……………………………………………... 261 Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium ………………………………………. 288 Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium ……. 316 „... damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet“. Erwägungen zur ‚Logik‘ von Gewaltverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38–48 ……………………………………………………………... 348 “Whoever humbles himself like this child …”. The Ethical Instruction in Matthew’s Community Discourse (Matt 18) and its Narrative Setting …………………………………………………... 381 „Glückselig sind die Barmherzigen“ (Mt 5,7). Mitleid und Barmherzigkeit als ethische Haltung im Matthäusevangelium ……………………………………………………… 413
Nachweis der Erstveröffentlichungen …………………………………….. 443 Stellenregister ……………………………………………………………... 445 Autorinnen- und Autorenregister …………………………………………. 475 Personen- und Sachregister ……………………………………………….. 482 Register griechischer Begriffe ……………………………………………. 488
I Matthäus im Kontext
Matthäus im Kontext Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum1 Fragt man nach dem Kontext des Matthäusevangeliums, sticht, wenn man die letzten beiden Dekaden forschungsgeschichtlich überblickt, die historische Verortung des Trägerkreises des Matthäusevangeliums bzw. der matthäischen Gemeinde(n) im Verhältnis zum Judentum als prominenter Diskussionspunkt hervor, während die Stellung des Matthäusevangeliums innerhalb des entstehenden Christentums lange vernachlässigt wurde und erst ca. in der letzten Dekade mehr Aufmerksamkeit auf sich zog.2 Donald Senior hat in einem Aufsatz aus dem Jahre 1999 als magnus consensus der Matthäusforschung notiert, „that Matthew’s interface with Judaism [...] is the fundamental key to determining the social context and theological perspective of this gospel“3. Unterhalb dieses Konsenses werden aber nicht nur Details nach wie vor kontrovers diskutiert. So ist im Blick auf die soziale Verortung der Gemeinde umstritten geblieben, ob, wie z.B. prominent von Ulrich Luz vertreten, Matthäus mit seiner Weise der Neuerzählung der Jesusgeschichte auf einen schmerzhaften Prozess der
1 Der bisher unveröffentlichte Beitrag basiert auf einem Paper für das Seminar „Matthew in Context. An Exploration of Matthew in Relation to the Judaism and Christianity of its Time“ im Rahmen des 66. General Meeting der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) in Annandale-on-Hudson vom 2.–6. August 2011. Für die Veröffentlichung habe ich das Paper leicht überarbeitet. 2 Verwiesen sei exemplarisch auf den von D.C. SIM und B. REPSCHINSKI herausgegebenen Sammelband: Matthew and His Christian Contemporaries, LNTS 333, London – New York 2008. 3 D. SENIOR, Between Two Worlds. Gentiles and Jewish Christians in Matthew’s Gospel, CBQ 61 (1999), 1–23: 5 (vgl. jetzt auch D. SENIOR, Matthew at the Crossroads of Early Christianity. An Introductory Assessment, in: The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity, hg. v. D. Senior, BETL 243, Leuven 2011, 3–23: 6–15). Siehe neben Senior exemplarisch U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 85–89.
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Trennung der eigenen Gruppe vom Judentum zurückblickt und diesen zu verarbeiten sucht4, oder aber die Gemeinde sich in einem aktuellen und für sie bedrängenden Konflikt mit dem pharisäischen Gegenüber befindet5, wer legitimer Sachwalter der theologischen Traditionen Israels ist.6 Die Position einer innerjüdischen Verortung der matthäischen Gruppe im Rahmen der jüdischen Neuformierungsprozesse im Nachgang des römisch-jüdischen Krieges hat sich seit den 1990er Jahren, wesentlich angestoßen durch die Arbeiten von Andrew Overman und Anthony Saldarini, zu einer einflussreichen Position entwickelt.7 Die matthäische Gemeinde wird hier als eine deviante jüdische Gruppe gesehen; die universalistischen Züge des Evangeliums, insbesondere die Sendung zu allen Völkern in Mt 28,18–20, treten dabei in den Hintergrund. Neben anderen haben Boris Repschinski und in zugespitzter Form David Sim den von Overman und Saldarini betretenen Pfad weiter verfolgt.8 Diese kontextuelle Einordnung des Matthäusevangeliums kann sich terminologisch dahingehend verdichten, dass die matthäische Gruppe nicht als Judenchristentum bezeichnet wird, sondern das Judentum als übergeordnete Referenzgröße erscheint und also vom matthäischen oder christlichen Judentum die Rede ist.9 Freilich ist 4 Siehe LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 3), 96; U. LUZ, Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem. Eine Skizze, EvTh 53 (1993), 310–327: 319. 5 Vgl. vor allem J.A. OVERMAN, Matthew’s Gospel and Formative Judaism. The Social World of the Matthean Community, Minneapolis (MN) 1990, 35–38.68–70.79–90.115f; A.J. SALDARINI, Matthew’s Christian-Jewish Community, CSHJ, Chicago – London 1994, 44– 67. 6 Weitere Positionen (für eine Übersicht s. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 [s. Anm. 3], 95f), die in der gegenwärtigen Forschung, wenn ich recht sehe, nur eine geringe Rolle spielen, klammere ich hier aus. 7 Siehe oben Anm. 5. Siehe ferner J.A. OVERMAN, Church and Community in Crisis. The Gospel According to Matthew, The New Testament in Context, Valley Forge (PA) 1996; A.J. SALDARINI, The Gospel of Matthew and Jewish-Christian Conflict, in: Social History of the Matthean Community. Cross-Disciplinary Approaches, hg. v. D.L. Balch, Minneapolis (MN) 1991, 38–61; A.J. SALDARINI, Delegitimation of Leaders in Matthew 23, CBQ 54 (1992), 659–680. 8 D.C. SIM, The Gospel of Matthew and Christian Judaism. The History and Social Setting of the Matthean Community, Studies of the New Testament and Its World, Edinburgh 1998; B. REPSCHINSKI, The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form and Relevance for the Relationship Between the Matthean Community and Formative Judaism, FRLANT 189, Göttingen 2000. 9 Siehe OVERMAN, Matthew’s Gospel (s. Anm. 5), 2 und öfter; SALDARINI, Community (s. Anm. 5), 1.4.7f und öfter; SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), passim; A. RUNESSON, Rethinking Early Jewish–Christian Relations: Matthean Community History as Pharisaic Intragroup Conflict, JBL 127 (2008), 95–132, 100 sowie P.J. HARTIN, The Woes Against the Pharisees (Matthew 23,1-39). The Reception and Development of Q 11,39-52 within the Matthean Community, in: From Quest to Q (FS J.M. Robinson), hg. v. Asgeirsson, Leuven 2000, 265–283: 277. – Für eine kritische Replik auf diesen Ansatz s. D.A. HAGNER,
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gegen den Ansatz, die matthäische Gemeinde als eine deviante jüdische Gruppe zu sehen, auch Widerspruch vorgebracht worden.10 Die folgenden Überlegungen zielen weniger darauf, die neuere Forschung in all ihren Verästelungen detailliert darzubieten. Primäres Ziel ist vielmehr, vor dem Hintergrund der zurückliegenden Diskussionen Hauptpunkte der Kontroversen aufzuweisen und dabei die den Dissensen zugrunde liegenden Interpretationsprobleme zu orten. Ich beginne mit der Deutung der matthäischen Rede von „ihren/euren Synagogen“ (1). Sodann ist die in der gegenwärtigen Forschung unterschiedlich beantwortete Frage zu thematisieren, ob die Gemeinde noch in der Israelmission engagiert ist oder nicht (2). Umgekehrt wird auch die Frage, seit wann die Gemeinde Völkermission betreibt bzw. ob sie diese überhaupt als eine sie angehende maßgebliche Aufgabe begreift, unterschiedlich beantwortet (3). Charakteristisch für die zurückliegende Forschungsphase ist ferner, dass die Selbstverständlichkeit, mit der die Völkermission als eine beschneidungsfreie Mission angesehen wurde, in Frage gestellt wurde, und der Modus des Eintritts von Menschen aus den Völkern in die Gemeinde ebenfalls kontrovers diskutiert wird (4). Dass diese Frage für die historische Kontextualisierung des Matthäusevangeliums von zentraler Bedeutung ist, liegt auf der Hand: Wenn Heidenchristen beschnitten wurden, wäre die matthäische Gruppierung als ein konservatives christusgläubiges Judentum zu klassifizieren. Schließlich gehe ich kurz auf die beliebte metaphorische Darstellung der Verortung der Gemeinde durch das Bild der muri im Rahmen der intra/extra muros-Alternative ein (5) und frage, ob die statische Metaphorik der muri überhaupt geeignet ist, um die soziale Verortung des Trägerkreises bzw. der matthäischen Gemeinde(n) adäquat zu beschreiben. Am Ende sollen kurz mögliche Perspektiven für die weitere Forschung skizziert werden.
1. Die matthäische Rede von ‚ihren‘ bzw. ‚euren Synagogen‘ Ein verbreitetes und prominentes Argument der Vertreter der extra-muros-Position ist die matthäische Rede von „ihren“ bzw. „euren Synagogen“ (Mt 4,23; 9,35; 10,17; 12,9; 13,54; 23,34). Dies mache deutlich, dass sich die matthäi-
Matthew: Apostate, Reformer, Revolutionary?, NTS 49 (2003), 193–209. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Bezeichnungen „Jewish Christianity“ und „Christian Judaism“, speziell mit Blick auf die Positionen von Hagner einerseits, Saldarini andererseits, bietet W. CARTER, Matthew’s Gospel: Jewish Christianity, Christian Judaism, or Neither?, in: Jewish Christianity Reconsidered. Rethinking Ancient Groups and Texts, hg. v. M. JacksonMcCabe, Minneapolis (MN) 2007, 155–179. 10 Verwiesen sei exemplarisch auf die Monographie von P. FOSTER, Community, Law and Mission in Matthew’s Gospel, WUNT II.177, Tübingen 2004.
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sche Gemeinde außerhalb des Synagogenverbandes und also außerhalb des Judentums befinde.11 Dagegen ist eingewandt worden, dass eine nähere Sichtung der Belege eine Differenzierung notwendig macht: Nicht alle Belege zeigen in gleicher Weise Distanz an.12 Umgekehrt kann man aber auch nicht, wie Peter Fiedler dies postuliert hat, alle Belege auf den Nenner bringen, dass das Possessivpronomen „nur aus der Perspektive des außerhalb Israels schreibenden Autors an[deutet], dass die Synagogen in Galiläa und Judäa gemeint sind, die Jesus und seine Schüler/innen ebenso selbstverständlich aufsuchen wie die übrige jüdische Bevölkerung dort“13, was nach Fiedler dann auch für die matthäische Gemeinde gilt: „[D]ie Gemeindemitglieder des Mt gehen offenbar in dieselbe(n) Synagoge(n) wie seine Widersacher“14. Im Einzelnen: In den Summarien des Erzählers in Mt 4,23 (par Mk 1,39) und 9,35 kann man „ihre Synagogen“ auf die Synagogen in Galiläa beziehen, ohne dass eine Distanzierung sichtbar wird. Auch die redaktionelle Anfügung von ĮIJȞ in Mt 13,54, wo es um Jesu Ablehnung in Nazareth geht, lässt sich im Sinne von 4,23 verstehen: „Ihre Synagoge“ ist die Synagoge der Nazarener. In 12,9 hingegen ist „ihre Synagoge“ dem Kontext nach die Synagoge der Pharisäer, und die wiederum redaktionelle Rede von der Geißelung „in ihren/euren Synagogen“ in 10,17; 23,34 – beide Belege begegnen in einer Rede Jesu – weist deutlich auf Distanz hin; in 23,34 geht es zudem dem Kontext nach, ähnlich wie in 12,9, um die Synagogen der Schriftgelehrten und Pharisäer. Zu verweisen ist ferner darauf, dass Markus’ ਕȡȤȚıȣȞȖȦȖȠȢ Jairus (Mk 5,22) in Mt 9,18 zu einem bloßen ਙȡȤȦȞ geworden ist. Dass Matthäus anders als bei den Schriftgelehrten, von denen es neben „ihren“ (7,29) auch eigene Schriftgelehrte gibt (13,52; 23,34), ‚Synagoge‘ nie zur Bezeichnung eigener Versammlungen oder Versammlungsorte benutzt, sondern von der ਥțțȜȘıĮ spricht (16,18; 18,17), ist hingegen nicht als Indiz der Distanzierung vom Judentum auszuwerten. Matthäus greift hier (wenngleich als einziger Evangelist) bekanntlich den im christusgläubigen Bereich etablierten Terminus auf, dessen Gebrauch schon auf die christusgläubigen Jerusalemer Hellenisten zurückgehen dürfte15 und dort gerade nicht einen Standpunkt außerhalb des Judentums markiert, sondern ‚lediglich‘ dem besonderen Selbstverständnis der Gruppe Ausdruck verleiht.
Wie ist dieser Befund zu deuten? Nicht in Abrede zu stellen ist meines Erachtens, dass die matthäische Gemeinde sich als eigene Gruppe abseits der Synagoge(n) organisiert hat, ihre eigenen Versammlungen abhält und die ‚Synagoge(n)‘ als von den Gegnern dominierten Ort betrachtet. Anders gesagt: Es 11 Siehe für viele G.N. STANTON, A Gospel for a New People. Studies in Matthew, Edinburgh 1992, 128f. 12 Vgl. zum Folgenden SALDARINI, Community (s. Anm. 5), 66f sowie auch B. PRZYBYLSKI, The Setting of Matthean Anti-Judaism, in: Anti-Judaism in Early Christianity, Vol. 1: Paul and the Gospels, hg. v. P. Richardson, SCJud 2, Waterloo 1986, 181–200: 193f. 13 P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1, Stuttgart 2006, 102. 14 Ebd. 15 So zuletzt P. TREBILCO, Why Did the Early Christians Call Themselves ਲ ਥțțȜȘıĮ?, NTS 57 (2011), 440–460.
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ist schwerlich zu bestreiten, dass eine gewisse institutionelle Verfestigung abseits synagogaler Zusammenkünfte erreicht ist. Zu fragen ist freilich, ob die sich hier artikulierende Distanz zur Synagoge ohne Weiteres mit einer Stellung ‚außerhalb des Judentums‘ gleichzusetzen ist, ob es also ausgeschlossen oder zumindest unwahrscheinlich ist, die Differenzierung in Synagoge und ecclesia noch als einen innerjüdischen Differenzierungsprozess zu begreifen. Die Beantwortung der Frage, welche Schlüsse sich aus dem skizzierten Befund ergeben, ist von textexternen Faktoren abhängig, nämlich davon, wie man sich das Judentum und seine Vielfalt zur Zeit (und im lokalen Umfeld) des Matthäus vorstellt. Dabei spielt ferner die Problematik hinein, dass man das Matthäusevangelium nicht mit hinreichender Sicherheit lokalisieren kann. Würde das Evangelium einem lokalen Kontext entstammen, in dem es nur eine Synagoge gab und diese – in ihren bekanntlich nicht nur religiösen Funktionen – ein wesentlicher Einheit stiftender Bezugspunkt für die ortsansässigen Juden war, wäre die Etablierung einer eigenständigen Organisation kaum anders als ein bedeutender Schritt im Zuge eines Trennungsprozesses zu werten. Ein anderes Gesamtbild könnte sich aber ergeben, wenn das Matthäusevangelium einem städtischen Kontext mit einem größeren jüdischen Bevölkerungsanteil entstammte, in dem es – wie etwa im Falle von Alexandria16, Rom17 oder, blickt man auf den syrischen Raum, dem das Evangelium wahrscheinlich entstammt, Damaskus18 und sicher auch Antiochien19 – mehrere Versammlungsstätten gegeben hat. Denn hier ergibt sich die Frage nach möglichen Faktoren, die die Zugehörigkeit zu einer Synagoge bestimmten. Wenn ich recht sehe, lässt die derzeitige Quellenlage zu der im hier verfolgten Zusammenhang entscheidenden Frage, inwiefern die Zugehörigkeit zu einer Synagoge durch eine bestimmte religiöse Prägung (mit)bestimmt war, weder in die eine noch in die andere Richtung hinreichend gesicherte Schlüsse zu. Zwar kann man auf die Erwähnung von essenischen Synagogen in Philo, Prob 81 verweisen. Aber lässt
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Für die Existenz mehrerer Synagogen in Alexandria s. exemplarisch Philo, LegGai 132–138. 17 Siehe z.B. Philo, LegGai 156f sowie ferner die auf der Auswertung von Grabinschriften beruhende Übersicht bei H.J. LEON, The Jews of Ancient Rome, updated edition, Peabody 1995, 135–166. Vgl. ferner z.B. C. CLAUSSEN, Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemeinden, StUNT 27, Göttingen 2002, 103–111. 18 Apg 9,2. 19 Leider ist gerade für Syrien, wo die meisten Matthäusforscher die Entstehung des Evangeliums lokalisieren, die Quellenlage (insbesondere was Inschriften angeht) nicht die beste (s. L.I. LEVINE, Synagoge, TRE 32, Berlin – New York 2001, 499–508: 501).
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sich dies verallgemeinern bzw. auf die Diaspora übertragen?20 Wenn ‚Richtungsdifferenzen‘ eine Rolle spielten, gewönne es an Plausibilität, zwischen der Stellung zur (pharisäisch dominierten) Synagoge und der Zugehörigkeit zum Judentum zu differenzieren, auch wenn als Besonderheit bliebe, dass das theologische Differenzbewusstsein der matthäischen bzw. überhaupt der christusgläubigen Gruppen mit der Vorliebe für ਥțțȜȘıĮ als Gruppenbezeichnung einhergeht. Die skizzierte Problematik führt zumindest dazu, dass die Rede von ‚ihren/ euren Synagogen‘ als alleiniges Indiz nicht ausreicht, um einen Standort der matthäischen Gemeinde außerhalb des Judentums zu begründen. Es kommt hinzu, dass die angezeigte Distanzierung ohnehin nicht eine völlige Loslösung bedeuten muss. Der zweimalige Verweis darauf, dass die Jesusjünger auf Geißelung in ‚ihren/euren Synagogen‘ gefasst sein müssen (10,17: ȀĮ ਥȞ IJĮȢ ıȣȞĮȖȦȖĮȢ ĮIJȞ ȝĮıIJȚȖઆıȠȣıȚȞ ਫ਼ȝ઼Ȣ; 23,34: … țĮ ਥȟ ĮIJȞ ȝĮıIJȚȖઆıİIJİ ਥȞ IJĮȢ ıȣȞĮȖȦȖĮȢ ਫ਼ȝȞ), macht vielmehr wahrscheinlich, dass Gemeindeglieder nach wie vor in der Synagoge zugegen sind – und dies vermutlich nicht bloß als stille Zuhörer, sondern in werbend-missionarischer Absicht.21 Denn anders dürften die in 10,17; 23,34 vorausgesetzten Konflikte, die in einer Geißelung enden können, kaum zu erklären sein.22
2. Aktualität und Bedeutung der Sendung zu Israel Einen wichtigen Faktor für die Beantwortung der Frage, was genau die skizzierte Entwicklung zu institutioneller Selbständigkeit mit Blick auf die Zugehörigkeit zum Judentum bedeutet, bildet die Frage nach Aktualität und Bedeutung der Sendung zu Israel für die matthäischen Christusgläubigen. Wenn die matthäische Gruppe, wie unter anderen Ulrich Luz vertreten hat, keine großen Hoffnungen mehr in die Israelmission investiert hat23, lässt sich dies gut mit
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Für Alexandria etwa wäre konkret zu fragen: Wo trafen sich eigentlich die sog. konsequenten Allegoristen, die Philo in Migr 89–93 kritisiert? In eigenen Versammlungen? Gab es dafür, dass nach den antijüdischen Pogromen in Alexandrien (38/39 n.Chr.) unter Gaius Caligula gleich zwei Gesandtschaften aus dem alexandrinischen Judentum bei Claudius (41– 54) vorstellig wurden (vgl. CPJ I 153, Z. 90–92), einen institutionellen Hintergrund im Blick auf unterschiedliche Prägungen von Synagogengemeinschaften? 21 Dazu passt, dass der erste Beleg (10,17) im Kontext der Aussendungsrede steht und beim zweiten erneut vom ਕʌȠıIJȜȜİȚȞ die Rede ist (23,34). 22 Es sei denn, man schiebt das Vorkommen von Geißelungen in der Synagoge auf die Vergangenheit ab. Insbesondere angesichts ihrer doppelten Erwähnung wäre dies freilich kaum anders denn als willkürlich zu werten. 23 U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 4: Mt 26–28, EKK 1.4, Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 451.
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der Annahme verbinden, dass der erreichte Grad organisatorischer Eigenständigkeit mit einer Abwendung vom Judentum einhergeht. Geht man hingegen davon aus, dass sich die matthäische Gemeinde noch intensiv bemühte, Jüdinnen und Juden für die ecclesia zu interessieren, gewinnt die Option einer Verortung innerhalb des Judentums an Plausibilität. Die Hauptpunkte der Textkonstellation seien rasch vergegenwärtigt: Im Rahmen der Aussendungsrede in Mt 10 werden die Jünger – verbunden mit dem ausdrücklichen Verbot, auf den Weg zu den ‚Heiden‘ oder in eine Stadt der Samaritaner zu gehen – ausschließlich zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ gesandt (10,5f). Dem korrespondiert in der Darstellung des irdischen Wirkens Jesu, dass dieses ebenfalls programmatisch auf Israel konzentriert wird (2,6; 15,24), Matthäus dieses Programm konsequent der gesamten Erzählung aufprägt24 und sich diese Ausrichtung in der matthäischen Betonung der königlich-davidischen Messianität Jesu sogar titular verdichtet. 10,23 lässt ferner erwarten, dass das Ende der Israelmission nicht früher kommen wird als mit der Parusie des Menschensohnes, also mit dem Endgericht. Auf der anderen Seite trifft Jesus in seinem Wirken in Israel nicht nur auf Interesse, sondern auch auf erbitterten Widerstand, der schließlich zu seiner Kreuzigung führt. Und am Ende werden die Jünger dann bekanntlich zu ʌȞIJĮ IJ șȞȘ gesandt, so dass sich als ein zentrales Interpretationsproblem des Matthäusevangeliums ergibt, das Verhältnis zwischen der auf Israel konzentrierten Sendung in Mt 10,5f und der Sendung der Jünger zu ʌȞIJĮ IJ șȞȘ in 28,19 zu bestimmen. Wie sind Israelkonzentration einerseits und Universalismus andererseits in der theologischen Konzeption des ersten Evangelisten miteinander vermittelt? Ein geläufiges Lösungsmodell sieht 28,19 als Antwort auf die – nach den Vertretern dieser Position – kollektive (oder zumindest weitgehende) Ablehnung, die Jesus (am Ende) in Israel erfahren habe.25 Dem erbitterten Widerstand, der dem Wirken Jesu von Beginn an von den führenden Kräften des Volkes entgegengebracht wird (Mt 2,3–6), schließe sich bei der Kreuzigung
24 Zu den drei aus den Quellen Mk und Q aufgenommen Erzählungen, in denen es doch zu einem Wirken an Nicht-Juden kommt (8,5–13.28–34; 15,21–28), s. M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 59–81. 25 Siehe exemplarisch J.P. MEIER, The Vision of Matthew. Christ, Church, and Morality in the First Gospel, New York – Ramsey – Toronto 1979, 180 („The death of Jesus, the result of Israel’s total rejection of its Messiah, frees the church for its mission to all the nations.“) und LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 3), 92: „Das Matthäusevangelium erzählt [...], wie es dazu kam, daß der größte Teil Israels am Schluß Jesus ablehnt (vgl. 28,11–15). Die Antwort darauf ist der Befehl des Auferstandenen an die Jünger, ‚alle Völker‘ zu Jüngern zu machen (28,16–20).“
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das ganze Volk an. Der Verurteilungsszene in 27,24f wird in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zugewiesen.26 Indem Matthäus ʌ઼Ȣ ȜĮંȢ rufen lasse: „Sein Blut über uns und unsere Kinder“, werde Israel als Ganzes mit der Schuld am Tod Jesu behaftet. Die Auseinandersetzung Jesu mit den Autoritäten in Mt 21–23 wird als finale Abrechnung mit Israel gedeutet.27 Die Kirche trete in die Fußstapfen des Gottesvolkes Israel – vor allem 21,43 dient als Beleg für diese These. Ferner: Je nachdem, ob ʌȞIJĮ IJ șȞȘ in 28,19 inklusiv oder exklusiv gedeutet wird, tritt die Zuwendung zu den ‚Heiden‘ an die Stelle der Israelmission oder es wird postuliert, dass Israel seine Sonderstellung verloren habe und nur noch als eines der Völker in 28,19 subsumiert sei. Im ersten Fall würde die Gemeinde die Israelmission als abgeschlossene Phase betrachten28 und sich nicht weiter um Juden bemühen; im zweiten Fall würde sie sich in der universalen Mission unterschiedslos an Juden und ‚Heiden‘ wenden29, wobei in diesem Fall konkretisierend geltend gemacht werden kann, dass der Fokus fortan auf die Völkermission gerichtet ist, so dass der Unterschied zur ersten Position kaum ins Gewicht fiele. Diesem in sich differenzierten Deutungstyp ist in der jüngeren Forschung mit immer breiterer Akzeptanz widersprochen worden: Matthäus rede nicht einer Kollektivschuld und Verwerfung Israels und einer Ersetzung Israels durch die Kirche das Wort.30 Insbesondere im Zuge der dezidiert innerjüdischen Verortung des Matthäusevangeliums bei Overman und Saldarini ist der in der matthäischen Jesusgeschichte erzählte Konflikt, wie bereits angedeutet wurde, als
26 Siehe in der neuesten Literatur z.B. D.J. PAUL, „Untypische“ Texte im Matthäusevangelium? Studien zu Charakter, Funktion und Bedeutung einer Textgruppe des matthäischen Sonderguts, NTA NF 50, Münster 2005, 94f.304f („Schlüsselstelle für die mt Konfliktgeschichte zwischen Jesus und Israel“ [94]). 27 Siehe exemplarisch U. LUZ, Das Matthäusevangelium und die Perspektive einer biblischen Theologie, JBTh 4 (1989), 233–248: 244 („21,1 – 25,46 schildert Jesu große Abrechnung mit dem ungläubigen Israel in Gleichnissen, Streitgesprächen und durch die große Weherede, die mit Jesu Auszug aus dem Tempel endet.“) und D. MARGUERAT, Le Jugement dans l’Évangile de Matthieu, MoBi(G), Genf 1981, 347: „Mt 21–23 se présente comme une vaste étiologie destinée à montrer pourquoi et comment Israël a été déposé par son Dieu“ (Hervorhebung im Original). 28 So u.a. G. STRECKER, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie des Matthäus, FRLANT 82, Göttingen 31971, 33f; D.R.A. HARE, The Theme of Jewish Persecution of Christians in the Gospel According to St Matthew, MSSNTS 6, Cambridge 1967, 147f und LUZ, Antijudaismus (s. Anm. 4), 315f: „Für die matthäische Gemeinde ist nun die Zeit der Israelmission abgeschlossen; sie wendet sich an der Stelle Israels den Heiden zu“ (316 [Hervorhebung im Original]). 29 Siehe z.B. E.C. PARK, The Mission Discourse in Matthew’s Interpretation, WUNT II.81, Tübingen 1995, 185: „[T]here will be only one mission, that is, the universal mission to ʌȞIJĮ IJ șȞȘ (28:19), which includes all the gentiles as well as the Jews, who are now simply part of the people to be converted into Christianity.“ 30 Ausführlich dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 95–284.
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Reflex der Konkurrenz von matthäischer Gruppe und Pharisäern um den Führungsanspruch innerhalb des sich nach 70 n.Chr. neu formierenden Judentums gesehen worden31, bei dem es vorrangig um einen Streit um das richtige Verständnis der Tora gehe.32 In diesem Kontext seien die scharfen polemischen Angriffe des Matthäusevangeliums – allem voran in Mt 23 – zu sehen, mit denen der Evangelist darauf ziele, „to delegitimate rival Jewish leaders“33. Weniger Beachtung hat in diesem Zusammenhang die Frage nach der theologischen Konzeption gefunden, die die Entwicklung von 10,5f zu 28,19 zu 31 Siehe SALDARINI, Community (s. Anm. 5), 44–67.107–116 („deviant Jews [in the technical, sociological sense] still within the community“ [116]). Saldarini wie Overman greifen in diesem Zusammenhang auf den Sektenbegriff zurück (s. z.B. OVERMAN, Matthew’s Gospel [s. Anm. 5], 143.149; SALDARINI, Community [s. Anm. 5], 115: „a sect within firstcentury Judaism“). Für eine kritische Auseinandersetzung damit s. P. LUOMANEN, The “Sociology of Sectarianism” in Matthew. Modeling the Genesis of Early Jewish and Christian Communities, in: Fair Play. Diversity and Conflicts in Early Christianity (FS H. Räisänen), hg. v. I. Dunderberg – C. Tuckett – K. Syreeni, NT.S 103, Leiden – Boston – Köln 2002, 107–130, bes. 109–113. – In hohem Maße unplausibel ist der Versuch von R. HAKOLA (Social Identity and a Stereotype in the Making: The Pharisees as Hypocrites in Matt 23, in: Identity Formation in the New Testament, hg. v. B. Holmberg – M. Winninge, WUNT 227, Tübingen 2008, 123–139), die stereotype Negativdarstellung der Schriftgelehrten und Pharisäer ohne die Annahme eines real zugrundeliegenden Konfliktes auf der Basis der „Social Identity Theory“ als Resultat eines Prozesses der „self-categorization“ zu erklären, in dem der Betonung der Gemeinsamkeiten mit den Gruppenmitgliedern die Hervorhebung der Differenzen zu Außenstehenden zur Seite stehe. Zudem würde die Darstellung der Pharisäer als Heuchler dazu dienen, die eigene kognitive Dissonanz „between the principle of emphasizing the keeping of the whole Law and the more liberal religious practice of the community“ (138f) zu bearbeiten, indem diese externalisiert werde „by making it a main characteristic of those who represent the most virulent defenders of the Law in Matthew’s gospel, namely the Pharisees“ (139). Den Erweis, dass sich alle Einzelzüge der matthäischen Darstellung der Schriftgelehrten und Pharisäer auf diese Weise erklären lassen, erbringt Hakola – bezeichnenderweise – nicht. Er ließe sich auch nicht erbringen, denn die Konsequenz, mit der das Gegenüber nicht nur als heuchlerisch und inkompetent dargestellt, sondern auch als abgrundtief böse geradezu ‚verteufelt‘ wird (s. v.a. Mt 12,22–45), die Art und Weise, wie auf der narrativen Ebene inszeniert wird, dass die Pharisäer sich der im Volk keimenden Erkenntnis Jesu entgegenstellen (12,23f), oder auch die Hinweise, dass die Jünger mit Geißelung in den Synagogen rechnen müssen (10,17; 23,34), weisen sämtlich in eine andere Richtung. 32 Siehe SALDARINI, Community (s. Anm. 5), 124–164. – Auf die These von RUNESSON, Relations (s. Anm. 9), bes. 120–130, nach dem die matthäischen Christusgläubigen selbst der pharisäischen Bewegung entstammen und das Matthäusevangelium entsprechend im Kontext bzw. als Resultat eines innerpharisäischen Konflikts gelesen werden müsse, kann hier nur hingewiesen werden. Die These leidet m.E. daran, dass sie dem Konflikt um die Auslegung der Tora zwischen dem matthäischen Jesus und den Pharisäern, in dem sich deutlich unterschiedliche Toraverständnisse zu erkennen geben, nicht adäquat Rechnung trägt. 33 SALDARINI, Delegitimation (s. Anm. 7), 661. Siehe auch SALDARINI, Conflict (s. Anm. 7), 44: „Matthew attacks the Jewish leaders unceasingly in an attempt to delegitimize their authority and teaching and to win the people over to his interpretation of Judaism“. Vgl. ferner OVERMAN, Matthew’s Gospel (s. Anm. 5), 141–149.
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erklären vermag, wenn der Umschwung nicht durch die Ablehnung Jesu in Israel evoziert sein soll. Es genügt hier nicht, alternativ zum Ablösungsmodell die These einer komplementären Zuordnung beider zu entwickeln, wie dies Axel von Dobbeler vorgeschlagen hat:34 Die durch Mt 10 begründete Israelmission einerseits und die in Mt 28 promulgierte Heidenmission andererseits seien mit den unterschiedlichen Adressaten auch ihrem Charakter nach voneinander zu separieren, denn im Blick auf Israel ginge es um die Restitution des Zwölfstämmevolkes35, in 28,19f aber um die Bekehrung von Heiden. Denn mit der Komplementarität36 der beiden Sendungen ist noch nicht das eigentliche Problem, nämlich ihre Phasenverschiebung, erklärt: Warum ist Jesu irdisches Wirken auf Israel konzentriert, während die Völker erst in 28,16–20 in die Heilszuwendung einbezogen werden? Das Lösungsmodell, das ich in meiner Monographie „Israel, Kirche und die Völker“37 vorgeschlagen habe, sei hier nur kurz skizziert. Meines Erachtens ist 28,19 nicht Antwort auf die vermeintlich kollektive Ablehnung Jesu in Israel und hat 28,19 in keiner Weise die Verwerfung der Erstadressaten des Wirkens Jesu zur Kehrseite, sondern die Aufeinanderfolge der beiden Missionsbefehle stellt ein integrales Moment der narrativen Konzeption dar, in der Matthäus seine Christologie entfaltet; es gibt hier keinen „Bruch“ in der matthäischen Jesusgeschichte.38 Vielmehr ist das Nebeneinander von 10,5f und 28,19 darin eingebunden, wie Identität und Bedeutung Jesu sukzessiv enthüllt werden. In das Zentrum der christologischen Konzeption führt dabei die doppelte Entfaltung der Messianität Jesu als Sohn Davids und Sohn Gottes, die Matthäus mit dem Zusammenhang von Zuwendung zu Israel und Einbeziehung der Völker verschränkt hat. Diese Verschränkung bildet das zentrale Moment der matthäischen Erzählkonzeption. Man kann hier von einem Zweistufenkonzept sprechen: Mit dem Kommen des davidischen Messias, der sich seinem aufgrund des Versagens der Autoritäten daniederliegenden Volk zuwendet, kommen die Israel gegebenen Heilsverheißungen zur Erfüllung. Die von Abraham empfangene Segensverheißung für alle Völker wird hingegen erst durch die Passion des Gottessohnes in das Erfüllungsgeschehen einbezogen.39 Der programmatische Ausschluss der Völker 34 A. VON DOBBELER, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden. Das Verhältnis von Mt 10,5b.6 und Mt 28,18–20 unter dem Aspekt der Komplementarität. Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, ZNW 91 (2000), 18–44. 35 Siehe a.a.O., 28. 36 Für Einwände gegen von Dobbelers Modell selbst s. KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 338. 37 Siehe Anm. 24. – Vgl. dazu in diesem Band auf 115–145 den Beitrag „Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie“. 38 Anders LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 3), 91. 39 Zur Affinität dieses Zweistufenkonzepts zur in Röm 1,3f rezipierten judenchristlichen Tradition s. in diesem Band „Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie“, 143f.
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aus dem messianischen Wirken des Irdischen zugunsten der Sendung zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel ist die Kehrseite des Gedankens, dass Tod und Auferweckung Jesu das soteriologische Grunddatum für das allen Völkern geltende Heil sind. Festzuhalten ist: Die traditionelle Deutung des Übergangs von 10,5f zu 28,19 hat in der neueren Forschung von verschiedener Seite Konkurrenz bekommen. In welche Richtung sich die Forschung in der nächsten Phase bewegen wird, bleibt abzuwarten. Wenn man nach Gründen für die unterschiedlichen Rekonstruktionen der theologischen Konzeption fragt, lässt sich auf ein ganzes Bündel von Aspekten verweisen. Denn die Analyse der einem narrativen Text zugrunde liegenden theologischen Konzeption basiert nicht nur (1) auf zahlreichen exegetischen Einzelentscheidungen, sondern (2) auch darauf, welchen (wie verstandenen) Textpassagen eine konzeptionelle Leitfunktion zuerkannt wird, (3) welche möglichen intertextuellen Referenzen in welcher Weise für relevant erachtet werden, (4) wie mögliche textinterne Verbindungen beurteilt oder gewichtet werden und (5) wie die Leerstellen des Textes gefüllt werden. Es kommt hinzu, dass (6) bei der Konstruktion des Textsinns übergreifende Perspektiven zur Entwicklung und zu den Charakteristika des entstehenden Christentums (und des antiken Judentums) einfließen. Schließlich ist (7) auf das hermeneutische Problem des eigenen Vorverständnisses und des unbewussten, unterschwelligen Einwirkens von aus anderen (Text-)Zusammenhängen stammenden Gedankenmodellen bei der Rekonstruktion hinzuweisen. Ich illustriere die ersten vier und den letzten Punkt anhand von Beispielen. Für den fünften Punkt bietet sich die Beschneidungsfrage als Beispiel par excellence an; ich gehe darauf später gesondert ein. Punkt 6 lässt sich ebenfalls in diesem Zusammenhang illustrieren. Ad (1): Für die Kollektivschuldthese ist die Interpretation von Mt 27,25 und dabei insbesondere die Deutung von ʌ઼Ȣ ȜĮંȢ in Mt 27,25 von zentraler Relevanz. Die unterschiedlichen Deutungen können sich an den verschiedenen Enden des Bedeutungsspektrums von ȜĮંȢ festmachen:40 Schreibt Matthäus hier betont dem ganzen Gottesvolk Israel die Übernahme der Verantwortung
40 Vgl. dazu H. FRANKEMÖLLE, ȜĮંȢ, EWNT II, Stuttgart – Berlin – Köln 21992, 837– 848; KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 169–172.
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für den Tod Jesu zu41 oder ist ȜĮંȢ hier bloß (aus stilistischen Gründen gewählter) Wechselbegriff zum vorangehenden ȤȜȠȢ?42 Möglich ist auch eine Zwischenposition – etwa die, dass ȜĮંȢ die vor Pilatus versammelte (Jerusalemer!?) Volksmenge als zum Gottesvolk zugehörig ausweist.43 Die Beiziehung der weiteren ȜĮંȢ-Belege im Matthäusevangelium reicht für eine eindeutige Entscheidung nicht aus. In 1,21; 2,6; 4,16 und wohl auch in 4,23 dürfte ȜĮંȢ als terminus technicus das Gottesvolk bezeichnen, für die weiteren Belege in der Passionsgeschichte in 26,5; 27,64 gilt dies aber nicht. Die Entscheidung ist, anders gesagt, abhängig vom Gesamtverständnis der matthäischen Jesusgeschichte (dazu gleich mehr). Ad (2): Ein wichtiger Aspekt im hier verfolgten Zusammenhang ist die Analyse der Figurenkonstellation der matthäischen Story. Matthäus differenziert wiederholt zwischen den Autoritäten und den Volksmengen. Besonders auffällig ist dies in der von Matthäus verdoppelten Beelzebulperikope in Mt 9,33f; 12,23f, in der jeweils die positive Reaktion den Volksmengen, dagegen der Beelzebulvorwurf den Autoritäten zugewiesen wird. Diese Auffälligkeit wird noch dadurch unterstrichen, dass Matthäus den Volksmengen, die bei Matthäus insgesamt viel stärker als bei Markus als eigene Größe der Story hervortreten44, Sprache verleiht und zwischen den Äußerungen ein Erkenntnisfortschritt erreicht wird:45 Erkennen sie in 9,33 die (heils)geschichtliche Singularität des Wirkens Jesu, so beginnen sie in 12,23, diese in messianischer Kategorie zu benennen – freilich noch mit einem fragenden Unterton, der dann jedoch, in einer dritten Stufe, in 21,9 der förmlichen Akklamation Jesu als Sohn Davids weicht (es sind bei Matthäus auffallenderweise die Volksmengen, denen Matthäus diese Akklamation zuschreibt!). 41
So z.B. MEIER, Vision (s. Anm. 25), 199f; D.P. SENIOR, The Passion Narrative According to Matthew. A Redactional Study, BETL 39, Neudruck, Leuven 1982, 258f; V. MORA, Le refus d’Israël. Matthieu 27, 25, LeDiv 124, Paris 1986, 33–39; D. VERSEPUT, The Rejection of the Humble Messianic King. A Study of the Composition of Matthew 11–12, EHS.T 291, Frankfurt a.M. – Bern – New York 1986, 44; W. KRAUS, Die Passion des Gottessohnes. Zur Bedeutung des Todes Jesu im Matthäusevangelium, EvTh 57 (1997), 409–427: 416f; J.R.C. COUSLAND, The Crowds in the Gospel of Matthew, NT.S 102, Leiden – Boston – Köln 2002, 83. 42 So z.B. W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 3, ICC, Edinburgh 1997, 592; F. LOVSKY, Comment comprendre «Son sang sur nous et nos enfants»?, ETR 62 (1987), 343–362: 350f; A.-J. LEVINE, The Social and Ethnic Dimensions of Matthean Salvation History. “Go nowhere among the Gentiles …” (Matt. 10:5b), SBEC 14, Lewiston – Queenston 1988, 266ff; SALDARINI, Community (s. Anm. 5), 32f; M. GIELEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, BBB 115, Bodenheim 1998, 383–386. 43 Vgl. dazu die Überlegungen bei KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 170–178 und in diesem Band „Die Deutung der Zerstörung Jerusalems im Matthäusevangelium“, 230f. 44 Siehe dazu die monographische Studie von COUSLAND, Crowds (s. Anm. 41). 45 Vgl. dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 101–107.
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Welches Gewicht soll man dieser Differenzierung im Gesamtkontext der matthäischen Story zuweisen? Wird sie durch 27,25 überschrieben (was ist dann aber ihre Funktion?)? Oder ist nicht 27,25 (auf der Basis der Deutung von ȜĮંȢ als Gottesvolk), sondern dieser Differenzierung eine konzeptionelle Leitfunktion zuzuweisen und ist sie umgekehrt ein Argument dafür, dass die vor Pilatus versammelte Volksmenge als Volk von Jerusalem zu deuten ist? Für Letzteres kann man auf die vorangehende Leserlenkung hinweisen: Jerusalem ist von 2,3 an auf Seiten der Gegner Jesu positioniert; die Jesus als Davidssohn akklamierenden Volksmengen und Jerusalem werden in 21,9–11 einander pointiert gegenübergestellt, so dass man Jerusalem bei Matthäus schwerlich als Repräsentantin Israels auffassen kann; Jesus wird dabei gegenüber Jerusalem als Prophet aus Nazareth vorgestellt, womit ein subtiler Querverweis auf 23,37 gesetzt wird, wo Jerusalem als Propheten mordende Stadt erscheint; und in dem Blutruf in 27,25 sind die Kinder eingefügt, weil die Strafe für die Kreuzigung erst eine Generation später mit der Zerstörung Jerusalems erfolgte. In textpragmatischer Hinsicht kann man für beide Grundoptionen einen situativen Hintergrund imaginieren (wenngleich meines Erachtens bei der zweiten Option in überzeugenderer Weise als bei der ersten): Bei der zweiten Option kann man die positiven Züge in der Darstellung der Volksmengen der weiteren Motivierung des missionarischen Wirkens in Israel zuordnen. Zugleich diente das zerstörte Jerusalem in diesem Kontext als aussagekräftiger Beleg, wie es endet, wenn man sich, wie Jerusalem, den falschen Autoritäten anvertraut (s. das Motiv des Überredetwerdens des Volkes in 27,20).46 Wenn man hingegen 27,25 so liest, dass dem Gottesvolk im Ganzen die Verantwortung und die Schuld am Tod Jesu zugeschrieben werden, und man diesem Gipfelpunkt der Konfliktgeschichte konzeptionelle Leitfunktion zuweist, könnte man der vorangehenden Differenzierung zwischen Autoritäten und Volksmengen eine Funktion im Rahmen der Strategie der Gemeinde zuweisen, das Scheitern des Versuchs zu bewältigen, eine Mehrheit oder auch nur gewichtige Teile des Volkes hinter sich zu bringen: Jesus hat zunächst durchaus viel Zuspruch gefunden, worin die Gemeinde sich in ihrer Entscheidung bestätigt finden kann; allein der Einflussnahme der durch und durch bösen (vgl. 12,34) Autoritäten in der finsteren Stunde der Passion Jesu ist es geschuldet, dass Jesu Wirken letztlich nicht (noch) größere Kreise gezogen hat.
Ich halte die hier dargestellten Optionen, wie angedeutet, nicht für in gleicher Weise plausibel. Es geht mir hier aber zunächst nur darum aufzuzeigen, wie es zu den unterschiedlichen Deutungen kommt. Zugleich sollte gezeigt werden, dass man schwerlich eine der beiden Deutungen kategorisch ausschließen kann. Es geht vielmehr um Plausibilitätsgrade und Wahrscheinlichkeitsurteile. Ad (3): Der dritte Aspekt, die Relevanz möglicher intertextueller Referenzen, sei an einem weiteren Text illustriert, der im Rahmen der These der Verwerfung Israels von zentraler Relevanz ist: das Winzergleichnis in Mt 21,33–
46 Vgl. dazu in diesem Band „Die Deutung der Zerstörung Jerusalems im Matthäusevangelium“, 232f.
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46. Mt 21,33 spielt deutlich auf Jes 5,2 an.47 In dem Weinberglied in Jes 5,1–7 steht der Weinberg für Israel (V.7). Zudem ist ‚Weinberg‘ auch sonst – in der alttestamentlich-frühjüdischen Literatur – als Metapher für Israel belegt.48 Wenn man von diesem Lesesignal ausgeht, ist der Weinberg in Mt 21,33–46 als Chiffre für Israel zu lesen. Dann aber kann es im Gleichnis nicht, wie dies die traditionelle Deutung postuliert, um die Ablösung Israels durch ein anderes șȞȠȢ gehen (21,43); vielmehr handelt das Gleichnis dann davon, dass der Weinberg (= Israel) neue Winzer (= eine neue Führungsschicht) bekommt. Nicht die Ablösung Israels als Gottesvolk ist dann das Thema, sondern die Aufgabe der Jesusnachfolger in Israel.49 Um diese Deutung abzusichern, müsste sie die intratextuelle Gegenprobe bestehen, d.h. man müsste zeigen können, dass die Rede vom Weinberg in 20,1–15 und 21,28–32 nicht andere Deutungsoptionen nahe legt. M.E. schließen diese Texte einen Bezug der Weinbergmetapher auf Israel nicht aus. Ebenso ist es aber möglich, die Weinbergmetapher in diesen Texten semantisch offener im Sinne der Beschäftigung mit der ‚Sache Gottes‘ zu verstehen.50 Mit anderen Worten: Die Anspielung auf Jes 5 in Mt 21,33 ist nur ein Deutungsaspekt, so dass nur im Zusammenspiel mit anderen Interpretationsfragen eine Entscheidung gesucht werden kann, welches Gewicht diesem intertextuellen Zusammenhang zu geben ist. Ad (4): Den intertextuellen Referenzen steht die Problematik der Beurteilung intratextueller Querverbindungen zur Seite. In Mt 13,12 wird nicht explizit ausgeführt, was denen, die haben, noch gegeben werden wird, und denen, die nicht haben, genommen werden wird. Daraus, dass das Gegenüber von įȠșıİIJĮȚ und ਕȡșıİIJĮȚ auch in 21,43 begegnet, folgert Ulrich Luz für den negativen Part von 13,12, es ginge darum, „daß Israel seine Erwählung verlieren wird“51. 21,43 ist in der jüngeren Forschung vielfach anders gelesen worden (s. oben); hier geht es allerdings allein um die Frage der Konstruktion des intratextuellen Netzwerkes. Genügt die genannte verbale Berührung, um eine Interpretation von 13,12 von 21,43 her begründen zu können? Gegen diese Option kann man auf die Differenzen zwischen den Texten hinweisen. Die Verben 47 Die Veränderung der Markusvorlage durch die Umstellung von ਥijIJİȣıİȞ vor das zugehörige Objekt ਕȝʌİȜȞĮ und von ijȡĮȖȝંȞ vor das zugehörige Verb ʌİȡȚșȘțİȞ sowie durch die Einfügung von ਥȞ ĮIJ zwischen ੭ȡȣȟİȞ und ȜȘȞંȞ in Mt 21,33 dürfte als gezielte redaktionelle Verdeutlichung der Bezugnahme auf den Jesajatext zu lesen sein (vgl. W.J.C. WEREN, The Use of Isaiah 5,1-7 in the Parable of the Tenants [Mark 12,1-12; Matthew 21,33-46], Bib. 79 [1998], 1–26: 19 u.a.). 48 Jes 3,14; 27,2–6; Jer 12,10; LAB 28,4 (?); 30,4; gr3Bar 1,2, vgl. auch Herm, Sim V 2,2; 5,2f; 6,2. 49 Für diese Deutung sprechen meines Erachtens noch weitere Indizien. Ausführlich zur Deutung von Mt 21,33–46 KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 187–209. 50 Vgl. K. SNODGRASS, The Parable of the Wicked Tenants. An Inquiry into Parable Interpretation, WUNT 27, Tübingen 1983, 74. 51 U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 2: Mt 8–17, EKK 1.2, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1990, 313.
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begegnen in 21,43 in umgekehrter Reihenfolge. Vor allem aber wird in 21,43 nicht dem, der schon hat, gegeben, sondern Gottes Reich von den einen weggenommen und den anderen gegeben. Es ist also eine nicht unerhebliche syntaktische und sachliche Differenz zu konstatieren. Viel enger als 21,43 ist 25,29 mit 13,12 verwandt. Zudem begegnet das Nebeneinander von įȠșıİIJĮȚ und ਕȡșıİIJĮȚ auch anderorts.52 Vom unmittelbaren Kontext von 13,12 her kann man zumal angesichts der durch Ȗȡ angezeigten Verknüpfung daran denken, dass es um die Kenntnis bzw. Unkenntnis der Geheimnisse des Himmelreiches geht. „Knowledge is rewarded with knowledge, ignorance with ignorance“53. Umgekehrt schließt aber eine Erläuterung der Leerstelle von 13,12 aus dem unmittelbaren Kontext nicht aus, dass es durch 21,43 zu einer Relektüre kommt und sich das Sinnspektrum von 13,12 für den Leser im Lichte von 21,43 erweitern soll. Pointiert: Wer Letzteres verneint, wird die genannten Differenzen zwischen den Versen betonen; wer Letzteres bejaht, die Gemeinsamkeit. Nahe liegen dürfte die Annahme, dass bei der Gewichtung von Berührungen und Differenzen die bis dahin bereits entwickelte Gesamtperspektive auf das Matthäusevangelium nicht ohne Einfluss ist. Ad (7): Durch den jeweiligen Zeitgeist bestimmte Plausibilitätsstrukturen, die die Generierung des Sinns eines Textes mitsteuern, lassen sich retrospektiv in der Regel leichter erkennen als für die eigene Zeit. Gleichwohl darf die Vermutung gewagt werden, dass die Veränderungen in der Matthäusdeutung nicht unwesentlich mit der auf christlicher Seite deutlich veränderten Sensibilität gegenüber dem Judentum zu tun haben.54 Allerdings lässt sich dieser Hinweis 52 Vgl. grLAE 13,5: ੜIJȚ ਕȡșıİIJĮȚ ਕʌૃ ĮIJȞ ਲ țĮȡįĮ ਲ ʌȠȞȘȡ, țĮ įȠșıİIJĮȚ ĮIJȠȢ țĮȡįĮ ıȣȞİIJȚȗȠȝȞȘ IJઁ ਕȖĮșંȞ. 53 W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 2, ICC, Edinburgh 1991, 391. – Die ‚Habenden‘ sind die Jünger, und was sie haben, ist eben das, was ihnen nach V.11 gegeben worden ist, also die Kenntnis der Geheimnisse des Himmelreiches, d.h. sie vermögen Jesu Wirken als messianisches Geschehen zu verstehen und darin das Andringen des Reiches Gottes zu erkennen (vgl. 12,28). Sie werden durch die Deutung des Gleichnisses vom Sämann über die Verkündigung des Himmelreiches bzw. in den in 13,24–33 nachfolgenden Gleichnissen über das Himmelreich selber weiter belehrt und wachsen so in ihrer Kenntnis der ȝȣıIJȡȚĮ IJોȢ ȕĮıȚȜİĮȢ IJȞ ȠȡĮȞȞ (13,11). Nach 13,35 tut Jesus durch die Gleichnisse Verborgenes kund, und dieses Verborgene gehört mit zu den ȝȣıIJȡȚĮ von 13,11. Den Volksmengen hingegen fehlt mit der Erkenntnis, dass in Jesu Wirken das Himmelreich andringt, die Grundvoraussetzung auch für das Verständnis der Gleichnisrede, so dass durch ihre Unfähigkeit, die Gleichnisse vom Himmelreich in ihrem Sinn und ihrer aktuellen Relevanz zu erfassen, ihr Defizit ans Licht tritt. 54 Geradezu als Programm der Auslegung erscheint dies bei PETER FIEDLER. Siehe dessen „Überlegungen zur Hermeneutik“ in: Israel bleibt Israel. Überlegungen zum Kirchenverständnis des Matthäus, in: „Dies ist das Buch ...“. Das Matthäusevangelium. Interpretation – Rezeption – Rezeptionsgeschichte (FS H. Frankemölle), hg. v. R. Kampling, Paderborn u.a. 2004, 49–73: 61f. Siehe ferner z.B. die klare Tendenz in der Auslegung von R. FENEBERG, Die Erwählung Israels und die Gemeinde Jesu Christi. Biographie und Theologie Jesu im Matthäusevangelium, HBS 58, Freiburg i. Br. u.a. 2009.
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sogleich dadurch neutralisieren, dass umgekehrt manche Zweige der traditionellen Deutung durch jahrhundertelang in den ‚christlichen‘ Kirchen etablierte, das Judentum abwertende Denkweisen mitgeprägt sind. Wie dem auch sei: Für ein adäquates Verständnis des Matthäusevangelium, das kirchengeschichtlich im Blick auf die jüdisch-christlichen Trennungsprozesse offenkundig an einer ganz anderen Stelle steht als seine heutigen Leser, erscheint es mir wichtig, sich der Frage zu stellen, inwiefern das vom heutigen Standpunkt aus vertraute Gegenüber von Kirche und Israel als Rezeptionsfilter die Lektüre leitet und von daher die Differenzierung zwischen den Jüngern Jesu / der ecclesia und (anderen) jüdischen Gruppen in der matthäischen Jesusgeschichte fast selbstverständlich, aber möglicherweise vorschnell im Sinne des Gegenübers von Christentum und Judentum gelesen wird. So haben z.B. W.D. Davies und D.C. Allison einen Zusammenhang zwischen den in der Forschung verbreiteten Generalisierungstendenzen und der kirchlichen Perspektive der Exegeten vermutet: „[S]cholars, who tend to read the gospel through later ecclesiastical lenses, often approach Matthew with subtle biases. Only this explains why, whenever Jewish figures oppose Jesus, it is regularly assumed that their opposition foreshadows Israel’s complete rejection of her Messiah and portends God’s rejection of Israel“55. Natürlich hat jeder Exeget und jede Exegetin eine ihm bzw. ihr eigene Lesebrille auf. Ich möchte dennoch darauf insistieren, dass dies nicht für eine Not zu halten ist, aus der man eine Tugend machen sollte, und möchte daran festhalten, dass die exegetische Aufgabe zentral darin besteht, im Bewusstsein der Bedeutung von Vor-Urteilen im Verstehensprozess durch die exegetische Arbeit am Text die Kraft des Vor-Urteils, soweit dies geht, zugunsten des Textes zu schwächen. 56 Das ist wesentlich eine Frage der Muße zum langsamen Lesen und der Bereitschaft zur steten Selbstreflexion bei der Deutung, wo in welcher Weise Leerstellen des Textes aufgefüllt wurden bzw. werden mussten. Grund zur Relektüre und zur kritischen Überprüfung der eigenen Ergebnisse dürfte vor allem dann gegeben sein, wenn eine Deutung den eigenen theologischen Lieblingsgedanken zu sehr ähnelt.
Die oben dargelegten Beispiele bieten nur einen Ausschnitt aus den Fragen, die im Rahmen der Analyse der theologischen Konzeption des ersten Evangelisten 55 W.D. DAVIES – D. C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 23. Siehe auch a.a.O., 24: „[W]henever Gentiles appear in Matthew in a positive light, commentators always see this as foreshadowing the great commission and the future influx of Gentiles; yet the significance of the ethnic identity of Jews such as Joseph, Mary, and Peter is passed over in silence.“ 56 Es geht hier nicht darum, dem Phantom einer objektiven Lektüre nachzujagen. Dass „Auslegung [...] nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen [ist]“ (M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 161986, 150), dürfte heute als hermeneutischer Grundsatz allgemein akzeptiert sein. Gleichwohl bleibt es im Rahmen historisch-kritischer Exegese das Ziel, mögliche Subjektivismen und potentielle, durch die Distanz zum historischen Kontext des exegesierten Textes bedingte Verzerrungen so weit wie möglich aufzudecken.
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im Blick auf die Bedeutung der Sendung zu Israel zu erörtern sind. Das Ziel war allein zu illustrieren, dass die Entwicklung einer Hypothese zur theologischen Konzeption von zahlreichen, sich zum Teil gegenseitig beeinflussenden exegetischen Entscheidungen abhängt. Genauer: Jeder Versuch, einem narrativen Text wie dem Matthäusevangelium eine theologische Konzeption abzugewinnen, basiert darauf, dass – für sich genommen zuweilen mehrdeutige – Textphänomene interpretiert, miteinander abgeglichen und gewichtet und konstruktiv wie zu einem Mosaik zusammengesetzt werden; und dabei entsteht nicht nur das Mosaik aus der Interpretation der Einzeltexte, sondern zugleich beeinflusst auch die (vorläufige) Vorstellung vom Gesamtmosaik die exegetischen Entscheidungen bei den einzelnen Texten. Im Rahmen einer hermeneutisch reflektierten Exegese sind solche Konstruktionsleistungen zudem kritisch darauf zu befragen, inwiefern bei der Wahrnehmung bzw. bei der konzeptionellen Verknüpfung und dem – die Leerstellen des Textes füllenden – Zusammendenken einzelner Textaspekte (unbewusst) aus anderen Zusammenhängen vertraute Modelle einwirken und Textindizien vorschnell im Sinne bekannter Konzeptionen interpretiert werden. Geht es bei der Frage, ob die Gemeinde noch Israelmission betreibt, um ein wichtiges Indiz dafür, wie sich die Gemeinde zum Judentum stellt, so stehen dem die Frage nach der Völkermission und ihrem Beginn in der matthäischen Gemeinde sowie die damit verbundene Frage nach der Zusammensetzung der Gemeinde zur Seite, auf die im nächsten Abschnitt einzugehen ist. Dabei wird sich zeigen, dass nicht nur, wie eben skizziert, die Erhebung der theologischen Konzeption eines Autors bei einem narrativen Text eine komplexe Aufgabe ist, sondern es ferner auch notorisch schwierig ist, aus einem narrativen Text Schlüsse auf die zugrunde liegende Gemeindesituation zu ziehen.
3. Die Zusammensetzung der Gemeinde oder die Frage nach der Völkermission Zwar besteht zumindest darüber ein weitreichender Konsens in der Matthäusforschung, dass der Evangelist ein gebürtiger Jude war 57 und die matthäische Gruppe ihre Anfänge im Judentum hatte. Über die Zusammensetzung der Gruppe zur Zeit der Abfassung des Evangeliums besteht aber weniger Klarheit. Es ist bereits eingangs angemerkt worden, dass der (rein) jüdische Charakter 57 Kritisch dazu aber C.M. TUCKETT, Matthew: The Social and Historical Context – Jewish Christian and/or Gentile?, in: The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity, hg. v. D. Senior, BETL 243, Leuven 2011, 99–129: 108–116. Tuckett verweist dabei – in Auseinandersetzung mit P. FOSTER, Why Did Matthew Get the Shema Wrong? A Study of Matthew 22:37, JBL 122 (2003), 309–333 – vor allem auf die Zitation von Dtn 6,5 in Mt 22,37 als Indiz für eine nichtjüdische Herkunft von Matthäus.
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der matthäischen Gruppe in der neueren Forschung auch für die Zeit der Abfassung des Evangeliums vertreten wurde. Die Alternative ist, dass sich zur Zeit der Abfassung des Evangeliums der Charakter der matthäischen Gruppe durch das Hinzukommen von Christusgläubigen aus den Völkern bereits verändert hat. Wenn man diese Variante verfolgt, ist weiter zu fragen, wie stark dieser heidenchristliche Anteil bereits war. Ist von einer noch größtenteils oder zumindest noch mit klarer Mehrheit judenchristlichen Gemeinde58 oder von einer gemischten Gemeinde zu sprechen?59 Die Übergänge sind dabei eher fließend als klar zu definieren. Je nachdem, wie man sich hier entscheidet, ist das Verhältnis der matthäischen Gemeinde zum Judentum in sozialer Hinsicht unterschiedlich zu nuancieren. Als Grundsatz dürfte gelten: Je höher man den Anteil der Heidenchristen veranschlagt, desto geringer wird die Plausibilität, dass die Gemeinde einfach als (devianter) Teil des Judentums zu betrachten ist.60 Gefragt ist damit, mit anderen Worten, ob der Evangelist mit dem universalen Missionsbefehl in 28,18–20 eine neue Praxis anstoßen möchte oder ob die Gemeinde schon (länger?) Völkermission betreibt. Die radikale, vor allem von David Sim vertretene Sicht, dass die Völkermission für die matthäische Gemeinde zwar als (eschatologisches) Programm theoretisch akzeptiert war, aber selbst nicht praktiziert wurde61, hat sich bis jetzt nicht durchsetzen können. Sie scheitert schon daran, dass sie dem Gewicht von 28,16–20 als Zielpunkt der gesamten Erzählung nicht Rechnung zu tragen vermag. Und der Hinweis darauf, dass das Matthäusevangelium einige abwertende Aussagen über die 58 So z.B. D.J. HARRINGTON, The Gospel of Matthew, SaPaSe 1, Collegeville (MN) 1991, 2 („a largely Jewish-Christian community“); DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 42), 695.702 (s. aber auch unten Anm. 59); D. SENIOR, Matthew, ANTC, Nashville 1998, 21 („but a growing number of Gentile converts were beginning to swell its membership“); PRZYBYLSKI, Setting (s. Anm. 12), 192. 59 So z.B. DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 53), 192 („a mixed community“); E. K.-C. WONG, Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium. Zum Verhältnis von Juden- und Heidenchristen im ersten Evangelium, NTOA 22, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1992 (s. bes. 187–195); H.-J. ECKSTEIN, Die Weisung Jesu Christi und die Tora des Mose nach dem Matthäusevangelium, in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, hg. v. C. Landmesser – H.-J. Eckstein – H. Lichtenberger, BZNW 86, Berlin – New York 1997, 379– 403: 387–390; W. WEREN, The History and Social Setting of the Matthean Community, in: Matthew and the Didache. Two Documents from the Same Jewish-Christian Milieu?, hg. v. H. van de Sandt, Assen – Minneapolis (MN) 2005, 51–62: 60. 60 Vgl. exemplarisch die These von FOSTER, Community (s. Anm. 10), 79, „that the attitude towards Gentile Mission more naturally reflects a community that had stepped outside the bounds of Judaism.“ 61 Siehe SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 242–245 (vgl. D.C. SIM, The Gospel of Matthew and the Gentiles, JSNT 57 [1995], 19–48: 41–44); J.L. HOULDEN, The Puzzle of Matthew and the Law, in: Crossing the Boundaries (FS M.D. Goulder), hg. v. S.E. Porter – P. Joyce – D. Orton, BiInS 8, Leiden – New York 1994, 115–131: 123.
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ਥșȞȚțȠ (Mt 5,47; 6,7; 18,1762) bzw. die șȞȘ enthält (6,32)63, vermag zwar die jüdische Perspektive von Matthäus zu verdeutlichen, doch ist dem kein Indiz für eine Ablehnung der Völkermission zu entnehmen. Auch Paulus kann dezidiert pejorativ von den ‚Heiden‘ sprechen, wie 1Thess 4,5 mit exemplarischer Klarheit belegt.64 Auch dass Matthäus sich keine Illusionen darüber macht, dass die Jünger in der paganen Welt angefeindet werden (vgl. 24,9: ȀĮ ıİıșİ ȝȚıȠȝİȞȠȚ ਫ਼ʌઁ ʌȞIJȦȞ IJȞ ਥșȞȞ įȚ IJઁ ȞȠȝ ȝȠȣ), lässt sich hier nicht ins Feld führen; Verfolgung ist ebenso Signatur der Israelmission.65 Eine Antwort auf die Frage, seit wann die Gemeinde sich der Völkermission zugewandt hat, ist dem Matthäusevangelium allerdings nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen. Deutlich ist immerhin, dass die Aufgabe, die spezifische Zuwendung zu Israel mit der Universalität des Heils zu vermitteln, ein zentrales Anliegen der matthäischen Neuerzählung der Jesusgeschichte darstellt, und zwar von 1,1 an.66 Dieser Befund ist kaum anders zu deuten, als dass diese Frage für den Evangelisten und seinen Adressatenkreis von hoher aktueller Bedeutung war. Matthäus betreibt sowohl im Blick auf die Betonung der Erfüllung der Heilsverheißungen für Israel im messianischen Wirken Jesu als auch hinsichtlich der Begründung der Völkermission und insbesondere ihrer Verankerung in den Schriften Israels einen erheblichen Begründungsaufwand.67 Auch dann allerdings, wenn, was meines Erachtens nahe liegt, aus Letzterem der Schluss gezogen werden darf, dass die Völkermission im matthäischen Kreis nicht unumstritten ist68, ist damit noch keine sichere Basis für Aussagen ਫșȞȚțંȢ wird von Matthäus durchgehend pejorativ gebraucht. SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 226–231. 64 Im Übrigen begegnen in Mt 5,46; 18,17 auch die Zöllner als Negativbeispiele bzw. Außenstehende, ohne dass dies für den Evangelisten ausschließt, dass ihnen die Zuwendung Jesu gilt (9,9–13; 11,19; 21,31f). 65 Immerhin macht dieser Hinweis aber deutlich, dass der den Jesusboten in Israel entgegengebrachte Widerstand kein Grund dafür ist, die missionarischen Aktivitäten einzustellen. Ansonsten müsste Gleiches auch für die Völkermission gelten. Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 9f. 66 H. FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund und Kirche Christi. Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des „Evangeliums“ nach Matthäus, NTA NF 10, Münster 21984, 318 hat diesen Vers mit der Bemerkung geadelt, dass er „in nuce das ganze mt Evangelium“ enthalte. Darin ist insofern Richtiges gesehen, als mit der doppelten Prädikation Jesu als Sohn Davids und Sohn Abrahams die beiden soteriologischen Horizonte der matthäischen Jesusgeschichte, die Zuwendung zu Israel und die Ausweitung des Heils auf die Völkerwelt, aufgeworfen werden. 67 Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 24), bes. 17–94.285–348. Für eine Skizze s. unten S. 34–36. 68 Zur Erwägung, dass sich Matthäus bei konservativen Gemeindegliedern mit Reserven gegenüber der Integration von Nichtjuden konfrontiert sah, vgl. z.B. M. SLEE, The Church in Antioch in the First Century CE. Communion and Conflict, JSNTS 244, London – New York 2003, 134; FOSTER, Community (s. Anm. 10), 20; KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 389f 62 63
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über die Zusammensetzung der Gemeinde gegeben. Denn dieses Moment kann bedeuten, dass der Evangelist die Völkermission gegen Ressentiments zu etablieren versucht, sich also gegen Widerstand aus (konservativen) Teilen der Gemeinde zum Befürworter einer neuen Praxis macht69 – in diesem Fall wäre von einer judenchristlichen Gemeinde auszugehen. Es kann aber ebenso bedeuten, dass er sie gegen neue Ressentiments verteidigt, die in seiner gemischten Gemeinde (etwa durch den Zustrom von aus Palästina geflüchteten Judenchristen) aufgekommen sind. Als eine weitere Option kann erwogen werden, dass sich die matthäische Gemeinde aufgrund der Aufnahme von Nichtjuden als Vollmitglieder pharisäischer Kritik ausgesetzt sah, von der sich Gemeindeglieder (zunehmend) affizieren ließen.70 Mit anderen Worten: Der Textbefund lässt unterschiedliche historische Imaginationen zu. Exemplarisch wird hier deutlich, dass Rückschlüsse aus narrativen Texten auf die historische Situation der Trägergruppe erstens nur mit allerhöchster Vorsicht und zweitens kaum eindeutig zu ziehen sind.71 sowie auch V. BALABANSKI, Mission in Matthew against the Horizon of Matthew 24, NTS 54 (2008), 161–175: 170f. – M. LOHMEYER, Der Apostelbegriff im Neuen Testament. Eine Untersuchung auf dem Hintergrund der synoptischen Aussendungsreden, SBB 29, Stuttgart 1995, 385f hat umgekehrt postuliert, dass der Evangelist angesichts einer Vernachlässigung der Israelmission deren Bedeutung neu einzuschärfen sucht. Siehe in diesem Sinne auch DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 53), 192; H. FRANKEMÖLLE, Matthäus. Kommentar, Bd. 2, Düsseldorf 1997, 86 (vgl. auch H. FRANKEMÖLLE, Die matthäische Kirche als Gemeinschaft des Glaubens. Prolegomena zu einer bundestheologischen Ekklesiologie, in: Ekklesiologie des Neuen Testaments [FS K. Kertelge], hg. v. R. Kampling und T. Söding, Freiburg – Basel – Wien 1996, 85–132: 124). 69 So die Position von S. BROWN, The Matthean Community and the Gentile Mission, NT 22 (1980), 193–221: 217–221 sowie von LUZ in der ersten Fassung von Bd. 1 seines Kommentars, wo Luz postulierte, dass die Gemeinde „mit ihrer Israelmission scheiterte, das göttliche Gericht der Zerstörung Jerusalems erlebte und nun vom Evangelisten zu einem neuen Aufbruch gerufen wird“ (Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, Düsseldorf – Zürich 1985, 67, s. auch HARRINGTON, Matthew [s. Anm. 58], 416 und SLEE, Church [s. Anm. 68], 126.131.144). Luz hat seine Sicht dann im Zuge der weiteren Kommentierung revidiert, nämlich 24,9–14 als Hinweis auf die bereits im Gang befindliche Völkermission gedeutet (s. LUZ, Evangelium nach Matthäus IV [s. Anm. 23], 451). SALDARINI, Community (s. Anm. 5), 74 folgert aus Mt 15,21–28: „[T]he Matthean group is still wrestling with the problem of gentile membership; it justifies it by their great faith but maintains the boundaries and practices of Judaism, interpreted in a different way (15:1–20; 5:17– 19).“ Allerdings beachtet Saldarini nicht hinreichend die Stellung von Mt 15,21–28 innerhalb der matthäischen Jesusgeschichte. Mit 28,19f ist eine neue Situation gegeben. 70 Vgl. die ähnliche Erwägung bei SENIOR, Between Two Worlds (s. Anm. 3), 19: „[E]vidence in Matthew’s Gospel may suggest that some in Matthew’s community resisted that idea of a Gentile mission, perhaps in part under the pressure of Jewish attacks on the validity of the Jewish character of Matthew’s community.“ 71 Donald A. HAGNER hat dieses Grundproblem noch schärfer formuliert: „the reconstruction of the life-situation of an evangelist is necessarily a speculative enterprise. It is a kind of educated guesswork“ (The Sitz im Leben of the Gospel of Matthew, in: Treasures
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Erwägen kann man, ob der Missionsbefehl in 28,19f ein Indiz dafür enthält, dass Matthäus eine neue Praxis anstoßen möchte. Denn wenn die Reihenfolge der Partizipien ȕĮʌIJȗȠȞIJİȢ und įȚįıțȠȞIJİȢ, mit denen der Imperativ ȝĮșȘIJİıĮIJİ ʌȞIJĮ IJ șȞȘ erläutert wird, Bedeutung hat, ist sie auffällig. Soll man erst taufen und dann die Unterweisung in den Geboten Jesu folgen lassen? Mir scheint, dass ein solches Modell bei der Eingliederung von Juden in die christusgläubige Gemeinschaft durchaus praktikabel ist, denn Juden müssen über die Grundlagen (vgl. Hebr 6,1f) nicht unterrichtet werden, sondern benötigen nur eine Unterweisung in die spezifische Gebotsauslegung Jesu; diese aber kann nach der Taufe nachfolgen. Bei Nichtjuden dürfte sich der Sachverhalt jedoch anders darstellen. Die Didache, die wohl demselben Milieu entstammt wie das Matthäusevangelium72, nährt diesen Verdacht, denn nach 7,1 hat die Unterweisung – im Blick ist hier die in Did 1–6 vorangehende Zwei-Wege-Lehre – der Taufe voranzugehen. Man kann daher fragen, ob 28,19f die Erfahrungen der Mission unter Juden spiegelt, was im Umkehrschluss die Annahme nahe legen würde, dass die Gemeinde mit der von Matthäus in 28,18–20 anvisierten Form der Völkermission noch keine oder nur wenige Erfahrungen hat. Diese Überlegung ist aber bestenfalls vage, weil sich der Befund auch anders deuten lässt: Analog zu 4,18–22 + 5,1–7,27 geht der Ruf in die Jüngerschaft der Unterweisung voran.73
Die Bedeutung der Frage, seit wann die matthäische Gemeinde Völkermission betreibt, würde freilich unterlaufen, wenn der Zutritt von Menschen aus der Völkern zu ihr unter der Bedingung der Konversion zum Judentum stehen würde. Damit komme ich zum nächsten Punkt:
4. Die Frage der Beschneidung Das Gros der Matthäusforscher geht – mit zuweilen geradezu fragloser Selbstverständlichkeit – davon aus, dass Matthäus in 28,19 über die Beschneidung schweigt, weil die Taufe die Beschneidung als Eintrittsritual ersetzt hat.74 In der neueren Forschung haben sich allerdings Stimmen gemehrt, die die Leerstelle von 28,19 genau umgekehrt auswerten: Matthäus müsse die Beschneidung hier deshalb nicht thematisieren, weil sie ohnehin eine selbstverständliche Voraussetzung für den Zutritt von Christusgläubigen aus den Völkern in New and Old. Recent Contribution to Matthean Studies, hg. v. D.R. Bauer – M.A. Powell, SBLSymS 1, Atlanta [GA] 1996, 27–68: 27). 72 Siehe dazu die Sammelbände: H. VAN DE SANDT (Hg.), Matthew and the Didache: Two Documents from the Same Jewish-Christian Milieu?, Assen – Minneapolis (MN) 2005, und: H. VAN DE SANDT – J.K. ZANGENBERG, (Hg.), Matthew, James, and Didache: Three Related Documents in Their Jewish and Christian Settings, SBLSymS 45, Atlanta (GA) 2008. 73 Vgl. zu dieser Analogie FRANKEMÖLLE, Matthäus II (s. Anm. 68), 545, der dies zudem gnadentheologisch ausdeutet: „Wie der Ruf in die Nachfolge ‚Jesu‘ als reines Gnadenangebot zu interpretieren ist, so erscheint es folgerichtig, das Heilsangebot durch die Taufe ebenfalls als ‚reine Gnade‘, als Geschenk Gottes zu deuten.“ 74 Vgl. für viele J.P. MEIER, Law and History in Matthew’s Gospel. A Redactional Study of Mt. 5:17–48, AnBib 71, Rom 1976, 28.
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die matthäische ecclesia bildete. Mit großer Entschiedenheit ist die Position von David Sim vorgetragen worden75, der sich für seine These unter anderem auf 5,18 beruft: Bis zum Ende der Welt wird kein Jota vom Gesetz vergehen; also gelte auch das Gebot der Beschneidung. Folgte man dieser neuen Deutung, stünde der jüdische Charakter der Gruppe nicht in Frage; Heidenchristen wären bei Matthäus Proselyten. Innerchristlich wäre die matthäische Gemeinde dann eine nahe Verwandte der galatischen Gegner: Es handelte sich bei ihr nicht nur um eine toraobservante jüdische Gruppierung, sondern um eine konservative toraobservante jüdische Gruppierung. Als Mehrheitsposition hat sich dies bis jetzt nicht durchsetzen können, doch bedarf dieser Ansatz, da er für die Kontextualisierung des Matthäusevangeliums von weitreichender Bedeutung ist, der eingehenden Diskussion in der Matthäusforschung. Ich muss mich auch hier auf einen Überblick beschränken. Weil das Matthäusevangelium keine explizite Aussage zur Beschneidungsfrage enthält, kann eine Entscheidung nur über die Thematisierung angrenzender bzw. mit der Beschneidungsfrage verbundener Aspekte plausibilisiert werden. Zu berücksichtigende Faktoren sind (1) der frühjüdische Kontext, (2) die Einbettung des Matthäusevangeliums in das frühchristliche Spektrum, (3) das matthäische Gesetzesverständnis und (4) die Stellung der Völker in der theologischen Konzeption des ersten Evangelisten. Ad (1): Die Haltung zur Beschneidungsfrage war im antiken Judentum keineswegs einheitlich76, was schon deshalb kaum überraschen kann, weil die hellenistische Kultur der Beschneidung ablehnend gegenüber stand: Dem davon ausgehenden Akkulturationsdruck ist im antiken Judentum in unterschiedlicher Weise begegnet worden. Dabei ist zu betonen, dass diese Uneinheitlichkeit trotz der Folgewirkung des Scheiterns der hellenistischen Reform in Jerusalem im ersten Drittel des 2. Jh. v. Chr., in dessen Gefolge Beschneidungsverzicht als nota apostatica gelten konnte, auch für die Zeit nach 165/4 v. Chr. gilt, 75
SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 251–254 (vgl. D.C. SIM, Christianity and Ethnicity in the Gospel of Matthew, in: Ethnicity and the Bible, hg. v. M.G. Brett, BiInS 19, Leiden – New York – Köln 1996, 171–195: 184–194 und öfter), ferner R. MOHRLANG, Matthew and Paul. A Comparison of Ethical Perspectives, MSSNTS 48, Cambridge 1984, 44f; LEVINE, Dimensions (s. Anm. 42), 181–185; L.M. WHITE, Crisis Management and Boundary Maintenance: The Social Location of the Matthean Community, in: Social History of the Matthean Community. Cross-Disciplinary Approaches, hg. v. D.L. Balch, Minneapolis (MN) 1991, 211–247: 241f, Anm. 100; SLEE, Church (s. Anm. 68), 141–144; A. RUNESSON, Building Matthean Communities. The Politics of Textualization, in: Mark and Matthew I. Comparative Readings: Understanding the Earliest Gospels in their First-Century Settings, hg. v. E.M. Becker – A. Runesson, WUNT 271, Tübingen 2011, 379–408: 399 mit Anm. 78, s. auch SALDARINI, Community (s. Anm. 5), 157 und W. KRAUS, Zur Ekklesiologie des Matthäusevangeliums, in: The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity, hg. v. D. Senior, BETL 243, Leuven – Paris – Walpole (MA) 2011, 195–239: 208–211. 76 Für eine umfassende Sichtung der Texte A. BLASCHKE, Beschneidung. Zeugnisse der Bibel und verwandter Texte, TANZ 28, Tübingen – Basel 1998.
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denn es gibt auch für diese Zeit Belege, dass es in manchen Kreisen zu einer Vernachlässigung der Beschneidung kam.77 Gewichtiger noch als die Haltung zur Bedeutung der Beschneidung als jüdisches Identitätsmerkmal ist freilich, dass es unterschiedliche Haltungen zur Notwendigkeit der Beschneidung von Nichtjuden gegeben hat, wie die in Josephus, Ant 20,34–36 geschilderte Konversion von Izates von Adiabene exemplarisch zeigt. Zwei Positionen stehen sich hier gegenüber: Während der Galiläer Eleazar, vermutlich ein Pharisäer, den Gottesfürchtigenstatus des Izates mit Verweis auf das Beschneidungsgebot in Gen 17 für inakzeptabel hält (43–45), legt Josephus dem Kaufmann Ananias, der Izates ursprünglich für das Judentum begeistert hatte, die Ansicht in den Mund: Es ist möglich, „Gott auch ohne Beschneidung zu verehren“ (41). Ananias vertritt damit eine Position, die – ausweislich der Existenz von Gottesfürchtigen in den Diasporasynagogen – offenbar keine Ausnahme darstellte.78 Auch wenn die Frage, ob es im antiken Judentum um die Zeitenwende unbeschnittene Proselyten gegeben hat, wie dies auf der Basis (einer isolierten Lektüre) von Philo, QuaestEx 2,2 (zu
77 Nachlässigkeit gegenüber der Beschneidung (von Kindern) bis hin zum Epispasmos hat es auch nach dem Scheitern der hellenistischen Reform (vgl. als Reflex der hellenistischen Reform Jub 15,33f) zumindest bei einzelnen (hellenisierten) Juden gegeben, wie schon die Aufnahme des Epispasmos-Motivs in TestMos 8,3 vermuten lässt. Auch Paulus spielt in 1Kor 7,18 auf den Epispasmos an. Philo bezeugt mit den sogenannten konsequenten Allegoristen eine Gruppe, die die (physische) Beschneidung ablehnte (Migr 89–93). In 2Bar 66,5 wird die Tötung von unbeschnittenen Volksgenossen im Eifer für das Gesetz als Teil der Reformen Josias präsentiert. Da dies an den atl. Darstellungen (2Kön 23,4–25; 2Chr 34,1– 7.33; 35,1–19) keinerlei Anhalt hat, wird man kaum fehlgehen, dass die Durchsetzung der Beschneidung einem aktuellen Bezug geschuldet ist. Der Zusammenhang zwischen Eifer für das Gesetz und Beschneidung muss dabei im Blick auf die bekämpften Juden keineswegs bedeuten, dass jene sich selbst grundsätzlich von der Tora losgesagt haben; es genügt die Annahme, dass sie nicht das in 2Bar vorausgesetzte Verständnis der Tora teilten. Folgt man der Rekonstruktion von P. SCHÄFER, Der Bar Kohba-Aufstand. Studien zum zweiten jüdischen Krieg gegen Rom, TSAJ 1, Tübingen 1981, 46–50, ist ferner für das Vorfeld des Bar Kochba-Aufstandes damit zu rechnen, dass assimilierte Juden ihre Vorhaut haben wiederherstellen lassen. Zudem schildert Martial (Epigrammata 7,82) mit dem ihm eigenen Spott, dass ein Jude in der Öffentlichkeit des Bades und der Palästra seine Beschneidung mit einer Fibel zu verdecken suchte. 78 Umgekehrt formuliert: Das Phänomen der Gottesfürchtigen verweist darauf, dass Ananias’ Position nicht allein eine Notlösung aus politischer Rücksichtnahme war, sondern einen umfassenderen sozialen Hintergrund besaß.
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Ex 22,21) als Möglichkeit im Raum steht79, wohl zu verneinen ist80, ist zu konstatieren, dass mit der Teilhabe von nicht-jüdischen Sympathisanten am synagogalen Leben und ihrer (partiellen) Integration darin der Boden bereitet war, auf dem der Gedanke einer beschneidungsfreien Völkermission in der christusgläubigen Bewegung entstehen und gedeihen konnte. Ad (2): Mit der Frage der Einbettung des Matthäusevangeliums in das frühchristliche Spektrum wird das Minenfeld der Rekonstruktion der frühchristlichen Theologiegeschichte betreten; zugleich ist damit die Aufgabe der Lokalisierung der matthäischen Gemeinde aufgeworfen. Zu Letzterem ist in der neueren Forschung vermehrt Galiläa ins Spiel gebracht worden81, doch bildet nach
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Philo definiert hier den Proselyten als jemanden, „der nicht seine Unbeschnittenheit beschneidet, sondern seine Begierden […]“. Und Philo fragt weiter, was denn die „Sinnesart des Proselyten“ sei, „wenn nicht die Entfremdung vom Glauben an viele Götter und die Vertrautheit mit der Verehrung des einen Gottes“. 80 Vgl. J. NOLLAND, Uncircumcised Proselytes?, JSJ 12 (1981), 173–194: 173–179; W. KRAUS, Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus, WUNT 85, Tübingen 1996, 102f. – Anders aber N.J. MCELENEY, Conversion, Circumcision, and the Law, NTS 20 (1974), 319–341: 328–333. Zur Fragestellung s. auch J.J. COLLINS, A Symbol of Otherness: Circumcision and Salvation in the First Century, in: “To See Ourselves as Others See Us”. Christians, Jews, “Others” in Late Antiquity, hg. v. J. Neusner – E.S. Frerichs, Chico (CA) 1985, 163–186: 173–174. 81 Siehe OVERMAN, Gospel (s. Anm. 5), 158f (s. auch OVERMAN, Church [s. Anm. 7], 17–19); A.J. SALDARINI, The Gospel of Matthew and Jewish-Christian Conflict in the Galilee, in: The Galilee in Late Antiquity, hg. v. L.I. Levine, New York 1992, 23–38: 26f; RUNESSON, Communities (s. Anm. 75), 381f. A.M. GALE, Redefining Ancient Borders. The Jewish Scribal Framework of Matthew’s Gospel, New York – London 2005, 57–63 denkt speziell an Sepphoris. Vgl. ferner HARRINGTON, Matthew (s. Anm. 58), 10; A.F. SEGAL, Matthew’s Jewish Voice, in: Social History of the Matthean Community. Cross-Disciplinary Approaches, hg. v. D.L. Balch, Minneapolis (MN) 1991, 3–37: 25–29 sowie WEREN, History (s. Anm. 59), 60: „Matthew’s community consisted of a large number of [...] small home churches spread over towns and villages in the Upper Galilee, the Golan, and the Southern part of Syria.“ Für bedenkenswert hält die Option Galiläa auch KRAUS, Ekklesiologie (s. Anm. 75), 234–239. – Für Galiläa kann man geltend machen, dass die Pharisäer im synagogalen Umfeld des Evangelisten eine bedeutende Rolle gespielt haben. Denn aktuelle Auseinandersetzungen mit Pharisäern würden gut zu Galiläa passen, während ein Beleg für Pharisäer in der Diaspora bisher fehlt, sofern es richtig ist, dass der Pharisäer Paulus in Jerusalem ausgebildet wurde (Apg 22,3; 26,4f). „Die Aussagekraft dieses Befundes ist aber angesichts der insgesamt dürftigen Quellenlage fraglich; es lässt sich aus ihr jedenfalls nicht zwingend folgern, dass es (zumal nach 70 n. Chr.) im an das „Land Israel“ (Mt 2,20f) angrenzenden Syrien keine Pharisäer gegeben hat. Und selbst dann, wenn Paulus in Jerusalem aufwuchs, ist durch sein Auftreten immerhin belegt, dass ein Pharisäer in Damaskus zu wirken beabsichtigte. Zu konzedieren ist daher allenfalls, dass die Wahrscheinlichkeit des im Mt vorausgesetzten dominanten Einflusses von Pharisäern im synagogalen Umfeld mit zunehmender Distanz zu Galiläa abnimmt“ (M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 23).
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wie vor die Verortung des Matthäusevangeliums in Syrien die Mehrheitsmeinung.82 Antiochien ist dabei die prominenteste Option83, aber – mit Ulrich Luz – doch nur eine Möglichkeit84; möglicherweise ist auch eher an den Süden Syriens, also z.B. an eine Stadt wie Damaskus, zu denken.85 Auch in diesem Fall mag jedoch – insofern davon ausgegangen werden kann, dass Antiochien als eines der Zentren des entstehenden Christentums eine signifikante Ausstrahlungskraft zumindest in die benachbarten syrischen Städte bzw. Gebiete hinein hatte – eine Erörterung des theologischen Milieus in Antiochien zumindest als Annäherung hilfreich sein, wenngleich man nicht ohne Weiteres davon ausgehen kann, dass es in diesem Bereich keine Binnendifferenzierung gegeben hat. Einen weiteren Zugang zur theologiegeschichtlichen Verortung kann man darin sehen, dass die matthäische Betonung der zentralen Rolle von Petrus im Jüngerkreis und insbesondere Mt 16,18f Indizien für die Hochschätzung von Petrus im matthäischen Christentum sein könnten. Mit der Verortung des Matthäusevangeliums in Antiochien bzw. im syrischen Ausstrahlungsgebiet Antiochiens ist dies gut vermittelbar.
82 Für den syrischen Raum spricht eine ganze Reihe von Indizien. Siehe dazu exemplarisch LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 3), 100–103. 83 Für Antiochien plädieren unter vielen anderen B.H. STREETER, The Four Gospels. A Study of Origins, London – New York 91956, 500–523; MEIER, Vision (s. Anm. 25), 15 (s. auch J.P. MEIER, Antioch, in: Antioch and Rome. New Testament Cradles of Catholic Christianity, hg. v. R.E. Brown – J.P. Meier, New York 1983, 12–86: 22–27); J. ZUMSTEIN, Antioche sur l’Oronte et l’Évangile selon Matthieu, SNTU.A 5 (1980), 122–138: 131–138; W. CARTER, Matthew. Storyteller, Interpreter, Evangelist, Peabody (MA) 1996, 24f; SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 53–62; SLEE, Church (s. Anm. 68), 118–122; M. ZETTERHOLM, The Formation of Christianity in Antioch. A social-scientific approach to the separation between Judaism and Christianity, London – New York 2003, 211–216. Allgemein für Syrien z.B. E. SCHWEIZER, Matthäus und seine Gemeinde, SBS 71, Stuttgart 1974, 138–140; J. GNILKA, Das Kirchenbild im Matthäusevangelium, in: À cause de l’Évangile. Études sur les Synoptiques et les Actes (FS J. Dupont), LeDiv 123, Paris 1985, 127–143: 128–131 und A. FELDTKELLER, Identitätssuche des syrischen Urchristentums. Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum, NTOA 25, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1993, 17, der „die Gegend zwischen Emesa, Kyrrhos und Hierapolis“ präferiert. Zu den in der Forschung verhandelten Alternativen s. die Übersicht bei G.N. STANTON, The Origin and Purpose of Matthew’s Gospel. Matthean Scholarship from 1945 to 1980, ANRW II 25.3, Berlin – New York 1985, 1889–1951: 1941f. 84 Siehe LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 3), 102f: „Das Matthäusevangelium gibt seinen Entstehungsort nicht preis. Sicher war es eine größere syrische Stadt, deren lingua franca Griechisch war. M.E. ist Antiochien nicht die schlechteste Hypothese. Das Matthäusevangelium stammt also vielleicht aus einer (!) antiochenischen Gemeinde. Aber mehr als eine Hypothese ist das nicht.“ 85 Der Vorteil wäre, dass sich mit der größeren Nähe zu Galiläa die Bedeutung der Pharisäer im matthäischen Umfeld besser erklären ließe (s. dazu oben Anm. 81). Sicherheit ist hier aber nicht zu gewinnen.
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David Sim hat versucht, aus diesen beiden Momenten ein Argument dafür zu gewinnen, dass matthäische Heidenchristen beschnitten waren. 86 Basis dafür ist eine ungewöhnliche Deutung des sog. antiochenischen Zwischenfalls (Gal 2,11–14) und seiner Folgen. Hier sei es nämlich gar nicht, wie sich dies auf der Basis des einzigen Zeugnisses Gal 2,11–14 ergibt, bloß um Fragen der Tischgemeinschaft von Heiden- und Judenchristen gegangen, sondern die Vertreter des Jakobus hätten die Position der Jerusalemer „circumcision party“87 vertreten, hätten nach dem vermeintlich unklaren Ausgang des Aposteltreffens in Jerusalem88 die Beschneidung der Heidenchristen gefordert89 und sich damit in Antiochien durchgesetzt. Jakobus wird hier – gegen den einmütigen Befund von Apg 15 und Gal 2,1–10 – zum Verfechter einer die Beschneidung einschließenden gesetzesobservanten Mission unter Nichtjuden. Petrus habe sich in Antiochien dieser Position angeschlossen. Für die antiochenische Gemeinde hätte dies eine radikale Wende bedeutet: „the Antiochene church was transformed from a law-free community to a law-observant community modelled on the traditions and practice of the Hebrews in Jerusalem. […] In the Petrine Antiochene church, Gentiles must convert to Judaism prior to their acceptance into what was now a Christian Jewish community“90. Das Problem dieser Deutung ist, dass sie die vorhandenen Quellen kräftig gegen den Strich bürsten muss. Die große Mehrheit konstruiert die Grundlinien denn auch – mit größerem Vertrauen in die Quellen – anders: Die Jerusalemer Säulen, darunter Jakobus und Petrus, haben die beschneidungsfreie Völkermission akzeptiert; beim antiochenischen Zwischenfall ging es mit der Klärung von Speisefragen um ein Folgeproblem. Wenn dies richtig ist, dann ist – unabhängig davon, wie man die Position von Antiochien vor und nach dem Zwischenfall genau bestimmt – des Weiteren festzuhalten, dass die beschneidungsfreie Völkermission kein paulinisches Proprium war. Der „Normalhypothese“, Matthäus sei ein Vertreter der beschneidungsfreien Völkermission, kann man daher nicht, wie Anthony Saldarini dies vorgebracht hat, durch den Verweis darauf entgegentreten, dass der Einfluss von Paulus auf Matthäus und seine Gruppe „very doubtful“ sei.91 Denn bei dem Aposteltreffen im Jahre 48 ging es eben nicht um die Akzeptanz der paulinischen Völkermission, sondern um die antiochenische Missionspraxis (zumal – gegen Paulus’ Suggestion in Gal 2,7, er sei als ‚Heidenpetrus‘ anerkannt worden – doch wohl eher Barnabas 86
SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 63–107. SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 95. 88 Siehe SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 107: „The outcome of this meeting is not certain”. 89 SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 96: „The issue at Antioch was not therefore how two different but legitimate groups of Christians could eat together, but whether uncircumcised Gentiles could be members of the Christian community at all.“ 90 SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 107. 91 SALDARINI, Community (s. Anm. 5), 157. 87
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der ‚Chef‘ der antiochenischen Delegation war92). Nach einer Reihe von Forschern ist sogar davon auszugehen, dass bereits die aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten schon sehr früh anfingen, Gottesfürchtige ohne Beschneidung vollgültig in die christusgläubigen Hausgemeinschaften zu integrieren.93 Wenn die Frage der Legitimität beschneidungsfreier Völkermission dennoch erst um 48 so brennend wurde, dass es diesbezüglich zu einem Aposteltreffen in Jerusalem kam, dann dürfte dies dadurch ausgelöst sein, dass es – wohl im Rahmen der Mission von Barnabas und Paulus im Süden Kleinasiens (Apg 13–14) – zu einer neuen Entwicklung gekommen war: Vermutlich sind hier erstmals im Rahmen der antiochenischen Mission heidenchristliche Gruppen ohne vorangehenden Kontakt mit jüdischen Gemeinschaften und ohne Anbindung an diese entstanden; der Status dieser Gruppen warf Fragen auf. Gegenüber der Akzeptanz von Gottesfürchtigen in christusgläubigen jüdischen Gruppen war damit eine neue Entwicklungsstufe erreicht.
Festzuhalten ist: Wenn die vorangehenden Überlegungen auch nur annähernd in die richtige Richtung weisen, dann ist unter der Voraussetzung, dass das Matthäusevangelium in das Ausstrahlungsfeld von Antiochien gehört, davon auszugehen, dass es im matthäischen Umfeld missionarische Aktivitäten unter Nichtjuden gab, bei denen die Beschneidungsforderung keinerlei Rolle spielte. Dies macht es immerhin wahrscheinlich, dass für das Matthäusevangelium dasselbe gilt, auch wenn natürlich zu konzedieren ist, dass die Entscheidung des Apostelkonvents, wie die galatischen Gegenmissionare exemplarisch illustrieren, nicht von allen Christusgläubigen akzeptiert wurde und also die Streitfrage 48 n. Chr. keineswegs bereits ein für alle Mal entschieden war. Wenn man aber ferner die spezifische Autoritätsstellung von Petrus im Jüngerkreis (s. v.a. Mt 16,17–19) als Signal für seine Wertschätzung in der matthäischen Gruppe werten darf, gewinnt die Option beschneidungsfreier Völkermission weiter an Substanz. Denn es ist kaum anzunehmen, dass die matthäische Gemeinde zwar die Völkermission bejaht, aber den von Petrus mitgetragenen Beschluss des Apostelkonvents zurückgewiesen hat. Ad (3): Sucht man nach Indizien, die sich aus der matthäischen Theologie ergeben, so ist an erster Stelle das matthäische Toraverständnis zu verfolgen. Fragt man vor dem Hintergrund der obigen Skizze des frühjüdischen Spektrums, wie Matthäus in dieses einzuordnen ist, so steht – zumal angesichts der dezidierten antipharisäischen Polemik des Evangeliums – die Möglichkeit im Raum, dass er eher auf dem Pol des Grundsatzes zu verorten ist, der in Josephus, Ant 20 dem Ananias zugeschrieben ist. Umgekehrt formuliert: Stellt
92 Vgl. M. KONRADT, Zur Datierung des sogenannten antiochenischen Zwischenfalls, ZNW 102 (2011), 19–39: 21f, Anm. 10. 93 Siehe exemplarisch E. RAU, Von Jesus zu Paulus. Entwicklung und Rezeption der antiochenischen Theologie im Urchristentum, Stuttgart – Berlin – Köln 1994, 79–96.
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5,18, wie David Sim dies postuliert hat, tatsächlich ein substantielles Argument für die Beschneidung von Christusgläubigen aus den Völkern bereit?94 Die Frage nach dem Verhältnis des matthäischen Jesus und seiner Verkündigung zur Tora wirft eines der Hauptprobleme der Matthäusexegese auf. Im Zentrum der Debatte stehen die Auslegung der Antithesen in Mt 5,21–48, bei denen umstritten ist, ob diese torakritisch oder auslegungskritisch zu lesen sind, d.h. ob sich Jesu Antithesen gegen Toragebote selbst richten95 oder gegen deren Verständnis in bestimmten jüdischen Strömungen96, und die Frage des Verhältnisses der Antithesen zum programmatischen Passus in 5,17–20. Ich muss mich wiederum auf Hauptlinien und auf eine grobe Skizze beschränken.97 Ich gehe dabei auf der Basis von 5,17–19 als Grundentscheidung von der derzeitigen Mehrheitsposition aus, dass für Matthäus die Tora bis zum Ende der Welt grundsätzlich in Geltung steht.98 Dies setzt aber nur eine grobe Richtungsvorgabe. Denn auch wenn man dies als Basis zugrunde legt, eröffnet sich noch 94
Zur Berufung auf Mt 5,18 s. SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 253;D.C. SIM, Paul and Matthew on the Torah: Theory and Practice, in: Paul, Grace and Freedom (FS J.K. Riches), hg. v. P. Middleton – A. Paddison – K. Wenell, London 2009, 50–64: 58f. Neben Sim z.B. SLEE, Church (s. Anm. 68), 142. 95 Die Annahme, dass Matthäus in den Thesen Toragebote anführt bzw. anführen will, ist – bei z.T. erheblich divergierenden Interpretationen – Mehrheitsmeinung. Siehe für viele I. BROER, Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes. Ein Beitrag zur Theologie des Evangelisten Matthäus, SBS 98, Stuttgart 1980, 75–81; LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 3), 330; SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 129; ECKSTEIN, Weisung (s. Anm. 59), 396–403; K.-W. NIEBUHR, Die Antithesen des Matthäus. Jesus als Toralehrer und die frühjüdische weisheitlich geprägte Torarezeption, in: Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler), hg. v. C. Kähler – C. Böttrich – M. Böhm, Leipzig 1999, 175–200: 176f. 96 In diesem Sinne C. BURCHARD, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 27–50: 40–44; C. DIETZFELBINGER, Die Antithesen der Bergpredigt im Verständnis des Matthäus, ZNW 70 (1979), 1–15: 3; H.-W. KUHN, Das Liebesgebot Jesu als Tora und als Evangelium. Zur Feindesliebe und zur christlichen und jüdischen Auslegung der Bergpredigt, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Frankemölle – K. Kertelge, Freiburg – Basel – Wien 1989, 194–230: 213–218; J.D. CHARLES, Garnishing with the “Greater Righteousness”: The Disciple’s Relationship to the Law (Matthew 5:17-20), BBR 12 (2002), 1–15: 8. 97 Für eine eingehendere Erörterung des matthäischen Toraverständnisses s. in diesem Band auf S. 288–315 und S. 316–347 die Beiträge „Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“ und „Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium“. 98 Die Position, die Tora würde Mt 5,17–19 zufolge in der Unterweisung Jesu in doppeltem Wortsinn ‚aufgehoben‘, ist in der neusten Forschungsphase von ROLAND DEINES vorgebracht worden, doch ist dies bis jetzt, wenn ich recht sehe, eine Minderheitenposition geblieben. DEINES hat seine Sicht, die er ausführlich in seiner Monographie: Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2005, ausführt, in einem Aufsatz zusammengefasst: Not the Law but the Messiah: Law and Righteousness in the Gospel of Matthew – An Ongoing Debate, in:
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ein recht breites Spektrum an Möglichkeiten, wie das matthäische Gesetzesverständnis genau zu bestimmen ist. Zu klären ist hier vor allem das Verhältnis zweier Aussagen zueinander: Zum einen vertritt zwar 5,18 die Geltung aller Gebote; zum anderen tritt aber auch mehrfach eine Unterscheidung von großen und kleinen Geboten hervor, für die man das von Matthäus zweimal, in 9,13 und 12,7 eingefügte Zitat aus Hos 6,6 „Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer“ als Leitmotiv anführen kann. Es gibt auf der einen Seite nach 23,23 die ȕĮȡIJİȡĮ IJȠ૨ ȞંȝȠȣ, wozu Recht, Barmherzigkeit und Treue zählen. Zudem gilt das Nächstenliebegebot gemeinsam mit dem Gebot der Gottesliebe als ਥȞIJȠȜ ȝİȖȜȘ ਥȞ IJ Ȟંȝ (22,36), und neben dem Doppelgebot der Liebe lassen sich Tora und Propheten Matthäus zufolge auch in der Goldenen Regel zusammenfassen (7,12). Auf der anderen Seite gibt es kleine Gebote (5,19), worunter unter anderen die Verzehntung (23,23), die Sabbatheiligung (12,1– 14) und die Reinheitsgebote (15,1–20) fallen. Angesichts dieses, hier nur grob angedeuteten Befundes ist zu fragen, ob eher die Geltung aller Gebote oder die Unterscheidung von kleinen und großen Geboten zu betonen ist. Ferner ist die Stoßrichtung von 5,17–19 zu erörtern. Die Basisalternative ist hier, ob sich Matthäus innerchristlich gegen Tendenzen der Auflösung oder zumindest Vernachlässigung von Torageboten wendet und demgegenüber die Geltung der ganzen Tora einklagt oder ob er sich – zumindest auch – mit dem Vorwurf des pharisäischen Gegenübers auseinanderzusetzen hat, dass die Christusgläubigen die Tora auflösen.99 In diesem Fall könnte man (nicht: muss man) 5,18 nicht unwesentlich auf das Konto apologetischer Rhetorik bzw. pastoraler Vergewisserung der Gemeindeglieder verbuchen.100 Kombiniert man die beiden jeweils zuerst genannten Optionen (der Ton liegt auf der Geltung aller Gebote, die Stoßrichtung von 5,17–19 ist innerchristlich) miteinander, lässt sich dies zur These eines dezidiert konservativen judenchristlichen Gesetzesverständnisses ausformulieren. David Sim vollendet diese Position damit, dass er die soteriologische Aussage von 5,19a so deutet, dass der, der ein kleines Gebot auflöst, vom Heil ausgeschlossen sei.101 Da die Formulierung ਥȜȤȚıIJȠȢ țȜȘșıİIJĮȚ ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ IJȞ ȠȡĮȞȞ wörtlich genommen etwas anderes besagt, muss man dazu postulieren, dass die Formulierung
Built upon the Rock. Studies in the Gospel of Matthew, hg. v. D.M. Gurtner – J. Nolland, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) 2008, 53–84. 99 Vgl. zu dieser Frage in diesem Band „Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“, 307f. 100 Vgl. FOSTER, Community (s. Anm. 10), 196: „For pastoral reasons Matthew assures his community that the law is still ‘fulfilled’ by their adherence to Jesus as Messiah.” 101 D.C. SIM, Are the least included in the kingdom of heaven? The meaning of Matthew 5:19, HTS 54 (1998), 573–587, bes. 583f. In diesem Sinne z.B. auch E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 4[16]1986, 62; GIELEN, Konflikt (s. Anm. 42), 67f.81f.
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bloß rhetorische Finesse sei, die sich dem Versuch verdankt, den Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen durch Aufnahme eines Wortes aus dem Vordersatz im Nachsatz zu unterstreichen. Matthäus kennt aber die gelegentlich in der frühjüdischen und später auch in der rabbinischen Literatur begegnende Vorstellung, dass es im Himmelreich unterschiedliche Ehrengrade gibt102, so dass nichts dagegen spricht, 5,19 so zu nehmen, wie es dasteht. Die Alternative von Heilsteilhabe und -ausschluss begegnet erst im Zusammenhang der Gegenüberstellung der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer einerseits und der von den Jüngern erwarteten „besseren Gerechtigkeit“ andererseits in V.20. Der Toragehorsam der Schriftgelehrten und Pharisäer muss demnach Defizite aufweisen, die größer bzw. gewichtiger sind, als dies bei der Auflösung von kleinen Geboten in V.19 der Fall ist.103 Sie bleiben nämlich, wie die Antithesen illustrieren, hinter den großen Geboten in gravierender Weise zurück. 5,19f besagt also: Wer kleine Gebote auflöst, erhält zwar Zutritt zum Himmelreich, muss dort aber mit weniger Ehre rechnen; wer große Gebote auflöst, muss draußen bleiben. Die sich durch 5,19f nahe legende These einer unterschiedlichen Relevanz der Beachtung von ‚kleinen‘ und ‚großen‘ Geboten findet in der matthäischen Version der Perikope vom reichen Mann (19,16–22) Bestätigung. Dessen Frage nach den Konditionen für die Erlangung ewigen Lebens wird bei Matthäus – anders als bei Markus – präzise mit „halte die Gebote“ beantwortet (19,17). Im Anschluss daran werden aber auf die Nachfrage „welche?“ allein Dekaloggebote der zweiten Tafel und das Nächstenliebegebot zitiert (19,18f). Im Kontext ist damit klar: An dem Halten dieser Gebote entscheidet sich die Erlangung ewigen Lebens. Auch die klare Gewichtung zwischen sozialen Geboten und Reinheitsgeboten in Mt 15,1–20 fügt sich hier nahtlos ein. Im Lichte dieses, hier nur skizzenhaft angerissenen Befundes ist meines Erachtens zu folgern: Zu betonen ist die genannte Differenzierung zwischen ‚kleinen‘ und ‚großen‘ Geboten. Beachtet man dieses Profil des matthäischen Gesetzesverständnisses, lässt sich von diesem her schwerlich begründen, dass in 28,19 die Beschneidung ganz selbstverständlich eingedacht ist. Dies gilt umso mehr, als es dabei gar nicht grundsätzlich um die Relevanz des Beschneidungsgebots für Juden geht, 102 Siehe Mt 5,12; 11,11; 10,41f; 18,1–4; 20,23. Jüdisch 4Esr 8,49; 10,57; 2Hen 44,5, Rabbinisches bei H.L. STRACK – P. BILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd.1: Das Evangelium nach Matthäus, München 1922, 249f; Bd. 4.2: Exkurse zu einzelnen Stellen des neuen Testaments, München 1928, 1138–1143. 103 Anders BROER, Freiheit (s. Anm. 95), 62, nach dem es „der Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten [...] in der Lehre am Festhalten an Jota und Häkchen und diesen kleinsten Geboten“ mangelt (ähnlich P. LUOMANEN, Entering the Kingdom of Heaven. A Study on the Structure of Matthew’s View of Salvation, WUNT II.101, Tübingen 1998, 85, der in 5,20 die Kritik an den Schriftgelehrten und Pharisäern expliziert sieht, die in 5,19 impliziert sei). Solcher Mangel führt nach V.19 aber nicht zum Ausschluss vom Heil.
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sondern darum, ob für christusgläubige Menschen aus den Völkern die förmliche Konversion zum Judentum notwendig ist und ihr Heil davon abhängt, dass sie Gebote wie Beschneidung, Sabbatheiligung und Speisegebote, also die sog. ‚boundary markers‘, praktizieren. Mit anderen Worten: Das matthäische Gesetzesverständnis ist so ausgerichtet, dass Heidenchristen ohne Beschneidung oder Verpflichtung auf die Speisegebote die (soteriologisch) wirklich wichtigen Gebote halten. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang ein erneuter Verweis auf das Zeugnis der Didache. Verpflichtend sind für Konvertiten aus den Völkern die in Did 1–5 dargelegten sozialen Gebote. Betreffs der Speise aber heißt es in Did 6,3a lapidar: „Was du vermagst, das trage (ʌİȡ į IJોȢ ȕȡઆıİȦȢ, įȞĮıĮȚ ȕıIJĮıȠȞ)!“ Streng verboten ist allein Götzenopferfleisch (Did 6,3b, vgl. das Aposteldekret in Apg 15,20.29; 21,25). Von Beschneidung ist auch hier nicht die Rede, wohl aber wiederum von der Taufe (Did 7). Hier spricht sich eine gemäßigte judenchristliche Position aus, wie dies meines Erachtens auch für das Matthäusevangelium gilt.104 Dieser Befund lässt sich mit den obigen Notizen zur Einordnung des Matthäusevangeliums in den frühchristlichen Kontext beschneidungsfreier Völkermission verbinden. Mit Blick auf die frühchristliche Praxis beschneidungsfreier Völkermission dürfte es insgesamt hilfreich sein, die viel zu pauschale Alternative ‚gesetzesfrei oder gesetzesobservant‘105 auszudifferenzieren und insbesondere zwischen beschneidungsfreier und gesetzesfreier Völkermission zu unterscheiden. Der von Paulus in 1Kor 7,19 aufgenommene, programmatische Satz ਲ ʌİȡȚIJȠȝ ȠįȞ ਥıIJȚȞ țĮ ਲ ਕțȡȠȕȣıIJĮ ȠįȞ ਥıIJȚȞ, ਕȜȜ IJȡȘıȚȢ ਥȞIJȠȜȞ șİȠ૨, der schon ausweislich der bei Paulus singulären Wendung IJȡȘıȚȢ ਥȞIJȠȜȞ șİȠ૨ auf vorpaulinischer (antiochenischer?) Tradition basieren dürfte106, bestätigt dies: Die Vorhaut, d.h. die Zugehörigkeit zum Judentum, ist irrelevant; das Halten der Gebote ist davon nicht betroffen und auf dieses kommt es an. Auch auf den in Ant 20,41 referierten Standpunkt des jüdischen Kaufmanns Ananias ist hier noch einmal zu rekurrieren. Denn dessen Meinung, Izates könne Gott auch ohne Beschneidung verehren, wird damit begründet, dass das Befolgen der angestammten Gesetze der Juden (IJ ʌIJȡȚĮ IJȞ ȠȣįĮȦȞ) gewichtiger sei als das Beschnittensein. Von hier aus ist es nicht weit zu 1Kor 7,19.107 Die (Jerusalemer) Hellenisten, die, wie angesprochen, Gottesfürchtige ohne Beschneidungsforderung integrierten, mögen von konservativen Juden als Gesetzesbrecher angesehen worden sein (so wie Eleazar 104
Zu Letzterem vgl. z.B. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 3), 317. Siehe dazu zum Beispiel die oben referierte These von SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 107, die antiochenische Gemeinde habe sich infolge des antiochenischen Zwischenfalls „from a law-free community to a law-observant community“ gewandelt. 106 Zur Traditionsgeschichte von 1Kor 7,19 vgl. exemplarisch W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther, Bd. 2, EKK 7.2, Zürich – Neukirchen-Vluyn 1995, 131 und RAU, Von Jesus zu Paulus (s. Anm. 93), 90–93. 107 Vgl. RAU, Von Jesus zu Paulus (s. Anm. 93), 99. 105
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dem unbeschnittenen Izates vorwirft, er würde die Tora, die er liest, brechen [Ant 20,44f]), aber sie haben sich schwerlich selbst als Gesetzesbrecher oder gar als grundsätzlich gesetzesfrei angesehen. 108 Insbesondere ist die Praxis beschneidungsfreier Völkermission nicht monoperspektivisch mit ihrer paulinischen Spielart, wie Paulus sie nach seiner Trennung von Antiochien entwickelt hat, in eins zu setzen. Mit anderen Worten: Auf der Basis des Gesetzesverständnisses der Hellenisten ist die grundsätzliche Bejahung der Tora, wie sie im Matthäusevangelium begegnet, ohne Weiteres mit der Praxis beschneidungsfreier Völkermission vereinbar. Ad (4): Zu fragen ist schließlich nach der Begründung der Zuwendung zu den Völkern in der theologischen Konzeption des ersten Evangelisten. Zwei Bereiche dürften in diesem Zusammenhang von vorrangiger Bedeutung sein. Wiederum beschränke ich mich auf eine knappe Skizze:109 a) Die Legitimation der Völkermission auf der Basis der Schriften Israels: Auf das durch das Motiv der Abrahamssohnschaft Jesu bereits in 1,1 gesetzte Signal ist bereits hingewiesen worden. Der Schriftbezug dürfte hier konkret der Völkersegen in Gen 12,3 (vgl. 18,18; 22,18; 26,4) sein.110 Wenn der gemeinsame Nenner der vier Frauen im Stammbaum Jesu (ohne Maria) darin zu sehen ist, dass sie alle als Nicht-Jüdinnen galten, wird hier gezeigt, dass Israel schon immer für Menschen aus den Völkern offen war. Wenn, wie häufig angenommen wird, in der Trias der Geschenke der Magier in Mt 2,11 die ersten beiden, ȤȡȣıઁȢ țĮ ȜȕĮȞȠȢ, auf Jes 60,6 anspielen111, könnte mit dem Kommen der Magier in Mt 2 das Motiv der Völkerwallfahrt eingespielt112 und zugleich messianisch transformiert sein. Ein weit reichender Konsens besteht ferner darüber, dass mit der Aufnahme der Wendung īĮȜȚȜĮĮ IJȞ ਥșȞȞ in dem Zitat von Jes 8,23 in Mt 4,15 ein Vorverweis auf die Aussendung der Jünger in Mt 28,16–20 gegeben wird, so dass diese als in der Schrift begründet erscheint. Dem steht das Zitat von Jes 42,1–4 in Mt 12,18–21113 zur Seite, nach dem „die Heiden auf seinen Namen hoffen“. Überblickt man diese Stellen, wird deutlich: Die Einbeziehung der ‚Heiden‘ in das Heil ist Matthäus zufolge in der Schrift 108 Vgl. zur Unterscheidung von Beschneidungs- und Gesetzesfreiheit RAU, Von Jesus zu Paulus (s. Anm. 93), 79–100. 109 Für eine eingehendere Erörterung vgl. in diesem Band auf S. 115–145 den Beitrag „Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie“ und vor allem die monographische Abhandlung in KONRADT, Israel (s. Anm. 24). 110 Vgl. z.B. F. WILK, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin – New York 2002, 84 sowie jetzt auch KRAUS, Ekklesiologie (s. Anm. 75), 206. 111 Dagegen aber D.C. SIM, The magi: Gentiles or Jews?, HTS 55 (1999), 980–1000: 997. 112 So z.B. DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 55), 249f.253; W. CARTER, Matthew and the Gentiles: Individual Conversion and/or Systemic Transformation?, JSNT 26 (2003– 2004), 259–282: 273f. 113 Ausführlich zu diesem Zitat R. BEATON, Isaiah’s Christ in Matthew’s Gospel, MSSNTS 123, Cambridge (UK) 2002.
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verankert und wird von ihm in den grundlegenden Gedanken eingestellt, dass sich die in der Schrift gegebenen Verheißungen in Jesus erfüllt haben. Die gezielte missionarische Zuwendung zu den Völkern trägt dieser neuen heilsgeschichtlichen Situation Rechnung. – Zu fragen ist dann, ob Matthäus die Zuwendung zu den Völkern des Näheren in einem bestimmten Aspekt seiner Jesusgeschichte begründet sieht. Damit komme ich zu dem zweiten Bereich: b) Konkret ist in diesem Zusammenhang nach der matthäischen Deutung von Tod und Auferweckung Jesu zu fragen. Die spezifische Zuwendung zu Israel findet ihren Niederschlag, wie gesehen, in dem irdischen Wirken des Davidssohns Jesus. Hier ist die Zuwendung zu den Völkern noch programmatisch ausgeschlossen (15,24), wenngleich das Heil in den Episoden in 8,5–13; 8,28–34 und 15,21–28 bereits extra ordinem auch Nicht-Juden zuteilwird. Basiert die Ausweitung des Heils auf die Völkerwelt in der matthäischen Konzeption auf der soteriologischen Deutung des Todes des Gottessohnes114 als Heilstodes, mit dem die Erfüllung der Verheißungen vollendet wird (vgl. Mt 26,54.56)? Ist, wie vielfach vertreten wurde, die Rede von den „Vielen“, für die das Blut Jesu zur Vergebung der Sünden vergossen wurde (Mt 26,28), universalistisch zu verstehen?115 M.E. ist diese Frage zu bejahen116 und dies darüber hinaus mit der oben skizzierten christologischen These zu verbinden, dass so, wie die von Matthäus betonte Davidssohnschaft Jesu der Erfüllung der Israel geltenden Verheißungen zugeordnet ist, die Universalität des Heils mit der Gottessohnschaft Jesu verbunden ist.117 Unmittelbar angeschlossen ist die Sendung zu den șȞȘ in Mt 28,18–20 an die Proklamation der Einsetzung des Auferweckten zum Weltenherrn (28,18b). Die universale Sendung erscheint als Konsequenz der universalen Herrscherstellung des Erhöhten. Dieser Aspekt ist allerdings schwerlich als Alternative zur oben aufgeworfenen Frage nach der soteriologischen Deutung des Todes Jesu als Begründungsfaktor für die Universalität der Heilszuwendung zu sehen, zumal Matthäus ohnehin Tod und Auferweckung Jesu zu einem Geschehenszusammenhang zusammengezogen hat.118
114 Zur Bedeutung des Gottessohnmotivs in der Passion s. KRAUS, Passion (s. Anm. 41) und KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 319–329. 115 So z.B. J.P. HEIL, The Death and Resurrection of Jesus. A Narrative-Critical Reading of Matthew 26–28, Minneapolis (MN) 1991, 38; CARTER, Storyteller (s. Anm. 83), 215.219; W.G. OLMSTEAD, Matthew’s Trilogy of Parables. The Nation, the Nations and the Reader in Matthew 21.28–22.14, MSSNTS 127, Cambridge 2003, 85. 116 Siehe KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 330. 117 Siehe oben S. 12f. 118 Siehe dazu die Einfügung von ਕʌૃ ਙȡIJȚ in 26,64 und die österliche Dimension, die Jesu Tod durch die Ereignisse in 27,51–53 erhält.
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Matthäus im Kontext
Wenn es richtig ist, dass die Sendung der Jünger zu allen Völkern in Mt 28,18– 20 mit der neuen heilsgeschichtlichen Situation verbunden ist, die mit der Kulmination der von Matthäus erzählten Geschichte der Erfüllung der Verheißungen in Tod, Auferweckung und Einsetzung Jesu zum Weltenherrn gegeben ist, dann wäre es angesichts dieses theologischen Begründungszusammenhangs meines Erachtens schwer verständlich, wenn die matthäische Gemeinde bloß die sonstige jüdische Praxis des Übertritts zum Judentum fortgesetzt haben soll. Geht man davon aus, dass Mt 28,18–20 nicht Menschen aus den Völkern im Blick hat, die vor ihrer Eingliederung in die ecclesia Juden werden müssen, bedeutet dies nach dem oben Gesagten allerdings in keiner Weise, dass die matthäischen Heidenchristen nicht von den paulinischen zu unterscheiden wären. Darauf hat z.B. Donald Senior mit Recht hingewiesen.119 Vielmehr ist die Stellung zur Tora deutlich eine andere: Die Auslegung sozialer Gebote der Tora durch Jesus, wie sie in den Antithesen exemplarisch ausgeführt wird, ist für Christusgläubige aus den Völkern so verpflichtend wie für jüdische Christusgläubige. Ferner begegnen ‚heidnische‘ Konvertiten in der matthäischen Gemeinde einer Version der Jesusgeschichte, die stark die Israelbezogenheit des Wirkens Jesu betont und herausstellt, dass Heidenchristen mit ihrem Eintritt in die ecclesia einer Heilsgeschichte inkorporiert werden, die bei Abraham, dem Stammvater Israels, ihren Anfang nahm und in der die Zuwendung zu den ‚verlorenen Schafen‘ Israels eine bleibende Aufgabe im Rahmen der eschatologischen Erneuerung des Gottesvolkes darstellt. Mit den Worten von Donald Senior: „Matthew anticipated those Gentiles who not only exhibit faith in Jesus but also understand that the Jewish character of Jesus and his teaching is essential to the gospel“120.
Wie weit die Integration von Nichtjuden zur Zeit der Abfassung des Evangeliums bereits vorangeschritten war, hängt von der, wie gesehen, nicht hinreichend sicher zu klärenden Frage ab, wann sich die Gemeinde mit welcher Intensität der Völkermission zugewendet hat. Daraus, dass sich die matthäische Gruppierung in einem Konkurrenzverhältnis zu den Pharisäern sieht und überhaupt das Judentum als primärer sozialer Kontext erscheint, kann man wohl folgern, dass es sich bei der matthäischen Gemeinde um eine zumindest mehrheitlich noch jüdisch geprägte Gruppierung handelt, ‚Heidenchristen‘ also die Minorität darstellen. Aber es lässt sich nicht sagen, wie groß diese Minorität ist, wie stark sie zur Zeit der Abfassung des Evangeliums wächst oder ob es sie überhaupt schon gibt. Perspektivisch aber bedeutet die den Jüngern in 28,16– 20 aufgetragene Völkermission – unabhängig davon, wo genau die matthäische Gruppe in diesem Prozess zur Zeit der Abfassung des Evangeliums steht – eine Entwicklung, die die Gemeinde im sich nach 70 neu formierenden Judentum sukzessive ins Abseits und schließlich aus dem Judentum hinausführen musste.
119 120
SENIOR, Between Two Worlds (s. Anm. 3), 20. Ebd.
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Diese These evoziert eine weitere Frage, nämlich die eingangs aufgeworfene Frage, ob die Metapher der muri überhaupt geeignet ist, um den historischen Kontext der matthäischen Gemeinde(n) adäquat zu beschreiben.
5. Die Problematik der Metapher der muri Die Alternative ‚extra muros‘ oder ‚intra muros‘ setzt voraus, dass eine eindeutige Zuweisung nicht nur möglich, sondern für das Verständnis auch hilfreich ist. Gegen die Verwendung einer solch statischen Metapher sprechen aber meines Erachtens mindestens zwei Gründe: Erstens dürfte die Antwort wesentlich eine Frage der (antiken und heutigen) Perspektive sein. Ob die Pharisäer in der christusgläubigen matthäischen Gruppierung noch eine, wenngleich in ihren Augen verfehlte, Form des Judentums gesehen haben, kann man zumal dann bezweifeln, wenn sich in ihr (eine signifikante Anzahl von) unbeschnittene(n) Heidenchristen befand(en).121 Dagegen hat Matthäus mit der von ihm vertretenen theologischen Position gerade nicht eine Abwendung vom Glauben Israels verbunden, sondern den Anspruch erhoben, dessen einzig adäquates Verständnis zu entfalten. Und sozial ist ‚das‘ Judentum offenbar sein primärer Lebenskontext. Zugleich hat sich für ihn freilich mit der österlichen Ausweitung der Heilszuwendung auf alle Völker Grundlegendes verändert. Die ecclesia ist für ihn – jedenfalls konzeptionell – nicht bloß Heilsgemeinde in Israel. Aus heutiger Perspektive ist die Antwort zum einen davon abhängig, wie man sich die interne Pluralität des Judentums nach 70 n.Chr. und insbesondere die Modi der Partizipation von interessierten Nicht-Juden am synagogalen Leben bzw. ihrer (partiellen) Integration in dieses vorstellt, zum anderen davon, wo genau man das Matthäusevangelium in der Entwicklung der völkermissionarischen Aktivitäten verortet. Wenn aber die Frage der Verortung elementar von der jeweiligen Perspektive abhängig ist,
121
Eine Detailbeobachtung ist hier anzufügen: In Mt 12,1–21 und 15,1–28 zieht sich Jesus nach einem Konflikt mit den Pharisäern zurück (12,15; 15,21), und es folgt jeweils ein Text, der die universale Dimension des Heils beleuchtet (in gewisser Weise kann man hier auch 4,12–16 einstellen). Dies ist nicht so zu verstehen, dass hier vorabgebildet werden soll, dass Jesus sich von Israel zurückzieht und den anderen Völkern zuwendet, denn 12,15 spricht vom ਕțȠȜȠȣșİȞ von ȤȜȠȚ ʌȠȜȜȠ. Aber die redaktionell gestaltete Wiederholung dieses ‚Schemas‘ könnte reflektieren, dass bei der Distanz der matthäischen Gemeinde zu den Pharisäern (und der von ihnen dominierten Synagoge) die Offenheit der ecclesia für Menschen aus den Völkern einen wichtigen Faktor bildete. Dazu kann man ferner darauf verweisen, dass es in 12,1–14; 15,1–20 mit Sabbat und Speisehalacha um wichtige jüdische Identitätsmerkmale geht.
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dann ist mit einer treffenden Formulierung von Knut Backhaus einzuwenden, dass die muri letztlich nicht mehr als „kognitive Wanderdünen“ sind.122 Die Leistungsfähigkeit der muri-Metapher für die Inblicknahme der sozialen Situation ist aber noch aus einem zweiten Grund begrenzt: Die intra/extra muros-Debatte greift als historische bzw. näherhin sozialgeschichtliche Frage insofern zu kurz, als sie dazu tendiert, das Verhältnis von matthäischer Gemeinde und Judentum isoliert von der Einbettung von Gemeinde wie Synagoge in den größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu betrachten. Ist die Mehrheitsposition richtig, dass das Matthäusevangelium dem syrischen Raum, möglicherweise des Näheren der Großstadt Antiochien oder auch einer Stadt im Süden Syriens, entstammt123, muss man sozialgeschichtlich weiter ansetzen. Und dies gilt eben umso mehr, als sich die matthäische Gemeinde in ihrer Mission auch an Nichtjuden wendet und sich dazu auf der Basis des Christusgeschehens als neuer Grundgeschichte des Heils ermächtigt sieht. Im Blick auf die intra/extra muros-Debatte bedeutet dies nämlich, dass, um im Bild zu bleiben, die muri, die das Judentum von den Völkern abgrenzen (vgl. EpArist 139), ihre konstitutive Bedeutung eingebüßt haben. Mir scheint es daher angeraten, auf die Metapher der muri oder auch die Alternative ‚innerhalb oder außerhalb‘ im Zusammenhang der Bestimmung des Verhältnisses der Gemeinde zum Judentum zu verzichten und ‚lediglich‘ festzuhalten: Das Judentum bildet den primären Lebenskontext der matthäischen Gemeinde, und näherhin ist die historische Situation, in die die matthäische Jesusgeschichte eingebettet ist, wesentlich durch den Konflikt zwischen den Christusgläubigen und der pharisäisch dominierten Synagoge geprägt.
6. Perspektiven Vor dem Hintergrund des vorangegangenen Überblicks sei abschließend versucht, Desiderata und mögliche Perspektiven für die weitere Forschung in den Blick zu nehmen: 1. Die Würdigung israelbezogener wie universalistischer Züge bei der Analyse der theologischen Konzeption und im Blick auf die soziale Verortung der matthäischen Gruppe: Die von J. Andrew Overman, Anthony Saldarini, David Sim und anderen vorgebrachte These, in dem Trägerkreis des Matthäusevangeliums eine toraobservante jüdische Gruppe zu sehen, bedeutet ein wichtiges 122
K. BACKHAUS, Entgrenzte Himmelsherrschaft. Zur Entdeckung der paganen Welt im Matthäusevangelium, in: „Dies ist das Buch ...“. Das Matthäusevangelium. Interpretation – Rezeption – Rezeptionsgeschichte (FS H. Frankemölle), hg. v. R. Kampling, Paderborn u.a. 2004, 75–103: 79. 123 Siehe oben S. 27.
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Korrektiv zu Lektüren des Evangeliums, die die starke Betonung der Zuwendung zu Israel wie überhaupt die große Bedeutung der ‚jüdischen Welt‘ (Schriftbezug, Auseinandersetzungen über das Verständnis der Tora, Konflikt mit den Pharisäern, d.h. mit einer anderen Interpretation jüdischen Glaubens und Lebens) im Blick auf die aktuelle Situation der Gemeinde unterbestimmt ließen. Zugleich ist aber zu den genannten Arbeiten anzumerken, dass hier umgekehrt der matthäische Universalismus nicht hinreichend gewürdigt wird. Eine ausgewogene Interpretation muss die Betonung der spezifischen Zuwendung zu Israel und die auffallend konsequent durchgeführte Differenzierung zwischen den (galiläischen) Volksmengen und den Autoritäten ebenso integrieren wie die nicht zu leugnenden oder zu marginalisierenden universalistischen Züge der matthäischen Jesusgeschichte. Das Matthäusevangelium entzieht sich damit einfachen Zuordnungen. Dem Faktum, dass verschiedene Aussagereihen (spezifisch israelbezogene wie universalistisch ausgerichtete) im Text auszumachen sind, ist in der Matthäusforschung, wenn ich recht sehe, bis jetzt freilich vorrangig mit Versuchen begegnet worden, zwischen den Aussagereihen zu gewichten und eine gegenüber der anderen dominant zu setzen – statt stärker zu fragen, wie beides in der theologischen Konzeption des Evangelisten miteinander vermittelt ist. Dem korrespondiert im Blick auf die soziale Verortung die Tendenz zur klaren Zuweisung im Rahmen der Alternative intra oder extra muros. Darf man voraussetzen, dass die Ausrichtung der missionarischen Aktivitäten, wie sie in der matthäischen Jesusgeschichte theologisch begründet wird, und der soziale Standort miteinander verkoppelt sind, dann folgt aus dem eben vermerkten Desideratum einer ausgewogenen Integration von israelbezogenen und universalistischen Aspekten in der Analyse und Darstellung der matthäischen Theologie im Blick auf die soziale Kontextualisierung, dass auch hier differenziertere Perspektiven zu entwickeln sind, die sowohl die Anbindung an die jüdische Lebenswelt als auch die Zuwendung zu Menschen aus den Völkern miteinander verbinden. 2. Die Einzeichnung des Matthäusevangeliums in die Binnendifferenzierung des antiken Judentums: Die Frage, wie ‚jüdisch‘ Matthäus in theologischer Hinsicht ist, ist in dieser allgemeinen Fassung kaum zielführend. Es ist vielmehr die Binnendifferenzierung des antiken Judentums zu beachten und zu fragen, wie sich die matthäische Position in dieses Spektrum einordnen lässt. Dies gilt insbesondere für das matthäische Toraverständnis, aber auch für den matthäischen Universalismus. Wenn man bei der Frage, inwiefern der matthäische Universalismus noch mit einer grundlegend jüdischen Prägung der matthäischen Gruppe vereinbar ist, weiterkommen will, muss man das Matthäusevangelium mit anderen frühjüdischen Entwürfen, die die Frage der Stellung der
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Völker aufnehmen124, abgleichen. Zum Toraverständnis ist insbesondere das Verhältnis zu frühjüdischen Formen katechismusartiger Toraunterweisung näher zu verfolgen, in denen ähnlich wie im Matthäusevangelium ein deutliches Zurücktreten ritueller Gebote und ein starker Fokus auf sozialethische Normen anzutreffen sind.125 Entsprechend ist die von Roland Deines kritisch gegen Tendenzen in der neueren Matthäusforschung aufgeworfene Frage: „is it plausible to think that Matthew wrote for the sake of a community […] that wanted the ‚sinners‘ whom Jesus called as his followers to become Law-observant in a way that the Pharisees or early rabbis would find acceptable?”126
in dieser Zuspitzung meines Erachtens zwar offenkundig zu verneinen, doch ist dies eben nicht gleichzusetzen damit, dass Matthäus für sich und seine Gruppe nicht in Anspruch genommen hat, gesetzesobservant zu sein. Es sind nach Meinung des Evangelisten ja gerade die Schriftgelehrten und Pharisäer, die erneutes Schriftstudium bitter nötig hätten (9,13; 12,3.5.7; 19,4; 21,42). Es kann dabei zudem nicht genug betont werden, dass in Mt 5,21–48 gerade zu den Gegenthesen Jesu frappierende Konvergenzen zu ethischen Tendenzen in frühjüdischen Schriften zu verzeichnen sind. Zu beachten ist schließlich, worauf der Judaist Karlheinz Müller mit Nachdruck hingewiesen hat: Im frühen Judentum wurde nicht nur die Sinaioffenbarung als etwas Offenes angesehen und die Halacha ohne Umschweife als in der Tora selbst geboten ausgewiesen, sondern man darf sich darüber hinaus die Halacha nicht einfach als eine am Wortlaut der Tora orientierte, festgelegten Auslegungsregeln gehorchende Exegese vorstellen. Es ist vielmehr eine nicht unbedeutende Abständigkeit der Halacha von der geschriebenen Tora zu verzeichnen, d.h. es konnte frühjüdisch recht großzügig als in der Tora geboten ausgegeben werden, was gar nicht in der Tora stand und zuweilen auch nicht ohne Weiteres aus ihr abzuleiten war. Grundlage der Halacha war denn auch weniger der Wortlaut der Tora als die Stoffe der Tora.127 Kurzum: Wenn man zur Frage der Stellung des Matthäus zum bzw. im Judentum weiterkommen will, ist die Matthäusfor-
124 Siehe dazu vor allem T.L. DONALDSON, Judaism and the Gentiles. Jewish Patterns of Universalism (to 135 CE), Waco (TX) 2007, ferner z.B. G. HOLTZ, Damit Gott sei alles in allem. Studien zum paulinischen und frühjüdischen Universalismus, BZNW 149, Berlin – New York 2007. 125 Vgl. dazu grundlegend K.-W. NIEBUHR, Gesetz und Paränese. Katechismusartige Weisungsreihen in der frühjüdischen Literatur, WUNT II.28, Tübingen 1987. 126 DEINES, Law (s. Anm. 98), 70. 127 Vgl. K. MÜLLER, Gesetz und Gesetzeserfüllung im Frühjudentum, in: Das Gesetz im Neuen Testament, hg. v. K. Kertelge, QD 108, Freiburg – Basel – Wien 1986, 11–27; K. MÜLLER,, Anmerkungen zum Verhältnis von Tora und Halacha im Frühjudentum, in: Die Tora als Kanon für Juden und Christen, hg. v. E. Zenger, HBS 10, Freiburg – New York 1996, 257–291.
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schung noch intensiver mit der Erforschung des antiken Judentums, insbesondere mit der Erforschung der sog. alttestamentlichen Pseudepigraphen, zu vernetzen. Die Wahrnehmung der Binnendifferenzierung des antiken Judentums hat zugleich Konsequenzen für die Bewertung der Signifikanz von ‚Parallelen‘ und ‚Analogien‘. David Sim hat sich zur Frage der Beschneidung auf das zu Mt 28,19 analoge Schweigen über die Beschneidung beim Zutritt zur Qumrangemeinde berufen128 und mit Recht festgehalten, dass daraus nicht zu schließen sei, dass es in der Qumran-Gemeinschaft unbeschnittene Mitglieder gegeben hat. Aber was besagt dies im Blick auf Mt 28,19? Repräsentieren Qumran und Matthäus nicht zwei völlig verschiedene frühjüdische Strömungen, auch wenn sich in Einzelfällen auch in den Qumrantexten erhellende ‚Parallelen‘ zu Texten des Matthäusevangeliums finden? Jedenfalls ist die Haltung zu den Völkern wie auch zur Tora in den Qumranschriften insgesamt sichtlich eine andere als im Matthäusevangelium. Zur näheren Situierung des Matthäus(evangeliums) in Bezug auf die innere Vielfalt antiker Gestalten des Judentums wären Einzelstudien wünschenswert, in denen theologische Themen des Matthäusevangeliums komparativ mit verschiedenen frühjüdischen Schriften als Repräsentanten unterschiedlicher Strömungen bzw. Gestalten des antiken Judentums in Beziehung gesetzt werden. Welchen Gestalten des antiken Judentums steht Matthäus nahe, welchen nicht? Gerade wenn man den Dissens zwischen der matthäischen Gemeinde und den Pharisäern (weitgehend) als einen innerjüdischen Konflikt meint begreifen zu können, ist zu fragen, inwiefern sich in den im Matthäusevangelium dokumentierten Konflikten anderweitig im antiken Judentum anzutreffende Spannungen fortsetzen. 3. Die stärkere Einbeziehung der Stellung der matthäischen Gruppe innerhalb des entstehenden Christentums: Eingangs ist darauf hingewiesen worden, dass die Diskussion um die Stellung der matthäischen Gruppe innerhalb des entstehenden Christentums erst in der letzten Dekade intensiver geführt wurde. Die Frage nach dem Verhältnis der matthäischen Gruppe zum Judentum lässt sich aber nur dann adäquat angehen, wenn sie nicht unabhängig von der innerchristlichen Situierung der matthäischen Gruppe verfolgt wird. Beide Bereiche sind miteinander zu vernetzen. Von Bedeutung dürfte insbesondere sein, das matthäische Gesetzesverständnis innerhalb des antiken Judentums und der frühchristlichen Bewegung einzuordnen. Auf die mögliche Kongruenz mit dem Gesetzesverständnis der Hellenisten ist oben hingewiesen worden, doch ist auch dies nur eine (zu prüfende) Option. Zwischen der Position des späten Paulus, wie sie in Gal/Röm
128
Siehe SIM, Christian Judaism (s. Anm. 8), 254.
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entgegentritt, und dem pharisäischen Toraverständnis liegt jedenfalls ein weites Feld. Matthäus dabei allzu nahe an das pharisäische Verständnis heranzurücken, ist meines Erachtens schon deshalb problematisch, weil in diesem Fall der scharfe Konflikt mit den Pharisäern, der im Matthäusevangelium gerade an der Gesetzesfrage dargestellt wird, kaum mehr verständlich wäre.129 Auf der anderen Seite ist es meines Erachtens aber auch nicht zielführend, die Bedeutung der Tora durch den Verweis auf die höhere Autorität Jesu zu marginalisieren.130 Denn es dürfte fraglich sein, ob Matthäus in dieser Hinsicht überhaupt in solchen hierarchischen Kategorien denkt. Der Akzent liegt eher darauf, die Kongruenz zwischen dem Wirken und Ergehen Jesu und den Schriften Israels auszuweisen.
129 Zur These von RUNESSON über die pharisäische Vorgeschichte der matthäischen Gruppe s. oben Anm. 32. 130 So die Tendenz bei FOSTER, Community (s. Anm. 10), 139 und öfter. Zu DEINES s. oben Anm. 98.
Das Matthäusevangelium als judenchristlicher Gegenentwurf zum Markusevangelium1 Die Annahme, dass das Matthäusevangelium judenchristlichen Kreisen entstammt, ist in der heutigen Matthäusforschung so gut wie unbestritten. Man wird sogar pointierter sagen müssen, dass das Matthäusevangelium nicht nur als Teil des neutestamentlichen Kanons ein Grundlagendokument des christlichen Glaubens darstellt, sondern in historischer Perspektive zugleich auch als ein Dokument der jüdischen Religionsgeschichte zu lesen ist. Mit dieser grundlegenden Verortung geht die ausgiebig und kontrovers diskutierte Frage einher, wie das Verhältnis der matthäischen Gemeinde(n) zum (sonstigen) Judentum genau zu bestimmen ist. Matthäus erzählt die Jesusgeschichte so, dass ein scharfer Konflikt zwischen Jesus und den jüdischen Autoritäten, allen voran den Pharisäern, hervortritt, in dem sich zweifelsohne die Auseinandersetzungen zwischen der matthäischen Gruppierung und den Pharisäern ihrer Tage spiegeln, die im Zuge der Neuformierungsprozesse des Judentums nach der Katastrophe des Jahres 70 jedenfalls in dem Matthäus umgebenden Judentum maßgeblichen Einfluss auf die synagogalen Gemeinschaften gewonnen haben.2 Sind diese Auseinandersetzungen mit Recht als zentrales Moment der Situation der matthäischen Gemeinde(n) und damit korrelierend als wesentlicher Einflussfaktor für die matthäische Neufassung der Jesusgeschichte herausgearbeitet worden, so ist allerdings zugleich ein anderer Bereich nicht zu übergehen, nämlich die in der jüngeren Forschung lange vernachlässigte Frage, in-
1
Überarbeitete und erweiterte Fassung meines Aufsatzes „Matthäus und Markus. Überlegungen zur matthäischen Stellung zum Markusevangelium“ (in: Jesus – Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft, hg. v. P. von Gemünden – D.G. Horrell – M. Küchler, NTOA 100, Göttingen 2013, 211–235). Eingeflossen sind Überlegungen, die ich in meiner Heidelberger Antrittsvorlesung am 17.10.2012 vorgetragen habe. Dieser ist auch der neue Titel des Beitrags entnommen. 2 Siehe dazu in diesem Band auf S. 3–42 den Beitrag „Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum“.
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Das MtEv als judenchristlicher Gegenentwurf zum MkEv
wiefern Matthäus mit seiner Art und Weise, die Jesusgeschichte neu zu erzählen, zugleich mit anderen frühchristlichen Strömungen interagiert und wie der Trägerkreis in das frühchristliche Spektrum einzuordnen ist.3 Zwei durch Aufsatzbände dokumentierte Tagungen an der Universität Tilburg haben die These diskutiert, dass das Matthäusevangelium gemeinsam mit der Didache und dem Jakobusbrief ein judenchristliches Milieu bezeugt, das als ein dritter markanter Traditionsstrang des entstehenden Christentums neben Paulus und Johannes zu gelten habe.4 Beachtung verdienen daneben Berührungen mit 1Petr (vgl. 1Petr 2,12 mit Mt 5,16 und 1Petr 3,14 mit Mt 5,10), die entweder auf literarische Benutzung des Matthäusevangeliums durch PseudoPetrus hindeuten5, so dass 1Petr der früheste Zeuge für die Benutzung des Matthäusevangeliums wäre, oder aber Hinweise auf eine engere traditionsgeschichtliche Beziehung geben, sofern beide unabhängig voneinander auf dieselben Traditionen zurückgreifen. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass in der neueren Forschung auf der einen Seite der vermeintliche ‚Paulinismus‘ des 1Petr kritisch hinterfragt und zuweilen, m.E. in der Tendenz mit Recht, in Abrede gestellt wurde6, und zugleich auf der anderen Seite die engen Berührungen zwischen 1Petr und dem Jak, der, wie angeführt, dem Matthäusevangelium theologisch wie traditionsgeschichtlich nahe steht, neu gewürdigt wurden. Die nähere Untersuchung des sich hier andeutenden Beziehungsgeflechts zwischen Mt, 1Petr und Jak stellt ein dringendes Forschungsdesiderat zur Erhellung der theologiegeschichtlichen Entwicklungen des entstehenden Christentums dar. – Kritisch ist m.E. die These einer antipaulinischen Ausrichtung von Matthäus zu sehen, die in der neuesten Matthäusforschung in einer Reihe von Aufsätzen von David Sim, zuletzt aber auch von Gerd Theißen vorgebracht wurde.7 Es lassen
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Einen wichtigen Impuls für die Aufnahme dieser Fragestellung setzte der von DAVID C. SIM und Boris REPSCHINSKI herausgegebene Sammelband „Matthew and His Christian Contemporaries“ (LNTS 333, London – New York 2008). 4 Siehe zum einen: H. VAN DE SANDT (Hg.), Matthew and the Didache: Two Documents from the Same Jewish-Christian Milieu?, Assen – Minneapolis (MN) 2005, zum anderen: H. VAN DE SANDT – J.K. ZANGENBERG, (Hg.), Matthew, James, and Didache: Three Related Documents in Their Jewish and Christian Settings, SBLSymS 45, Atlanta (GA) 2008. Zur Beziehung zwischen dem Jakobusbrief und dem Matthäusevangelium s. ferner M. KONRADT, Der Jakobusbrief im frühchristlichen Kontext. Überlegungen zum traditionsgeschichtlichen Verhältnis des Jakobusbriefes zur Jesusüberlieferung, zur paulinischen Tradition und zum 1Petr, in: The Catholic Epistles and the Tradition, hg. v. J. Schlosser, BETL 176, Leuven 2004, 171–212: 190–207, bes. 205–207. 5 Siehe dazu die Untersuchung von R. METZNER, Die Rezeption des Matthäusevangeliums im 1. Petrusbrief, Studien zum traditionsgeschichtlichen und theologischen Einfluß des 1. Evangeliums auf den 1. Petrusbrief, WUNT II.74, Tübingen 1995 sowie U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 103f. 6 Von Gewicht ist hier insbesondere die Monographie von J. HERZER, Studien über das Verhältnis des Ersten Petrusbriefes zur paulinischen Tradition, WUNT 103, Tübingen 1998. 7 D.C. SIM, The Gospel of Matthew and Christian Judaism. The History and Social Setting of the Matthean Community, Studies of the New Testament and Its World, Edinburgh 1998, 188–211; D.C. SIM, Matthew’s Anti-Paulinism. A Neglected Feature of Matthean Studies, HTS 58 (2002), 767–783; D.C. SIM, Matthew 7.21–23: Further Evidence of its AntiPauline Perspective, NTS 53 (2007), 325–343; G. THEISSEN, Kritik an Paulus im Matthäus-
Das MtEv als judenchristlicher Gegenentwurf zum MkEv
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sich weder hinreichend enge bzw. auffällige Konvergenzen im Wortlaut oder gar eindeutige (antithetische) Bezugnahmen auf Paulusbriefe aufweisen, noch lässt sich plausibel machen, dass spezifisch paulinische Positionen bzw. gar Paulusbriefe im Umfeld des Evangelisten Einfluss ausübten. Der erste Evangelist knüpft weder positiv an paulinische Theologumena an, noch ist er antipaulinisch gestimmt; er und sein Umfeld sind schlicht ‚unpaulinisch‘.8
Einen guten Startpunkt für die Verortung des Matthäusevangeliums auf der theologiegeschichtlichen Landkarte des entstehenden Christentums bietet auf der Basis der Zwei-Quellen-Theorie die Erörterung der Frage, was Matthäus’ Umgang mit seiner Markusvorlage über seinen theologischen Standort verrät. Es geht dabei nicht um die im Rahmen des synoptischen Problems vielverhandelten Fragen der sprachlichen und sachlichen Verbesserungen oder um Einzelfragen wie etwa Tendenzen bei der Bearbeitung der Wundergeschichten durch Matthäus. Es geht vielmehr darum, die Diskussion der Gründe, warum Matthäus bzw. der Kreis um den ersten Evangelisten nicht einfach das Markusevangelium weitertradierte, sondern sich der Mühe unterwarf, ausgehend von Markus die Jesusgeschichte selbst niederzuschreiben, auf die Ebene übergreifender theologischer Perspektiven zu heben. Das Spektrum möglicher Optionen sei holzschnittartig exponiert: 1. Matthäus stimmt dem Markusevangelium im Großen und Ganzen zu. Er will die markinische Fassung der Jesusgeschichte weiterführen, etwa indem er sie stofflich ergänzt und einzelne theologische Akzente deutlicher herausarbeitet bzw. aus der Situation seiner Adressaten resultierende Anliegen berücksichtigt. 2. Matthäus ist markuskritisch, wenn nicht antimarkinisch. Als dem Evangelisten und seinem Kreis das Markusevangelium bekannt wird, halten diese Markus in substantiellen Punkten für theologisch korrekturbedürftig. Matthäus hält das Markusevangelium daher für ungeeignet, um in seinen Gemeinden benutzt zu werden. Er wird durch das Markusevangelium nicht einfach zu einer Weiterführung der Idee, die Jesusgeschichte zusammenhängend niederzuschreiben, inspiriert, sondern er will Markus verdrängen.9
evangelium? Von der Kunst verdeckter Polemik im Urchristentum, in: Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte, hg. v. O. Wischmeyer – L. Scornaienchi, BZNW 170, Berlin – New York 2011, 465–490. 8 Siehe in diesem Band auf 69–94 den Beitrag „Matthäus als Zeuge eines unpaulinischen Christentums. Anmerkungen zur These einer antipaulinischen Ausrichtung des Matthäusevangeliums“ sowie ferner z.B. U. LUZ, Die Jesusgeschichte des Matthäus, NeukirchenVluyn 1993, 163f; P. FOSTER, Paul and Matthew: Two Strands of the Early Jesus Movement with Little Sign of Connection, in: Paul and the Gospels: Christologies, Conflicts and Convergences, hg. v. M.F. Bird – J. Willitts, LNTS 411, London – New York 2011, 86–114. 9 In diesem Sinn zuletzt D.C. SIM, Matthew’s Use of Mark: Did Matthew Intend to Supplement or to Replace His Primary Source?, NTS 57 (2011), 176–192 und J. SVARTVIK, Matthew and Mark, in: Matthew and His Christian Contemporaries, hg. v. D.C. Sim – B. Repschinski, LNTS 333, London – New York 2008, 27–49, ablehnend dagegen U. LUZ, Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte?, in: Biblischer
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Das MtEv als judenchristlicher Gegenentwurf zum MkEv
Ich gehe im Folgenden zunächst auf die erste Option ein, um dann in einem zweiten Teil die Bedeutung einiger theologischer Differenzen zu diskutieren.
1. Zur These einer grundsätzlichen Zustimmung von Matthäus zum Markusevangelium Die einschlägige Kommentarliteratur beschränkt die Frage nach dem Verhältnis von Matthäus und Markus häufig auf den literarkritischen Aspekt, dass (oder ob) das Markusevangelium (oder eine Markusrezension) Matthäus als Vorlage diente, ohne näher auf das theologische Verhältnis einzugehen. Dort, wo Letzteres doch geschieht, wird das Faktum, dass Matthäus das Markusevangelium als Grundlage seiner Jesusgeschichte benutzt hat, zuweilen als Indiz einer grundsätzlichen Wertschätzung genommen. Die makrostrukturelle Anlehnung an den markinischen Erzählfaden (jedenfalls von Mt 12,1 an) und die damit gegebene weitgehende Übernahme des markinischen Erzählstoffes impliziere, dass Matthäus mit dem Markusevangelium auch theologisch im Grundsatz konform ging.10 Text und theologische Theoriebildung, hg. v. S. Chapman – C. Helmer – C. Landmesser, BThSt 44, Neukirchen-Vluyn 2001, 53–76: 76. – Bei SIM und SVARTVIK ist die These einer gegenüber Markus kritischen Haltung des ersten Evangelisten mit der Annahme verbunden, dass das Markusevangelium von paulinischer Theologie beeinflusst sei (vgl. exemplarisch J. MARCUS, Mark 1–8. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 27, New York u.a. 2000, 73–75; W.R. TELFORD, The Theology of the Gospel of Mark, New Testament Theology, Cambridge 42006, 164–169). Da SIM für Matthäus zugleich eine antipaulinische Stoßrichtung postuliert (s. oben Anm. 7), erscheint seine These zur matthäischen Kritik an Markus zugleich als Fortsetzung seiner Annahme zum Antipaulinismus des ersten Evangelisten. Ich klammere im Folgenden bei der Analyse des Verhältnisses von Matthäus zum Markusevangelium die Frage der jeweiligen Stellung zu Paulus aus. Meine Skepsis gegenüber der These einer antipaulinischen Polemik im Matthäusevangelium ist oben bereits angeklungen. Zudem steht Markus m.E. keineswegs in unmittelbarer ‚Schülerschaft‘ von Paulus. Kenntnis des Völkerapostels und damit auch ein gewisser paulinischer Einfluss ist dann plausibel, wenn das Markusevangelium in Rom entstanden sein sollte (vgl. Anm. 37). Aber auch dann wäre das Markusevangelium nicht einfach als ein paulinisches Evangelium zu klassifizieren, doch ist dies hier nicht weiter zu entfalten. 10 Siehe z.B. D.A. HAGNER, Matthew 1–13, WBC 33A, Dallas (TX) 1993, lx („Since Matthew takes over so much of Mark, we may expect that he shares Mark’s theology“; die matthäische Bearbeitung der Vorlage wird dieser Basisannahme im Sinne der matthäischen Entfaltung seiner spezifischen theologischen Interessen zugeordnet); LUZ, Matthäusevangelium (s. Anm. 9), 70 (Matthäus habe „die ihm vorgegebene Jesusgeschichte des Markus so ernst genommen […], dass er kaum etwas daraus weggelassen hat.“); R.C. BEATON, How Matthew Writes, in: The Written Gospel, hg. v. M. Bockmuehl – D.A. Hagner, Cambridge 2005, 116–134: 120f, ferner auch J.K. RICHES, Conflicting Mythologies. Identity Formation in the Gospels of Mark and Matthew, Studies of the New Testament and Its World, Edinburgh 2000, 305.
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Zuletzt hat Andrew Doole in seiner Marburger Dissertation diesen Ansatz ausführlich zu begründen versucht:11 „That Mark’s gospel is for Matthew the accepted record of Jesus’ life is shown in his general adherence to its order and content“12.Die von Matthäus vorgenommenen Änderungen reflektieren seines Erachtens nicht „theological dissatisfaction“13;vielmehr gelte: „Matthew […] succeeds Mark and confirms it as the central text in the Christian movement.“14 Mehr noch: Doole nimmt die These von John P. Meier auf, „that Mark became the written gospel used in the liturgy, catechesis, apologetics, and polemics of Matthew’s church“ 15, und geht davon aus, dass das Markusevangelium in der matthäischen Gemeinde fest verankert war16 und die matthäische Bearbeitung des Markusevangeliums einen Fortschreibungsprozess innerhalb der Gemeinde reflektiere.17 Letzteres trifft sich mit der Annahme von Ulrich Luz, dass das Markusevangelium vor der Niederschrift des Matthäusevangeliums von christlichen Schriftgelehrten bearbeitet worden sei.18 Luz sieht allerdings in der Logienquelle die angestammte Tradition des matthäischen Kreises, während das Markusevangelium später von außen in die matthäische Gemeinde hineingekommen sei.19 Doole zufolge verhält es sich dagegen genau anders herum: Das Markusevangelium bilde die angestammte Tradition; Q sei später von außen hinzugekommen.20 Bei näherem Hinsehen sind allerdings beide Hauptsäulen der These, dass Matthäus dem Markusevangelium eine hohe Wertschätzung entgegengebracht habe, nämlich 1. das Argument der makrostrukturellen Korrespondenz und 2. das der weitgehenden Übernahme des Markusstoffes, nicht tragfähig. 11
J.A. DOOLE, What was Mark for Matthew? An Examination of Matthew’s Relationship and Attitude to his Primary Source, WUNT II.344, Tübingen 2013. Auf dieser Linie auch A.M. O’LEARY, Matthew’s Judaization of Mark. Examined in the Context of the Use of Sources in Graeco-Roman Antiquity, LNTS 323, London – New York 2006 (s. zu O’LEARY unten Anm. 41). 12 DOOLE, Mark (s. Anm. 11), 11 . Vgl. a.a.O., 24: „That Mark’s Gospel is the primary source text for Matthew is seen in the fact that it is almost wholly reproduced, rarely neglected, constantly improved and consistently followed.“ 13 DOOLE, Mark (s. Anm. 11), 12. 14 DOOLE, Mark (s. Anm. 11), 12. 15 J.P. MEIER, Antioch, in: R.E. Brown – J.P. Meier, Antioch and Rome. New Testament Cradles of Catholic Christianity, New York 1983, 12–86: 52. 16 DOOLE, Mark (s. Anm. 11), 38. 17 DOOLE, Mark (s. Anm. 11), 34f. 18 LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 5), 83f.86. 19 LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 5), 89–91. Siehe zu dieser These auch J.M. ROBINSON, The Matthean Trajectory from Q to Mark, in: Ancient and Modern Perspectives on the Bible and Culture (FS H.D. Betz), hg. v. A. Yarbro Collins, Atlanta (GA) 1998, 122–154: 123–130. 20 DOOLE, Mark (s. Anm. 11), 47–80. – Immerhin rechnet aber auch LUZ Markus zu den „theologischen ‚Väter[n]‘“ von Matthäus (Evangelium nach Matthäus I5 [s. Anm. 5], 79).
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1.1 Das Argument der makrostrukturellen Korrespondenz Das Argument, dass das Markusevangelium die narrative Anlage des Matthäusevangeliums im Ganzen bestimme, ist nicht sinnvoll zu bestreiten. Des Näheren zeigt schon ein oberflächlicher Blick in die Synopse, dass Matthäus der Perikopenreihenfolge ab Mt 12,1 relativ eng folgt. Aber was genau besagt dies? Das Markusevangelium ist, soweit erkennbar, Matthäus’ einzige Quelle, die einen narrativen Gesamtfaden bot. Der Verweis darauf, dass Matthäus Q in Mk einarbeitete und nicht umgekehrt, ist schon insofern im Blick auf das theologische Verhältnis von Matthäus zu Markus nicht belastbar, als Markus gar nicht in Q hätte eingearbeitet werden können.21 Matthäus hatte, was die narrative Gesamtanlage betrifft, nur die Alternative, entweder dem Markusfaden im Großen und Ganzen zu folgen oder (begrenzt durch die vorgegebenen Daten der Vita Jesu) einen ganz eigenen Aufriss zu kreieren. Letzteres lag Matthäus offenkundig fern, doch steht der engen Anlehnung an den Markusfaden ab 12,1 immerhin zur Seite, dass sich der erste Evangelist bekanntlich in den vorangehenden Kapiteln größere kompositorische Freiheiten genommen hat.22 Zudem werden in Mt 1–11 wichtige inhaltliche Weichen gestellt, so dass mit Luz darauf hinzuweisen ist, dass „erst auf der Basis von Kap. 1-11 […] das [von Matthäus] neu erzählte Mk-Evangelium ‚matthäisch‘ gelesen werden“23 kann.24 21 Hingegen postuliert ROBINSON, Trajectory (s. Anm. 19), 123–126, dass in Mt 3–11 Markus in Q eingearbeitet sei. Allerdings ist auch hier die makrostrukturelle Basis von Markus sichtbar. Die Bergpredigt etwa ist von Matthäus genau an der Stelle eingefügt, an der im Markusfaden erstmals von der (synagogalen) Lehre Jesu die Rede ist (Mk 1,21). Entsprechend nimmt Matthäus am Ende der Bergpredigt in Mt 7,28f den Markusfaden in Mk 1,22 wieder auf. 22 Das Lukasevangelium weist insgesamt weniger Perikopenumstellungen auf! 23 LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 5), 35. 24 Matthäus folgt hier deutlich seiner eigenen makrostrukturellen Konzeption: Eingefasst durch die beiden Summarien in 4,23(–25) und 9,35 bietet er in 5,1–9,34 eine exemplarische Präsentation der vollmächtigen Lehre und des vollmächtigen Wirkens Jesu, die durch zwei aufeinander bezogene Jüngertexte, nämlich die Berufung der ersten Jünger (zu Menschenfischern [s. 4,19]!) und die Aussendung der Zwölf, gerahmt und durch 4,17 programmatisch eingeführt ist. Mit der aus Q stammenden Anfrage des Täufers in Mt 11,2–6 schließt dann ein weiterer Hauptteil an, in dem die Frage nach der Identität Jesu und die unterschiedlichen Reaktionen auf sein Wirken bei den Autoritäten, den Volksmengen und den Jüngern in den Vordergrund rücken; durch das Petrusbekenntnis in 16,13–20 findet die Täuferfrage ihre Antwort. Dabei hat Matthäus zugunsten seiner eigenen makrostrukturellen Konzeption in 4,17–11,1 + 11,2–16,20 zum Beispiel Mk 2,1–3,6 dekomponiert, weil er für den in Mk 2,1– 22 gebotenen Stoff im Rahmen seiner Komposition in 8,1–9,34 Verwendung fand (9,1–17), während die Sabbatperikopen (Mt 12,1–14 par Mk 2,23–3,6) im Rahmen von Mt 11,2–16,20 dazu dienen, den Konflikt mit den Autoritäten auszuarbeiten (s. dazu M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 118–130). Dem steht natürlich zur Seite, dass Matthäus anderorts die makrostrukturellen Vorgaben von Markus unverändert seinen eigenen kompositorischen Intentionen einfügen konnte bzw. durch Markus auch Anregungen zur kompositionellen Gestaltung erhalten hat. 16,21–20,34
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Gewichtiger als der Sachverhalt, dass Matthäus dort, wo es ihm sachlich angezeigt erschien, keine Scheu hatte, kompositorisch eigene Wege zu gehen, ist allerdings, dass die Übernahme von Markusstoff in der bei Markus vorliegenden Akoluthie in keiner Weise ausschließt, dass Matthäus die theologische Ausrichtung seiner Vorlage signifikant geändert hat. Ein gutes Beispiel dafür bietet die matthäische Bearbeitung von Mk 7,1–8,9. Im Markusevangelium vollzieht sich in 7,1–8,9 ein Umbruch, mit dem Menschen aus den Völkern in das Heilshandeln Jesu einbezogen werden.25 Mit der Aufhebung der Speisegebote in 7,1–23 fällt ein zentrales Instrument der Abgrenzung Israels von den Völkern dahin. Die sich anschließende Heilung der Tochter der Syrophönizierin (7,24–30) bildet dann, nachdem Jesu anfängliche Ablehnung überwunden ist (7,27–30), den Auftakt zu einem größeren, ‚Heiden‘ zumindest einschließenden Wirken Jesu, denn Markus lässt Jesus in 7,31–8,9 in vornehmlich ‚heidnischen‘ Gebieten wirken: Jesus zieht durch Sidon und begibt sich schließlich in die Dekapolis (7,31), wo man sich neben der Heilung des Taubstummen (7,31–37) offenbar auch die sich in 8,1–9 anschließende Speisung der 4000 zu denken hat.26 Den markinischen Erzählduktus kann man daher als narrative Umsetzung des ʌȡIJȠȞ in Jesu Wort an die Syrophönizierin in 7,27 verstehen: Erst sind die Kinder Israels satt geworden; danach ist auch den ‚Heiden‘ das Heil zuteil geworden. Die Einbeziehung der Völker in das Heil findet also schon während des irdischen Wirkens Jesu statt. Matthäus folgt hier der markinischen Perikopenfolge; dennoch hat er der Komposition eine von Markus grundlegend abweichende Ausrichtung gegeben. Erstens bearbeitet Matthäus Mk 7,1–23 in einer Weise, dass von einer Abrogation der Speisegebote keine Rede sein kann (ich komme darauf zurück). Zweitens wird Mk 7,24–30 einer grundlegenden Revision unterzogen.27 Dass Jesus im Anschluss an die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten und Pharisäern sich in das (oder in Richtung des) Gebiet(s) von Tyros und Sidon begibt, verfolgt nicht das Ziel, dort zu wirken, sondern dient, wie das in diesem Zusammenhang ‚technisch‘ gebrauchte Verb ਕȞĮȤȦȡİȞ anzeigt28, dazu, sich vor den feindseligen Autoritäten in Sicherheit zu bringen. Entsprechend kehrt der matthäische Jesus auch nicht wie in Mk 7,24 in ein Haus ein. Zur Begegnung mit der Kanaanäerin kommt es, während Jesus mit seinen Jüngern, ohne mit der dreifachen Abfolge von Leidens- und Auferweckungsankündigung und anschließender Jüngerbelehrung bietet dafür ein eindrückliches Beispiel. 25 Vgl. zum Folgenden z.B. Z. KATO, Die Völkermission im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, EHS.T 252, Bern – Frankfurt a.M. – New York 1986, 81–100; A. FELDTKELLER, Identitätssuche des syrischen Urchristentums. Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum, NTOA 25, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1993, 28–30. 26 Jedenfalls folgt erst in Mk 8,10 wieder eine neue Ortsangabe. 27 Zu Details s. KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 63–70. 28 Siehe neben Mt 15,21 noch 12,15; 14,13 sowie auch 2,12.13.14.22; 4,12.
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die Frau zunächst zu beachten, seines Weges zieht. Die Ablehnung ihrer Bitte wird nicht nur breiter entfaltet, sondern auch grundsätzlicher begründet: An die Stelle des markinischenȱʌȡIJȠȞȱtritt das exklusive Sendungslogion in 15,24: ȅț ਕʌİıIJȜȘȞ İੁ ȝ İੁȢ IJ ʌȡંȕĮIJĮ IJ ਕʌȠȜȦȜંIJĮ ȠțȠȣ ıȡĮȜ. Drittens aber und vor allem lässt Matthäus Jesus nach der am Ende aufgrund des Arguments der Kanaanäerin (V.27) doch noch gewährten Heilung nicht durch Sidon und in die Dekapolis weiterziehen, sondern sofort nach Galiläa zurückkehren und dort im Sinne seiner Sendung weiterwirken. 29 Entsprechend ist auch die Speisung der 4000 (15,32–39) bei Matthäus wieder als eine Speisung jüdischer Volksmengen zu lesen. Damit ergibt sich in der matthäischen Sequenz eine gegenüber Mk 7,1–8,9 grundlegend veränderte Stoßrichtung: Matthäus erzählt nicht die Öffnung der Heilszuwendung auf die Völker hin, die bei ihm erst nach und auf der Basis von Tod und Auferstehung Jesu erfolgt, sondern stellt heraus, dass Jesus auch nach der Begegnung mit der Kanaanäerin fortfuhr, den Kindern Israels das Brot zu reichen30, während die Heilung der Tochter der Kanaanäerin als extra ordinem geschehen ausgewiesen wird. Damit geht einher, dass dem Thema der Zuwendung Jesu zu Israel bei Matthäus eine gegenüber Markus wesentlich größere, ja programmatische Bedeutung zukommt. Dieses Beispiel zeigt, dass die Anlehnung an den markinischen Erzählfaden nicht eo ipso bedeutet, dass Matthäus sich die theologischen Perspektiven von Markus zu eigen gemacht hat. Matthäus prägt der Komposition vielmehr seinen eigenen Willen auf, und dieser kann, wie gezeigt, von Markus bedeutsam divergieren. 1.2 Das Argument der Übernahme des markinischen Stoffes und dessen vorredaktioneller Fortschreibung Inwiefern kommt aber in der weitgehenden Übernahme des von Markus gebotenen Stoffes zum Ausdruck, dass Matthäus seiner Markusvorlage mit hoher Wertschätzung gegenübergetreten ist? Im Grundsatz gilt hier dasselbe wie zur makrostrukturellen Korrespondenz: Mit der Übernahme des Stoffes ist nicht eo ipso verbunden, dass Matthäus theologisch mit Markus konform geht. Entscheidend ist, in welchem Verhältnis die matthäischen Versionen des gemeinsamen Stoffes zu den markinischen stehen, und hier zeigt sich, dass sich zwar auf der einen Seite eine Reihe von Themen identifizieren lässt, bei denen eine 29 Mit ʌĮȡ IJȞ șȜĮııĮȞ IJોȢ īĮȜȚȜĮĮȢ in Mt 15,29 kann in Analogie zu den beiden weiteren Vorkommen der Wendung im Matthäusevangelium (4,18; 13,1 [hier ohne IJોȢ īĮȜȚȜĮĮȢ]), wo jeweils eindeutig die galiläische Seite des Sees Genezareth gemeint ist, und angesichts der Streichung der ‚heidnischen‘ Gebiete aus Mk 7,31 zweifelsohne nur gemeint sein, dass Jesus unmittelbar nach Galiläa zurückkehrt. 30 Vgl. schon H.J. HOLTZMANN, Das Evangelium nach Matthäus, in: Ders., Die Synoptiker, HC 1.1, Tübingen – Leipzig 31901, 185–299: 255.
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elementare Übereinstimmung zwischen Matthäus und Markus zu diagnostizieren ist – die passionstheologische Ausrichtung von Markus etwa gilt mutatis mutandis auch für Matthäus, und christologisch ist nicht nur für Markus, sondern auch für Matthäus die Gottessohnschaft ein Leitmotiv31, auch wenn zugleich zu konstatieren ist, dass Matthäus in der konzeptionellen Ausgestaltung eigene Akzente setzt.32 Auf der anderen Seite kann man aber beobachten, dass Matthäus keineswegs nur seiner Vorlage folgt oder sie interpretiert, sondern sie auch bedeutsam korrigiert bzw. theologisch so substantiell umarbeitet, dass dies nicht als Weiterführung von Markus klassifiziert werden kann. Ich werde dies unten an für Matthäus zentralen Themen exemplarisch aufweisen. Zuvor ist aber in diesem Zusammenhang auf die Frage einzugehen, inwiefern die bei Matthäus innerhalb von Markusperikopen anzutreffenden Stoffergänzungen – wie z.B. im Falle von Mt 12,5–7.11f; 14,28–31 – einen inner- und vormatthäischen Fortschreibungsprozess zu dokumentieren vermögen, der auf eine Verankerung des Markusevangeliums in der matthäischen Gemeinde verweist. Die Indizien sind m.E. in keiner Weise hinreichend belastbar. Denn selbst dann, wenn es so sein sollte, dass etwa die oben genannten Einfügungen nicht suffizient der matthäischen Redaktion zugeschrieben werden können (was im Einzelfall zu prüfen ist), bedeutete es eine problematische Reduktion der Komplexität der Überlieferungsprozesse, wenn man als Alternative allein eine vorredaktionelle Fortschreibung des Markusevangeliums in den Blick nimmt. In der jüngeren Synoptikerforschung ist verschiedentlich und mit Recht auf das Gewicht mündlicher Überlieferung für die hinter den Evangelien stehenden Prozesse hingewiesen worden.33 Die Annahme geprägter mündlicher Tradition bietet zwar keinen hinreichenden Ansatz für eine umfassende Erklärung der Entstehung der Synoptiker und damit keine Alternative zur Zwei-Quellen-Theorie, der als Grundlage der Lösung des synoptischen Problems m.E. weiterhin zu folgen ist. Aber ebenso wenig lassen sich die Entstehungsprozesse als rein literarische begreifen. Mit der Abfassung des Markusevangeliums ein abruptes Abbrechen der mündlichen Überlieferung zu verbinden (und zwar nicht nur im
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Siehe exemplarisch zum einen C. BREYTENBACH, Grundzüge markinischer Gottessohn-Christologie, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach – H. Paulsen, Göttingen 1991, 169–184, zum anderen U. LUZ, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach – H. Paulsen, Göttingen 1991, 221–235: 231–234. 32 Dies gilt zum einen für die Betonung des Gehorsamsmotivs (dazu LUZ, Skizze [s. Anm. 31], 231f), aber auch für das Gewicht des Motivs, dass Jesus als Gottessohn an göttlicher Vollmacht partizipiert (s. dazu in diesem Band den Beitrag „Die Taufe des Gottessohnes. Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium“, 212–215). 33 Siehe exemplarisch J.D.G. DUNN, Altering the Default Setting: Re-envisaging the Early Transmission of the Jesus Tradition, NTS 49 (2003), 139–175.
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markinischen Kontext, sondern auch anderorts), wäre zweifelsohne eine absurde Annahme.34 Damit aber ist die Frage nach dem Einfluss vor- bzw. nebenmarkinischer mündlicher Überlieferung auf Matthäus und seinen Kreis aufgeworfen. Für die These, dass das Markusevangelium in Syrien abgefasst wurde, wird unter anderem die breite Zugänglichkeit von Jesustradition als Indiz vorgebracht.35 Für das Matthäusevangelium, über dessen Entstehung im syrischen Raum ein magnus consensus besteht, müsste man diese Zugänglichkeit in gleicher Weise gelten lassen.36 Ist das Markusevangelium in Rom entstanden37, müsste man einen breiten Strom an Jesustradition sogar für den Westen des Reiches voraussetzen – und damit erst recht für den syrischen Raum von Matthäus. So oder so folgt aus dieser Überlegung, dass prinzipiell damit zu rechnen ist, dass der von Markus gebotene Stoff oder zumindest ein Großteil davon dem ersten Evangelisten und seiner Gemeinde längst vertraut war, bevor sie Bekanntschaft mit der markinischen Jesusgeschichte machten.38 Vom Markusevangelium geht dann der Impuls aus, eine eigene Darstellung der Jesusgeschichte anzugehen. Ist dies im Ansatz richtig, dann bieten Texte wie Mt 12,5–7 oder 14,28–31, sofern es sich hier um vorredaktionelle Passagen handelt, in keiner Weise ein zwingendes Indiz für eine längere Geschichte der Beheimatung des Markusevangeliums in der matthäischen Gemeinde. Mindestens ebenso gut kann es sich um zum Markusevangelium parallele Traditionsentwicklungen handeln, die dann beim literarischen Prozess der Redaktion des Markusevangeliums eingeflossen sind. Man muss aber nun noch einen entscheidenden Schritt weitergehen und auf dem Hintergrund der vorangehenden Ausführungen der Frage nachgehen, warum Matthäus nicht einfach die Verbreitung des Markusevangeliums in seinem 34 Vgl. DUNN, Default Setting (s. Anm. 33), 171. – Die Frage, inwiefern mit sekundärer Oralität zu rechnen ist (s. dazu S. BYRSKOG, Story as History – History as Story. The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History, WUNT 123, Tübingen 2000, 107–144), kann hier offen bleiben. 35 Siehe z.B. G. THEISSEN, Das Neue Testament, Beck Wissen 2192, München 22004, 64f; I. BROER – H.-U. WEIDEMANN, Einleitung in das Neue Testament, Würzburg 32010, 93f. 36 Diese Überlegung gilt in gleicher Weise, wenn das Matthäusevangelium, wie in der neueren Matthäusforschung als Alternative zu Syrien verschiedentlich erwogen wurde, in Galiläa entstanden sein sollte (s. die in KONRADT, Israel [s. Anm. 24], 388, Anm. 46 Genannten sowie W. KRAUS, Zur Ekklesiologie des Matthäusevangeliums, in: The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity, hg. v. D. Senior, BETL 243, Leuven – Paris – Walpole (MA) 2011, 195–239: 238f). 37 So z.B. M. EBNER, Das Markusevangelium, in: Einleitung in das Neue Testament, hg. v. M. Ebner – S. Schreiber, KStTh 6, Stuttgart 2008, 154–183: 171f. 38 Vgl. wiederum DUNN, Default Setting (s. Anm. 33), 171: „when Matthew received Mark’s Gospel, are we to assume that this was the first time Matthew or his church(es) had come across this tradition? Of course not.“ Siehe auch a.a.O., 172.
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Umfeld unterstützt hat, sondern sich der Aufgabe unterzog, eine eigene Darstellung zu verfassen. Vergleicht man die theologischen Positionen der beiden Evangelien miteinander, drängt sich m.E. als Antwort auf, dass er keineswegs nur das Markusevangelium um den ihm darüber hinaus zur Verfügung stehenden Überlieferungsstoff ergänzen sowie auf die Bedürfnisse seiner Adressaten zuspitzen (und in diesem Zuge hier und da verbessern) wollte. Vielmehr zeigt sich die matthäische Neufassung der Jesuserzählung in mehreren thematischen Bereichen als eine deutliche Kritik an der markinischen Darstellung, und dabei handelt es sich nicht um theologische Adiaphora, sondern um Aspekte, die für Matthäus Kernthemen darstellen. Ich möchte dies im Folgenden an einem Spektrum von drei Hauptthemen skizzieren, nämlich 1. dem Gesetzesverständnis, 2. der Christologie und 3. dem Jüngerverständnis und damit der Darstellung des Zwölferkreises. Im Blick auf das im Folgenden zugrunde gelegte Verständnis des Matthäusevangeliums greife ich verschiedene frühere Studien auf, auf die zugleich für ausführliche exegetische Begründungen verwiesen sei.39 Mir geht es hier darum, die in diesen entwickelte Interpretation auf die Frage des theologischen Verhältnisses des ersten Evangelisten zum Markusevangelium zu beziehen.
2. Matthäus’ Korrektur markinischer Positionen 2.1 Bedeutung und Verständnis der Tora Fragt man nach der Bedeutung der Tora im Markusevangelium, so ist bekanntlich ein Fehlbestand zu notieren. Das Wort ȞંȝȠȢ kommt bei Markus nicht vor. Gleichwohl gibt es einschlägige Texte zur Gesetzesthematik. Dabei zeigt sich, kurz gesagt, eine doppelte Relativierung der Toragebote, die zugleich verständlich werden lässt, warum sich Markus nie auf die Tora als eine übergeordnete Gesamtgröße bezieht. Zum einen ist eine grundsätzliche Außerkraftsetzung der Speisegebote zu notieren (Mk 7,19), mit der ein zentrales Instrument des Judentums zur Abgrenzung von der paganen Welt (s. exemplarisch EpArist 139– 142; Jub 22,16) aufgehoben ist. Die in Mk 2,23–3,6 zutage tretende Wertung des Sabbats ergänzt diesen Befund: Das rituelle Zeichensystem des Judentums ist für Markus nicht mehr von Gewicht. Zum anderen wird aber auch die Bedeutung der den zwischenmenschlichen Bereich betreffenden Gebote relativiert: Die sozialen Gebote der Tora wie die zweite Tafel des Dekalogs und das Nächstenliebegebot formulieren (nicht mehr als) eine ethische Basisstufe. Ihre
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Siehe die Literaturnachweise im Folgenden.
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Befolgung ist notwendig, aber nicht ausreichend, wie Mk 10,17–2240 und 12,28–34 gleichermaßen deutlich machen. Dem reichen Mann in 10,17–22, der angibt, die zuvor zitierten Gebote erfüllt zu haben, bedeutet Jesus, dass ihm noch etwas fehlt; entscheidend ist, dem Ruf in die Nachfolge Folge zu leisten, was in diesem Fall den Verkauf der gesamten Habe zugunsten der Armen einschließt. In 12,28–34 besteht zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten ein freundliches Einvernehmen darüber, dass den Geboten der Gottes- und der Nächstenliebe der Vorrang vor allen anderen Geboten gebührt. Aber für den Schriftgelehrten bedeutet diese Einsicht nicht mehr als das, dass er nicht fern vom Reich Gottes ist. Um nicht nur nicht fern zu sein, sondern hineinzugelangen, bedarf es, wie 10,17–22 zeigt, eines weiteren Schrittes: des Eintritts in die Nachfolge Jesu.
Festzuhalten ist also: Bedeutung haben für Markus nur noch soziale Gebote der Tora, aber auch ihre Relevanz ist eingeschränkt, denn ihre Befolgung ist soteriologisch zwar notwendig, aber nicht suffizient. Die Distanz, die Markus insgesamt zur Tora hat, kommt exemplarisch in Mk 10,3 zum Ausdruck, wo Jesus auf die Frage der Pharisäer nach der Ehescheidung antwortet: „Was hat Mose euch geboten?“ Die Tora erscheint – zumindest vorranging – als Buch der Gegner Jesu. Ihnen hat Mose wegen ihrer Herzenshärte die Ehescheidung erlaubt. Der eigentliche Gotteswille ist das Gebot des Mose nach Jesus in diesem Fall nicht. Matthäus hat beide Säulen der markinischen Relativierung der Tora als grundlegend falsch angesehen.41 Mk 7,1–23 ist einer grundlegenden Bearbeitung unterzogen worden.42 Matthäus lässt die Kontroverse um das Händewaschen vor dem Essen nicht in eine prinzipielle Außerkraftsetzung der Speisegebote einmünden; eine solche stünde im matthäischen Kontext im Widerspruch zu 5,18. Das markinische Kommentarwort, Jesus habe alle Speisen für rein erklärt (Mk 7,19c), ist von Matthäus getilgt worden. Stattdessen lenkt der
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Vgl. dazu H. LÖHR, Jesus und der Nomos aus der Sicht des entstehenden Christentums. Zum Jesus-Bild im ersten Jahrhundert n. Chr. und zu unserem Jesus-Bild, in: Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, hg. v. J. Schröter – R. Brucker, BZNW 114, Berlin – New York 2002, 337–354: 346; B. REPSCHINSKI, Nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen. Das jüdische Gesetz in den synoptischen Jesuserzählungen, FzB 120, Würzburg 2009, 192f. 41 Zum Toraverständnis als zentralem Dissenspunkt zwischen Markus und Matthäus (allerdings mit einer Konzentration allein auf den ‚rituellen‘ Bereich) s. auch SIM, Use (s. Anm. 9), 180f.185f und SVARTVIK, Matthew (s. Anm. 9), 36–41. O’LEARY, Judaization (s. Anm. 11), 136–171 hingegen verhandelt unter den Leitwörtern „Judaization“ und „Torahizing“ allein das Faktum, dass Matthäus Schriftbezüge gegenüber Markus signifikant verstärkt hat. Dass Matthäus zur Geltung und Bedeutung der Tora als Ausdruck des Willens Gottes und ethischen Orientierungspunkts eine deutlich andere Position bezieht als Markus, kommt hier überhaupt nicht in den Blick. 42 Ausführlicher zu den Details der Bearbeitung von Mk 7,1–23 s. in diesem Band den Beitrag „Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium“, 343–346.
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matthäische Jesus zum Abschluss seiner Belehrung ausdrücklich auf das Eingangsthema, das Essen mit ungewaschenen Händen, zurück (Mt 15,20b), womit der erste Evangelist deutlich zu machen sucht, dass er die Bestreitung der Verunreinigung des Menschen durch das, was von außen in den Mund hineingeht (V.11.17), allein auf das Essen mit ungewaschenen Händen bezogen wissen möchte – und dies ist, wie Matthäus weiß, erstens kein Gebot der Tora und zweitens, anders als Mk 7,3 insinuiert, nicht einmal ein von allen Juden praktizierter Brauch, denn er selbst würde (wie wohl die Mehrzahl der Gemeindeglieder in seinem Umfeld) kaum unterschreiben, kein Jude zu sein. Für Matthäus handelt es sich vielmehr um eine Sonderlehre der pharisäischen Überlieferung.43 Mt 15,1–20 bezeugt also zwar eine klare Überordnung der sozialen Gebote (V.18–20) über Reinheitsfragen in der matthäischen Gesetzeshermeneutik, die für diese insgesamt charakteristisch ist44, aber der erste Evangelist vertritt gerade nicht eine prinzipielle Abrogation der Reinheitstora.45 Ein dazu analoger Befund zeigt sich bei der Bearbeitung der markinischen Sabbatperikopen in Mt 12,1–14 par Mk 2,23–3,6. Es genügt hier darauf hinzuweisen, dass Matthäus nicht nur durch die Erwähnung des Hungers der Jünger anzeigt, dass die Jünger nicht mutwillig, sondern begründet den Sabbat gebrochen haben, sondern durch die Einfügung von Mt 12,5–7 die Legitimität dieser Übertretung aus der Schrift selbst begründet. Denn wenn schon der Opferkult dem Sabbat übergeordnet ist (V.5), dann gilt dies umso mehr von der Barmherzigkeit, der nach dem Prophetenwort aus Hos 6,6 ein dezidierter Vorrang vor dem Kult gebührt. Wenn aber die Barmherzigkeit, wie dies von der Schrift selbst ausgewiesen wird, das zentrale Orientierungskriterium darstellt, sind die Jünger, da sie Hunger hatten, völlig unschuldig. 46 Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass auch die Einfügung des Sabbats in Mt 24,20 (par Mk 13,18) am ehesten dadurch verständlich wird, dass das Halten des Sabbats in der matthäischen Gemeinde zur selbstverständlichen religiösen Praxis gehört: Wenn die Jünger nicht nur darum bitten sollen, dass ihre Flucht nicht durch widrige Wetterverhältnisse erschwert wird, sondern auch darum, dass sie nicht am Sabbat geschehe, so ist damit das Problem der Überschreitung des erlaubten Sabbatwegs (vgl. Ex 16,29; Jub 50,12; CD 10,21) angesprochen, die im Falle einer 43
REPSCHINSKI, Gesetz (s. Anm. 40), 178 vermerkt zu Mk 7 mit Recht, dass „die markinische Behauptung, die Handwaschung werde von allen Juden gepflegt, in ihrer Generalisierung falsch“ ist. 44 Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag „Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“, 291f.304–312. 45 Vgl. das Fazit von SVARTVIK, Matthew (s. Anm. 9), 41: „It is not Biblical food laws, but Pharisaic traditions and interpretations, which are called into question. In short, Markan antinomianism has been transformed into Matthean anti-Pharisaism“ (Hervorhebung im Original). 46 Ausführlicher zur Auslegung der beiden Sabbatperikopen in Mt 12,1–8.9–14 s. M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 191–195.
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Flucht nicht zu vermeiden ist. Nun ist zwar im Lichte des in Mt 12,1–14 zutage tretenden Sabbatverständnisses evident, dass die Übertretung des Sabbatgebots in diesem Fall legitim ist, doch bleibt davon unbenommen, dass auch eine solche legitime Übertretung „an sich nicht wünschenswert [ist], so dass die Bitte verständlich wird: In ihr drückt sich die grundlegende Achtung des Sabbatgebots aus.“47 Noch gewichtiger als dies ist jedoch, dass Matthäus auch die zweite Säule der markinischen Relativierung der Tora revidiert hat. Das Halten der Gebote ist für Matthäus nicht bloß die soteriologische Basisstufe, die durch den Eintritt in die Nachfolge ergänzt werden muss, sondern es ist auf der Basis der Gebotsauslegung Jesu, wie sie in der Antithesenreihe in Mt 5,21–48 exemplarisch entfaltet wird48, suffizientes Kriterium für den Zugang zum Himmelreich. Damit geht konzeptionell einher, dass die Erfüllung der Gebote in der Auslegung Jesu für Matthäus integraler Bestandteil der Nachfolge ist. Die matthäischen Korrekturen an Mk 10,17–22 machen dies modellhaft deutlich. Denn bei Matthäus findet die Frage des reichen jungen Mannes nach der Bedingung für den Zutritt zum ewigen Leben gleich in der ersten Replik Jesu eine unmissverständliche Antwort: Das Kriterium ist nach Mt 19,17 das Halten der Gebote, und zwar, wie dann der nachfolgende Dialog präzisiert, das Halten der den sozialen Bereich betreffenden Dekaloggebote (vgl. 15,19) und des von Matthäus eigens angefügten Nächstenliebegebots. Die nachfolgend an den Reichen ergehende Forderung, seine Habe zugunsten der Armen zu verkaufen, bildet bei Matthäus im Lichte der klaren Antwort Jesu in V.17 keine zweite Stufe nach der Gebotserfüllung, sondern sie legt im Kontext betrachtet aus, was eine vollkommene Befolgung des Nächstenliebegebots für den Reichen in seiner konkreten Situation bedeutet.49 Matthäus hat das Motiv der Vollkommenheit zweimal eingefügt: zum einen zum Abschluss der Antithesenreihe in Mt 5,48, zum anderen hier im Gespräch mit dem reichen Jüngling: „Wenn du vollkommen sein willst, geh hin, verkauf deine Habe und gib den Armen!“ Beide Male steht das Vollkommenheitsmotiv im Zusammenhang mit der Interpretation des Liebesgebotes: in Mt 5 im Sinne seiner radikalen Auslegung als Feindesliebe, in Mt 19 im Sinne der konsequenten karitativen Nutzung von Besitz. Im Gespräch Jesu mit dem reichen Jüngling hat Matthäus das Nächstenliebegebot also im Vorblick auf den Fortgang des Dialogs ergänzt, um die in der Markusfassung (Mk 10,21) 47
KONRADT, Evangelium (s. Anm. 46), 374. Die Antithesen stellen nicht Jesu Weisung gegen Toragebote, sondern Jesu Auslegung der Gebote gegen deren (polemisch postuliertes) Verständnis bei den Schriftgelehrten und Pharisäern. Zur Begründung dieses Interpretationsansatzes s. C. BURCHARD, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: Ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 27–50: 40–44 und KONRADT, Evangelium (s. Anm. 46), 77–99. 49 Auch in Mt 5,48 steht die Vollkommenheitsforderung bekanntlich im Zusammenhang mit der Auslegung des Nächstenliebegebots (5,43f). 48
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vorgegebene Forderung Jesu an die Tora anbinden zu können. Der vollmundige Anspruch des Jünglings, die Gebote alle gehalten zu haben, basiert für Matthäus auf einem insuffizienten Verständnis der Gebote.50 In den sog. Antithesen der Bergpredigt wird ein solches – analog zum reichen Jüngling – den Schriftgelehrten und Pharisäern angelastet (5,20–48). Sie glauben, das Verbot des Tötens gehalten zu haben, wenn sie niemanden ermordet haben. Jesu Auslegung geht bekanntlich weit darüber hinaus. Programmatisch zur Geltung gebracht hat Matthäus seine Stellung zur Tora an dem kompositorisch zentralen Ort der Einleitung zum Korpus der Bergpredigt in Mt 5,17–20. Matthäus lässt Jesus explizit die Annahme zurückweisen, er sei gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, und bekräftigt ausdrücklich die Gültigkeit aller Gebote, führt aber zugleich mit der Rede von den ‚kleinsten Geboten‘ den sein Verständnis von Tora und Propheten im Ganzen prägenden Gedanken einer Gebotshierarche ein (vgl. v.a. 23,23 und die zweimalige Zitation von Hos 6,6 in Mt 9,13 und 12,7). Angesichts der sonst im Matthäusevangelium zutage tretenden Konfliktlinien liegt die Annahme nahe, dass die Gemeinde sich gegen einen von pharisäischer Seite erhobenen Vorwurf zur Wehr setzen musste, dass Jesus sich gegen die Tora gestellt hätte.51 Dies schließt aber nicht aus, dass hier zugleich eine innerchristliche Abgrenzung vollzogen wird und die Position des Markusevangeliums mit im Blick ist. Beides kann man vielmehr ohne Weiteres miteinander verbinden: Kreise, in denen das Markusevangelium als Identität stiftende story in Geltung stand, konnten im jüdischen Umfeld den Vorwurf evozieren, Jesus sei gekommen, um Tora oder Propheten aufzulösen; Matthäus sieht sich mit einem solchen Vorwurf konfrontiert, weist diesen begründet zurück und grenzt sich damit zugleich gegen die von Markus vertretene Position ab, deren Einfluss er mit seiner Darstellung zu wehren sucht. Die Herausforderung, mit der Matthäus sich im Blick auf die Geltung des Gesetzes konfrontiert sah, lässt sich näher profilieren, wenn man die Rezeption der Logienquelle einbezieht. Die Position zur Tora in Q ist sichtlich eine andere als im Mk. Explizit kommt ȞંȝȠȢ aber, soweit erkennbar, nur in Q 16,16.17 vor; ਥȞIJȠȜ fehlt ganz; ferner wird außerhalb der Versuchungsgeschichte Q 4,1–13 kein Toragebot ausdrücklich zitiert, wenngleich Q 16,18 auf das Dekalogverbot des Ehebruchs bezogen ist und das Feindesliebegebot (Q 6,27) an Lev 19,18 anknüpft. Nach Q 16,17 steht die Tora (uneingeschränkt) in Geltung. Im Kontext sichert das Logion, dass Q 16,16a.b nicht disjunktiv zu verstehen ist, als beende die durch die Königsherrschaft Gottes charakterisierte Epoche die Bedeutung von Gesetz und Propheten; vielmehr kommt durch die Königsherrschaft Gottes ein neues Moment zu Gesetz und
50 Ausführlicher zu Mt 19,16–22 s. in diesem Band den Beitrag „Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium“, 340–343. 51 Vgl. z.B. M. GIELEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, BBB 115, Bodenheim 1998, 78f.284 und P. LUOMANEN, Entering the Kingdom of Heaven. A Study on the Structure of Matthew’s View of Salvation, WUNT II.101, Tübingen 1998, 90f.
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Propheten hinzu. Q 16,16 ist für sich genommen aber ambivalent. Matthäus hat jede Uneindeutigkeit beseitigt, indem er die erste Hälfte des Logions durch die Einfügung von ਥʌȡȠijIJİȣıĮȞ allein auf die prophetische Funktion von Tora und Propheten bezogen und dies ferner durch die Umstellung zu „alle Propheten und das Gesetz“ (anders (Mt 5,17; 7,12; 22,40: „das Gesetz und die Propheten“) unterstrichen hat (11,13). Damit geht einher, dass Matthäus die Komposition Q 16,16–1852 aufgelöst hat (Mt 11,13; 5,18; 5,32). Q 16,17 (vgl. Mt 5,18) unterstreicht im matthäischen Kontext die programmatische Erklärung von Mt 5,17. Zu beachten ist nun ferner, dass Matthäus die Goldene Regel Q 6,31 aus ihrem kompositorischen Ort in Q gelöst und an das Ende des Korpus der Bergpredigt gestellt sowie ferner durch die Anfügung von ȠIJȠȢ Ȗȡ ਥıIJȚȞ ȞંȝȠȢ țĮ Ƞੂ ʌȡȠijોIJĮȚ als Zusammenfassung von Tora und Propheten präsentiert hat, so dass sich mit 5,17 und 7,12 eine Rahmung durch zwei Aussagen eben über das Gesetz und die Propheten ergibt. Dies aber bedeutet: Während die Unterweisung Jesu in der lukanischen Feldrede (Lk 6,20–49), die in dieser Hinsicht die Q-Überlieferung getreu wiedergeben dürfte, keinen expliziten Verweis auf das Gesetz enthält, hat Matthäus es für nötig befunden, einen solchen Zusammenhang auszuweisen und die Unterweisung Jesu positiv als Entfaltung des in Tora und Propheten artikulierten Willens Gottes zu präsentieren. Die Bildung der Antithesenreihe (Mt 5,21–48) fügt sich hier ein.53 Einen dazu analogen Befund bietet zudem Mt 23,23 par Lk 11,42. Der Schluss des Logions macht en passant deutlich, dass für die Q-Trägergruppe auch das Zehntgebot an sich nicht in Frage steht, was wiederum auf ihre grundlegende Toratreue verweist54; es geht allein um die adäquate Gewichtung unter den Geboten. Während aber Matthäus die wichtigeren Gebote ausdrücklich als IJ ȕĮȡIJİȡĮ IJȠࠎ ȞިȝȠȣ klassifiziert, fehlt dies in Lk 11,42, was wiederum Q entsprechen dürfte.55 Matthäus hält es offenbar für angezeigt, deutlich zu machen, dass das, was Jesus im Vergleich zur Verzehntung als wichtiger betrachtet, Hauptpunkte der Tora wiedergibt. Diese Ausformulierung der Q-Tradition lässt sich gut verstehen, wenn sich Matthäus und sein Kreis mit einem anderen Toraverständnis konfrontiert sahen, dem es zu wehren galt.
Festzuhalten ist: Die Frage nach der Geltung und dem Verständnis der Tora ist für das entstehende Christentum insgesamt alles andere als eine theologische Marginalie. Für Matthäus steht die Tora dem Grundsatz nach vollumfänglich in Geltung; die Weisungen Jesu erscheinen bei Matthäus als Auslegung des in 52 Vgl. dazu S.J. JOSEPH, “For Heaven and Earth to Pass Away?”. Reexamining Q 15,16– 18, Eschatology, and the Law, ZNW 105 (2014), 169–188. 53 Zum Verständnis der Antithesen als Toraauslegung s. oben S. 56. 54 Vgl. P. FOSTER, Matthew’s Use of ‘Jewish’ Traditions from Q, in: Kein Jota wird Vergehen. Das Gesetzesverständnis der Logienquelle vor dem Hintergrund frühjüdischer Theologie, hg. v. M. Tiwald, BWANT 200, 180–201: 184. 55 Für die Zuweisung von IJ ȕĮȡIJİȡĮ IJȠ૨ ȞંȝȠȣ zur matthäischen Redaktion s. z.B. G. BARTH, Das Gesetzesverständnis des Evangelisten Matthäus, in: G. Bornkamm – G. Barth – H.J. Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen-Vluyn 71975, 54–154: 74f; A. SAND, Das Gesetz und die Propheten. Untersuchungen zur Theologie des Evangeliums nach Matthäus, BU 11, Regensburg 1974, 40; J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 2, HThKNT 1.2, Freiburg – Basel –Wien 21992, 283; W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 3, ICC, Edinburgh 1997, 293.294. Anders aber U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 3: Mt 18–25, EKK 1.3, Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1997, 329.
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Tora und Propheten zum Ausdruck kommenden Gotteswillens. Das Markusevangelium ist für Matthäus nicht nur insofern insuffizient, als es der ethischen Unterweisung Jesu keinen hinreichenden Raum gibt; es ist vielmehr sogar inakzeptabel, weil es eine doppelte Relativierung der Tora vertritt und damit diejenigen, die es als Identität stiftende story des Christentums annehmen, soteriologisch gefährdet. Denn das Kriterium für den Eintritt in das Himmelreich ist für Matthäus die Befolgung der Tora (Mt 5,19; 19,17) in deren vollmächtiger Auslegung durch Jesus als den einen Lehrer (23,10). 2.2 Die davidische Messianität Jesu Es ist nicht zu bestreiten, dass in der Christologie zwischen Matthäus und Markus signifikante Konvergenzpunkte zu verzeichnen sind. Gleichwohl lässt der synoptische Vergleich auch im Blick auf die Christologie an einem für Matthäus zentralen Punkt einen derart signifikanten Dissens zutage treten, dass sich die Folgerung nahelegt, dass die markinische Christologie für Matthäus nicht nur insuffizient, sondern inakzeptabel war: Während Markus die davidische Messianität Jesu als geradezu irrelevant erklärt, kommt ihr bei Matthäus die Bedeutung eines christologischen Leitaspektes zu. Die Verwendung des Titels ‚Sohn Davids‘ ist im Markusevangelium auf zwei Textsegmente beschränkt, die Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,47f) und die Frage nach der Davidsohnschaft des Messias (12,35.37). Es kann im hier verfolgten Zusammenhang offen bleiben, ob hinter der Anrufung Jesu als Sohn Davids durch einen Blinden in Mk 10,47f die Tradition vom Davidsohn Salomo als Heiler und Exorzisten steht56 oder die Anrufung als Sohn Davids im Vorblick auf den Akklamationsruf in der Einzugserzählung, in dem Jesus zwar nicht als Sohn Davids begrüßt wird, aber vom Kommen des Reiches unseres Vaters David die Rede ist (11,10), eingefügt wurde.57 Es genügt hier vielmehr, die Abwertung in den Blick zu nehmen, die das Christologumenon der Davidsohnschaft des Messias in Mk 12,35–37 erfährt. Der markinische Jesus stellt hier der Position der Schriftgelehrten, die den Messias als Sohn Davids erwarten, entgegen, dass David selbst den Messias ausweislich Ps 110,1 als țȡȚȠȢ bezeichnet hat. Auch dann, wenn die abschließende Frage ʌંșİȞ ĮIJȠ૨ ਥıIJȚȞ ȣੂંȢ; nicht so zu verstehen sein sollte, dass die davidische Herkunft des Messias überhaupt in Frage gestellt wird und die Antinomie zwischen der davidischen Herkunft des Messias und seinem Status bzw. seiner Inthronisation als țȡȚȠȢ so aufzulösen ist, dass die beiden Aussagen auf unterschiedlichen
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In diesem Sinne z.B. J.H. CHARLESWORTH, Solomon and Jesus: The Son of David in the Ante-Markan Traditions (Mark 10:47), in: Biblical and Humane (FS J.F. Priest), hg. v. L.B. Elder – D.L. Barr – E.S. Malbon, Atlanta (GA) 1996, 125–151. 57 So C. BURGER, Jesus als Davidssohn. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, FRLANT 98, Göttingen 1970, 62f.
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Ebenen angesiedelt sind bzw. sich auf unterschiedliche Phasen beziehen58, wird hier die Relevanz der davidischen Messianität Jesu zumindest deutlich marginalisiert. Der Davidsohntitel eignet sich für Markus nicht, um die messianische Identität Jesu adäquat zum Ausdruck zu bringen.59 Dem Matthäusevangelium liegt eine deutlich andere christologische Konzeption zugrunde. Zwar umschreibt auch für Matthäus ‚Sohn Davids‘ für sich genommen nicht umfänglich die messianische Identität Jesu, doch bildet die Davidsohnschaft hier neben der Gottessohnschaft ein wesentliches Explikat seiner Messianität. Da ich das Zusammenspiel von Gottes- und Davidsohnschaft als Nukleus der narrativen christologischen Konzeption des ersten Evangelisten anderorts ausführlich dargelegt habe60, kann ich mich hier auf wenige Anmerkungen beschränken. Der Bedeutungszuwachs, den die davidische Messianität Jesu im Vergleich zum Markusevangelium durch Matthäus erfahren hat, lässt sich schon statistisch deutlich machen. Neben den vier aus Mk übernommenen Belegen (Mt 20,30.31; 22,42.45 par Mk 10,47.48; 12,35.37) hat Matthäus den Titel an weiteren sechs Stellen eingefügt. Resultiert der Beleg in Mt 9,27 aus der Duplizierung von Mk 10,46–52 und hat die Verwendung des Titels in Mt 21,9 in der Vorlage Mk 11,10 („... gelobt sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt“) zumindest einen gewissen Anhalt, so sind die sonstigen vier Belege (Mt 1,1; 12,23; 15,22; 21,15) sowie auch die Bezeichnung Josephs als ȣੂઁȢ ǻĮȣį (1,20) dem Matthäusevangelium eigen. Wichtiger als dieser quantitative Aspekt ist allerdings, dass sich in der Rede von der Davidsohnschaft Jesu ein zentraler Aspekt der matthäischen Erzählkonzeption titularisch verdichtet, nämlich die messianische Zuwendung zu Israel, mit der sich die Israel gegebenen Heilsverheißungen erfüllen. Die Leitfunktion dieser Thematik wird bereits durch den Eingangsvers in 1,1 deutlich, wo „Jesus Christus“ durch die doppelte Apposition „Sohn Davids, Sohn Abrahams“ näherbestimmt wird, denn damit werden gleich zu Beginn die beiden heilsgeschichtlichen Horizonte der matthäischen Jesusgeschichte exponiert: die Zuwendung zu Israel in dem davidisch-messianischen Hirten (vgl. 2,6; 15,24) und die Einbeziehung der Völker in die Heilszuwendung in Erfüllung des Abraham gegebenen Völkersegens (Gen 12,3 u.ö.). Zu dieser Konzeption gehört ferner, dass Jesus anhand seines heilenden Handelns als davidischer Messias erkannt werden kann und von den Volksmengen in einem dreistufigen Prozess sukzessiv auch tatsächlich als solcher erkannt wird (Mt 9,33; 12,23;
58 Vgl. J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus, Bd. 2: Mk 8,27–16,20, EKK 2.2, Zürich u.a. 1979, 170f; P. DSCHULNIGG, Das Markusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 2, Stuttgart 2007, 327f. 59 Andere gehen in ihrem Urteil noch weiter. So sieht z.B. TELFORD, Theology (s. Anm. 9), 36–38.41 im Markusevangelium eine Zurückweisung judenchristlicher DavidsohnChristologie. 60 Siehe KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 17–81.93f.303–334.
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21,961, s. auch 21,14f). Es wäre dabei verfehlt, aus der vornehmlichen Verbindung der Rede von Jesus als Davidsohn mit seinem heilenden Handeln zu schließen, dass die Bedeutung dieses Christologumenons in diesem thematischen Kontext aufgeht. Vielmehr steht dieser exemplarisch für die Heilszuwendung, die Israel in seinem davidisch-messianischen Hirten zuteil geworden ist. Dass der Titel des Näheren auffällig auf Blindenheilungen konzentriert ist (9,27–31; 12,22f; 20,29–34; 21,14f) 62, bringt metaphorische Aspekte ins Spiel: Israel wird durch Jesus von seiner Blindheit gegenüber dem Gotteswillen geheilt, die durch die bisherigen Autoritäten als blinde Führer (15,1463) verursacht ist. Die einzige Ausnahme von der Situierung der Anrufung Jesu als Davidsohn im Kontext von Blindenheilungen, die Heilung der Tochter der Kanaanäerin (15,22), hebt die Konsequenz des matthäischen Gestaltungswillens an dieser Stelle nicht auf, sondern bestätigt ihn vielmehr, denn hier handelt es sich um eine ‚Heidin‘. Der Ton liegt hier im Vorblick auf das Bildwort in V.26f darauf, dass die ‚Heiden‘ Heil vom Messias Israels erwarten.64 Diese Skizze mag hier genügen, um die Relevanz des Davidsohntitels in der narrativen Christologie des ersten Evangelisten anzudeuten. Entsprechend hat Matthäus auch Mk 12,35–37 so umgearbeitet, dass von einer Marginalisierung der Davidsohnschaft des Messias, wie sie Markus vorgebracht hat, nicht mehr die Rede sein kann. Der markinische Monolog ist zu einem Dialog mit den Pharisäern umgestaltet worden. Jesus zitiert nicht die Meinung der Schriftgelehrten, um diese dann zu problematisieren, sondern adressiert an die Pharisäer die Frage, wessen Sohn der Messias sei. Die Pharisäer wissen dabei nur die Antwort: Sohn Davids. Diese ist für Matthäus keineswegs falsch, sie ist aber unvollständig. Denn im Zentrum seiner christologischen Konzeption steht, wie angedeutet, die doppelte Bestimmung der Sohnschaft des Messias: Er ist Sohn Gottes und zugleich Sohn Davids, und beide Bestimmungen bilden für Matthäus einen unlöslichen Zusammenhang. Der matthäische Jesus problematisiert daher mit den beiden ʌȢ-Fragen in Mt 22,43.45 die Eingliedrigkeit der Antwort der Pharisäer. Die erste ʌȢ-Frage geht von der von den Pharisäern vorgebrachten Davidsohnschaft aus und führt über diese hinaus: David nennt, wie das Psalmzitat illustriert, den Messias seinen Herrn, weil der Messias Sohn Gottes und damit David übergeordnet ist. In der zweiten ʌȢ-Frage hingegen geht es umgekehrt darum, wie bzw. in welchem Sinn der von David als ‚Herr‘ bezeichnete Gottessohn sein Sohn ist. Mit der Antwort sind die Leser bereits seit 1,18–25 vertraut: Matthäus hat dort durch das Motiv der Zeugung durch
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Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 101–105. Vgl. LUZ, Skizze (s. Anm. 31), 224f. 63 Vgl. Mt 23,16.17.19.24.26. 64 Näheres dazu in KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 63–70.294.399. 62
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den Heiligen Geist das Motiv der Gottessohnschaft Jesu eingeführt.65 Sohn Davids aber wird er dadurch, dass Joseph, ein Sohn Davids (1,20), den Gottessohn Jesus als seinen Sohn angenommen hat. Die Pointe der nachfolgenden Erzählung ist dann, dass der Gottessohn in seiner irdischen Sendung die Rolle des verheißenen davidisch messianischen Hirten des Gottesvolks ausübt und sich seinem danieder liegenden Volk zuwendet. Festzuhalten ist: Matthäus hat nicht bloß die markinische Sohn-GottesChristologie durch das Zusammenspiel von Gottessohnschaft und Davidsohnschaft modifiziert bzw. nicht allein das Christologumenon der Davidsohnschaft Jesu gegenüber dessen mangelndem Stellenwert bei Markus an die diesem seines Erachtens gebührende Stelle gerückt – dies ließe sich cum grano salis noch als ausdeutende Fortschreibung verstehen –, sondern er hat damit die markinische Abwertung der davidischen Messianität Jesu korrigiert.66 Damit geht einher, dass Matthäus, wie oben angedeutet, der Zuwendung Jesu zum Gottesvolk Israel konzeptionell ein ganz anderes Gewicht zukommen lässt, als dies im heidenchristliche Identitätsbelange dokumentierenden Markusevangelium der Fall ist. Dem steht ferner zur Seite, dass die oben analysierte grundlegend veränderte Sicht der Rolle und Bedeutung der Tora insofern auch die Christologie affiziert, als Jesus von Matthäus als derjenige dargestellt wird, der den Willen Gottes, wie er in Tora und Propheten niedergelegt ist, in vollgültiger Weise ans Licht gestellt hat und der damit als der autoritative Lehrer der Tora präsentiert wird – und nicht als derjenige, der alle Speisen für rein erklärt hat und für den die Befolgung sozialer Toragebote nur die ethische Basisstufe beschreibt.
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Zur Begründung dieser Interpretation s. exemplarisch R. PESCH, Der Gottessohn im matthäischen Evangelienprolog (Mt 1–2). Beobachtungen zu den Zitationsformeln der Reflexionszitate, Bib. 48 (1967), 395–420: 410f.416–419; R.E. BROWN, The Birth of the Messiah. A Commentary on the Infancy Narratives in the Gospels of Matthew and Luke, new updated edition, New York u.a. 1993, 133–137. 66 Zu erwägen ist, ob im markinischen Kontext auch im Petrustadel in Mk 8,33 die Zurückweisung einer Davidsohnchristologie mitschwingt (vgl. TELFORD, Theology [s. Anm. 9], 37). Bei Matthäus hingegen lässt sich der Petrustadel (Mt 16,23) nicht mehr darauf beziehen, dass Petrus bei seinem Christusbekenntnis den Messias in den Farben eines davidisch-königlichen Befreiers gedacht haben könnte. Denn zum einen ist die Davidsohnschaft Jesu bei Matthäus schon zuvor durch Jesu heilende Zuwendung zu seinem Volk bestimmt worden, durch welche dieses Jesus als solchen auch zu erkennen beginnt (12,23). Zum anderen wird Petrus’ Christusbekenntnis in Mt 16,16 durch das Christologumenon der Gottessohnschaft des Messias profiliert, das im Erzählduktus für die Jünger wesentlich durch die ihnen in 14,22–33 zuteil gewordene Erfahrung bestimmt, also durch den Gedanken der Teilhabe Jesu an der rettenden und den Elementen gebietenden Macht Gottes gefüllt ist. Im matthäischen Kontext geht es daher in und ab 16,21–23 darum, das Gottessohnverständnis adäquat, d.h. nicht nur einseitig an dem Aspekt der Partizipation des Gottessohnes an göttlicher Macht auszurichten.
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2.3 Das Jüngerverständnis Auf einen weiteren Bereich ist nur noch kurz einzugehen: die Darstellung der Jünger. Zwar kann man auch hier elementare Konvergenzen aufweisen wie die, dass nicht erst bei Matthäus, sondern schon bei Markus Petrus als zentrale Gestalt des Jüngerkreises hervortritt, doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Konvergenz durch signifikant unterschiedliche Charakterisierungen überlagert ist. Ein zentraler Differenzpunkt zeigt sich in der konsequenten Korrektur der markinischen Tendenz, die Jünger als unverständig, ja verstockt darzustellen. So wird im Rahmen der markinischen Gleichnisrede zwar konzediert, dass ihnen das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben ist (Mt 13,11), zugleich erfahren sie aber in der Einleitung der Deutung des Gleichnisses vom Sämann einen Tadel wegen ihres mangelnden Verstehens (V.13). Matthäus hat nicht nur Mk 4,13 übergangen, sondern in der Ausgestaltung der Parabeltheorie der die Volksmengen betreffenden Verstockungsaussage auch eine Seligpreisung der Jünger ob ihrer sehenden Augen und hörenden Ohren gegenübergestellt (Mt 13,16f); zudem ist in der Gleichnisdeutung bei der vierten Gruppe, die den sehenden und hörenden Jüngern korrespondiert, vom Hören und Verstehen des Wortes die Rede (13,23). An Konturen gewinnt diese Differenz, wenn man Mk 8,14–21 par Mt 16,5–12 hinzuzieht. Während die markinischen Jünger in der Belehrung über den Sauerteig der Pharisäer in Mk 8,14–21 nicht nur in V.17f mit einer Reihe von vorwurfsvollen Fragen, die sogar die Verstockung einschließen, konfrontiert werden, sondern die Belehrung in V.21 auch mit einer solchen Frage schließt (ȠʌȦ ıȣȞİIJİ;), hat Matthäus nicht nur Mk 9,17b.18 gestrichen und damit insbesondere das Verstockungsmotiv übergangen, das bei ihm in direktem Widerspruch zum Makarismus in Mt 13,16f stehen würde, sondern auch den markinischen Schlusspunkt in sein Gegenteil verkehrt, indem er in 16,12 ausdrücklich konstatiert: „Da verstanden sie (IJંIJİ ıȣȞોțĮȞ)…“. Die matthäischen Jünger sind im Gegensatz zur markinischen Vorlage entweder Verstehende oder sie werden, sofern sie einmal noch unverständig sind (16,9), von Jesus zum Verstehen geführt (16,12, vgl. 13,51; 17,13).67 Die hier zutage tretende Differenz in der Darstellung der Jünger kommt noch schärfer in der Seewandelperikope zum Vorschein. Während diese in Mk 6,52 mit dem Kommentar endet, dass die Jünger „durch die Brote nicht verständig geworden waren, sondern ihr Herz verhärtet war“, lässt Matthäus die Jünger vor Jesus niederfallen und bekennen: „Wahrlich, Gottes Sohn bist du“ (Mt 14,33). Dies hat zugleich zur Folge, dass anders als im markinischen Erzählkonzept nicht erst der ‚heidnische‘ Hauptmann unter dem Kreuz Jesus als
67 Zum ‚Verstehen‘ als Charakteristikum der Jünger im Matthäusevangelium vgl. BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 55), 99–104.
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Gottessohn bekennt, sondern dies lange zuvor bereits durch die Jünger geschieht (s. auch die entsprechende Erweiterung des Petrusbekenntnisses in Mt 16,16 gegenüber Mk 8,29).68 Dem steht zur Seite, dass Matthäus die markinische Rede vom Unglauben der Jünger (Mk 4,40; 11,22) durch sein Konzept des Kleinglaubens ersetzt und damit abgemildert hat (Mt 8,26 u.ö.). Vor allem aber ist anzumerken, dass die negativen Züge im Jüngerbild bei Markus anders als bei Matthäus nicht durch Texte wie die Petrusverheißung in Mt 16,18f oder die nachösterliche Beauftragung des um Judas dezimierten Zwölferkreises (Mt 28,16–20) ausbalanciert werden. Sucht man die negative Zeichnung der mit Jesus umherziehenden Jünger und damit des Zwölferkreises bei Markus zu deuten, so genügt es schon angesichts der Schwere der Vorwürfe m.E. nicht, dieser eine bloß dienende Funktion im Rahmen der christologischen Erzählkonzeption des Markusevangelisten zuzuweisen oder sie in pastoral-pädagogischer Absicht darin aufgehen zu lassen, den Adressaten in deren Situation angesichts von eigenem Scheitern und eigenem Unverständnis wohlmeinend Identifikationsfiguren anzubieten. Man wird hier vielmehr eine polemische Absicht69 zumindest mithören und die negativen Charakterisierungen der Jünger auch als eine ‚kirchenpolitische‘ Stellungnahme lesen müssen, die Distanz zu dem Judenchristentum anzeigt, das von Jerusalem aus die Anfänge der christusgläubigen Bewegung maßgeblich mitbestimmte.70 Diese These wird dadurch erhärtet, dass Markus die Familienangehörigen Jesu in Mk 3,21 eine dezidiert negative Meinung über Jesus äußern lässt. Mit Jakobus avancierte ein leiblicher Bruder Jesu, der in 3,21 kaum als nicht mitgemeint auszuschließen ist, zu einer, wenn nicht allmählich der Leitgestalt der Jerusalemer Gemeinde. Mk 3,21 wirft einen langen Schatten auf diese Führungsfigur der Jerusalemer.71 Matthäus hat Mk 3,20f nicht übernommen. Er hat, wie gesehen, zugleich an der markinischen Darstellung des Jüngerkreises, den Matthäus vorösterlich
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Die Textbeispiele lassen sich vermehren. So hat Matthäus nach der zweiten Leidensankündigung die markinische Notiz, dass die Jünger das Wort nicht verstanden (Mk 9,32a), ebenso übergangen wie die Unterredung der Jünger darüber, was denn die Auferstehung der Toten sein soll (Mk 9,10), oder den Verweis auf den Unwillen Jesu über die Jünger in Mk 10,14. Vgl. ferner die Bearbeitung von Mk 9,33f in Mt 18,1, durch die die negative markinische Zeichnung der Jünger wiederum abgemildert wird. Ob ferner die Ersetzung der Zebedaiden als Fragesteller (Mk 10,35) durch deren Mutter (Mt 20,20) dazu dient, die beiden Jünger zu entlasten, ist insofern fraglich, als Matthäus diese Differenzierung nicht durchhält (s. Mt 20,22: Ƞț ȠįĮIJİ IJ ĮੁIJİıșİ). 69 Vgl. dazu TELFORD, Theology (s. Anm. 9), 132.135–137 sowie 149–151 zum Fehlen einer Erscheinungsgeschichte in Mk 16. 70 In diesem Sinne auch SIM, Gospel (s. Anm. 7), 192–194. 71 Vgl. wiederum SIM, Gospel (s. Anm. 7), 188–190.
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programmatisch auf die Zwölf beschränkt (vgl. Mt 28,16) 72, gewichtige Korrekturen vorgenommen, ohne die Jünger als ideale Figuren zu zeichnen. Der Beseitigung einiger negativer Züge der markinischen Darstellung steht dabei zur Seite, dass er die Jünger auch gegenüber den Volksmengen stärker profiliert hat. Nicht wie bei Markus die Menschen, die ringsum um Jesus herumsaßen, bilden die familia Dei (Mk 3,34f), sondern konkret seine Jünger (Mt 12,49f); und speziell diesen gilt die Unterweisung in 16,24–28 – und nicht auch den Volksmengen (Mk 8,34–38). Vor allem aber gehen für Matthäus von den Zwölfen mit Petrus an der Spitze (und unter Abziehung von Judas) die frühchristliche Mission und damit der Bau der ecclesia aus (Mt 28,16–20). Petrus wird als Fels der sich durch die nachösterliche Mission bildenden ecclesia präsentiert (16,18) und als mit den Schlüsseln der Basileia betraut (16,19) erscheint er als Garant der in der Gemeinde tradierten, auf Jesus als den einen und wahren Lehrer (vgl. 23,8) zurückgehenden vollmächtigen Auslegung der Tora. Damit drängt sich auch im Blick auf die Darstellung der (zwölf) Jünger (und der Familie Jesu) das Urteil auf, dass Matthäus die Darstellung des Markusevangeliums als inakzeptabel ansah. Man wird auch kaum fehlgehen, dass Matthäus die im Markusevangelium begegnende Distanzierung von der Jerusalemer Gemeinde und dem durch diese repräsentierten Judenchristentum registriert hat.
3. Schlussreflexion: Matthäus’ Stellung zum Markusevangelium und die Geschichte der Jesustradition Überblickt man den im Voranstehenden skizzierten Befund, kommt man m.E. um das Urteil nicht herum, dass die Differenzen zwischen den theologischen Perspektiven von Matthäus und Markus so erheblich sind, dass das Verhältnis des Matthäus zu seiner Markusvorlage – entgegen einem seit dem Aufkommen der Redaktionsgeschichte geläufigen Ansatz – nicht allein mit dem Rollenmodell des Exegeten bzw. Interpreten erfasst werden kann. Denn Matthäus wollte keineswegs bloß eine erweiterte, auf einen anderen Adressatenkreis zugeschnittene und an manchen Stellen verbesserte Neuauflage des Markusevangeliums bieten. Matthäus betrachtete die markinische Jesusgeschichte vielmehr an für ihn zentralen Stellen theologisch als inakzeptabel und suchte daher ihren Einfluss in seinem Gemeindeumfeld zu unterbinden, indem er ihr eine eigene Neufassung der Jesusgeschichte entgegensetzte. Matthäus ist also tatsächlich als markuskritisch zu klassifizieren.
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Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 371.
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Dabei fügen sich die dargestellten Mosaiksteine zu einem kohärenten Bild zusammen. Mit der Torathematik und der Davidsohnchristologie werden dezidiert judenchristliche Anliegen zur Geltung gebracht. Dem korrespondiert, dass über die unterschiedlichen Darstellungen der Jünger verschiedene Positionen zu der Gestalt des ‚Christentums‘ bezogen werden, die von den Leitfiguren der Jerusalemer Gemeinde bestimmt wurde. Das Matthäusevangelium zeigt sich damit als ein judenchristlicher Gegenentwurf zum Markusevangelium. Zu konkretisieren ist: Das von Matthäus repräsentierte Judenchristentum ist seinem Gesetzesverständnis nach ein eher liberales. Vor allem ist es offen für die Völkermission.73 Der Evangelist macht sich – wohl gegen Widerstände von konservativeren judenchristlichen Kreisen in seinem Kontext74 – zum Anwalt der Völkermission. Aber die Heidenchristen, die sich der matthäischen Gemeinde anschließen, werden auf die Tora in ihrer Auslegung durch Jesus verpflichtet (28,19f). Und sie werden in der Gemeinde mit der Jesusgeschichte als Grundgeschichte des Heils und Grundgeschichte ihrer christlichen Identität in einer Gestalt vertraut, die das Wirken Jesu konsequent und betont in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel einstellt und zu deren zentralen Anliegen es gehört herauszustellen, dass mit Jesu Wirken die endzeitliche Erneuerung des Gottesvolkes inauguriert ist. Ein Heidenchristentum à la Markus findet nicht Matthäus’ Zustimmung. Die vorgetragenen Beobachtungen zur matthäischen Markuskritik seien abschließend wenigstens knapp im Blick auf ihre Implikate bzw. Konsequenzen hinsichtlich der Entstehungsgeschichte des Matthäusevangeliums sowie der Geschichte der Jesustradition bedacht. Denn es drängt sich die Frage auf, woraus sich Matthäus’ Kritik an Markus und damit am markinischen Jesusbild speist. Solange man sich in der Denkschneise von Literar- und Redaktionskritik bewegt und die matthäische Bearbeitung von Markus reduktionistisch als einen rein literarischen Vorgang betrachtet, kann man sich zu dieser Frage mit der Auskunft begnügen, dass sich in diesem Vorgang eben die theologischen Vorlieben von Matthäus Ausdruck verschaffen. Die Dinge liegen aber komplizierter. In Abschnitt 1.2 ist darauf hingewiesen worden, dass die mündliche Überlieferung der Jesustradition sicher nicht mit der Abfassung des Markusevangeliums abbrach oder nach und nach verebbte und Matthäus zumindest einen Großteil der von Markus aufgenommenen Jesustradition bereits vor der Abfassung und Verbreitung des Markusevangeliums kannte. Man wird nun ferner kaum mit der Annahme fehlgehen, dass der im matthäischen Kreis bekannte Stoff der Jesustradition bereits in der mündlichen Überlieferungsphase durch die eben dargelegten theologischen Überzeugungen geprägt war, diese also 73
Zur matthäischen Begründung der Völkermission und ihrem Verhältnis zur Zuwendung zu Israel s. KONRADT, Israel (s. Anm. 24), bes. 285–348. 74 Vgl. KONRADT, Israel (s. Anm. 24), 389f.
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nicht erst im Zuge des literarischen Prozesses der Verarbeitung von Markus die im matthäischen Umfeld virulente Jesustradition affizierten. Im Blick auf den hinter dem Matthäusevangelium stehenden Prozess der Traditionsentwicklung ist ferner zumindest noch auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen. Das Matthäusevangelium weist nicht nur ein enges intratextuelles Netz an Querverweisen auf, sondern ist zugleich intertextuell durch äußerst dichte Bezugnahmen auf die Schrift geprägt. Die bekannten Erfüllungszitate75 sind lediglich ein besonders auffälliger Ausdruck für die Bedeutung, die der Schrift in der matthäischen Jesusgeschichte insgesamt zukommt. 76 Modellhaft ist m.E. davon auszugehen, dass sich die Endgestalt des Evangeliums einem längeren Reflexionsprozess einer judenchristlichen Gruppe um den bzw. jedenfalls mit dem Evangelisten verdankt, die in ihren Versammlungen zum einen die überkommene Jesustradition zur Sprache brachte und zum anderen intensiv eigenständig die Schrift reflektierte. In einem solchen Setting läge es jedenfalls nahe, beide Größen eng aufeinander zu beziehen und einander77 interpretieren zu lassen, wie dies das Matthäusevangelium im Ganzen prägt. Im Blick auf Matthäus’ Verhältnis zu Markus bedeuten diese Überlegungen zu den Überlieferungsprozessen, dass es viel zu kurz griffe, würde man sich mit der Auskunft begnügen, dass in der Bearbeitung des Markusevangeliums die theologische Ausrichtung des Matthäus zum Ausdruck kommt. Das ist zwar nicht falsch, aber darüber hinaus ist zu bedenken, dass Matthäus’ theologische Ausrichtung in dem Sinne traditionsbasiert sein kann, dass sich in ihr die eigene genuine Kenntnis der im Markusevangelium verarbeiteten Jesustradition Ausdruck verschafft, dass sich also das Missfallen an Markus aus der Wahrnehmung der Differenz zwischen der theologischen Ausrichtung von Markus und der Gestalt der in der matthäischen Gemeinde gepflegten Jesustradition speist, zu der bei Matthäus, von seinem Sondergut einmal abgesehen, auch die Kenntnis der von Q gebotenen Logientradition gehört.78 75
Mt 1,22f; 2,15.17f.23; 4,14-16; 8,17; 12,17–21; 13,35; 21,4f; 27,9f. Vgl. Donald SENIOR, The Lure of the Formula Quotations. Re-assessing Matthew’s Use of the Old Testament with the Passion Narrative as Test Case, in: The Scriptures in the Gospels, hg. v. C.M. Tuckett, BETL 131, Leuven 1997, 89-115: 90.104-108; Richard B. HAYS, The Gospel of Matthew: Reconfigured Torah, HTS 61 (2005), 165-190: 168f. 77 Treffend dazu SENIOR, Lure (Anm. 76), 104: „the relationship to the Hebrew scriptures is dialogic rather than linear. ‘Fulfillment’ does not mean simply a matter of applying Old Testament quotations to events in the life of Jesus. The events of Jesus’ life are illuminated and their authority revealed in the light of the Old Testament and, at the same time, new understandings of the voice of God in the scriptures and the history of Israel are revealed in the light of Jesus’ person and mission.“ 78 Es ist, wie eingangs angemerkt wurde, verschiedentlich vermutet worden, dass die Logienquelle die angestammte Tradition der matthäischen Gemeinde darstellt und enge Beziehungen zum Trägerkreis der Logienquelle bestanden (s. die in Anm. 19 Genannten). Nun stehen allerdings alle Aussagen über Q unter dem Vorbehalt, dass erstens sich weder Umfang noch Wortlaut der Logienquelle mit hinreichender Plausibilität rekonstruieren lassen (zur 76
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Diese Überlegungen haben nun nicht nur Konsequenzen für die Rekonstruktion des Entstehungsprozesses des Matthäusevangeliums, sondern auch für die historische Jesusforschung, die hier wenigstens angedeutet seien. Denn es wird deutlich, dass der Sachverhalt, dass Markus der ältere Text ist und die von Matthäus bearbeiteten Perikopen demgegenüber literarisch sekundär sind, nicht eo ipso bedeutet, dass Matthäus dem historischen Jesus ferner steht als Markus. Vielmehr besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass die in Matthäus’ Umfeld zirkulierenden Versionen der mündlichen Traditionen im Einzelfall ein historisch authentischeres Bild vermitteln als das Markusevangelium.79 Es geht dabei, um Missverständnissen vorzubeugen, nicht um den Wortlaut von Perikopen. Die Flexibilität mündlicher Darbietungen des Überlieferungsgutes lässt eine Fixierung auf Wortlautfragen grundsätzlich fragwürdig erscheinen. Es geht um das übergreifende Gesamtbild des Wirkens Jesu. In dieser Hinsicht dürfte Matthäus z.B. darin das Wirken Jesu getreuer abbilden, dass Jesus sich tatsächlich nicht, wie die – heidenchristliche Identitätsbelange bedienende – Darstellung in Mk 7,1–23 bzw. wie das Logion Mk 7,15 insinuiert, prinzipiell gegen die Reinheitsthora gestellt hat80 – auch Lukas hat Markus an dieser Stelle korrigiert.81 Überhaupt ist grundlegend zu beachten, dass das Matthäusevangelium dem jüdischen Milieu Jesu näher steht als Markus. Daraus soll nun nicht umgekehrt abgeleitet werden, dass dem Matthäusevangelium pauschal Priorität einzuräumen sei. Dass vielmehr christologische Überzeugungen, die sich im Judenchristentum nachösterlich herausgebildet haben, auf die Traditionsentwicklung einwirkten, ist eben bereits angedeutet worden. Der Einzelfall ist zu prüfen, was, nebenbei bemerkt, die historische Jesusforschung nicht leichter macht, doch ist dem hier nicht nachzugehen. Festzuhalten aber ist: Theologiegeschichtlich ist Matthäus’ Bestreben, das Markusevangelium durch seine eigene Jesusgeschichte zu verdrängen, keineswegs pauschal als eine eigenmächtige, sekundäre Judaisierung der Jesustradition zu begreifen, sondern Matthäus agiert dabei als Anwalt der ihm bekannten Gestalt der Jesustradition.
methodischen Problematik s. M. WOLTER, Reconstructing Q? ET 115 [2004], 115–119) und zweitens im Blick auf die Trägergruppe zu fragen ist, ob die Logiensammlung die von ihr gepflegte Jesustradition mehr oder weniger umfassend repräsentiert oder nicht doch eher eine Teilsammlung einer wesentlich reichhaltigeren Tradition darstellt. 79 Vgl. dazu D.C. SIM, Matthew and Jesus of Nazareth, in: Matthew and His Christian Contemporaries, hg. v. D.C. Sim – B. Repschinski, LNTS 333, London – New York 2008, 155–172. 80 Siehe dazu H. RÄISÄNEN, Jesus and the Food Laws: Reflections on Mark 7.15, JSNT 16 (1982), 79–100. Anders G. THEISSEN, Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen, in: Ders., Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung, hg. v. A. Merz, FRLANT 202, Göttingen 2003, 73–89. 81 Lukas hat Mk 7,1–23 ganz weggelassen (der Passus ist Teil der lukanischen Auslassung). Die Aufhebung der Speisegebote wird von Lukas in die nachösterliche Missionsgeschichte datiert (s. Apg 10,1–11,18, bes. 10,9–16).
Matthäus als Zeuge eines unpaulinischen Christentums Anmerkungen zur These einer antipaulinischen Ausrichtung des Matthäusevangeliums Wenn Matthäus und Paulus einander begegnet wären, hätten beide die theologischen Ansichten des jeweils anderen, um es vorsichtig zu formulieren, sicher nicht durchgehend enthusiastisch begrüßt.1 Zwar zeigt sich unter der Oberfläche einander diametral widersprechender Aussagen auch manche substantielle Konvergenz in der Sache, doch ändert dies nichts an der grundsätzlichen Feststellung, dass Matthäus und Paulus unterschiedliche Strömungen des entstehenden Christentums repräsentieren. Von einem rein phänomenologischen Vergleich der beiden theologischen Ansätze ist die historische Frage zu unterscheiden, inwiefern es Indizien gibt, dass von Paulus geprägte Theologumena im matthäischen Umfeld virulent und in einer Weise relevant waren, dass Matthäus meinte, auf diesen Einfluss mit der Art und Weise, wie er die Jesusgeschichte neu erzählte, abwehrend reagieren zu müssen. Die These einer solchen antipaulinischen Frontstellung ist in der neueren Matthäusforschung verschiedentlich vorgetragen worden, mit Entschiedenheit und in einer ganzen Reihe von Publikationen von David Sim2, zuletzt ferner 1 U. LUZ, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, 166 sieht gar „zwischen Matthäus und Paulus eine tiefe sachliche Spannung, um nicht zu sagen: einen Abgrund.“ – Ein harmonischeres Bild zeichnen z.B. J.P. MEIER, Antioch, in: R.E. Brown – J.P. Meier, Antioch and Rome. New Testament Cradles of Catholic Christianity, New York 1983, 12–86: 62f und J. WILLITTS, The Friendship of Matthew and Paul: A Response to a Recent Trend in the Interpretation of Matthew’s Gospel, HTS 65 (2009), 150–157, bes. 156. – Ausführlich zu den jeweiligen ethischen Perspektiven sowie zum Verständnis des Gesetzes R. MOHRLANG, Matthew and Paul. A Comparison of Ethical Perspectives, MSSNTS 48, Cambridge 1984. Vgl. ferner M. KONRADT, „Law, Salvation and Christian Identity in Paul and Matthew“, in: Concepts of Law in Sciences, Legal Studies, and Theology, hg. v. M. Welker – G. Etzelmüller, RPT 72, Tübingen 2013, 181–204. 2 Siehe D.C. SIM, The Gospel of Matthew and Christian Judaism. The History and Social Setting of the Matthean Community, Studies of the New Testament and Its World, Edinburgh 1998, 188–211; D.C. SIM, Matthew’s Anti-Paulinism. A Neglected Feature of Matthean Studies, HTS 58 (2002), 767–783; D.C. SIM, Matthew 7.21–23: Further Evidence of its AntiPauline Perspective, NTS 53 (2007), 325–343; D.C. SIM, Matthew, Paul and the Origin and Nature of the Gentile Mission: The Great Commission in Matthew 28:16-20 as an Anti-
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auch von Gerd Theißen und seinem Schüler Eric Kun Chun Wong.3 Sim ortet hier sogar einen der Beweggründe für die Abfassung des Matthäusevangeliums: „the evangelist was motivated, at least to some extent, to write his Gospel in order to discredit Paul and to falsify the Pauline version of the Gospel.“4 Sim verbindet diese These des Näheren mit der markuskritischen Ausrichtung des
Pauline Tradition, HTS 64 (2008), 377–392; D.C. SIM, Matthew and the Pauline Corpus: A Preliminary Intertextual Study, JSNT 31 (2009), 401–422; D.C. SIM, The Reception of Paul and Mark in the Gospel of Matthew, in: Paul and Mark. Comparative Essays Part I: Two Authors at the Beginnings of Christianity, hg. v. O. Wischmeyer – D.C. Sim – I.J. Elmer, BZNW 198, Berlin – Boston 2014, 589–615: 590–603. Siehe ferner auch D.C. SIM, Polemical Strategies in the Gospel of Matthew, in: Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte, hg. v. O. Wischmeyer – L. Scornaienchi, BZNW 170, Berlin – New York 2011, 491–515: 499–503 und D.C. SIM, Fighting on All Fronts: Crisis Management in the Gospel of Matthew, in: Ancient Jewish and Christian Texts as Crisis Management Literature, hg. v. D.C. Sim – P. Allen, LNTS 445, London – New York 2012, 62–78: 68–73. – Einen Vorläufer hat Sims Ansatz in S.G.F. BRANDON, The Fall of Jerusalem and the Christian Church. A Study of the Effects of the Jewish Overthrow of A.D. 70 on Christianity, London 2 1957, 232–237, dessen Argumente Sim selbst als unzureichend wertet, sodass die Zurückweisung von Brandons These in der nachfolgenden Forschung (s. z.B. W.D. DAVIES, The Setting of the Sermon on the Mount, Cambridge 1964, reprint Atlanta [GA] 1989, 316– 341) verständlich sei (SIM, Matthew’s Anti-Paulinism [s. oben], 769). Der Ansatz von Sim ist selbst nicht unwidersprochen geblieben, s. z.B. J. ZANGENBERG, Matthew and James, in: Matthew and His Christian Contemporaries, hg. v. D.C. Sim – B. Repschinski, LNTS 333, London 2008, 104–122: 120; WILLITTS, Friendship (s. Anm. 1, s. zu Willitts noch unten Anm. 94); P. FOSTER, Paul and Matthew: Two Strands of the Early Jesus Movement with Little Sign of Connection, in: Paul and the Gospels. Christologies, Conflicts and Convergences, hg. v. M.F. Bird – J. Willitts, LNTS 411, London – New York 2011, 86–114; K.R. IVERSON, An Enemy of the Gospel? Anti-Paulinisms and Intertextuality in the Gospel of Matthew, in: Unity and Diversity in the Gospels and Paul (FS F.J. Matera), hg. v. C.W. Skinner – K.R. Iverson, ECIL 7, Atlanta 2012, 7–32 (speziell zu SIM, Pauline Corpus [s. oben] und Mt 16,17f, s. Abschnitt 1.4); B.L. WHITE, The Eschatological Conversion of ‘All the Nations’ in Matthew 28.19-20: (Mis)reading Matthew through Paul, JSNT 36 (2014), 353–382: 362–367. Etwas positiver gestimmt ist D.J. HARRINGTON, Matthew and Paul, in: Matthew and His Christian Contemporaries hg. v. D.C. Sim – B. Repschinski, LNTS 333, London – New York 2008, 11–26: 25: „While the evidence for Sim’s hypothesis may not seem totally convincing to all, at the very least he has provided a stimulus for us to rethink our largely canon-influenced tendency to harmonize Paul and Matthew.“ 3 G. THEISSEN, Kritik an Paulus im Matthäusevangelium? Von der Kunst verdeckter Polemik im Urchristentum, in: Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte, hg. v. O. Wischmeyer – L. Scornaienchi, BZNW 170, Berlin – New York 2011, 465–490; E. Kun Chun WONG, Evangelien im Dialog mit Paulus. Eine intertextuelle Studie zu den Synoptikern, NTOA/StUNT 89, Göttingen 2012, 107–130. 4 SIM, Matthew’s Anti-Paulinism (s. Anm. 2), 769.
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ersten Evangelisten:5 Markus sei von paulinischer Theologie geprägt6, Matthäus wende sich gegen Markus wie Paulus.7 Die Verbindung zwischen Matthäus, Markus und Paulus auf solche Weise zu konstruieren, mag prima facie attraktiv sein, weil die hier miteinander kombinierten Annahmen es erlauben, gleich mehrere bekannte Größen auf der theologiegeschichtlichen Landkarte des entstehenden Christentums in eine einprägsame Konstellation ohne Unbekannte zu bringen. Plausibel ist ein derartiges Konstrukt aber nicht. Die Frage des genauen Verhältnisses zwischen dem Markusevangelium und der von Paulus bestimmten theologischen Entwicklung kann dabei im hier verfolgten Zusammenhang hintangestellt werden.8 Ich beschränke mich im Folgenden darauf, die These einer antipaulinischen Ausrichtung des Matthäusevangeliums einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dazu sind in einem ersten Schritt die Textpassagen im Matthäusevangelium zu sichten und zu erörtern, die für die These einer antipaulinischen Stoßrichtung vorgebracht wurden. Nach der Untersuchung der von Sim geltend gemachten textinternen Indizien ist in einem zweiten, kürzeren Passus zu fragen, inwiefern textexterne Indizien, d.h. Hinweise auf die Verbreitung und Bekanntheit spezifisch paulinischer Positionen im Entstehungskontext des Matthäusevangeliums, die Annahme einer antipaulinischen Ausrichtung plausibel zu machen vermögen. Am Ende wird neben einem kurzen Fazit zugleich knapp auf die umfassendere Thematik der Inbeziehungsetzung frühchristlicher Strömungen zu Paulus ausgeblickt.
5 Siehe dazu in diesem Band auf S. 43–68 den Beitrag „Das Matthäusevangelium als judenchristlicher Gegenentwurf zum Markusevangelium“, sowie D.C. SIM, Matthew’s Use of Mark: Did Matthew Intend to Supplement or to Replace His Primary Source?, NTS 57 (2011), 176–192 und J. SVARTVIK, Matthew and Mark, in: Matthew and His Christian Contemporaries, hg. v. D.C. Sim – B. Repschinski, LNTS 333, London – New York 2008, 27– 49. 6 SIM, Matthew’s Anti-Paulinism (s. Anm. 2), 768. 7 SIM, Reception (s. Anm. 2), bes. 611f mit dem Fazit: „Standing within the Christian Jewish and Law-observant tradition of the Jerusalem church, Matthew viewed the Pauline gospel and epistles and the Pauline-influenced Gospel of Mark, as requiring substantial correction and critique. The Gospel of Matthew therefore stands as a clearly anti-Pauline document, not simply criticising Paul and his errant theology but also critiquing and emending the original Gospel that was so closely tied in with Paul’s Law-free theology“ (612). 8 Konvergenzpunkte zwischen Markus und Paulus sind nicht zu bestreiten, doch ist im Blick auf die Frage der paulinischen Prägung des Markusevangeliums m.E. deutlich zurückhaltender zu urteilen, als dies bei Sim geschieht. Siehe dazu die Skizze in M. KONRADT, Antipaulinismus und Paulinismus im neutestamentlichen Schrifttum, in: Paulus Handbuch, hg. v. F.W. Horn, Tübingen 2013, 552–557: 554. Zur Diskussion über die Frage des Verhältnisses zwischen Paulus und Markus sei auf zwei Aufsatzbände verwiesen: O. WISCHMEYER – D.C. SIM – I.J. ELMER (Hg.), Paul and Mark. Comparative Essays Part I: Two Authors at the Beginnings of Christianity, BZNW 198, Berlin – Boston 2014; E.-M. BECKER – T. ENGBERG-PEDERSEN – M. MÜLLER (Hg.), Mark and Paul. Comparative Essays Part II: For and Against Pauline Influence on Mark, BZNW 199, Berlin – Boston 2014.
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1. Textinterne Indizien: Antipaulinische Passagen im Matthäusevangelium? Im Vordergrund steht im Folgenden die Auseinandersetzung mit David Sim als dem Hauptvertreter der antipaulinischen Interpretation des ersten Evangeliums. Sim hat – sukzessiv – eine ganze Reihe von Texten vorgebracht, in denen Matthäus sich seines Erachtens gegen Paulus wendet, namentlich Mt 5,17–19; 7,21–23; 13,24–30.36–43; 16,17–19 und 28,16–20.9 Die folgende Sichtung des Befundes orientiert sich an der Reihenfolge der vorgebrachten Passagen im Text. 1.1 Mt 5,17–19 Das matthäische Gesetzesverständnis, wie es in dem programmatischen Passus 5,17–19 grundlegend entfaltet wird, bietet sich als Einstiegspunkt geradezu von selbst an, denn es ist nicht zu bestreiten, dass Matthäus und Paulus im Blick auf ihre Haltung zur Tora klar voneinander zu unterscheidende Positionen beziehen: Die vom matthäischen Jesus in 5,17f vorgebrachte uneingeschränkte Gültigkeit der gesamten Tora vermittelt eine deutlich andere Stellung zur Tora, als Paulus sie insbesondere im Galaterbrief entfaltet.10 Daraus folgt aber nicht, dass die Position, die in V.17 mit der Einleitungswendung ȝ ȞȠȝıȘIJİ IJȚ ȜșȠȞ … in den Blick genommen und zurückgewiesen wird, tatsächlich mit Paulus’ Toraverständnis zu identifizieren ist. In der neueren Matthäusforschung ist verschiedentlich die These vertreten worden, dass Matthäus sich hier nicht binnenchristlich mit einer Bestreitung der Geltung der Tora auseinandersetzt, sondern mit dem von pharisäischer Seite gegen die matthäischen Christusgläubigen vorgebrachten Vorwurf, dass sie sich mit ihrem Verhalten nicht auf dem Boden der Tora bewegen.11 Matthäus nimmt im Gegenzug in Anspruch, dass allein durch Jesu Unterweisung der in Tora und Propheten zum Ausdruck kommende Gotteswillen in seiner vollen Bedeutung erschlossen und auf dieser Basis den Jüngern die vollkommene Erfüllung der Tora ermöglicht ist, während umgekehrt den Pharisäern gravierende Defizite im Verständnis des Gotteswillens anzulasten sind. Für diesen Ansatz lässt sich nicht nur 5,20– 48 ins Feld führen, wo in These und Gegenthese dem insuffizienten Toraverständnis der Pharisäer die Toraauslegung Jesu gegenübergestellt wird, die die eigentliche bzw. tiefere Bedeutung des Gotteswillens ans Licht bringt (5,21– 48) und so den Jüngern die „bessere Gerechtigkeit“ ermöglicht, die die der 9
THEISSEN hat zum Teil noch andere Texte ins Spiel gebracht. Siehe dazu unten Anm.
12. 10
Siehe dazu KONRADT, Law (s. Anm. 1). Vgl. dazu sowie zum Folgenden in diesem Band auf S. 288–315 den Beitrag „Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“ und die dortigen Literaturverweise. 11
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Schriftgelehrten und Pharisäer weit übertrifft (5,20); auch die matthäische Ausgestaltung der Gesetzeskontroversen zwischen Jesus und eben den Pharisäern in 12,1–14; 15,1–20; 19,3–9; 22,34–40) weist klar in diese Richtung. Zu bedenken ist allerdings, dass ȝ ȞȠȝıȘIJİ IJȚ ȜșȠȞ … auf ein im Kreis von Jesusanhängern – zumindest potentiell – virulentes Missverständnis hindeutet. Genauer: Die Formulierung legt als Hintergrund nicht bloß den Vorwurf nahe, dass Jesus, jedenfalls nach pharisäischem Verständnis, die Tora bzw. Teile der Tora in seiner Lehre aufgelöst und in seinem Verhalten gebrochen habe, sondern die Aussage, dass die ‚Auflösung‘ der Tora (oder von Teilen der Tora) zu seiner Aufgabe gehörte, lässt an eine innerchristliche Kontroverse denken. Die These einer antipharisäischen Ausrichtung von 5,17–19 und die Annahme des Vorliegens eines binnenchristlichen Konflikts schließen dabei einander nicht aus: Matthäus wendet sich sowohl gegen eine von christusgläubigen Zeitgenossen ausgehende Abwertung oder gar Außerkraftsetzung der Tora, und er muss sich zudem gegen die pharisäische Kritik an Jesus und seinen Nachfolgern zur Wehr setzen. Ersteres lässt sich dabei zwanglos mit Letzterem verbinden, denn das Aufkommen torakritischer Stimmen unter den Christusgläubigen im Umfeld der matthäischen Gemeinden war sicher dazu angetan, die pharisäische Kritik zu forcieren. Matthäus hingegen konnte in der für ihn wichtigen Auseinandersetzung mit den Pharisäern kein Interesse daran haben, dass deren Vorwürfe gegen die Christusgläubigen durch das Einsickern torakritischer oder gar antinomistischer Tendenzen in den matthäischen Gemeinden Nahrung erhielten. Diesen galt es daher zu wehren. Ist es richtig, dass eine binnenchristliche Spitze in 5,17 nicht auszuklammern ist, führt dies allerdings nicht geradewegs zu der Annahme, dass Matthäus dem Einfluss von Paulusanhängern zu wehren sucht, so dass 5,17 als antipaulinisch zu klassifizieren wäre.12 Denn die binnenchristliche Konfliktlinie 12 Als einen Hauptbeleg für die antipaulinischen Ausrichtung des Matthäusevangeliums werten 5,17–19 C. HEUBÜLT, Mt 5,17–20. Ein Beitrag zur Theologie des Evangelisten Matthäus, ZNW 71 (1980) 143–149: 145; SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 199–211, bes. 207–209; THEISSEN , Kritik (s. Anm. 3), 471–475; W ONG, Evangelien (s. Anm. 3), 126. Theißen beruft sich auf die – semantisch auffällige – Rede vom Erfüllen des Gesetzes in Mt 5,17, die bei Paulus in Röm 8,4 sowie 13,8.10; Gal 5,14 ein Pendant finde. Der matthäische Sprachgebrauch in Mt 5,17 erklärt sich aber zum einen viel naheliegender angesichts der sonstigen, christologisch aufgeladenen Verwendung von ʌȜȘȡȠ૨Ȟ im Matthäusevangelium (aktivisch 3,15, sonst passivisch in der Einleitung der Reflexionszitate, s. 1,22; 2,15.17.23 usw.); zum anderen ist die Verbindung von ʌȜȘȡȠ૨Ȟ mit ȞંȝȠȢoder ähnlichem als Objekt vereinzelt auch frühjüdisch belegt (s. besonders TestNaf 8,7: ȀĮ Ȗȡ Įੂ ਥȞIJȠȜĮ IJȠ૨ ȞંȝȠȣ įȚʌȜĮ İੁıȚ țĮ ȝİIJ IJȤȞȘȢ ʌȜȘȡȠ૨ȞIJĮȚ, ferner Sib 3,246; Philo, Praem 83). Der Vorschlag, ਥȜȤȚıIJȠȢ in 5,19 auf Paulus zu beziehen (THEISSEN , Kritik [s. Anm. 3], 472–474, vgl. ferner W ONG, Evangelien [s. Anm. 3], 127), kann ebenfalls nicht überzeugen, denn hier ist gar nicht von einer bestimmten Person die Rede, sondern es wird eine allgemeine Aussage getroffen, in der zudem die Bezeichnung „der Kleinste“ im Himmelreich aus der vorangehenden Rede von den kleinsten Geboten hervorgeht.
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von 5,17 erklärt sich hinreichend damit, dass Matthäus durch das Markusevangelium mit einer torakritischen Position konfrontiert wurde.13 Auch die Präzisierung von 5,17 durch die explizite Bejahung der kleinen Gebote in V.18f fügt sich hier problemlos ein, da das Markusevangelium die grundsätzliche Aufhebung der Speisegebote vertritt (Mk 7,19). Anders gesagt: Auf der Grundlage der Zweiquellentheorie (bzw. der Annahme der Markuspriorität) ergibt sich als ‚gesichertes‘ historisches Datum, dass Matthäus durch das Markusevangelium bzw. diejenigen Christusgläubigen, die das Markusevangelium verbreiteten, mit einer torakritischen Position konfrontiert wurde, deren Einfluss in seinen Gemeinden er abzuwehren suchte. Für 5,17–19 ist damit eine Kontextualisierung gegeben, die den Passus hinreichend erklärt. Wenn man darüber hinaus eine spezifisch antipaulinische Ausrichtung postulieren will, muss man dafür anderweitige Indizien namhaft machen. Im Blick auf die hier zur Debatte stehende Gesetzesfrage kommt allerdings noch hinzu, dass Paulus nirgends zu erkennen gibt, dass er sich für seine Position, etwa zu den Speisegeboten, auf das irdische Wirken Jesu berufen hätte14, während Markus’ Aussage, Jesus Überdies ist eine Beziehung zur Bezeichnung von Paulus als ਥȜȤȚıIJȠȢ IJȞ ਕʌȠıIJંȜȦȞ (1Kor 15,9) bzw. als ਥȜĮȤȚıIJંIJİȡȠȢ ʌȞIJȦȞ ਖȖȦȞ (Eph 3,8) bestenfalls als gesucht zu bewerten, denn die thematischen Kontexte sind völlig unterschiedlich. In Mt 5,19 geht es um den Rang im Himmelreich, davon ist weder in 1Kor 15,9 noch in Eph 3,8 die Rede. – Eine ähnliche Kritik wie gegen die Deutung von Mt 5,19 ist auch gegen das Postulat von THEISSEN , Kritik (s. Anm. 3), 481f vorzubringen, dass in Mt 18,6 verdeckte Polemik gegen Paulus vorliege (warum dann nicht auch in Mk 9,42?!). Auch hier handelt es sich um eine allgemeine Aussage; sie ist zudem, das legt zumindest der Kontext in Mt 18 nahe, doch wohl auf das Problem des innergemeindlichen Umgangs miteinander zu beziehen (s. dazu M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 285f). Eine Spitze gegen Paulus lässt sich hier exegetisch nicht begründen; man kann sie höchstens – mit einiger Phantasie – in den Text hineinlesen. Ebenso wenig lässt sich 23,15 als verdeckte Polemik gegen den ehemaligen Pharisäer Paulus lesen (gegen THEISSEN , Kritik [s. Anm. 3], 482–484; W ONG , Evangelien [s. Anm. 3], 122f). Der Vers ist integraler Bestandteil der finalen Abrechnung des matthäischen Jesus mit den Schriftgelehrten und Pharisäern (zur Komposition in Mt 21–23 s. KONRADT, Evangelium nach Matthäus [s. oben], 320.327.353–355) – und mit niemandem sonst; zudem hat Paulus ‚Heiden‘ gerade nicht zu Proselyten gemacht, denn die Wendung ʌȠȚોıĮȚ … ʌȡȠıȜȣIJȠȞ schließt die Beschneidung ein. 13 Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag „Das Matthäusevangelium als judenchristlicher Gegenentwurf zum Markusevangelium“, 53–59. 14 Auch aus Röm 14,14 geht dies nicht hervor. Paulus’ Rede vom Überzeugtsein „in dem Herrn Jesus“ verweist nicht auf ein Jesuswort, sondern darauf, dass Paulus die folgende Erkenntnis „im Herrn“ gewonnen hat. Vgl. exemplarisch H. RÄISÄNEN, Zur Herkunft von Markus 7,15, in: Ders., The Torah and Christ. Essays in German and English on the Problem of the Law in Early Christianity, SESJ 45, Helsinki 1986, 209–218: 214f. Für eine ausführliche Thematisierung von Röm 14,14 samt Kontext und Beziehung zu Mk 7 s. C. JACOBI, Jesusüberlieferung bei Paulus? Analogien zwischen den echten Paulusbriefen und den synoptischen Evangelien, BZNW 213, Berlin – Boston 2015, 299–386.
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habe alle Speisen für rein erklärt (Mk 7,19), eine präzise Gegenfolie zu Mt 5,17f bietet. Kurzum: Das Markusevangelium bietet sich nicht nur in historischer Hinsicht als Referenzpunkt für die binnenchristliche Stoßrichtung von 5,17–19 an, weil hier mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass Matthäus diese Position kannte; es passt auch inhaltlich besser als Paulus, weil die zurückgewiesene Ansicht, streng genommen, eben die ist, dass es zur Aufgabe Jesu während seines irdischen Wirkens gehörte, die Geltung (von Teilen) der Tora aufzuheben. 1.2 Mt 7,21–23 In Mt 7,21–23 sieht David Sim nicht nur auf der Linie seiner Deutung von 5,17–19 in der auf Ps 6,9 zurückgreifenden Kennzeichnung der Abgewiesenen als Ƞੂ ਥȡȖĮȗંȝİȞȠȚ IJޣȞ ܻȞȠȝަĮȞ (Mt 7,23) ein Indiz für die antipaulinische Stoßrichtung des Passus. Vielmehr wird auch für 7,21 und für 7,22 im Ganzen, d.h. sowohl für das ‚Herr, Herr‘-Sagen als auch für die gesamte Trias: im Namen Jesu a) als Propheten reden, b) Dämonen austreiben und c) Machttaten vollbringen, Paulus als Referenzpunkt geltend gemacht. 15 Überzeugen kann das nicht. Ganz unverdächtig ist die Anrufung țȡȚİ țȡȚİ in Mt 7,21 (und 7,22a). Sie geht erstens auf Q 6,46 zurück, und zweitens ist țȡȚİ im Matthäusevangelium die übliche Anrede Jesu nicht nur im Munde derer, die ihn um Hilfe ersuchen16, sondern auch seiner Jünger.17 David Sim hingegen sucht dem Text vor dem Hintergrund von Passagen wie 1Kor 12,3 und Röm 10,9–13 Profil zu geben, nach denen schon das Bekenntnis zu Jesus als Kyrios einen Menschen als „a true Christian“18 ausweise (1Kor 12,3) und in soteriologischer Hinsicht hinreichend sei: „Wenn du mit deinem Mund bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden“ (Röm 10,9). Man muss die paulinischen Texte allerdings völlig aus ihrem Zusammenhang reißen und ihre Intention im Kontext missachten, wenn man Paulus eine Ausdeutung des gemeinchristlichen Grundbekenntnisses țȡȚȠȢ ȘıȠ૨Ȣ unterschieben möchte, nach der bloßes ‚Herr, Herr‘-Sagen reicht, um gerettet zu werden.19 Zudem ist das Problem, dass Lip-
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Zu 7,21 s. SIM, Matthew 7.21–23 (s. Anm. 2), 328–334, für 7,22 a.a.O., 334–341. Mt 8,2.6.8; 9,28; 15,22.25.27; 17,15; 20,30.31.33. 17 Mt 8,21.25; 14,28.30; 16,22; 17,4; 18,21; 26,22. 18 SIM, Matthew 7.21–23 (s. Anm. 2), 331. 19 In 1Kor 12,3 geht es Paulus darum, den Aspekt des Geistbesitzes gegenüber der korinthischen Fixierung auf außeralltägliche Geistphänomene wie die Glossolalie und angesichts des elitären Gebarens der Pneumatiker gewissermaßen zu ‚demokratisieren‘: Jeder Christ hat den Geist, denn der Geistbesitz manifestiert sich grundlegend in dem Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn. Darüber hinaus ist nicht auszuklammern, dass für Paulus die Liebe eine zentrale und unabdingbare Manifestation des Geistes ist (1Kor 13; Gal 5,22). 16
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penbekenntnissen keine Taten folgen, kein spezifisch paulinisches. Entsprechende Kritik konnte Matthäus reichlich schon in der Schrift finden (vgl. exemplarisch das Zitat von Jes 29,13 in Mt 15,8f!20). Wie steht es aber mit der in Mt 7,22 folgenden Trias? Es ist gut möglich, dass die Trias ‚Prophetie – Exorzismen – Machttaten/Heilungen‘, zu der sich in der Parallele des Q-Passus in Lk 13,26 kein Pendant findet, auf matthäischer Redaktion beruht.21 In diesem Fall könnte man folgern, dass Mt 7,22 ein für den Evangelisten aktuelles Phänomen in den Blick nimmt: Es gibt in seinem Umfeld – nach V.15 von außen kommende (ȠIJȚȞİȢ ݏȡȤȠȞIJĮȚ ʌȡާȢ ބȝߢȢ) – Christusgläubige, die prophetisch reden und/oder als Exorzisten auftreten und/oder wundersame Taten/Heilungen zu vollbringen vermögen, die sich aber zugleich aufgrund ihres – nach matthäischer Deutung – nicht torakonformen Lebensstils keine Hoffnung machen dürfen, Zutritt zum Himmelreich zu erlangen. Nicht zu bestreiten ist zudem, dass Prophetie (Röm 12,6; 1Kor 12,10.28f; 14; 1Thess 5,20) und Heilungen (1Kor 12,9f.30, vgl. 2Kor 12,12) im paulinischen Kontext eine Rolle spielten. Sie sind aber für Paulus in keiner Weise spezifisch. Von (christlichen) Propheten spricht Matthäus – im positiven Sinne – in Mt 10,41 und 23,34 (s. auch 5,1222); zudem sollen die Jünger in der Lage sein, Heilungen zu vollbringen (10,8; 17,14–20), und in 10,1 überträgt Jesus den Zwölfen „Vollmacht über die unreinen Geister, um sie auszutreiben und jede Krankheit und Schwäche zu heilen“. Nichts weist hier spezifisch auf ein von Paulus geprägtes Gegenüber, zumal ferner anzumerken ist, dass das dritte Glied, das Austreiben von Dämonen, bei Paulus kein Pendant findet.23 Es 20 Vgl. alttestamentlich ferner z.B. die prophetische Kritik in Texten wie Jes 1,11–17; 58,1–12; Am 5,21–24; Mi 6,6–8. Frühchristlich z.B. 1Joh 1,6; 2,4.9; 4,20; Offb 3,15f; Herm, Sim 8,9,1. 21 Vgl. zu dieser Frage die differenzierte Erörterung bei U. LUZ, Evangelium nach Matthäus, Bd 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 523. 22 Matthäus’ Wendung „die Propheten, die vor euch (waren)“ schließt ein, dass es auch in der Gegenwart unter den Adressaten Propheten gibt. 23 Dies räumt auch SIM, Matthew 7.21–23 (s. Anm. 2), 336 ein, doch versucht er dieses Defizit durch einen Verweis auf die in Apg 16,16–18; 19,11f.13–20 dargebotene Paulustradition auszugleichen. Selbst dann aber, wenn Lukas hier ältere Traditionen über Paulus aufnimmt, ist damit – abgesehen davon, dass sich über die lokale Verbreitung solcher Traditionen (im Osten des Reiches) nichts sagen lässt (die Aussage von SIM , Matthew 7.21–23 [s. Anm. 2], 337: „it is entirely plausible that Matthew knew some of these traditions that were circulating around the early church“ ist rein spekulativ) – nichts gewonnen. Denn Exorzismen sind jedenfalls nichts, was man in der frühchristlichen Tradition spezifisch mit Paulus hätte verbinden können. Sims weiteres Postulat, dass mit dem fremden Exorzisten in Mk 9,38–40 Paulus gemeint sei, Matthäus sich dessen bewusst gewesen sei und wegen dieses Bezugs Mk 9,38–40 übergangen habe (SIM, Matthew 7.21–23 [s. Anm. 2], 337–339), ist ebenfalls nichts anderes als reine Spekulation. Matthäus hat die von Markus in Mk 9,38– 40 bezogene Position in der Tat nicht geteilt; Mt 7,22 spiegelt ebendies wider. Aber ein Bezug auf Paulus lässt sich hier in keiner Weise stichhaltig erweisen. Auch THEISSEN , Kritik
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kommt hinzu, dass umgekehrt die Deutung von Prophetie und Heilungen als Manifestationen des Geistes, die Sim als für Paulus charakteristisch anspricht24, in Mt 7,22f keine Rolle spielt. Matthäus redet von Aktivitäten, die ‚im Namen Jesu‘ vollzogen werden, und dies ist, wie Sim selbst einräumt25, alles andere als eine spezifisch auf einen paulinischen Traditionskontext weisende Formel. Mehr noch: ȉ ı ੑȞંȝĮIJȚ ਥʌȡȠijȘIJİıĮȝİȞ könnte Anspielung auf Jer 14,14 bzw. 27,15 (= 34,15LXX) sein, d.h. die Worte, mit denen Matthäus die Abgewiesenen sich selbst präsentieren lässt, gewinnt Matthäus mit dadurch, dass er ihr Auftreten in den Horizont des bereits in der Schrift thematisierten Problems der Falschpropheten einstellt. Damit bleibt als einziges mögliches Indiz für eine spezifisch antipaulinische Stoßrichtung von 7,21–23 (bzw. 7,15–23), dass das Kriterium, durch das die Propheten Matthäus zufolge trotz der von ihnen vollbrachten Machttaten als Falschpropheten ausgewiesen werden, ihr gesetzloses Treiben ist. Positiv gewendet: Matthäus insistiert darauf, dass das einzig zuverlässige Kriterium, an dem echte Propheten erkannt werden, ihr Lebenswandel ist (vgl. Did 11,8.10). Wenn dieser nicht gegeben ist, muss man sich vor den ‚Propheten‘ hüten, weil von solchen ‚Propheten‘ ein schlechter Einfluss ausgeht. Das Verdikt der Gesetzlosigkeit gilt dabei für Matthäus kaum erst bei gravierenden ethischen Vergehen; es genügt, wenn jemand sich nicht im matthäischen Sinn, wie er exemplarisch in Mt 5,20–48 entfaltet wird, torakonform verhält.26 Darüber hinaus ist zu 7,21–23 zu beachten, dass hier gegen die Abgewiesenen nicht der Vorwurf erhoben wird, dass sie Gesetzlosigkeit lehrten27; in der Kritik steht allein ihre Praxis. Aufgrund dieses Textbefundes spezifisch auf eine antipaulinische Ausrichtung des Passus zu schließen, ist eine mehr als gewagte Annahme, die weit mehr Eindeutigkeit suggeriert, als der Text tatsächlich bietet. Im Übrigen ist, ohne damit eine ausschließliche Identifizierung der Falschpropheten mit ‚Markinern“‘ zu postulieren, analog zu 5,17–19 anzumerken, dass der Vorwurf der ‚Gesetzlosigkeit‘ in Matthäus’ Sicht auch die markinische Position trifft. Festzuhalten ist damit: Auch zu 7,21–23 lassen sich keine hinreichend signifikanten Berührungen namhaft machen, die spezifisch auf die Abwehr von Paulus bzw. von Paulus geprägten Christen schließen lassen. Man muss schlicht konzedieren, dass der Versuch einer präzisen Identifizierung der in
(s. Anm. 3), 475, Anm. 32 vermag Sim an dieser Stelle nicht zu folgen: „Exorzismen gehören nicht zu den typischen Merkmalen des paulinischen Auftretens. Falls man das Markusevangelium in die Nähe des Paulus rückt, kann Paulus außerdem aus Sicht des Evangelisten kaum ein fremder Exorzist sein“ (Hervorhebung im Original). 24 SIM, Matthew 7.21–23 (s. Anm. 2), 335. 25 SIM, Matthew 7.21–23 (s. Anm. 2), 336. 26 Vgl. die entsprechende Überlegung bei LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 21), 524. 27 Ebenso LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 21), 524.
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7,21–23 Anvisierten angesichts der Datenlage aussichtslos ist.28 Hinreichend plausibel zu machen ist – wiederum – allein, dass diejenigen, die das Markusevangelium im matthäischen Kontext verbreiteten, mit unter das von Matthäus gegen die Falschpropheten und ‚Herr, Herr‘-Sager gesprochene Verdikt fallen, ohne dass man jene auf die ‚Markiner‘ eingrenzen könnte. 1.3 Mt 13,24–30.36–43 Mit dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen und seiner Deutung in Mt 13,24–30.36–43 ist für einen Text antipaulinisches Kolorit erwogen oder postuliert worden29, bei dem die Schärfe der Polemik gegen Paulus gegenüber den im Voranstehenden behandelten Texten eine neue Dimension gewinnen würde. Sim deutet das Nebeneinander von Weizen und Unkraut auf die Kirche als corpus mixtum. Während dieser Ansatz von einigen Auslegern geteilt wird30, erfährt er bei Sim dadurch eine eigene Ausprägung, dass er die corpus mixtum-Vorstellung nicht auf die einzelne (matthäische) Gemeinde bezieht31, sondern auf „the Christian movement in general“32. Das Unkraut auf dem Acker identifiziert er mit dem gesetzesfreien bzw. paulinischen Flügel der Bewegung.33 Wäre dies richtig, würde die antipaulinische Polemik hier geradezu zu einer ‚Verteufelung‘ von Paulus bzw. den Paulinern ansetzen und damit noch deutlich schwereres Geschütz auffahren als in 5,17–19 oder auch in 7,21– 23: Paulus und die von ihm geprägten Glieder der christusgläubigen Bewegung gehen auf die Aussaat des Teufels zurück. Gestützt wird diese Deutung damit, dass die „Söhne des Bösen“ (13,38) in V.41 dadurch gekennzeichnet werden, dass sie „Gesetzlosigkeit“ begehen (IJȠઃȢ ʌȠȚȠ૨ȞIJĮȢ IJޣȞ ܻȞȠȝަĮȞ). Das passe zu Paulus bzw. zur matthäischen Sicht von Paulus. Kurzum: Paulus’ „law-free
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Ähnlich urteilen W.D. DAVIES – D.C. ALLISON , The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 702: „Prudence reminds us that we just do not have enough data on which to base a firm decision“. 29 Siehe SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 203–207; THEISSEN , Kritik (s. Anm. 3), 479f sowie auch WONG, Evangelien (s. Anm. 3), 116–118.127f. 30 Für eine substantielle und m.E. berechtigte Kritik an der corpus mixtum-Interpretation s. P. LUOMANEN, Corpus Mixtum – An Appropriate Description of Matthew’s Community?, JBL 117 (1998), 469–480. 31 SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 204 vermerkt zu Recht, dass sich die corpus mixtum-These im Blick auf die matthäische(n) Gemeinde(n) mit 18,(15–)17 stößt. Dies kann aber nicht dazu führen, die These in anderer Gestalt fortzuführen, sondern allein dazu, ihr den Abschied zu geben (s. oben Anm. 30). Keiner der für die These angeführten Belege ist stichhaltig (zu 13,36–43 s. im Folgenden, zu 22,10 s. KONRADT, Evangelium nach Matthäus [s. Anm. 12], 341f). 32 SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 204. 33 SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 204.
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gospel […] was initiated by the devil to ruin the good work which Jesus had begun.“34 Nun wäre es angesichts der Schärfe, mit der Matthäus sich gegen seine pharisäischen Gegner wendet (s. z.B. 12,25–37; 15,13f; 23,1–36), ohne Weiteres denkbar, dass er auch gegen binnenchristliche Opponenten deutliche Worte findet.35 Polemik war in der Antike im Allgemeinen nicht zimperlich. 36 Es liegt allerdings in keiner Weise nahe, 13,36–43 als eine Darstellung der christusgläubigen Bewegung als eines corpus mixtum zu lesen. Die ‚ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohns‘ (13,41, vgl. 16,28 sowie auch 20,21) ist nicht, wie David Sim postuliert, mit „the Christian movement“37 zu identifizieren. Ihre Dimension gewinnt die ‚ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohns‘ vielmehr durch die Aussage in 28,18:38 Dem Auferweckten ist „alle Vollmacht im Himmel und auf Erden gegeben“. Dem korrespondiert, dass der Acker im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen in 13,38 eben nicht mit der Kirche, sondern mit dem Kosmos identifiziert wird. Die Intention des Gleichnisses (13,24–30) bzw. seiner Deutung in 13,36–43 besteht darin, die Situation der ecclesia angesichts der Gegnerschaft und Feindschaft, die sie von außen erfährt, verstehbar zu machen, indem diese Konstellation als Konsequenz des in der Zeit zwischen Auferstehung und Parusie Jesu noch fortbestehenden Antagonismus zwischen Gott/Jesus einerseits und dem Teufel andererseits gedeutet wird:39 Die Herrschaft des Menschensohns wirkt sich in der Gegenwart nicht dergestalt aus, dass alle Menschen sich dieser unterstellen40; vielmehr ist die Situation bis zum Endgericht noch dadurch bestimmt, dass neben der ‚Aussaat‘ des Menschensohns, die durch die Mission der von ihm ausgesandten Jünger vollzogen wird (28,19f), der ‚Teufel‘ noch sein Unwesen in der Welt treibt. Bis zur Parusie müssen daher „die Söhne des Reiches“, also diejenigen, die das „Evangelium vom Reich“ (vgl. 4,23; 9,35) positiv aufgenommen haben und denen das Reich 34
SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 204. Umgekehrt war auch Paulus in seiner Polemik nicht gerade zurückhaltend, wie 2Kor 11,3.13–15.19f; Gal 5,(7–)12; 6,12f; Phil 3,2.18f mit exemplarischer Deutlichkeit belegen. 36 Vgl. dazu L.T. JOHNSON, The New Testament’s Anti-Jewish Slander and the Conventions of Ancient Rhetoric, JBL 108 (1989), 419–441, bes. 430–441. 37 SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 203. 38 Vgl. zu diesem Zusammenhang KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 12), 223. 39 Ausführlicher dazu KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 12), 217–219.221– 224. 40 Zur Vorstellung vom Reich des Menschensohns s. J. ROLOFF, Das Reich des Menschensohnes. Ein Beitrag zur Eschatologie des Matthäus, in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Gräßer), hg. v. M. Evang – H. Merklein – M. Wolter, BZNW 89, Berlin – New York 1997, 275–292 und in diesem Band den Beitrag „‚Ihr wisst nicht, was ihr erbittet‘ (Mt 20,22). Die Zebedaidenbitte in Mt 20,20f und die königliche Messianologie im Matthäusevangelium“, 184–190. 35
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zugedacht ist (5,3.10 und öfter), damit zurechtkommen, dass sie inmitten von „Söhnen des Bösen“ leben, von denen sie angefeindet werden. Wenn man nun 13,36–43 im Gesamtzusammenhang der matthäischen Jesusgeschichte liest, dann bietet sich als Antwort auf die Frage, an wen Matthäus bei den „Söhnen des Bösen“ vorrangig gedacht haben wird, geradezu von selbst an, dass es um die Anfeindung geht, der sich die matthäischen Gemeinden vor allem von jüdischer Seite ausgesetzt sahen (10,17; 23,34).41 Dem fügt sich ein, dass die Rede von den „Söhnen des Bösen“ als Resultat des Wirkens des Teufels (13,38) im unmittelbar vorangehenden Kontext darin ein Pendant findet, dass Matthäus die Schriftgelehrten und Pharisäer nicht nur als wesenhaft „böse“ qualifiziert (12,34) bzw. als „böses (und ehebrecherisches) Geschlecht“ tituliert (12,39.45), sondern zugleich auch den Beelzebulvorwurf (12,24) auf sie zurückfallen lässt, indem er umgekehrt die Schriftgelehrten und Pharisäer dämonisiert (12,43–45).42 Die Kennzeichnung der „Söhne des Bösen“ als solche, die ਕȞȠȝĮ begehen, steht dieser Deutung nicht im Wege, im Gegenteil. Denn ਕȞȠȝĮ wird im Matthäusevangelium nicht nur binnenchristlich als Kriterium dafür geltend gemacht, warum der Zugang zum Himmelreich versperrt bleibt (7,21–23), sondern in 23,28 auch den Schriftgelehrten und Pharisäern angelastet. Festzuhalten ist damit: Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen in 13,36–43 erläutert den Jüngern, dass trotz des Wirkens des Messias und der Etablierung seiner ȕĮıȚȜİĮ das Böse in der Welt noch fortbesteht und erst mit dem Endgericht ausgemerzt werden wird. Es geht hingegen mit keinem Wort um binnenkirchliche Flügelkämpfe und die Delegitimation anderer frühchristlicher Strömungen. Als Beleg für einen etwaigen Antipaulinismus im Matthäusevangelium muss (auch) dieser Passus ausscheiden. 1.4 Mt 16,17–19 Ein klares Beispiel für die matthäische Bezugnahme auf Paulus macht Sim in der Replik des matthäischen Jesus auf das Petrusbekenntnis (16,16) in 16,17– 19 aus43, mit der Matthäus „certain claims of Paul“44 zurückzuweisen suche. Zunächst zu V.18(f): Sim sieht hier eine direkte Antwort auf Paulus’ Ablehnung „of Peter’s fundamental role in establishing the Christian movement“45, für die er 1Kor 3,11 und 1Kor 10,4 ins Feld führt. In 1Kor 3,11 ist allerdings 41
Zur Bedrängnis- und Verfolgungssituation s. ferner Mt 5,10–12.44; 10,16–39; 13,21; 24,9–13. 42 Zur Deutung von Mt 12,43–45 vgl. KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 12), 205. 43 Siehe SIM, Pauline Corpus (s. Anm. 2), 411: „perhaps the clearest example of this intertextual relationship“. 44 SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 201. 45 SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 201.
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gar nicht von einem Felsen (ʌIJȡĮ) die Rede, sondern von einem Fundament (șİȝȜȚȠȞ). Zudem liegt die Annahme einer antipetrinischen Stoßrichtung von 1Kor 3,11 im Kontext von 1Kor 1–4 schon deshalb nicht nahe46, weil Paulus’ Argumentation gegen die korinthische Gruppenbildung an erster Stelle die Apollosleute im Blick hat.47 In 1Kor 10,4 spricht Paulus zwar von einer ʌIJȡĮ, aber die Identifizierung Christi mit dem „geistlichen Felsen“, der Israel in der Wüste Wasser spendete (Ex 17,6; Num 20,7–11, vgl. Ps 78,15f), besitzt auch nicht im Geringsten eine gegen Petrus gerichtete Spitze.48 Letzteres konzediert auch Sim.49 Dennoch nimmt er an, dass Matthäus 1Kor 10,4 vor dem Hintergrund von 3,11 als gegen Petrus gerichtet gelesen habe.50 Sims Hypothesengebilde setzt dabei ein Wechselspiel zwischen den Texten voraus: Erst habe Paulus sich in 1Kor 3,11 gegen Petrus’ Anspruch gewendet – dazu muss man annehmen, dass Paulus’ Kenntnis von einer Tradition à la Mt 16,18 gehabt habe. Dann habe Matthäus sich durch Paulus’ Bestreitung der Rolle des Petrus, wie sie aus 1Kor 3,11; 10,4 hervorgehen soll, provoziert gesehen und habe Petrus’ Rolle durch Mt 16,17–19 gegen Paulus zur Geltung gebracht. Die Auseinandersetzung mit Sims Interpretation des Befundes kann von der Frage, ob Paulus’ Aussage in 1Kor 3,11 antipetrinisch ausgerichtet ist (sie ist es, wie angedeutet, m.E. nicht), absehen und sich auf den zweiten Teil der Hypothese, der vermeintlichen Reaktion von Matthäus auf die paulinischen Aussagen, konzentrieren. Von tragfähigen Indizien kann hier nicht die Rede sein. Zur angemerkten terminologischen Differenz zwischen Mt 16,18 und 1Kor 3,11 kommt hinzu, dass nicht ersichtlich ist, wieso Matthäus die christologischen Aussagen in 1Kor 3,11 und 10,4 als Angriff auf die hervorgehobene Stellung von Petrus verstanden haben sollte; es geht in 1Kor 3,11; 10,4 ja in 46
Kritisch zu einer antipetrinischen Stoßrichtung von 1Kor 3,11 z.B. W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther. Bd. 1: 1Kor 1,1-6,11, EKK 7.1, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1991, 295. Anders z.B. G. LÜDEMANN, Paulus, der Heidenapostel, Bd. 2: Antipaulinismus im frühen Christentum, FRLANT 130, Göttingen 1983, 120–122. Zu weiteren Stimmen s. die Literaturverweise in M. KONRADT, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor, BZNW 117, Berlin – New York 2003, 259, Anm. 293. 47 Zur Problemlage und zu Paulus’ Argumentation in 1Kor 1–4 s. M. KONRADT, Die korinthische Weisheit und das Wort vom Kreuz. Erwägungen zur korinthischen Problemkonstellation und paulinischen Intention in 1 Kor 1–4, ZNW 94 (2003), 181–214. 48 Zu Paulus’ Argumentation in 1Kor 10,1–14 und der Funktion des Rekurses auf die Wüstengeneration darin s. KONRADT, Gericht (s. Anm. 46), 370–386. 49 Siehe SIM, Pauline Corpus (s. Anm. 2), 415: „Of course Paul is here not referring at all to Peter.“ 50 Siehe SIM, Pauline Corpus (s. Anm. 2), 415: „Given that Paul in 1 Cor. 3.11 has described Christ as the foundation of the church, thereby denying Peter this role, the evangelist may well have seen the reference to Christ as the rock later in the epistle as a further attack on the privileged position of the disciple.“
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keiner Weise darum, dass Paulus für sich selbst den Anspruch erhebt, Fundament der Kirche zu sein, sondern er spricht eben von Christus als dem Fundament bzw. als dem Felsen.51 Im Rahmen des Winzergleichnisses hat Matthäus selbst in 21,42 mit dem Schriftzitat von Ps 118,22f (vgl. Mk 12,10; Lk 20,17) die metaphorische Bezeichnung Jesu als des verworfenen Steins, der zum Eckstein geworden ist, aufgenommen. Matthäus sah hier offensichtlich keine Spannung zwischen der Zusage an Petrus, dass er der Fels sei, auf dem (nach Ostern) die Kirche errichtet werde, und der Aussage, dass Jesus durch die Auferweckung zum Eckstein geworden sei.52 Die Option, die Replik des matthäischen Jesus auf das Bekenntnis des Petrus als Widerrede gegen einen von Paulus für sich erhobenen Anspruch zu lesen, steht allerdings zur Debatte, wenn man Mt 16,17 einbezieht: „Jesus aber antwortete und sagte zu ihm: Glückselig bist du, Simon, Bar-Jona. Denn nicht Fleisch und Blut haben es dir offenbart (IJȚ ıޟȡȟ țĮ ޥĮݮȝĮ Ƞț ܻʌİțޠȜȣȥޢȞ ıȠȚ), sondern mein Vater in den Himmeln.“ Sim sieht in Mt 16,17 eine direkte Antwort auf den Offenbarungsanspruch, den Paulus mit ganz ähnlichen Worten in Gal 1,12.15f für sich in Anspruch genommen hat.53 Mt 16,17 hat dabei als Indiz für eine antipaulinische Ausrichtung des Passus auch insofern mehr Gewicht als V.18f, als hier mit dem Begriffspaar ıȡȟ țĮ ĮੈȝĮ und dem Verb ਕʌȠțĮȜʌIJİȚȞ verbale Übereinstimmungen mit Gal 1 zu verzeichnen sind.54 Gegen Sims These lässt sich m.E. nicht geltend machen, dass Mt 16,17–19 in Gänze auf einer vormatthäischen Tradition beruht55, so dass umgekehrt die
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Vgl. WHITE, Conversion (s. Anm. 2), 365. Vergleichen kann man die Kombination der Vorstellungen in Eph 2,20: Die Apostel und Propheten bilden das Fundament des Baus, dessen Eckstein Jesus Christus ist. Dabei fällt auf, dass in dieser deuteropaulinischen Ausformung der Vorstellung nicht Paulus in Abgrenzung von anderen führenden Gestalten als Fundament deklariert wird, sondern offen in der Mehrzahl von den Aposteln die Rede ist. 53 Die literarische Kenntnis des Galaterbriefs durch Matthäus ist SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 203 zufolge nur eine Option, denn Sim postuliert, dass Paulus das in Gal 1 Ausgeführte in ähnlicher Weise „on countless occassions“ vorgetragen habe; es sei daher „doubtless well known by all factions in the early church“ gewesen. „In this case Matt. 16:17–19 was merely responding to general Pauline claims and not to the written text of Galatians“ (ebd.). Beweisen lassen sich diese Annahmen nicht, und diese Beweisnot lässt sich auch nicht durch Qualifizierungen wie „doubtless“ verschleiern. 54 Eine gegen Paulus gerichtete Auswertung hat Mt 16,16f bereits in den Pseudoklementinen gefunden (s. Homilie 17,18,1f). In der modernen Auslegungsgeschichte s. z.B. bereits J. KREYENBÜHL, Der Apostel Paulus und die Urgemeinde, ZNW 8 (1907), 163–189, der in Mt 16,17–19 die Reaktion der Jerusalemer Urgemeinde auf den Galaterbrief erhalten sieht (165). 55 Vgl. dazu die Erörterung bei W.D. DAVIES – D.C. ALLISON , The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 2, ICC, Edinburgh 1991, 604–615. 52
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Möglichkeit eröffnet wäre, dass Paulus von der in Mt 16,17–19 rezipierten Tradition inspiriert sein mag. 56 Denn selbst, wenn es, was durchaus möglich ist, so war, dass Matthäus eine Version des Petrusbekenntnisses kannte, in der Jesus mit der Petrusverheißung in V.18(f) auf das Bekenntnis seines Jüngers antwortete57, ist damit noch nicht mitgesetzt, dass auch V.17 zu diesem überkommenen Traditionszusammenhang gehörte. Näher liegt es m.E., V.17 als eine matthäische Einfügung zu werten.58 Daraus folgt aber keineswegs, dass Matthäus hier eine antipaulinische Spitze intendierte. Vergleicht man die Texte im Detail, fällt auf, dass die Bezüge der einzelnen Elemente zueinander nicht identisch sind. 59 In Gal 1,16 stehen nicht wie in Mt 16,17 die Optionen Offenbarung durch Gott oder durch „Fleisch und Blut“ einander gegenüber, sondern Paulus führt, um seine Unabhängigkeit von Jerusalem darzutun, aus, dass er nach dem Empfang der Gottesoffenbarung nicht die Beratschlagung mit Menschen (= „Fleisch und Blut“) gesucht habe, sondern nach Arabien gegangen sei. Die Option „Offenbarung durch Fleisch und Blut“ steht hier gar nicht zur Debatte60, dies ist eine für Mt 16,17 eigentümliche Formulierung. Damit ist verbunden, dass auch der Referenzpunkt der Wendung „Fleisch und Blut“ jeweils ein anderer ist. In Gal 1,16 sind damit ‚andere Menschen‘ gemeint, deren Rat Paulus nicht gesucht hat61; in Mt 16,17 bezieht sich „Fleisch und Blut“ hingegen zumindest in erster Hinsicht auf Petrus selbst: Petrus ist nicht von allein, d.h. nicht aufgrund eigener kreatürlicher Erkenntnisfähigkeit, auf die Idee gekommen, dass Jesus der Sohn Gottes ist; zu dieser Erkenntnis hat ihm vielmehr der himmlische Vater verholfen. Anzumerken ist zudem, dass das Begriffspaar
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Kenntnis einer Mt 16,17–19 ähnlichen Tradition durch Paulus nehmen hingegen D AMatthew II (s. Anm. 55), 609f an. Siehe ferner z.B. B.P. ROBINSON, Peter and his Successors: Tradition and Redaction in Matthew 16.17-19, JSNT 21 (1984), 85–104: 89 zu Mt 16,17: Paulus „knew of the tradition subsequently enshrined in Matt. 16.17 and was consciously staking out for himself a claim comparable with that made for Peter.“ 57 Neben anderen ging auch R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT29, Göttingen 91979, 277f bereits davon aus, dass Mt 16,13–20 die überlieferungsgeschichtlich gegenüber Mk 8,27–30 ältere Version präsentiert und Markus den in 16,17–19 enthaltenen ursprünglichen Schluss „weggebrochen“ habe (277). 58 Vgl. J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 2, HThKNT 1.2, Freiburg – Basel – Wien 21992, 54; U. LUZ, Evangelium nach Matthäus, Bd. 2: Mt 8–17, EKK 1.2, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1990, 454. – Auffällig ist die Analogie zwischen V.16 und V.18: ıઃ İੇ ȆIJȡȠȢ in V.18 ist direkt analog zu ıઃ İੇ ȤȡȚıIJંȢ in V.16 gebildet. 59 Ebenso IVERSON, Enemy (s. Anm. 2), 20f. 60 Dies gilt notabene, streng genommen, auch für Gal 1,12: Die Alternative, die hier im Blick auf die Herkunft des von Paulus verkündigten Evangeliums aufgemacht wird, lautet ‚von einem Menschen – durch Offenbarung Jesu Christi‘, nicht aber: ‚durch Offenbarung von Menschen – durch Offenbarung Jesu Christi‘. 61 Vgl. exemplarisch F. MUSSNER, Der Galaterbrief, HThKNT 9, Freiburg – Basel – Wien 4 1981, 89f. VIES/A LLISON,
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„Fleisch und Blut“ (oder auch „Blut und Fleisch“) auch anderorts als Bezeichnung des Menschen (in seiner geschöpflichen Begrenztheit und Vergänglichkeit oder auch seiner moralischen Anfälligkeit) begegnet62; Matthäus nimmt hier eine durchaus geläufige Redeweise auf. Zieht man die unterschiedlichen Formen der Verknüpfung mit der Offenbarungsaussage hinzu, so dürfte die einfachste und plausibelste Erklärung für den Befund die sein, dass die jeweilige Verwendung des Begriffspaars ıȡȟ țĮ ĮੈȝĮ in Verbindung mit dem Verb ਕʌȠțĮȜʌIJİȚȞ (Matthäus) bzw. im Umfeld der Verwendung von ਕʌȠțĮȜʌIJİȚȞ (Paulus) eine zufällige Koinzidenz ist63, die sich aus gemeinsamen Traditionsvoraussetzungen ergibt64 und jedenfalls nicht hinreichend signifikant ist, um ein Abhängigkeitsverhältnis in die eine oder andere Richtung zu begründen. Entscheidend aber ist, dass sich die Einfügung von V.17 – abseits der Abwehr anderweitiger Offenbarungsansprüche – im Rahmen der der matthäischen Jesusgeschichte eigenen Darstellungsintention schlüssig erklären lässt. Mt 16,17 greift, auch in der Form des Makarismus, 13,16(f) auf und spitzt die dortige Aussage über die Jünger, denen es nach 13,11 im Unterschied zu den Volksmengen (von Gott) gegeben wurde, die Geheimnisse des Himmelreiches zu kennen, unter Einfluss von 11,25–27 (ʌĮIJȡ, ਕʌȠțĮȜʌIJİȚȞ)65 auf Petrus als primus inter pares des Jüngerkreises zu. Ihren übergreifenden Sinn erfährt die Aussage in V.17 dabei dadurch, dass die Offenbarungsaussage die Differenz zwischen der von Petrus artikulierten Messiaserkenntnis der Jünger und der Messiaserkenntnis der Volksmengen markiert. Denn bei Matthäus erkennen auch die Volksmengen Jesus sukzessiv als Messias, nämlich im Sinne seiner davidischen Messianität (12,33; 21,9, vgl. auch 21,15) und aufgrund seines
62 Siehe Sir 14,18; 17,31; 1Hen 15,4; LAB 9,2; 62,6; TestAbr B 13,7; (Philo, Her 57); 1Kor 15,50; Eph 6,12; Hebr 2,14, vgl. auch Joh 1,13 sowie – im Rahmen eines von Philo mehrfach, mit leichten Variationen, angeführten Euripides-Zitats – Philo, Jos 78; LegAll 3,202; Prob 25.99. Die Wendung ist auch in der rabbinischen Literatur verbreitet (s. die Belege in H.L. STRACK – P. BILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 1: Das Evangelium nach Matthäus, München 1922, 730f), wobei häufig die auch in Mt 16,17 vorliegende Gegenüberstellung des Menschen als „Fleisch und Blut“ mit Gott begegnet (s. dazu auch LAB 62,6; Joh 1,13 und cum grano salis TestAbr 13,7). Vgl. für das in Frage stehende Begriffspaar ferner auch die Belege in Ez 32,5LXX; Zeph 1,17LXX; 1Makk 7,17; 4Makk 6,6; 10,8; 1Hen 7,5; Sib 3,697; 5,473 sowie auch Joh 6,53–56. 63 Gegen SIM, Pauline Corpus (s. Anm. 2), 412: „These verbal agreements cannot be attributed to coincidence.“ 64 J. NOLLAND, The Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) – Bletchley 2005, 665 etwa führt den Befund auf das jeweilige Einwirken einer „broader tradition about divine revelation“ zurück. 65 Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 58), 54: Matthäus hat 16,17 „nach Analogie zu 11,25 und 27 gebildet“.
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heilenden Wirkens.66 Die Besonderheit der messianischen Erkenntnis der Jünger manifestiert sich in 16,16 in der von Matthäus zu ıઃ İੇ ȤȡȚıIJંȢ hinzugesetzten Spezifizierung ȣੂઁȢ IJȠ૨ șİȠ૨ IJȠ૨ ȗȞIJȠȢ. Der Gottessohntitel tritt hier nicht additiv zum Messiastitel hinzu, sondern expliziert diesen: Die Jünger erkennen den Messias Jesus nicht bloß wie die Volksmengen als den davidischen Messias, dem die Vollmacht zu heilen gegeben ist, sondern – auf der Basis der besonderen Offenbarung (vgl. 11,25–27), die den Jüngern in 14,22–33 und nach 16,17 spezifisch Petrus zuteil geworden ist (vgl. noch 17,1–9) – als den Sohn Gottes, dessen gottgleiche Macht sich weit über die Heilungen hinaus darin manifestiert, dass ihm sogar Wind und Wellen gehorchen (8,27; 14,28– 33).67 Im Lichte der vorangehenden Passagen 11,25–27 und 13,10–17 ist zudem evident, dass Petrus in 16,17 nicht als singulärer, sondern als für die Jünger repräsentativer Offenbarungsempfänger ausgezeichnet wird. Dem korrespondiert, dass Petrus mit der Identifizierung Jesu als „Sohn des lebendigen Gottes“ in 16,16 ‚lediglich‘ das Bekenntnis aufgreift, das Matthäus in 14,33 bereits den Jüngern im Boot in den Mund gelegt hat. Nicht zuletzt ist zu beachten, dass die inhaltliche Füllung dessen, was Petrus vom Vater offenbart wurde, durch die Gottessohnschaft Jesu schlechthin dysfunktional wäre, wenn 16,17 dazu dienen sollte, in Konkurrenz zu anderen christlichen Offenbarungsansprüchen eine spezifisch von Petrus geprägte Gestalt des ‚Evangeliums‘ legitimieren zu wollen. Denn Petrus spricht mit dem von Matthäus auf göttliche Offenbarung zurückgeführten und auf diese Weise legitimierten Messiasbekenntnis eben allein aus, was für Matthäus das Grundbekenntnis aller Jesusnachfolger ist: Kirche ist dort, wo Jesus als Sohn Gottes bekannt wird.68 Entsprechend geht es bei der Offenbarungsaussage in 16,17 um die Legitimation des christlichen Bekenntnisses gegenüber Außerstehenden, wie sich dies innerhalb der matthäischen Erzählung analog auch in der Konstellation in 13,10–17 wie auch in 11,25–30 abbildet69, nicht aber um eine binnenchristliche Legitimation von Petrus gegenüber anderen Ausformungen des Evangeliums. 1.5 Mt 28,16–20 Eine antipaulinische Stoßrichtung ist schließlich auch für Mt 28,16–20 postuliert worden: Die Beauftragung des um Judas reduzierten Zwölferkreises mit der Völkermission reagiere auf Paulus’ Anspruch, dass IJઁ İĮȖȖȜȚȠȞ IJોȢ 66 Siehe dazu M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker nach dem Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 42–47.102–105.316f. 67 Ausführlicher dazu und insbesondere zum Verhältnis von 16,17 zu 14,28–33 KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 12), 261. 68 Vgl. dazu KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 12), 262. 69 Siehe dazu KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 12), 187–190.211– 215.
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ਕțȡȠȕȣıIJĮȢ ihm anvertraut worden sei (Gal 2,7). Es kann dabei für den hier verfolgten Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob die ebenso eingängige wie im Detail schwierig zu deutende Formel in Gal 2,7 eine historisch adäquate Wiedergabe der beim Apostelkonvent (Gal 2,1–10, vgl. Apg 15,1–29) erzielten Übereinkunft bietet oder aber, was m.E. die naheliegende Option darstellt, als eine personalisierende, auf das Gegenüber von Paulus und Petrus zuspitzende Formulierung zu werten ist, deren Grundlage die Akzeptanz des von der antiochenischen (!) Delegation vertretenen „Evangeliums für die Unbeschnittenen“ neben dem etablierten „Evangelium für die Beschnittenen“ ist. Nicht zu bestreiten ist jedenfalls, dass das Gesamtbild der frühchristlichen Mission inkl. der Einbeziehung von Menschen aus den Völkern in die missionarische Zuwendung viel zu differenziert war, um in der von Paulus in Gal 2,7 gebotenen Formel suffizient abgebildet werden zu können. Für Mt 28,16–20 bedeutet dies, dass man nicht davon ausgehen kann, dass darin, dass hier der Kreis um Petrus mit der universalen Mission betraut wird, automatisch eine Spitze gegen Paulus mitgesetzt ist, als sei die Alternative ‚Petrus/Jerusalem oder Paulus‘ der alles bestimmende Grundantagonismus in der Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums gewesen und also mit der Anknüpfung an den einen zugleich immer auch die Absetzung von dem anderen mitgesetzt. Dass man die Öffnung für die Völker mit Petrus verbinden kann, ohne ein Antipauliner zu sein, zeigt im Übrigen mit hinreichender Klarheit schon der Verfasser der Apostelgeschichte (s. Apg 10,1–11,18). Betrachtet man Mt 28,16–20 für sich, ist anzumerken, dass dem Passus selbst jeglicher polemischer Anstrich fehlt. Die Figurenkonstellation, dass Jesus seine „elf Jünger“ (28,16) beauftragt, knüpft im Duktus der matthäischen Erzählung an Mt 10 an. Der Ton liegt entsprechend in 28,16–20 nicht darauf, dass die elf Jünger um Petrus – und niemand anders – mit der Völkermission betraut werden, sondern dass die Jünger, die in Mt 10 allein zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6) gesandt wurden, nun – auf der Basis des Todes Jesu für „die Vielen“ (26,28) auch zu den Völkern gehen sollen.70 Sim macht hingegen geltend, dass die matthäische Konzeption der Ausweitung der vorösterlich zunächst nur Israel geltenden Mission auf alle Völker bedeute, dass es bei Matthäus allein „a single mission to all the nations“ gebe71, und dies der in Gal 2,7 begegnenden Vorstellung von zwei voneinander unabhängigen Missionen widerspreche. Dieses Argument geht aber schon deshalb ins Leere, weil man erst einmal erweisen müsste, dass die in Gal 2,7 mitgeteilte Regelung, was immer sie genau bedeutet hat, in der frühchristlichen Missionsgeschichte 70
Zur Verankerung der Abfolge der beiden Aufträge in der narrativen christologischen Konzeption des ersten Evangelisten s. in diesem Band auf S. 115–145 den Beitrag „Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie“. 71 SIM, Origin and Nature of the Gentile Mission (s. Anm. 2), 388.
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mehr als ein Durchgangsstadium war, ja dass sie sogar (gut) dreißig Jahre nach dem Apostelkonvent (und lange nach dem Tod der damaligen Protagonisten) noch virulent und relevant war. Seine Bedeutung für die postulierte antipaulinische Stoßrichtung von Mt 28,16–20 gewinnt die These der kritischen Bezugnahme auf die Regelung von Gal 2,7 zudem erst durch die ebenfalls unwahrscheinliche Annahme, dass in 28,19f die Beschneidung nicht deshalb fehle, weil sie selbstverständlich von ‚Heiden‘ nicht verlangt wurde, sondern nicht erwähnt werde, weil sie ganz selbstverständlich bei der Konversion von Menschen aus den Völkern praktiziert wurde.72 Das Bündel an Indizien, das für die traditionelle Sicht einer beschneidungsfreien Völkermission in 28,19f spricht, habe ich an anderer Stelle erörtert.73 Wichtig ist, dass Beschneidungsverzicht nicht bedeutet, dass von einer generell gesetzesfreien Völkermission zu sprechen ist – von einer solchen kann bei Matthäus ganz offenkundig nicht die Rede sein.74 Sims Tendenz, allein die Extreme (völlig) ‚gesetzesfreie‘ Völkermission und volle Verpflichtung auf die Tora inkl. Beschneidung gegeneinander zu stellen, bedeutet hier eine in die Irre führende Komplexitätsreduktion. Anzufügen ist schließlich, dass Petrus in 28,16–20 gar nicht namentlich erwähnt wird; er ist ‚nur‘ einer der elf Jünger. Diese, nicht allein Petrus, werden beauftragt, zu allen Völkern zu gehen. Der Sinn ihrer Beauftragung ist im Duktus der Erzählung evident: Sie haben Jesus begleitet, sie sind daher qualifiziert, seine Lehre weiterzugeben, können als Garanten dafür fungieren, dass die nachösterliche Lehre in der Tat eine authentische Weiterführung der Unterweisung Jesu ist. Dass in dieser positiven Aussage zugleich eine polemische Delegitimation anderer (wie Paulus) mitgesetzt ist, geht aus dem Text selbst nicht hervor. Man kann diese Annahme wiederum nur von außen in den Text hineintragen. Überblickt man das Ganze, kann ein Zwischenfazit gezogen werden: Kein einziger Text des Matthäusevangeliums, der für die These seiner antipaulinischen Ausrichtung vorgebracht wurde, hält einer kritischen Überprüfung stand. 72
Siehe SIM, Origin and Nature of the Gentile Mission (s. Anm. 2), 383–388; D.C. SIM, Paul and Matthew on the Torah: Theory and Practice, in: Paul, Grace and Freedom (FS J.K. Riches), hg. v. P. Middleton – A. Paddison – K. Wenell, London – New York 2009, 50–64. 73 Siehe dazu in diesem Band den Beitrag „Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum“, 23–37. 74 Die Relevanz der Differenzierung zwischen ‚beschneidungsfreier‘ und ‚gesetzesfreier‘ Völkermission ist auch gegenüber FOSTER, Paul and Matthew (s. Anm. 2), 109f zur Geltung zu bringen, der im Blick auf die von Sim postulierte Inklusion der Beschneidung in 28,19f anmerkt: „It […] remains beyond the available evidence to determine whether Matthew envisaged a law-free or law-observant mission to Gentiles […]“. Angesichts des Rückverweises, der in Mt 28,20 in įȚįıțȠȞIJİȢ ĮIJȠઃȢ IJȘȡİȞ ʌȞIJĮ ıĮ ਥȞİIJİȚȜȝȘȞ ਫ਼ȝȞ (unter anderem) auf die Bergpredigt enthalten ist, ist Matthäus im Lichte von 5,17–48; 7,12 in keiner Weise eine gesetzesfreie Völkermission zuzuschreiben.
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Oder anders: Das Grundproblem der These, Matthäus sei antipaulinisch, besteht darin, dass sie sich nirgends an hinreichend engen bzw. auffälligen Konvergenzen im Wortlaut oder gar eindeutigen (antithetischen) Bezugnahmen auf Paulusbriefe festmachen lässt. Die bloße Möglichkeit aber, dass sich ein Passus als gegen Paulus gerichtet verstehen ließe, besagt nicht, dass Matthäus sich tatsächlich gegen Paulus gewandt hat. Kurzum: Das Matthäusevangelium bietet nirgends substantielle Indizien, die die These einer antipaulinischen Ausrichtung zu begründen vermögen. Offen ist damit allerdings noch die Frage, ob es textexterne Daten gibt, die der bloßen Möglichkeit, dass in Abschnitten wie 5,17–19 und 7,21–23 Pauliner (mit) im Blick sind, zumindest zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu verhelfen vermögen. Ich beschränke mich dazu im Folgenden auf eine knappe Skizze.
2. Textexterne Indizien: Die Bedeutung von Paulus im Entstehungskontext des Matthäusevangeliums Im Voranstehenden ist deutlich geworden, dass man bereits vorab davon überzeugt sein muss, dass Paulusbriefe bzw. paulinische Positionen im Umfeld des Evangelisten bekannt waren und Einfluss ausübten, um im Matthäusevangelium begegnende Positionen als gegen Paulus gerichtet lesen zu können.75 Das Matthäusevangelium wird zumeist in Syrien lokalisiert. Einige denken speziell an Antiochien, doch ist dies nicht mehr als eine Option76; m.E. liegt der Süden Syriens näher, weil man so die auf Syrien deutenden Indizien77 besser mit der Bedeutung verbinden kann, die die Pharisäer im matthäischen Umfeld in den Synagogen eingenommen haben78, doch kann die Frage hier offenbleiben. 75 Instruktiv ist hierzu die Argumentation bei WONG, Evangelien (s. Anm. 3), 129. Wong konzediert, dass es dafür, dass „Matthäus und seine Gemeinde […] von Paulus und seiner Theologie gehört haben“, „keine eindeutigen Belege […] im Matthäusevangelium gibt“. Der Satzzusammenhang im Ganzen lautet aber: „Aus historischer Sicht müssten Matthäus und seine Gemeinde eigentlich von Paulus und seiner Theologie gehört haben. Obwohl es keine eindeutigen Belege dafür im Matthäusevangelium gibt, können wir die Möglichkeit einer Nachwirkung des Paulus im Matthäusevangelium nicht ausschließen.“ Ausgangspunkt sind hier also nicht textinterne Indizien im Matthäusevangelium. Vielmehr wird die Bekanntheit von Paulus vorausgesetzt und dann auf dieser Basis geprüft, was im Matthäusevangelium als Bezugnahme auf Paulus gelesen werden könnte. 76 Vgl. zu dieser Frage in diesem Band den Beitrag „Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum“, 26f. 77 Vgl. exemplarisch LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 21), 100–103. 78 Vgl. dazu KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 12), 22f. – Die Existenz pharisäischer Gruppen ist bis jetzt für das Diasporajudentum nicht nachgewiesen (s. dazu M.
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Denn selbst dann, wenn man von Antiochien ausgeht, fehlen tragfähige Indizien für eine aktuelle Relevanz von Paulus im matthäischen Umfeld. Autoren, die vertreten, dass im Matthäusevangelium antipaulinische Polemik anzutreffen sei, verweisen als Beleg für die Bekanntheit des Paulus im Entstehungskontext des ersten Evangeliums darauf, dass Paulus in Syrien Mission getrieben (Gal 1,21) und längere Zeit als antiochenischer Missionar gewirkt habe (Apg 11,25f).79 Es ist nicht anzuzweifeln, dass Paulus in dieser Zeit zu einer der führenden Gestalten der antiochenischen Mission aufgestiegen ist. Dass er zur antiochenischen Delegation gehörte, die ca. im Jahr 48 n. Chr. in Jerusalem die Frage der Beschneidung von Heidenchristen klären sollte (Apg 15; Gal 2,1–10), belegt dies exemplarisch. Daraus folgt nicht, dass Paulus damals der führende Kopf der antiochenischen Gemeinde war, auch wenn Paulus’ eigener Bericht vom Apostelkonvent in Gal 2,1–10 den Eindruck vermittelt, er habe dort sein Evangelium vorgelegt, wie er es unter den ‚Heiden‘ verkündige (Gal 2,2). Dies ist zweifelsohne aus der späteren Sicht des Paulus und dem späteren Selbstverständnis des Apostels zur Zeit der Abfassung des Galaterbriefes gesprochen und zielt auf die galatischen Adressaten, gegenüber denen es tatsächlich um Paulus’ Evangelium geht (vgl. 1,6–9). Was die Zusammenarbeit von Paulus und Barnabas vor dem Konvent und ihre Rollen in der antiochenischen Delegation beim Apostelkonvent angeht, wird man die Bedeutung von Barnabas sicher nicht zu gering veranschlagen dürfen.80 Barnabas hatte Paulus einst ins antiochenische Boot geholt (Apg 11,25f), und im gemeinsamen Missionsteam hat Barnabas sicherlich keine untergeordnete Rolle gespielt, um das Mindeste zu sagen.81 Beim Apostelkonvent ging es denn auch
HENGEL, Der vorchristliche Paulus, in: Paulus und das antike Judentum, hg. v. M. Hengel – U. Heckel, WUNT 58, Tübingen 1991, 177–291: 225–232). 79 Siehe THEISSEN , Kritik (s. Anm. 3), 487; WONG, Evangelien (s. Anm. 3), 107.129. 80 In Apg 13,1 eröffnet Barnabas die Liste der Propheten und Lehrer in Antiochien, was seine prominente Stellung als führende Persönlichkeit der Gemeinde widerspiegeln dürfte. – Zu Barnabas s. die monographische Studie von M. ÖHLER, Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte, WUNT 156, Tübingen 2003. 81 Instruktiv ist die Notiz in Apg 14,12: Die Einwohner von Lystra nannten Barnabas Zeus, Paulus aber Hermes, denn darin schimmert noch durch, dass in der Tat Barnabas der leitende Kopf des Missionsteams war. Lukas’ missglückte Erläuterung „weil Paulus das Wort führte“ versucht, dies zu überdecken (vgl. J. ROLOFF, Die Apostelgeschichte [NTD 5], Göttingen – Zürich 21988, 217). Auffallend ist ferner, dass Barnabas auch in Apg 15,12.25 (wie zuvor in 11,30; 12,25; 13,2.7; 14,14, vgl. die Übersicht bei ÖHLER, Barnabas [s. Anm. 80], 236) trotz der sonstigen lukanischen Tendenz, Paulus in den Mittelpunkt seiner Darstellung zu rücken, voransteht (vgl. zu diesen Indizien ÖHLER, Barnabas [s. Anm. 80], 66.72 [mit Anm. 244].227.282.431). Paulus’ Darstellung des Apostelkonvents in Gal 2,1– 10 mit ihrer Konzentration auf seine Rolle ist von daher kritisch zu hinterfragen.
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nicht um die Akzeptanz des paulinischen Evangeliums, sondern um die Legitimation der antiochenischen Missionspraxis.82 Paulus’ Ruhm gründet zumindest primär aus der Zeit seiner eigenständigen Mission in Kleinasien und Griechenland, also aus der Zeit nach der Trennung von Barnabas im Anschluss an den Konvent (Apg 15,36–41). Dabei kann hier offen bleiben, ob die Trennung von Barnabas in Wirklichkeit mit dem in Gal 2,11–14 geschilderten Konflikt zu tun hatte und nicht bloß, wie Lukas dies in Apg 15,37–39 schildert, mit dem Streit um die erneute Mitnahme von Johannes Markus oder ob Apg 15,36–41 durchaus zu folgen ist und sich, was m.E. die historisch wesentlich wahrscheinlichere Option ist, der Zwischenfall Gal 2,11–14 erst bei Paulus’ Besuch in Antiochien ca. im Jahr 52 ereignete.83 So oder so ist festzuhalten, dass erstens zwischen dem Wirken des Paulus in Antiochien sowie als Missionar der antiochenischen Gemeinde und der Abfassung des Matthäusevangeliums in den 80er Jahren des 1. Jh. n. Chr.84 dreißig Jahre oder mehr liegen und sich damit zweitens das syrische Christentum über dreißig Jahre hinweg entwickelt hat, ohne dass Paulus – oder vermeintliche ‚Pauliner‘ (in der in Gal 2,11–14 geschilderten Auseinandersetzung war Paulus in Antiochien isoliert!) – als Gestaltungsfaktor eine Rolle spielte. Aus den vorhandenen Daten folgt drittens, dass es auch bis zur Trennung des Paulus von Antiochien keine im eigentlichen Sinn paulinischen Gemeinden in der Stadt und ihrem syrischen Umfeld gegeben hat. Gemeindebriefe hat Paulus, wenn man den Sonderfall des Römerbriefs einmal ausklammert, bezeichnenderweise nur an solche Gemeinden geschrieben, die er nach der Trennung von Antiochien im Rahmen seiner eigenständigen Mission gegründet hat. Und für Antiochien selbst zeigt der Ausgang des in Gal 2,11–14 dargelegten Konflikts85, dass die Gemeinde einen anderen theologischen Weg verfolgte, als Paulus ihn eingeschlagen hat.86 Mit dem Voranstehenden ist selbstredend umgekehrt nicht behauptet, dass Paulus’ Wirken in Kleinasien und Griechenland im syrischen Raum unbekannt
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Zu Paulus’ Formulierung in Gal 2,7 s. oben in Abschnitt 1.5. Siehe dazu M. KONRADT, Zur Datierung des sogenannten antiochenischen Zwischenfalls, ZNW 102 (2011), 19–39. 84 Siehe zur Datierung des Matthäusevangeliums exemplarisch LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 21), 103f. 85 Hätte Paulus sich durchgesetzt, so hätte er es gegenüber den Galatern sicherlich nicht versäumt, dies gebührend zu erwähnen. Das Gegenteil aber ist der Fall. Paulus sah sich, wie oben ausgeführt, isoliert und verließ Antiochien. 86 Dieser Weg bedeutete aber nicht, wie SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 92–107 postuliert, einen Rückfall hinter den Beschluss des Apostelkonvents über den Verzicht auf die Beschneidung von Heidenchristen. Dafür gibt es in den Quellen keinerlei Anhalt. Siehe dazu in diesem Band den Beitrag „Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum“, 28f. 83
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geblieben wäre und die syrischen Gemeinden gar keine Kenntnis von den (weiteren) Konflikten um Paulus gehabt hätten, doch ist auch hier wiederum zu bedenken, dass zwischen diesen Konflikten im paulinischen Missionsgebiet oder auch der wahrscheinlichen Distanzierung der Jerusalemer von Paulus bei dessen Kollektenbesuch (Röm 15,25–32; Apg 21,18–26)87 auf der einen Seite und der Abfassung des Matthäusevangeliums auf der anderen ein gutes Vierteljahrhundert liegt. Es ist in keiner Weise ersichtlich, warum die Konflikte um Paulus’ Wirken in Kleinasien und Griechenland über einen so langen Zeitraum hinweg in Syrien einen derart prägenden Eindruck gemacht haben sollten, dass sie zu einem maßgeblichen Faktor der kirchlichen Entwicklung in Syrien – und sei dies in Form der Entstehung oder Verfestigung einer antipaulinischen Strömung – avancierten. Die syrischen Christusgläubigen werden in diesem Zeitraum zweifelsohne mit ganz anderen Problemen konfrontiert gewesen sein, die sie herausforderten. Der Konflikt mit den Pharisäern, den das Matthäusevangelium spiegelt, vermittelt davon einen exemplarischen Eindruck. Paulus aber ist in den zwanzig, dreißig Jahren, die vor der Abfassung des Matthäusevangeliums liegen, nicht als eine maßgebliche Einflussgröße im geographischen Raum des syrischen Christentums greifbar.88 Kurzum: Im Lichte der vorhandenen Datenlage ist das syrische Christentum in dem in Frage stehenden Entwicklungszeitraum als ein unpaulinisches Christentum zu klassifizieren. Zu fragen bleibt allerdings, ob ein Blick auf die letzten beiden Jahrzehnte des 1. Jh. n. Chr. ein anderes Bild vermittelt. Sim bringt die seines Erachtens
87
Vgl. KONRADT, Datierung (s. Anm. 83), 31 mit Anm. 45. Vgl. die treffende Bemerkung von FOSTER, Paul and Matthew (s. Anm. 2), 108: „Given that Paul may have been dead for two decades when Matthew wrote, and that the Gospel makes no explicit reference to Paul, one wonders whether the apostle was a real issue for the Matthaean evangelist.“ – In seiner jüngsten Veröffentlichung zum Thema versucht Sim den gegen seine These vorgebrachten Verweis auf die Möglichkeit, dass Paulus im Entstehungskontext des Matthäusevangeliums keine (bedeutende) Rolle gespielt haben mag, der Lächerlichkeit preiszugeben: „One might be able to argue in this fashion if Matthew were written in the first century in Chinese for Chinese readers, or in some other faraway and exotic location“ (SIM, Reception [s. Anm. 2], 598). Im Gegenzug verweist Sim allerdings wiederum nur erneut auf die – unbestrittene – Bedeutung des Völkerapostels zu seinen Lebzeiten (a.a.O., 598–600). Das Problem, dass sich daraus keine sicheren Daten für die Situation in Syrien eine (gute) Generation später ableiten lassen, soll ein Verweis auf die deuteropaulinischen Briefe und die Apostelgeschichte entschärfen, da hier die fortwährende Bedeutung von Paulus ansichtig werde (a.a.O., 600: „This hagiographical tradition testifies to the importance of Paul in this period.“). Auch dies ist nicht zu bestreiten. Zugleich gilt aber: Kein deuteropaulinischer Brief wurde nach gängigen Lokalisierungen in Syrien verfasst, und auch das lukanische Doppelwerk weist nicht nach Syrien als Entstehungskontext. Kurzum: Man wird die Landkarte der frühchristlichen Entwicklungsgeschichte doch mit einem feineren Pinsel zeichnen müssen, als dies bei Sim der Fall ist. Ohne Bild gesprochen: Gegenüber vorschnellen Verallgemeinerungen verdienen lokal bzw. regional differenzierte Argumentationen den Vorzug. 88
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frühe Verbreitung von Paulusbriefen ins Spiel89 und postuliert, dass Matthäus sogar Briefe von Paulus gekannt haben dürfte.90 Sein Kronzeuge dafür ist Ignatius von Antiochien.91 Ein stichhaltiges Zeugnis ergibt sich aber auch hier in keiner Weise. Denn auch dann, wenn man die – in der Forschung umstrittene – Echtheit der Ignatiusbriefe akzeptiert und ihre Datierung noch in die Zeit Trajans, also vor 117 n. Chr., voraussetzt, ist zu konstatieren, dass zwischen der Abfassung des Matthäusevangeliums und den Ignatiusbriefen ca. drei Jahrzehnte liegen.92 Das ist wiederum eine lange Zeit, die Raum für Entwicklungen gibt. Die Ignatiusbriefe können entsprechend nicht plausibel belegen, dass Paulusbriefe bereits um 80 n. Chr. in Antiochien verbreitet und Matthäus zugänglich waren – sieht man einmal davon ab, dass die Verortung des Matthäusevangeliums in Antiochien, wie ausgeführt, alles andere als sicher ist.
3. Fazit und Ausblick Überblickt man das Ganze, bleibt festzuhalten, dass nichts darauf hinweist, dass es zur Zeit der Abfassung des Matthäusevangeliums paulinische Gemeinden oder zumindest spezifisch paulinisch beeinflusste Kreise in Syrien gab. Erkennbar ist, dass Matthäus dem mit den Jerusalemer Anfängen der christusgläubigen Bewegung verbundenen Zwölferkreis eine maßgebliche Bedeutung zuerkannt hat. Diese Beobachtung kann man durch Sims These profilieren, dass die Streichung von Mk 3,20f damit in Zusammenhang gesehen werden kann, dass Matthäus die darin enthaltene kritische Sicht des Herrenbruders Jakobus nicht teilte.93 Zugleich ist nicht zu bestreiten, dass Paulus infolge des sogenannten antiochenischen Zwischenfalls (Gal 2,11–14) in einem spannungsreichen Verhältnis zu den Jerusalemer Größen stand; auch die einige Jahre später von ihm überbrachte Kollekte ist in Jerusalem, wie oben angedeutet, offenbar nicht auf emphatisches Wohlwollen gestoßen. Aus diesen Daten folgt aber natürlich nicht eo ipso, dass Matthäus’ positive Anbindung an den von den Jerusalemer Größen bestimmten Strom der christusgläubigen Bewegung automatisch impliziert, dass er antipaulinisch ist. Die Konflikte um Paulus liegen zur Zeit der Abfassung des Matthäusevangelium 25 Jahre oder mehr
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Siehe SIM, Pauline Corpus (s. Anm. 2), 405–407. Siehe SIM, Pauline Corpus (s. Anm. 2), 402. 91 Siehe SIM, Pauline Corpus (s. Anm. 2), 407f. 92 SIM, Pauline Corpus (s. Anm. 2), 408 verschleiert die zeitliche Differenz, wenn er schreibt: „This Ignatian evidence is significant because it demonstrates that a substantial corpus of Pauline texts existed towards the end of the first century, the same period in which Matthew wrote.“ 93 Siehe dazu SIM, Christian Judaism (s. Anm. 2), 188–192. 90
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zurück, und es gibt überhaupt keinen Anlass zu der Annahme, dass die Erinnerung daran ein (gutes) Vierteljahrhundert später in Syrien so lebendig und bedeutsam war, dass daraus ein relevanter Faktor für die Abfassung des Matthäusevangeliums zu gewinnen ist. Anders gesagt: Die positive Rezeption der – vom Traditionsmaterial der Jesusüberlieferung maßgeblich vorgegebenen – Leitrolle des Petrus inkludiert in keiner Weise notwendig eine Stellungnahme zu Paulus (oder zu anderen Gestalten des entstehenden Christentums). Entscheidend aber ist das im ersten Abschnitt erzielte Ergebnis, dass sich im Matthäusevangelium selbst zu keinem Text stichhaltig plausibel machen lässt, dass er eine spezifisch auf Paulus zielende Stoßrichtung besitzt. Nirgendwo zeigen sich so substantielle Berührungen, dass die Annahme begründbar ist, dass Matthäus sich gegen Paulus wende (umgekehrt gibt es auch keinerlei Anhalt für eine positive Rezeption paulinischer Tradition im Matthäusevangelium). Kurzum: Matthäus ist nicht antipaulinisch. Er ist unpaulinisch94 94
In diesem Sinne auch G.N. STANTON, A Gospel for a New People. Studies in Matthew, Edinburgh 1992, 314 („Matthew’s gospel as a whole is neither anti-Pauline, nor has it been strongly influenced by Paul’s writings; it is simply un-Pauline.“); LUZ, Jesusgeschichte (s. Anm. 1), 163f („Nirgendwo gibt es im Matthäusevangelium Andeutungen, daß sein Verfasser Paulus oder seine Briefe gekannt haben könnte. Aber auch eine Polemik gegen Paulus, diesen Erzfeind vieler späterer Judenchristen, ist nirgendwo zu spüren.“ [164]); FOSTER, Paul and Matthew (s. Anm. 2), 86.114 („[…] the Gospel contains no explicit reference to Paul or his writings; the points of contact between the two bodies of literature appear so general that there is no way of establishing the case of dependence. In fact, from the available evidence one could not even infer that Matthew had significant awareness of Paul. […] Paul and his writings left no significant imprint on Matthew’s Gospel.“ [114]). Foster stellt angesichts der Datenlage den phänomenologischen Vergleich ins Zentrum. Für eine Konzentration auf einen in diesem Sinne deskriptiven Zugang s. ferner HARRINGTON, Matthew and Paul (s. Anm. 2), 13–24 und J. WILLITTS, Paul and Matthew: A Descriptive Approach from a Post-New Perspective Interpretative Framework, in: Paul and the Gospels. Christologies, Conflicts and Convergences, hg. v. M.F. Bird – J. Willitts, LNTS 411, London – New York 2011, 62–85. – In früheren Veröffentlichungen habe ich dafür votiert, dass auch der Jak unpaulinisch ist (s. M. KONRADT, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief. Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, StUNT 22, Göttingen 1998, 241–246 und vor allem M. KONRADT, Der Jakobusbrief im frühchristlichen Kontext. Überlegungen zum traditionsgeschichtlichen Verhältnis des Jakobusbriefes zur Jesusüberlieferung, zur paulinischen Tradition und zum 1Petr, in: The Catholic Epistles and the Tradition, hg. v. J. Schlosser, BETL 176, Leuven 2004, 171–212: 172–190). Ich halte an dieser Einschätzung nach wie vor fest. Abhängigkeitsthesen tendieren m.E. dazu, die erhaltenen literarischen Zeugnisse, in denen sich kaum mehr als ein Ausschnitt der frühchristlichen Traditionsbildungsprozesse manifestiert, für das Ganze zu nehmen und damit deren Komplexität zu reduzieren. In diesem Sinne ist etwa für Jak 2,14–26 darauf zu verweisen, dass für den Fall, dass man die verbalen Berührungen mit den paulinischen Rechtfertigungsaussagen für zu auffällig erachtet, um Jak 2,21–23 suffizient als von Paulus unabhängige frühchristliche Fortschreibung jüdischer Abrahamtradition erklären zu können, die Option in Rechnung zu stellen ist, dass Jakobus eine frühjüdische Überlieferung fortschreibende judenchristliche Abrahamtradition aufnimmt, die sprachlich durch die paulinischen Kontroversen der 50er
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– auch wenn man dies, wie eingangs angemerkt, mit dem Zusatz versehen kann, dass der Evangelist, hätte er Paulusbriefe gekannt, sicher nicht mit allem einverstanden gewesen wäre. Aber das steht auf einem anderen Blatt. In historischer Hinsicht ist jedenfalls festzuhalten: Das Matthäusevangelium ist Zeuge eines unpaulinischen Zweigs der christusgläubigen Bewegung im 1. Jh. n. Chr. Im Blick auf die theologiegeschichtliche Topographie des entstehenden Christentums ist auch diese ‚negative‘ Klassifizierung von einiger Bedeutung. Eine Nachbemerkung sei angefügt, die auf eine grundlegende Problematik der Rekonstruktion der frühchristlichen Theologiegeschichte zu verweisen sucht: Die These, Matthäus sei antipaulinisch, lässt sich in eine umfassendere Tendenz neutestamentlicher Exegese einstellen, geradezu alle frühchristlichen Strömungen mit Paulus in Beziehung zu setzen, indem sie entweder an den Völkerapostel anknüpfen oder sich kritisch gegen ihn wenden. Ein solcher ‚Panpaulinismus‘ missachtet m.E. zwei grundlegende Sachverhalte. Er sitzt zum einen insofern einem kanonbasierten Trugschluss auf, als das Gewicht von Paulus im neutestamentlichen Kanon zweifelsohne nicht ein historisch im Ganzen zutreffendes Abbild seines Gewichts im entstehenden Christentum in den ersten fünfzig Jahren bietet; vielmehr wird Paulus durch das große Corpus Paulinum und die Apostelgeschichte im neutestamentlichen Kanon in einer Weise ins Zentrum gerückt, die bei aller Bedeutung, die Paulus selbstverständlich nicht abzusprechen ist, seine Rolle und seinen Einfluss in den Anfangsjahrzehnten überzeichnet.95 Zum anderen ist zu beachten, dass die erhaltenen Quellen zweifelsohne nur einen fragmentarischen Blick auf die Entstehungsgeschichte des Christentums erlauben. Vieles, ja der größere Teil liegt im Dunkeln. Gegenüber der verständlichen Neigung, das, was man an Ausschnitten hat, aufeinander zu beziehen, sollte dieses Faktum methodisch zu Vorsicht und Behutsamkeit mahnen.
Jahre, d.h. durch die Replik auf Paulus in judenchristlichen Kreisen mitgeprägt ist, doch liegen diese Kontroversen für den Verfasser des Jakobusbriefes schon lange zurück und haben im Blick auf die Adressatensituation keine aktuelle Bedeutung. 95 Selbst über das (nachösterliche) Wirken von so einflussreichen Gestalten wie Jakobus, Barnabas oder auch Petrus bieten die erhaltenen Quellen kaum Informationen.
The Love Command in Matthew, James and the Didache As is well-known, the fundamental importance of the love command is not an exclusive feature of Jewish Christianity, as, for example, represented by the Gospel of Matthew, but is a common trait in early Christianity.1 In dealing with the question whether the Gospel of Matthew, the Epistle of James, and the Didache represent one and the same religious milieu, it therefore does not seem possible to identify a common milieu of Matthew, James and the Didache through, metaphorically speaking, ‘surface mining’ by considering the topic of neighborly love. Moreover, a thorough analysis of the relationship between Matthew, James and the Didache2 would have to take the entire writings into account. Thus, I have to confine myself to giving an overview of the relevance, meaning, and thematic contexts of applications of the love command in the three writings. For that purpose, I will try to point out some convergences and congruencies in the reception of the topic of neighborly love. I will close with some preliminary remarks on the question whether Matthew, James, and the Didache can be grouped together as representatives of the same milieu.
1 See in the synoptic tradition Mark 12.31; Luke 10.27, in Johannine literature John 13.34–35; 15.12–13, 17; 1 John passim, in Pauline and Deuteropauline letters Rom 12.9; 13.9–10; 1Cor 8.1–3; 13; Gal 5.14; 1Thess 4.9; Col 3.14; see moreover Jas 2.8; 1Pet 1.22; 2.17; 4.8; 1Clem. 49.1–50.7; Sib. Or. 8.481. 2 With regard to the relationship between Matthew and the Didache, most, although not all, scholars now tend to postulate independence. See, e.g., the discussion in A. MILAVEC, Synoptic Tradition in the Didache Revisited, JECS 11 (2003), 443–480 (with references to literature in notes 1–13). For the dependence of the Didache on Matthew’s Gospel see, e.g., K. WENGST, Didache (Apostellehre), Barnabasbrief, Zweiter Klemensbrief, Schrift an Diognet, SUC 2, Darmstadt 1984, 24–30. Recently A.J.P. GARROW, The Gospel of Matthew’s Dependence on the Didache, JSNTS 254, London 2004, argued that Matthew is dependent on (a previous form of) the Didache, not the Didache on Matthew. For a critical evaluation of Garrow’s approach, see the review of Garrow’s monograph by J. SCHRÖTER in ThLZ 131 (2006), 997–999. – For the relationship of Matthew and James see the discussion in M. KONRADT, Der Jakobusbrief im frühchristlichen Kontext: Überlegungen zum traditionsgeschichtlichen Verhältnis des Jakobusbriefes zur Jesusüberlieferung, zur paulinischen Tradition und zum 1. Petrusbrief, in: The Catholic Epistles and the Tradition, ed. by J. Schlosser, BETL 176, Leuven 2004, 171–212: 190–207.
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The Love Command in Matthew, James and the Didache
1. Love of one’s neighbor in the Gospel of Matthew Matthew explicitly refers to the love command no fewer than three times in his Gospel (5.43; 19.19; 22.39). In the first occurrence in 5.43 (the last antithesis), the quotation of Lev 19.18 is incomplete – “like yourself” is missing – and there is the addition of “you shall hate your enemy”. As I have argued elsewhere3, the so-called antitheses are not directed against the Torah itself4, but against its interpretation by the scribes and Pharisees.5 In other words, in the theses, Matthew quotes the Torah as it is insufficiently interpreted by the scribes and Pharisees. Due to this ‘distorted’ understanding, the “righteousness” of the scribes and Pharisees does not suffice for entering the kingdom of heaven (5.20), whereas the better righteousness expected from the disciples is based on Jesus’ interpretation of the Torah, which develops its full and deepest meaning. The last antithesis clearly demonstrates this approach. In his other two citations of the love command (Matt 19.19; 22.39), Matthew refers to it as a major commandment of the Torah without feeling bound to give any further explanation. Therefore, it is obvious that for Matthew himself, the opposition of neighbor and enemy that is evident in 5.43 is not part of the commandment itself, but is only introduced to it by false interpretation. The Matthean Jesus liberates the commandment from its restrictive interpretation, which is polemically assigned to the Pharisees, and thereby points out its true significance.
3 See in this volume on p. 288–315 “Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“, esp. 294–303 (originally published in: Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament [FS C. Burchard], ed. by D. Sänger – M. Konradt, NTOA/StUNT 57, Göttingen 2006, 129–152, esp. 134–141). 4 For the opposite thesis, see, e.g., I. BROER, Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes. Ein Beitrag zur Theologie des Evangelisten Matthäus, SBS 98, Stuttgart 1980, 75–81; U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5th ed., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 330; H.-J. ECKSTEIN, Die Weisung Jesu Christi und die Tora des Mose nach dem Matthäusevangelium, in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, ed. by C. Landmesser – H.-J. Eckstein – H. Lichtenberger, BZNW 86, Berlin – New York 1997, 379–403: 396–403; K.-W. NIEBUHR, Die Antithesen des Matthäus. Jesus als Toralehrer und die frühjüdische weisheitlich geprägte Torarezeption, in: Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler), ed. by C. Kähler – M. Böhm – C. Böttrich, Leipzig 1999, 175–200: 176–177. 5 For this approach, see C. BURCHARD, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: C. BURCHARD, Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, ed. by D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 27–50: 40–44; C. DIETZFELBINGER, Die Antithesen der Bergpredigt im Verständnis des Matthäus, ZNW 70 (1979), 1–15: 3; H.-W. KUHN, Das Liebesgebot Jesu als Tora und als Evangelium. Zur Feindesliebe und zur christlichen und jüdischen Auslegung der Bergpredigt, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), ed. by H. Frankemölle – K. Kertelge, Freiburg – Basel – Wien 1989, 194–230: 213– 218; J.D. CHARLES, Garnishing with the “Greater Righteousness”: The Disciple’s Relationship to the Law (Matthew 5:17–20), BBR 12 (2002), 1–15: 8.
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There is no indication that this criticized restriction is to be seen along the lines of national or ethnic boundaries. As 5.46 suggests, it is a rather ordinaryethical common sense which has to be overcome, a restriction of love to friends according to the principle of mutuality.6 In other words, Matt 5.43 is a variation of the vulgar-ethical maxim “to benefit his friends and harm his enemies” (Plato, Menon 71e)7 in biblical language.8 Against this background, the Matthean Jesus demands that the love command should be followed without any limitation; it is valid even with regard to the enemy. Thus, the Matthean Jesus radicalizes the love command by claiming that loving care for the well-being of others is entirely independent of how the other acts toward oneself. Matthew substantiates this claim with the argument of conformity: Acting indiscriminately to all people conforms to the loving-kindness of the creator who “makes his sun rise on the evil and on the good” (Matt 5.45). In the overall context of Matt 5, loving one’s enemy takes up the blessing of the peacemakers in 5.9, as is indicated by the promise that the peacemakers as well as those who love their enemies will be sons of God.9 Thus, love of one’s enemy is understood as an act of peacemaking10, and, due to the fundamental nature of the requirement in Matt 5.44, this appears as a principal demand to reshape social relations by countercultural behavior, which overcomes the principle of retribution according to which love is answered by love and hate by hate. Instead, hate shall be overcome by love. It is important to take into consideration that, to some extent, the command to love one’s enemy in Matt 5 takes up the love command from its original context in Lev 19, where the phrase primarily addresses the question of how 6 See in this volume the discussion in my essay “‘... damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet’: Erwägungen zur ‘Logik’ von Gewaltverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38– 48” on p. 369–371 (originally published in: Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen: Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, ed. by W. Dietrich – W. Lienemann, Stuttgart 2004, 70–92, here 84–85). 7 See also Plato, Resp. 332e; 336a (“‘Do you know whose view I think it is,’ I said, ‘that it’s right to help one’s friend and harm one’s enemies?’”); Isocrates, Demon. 29 (“Bestow your favors on the good. […] If you benefit bad men, you will have the same reward as those who feed stray dogs; for these snarl alike at those who give them food and at the passing stranger.”); Epictetus, Diatr. II 14.18 (ȠੇįĮȢ IJઁȞ İ ʌȠȚȠ૨ȞIJĮ ਕȞIJİȣʌȠȚોıĮȚ țĮ IJઁȞ țĮțȢ ʌȠȚȠ૨ȞIJĮ țĮțȢ ʌȠȚıĮȚ), as well as Ps.-Phoc. 80 on the one hand (“It is proper to surpass [your] benefactors with still more [benefactions].”), and 152 on the other (“Do no good to a bad man; it is like sowing into the sea.”). For other early Jewish writings see, e.g., Tob. 4.17. 8 See W. KLASSEN, Love of Enemies. The Way to Peace, Philadelphia 1984, 84; G.M. ZERBE, Non-Retaliation in Early Jewish and New Testament Texts: Ethical Themes in Social Contexts, JSPES 13, Sheffield 1993, 206. 9 For this connection see D. LÜHRMANN, Liebet eure Feinde (Lk 6,27–36; Mt 5,39–48), ZThK 69 (1972), 412–438: 414f and R. SCHNACKENBURG, Die Seligpreisung der Friedensstifter (Mt 5,9) im matthäischen Kontext, BZ NF 26 (1982), 161–178: 167–170. 10 See KONRADT, Söhne (see n. 6), 376f (in the original publication p. 89).
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one shall deal with a ‘personal enemy’.11 One shall not hate, but reprove the neighbor. One shall not take vengeance, but shall love one’s neighbor as oneself. This original application is further elaborated in the Testaments of the Twelve Patriarchs, where the story of Joseph, who does not take vengeance on his brothers but cares for them in Egypt, and the love command mutually interpret each other.12 If one compares this to Matt 5, one can of course call attention to the fact that in Lev 19 and the Testaments the application of love of one’s personal enemy does not actually exceed the Jewish community, whereas the interpretation in Matt 5 is of a more principal nature. Love of one’s enemy is not confined to persons within the community who have acted improperly toward oneself, but it also refers to outsiders. On the other hand, no principal confinement of the love command to the Jewish community appears in Lev 19 or in the Testaments, but rather a focus on the concrete ethical need of the community.13 Of greater importance is the fact that Matt 5 can be read as a development of an original aspect of the love command in the Torah and in early Jewish tradition.14 The second occurrence of the love command in Matthew’s Gospel goes back to the redactional hand of the evangelist. In his reply to the rich young man’s question on which commandments he has to obey in order to enter the kingdom in Matt 19.18–19, the Matthean Jesus not only quotes the socio-ethical commandments of the Decalogue, but the love command as well. In the light of Matt 22.37–40, it is certainly not incorrect to postulate that the love command functions as a summary of the social will of God and thus as a summary of the commandments from the Decalogue, which themselves represent main sentences of the Torah.15
11 See H.-P. MATHYS, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst: Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18), OBO 71, Göttingen 1986, 81 and also J. PIPER, ‘Love Your Enemies’. Jesus’ Love Command in the Synoptic Gospels and in the Early Christian Paraenesis. A History of the Tradition and Interpretation of its Uses, MSSNTS 38, Cambridge 1974, 32. 12 See M. KONRADT, Menschen- oder Bruderliebe? Beobachtungen zum Liebesgebot in den Testamenten der Zwölf Patriarchen, ZNW 88 (1997), 296–310: 301–303. 13 See T. SÖDING, Das Liebesgebot bei Paulus. Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik, NTA NF 26, Münster 1995, 48: “Das Liebesgebot will nicht exklusiv, sondern positiv die Pflichten gegenüber den Mit-Israeliten einschärfen”. 14 See KONRADT, Söhne (see n. 6), 350–377 (in the original publication p. 71–77). 15 For the reception of the Decalogue in early Judaism and early Christianity see G. STEMBERGER, Der Dekalog im frühen Judentum, JBTh 4 (1989), 91–103; D. SÄNGER, Tora für die Völker – Weisungen der Liebe: Zur Rezeption des Dekalogs im frühen Judentum und Neuen Testament, in: Weisheit, Ethos und Gebot. Weisheits- und Dekalogtraditionen in der Bibel und im frühen Judentum, ed. by H. Graf Reventlow, BThSt 43, Neukirchen-Vluyn 2001, 97–146 and U. KELLERMANN, Der Dekalog in den Schriften des Frühjudentums. Ein Überblick, in: Weisheit, Ethos und Gebot (see above), ed. by Graf Reventlow, 147–226.
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In our context, the question whether the insertion of the love command is correlated to the discourse between Jesus and the rich man in verses 20–21 is of crucial importance. The rich man maintains that he has kept all the commandments quoted by Jesus and asks what he still lacks. Jesus now answers that if he wants to be perfect, he has to sell all his possessions, give them to the poor and follow Jesus. The decisive alternative is whether selling his possessions for the benefit of the poor is an additional requirement16, or whether this demand is to be read as an interpretation of the love command with reference to the concrete life situation of the rich man.17 In the first case, Jesus would accept the rich man’s statement about fulfilling the commandment; in the second case, he would implicitly call it into question: If the rich man will not use his possessions for the benefit of the poor, he would, at least in this special instance, have fallen short of the requirement set out by the love command. What emphatically speaks for this second option is the fact that Jesus counters the rich man’s departure with the statement that it is hard for a rich person to enter the kingdom of heaven (v.23). This refers back to the opening question about the requirements for receiving eternal life. In Matthew’s version, differently from Mark, this initial question is answered by Jesus with an explicit reference to ‘keeping the commandments’ as the entrance requirement. When, at the end of the story, no prominent place in heaven, but exactly what he asked for, that is, mere entrance into the kingdom, is denied to the rich man, this implies logically that he has not fulfilled the commandments18, at least not in his encounter with Jesus. And this means that, contrary to Mark’s version19, Jesus’ demand that he should sell his possessions for the benefit of the poor has to be understood as Jesus’ unfolding of the meaning of the love command 16
See A. SAND, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 1986, 396 and also U. LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK.NT 1, Zürich 1993, 215–217. 17 See H. MEISINGER, Liebesgebot und Altruismusforschung. Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft, NTOA 33, Göttingen 1996, 40–41; M. MEISER, Vollkommenheit in Qumran und im Matthäusevangelium, in: Kirche und Volk Gottes (FS J. Roloff), ed. by M. Karrer – W. Kraus – O. Merk, Neukirchen-Vluyn 2000, 195–209: 198; R. DEINES, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2005, 391: “Indem er [sc. der reiche Jüngling, M.K.] seinen Besitz nicht zu verkaufen und zu verteilen vermag, gesteht er ein, dass er eben seinen Nächsten nicht so liebt wie sich selbst.” 18 See E. YARNOLD, ȉȜİȚȠȢ in St. Matthew’s Gospel, in: StEv 4/TU 102, ed. by F.L. Cross, Berlin 1968, 269–273: 271. Cf. also W.J.C. WEREN, The Ideal Community According to Matthew, James, and the Didache, in: Matthew, James, and Didache. Three Related Documents in Their Jewish and Christian Settings, ed. by H. van de Sandt – J.K. Zangenberg, SBLSymS 45, Atlanta (GA) 2008, 177–200: 189. 19 See H. LÖHR, Jesus und der Nomos aus der Sicht des entstehenden Christentums. Zum Jesus-Bild im ersten Jahrhundert n. Chr. und zu unserem Jesus-Bild, in: Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, ed. by Jens Schröter – Ralph Brucker, BZNW 114, Berlin 2002, 337–354: 346.
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for the young man in his specific life situation. Furthermore, following Jesus and fulfilling the commandments are not to be viewed as separate items, but fulfilling the commandments according to Jesus’ interpretation is an integral part of following him.20 This interpretation can be substantiated by including the motif of perfection in Matt 19.21. There are only two occurrences of the adjective “perfect” in Matthew’s Gospel; the other is in 5.48. Both are redactional, and both occur in the context of the love command. This is certainly not accidental. In both sections, Matthew links perfection to the fulfillment of the love command in its true and deepest sense. Perfect love does not permit any limitation of the objects of love, and it embraces the generous (or even total) use of one’s possessions for the benefit of the poor. The insertion of the love command in 19.19 certainly does not only pursue the purpose of pointing to the supreme position of the love command as a summary even of the commandments from the Decalogue; predominantly, this insertion is necessary for Matthew because he wants to present the demand to charitably use one’s possessions, which he found in Mark, as an application of the Old Testament love command. To put it another way, in the Matthean version, Jesus’ request appears as an authentic interpretation of what it means to live in accordance with the Torah. Although the concrete application of the love command in Matt 19.16–22 cannot be regarded as a general requirement irrespective of one’s life situation, it also cannot be declared meaningless for the community by referring to the specific situation of the rich young man in his encounter with the earthly Jesus. Rather, it points to a community which is characterized by an intensive care for the poor. The context of such behavior is the expectation of the near kingdom, which results in a reversal of values. Because one cannot serve two masters at the same time, God and Mammon (see 6.24), every disciple must primarily strive for the kingdom of God and his righteousness (6.33). While Matt 5.43–48 is in line with the original context of the love command in Lev 19.17–18 as it is developed in the Testaments of the Twelve Patriarchs with regard to the figure of Joseph, Matt 19.16–22 follows a second option of application, namely, charitable love, as it appears in the Testaments of the Twelve Patriarchs, namely, in the Testament(s) of Issachar (and Zebulon).21 This analogy presents exemplary evidence that Matthew is firmly rooted in early Jewish Torah paraenesis. At the same time, the aspect of radicalization, which has often been mentioned, cannot be overlooked, with regard either to Matt 5 or to Matt 19.
20 For a different interpretation see R. HOPPE, Vollkommenheit bei Matthäus als theologische Aussage, in: Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium (FS A. Vögtle), ed. by L. Oberlinner – P. Fiedler, Stuttgart 1991, 141–164: 159–164. 21 See especially T. Iss. 5.2 and T. Zeb. 5.1–8.3.
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The fact that ‘perfection’ is linked with the fulfillment of the love command in Matthew’s Gospel points to its central position in Matthew’s understanding of the law as it is explicitly stated in 22.34–40. With regard to the position attributed to love of one’s neighbor, one important feature of the Matthean version is that in Jesus’ answer to the question of the Pharisaic lawyer, loving one’s neighbor is explicitly assessed as equivalent to love of God.22 This directly corresponds to Matthew’s emphasis on mercy superseding sacrifices, which he states twice by citing Hos 6.6 (Matt 9.13; 12.7). On the whole, Matthew’s focus on the social will of God (cf. Jas 1.26–27) is of utmost importance in his story of Jesus. This focus is embedded in the sharp conflict between Jesus and the Pharisees with their allegedly one-sided emphasis on ritual norms, at least as Matthew presents it. In this light, it becomes understandable why Matthew changed the friendly atmosphere of the Marcan pericope to a conflict scene in which a Pharisaic lawyer approaches Jesus to test him in the negative sense of Matt 22.15 “to entrap him in his words.” The Pharisaic lawyer tries to elicit an explicit statement from Jesus, which proves that – by emphasizing mercy to men – he does not give adequate (that is, highest) priority to honoring God.23 Although Jesus joins the Jewish consensus24 in his answer by quoting Deut 6.5 as the greatest commandment, he then elevates the love command to an equal level. He thereby interprets the Jewish consensus with regard to his emphasis on the merciful care for one’s neighbor and, at the same time, indicates that love to God cannot be realized sufficiently by a rigorous observance of purity or Sabbath regulations or by extensifying tithing, but only by doing God’s social will. Surely, love of God and love of one’s neighbor cannot be equated with one another25, but neither can they be played off against one another either: love of one’s neighbor is a central and indispensable element of love to God. In Matt 5.40, Matthew adds: “On these two commandments hang all the law and the prophets.” In the Matthean context, this does not mean an actual reduction of the law to the double love commandment26, as the coordination of com-
22
C. BURCHARD, Das doppelte Liebesgebot in der frühen christlichen Überlieferung, in: C. BURCHARD, Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, ed. by D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 3–26: 25 aptly calls this a “Gleichordnung trotz Differenz”. 23 For this interpretation see KONRADT, Erfüllung (see n. 3), 309–312 (in the original publication p. 146–149). 24 See Let. Aris. 132; Ps.-Phoc. 8; Philo, Decal. 65; Josephus, Ag. Ap. 2.190. 25 See U. LUZ, Überlegungen zum Verhältnis zwischen Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten (Mt 22,34–40), in: Der lebendige Gott: Studien zur Theologie des Neuen Testaments (FS W. Thüsing), ed. by T. Söding, Münster 1996, 135–148: 147. 26 Against DEINES, Gerechtigkeit (see n. 17), 400.
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mandments from the Decalogue and the love command in Matt 19.18–19 confirms with regard to loving one’s neighbor: the social commandments from the Decalogue unfold the love command. To summarize, two important fields of application of the love command emerge, namely, the relationship to an enemy, or more specifically, any enemy, and charitable love for the benefit of the poor. In both cases, Matthew radicalized the demand and linked the love command with the motif of perfection. Perfect love in its Matthean understanding is not just an intensification of normal cultural behavior but overcomes the principle of mutuality, and it is embedded in a redefinition of social values with regard to one’s possessions.
2. Love of one’s neighbor in the Epistle of James The love command is formally quoted in Jas 2.8: “If you really fulfill the royal law according to the Scripture, ‘You shall love your neighbor as yourself’, you do well.” The function of the love command in James is disputed. Is it, contrary for example to Paul, just one commandment among the others, even if it might be of more importance than others?27 Or does it function as a summary of the law or at least of its social part?28 Or does it even function as its hermeneutical center?29 The decisive argument for a summarizing function (as in Matthew) is that elsewhere in James ȞંȝȠȢ always means the law as a whole, but never only a single commandment (Jas 1.25; 2.9–12; 4.11). This should then also be valid for Jas 2.8. In other words, the love command is not just a single commandment among others, even if it might have a more prominent rank. Rather, the entire law is called “royal” in Jas 2.8, and through love the entire law is fulfilled. Again as in Matthew, this is not to be understood as a reduction of the law to the love command, as the allusion to Lev 19.15 in Jas 2.9 and the quotation of two commandments of the Decalogue in Jas 2.11 show. But the
27
See, e.g., M. DIBELIUS, Der Brief des Jakobus, ed. by F. Hahn, KEK 15, 12th ed., Göttingen 1984, 177; M. LUDWIG, Wort als Gesetz. Eine Untersuchung zum Verständnis von „Wort“ und „Gesetz“ in israelitisch-frühjüdischen und neutestamentlichen Schriften. Gleichzeitig ein Beitrag zur Theologie des Jakobusbriefes, EHS.T 502, Frankfurt a.M. et al. 1994, 174–175. 28 See R. HOPPE, Der theologische Hintergrund des Jakobusbriefes, FzB 28, 2nd ed., Würzburg 1985, 88–89; U. LUCK, Die Theologie des Jakobusbriefes, ZThK 81 (1984), 1– 30: 17; M. KONRADT, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief: Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, StUNT 22, Göttingen 1998, 184–187. 29 See M. KLEIN, „Ein vollkommenes Werk“: Vollkommenheit, Gesetz und Gericht als theologische Themen des Jakobusbriefes, BWANT 139, Stuttgart 1995, 148 and W. POPKES, Der Brief des Jakobus, ThHK 14, Leipzig 2001, 174: “Wie auch anderswo im Frühchristentum gilt das Liebesgebot als norma normans, als Kanon des Gesetzes.”
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love command formulates the basic intention or nature of the law, which is then explicated by other regulations. With regard to the relationship of 2.8 and 2.9, the summarizing function of the love command implies that the claim that one has fulfilled the love command and, thereby, the law as a whole (2.8) is disproved by showing partiality in one’s social interaction with rich and poor people (2.9). In 2.1, James points out the incompatibility of faith in the glory of our Lord Jesus Christ30 and partiality. The explicit mention of the glory of the exalted Lord relates antithetically to the orientation to worldly glory, so to say, which comes to the fore by showing favoritism toward the rich. In other words, Jas 2.1 calls for a radical invalidation of wealth as a criterion for social status due to faith in the one and only glory of the exalted Lord, in which Christians hope to participate when they receive the “crown of life that God has promised to those who love him” (Jas 1.12). Such a demand implies a total abrogation of the established social order, an inversion of social values that is then spelled out in 2.5–7, where James contrasts negative experiences that Christians had to make with rich people on the one hand with God’s election of the poor on the other: “Has not God chosen those who are poor in the eyes of the world to be rich through faith and to inherit the kingdom he promised to those who love him?” (2.5). In 2.13 James moves from love to mercy. Thus, the love command in James is closely connected with a merciful attitude toward the poor. The importance of merciful, charitable love in James is underlined by Jas 1.27 and 2.15–16. In 1.27, James refers to caring for orphans and widows in their distress when defining true religion. And in 2.15–16, James illustrates worthless practice of religion by referring to a Christian who provides a needy brother or sister with good wishes, but does not take care of their bodily needs. Moreover, for James, mercy does not only mean almsgiving; mercy begins with the respectful attitude toward the poor, as James’ example in 2.2–4 illustrates. In other words, alms given condescendingly is not what James has in mind. The respectful attitude toward the poor called for by James is an expression of his countercultural model of social order with its anti-hierarchical leveling of social positions as a crucial element of the Christian belief system. In this context, love of one’s neighbor is neither to be confused with an ethos of friendship between people of equal social rank, nor to be envisioned as a move of the affluent down to the poor, but as behavior among people who – in contradiction with ‘worldly’ standards – are of equal rank.31 30 On the difficult construction in Jas 2.1 see C. BURCHARD, Zu einigen christologischen Stellen des Jakobusbriefes, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), ed. by C. Breytenbach – H. Paulsen, Göttingen 1991, 353–368: 354–357. 31 For the combination of love and equality or status indifference see G. THEISSEN, Nächstenliebe und Egalität. Jak 2,1–13 als Höhepunkt urchristlicher Ethik, in: G. Theißen – P. von Gemünden – M. Konradt, Der Jakobusbrief. Beiträge zur Rehabilitierung der „strohernen Epistel“, Beiträge zum Verstehen der Bibel 3, Münster 2003, 120–142: 124–135.
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If compared to the Gospel of Matthew, the application of the love command in Jas 2.1–13 shows affinity with Matthew’s addition of it in Matt 19.16–22. In both instances the relevance of the love command is spelled out in terms of the attitude toward the poor, and in both instances, the claim to (have) fulfill(ed) the commandment (Matt 19.20; Jas 2.8)32 serves as a foil for unfolding its inmost meaning. Furthermore, this interpretation is embedded in a countercultural model of social life, in which striving for the kingdom of God is regarded as the highest priority. In Jas 2.8, the law is called ȞંȝȠȢ ȕĮıȚȜȚțંȢ. In the immediate context, the phrase refers back to 2.5, where James spoke about the heirs of the kingdom that God promised to those who love him. In this context, the designation of the law as “royal” probably implies that it defines the life order of the kingdom given by God as the king, which is already binding in this world with its different social order for those who wish to inherit the kingdom.33 In 4.4, James directly contrasts friendship with God and friendship with the world. Traditio-historically, Jas 4.4 seems to be influenced by the Qlogion that Matthew integrated into his Sermon on the Mount in Matt 6.24.34 Furthermore, the anti-hierarchical impetus of Jas 2 finds a counterpart in Matt 23.8–12. In short, in Matthew and in James, the emphasis on the love command gains its contours in the context of an overall social ethos in which the normal status positions are leveled off 35 and possessions do not qualify as a desirable goal of one’s personal aspirations, but are consequently regarded as means for helping the needy. After the direct quotation of the love command in Jas 2.8, there is a second passage that is of importance here, namely, 4.11–12. The conspicuous change from “brother” to “neighbor” in 4.12 (2.8 and 4.12 contain the only occurrences of ʌȜȘıȠȞ in James) suggests that 4.12 intentionally refers back to 2.8 and thus to the love command.36 This approach can be confirmed by the thematic aspect treated in 4.11–12. ȀĮIJĮȜĮȜİȞ and țȡȞİȚȞ are not synonymous, but their juxtaposition indicates that they refer to related aspects. The phrase țȡȞİȚȞ IJઁȞ ਕįİȜijંȞ, which is probably influenced by the Jesus saying in Matt 7.1; Luke 6.37, refers to an incorrect way of dealing with sins of others. In this context, țĮIJĮȜĮȜİȞ does not mean slander, but more generally “to tell 32
For the interpretation of the conditional clause in Jas 2.8 see KONRADT, Existenz (see n. 28), 185–186. See also THEISSEN, Nächstenliebe (see n. 31), 128. 33 For interpretational options for the phrase ȞંȝȠȢ ȕĮıȚȜȚțંȢ, see MEISINGER, Liebesgebot (see n. 17), 136–138 and THEISSEN, Nächstenliebe (see n. 31), 132–134. 34 See KONRADT, Der Jakobusbrief im frühchristlichen Kontext (see n. 2), 194–195. 35 See MEISINGER, Liebesgebot (see n. 17), 147: “Das Nächstenliebegebot bedeutet für ihn (sc. für Jakobus, M.K.) die Verpflichtung zu egalitärem Verhalten. […] Reiche und Arme sollen sich nicht als solche, sondern als Nächste, die ihren Nächsten lieben, begegnen. Statusunterschiede soll es innerhalb der Gemeinde nicht geben.” 36 See, e.g., DIBELIUS, Jakobus (see n. 27), 273; R.P. MARTIN, James, WBC 48, Waco (TX) 1988, 163.
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bad things about another person” (see, e.g., Num 12.8; 21.5; Ps 77.19LXX).37 Instead of fraternal correction in a private conversation, as outlined in Matt 18.15, the sin committed by the other is made public. This does not only take up the original context of the love command in Lev 19.17–18, but can also be contextualized by its reception in early Judaism, especially again in the Testaments of the Twelve Patriarchs. According to TestGad 4.2–3, hatred (IJઁ ȝıȠȢ) “does not want to hear the words of his [sc. God’s] commandments concerning the love of one’s neighbor, and it sins against God. For if a brother stumbles, it wants to proclaim it immediately to all men and it urges that he should be judged for it.”38 Jas 4.11–12 picks up this application of the love command. Those who judge others because of their sins and try to put someone in an unfavorable light by talking about his transgressions in public, transgress the law themselves because they do not act according to the love command. Interpreted in this way, the compositional placement of the admonition in 4.11– 12 makes good sense: In 4.7–10 James called upon the sinners to repent; in 4.11–12, he added an admonition to the brothers on how to treat the sinners. To summarize: When James’ reception of the love command is compared to Matthew’s, a significant overlap can be detected. First of all, differently from Paul and John, Matthew and James lack an explicit christological argument for love, e.g., with reference to Jesus’ death. When Matthew and James speak of love, the natural point of reference for them is the Old Testament love command, to which prominent status is given in both writings. What is implied in the references to the love command in Jas 2.8 and in Matt 19.19 is explicitly stated in Matt 22.34–40: The love command functions as a summarizing statement of God’s social will. In both writings, this does not mean a reduction of the law to the love command, but the love command is unfolded by other regulations, whereby the second table of the Decalogue is of major importance in both writings. Again, this is a phenomenon which can also be found in early Jewish writings.39 Furthermore, the assignment of highest status to the love command is linked with similar thematic fields of its concrete application in James and Matthew: Matt 19.16–22 and Jas 2.1–13 similarly unfold the requirement of the love command in the face of its claimed fulfillment. In both cases, the problem of wealth plays an important role, and there is a close connection of love and mercy in Matthew and James. Moreover, Jas 4.11–12 can at least remotely be compared to the love of one’s enemy in Matt 5: What Matt 5 states in a programmatic way is applied to a congregational setting in Jas 4. The topic of forgiveness is of great importance in Matthew’s Gospel.40 See also the juxtaposition of țĮIJĮȜĮȜİȞ and ȥȖİȚȞ ȕȠȞ ਕȞșȡઆʌȠȣ in T. Iss. 3.4. See also the reception of Lev 19.17–18 in 1QS V, 24–VI, 1 and the shorter version in 4Q258 1 II, 4. 39 See the literature in n. 15. 40 See esp. Matt 1.21; 6.14–15; 9.2–13; 18.21–35; 26.28. 37 38
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It is not directly connected with the love command anywhere. But if the explicit prominent status of the love command in Matthew’s Gospel is taken into account, one can ask whether Matthew’s emphasis on forgiveness might be regarded as an expression of the love command’s central position. Moreover, to love one’s enemy certainly includes the willingness to forgive. At any rate, the two main applications of the love command found in the Testaments of the Twelve Patriarchs, which can be regarded as exemplary evidence for the developments in early Jewish Torah paraenesis, reappear in James: forgiving love and charitable love. And this demonstrates how firmly James is embedded in early Jewish Torah interpretation, which is also a characteristic of Matthew’s Gospel.
3. The Love Command in the Didache As is well-known, in the Didache’s version of the Two Ways-instruction, the description of the ‘way of life’, is introduced by the double love command plus the Golden Rule in its negative formulation as a summary statement of God’s will (1.2). This feature distinguishes Didache from the related passage in the Epistle of Barnabas, but, as the Doctrina apostolorum41, the Canons of the Holy Apostles42 and the Epitome of the Canons43 suggest, it was already a feature of the recension of the Two Ways-instruction used by the Didachist44, which – with Niederwimmer’s designation – I will call recension C.45 The combination of the admonitions to love God and one’s brother or neighbor and their function as a summary of God’s will are features that appear in Jewish sources prior to the emergence of Christianity.46 However, the direct citation of the two love commands combined with their designation as ʌȡIJȠȞ and įİIJİȡȠȞ is evidenced only in Christian sources, namely, in Mark 12.29, 31 and Matt 22.38– 39. This might be taken as – at least – tentative evidence that this recension stems from a Jewish Christian or Christian Jewish circle.47 41
See J. SCHLECHT, Doctrina XII apostolorum. Die Apostellehre in der Liturgie der katholischen Kirche, Freiburg i.Br. 1901, 101, 105–106. 42 See T. SCHERMANN, Die allgemeine Kirchenordnung, frühchristliche Liturgien und kirchliche Überlieferung 1. Die allgemeine Kirchenordnung des zweiten Jahrhunderts, SGKA.E 3, Paderborn 1914, 15. 43 See T. SCHERMANN, Eine Elfapostelmoral oder die X-Rezension der „beiden Wege“, VKHSM II/2, München 1903, 16. 44 See K. NIEDERWIMMER, Die Didache, KAV 1, 2nd ed., Göttingen 1993, 91. 45 NIEDERWIMMER, Didache (see n. 44), 61–63. 46 See esp. T. Iss. 5.2; 7.6; T. Dan 5.3; T. Jos. 11.1; T. Benj. 3.3 and Philo, Spec. 2.63. 47 See J. DRAPER, The Jesus Tradition in the Didache, in: Gospel Perspectives. The Jesus Tradition Outside the Gospels, Vol. 5, ed. by D. Wenham, Sheffield 1985, 269–287: 272; J.S. KLOPPENBORG, The Transformation of the Moral Exhortation in Didache 1–5, in: The
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The juxtaposition of the double love command with the Golden Rule in Did. 1.2 is of special interest if compared to Matthew, because both function as summary statements of the law also in Matthew. Whereas Matt 22.40 defines that the entire law and the prophets hang on the two love commands, the reference to the Golden Rule in 7.12 is commented upon by the statement, “for this is the law and the prophets.” At this point, there is no evidence in favor of direct dependence of one source on the other.48 Like Luke, Matthew cites the Golden Rule in its positive formulation, which goes back to the Saying Source, whereas in Did. 1.2 the negative formulation appears.49 But one might ask whether Matthew’s assignment of a summarizing function to the Golden Rule in 7.12 as well as to the double love command in 22.40 might be inspired by a combination of both as it is evidenced by recension C.50 In other words, Did. 1.2 might be a witness of a tradition that also influenced Matthew. At any rate, Matthew’s remark about the equal rank of the command to love one’s neighbor in 22.39 remains his own individual contribution, which has no counterpart in Did. 1.2. The plausibility of a common tradition is underlined by the fact that in the pre-Didache recension of the Two Ways-instruction, the explication of the programmatic opening references to the double love command and the Golden Rule is obviously structured by the influence of the Decalogue in Did. 2.2–6.51 There seems to be a similar relation of the love command and the Decalogue in all three writings under discussion here: Matthew, James and the Didache,
Didache in Context: Essays on Its Text, History and Transmission, ed. by C.N. Jefford, NT.S 78, Leiden 1995, 88–109: 98; NIEDERWIMMER, Didache (see n. 44), 91. For a different position see H. VAN DE SANDT – D. FLUSSER, The Didache. Its Jewish Sources and its Place in Early Judaism and Christianity, CRINT III.5, Assen 2002, 158, n. 58. 48 Against this, C.M. TUCKETT, Synoptic Tradition in the Didache, in: The Didache in Modern Research, ed. by J. Draper, AGJU 37, Leiden 1996, 92–128: 106–107 favors the dependence of ʌȡIJȠȞ – įİIJİȡȠȞ (Did. 1.2) on Matt 22.38–39. Against Tuckett see MILAVEC, Synoptic Tradition (see n. 2), 460. 49 Moreover, the command to love God in Did. 1.2 does not follow Deut 6.5, but parallels Barn. 19.2 (ਕȖĮʌıİȚȢ IJઁȞ ʌȠȚıĮȞIJ ıİ) and has an analogy in Sir 7.30 (ਥȞ Ȝૉ įȣȞȝİȚ ਕȖʌȘıȠȞ IJઁȞ ʌȠȚıĮȞIJ ıİ). 50 See C.N. JEFFORD, The Sayings of Jesus in the Teaching of the Twelve Apostles, SVigChr 11, Leiden 1989, 37: The “notation concerning the ‘double love commandment’ and the Golden Rule as the summation of ‘the law and the prophets’ appears only here [sc. in Matt 7.12; 22.40, M.K.] in the Gospels, and thus may imply that the Matthean redactor was familiar with a tradition in which the ‘double love commandment’ and the Golden Rule were recognized as two elements of a single inclusio concerning the parameters of the OT law.” Jefford concludes: “This lends some support for the position that the Didachist and the Matthean redactor are dependent upon a common tradition of scriptural interpretation” (ibid.). 51 See on this JEFFORD, Sayings (see n. 50), 53–58; KLOPPENBORG, Transformation (see n. 47), 99–100.
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or respectively, the pre-Didache-recension. Furthermore, this is complemented by a wide understanding of the Decalogue commandments, which is evidenced for Matthew in Matt 5.21–30 and for the Didache in the IJțȞȠȞ-sayings in 3.1– 6 and can be assumed for James on the basis of the usage of ijȠȞİİȚȞ in 4.2.52 The love command is taken up in the form of an allusion in Did. 2.7, which shows some reverberations of its original context in Lev 19.17–18. No close relationship to Jas 4.11–12 can be detected here, but at least both documents point to an ongoing reflection of the love command in its original context. This is underlined by several links between the Didache material and the passage in Lev 19.11–1853, among them the demand not to show favoritism in Did. 4.3 (see Lev 19.15). This passage from Lev 19 also seems to make up the background of Jas 2.8–9.54 An aspect that must be treated separately from the question of possible influences of the sources of the Didache on the Gospel of Matthew is the redactional level of the Didache itself. All Didache texts to which I have referred until now were already extant in recension C. This is not the case with regard to the sectio evangelica in 1.3b–2.155, in which the love of one’s enemy appears. I think that this section is not a post-Didachist interpolation, but an insertion by the Didachist himself.56 The section shows convergences with Matthew in some points and with Luke in others, and this includes that these convergences are accompanied by differences with Matthew and Luke. As is wellknown, the question of exact relationships is a notorious crux. Is the Didachist dependent on Matthew (and also on Luke?) here57 or did he use an independent
52
See on this KONRADT, Existenz (see n. 28), 129–130. See Did. 2.3 with Lev 19.12 and 19.16, Did. 2.5 with Lev 19.11 and Did. 4.3 with Lev 19.15. See KLOPPENBORG, Transformation (see n. 47), 103. 54 See L.T. JOHNSON, The Use of Leviticus 19 in the Letter of James, JBL 101 (1982), 391–401. 55 For an analysis of this section see, e.g., NIEDERWIMMER, Didache (see n. 44), 93–116. 56 See for this position, e.g., NIEDERWIMMER, Didache (see n. 44), 93–98. For a postDidachist interpolation see, e.g., WENGST, Didache (Apostellehre) (see n. 2), 18–20. 57 See TUCKETT, Tradition (see n. 48), 128, who postulates that the Didache “presupposes the finished gospels of Matthew and Luke.” JEFFORD, Sayings (see n. 50), 52 does not only maintain that the interpolator “shows an awareness” of the text of Matthew’s Gospel and “seems to know the Lucan Gospel as well,” but he also postulates that “the interpolator writes from within the same tradition as that of the Matthean Gospel.” One of his arguments is that the association of İȜȠȖȦ, ʌȡȠıİȤȠȝĮȚ and ȞȘıIJİȦ in Did. 1.3 would give witness to a tradition which Matthew took up in Matt 6.1–18 (44–46.52). On the other hand, J.S. KLOPPENBORG, The Use of the Synoptics or Q in Did. 1:3b-2:1, in: Matthew and the Didache: Two Documents from the Same Jewish-Christian Milieu, ed. by H. van de Sandt, Assen 2005, 105–129: 129 concludes that “the compiler of Did. 1:3b–2:1 knew Luke,” but he sees no clear indication whether in addition to Luke, the compiler was also familiar with Matthew, or only with Q. 53
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tradition?58 Since I cannot go into a detailed analysis of this section here, I have to confine myself to pointing out an intriguing convergence on the conceptual level: In the overall architecture of the Two Ways-instruction, the love of one’s enemy in the sectio evangelica appears as an explication of the love command cited in 1.2. Thus, Jesus’ instructions are positively incorporated into the conception of the Torah, which is close to Matthew’s approach in Matt 5.17–48. Another feature that should be considered in this context is the motif of perfection in the Didache. Since the appendix in Did. 6.2–3 seems to be a redactional element59, one can ask if the second reference to the motif of perfection in 1.4 also goes back to the hand of the redactor.60 In the Synoptics, perfection only occurs in Matthew’s Gospel, namely, as we have seen, in the context of the interpretation of the love command. In the Didache, the motif of perfection appears in a similar, but not in exactly the same context, since it is not directly linked to love of one’s enemy, but to turning the other cheek as well. The point of reference in Did. 6.2 is difficult to define. Does “the entire yoke” refer to the whole Torah, inclusive of all food regulations and so on, so that the Didachist would allow for some alleviation in this regard?61 Or does the Didachist here refer back to the love of one’s enemy and the renunciation of retaliation in the sectio evangelica62 or to the preceding chapters on the whole 63 (which appears to me to be the most probable solution)? At any rate, a significant difference between Matthew and the Didache emerges here: For Matthew, the perfect fulfillment of the Torah is not arbitrary, but a binding requirement for
58 For this option, see e.g. DRAPER, Jesus Tradition (see n. 47), 273–279, and VAN DE SANDT/FLUSSER, The Didache. Its Jewish Sources (n. 47), 40–48. See also the discussion in W. RORDORF, Does the Didache Contain Jesus Tradition Independently of the Synoptic Gospels?, in: Jesus and the Oral Gospel Tradition, ed. by Henry Wansbrough, JSNTS 64, Sheffield 1991, 394–423: 399–412 with references to the works of Christopher M. TUCKETT (s. above n. 48 and n. 57) and Clayton N. JEFFORD (s. above n. 50). Rordorf concludes, “that in this passage of the doctrine of the Two Ways the Didache has preserved a Jesus tradition independently of the Synoptic Gospels” (ibid., 411). See also the critical discussion of Tuckett’s approach in MILAVEC, Synoptic Tradition in the Didache Revisited (n. 2), 461– 471. 59 VAN DE SANDT/FLUSSER, Didache (see n. 47), 241, however, see a tension between the position in 6.2–3 and the anti-Jewish standpoint in 8.1–2 and thus postulate “that the appendix [sc. 6.2–3, M.K.] can hardly be explained as an original contribution by the final author-editor of the Didache.” 60 See NIEDERWIMMER, Didache (see n. 44), 94.107. 61 See WENGST, Didache (Apostellehre) (see n. 2), 96; VAN DE SANDT/FLUSSER, Didache (see n. 47), 269; J.A. DRAPER, Do the Didache and Matthew Reflect an ‘Irrevocable Parting of the Ways’ with Judaism?, in: Matthew and the Didache: Two Documents from the Same Jewish-Christian Milieu, ed. by H. van de Sandt, Assen 2005, 217–241: 227–230. 62 So NIEDERWIMMER, Didache (see n. 44), 155–156. 63 See G. GARLEFF, Urchristliche Identität in Matthäusevangelium, Didache und Jakobusbrief, Beiträge zum Verstehen der Bibel 9, Münster 2004, 135–144.
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the disciples and should be a characteristic of the ecclesia, which through that feature positively stands out from the Pharisaic synagogue. The Didachist seems to be aware of the high ethical demand formulated in the instruction; on these grounds, he presents perfection as the goal for which one should strive64, but it is obviously not a prerequisite of salvation. Perfection is also an important topic in the Epistle of James65, where it appears as an ideal which ought to be aimed at, as in the Didache. James, however, knows that no one can really attain this goal, and here, the sins of the tongue are the major problem (see 3.2).
4. Matthew, James and the Didache as representatives of one and the same branch of early Christianity? If one compares the reception of the love command in Matthew, James and the Didache with one another, some convergences emerge. As in Matthew and James, there is no evidence in the pre-Didache recension or in the Didache itself for a christological coloring of the love command through an interpretation of Jesus’ death as an act of love (see Gal 2.20), but, again, we find a natural recourse to the Old Testament love command.66 In comparison with Pauline and Johannine literature, this is remarkable to some extent.67 All three writings show a similar understanding of the love command as a summary statement of God’s will, which is foreshadowed in early Jewish writings. There is no sign of a reduction of the law to the love command, but the natural recourse to it in establishing love as the main ethical guideline is exemplary evidence for the continuity with the Torah on the whole. All three writings also demonstrate continuity with the main thematic fields of applying the love command in early Judaism, as it is especially documented in the Testaments of the Twelve Patriarchs. Moreover, in all three writings, the central importance of the love command is connected to the prominent role of the Decalogue (but see also Rom 13.8–10). The congruence in the reception of the Torah in Matthew,
64 See the conclusion of GARLEFF, Identität (see n. 63), 144 that the Didachist “in 6,2 die Radikalität seines Lebensweges wahrnimmt und diesen gerade durch 2b begehbar macht.” 65 On the topic of perfection in James see KONRADT, Existenz (see n. 28), 267–285. 66 See KLOPPENBORG, Transformation (see n. 47), 104. 67 On the pluriformity of early Christian agape-ethics see M. KONRADT, Liebesgebot und Christusmimesis. Eine Skizze zur Pluralität neutestamentlicher Agapeethik, JBTh 29 (2014), 65–98.
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James, and the Didache is linked with a common recourse to the motif of perfection which, however, is developed in different ways. Other differences also exist68 on which I cannot elaborate here.69 Do these findings support the idea that “in addition to the Pauline and Johannine “schools”, Matthew, James and the Didache represent a third, important religious milieu within earliest Christianity, which is characterized by its distinct connections to a particular ethical stream of contemporary Jewish tradition”?70 The question is complex and, as mentioned in the introduction, it cannot be dealt with in an adequate manner in the (thematic) framework of this essay. I can only indicate my preliminary position here. In my opinion, a close relation must be assumed between Matthew’s Gospel and the Didache, but one has to distinguish between different steps of the formation of the documents. As has been shown above, there seems to be an interrelationship between the ethical traditions that were taken up in the pre-Didache recension C on the one hand, and those that influenced the evangelist on the other. On the level of the Didachist himself, I still consider it to be a reasonable assumption that the Didachist was familiar with Matthew’s Gospel itself and, given the relationship between Matthew’s Gospel and traditions that were taken up in recension C, that he lived in the near surroundings of the origin of the Gospel.71 In other words, it is worth considering that the Didache in its final form represents a later stage of Matthean ‘Christianity’ and thus gives insight into its further development. Some affinity between Matthew and James does also exist, which, however, cannot be equated with the close relationship of Matthew and the Didache.72 As far as localizing is concerned, I agree with many exegetes that Syria is the 68
I briefly point only to two other differences between Matthew and James. Whereas Matthew operates with a contrast of ਥțțȜȘıĮ (16.18; 18.17) and “their synagogues” (see esp. Matt 10.17; 12.9 and 23.34), in James both terms are used with regard to the Christian congregation (see Jas 2.2 and 5.14). And while James identifies the believers in Christ with the “twelve tribes” (1.1) and thus with Israel, Matthew never postulates such an identity for the church. On this question see M. KONRADT, Israel, Church, and the Gentiles in the Gospel of Matthew, BMSEC 2, Waco (TX) 2014, 327–353. 69 I mention only that on the whole, James displays a much stronger Hellenistic character than Matthew. C. BURCHARD, Der Jakobusbrief, HNT 15.1, Tübingen 2000, 5 rightly calls the author of James a theologian “mit guter (jüdisch-)hellenistischer Bildung” and points to the “hellenistischen, wenn auch oft jüdisch vermittelten Züge seiner Theologie und Ethik” (ibid., 4, see also KONRADT, Existenz [see n. 28], 317). 70 So H. VAN DE SANDT and J. ZANGENBERG, Introduction, in: Matthew, James, and Didache. Three Related Documents in Their Jewish and Christian Settings, ed. by H. van de Sandt – J.K. Zangenberg, SBLSymS 45, Atlanta (GA) 2008, 1–9: 1–2. 71 See the convincing argument for an intertextual reference of the Didache to Matthew’s Gospel in GARLEFF, Identität (see n. 63), 199–206. Differences can be interpreted as “Modifikationen der Lehren des Evangeliums hinsichtlich der veränderten Situation” (ibid., 204). 72 See the exemplary points of difference mentioned above in n. 68 and also n. 69.
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most probable place for James73 as it is for Matthew and the Didache. But Syria is large, and due to the divergences between James and Matthew, which might include different social compositions of the communities74, I prefer the possibility that James and Matthew/Didache represent ‘only’ two (closely) related branches of early Syriac Christianity, instead of assigning James to exactly the same ‘milieu’ as Matthew and the Didache.
73 See M. KONRADT, The Historical Context of the Letter of James in Light of Its Traditio-Historical Relations with First Peter, in: The Catholic Epistles and Apostolic Tradition, ed. by K.-W. Niebuhr – R.W. Wall, Waco (TX) 2009, 101–125.403–425: 117 with n. 132 on p. 419. 74 According to Did. 7.1, the Two Ways-tractate in Did. 1–6 served as a pre-baptismal instruction for Gentile converts (see, e.g., W. RORDORF, An Aspect of the Judeo-Christian Ethic: The Two Ways, in: The Didache in Modern Research, ed. by J.A. Draper, AGJU 37, Leiden 1996, 148–164: 153–159); this, however, does not speak against a predominantly Jewish-Christian community, which is open for Gentiles as its context. With regard to Matthew, most scholars today agree that the members of the community were at least predominantly of Jewish origin (see on this KONRADT, Israel [n. 68], 360–367). I do not see, however, that this can be taken for granted in the case of the Epistle of James (see on this KONRADT, Context [n. 73], 118.119.125). At the same time, the principal theological convergence of the three writings must be stressed in this context: All three writings display a kind of Christianity that is characterized by a strong Jewish fundament and a rather smooth theological transformation of Jewish traditions in the process of opening the communities for Gentiles—without any severe break with Torah in principle.
II Christologie und Israeltheologie
Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie1 1. Hinführung zum Thema Zu den zentralen Kennzeichen gegenwärtiger Theologie gehört die breite (und kontroverse) Diskussion der Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Israel und Kirche, Christentum und Judentum. Exemplarisch dokumentiert sich dies in der relativ dichten Aufeinanderfolge von inzwischen drei (!) EKD-Studien zum Thema „Juden und Christen“2. In diesen bildet der kritische Rekurs auf die biblischen Texte als Fundament evangelischer Theologie einen wesentlichen Bereich. Die Diskussion der Volk-Gottes-Thematik in „Christen und Juden II“ verweist dabei auf Röm 9–11 als den positiven Anknüpfungspunkt, während das Matthäusevangelium eher als ein belastendes Erbe erscheint, dem
1
Grundlage dieses Beitrags ist der Probevortrag, den ich am 13. November 2002 im Rahmen meines Habilitationsverfahrens an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn gehalten habe. Meine Überlegungen habe ich ferner in etwas anderer Form am 13. Juni 2003 vor der neutestamentlichen Fachgruppe der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie in Berlin vorgetragen. – Die hier vorliegende Version ist gegenüber der Erstveröffentlichung (ZThK 101 [2004], 397–425) leicht überarbeitet. 2 Christen und Juden. Eine Studie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. v. der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1975 (wiederabgedruckt in: Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, hg. v. R. Rendtorff und H.H. Henrix, Paderborn – München 21989, 558–578); Christen und Juden II. Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum. Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland hg. v. Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1991 (wiederabgedruckt in: Die Kirchen und das Judentum, Bd. II: Dokumente von 1986 bis 2000, hg. v. H.H. Henrix und W. Kraus, Paderborn – Gütersloh 2001, 627–668); Christen und Juden III. Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum. Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland hg. v. Kirchenamt der EKD, Gütersloh 2000 (wiederabgedruckt in: Die Kirchen und das Judentum, Bd. II [s.o.], 862–932).
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Die Sendung zu Israel und zu den Völkern
für die in Gang befindliche Neuorientierung keine relevanten Richtungsimpulse zu entnehmen sind.3 Die Israelthematik stellt zweifelsohne einen Schwerpunkt in der matthäischen Neuerzählung der Jesusgeschichte dar. Zu den auffälligsten Charakteristika des Evangeliums in diesem Zusammenhang gehört dabei das Nebeneinander des universalistisch ausgerichteten Missionsbefehls des Auferstandenen am Ende des Evangeliums einerseits (28,18–20) und der auf Israel konzentrierten, die șȞȘ und die Samariter explizit ausschließenden Sendung der Jünger in 10,5f andererseits, die im Blick auf Jesu eigene Sendung ihr Pendant in 15,24 hat: Jesus ist allein zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Das verbreitetste Erklärungsmodell für diesen nach Ulrich Luz einzigen „Bruch“4 in der matthäischen Jesusgeschichte sieht die Hinwendung zu den Völkern darin begründet, dass Jesus in Israel eine am Ende kollektive Ablehnung erfahren habe, die für das alttestamentliche Gottesvolk den Verlust seiner Vorzugsstellung bzw. seine Verwerfung nach sich ziehe und mit der Zuwendung zu den șȞȘ (und der Ersetzung durch die Ekklesia5) beantwortet werde.6 Zugleich
3 Die Autoren von „Christen und Juden II“ (s. Anm. 2) siedeln das Matthäusevangelium in der Nähe der Substitutionstheorie an (51) und sehen es „durch den Leitgedanken eines harten Bruches zwischen Israel und Kirche“ bestimmt (50). 4 U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 91; J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 1, HThKNT 1.1, Freiburg – Basel – Wien 21988, 362 erkennt hier eine „empfindliche() Spannung“. 5 Für viele W. TRILLING, Das wahre Israel. Studien zur Theologie des MatthäusEvangeliums, StANT X, München 1964, 53–96; H. FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund und Kirche Christi. Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des „Evangeliums“ nach Matthäus, NTA NF 10, Münster 21984, 204–211.248.255 u.ö.; R.E. MENNINGER, Israel and the Church in the Gospel of Matthew, AmUStTR 162, New York u.a. 1994, 7f. 6 Siehe nur LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 4), 92; GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 4), 363; G. STRECKER, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie des Matthäus, FRLANT 82, Göttingen 31971, 99–118. Untervarianten ergeben sich dadurch, ob man in 28,19 Israel in ʌȞIJĮ IJ șȞȘ exkludiert (so z.B. D.R.A. HARE – D.J. HARRINGTON, “Make Disciples of All the Gentiles” [Mt 28:19], CBQ 37 (1975), 359–369) oder inkludiert sieht (so u.a. MENNINGER, Israel [s. Anm. 5], 43–45) bzw. die Israelmission von Kap. 10 als abgeschlossen betrachtet (so z.B. Y. ANNO, The Mission to Israel in Matthew: The Intention of Matthew 10:5b-6 considered in the Light of the Religio-Political Background, Diss. masch., Lutheran School of Theology, Chicago 1984, 261f.325–337) oder nicht (so H. GIESEN, Jesu Sendung zu Israel und die Heiden im Matthäusevangelium, in: Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt [FS A. Fuchs], hg. v. C. Niemand, LPTR 7, Frankfurt a.M. u.a. 2002, 123–156: 130f). Je nachdem liegt der Akzent eher auf gerichtsrelevanter Verwerfung (dezidiert R. WALKER, Die Heilsgeschichte im ersten Evangelium, FRLANT 91, Göttingen 1967, passim) oder auf Verlust der Vorzugsstellung (dahin tendiert W. KRAUS, Die Passion des Gottessohnes. Zur Bedeutung des Todes Jesu im Matthäusevangelium, EvTh 57 (1997), 409–427: 416f).
Die Sendung zu Israel und zu den Völkern
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lässt man die Ekklesia an die Stelle Israels treten.7 Dies ist die Position, die in der EKD-Studie „Christen und Juden II“ rezipiert ist.8 In der neuesten Matthäusforschung bestreitet freilich eine zunehmende Anzahl von Auslegern, dass der Evangelist einer Verwerfung Israels das Wort rede. Die von Matthäus erzählte Konfliktgeschichte sei vielmehr transparent für konkurrierende Führungsansprüche zwischen der matthäischen Ekklesia und den die Oberhoheit über die Synagogen gewinnenden Pharisäern innerhalb Israels im Rahmen der jüdischen Formierungsprozesse nach 70 n. Chr.9. In den Hintergrund tritt bei diesem vor allem sozialgeschichtlich argumentierenden Ansatz freilich die Aufgabe, die theologische Konzeption aufzuweisen, die hinter dem Nebeneinander von 10,5f und 28,19 steht. Einen Alternativvorschlag zu den traditionellen Lesarten hat indes Axel von Dobbeler unterbreitet:10 Beide Missionsbefehle verhielten sich komplementär zueinander. Sie seien nicht nur im Blick auf die Adressaten, sondern auch ihrem Charakter nach unterschieden. Bei ʌȞIJĮ IJ șȞȘ, worunter von Dobbeler „alle Heiden“ versteht, gehe es um Bekehrung, im Blick auf Israel hingegen um „die Restitution des am Boden liegenden, verschmachtenden Volkes“11. Zudem unterscheiden sich auch die Inhalte der Aufträge:12 Nach 10,6–8 sollen die Jünger in ihrer Israelmission die Nähe des Himmelreiches verkünden und Kranke heilen. 28,19 hingegen spricht vom ȝĮșȘIJİİȚȞ, das durch die beiden modalen Partizipien ȕĮʌIJȗȠȞIJİȢ und įȚįıțȠȞIJİȢ näherbestimmt wird; von Heilungen ist hier hingegen nicht die Rede.13 Einwenden kann man, dass 7
Siehe exemplarisch die Studie von MENNINGER, Israel (s. Anm. 5). Siehe oben Anm. 3. 9 Siehe vor allem A.J. SALDARINI, Matthew’s Christian-Jewish Community, CSHJ, Chicago – London 1994; J.A. OVERMAN, Matthew’s Gospel and Formative Judaism. The Social World of the Matthean Community, Minneapolis (MN) 1990. – Vgl. dazu in diesem Band auf S. 3–42 den Beitrag „Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum“. 10 A. VON DOBBELER, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden. Das Verhältnis von Mt 10,5b-6 und Mt 28,18-20 unter dem Aspekt der Komplementarität. Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, ZNW 91 (2000), 18–44. 11 A.a.O. 28 (Hervorhebung im Original). 12 Siehe a.a.O., 34–41. 13 Parallel zu von Dobbeler hat auch J.R.C. COUSLAND, The Crowds in the Gospel of Matthew, NT.S 102, Leiden – Boston – Köln 2002, 113 diese Beobachtung vorgebracht und daraus gefolgert: „Hence, the focus of the two missions is very different.“ Die Divergenz der Aufträge ist ferner von F. WILK, Eingliederung von “Heiden” in die Gemeinschaft der Kinder Abrahams. Die Aufgabe der Jünger Jesu unter “allen Weltvölkern”, ZNT 15 (2005), 52–59: 57 betont worden. Wilk zufolge wird die „Sendung zu Israel [...] in 28,19f. weder ausgeweitet noch aufgehoben; vielmehr erteilt der Auferweckte den Jüngern einen weiteren Auftrag, der sie unmittelbar an alle Weltvölker weist.“ Auch Wilk verweist dabei auf die unterschiedliche Bestimmung der Missionsaufgaben: „An Israel werden die Jünger tätig, indem sie – das Erdenwirken Jesu fortführend (vgl. 4,17; 11,5 u.ö.) – die Nähe des Himmelreichs verkünden und durch Heilungen und ähnliche Wunder anzeigen (10,7f.); unter den 8
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ʌȠȡİȣșȞIJİȢ in 28,19 auf 10,6 rückverweist14 und sich die inhaltliche Ausdifferenzierung der Sendungen schwerlich so stringent durchhalten lässt, wie von Dobbeler dies postuliert.15 Aber auch dann, wenn man von diesen Bedenken absieht, fehlt hier eine Erklärung, warum die beiden sich ergänzenden Missionen in der matthäischen Erzählung an unterschiedlichen Stellen sitzen. Warum beginnt die Restitution Israels vor Ostern und die Bekehrung der ‚Heiden‘ erst danach?16 Im Folgenden soll die These entfaltet werden, dass die Aufeinanderfolge der beiden Missionsbefehle ein integrales Moment der narrativen Konzeption darstellt, in der Matthäus seine Christologie entfaltet.17 Oder anders: Matthäus hat seine Neuerzählung der Jesusgeschichte durch ein christologisches Erzählkonzept strukturiert, das die Betonung der heilsgeschichtlich begründeten Sonderstellung Israels und die Universalität des Heils in Christus miteinander vermittelt. Es gibt an dieser Stelle keinen ‚Bruch‘ in der matthäischen Jesusgeschichte. 28,19 hat in keiner Weise die häufig postulierte Verwerfung der Erstadressaten des Wirkens Jesu zur Kehrseite, sondern das Nebeneinander von 10,5f und 28,19 ist darin eingebunden, wie Identität und Bedeutung Jesu sukzessiv bzw. stufenweise enthüllt wird. Zur Begründung der These werde ich zunächst der Frage nachgehen, inwiefern die in den Sendungslogien 10,6 und 15,24 laut werdende Israelkonzentration für die Darstellung des vorösterlichen Wirkens Jesu und seiner Jünger im ganzen charakteristisch bzw. programmatisch ist. Im Anschluss daran ist die matthäische Konzipierung der Sendung Jesu zu Israel im Blick auf die in ihr Weltvölkern agieren sie, indem sie – an die Sendung Jesu anknüpfend (vgl. 3,16f.; 23,8.10) – Menschen taufen und durch Lehre auf seine Weisungen verpflichten.“ Eine tragfähige Unterscheidung ist damit aber nicht getroffen (s. dazu im Folgenden). Dies gilt ebenso für Wilks These, dass die Jünger „einerseits Israel um Jesus als den messianischen Hirten sammeln, andererseits die Völker in ihre eigene Gemeinschaft als die der Jünger des Menschensohns einbinden“ (F. WILK, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin – New York 2002, 129) sollen. Denn inwiefern bedeutet Sammlung um Jesus nicht zugleich Einbindung in die Jüngergemeinschaft? 14 Vgl. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 4: Mt 26–28, EKK 1.4, Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 443. 15 Einzelheiten bei M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 338. Siehe ferner unten Anm. 54. 16 Zur Hypothese von B. PASCHKE s. unten Anm. 94. 17 Der im Titel verwendete Begriff ‚narrative Christologie‘ reflektiert, dass sich die Christologie des Matthäus nur erschließt, wenn man die von ihm erzählte Jesusgeschichte verfolgt. Zur Rede von einer ‚narrativen Christologie‘ vgl. U. LUZ, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach – H. Paulsen, Göttingen 1991, 221–235, ferner auch L. NOVAKOVIC, Jesus as the Davidic Messiah in Matthew, HBT 19 (1997), 148–191: 148f und M. MÜLLER, The Theological Interpretation of the Figure of Jesus in the Gospel of Matthew. Some Principal Features in Matthean Christology, NTS 45 (1999), 157–173: 164f.
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wirksame christologische Leitkonzeption hin zu analysieren, wobei zugleich die Frage der Konfiguration des die Erzählung wesentlich prägenden Konflikts wenigstens berührt wird, und damit auch die Frage, inwiefern die Zuwendung zu ʌȞIJĮ IJ șȞȘ als Antwort auf ein schuldhaftes Fehlverhalten Israels verstanden werden kann.18 Im vierten Teil werde ich dann den Übergang zur universalen Mission als Zielpunkt der Sendung Jesu verständlich zu machen suchen. Der fünfte Abschnitt resümiert, deutet mögliche Rückschlüsse auf die Situation der matthäischen Gemeinde(n) an und nimmt die eingangs anvisierte Frage nach einer möglichen Relevanz des Matthäusevangeliums für die heutige Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Israel auf.
2. Die matthäische Konzentration des irdischen Wirkens Jesu auf Israel Überblickt man die matthäische Jesusgeschichte, zeigt sich, dass die Sendungslogien in 10,6 und 15,24 keineswegs isoliert dastehen, sondern im Gegenteil Spitzensätze einer konsequent durchgeführten redaktionellen Tendenz darstellen. Die Ausrichtung der irdischen Sendung Jesu auf Israel macht Matthäus gleich zu Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu im ersten Summarium in 4,23–25 deutlich, indem er Jesu Wirken ausdrücklich ਥȞ IJ ȜĮ, d.h. in Israel geschehen lässt. Jesus beginnt hier damit, was nach 2,6 seine Aufgabe ist: Er weidet Gottes Volk (ȜĮંȢ) Israel (vgl. auch 4,16). Die Herkunftsangaben der Jesus daraufhin nachfolgenden Volksmengen in 4,25 sind dem angepasst. Matthäus knüpft an Mk 3,7b.8 an, streicht aber Idumäa sowie Tyrus und Sidon und fügt dafür die Dekapolis hinzu.19 Sinn machen diese Veränderungen, wenn man Matthäus hier in biblischer Perspektive einen Umriss des Siedlungsgebiets der zwölf Stämme zeichnen sieht.20 Die Dekapolis deckt dabei das nördliche Gebiet der ostjordanischen Stämme ab. Gesagt ist also: Volksmengen aus ganz
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Vgl. wiederum LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 4), 92. Legt man eine zeitgeschichtliche Perspektive an, bleibt die Absicht dieser Änderungen unklar. Die Dekapolis hatte wie Tyrus und Sidon mit umliegendem Land eine überwiegend ‚heidnische‘ Bevölkerung; in beiden Gebieten gab es auch Juden (s. nur Josephus, Bell 2,466–480, vgl. G. THEISSEN , Lokalkolorit und Zeitgeschichte. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, NTOA 8, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1989, 69f). Die Idumäaer hatte Johannes Hyrkan unterworfen und zur Beschneidung gezwungen, also ‚judaisiert‘ (Josephus, Ant 13,257f); Idumäa fehlt aber in Mt 4. 20 Vgl. TRILLING, Das wahre Israel (s. Anm. 5), 136; G. LOHFINK, Wem gilt die Bergpredigt? Beiträge zu einer christlichen Ethik, Freiburg – Basel – Wien 1988, 26–29; GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 4), 108f; W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 420. Anders aber K.-S. KRIEGER, Das Publikum der Bergpredigt (Mt 4,23-25). Ein Beitrag zu der Frage: Wem gilt die 19
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Israel lassen sich durch das Auftreten Jesu ansprechen.21 Tyros und Sidon sowie Idumäa = Edom22 sind als ‚heidnische‘ Territorien gestrichen. Korrespondierend damit hat Matthäus auch am Ende der Großkomposition Mt 4,23–9,35 durch die Anrufung Jesu als Davidsohn in 9,27 und durch 9,33 die Israelbezogenheit der Sendung Jesu markiert (dazu mehr unter III). Instruktiv ist sodann die Neufassung von Mk 7 in Mt 15. Im markinischen Erzählfaden geht der Heilung der Tochter der Syrophönizierin das Streitgespräch über die Speisetora voran, in dem Markus Jesus eine prinzipielle Außerkraftsetzung der Speisegebote (und damit eines bedeutsamen Instruments der Grenzziehung zwischen Israel und den Völkern, s. nur Arist 139.142) vorbringen lässt23, womit ein wichtiges Signal für sein nachfolgendes Wirken gesetzt ist:24 Jesus begibt sich in das Gebiet von Tyros, heilt dort die Tochter der Syrophönizierin, zieht danach durch Sidon und begibt sich schließlich in die Dekapolis, wo man sich neben der Heilung des Taubstummen (Mk 7,31–37) möglicherweise auch die sich in 8,1–9 anschließende Speisung der 4000 zu denken hat.25 Markus lässt Jesus also durch Gebiete ziehen, die zwar einen jüdischen Bevölkerungsanteil hatten, aber vornehmlich ‚heidnisch‘ waren. Kurzum: Die markinische Komposition kann man so verstehen, dass hier im Anschluss an die kategorische Aufhebung des ‚boundary marker‘ der Speisegebote die Einbeziehung von Nichtjuden in das Wirken Jesu geschildert werden soll.26
Bergpredigt?, Kairos 28 (1986) 98–119: 102–105. Zur Bedeutung des Landes Israel für Matthäus vgl. Mt 2,19–21. 21 Durch 4,24a, worin sich die Perspektive der matthäischen Gemeinde zu Wort melden dürfte, wird die Beschränkung auf Israel nicht berührt, denn Jesus geht hier nicht selbst nach Syrien, sondern nur die Kunde von ihm greift über das Land Israel (2,20f) hinaus. Zu fragen ist freilich zugleich, ob 4,24a in erzähllogischer Hinsicht die Voraussetzung für 15,21–28 schaffen soll, sofern vorauszusetzen ist, dass die aus dem Gebiet um Tyros und Sidon, also aus Syrien stammende Frau zuvor von Jesu Wirken in und an Israel gehört haben muss (vgl. dazu R.H. GUNDRY, Matthew. A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, Grand Rapids (MI) 21994, 64). 22 Vgl. den LXX-Befund, wo Idumäa häufig für Edom steht, s. 2Sam 8,14; 1Kön 11,14f; 2Kön 14,10; Am 1,6.9; Ob 1.8; Jes 34,5f (!); Ez 25,12–14 (!); Thr 4,21 (!) und öfter. 23 Siehe insbesondere den Erzählerkommentar in Mk 7,19c. 24 Vgl. T.A. BURKILL, The Syrophoenician Woman: The Congruence of Mark 7,24-31, ZNW 57 (1966), 23–37: 28f; J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus, Bd. 1: Mk 1–8,26, EKK 2.1, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 31989, 287; THEISSEN, Lokalkolorit (s. Anm. 19), 70. 25 Jedenfalls folgt erst in Mk 8,10 wieder eine neue Ortsangabe. 26 Anders jetzt aber J. SCHRÖTER, Von der Historizität der Evangelien. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um den historischen Jesus, in: Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, hg. v. dems. – R. Brucker, BZNW 114, Berlin – New York, 163–212: 200–202, der gegenüber der Betonung des redaktionellen Interesses des Evangelisten „an der Legitimation der Heidenmission“ die Ortsangaben
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Signifikant anders stellt sich hingegen die Szenerie im Matthäusevangelium dar: Von einer prinzipiellen Abrogation der Reinheitsgebote kann in Mt 15,1– 20 keine Rede sein.27 Sodann dient Jesu Abstecher in nichtjüdisches Gebiet nicht dazu, dort sein Wirken fortzusetzen.28 Jesus zieht sich vielmehr angesichts des vorangehenden, von Matthäus durch die Einschaltung des Jüngerwortes in V.12 und der Gerichtsansage Jesu in V.13f betonten Konflikts mit den Pharisäern und Schriftgelehrten zurück, wie das in diesem Zusammenhang auch sonst gebräuchliche und in 15,21 redaktionelle ਕȞİȤઆȡȘıİȞ anzeigt.29 Entsprechend hat Matthäus in der Heilungsgeschichte die Szenerie verändert. Jesus kehrt nicht in ein Haus ein30, sondern zieht seines Weges, während die
zunächst einmal als Reminiszenzen an den geographischen Rahmen des Wirkens des „historischen Jesus“ auswertet und darauf verweist, dass hier nicht gesagt werde, „daß Jesus sich mit seiner Verkündigung oder seinem heilenden Wirken an Heiden wandte, sondern nur, daß er auf heidnischem Gebiet wirkte“ (201, Hervorhebungen im Original). Da es in den betreffenden Gebieten jüdische Bevölkerung gab und ferner 7,24–30 gerade die Reserve gegenüber einem Wirken an „Heiden“ zeigt, sei „die Wirksamkeit Jesu in den an Galiläa angrenzenden Gebieten als Aufsuchen der dortigen jüdischen Siedlungen zu verstehen“ (202). Dies ist im Blick auf den ‚historischen Jesus‘ m.E. in hohem Maße plausibel. THEISSEN, Lokalkolorit (s. Anm. 19), 68–85 hat zudem darauf verwiesen, dass die (ursprüngliche) Erzählung wesentlich im Kontext von Spannungen zwischen der jüdischen Landbevölkerung im Hinterland der Städte und der hellenisierten Stadtbevölkerung, in denen das sozioökonomische Gefälle eine bedeutsame Rolle spielte (zumal in Krisenzeiten drohte der Landbevölkerung im Unterschied zu den Städtern, dass sie nicht satt wurde), zu verstehen ist. Dies ist aber zu unterscheiden von der Ebene der Aussageintention der Komposition des Evangelisten. Von dem Moment an, da die Frage der Völkermission im frühen Christentum zum Thema wurde, lag es nahe, die in Mk 7,24–30 aufgenommene Erzählung in diesem Kontext zu deuten. Bei Matthäus ist der heilsgeschichtliche Fokus der Erzählung evident. Bei Markus bildet sie einen Auftakt zum weiteren Wirken Jesu unter Nichtjuden. Kurzum: THEISSEN vermerkt zu Recht, „daß Mk einigen Ortsangaben aus der ihm überkommenen Tradition einen ganz neuen Sinn gegeben hat: Jesu Weg zu den dortgenannten Orten wird zum Vorschein der Heidenmission“ (70). 27 Die matthäische Redaktion ist hier nicht suffizient als bloße Straffung zu erklären, denn die Veränderungen verfolgen eine klare Linie (in diesem Sinne z.B. auch U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 8–17, EKK 1.2, Zürich – Braunschweig – NeukirchenVluyn 1990, 426, s. dazu in diesem Band den Beitrag „Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium“, 343–346): Matthäus hat nicht eine Verwerfung der Reinheitsgebote/Speisegebote im Sinn, sondern ihm geht es allein um die dezidierte Ablehnung pharisäischer Halacha. 28 Anders GUNDRY, Matthew (s. Anm. 21), 310. 29 Matthäus verwendet das Verb bekanntlich häufig im Sinne des Entweichens vor drohender Gefahr. Siehe 2,(12.13).14.22; 4,12; 12,15 (!); 14,13. 30 Dazu passt Jesu abweisende Frage in 8,7 (vgl. dazu unten Anm. 44): Angesichts der Schilderung des Hauptmanns, sein ʌĮȢ liege krank Ȟ IJ߲ Ƞݧțަߠ, wehrt Jesus ab: „Ich soll kommen und ihn heilen?“ (zur Deutung von Mt 8,7 vgl. KONRADT, Israel [s. Anm. 15], 71).
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Frau, bei ihm als Kanaanäerin bezeichnet31, ihm nachläuft und ihr Anliegen vorbringt.32 Die erste Reaktion Jesu ist, dass er die Frau ignoriert. Das inständige33 Bitten der Jünger, die Frau wegen ihres lästigen Geschreis fortzuschicken (V.23)34, bestärkt Jesus35 sodann mit dem bereits erwähnten grundsätzlichen Wort über seine göttliche Sendung, das gegenüber dem ʌȡIJȠȞ in Mk 7,27 eine deutliche Verschärfung bedeutet.36 Dass Jesus am Ende dennoch die Heilung gewährt, hat nichts mit der Beharrlichkeit der Frau zu tun, denn auch nach ihrem anhaltenden Schreien und Bitten wehrt Jesus noch durch das Bildwort in V.26 ab, sondern dies ist für Matthäus allein in ihrem Argument in V.27 begründet. Durch die Einfügung des ȞĮ vor țȡȚİ lässt Matthäus sie zunächst ausdrücklich bestätigen, dass es nicht gut ist, den Kindern = Israel das Brot zugunsten der Hunde = ‚Heiden‘ wegzunehmen.37 Matthäus lässt die Frau ferner von „den Brocken, die vom Tisch ihrer Herren herabfallen“ reden, nicht wie Mk 7,28 „von den Brocken der Kinder“. Im unmittelbaren Kontext wird das țȣȡȦȞ der bildhaften Rede
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Matthäus trägt damit, wie auch durch die Ergänzung des markinischen Tyros durch Sidon (vgl. Jes 23,1–18; Jer 25,22; 27,3; 47,4; Ez 26–28; Joel 4,4; Sach 9,2–4, ferner Jdt 2,28; 1Makk 5,15; Eupolemos bei Euseb, Praep Ev 9,33,1; 9,34,4), biblisches Kolorit ein (vgl. W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 2, ICC, Edinburgh 1991, 547). Das Folgende erhält seine Konturen auf dem Hintergrund des klassischen Gegensatzes zwischen Israel und Kanaan. Dass ȋĮȞĮȞĮȠȢ zur Zeit des Matthäus vermutlich „Selbstbezeichnung der Phönizier“ war (LUZ, Evangelium nach Matthäus II [s. Anm. 27], 432), ist zumal im Lichte der Ergänzung von Sidon für die Erklärung der matthäischen Änderung von nachgeordneter Bedeutung. 32 Siehe IJȚ țȡȗİȚ ʌȚıșİȞ ਲȝȞ in Mt 15,23. Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 31), 549. 33 Siehe das Imperfekt ȡઆIJȠȣȞ. 34 Eine andere Bedeutung für ਕʌંȜȣıȠȞ kommt hier nicht in Frage (vgl. den matthäischen Gebrauch des Verbs in 1,19; 14,15.22f; 15,32.39, ferner auch 5,31f; 19,3.7–9). Ebenso deuten z.B. A. SAND, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 1986, 315; J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 2, HThKNT 1.2, Freiburg – Basel – Wien 21992, 30; LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 27), 429.434; GUNDRY, Matthew (s. Anm. 21), 312; C. BURGER, Jesus als Davidssohn. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, FRLANT 98, Göttingen 1970, 81; E.M. WAINWRIGHT, Towards a Feminist Critical Reading of the Gospel According to Matthew, BZNW 60, Berlin – New York 1991, 108f. Anders, nämlich in dem Sinne, dass Jesus die Bitte der Frau erfüllen solle, aber z.B. A. SUHL, Der Davidssohn im Matthäus-Evangelium, ZNW 59 (1968), 57–81: 65. 35 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 27), 434; GIESEN, Jesu Sendung (s. Anm. 6), 131. 36 Das markinische ʌȡIJȠȞ fehlt entsprechend in Mt 15,26. 37 Dem fügt sich ein, dass die Frau Jesus zu Beginn als „Sohn Davids“ und also in matthäischer Perspektive als Messias Israels (vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus II [s. Anm. 27], 434; GUNDRY, Matthew [s. Anm. 21], 311) angesprochen hat. Das Argument der Frau in V.27 bewegt sich im Rahmen der heilsgeschichtlichen Differenz von Israel und ‚Heiden‘.
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der Frau durch ihre vorangehende Anrede Jesu als țȡȚȠȢ entschlüsselt.38 Die Frau argumentiert damit, dass das von Jesus, dem țȡȚȠȢ, dargereichte Heil letztendlich über Israel hinaus auch auf die ‚Heiden‘ ausstrahlt. Sie zeigt einen Glauben, der schon jetzt in Jesus als dem Messias Israels39 den Heilsbringer auch für die ‚Heiden‘ erkennt. Deshalb nennt Jesus ihren Glauben in 15,28 groß. Sie antizipiert, was Jesus selbst erst als Auferstandener kundtun wird.40 Von Gewicht für das Verständnis der Konzeption der matthäischen Jesusgeschichte ist nun ferner, dass die letztendliche Gewährung der Bitte der Frau keineswegs wie bei Markus der Auftakt für weiteres Wirken in ‘heidnischem‘ Gebiet ist. Matthäus lässt Jesus vielmehr sogleich wieder nach Galiläa zurückkehren41 und schließt damit ein (in der markinischen Fassung mögliches, ja offenbar intendiertes) Nichtjuden einbeziehendes Verständnis der Ausrichtung des Wirkens Jesu aus. Das Mk 7,31–37 ersetzende Summarium in Mt 15,29– 31 spricht also wie 4,25 von ȤȜȠȚ ʌȠȜȜȠ (15,30) aus Israel. Diese bilden entsprechend die Kulisse der zweiten Speisungsgeschichte in 15,32–39. Durch die Änderung der geographischen Angaben unterlegt Matthäus damit der Komposition in 15,21–39 eine gegenüber Markus signifikant veränderte Aussage, die bereits Holtzmann treffend so charakterisiert hat, dass Matthäus zeigen wolle, „wie Jesus in der That fortfuhr, das Brod nur den Kindern zu reichen“42.
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An einen Bezug auf Jesus denkt auch GUNDRY, Matthew (s. Anm. 21), 316. C. BURZu Matthäus 8,5–13, ZNW 84 (1993), 278–288: 285, Anm. 41 erwägt, dass die Reden von den ‚Herren‘ auf Jesus und Gott zu beziehen sei. Hingegen vertritt B. REPSCHINSKI, Die Heidenmission in den synoptischen Evangelien, ZKTh 130 (2008), 423–444: 427f eine Gleichsetzung der ‚Herren‘ in V.27 mit den zuvor in V.26 genannten Kindern. 39 Siehe die Anrede als „Sohn Davids“ in Mt 15,22! Siehe oben Anm. 37. 40 Und sie vermittelt dies in ihrem Argument zugleich mit dem heilsgeschichtlichen status quo der noch grundsätzlichen Differenz zwischen Juden und ‚Heiden‘. Es geht hingegen nicht, wie WAINWRIGHT, Feminist Critical Reading (s. Anm. 34), 110–112 (s. auch 246) postuliert, um einen sich im Laufe der Geschichte auflösenden Konflikt zwischen der durch 12,17–21 repräsentierten, vom „omniscient narrator“ eingenommenen Sicht Gottes und der zunächst durch überkommene Tradition bestimmten, sich erst allmählich der Sicht Gottes nähernden Position Jesu. Jesus rekurriert vielmehr in 15,24 auf nichts anderes als auf seine Beauftragung eben durch Gott! 41 ȆĮȡ IJȞ șȜĮııĮȞ IJોȢ īĮȜȚȜĮĮȢ (15,29) meint zumal angesichts der Streichung der ‚heidnischen‘ Gebiete in Analogie zu 4,18; 13,1 die galiläische Seite des Sees. 42 H.J. HOLTZMANN, Das Evangelium nach Matthäus, in: Ders., Die Synoptiker, HC 1.1, Tübingen – Leipzig 31901, 185–299: 255. CHARD,
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Ganz ähnlich wie in 15,21–28 liegt der Fall in 8,5–13 bei der aus der Logienquelle übernommenen Heilung des Knechtes des Hauptmanns von Kafarnaum.43 Auch hier erklärt sich Jesus durch die abweisende Frage in 8,7 zunächst für nicht zuständig.44 Umgestimmt wird er durch die Worte des Hauptmanns in V.8f, und zwar nicht schon allein durch das in V.8 laut werdende Vertrauen in die Wirkmacht seines Wortes.45 Darin unterscheidet sich der Hauptmann nicht so grundsätzlich von den Volksmengen im Gefolge Jesu, dass die Hervorhebung seines besonderen Glaubens in V.10 begründet erscheint.46 Das entscheidende Argument steht erst in V.9. Der Zenturio entwirft hier eine Analogie zwischen sich und Jesus, in der das entscheidende Stichwort die ਥȟȠȣıĮ ist:47 Wer ਥȟȠȣıĮ hat, der kann Befehle geben, die befolgt werden. 43
Dass Matthäus beide Heilungen als analoge Begebenheiten begreift und seinen Adressaten zu vermitteln sucht, wird schon durch die redaktionelle Angleichung der Schlussverse 8,13 und 15,28 deutlich. 44 Für das Verständnis von Mt 8,5–13 von zentraler Bedeutung ist im hier verhandelten Zusammenhang, dass die Worte Jesu in 8,7 schwerlich als Aussagesatz („ich werde kommen und ihn heilen“), sondern, wie von der Mehrzahl der Ausleger vertreten wird, nur als abweisende Frage („ich soll kommen und ihn heilen?“) aufgefasst werden können (vgl. oben Anm. 30). Ebenso z.B. U. WEGNER, Der Hauptmann von Kapernaum (Mt 7,28a; 8,5-10.13 par Lk 7,1-10). Ein Beitrag zur Q-Forschung, WUNT II.14, Tübingen 1985, 375.380 (zu Q); H.J. HELD, Matthäus als Interpret der Wundergeschichten, in: G. Bornkamm – G. Barth – H.J. Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen 7 1975, 155–287: 184; LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 27), 14. Anders GUNDRY, Matthew (s. Anm. 21), 142f. 45 Anders z.B. WEGNER, Hauptmann (s. Anm. 44), 389f („Für den Zenturio gelangt in der Person Jesu Gottes vollmächtiges Wort in Erfüllung. Als solches, als Gottes schöpferisches Wort, schenkt der Befehlshaber dem Worte Jesu sein Vertrauen“); GUNDRY, Matthew (s. Anm. 21), 144; U. LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK.NT 1 (1993), 108, auch LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 27), 14. 46 Ähnlich BURCHARD, Matthäus 8,5–13 (s. Anm. 38), 284. Zustimmend zu Burchard auch WILK, Jesus (s. Anm. 13), 114f. 47 ʌઁ ਥȟȠȣıĮȞ wird in der Regel fraglos zum Voranstehenden gezogen (s. auch die Interpunktion in NA26–28), könnte aber auch zu ȤȦȞ gehören (so BURCHARD, Matthäus 8,5– 13 [s. Anm. 38], 282f). Gesagt wäre dann nicht, dass der Hauptmann unter einer Befehlsgewalt steht, sondern dass er jemand (ਙȞșȡȦʌȠȢ wäre dann tonlos im Sinne von ‚jemand‘ zu fassen) ist, der Soldaten unter der seinen hat. Der Unterschied ist sachlich insofern nicht erheblich, als auch im ersten Fall die ਥȟȠȣıĮ des Hauptmanns impliziert ist. Dass er Soldaten unter sich hat, ist Folge dessen, dass er selber unter einer Befehlsgewalt steht, die er seinen Soldaten gegenüber vertritt. Es ist von daher unbegründet, einen grundlegenden Gegensatz zwischen dem Hauptmann und Jesus zu konstatieren, da dieser ਥȟȠȣıĮ habe, während jener unter einer stehe. Konsequenz einer solchen Konstruktion ist, dass die in țĮ Ȗȡ ਥȖઆ angezeigte Analogie schwer verständlich wird. Einige Ausleger hat dies zur Annahme einer falschen Periodisierung geführt, „so daß İੁȝ eigentlich (konzessiv-)partizipial durch ੭Ȟ, während ȤȦȞ indikativisch-präsentisch durch ȤȦ urspr [sic!] wiederzugeben waren“ (WEGNER, Hauptmann von Kapernaum [s. Anm. 44], 274f). Zu übersetzen wäre dann: „Auch ich, obwohl ich ein Mensch unter Befehlsgewalt bin, habe Soldaten unter mir“.
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Auf Jesus angewandt, ist damit durch den Kontext auf die Universalität seiner Vollmacht angespielt: Wie die Kanaanäerin erkennt auch der Hauptmann bereits in Jesus den Heilsbringer, dessen ਥȟȠȣıĮ letztlich über Israel hinausreicht. Dies unterscheidet ihn von den dabeistehenden Volksmengen.48 Bestätigung findet dieser Ansatz, wenn man die Heilung der beiden besessenen Gadarener in 8,28–34 hinzuzieht. Während in der markinischen Vorlage der exorzistische Befehl Jesu vorangeht (Mk 5,8) und hierauf der Besessene versucht, mit Jesus zu ‚handeln‘, sprechen bei Matthäus die Besessenen Jesus an. Der erste Evangelist vermeidet so zum einen, dass das Wort Jesu keine sofortige Verwirklichung findet. Zum anderen bewirkt der Eingriff, dass die Initiative nicht von Jesus ausgeht.49 Zweitens übergeht Matthäus das Nachfolgegesuch des Geheilten und dessen vorösterliche Verkündigung unter ‚Heiden‘ aus Mk 5,18–20. Jesu Landgang nach der nächtlichen Überfahrt über den See Genezareth zeitigt keine Folgen. Dem fügt sich drittens ein, dass Matthäus in Mt 8,29 die Dämonen Jesus fragen lässt: „Bist du hierher gekommen, um uns ʌȡઁ țĮȚȡȠ૨ zu quälen?“ Da der Teufel und die Dämonen nach jüdischer Vorstellung am Ende der Zeit vernichtet werden50, könnte țĮȚȡંȢ sich hier auf das Endgericht beziehen.51 Mt 12,28 stellt freilich gerade das Austreiben von Dä-
Das Argument des Hauptmanns böte einen Schluss a minori ad majus. Besser ist in jedem Fall eine Auslegung, die dem jetzt vorliegenden Text Sinn abgewinnt. J.A. OVERMAN, Church and Community in Crisis. The Gospel According to Matthew (The New Testament in Context), Valley Forge (PA) 1996, 117 sucht dagegen ਫ਼ʌઁ ਥȟȠȣıĮȞ positiv in die Analogie zwischen dem Hauptmann und Jesus einzubeziehen: „The centurion understands how authority works. He understands that both he and Jesus receive their power and authority from somewhere or someone.“ 48 Auch sie haben zwar erkannt, dass Jesus Vollmacht besitzt (7,29) und erwarten Wunder von ihm, die er ȜંȖ ausführt (8,16), ja „einzelnen bestätigt Jesus ihren Glauben (9,2.22.29). Aber an Jesu universale Sendung glauben sie nicht“ (BURCHARD, Matthäus 8,5–13 [s. Anm. 38], 286). 49 Jesus schweigt vielmehr zunächst. Überhaupt spricht er in der matthäischen Version nur ein Wort, und dies ist, wie der Ausgang zeigt, keine Konzession an die Dämonen (vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus II [s. Anm. 27], 33, Anm. 19, anders z.B. GNILKA, Matthäusevangelium I [s. Anm. 4], 322), sondern ein eindrucksvoller Machterweis Jesu, denn die Dämonen fahren zwar in die Schweine, erhalten aber keine neue ‚Wohnung‘, sondern kommen im See um (die Dämonen sind Subjekt der Pluralform ਕʌșĮȞȠȞ in V.32, mit HELD, Wundergeschichten [s. Anm. 44], 164; LUZ, Evangelium nach Matthäus II [s. Anm. 27], 34; GUNDRY, Matthew [s. Anm. 21], 160, anders D.A. HAGNER, Matthew 1–13, WBC 33A, Dallas [TX] 1993, 228). „ʌȖȦ hat hier den starken Sinn von ‚weggehen‘, wie 4,10 und 16,23“ (LUZ, Evangelium nach Matthäus II [s. Anm. 27], 33, Anm. 19). 50 Siehe nur 1Hen 10,6; 16,1; 19,1; TestSim 6,6; TestLevi 3,3; 18,12; TestJuda 25,3; TestSeb 9,8 (v.l.?); 1QS 3,18; 4,18-23; TestMos 10,1; Offb 20,10. 51 So z.B. HELD, Wundergeschichten (s. Anm. 44), 164; GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 4), 321; GUNDRY, Matthew (s. Anm. 21), 159; DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 31), 77.81f. Zu țĮȚȡંȢ in endzeitlichem Sinne (Gericht, Parusie) vgl. Mk 13,33;
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monen unter die Perspektive der in Jesus bereits anbrechenden Herrschaft Gottes.52 Zu beachten ist ferner, dass Matthäus nur an dieser Stelle von einer Vernichtung der Dämonen „vor der Zeit“ spricht. Das ist nicht Zufall, sondern Konsequenz der matthäischen Erzählkonzeption, Jesu vorösterliches Wirken auf Israel zu beschränken. Die ‚Heiden‘ sind noch nicht ‚an der Reihe‘. Der Kairos der Zuwendung zu den Völkern steht noch aus.53 Die Dämonen sind Eingeweihte; sie wissen das.54 Auch in 8,28–34 wird damit deutlich: Die irdische Sendung Jesu ist eigentlich allein auf Israel bezogen. Nicht nur die Veränderungen geographischer Angaben wie in 4,24f; 15,29–31 oder redaktionelle Passagen wie 4,23; 9,33 lassen sich also als Belege für die eingangs vermerkte konsequente redaktionelle Tendenz des ersten Evangelisten anführen. Gerade auch die Bearbeitungen der drei Matthäus aus seinen Quellen vorgegebenen Texte, in denen es zu einer Begegnung Jesu mit Nichtjuden und am Ende zu einem heilenden Handeln Jesu kommt, fügen sich hier nahtlos ein. In allen drei Fällen macht Matthäus deutlich, dass die Heilungen extra ordinem geschehen sind. Als solche sind sie Vorzeichen für Kommendes, auf den, wie noch zu entfalten sein wird, mit Tod und Auferstehung Jesu gekommenen und darin begründeten Kairos des Heilsangebotes (auch) an die Völker. Ist also das irdische Wirken Jesu bei Matthäus programmatisch auf Israel beschränkt und dieses Programm sorgfältig durchgeführt, so ist als nächstes zu fragen, wie, d.h. unter welchem Leitmotiv Matthäus Jesu Wirken in Israel konzipiert hat.
Lk 21,8; 1Kor 4,5 (ʌȡઁ țĮȚȡȠ૨); Gal 6,9; (1Thess 5,1); 2Thess 2,6; 1Petr 1,5; 5,6; Offb 1,3; 11,18; 22,10. 52 Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 31), 82; GUNDRY, Matthew (s. Anm. 21), 160; HAGNER, Matthew 1–13 (s. Anm. 49), 227, auch GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 4), 321f. 53 Erwogen wird ein Bezug von țĮȚȡંȢ auf den Zeitpunkt der Völkermission von E.K.C. WONG, Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium. Zum Verhältnis von Juden- und Heidenchristen im ersten Evangelium, NTOA 22, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1992, 118. Siehe auch U. LUZ, Die Wundergeschichten von Mt 8-9, in: Tradition and Interpretation in the New Testament (FS E.E. Ellis), hg. v. G.F. Hawthorne – O. Betz, Grand Rapids (MI) – Tübingen 1987, 149–165: 157. 54 Mt 8,29 zeigt im Übrigen, wie auch 8,5–13 und 15,21–28, zugleich, dass es schwerlich angeht, aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Erwähnung von Heilungen in 28,18–20 zu schließen, dass diese in der Sendung der Jünger auch nach Ostern weiterhin nur ein Moment der auf die Restitution des Gottesvolkes zielenden Israelmission sind, was gegen den Ansatz von VON DOBBELER, Restitution (s. oben Anm. 10, S. 117) spricht.
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3. Konzeptionelle Grundlinien der matthäischen Darstellung des Wirkens Jesu in Israel Mit der dargelegten Ausrichtung des irdischen Wirkens Jesu auf Israel geht einher, dass das Christologumenon der Davidsohnschaft im Vergleich zu seiner höchstens marginalen Rolle bei Markus55 in der matthäischen Jesusgeschichte zu einem christologischen Hauptmotiv ausgebaut ist. 56 Matthäus führt Jesus gleich zu Beginn in der Überschrift in 1,1 als Davidsohn ein (ȕȕȜȠȢ ȖİȞıİȦȢ ȘıȠ૨ ȋȡȚıIJȠ૨ ȣੂȠ૨ ǻĮȣį ȣੂȠ૨ ਝȕȡĮȝ) und setzt damit ein wichtiges Signal für seine Darstellung der Jesusgeschichte. Im nachfolgenden Stammbaum wird auffallenderweise allein David ausdrücklich als „König“ bezeichnet (1,6), und 1,18–25 löst das Problem, dass die davidische Linie über Joseph läuft, er aber nach 1,16 nicht Jesu leiblicher Vater ist: Jesus wird in die davidische Linie eingefügt, indem Joseph, ein Sohn Davids, wie es in 1,20 ausdrücklich heißt, ihn gewissermaßen adoptiert. Wesentliches Thema bleibt die Davidsohnthematik auch in der Magierperikope in 2,1–12. Dabei werden zugleich die beiden Aspekte eingeführt, die für Matthäus in seiner Präsentation Jesu als des davidischen Messias von zentraler Bedeutung sind: Zum einen die Konfliktkonstellation: Die Frage der Magier nach dem geborenen König der Juden ruft nicht nur beim amtierenden König Herodes, der sogleich begreift, dass es sich um den Messiaskönig handeln muss (2,4), sondern auch in der ganzen Stadt Jerusalem Entsetzen hervor (2,3), und die Hohepriester und Schriftgelehrten vereinigen sich mit Herodes. Matthäus setzt damit ein Signal auf das Ende Jesu in Jerusalem wie auch überhaupt auf die konsequente Opposition der politischen und religiösen Autoritäten gegen den, der als Messiaskönig ihre Führungsposition in Frage stellt.57
55 Er begegnet nur in Mk 10,46–52 als Anrufung Jesu im Munde des blinden Bartimäus sowie mit 12,35–37 in einem Text, der seine Bedeutung zumindest deutlich relativiert: Jesus hinterfragt die Ansicht der Schriftgelehrten, der Messias sei Davids Sohn, da David selbst ihn doch seinen Herrn nennt. 56 Matthäus hat, wie sich zeigen wird, keineswegs bloß den in Mk 10,46–52 vorgefundenen Aspekt des heilenden Wirkens des Davidsohnes Jesus verstärkt, indem er den Titel weiteren Hilfesuchenden in den Mund gelegt hat (neben 20,30f noch 9,27; 15,22). Zur Betonung des Aspekts des heilenden Davidsohns in der Literatur s. exemplarisch J.D. KINGSBURY, The Title “Son of David” in Matthew’s Gospel, JBL 95 (1976), 591–602: 592f; D.C. DULING, The Therapeutic Son of David. An Element in Matthew’s Christological Apologetic, NTS 24 (1978), 392–410 und vor allem L. NOVAKOVIC, Messiah, the Healer of the Sick. A Study of Jesus as the Son of David in the Gospel of Matthew, WUNT II.170, Tübingen 2003. 57 Dass Jesus der verheißene davidische Messiaskönig ist, ist ein wesentliches Element der matthäischen Konfliktgeschichte. Siehe dazu im Folgenden sowie G.N. STANTON, Matthew’s Christology and the Parting of the Ways, in: Jews and Christians. The Parting of the Ways A.D. 70 to 135, hg. v. J.D.G. Dunn, WUNT 66, Tübingen 1992, 99–116: 100.108–112
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Von Bedeutung ist zum anderen, dass Matthäus als Leitkategorie, unter der er sein Verständnis Jesu als des davidischen Messiaskönigs entfaltet, die alttestamentlich geläufige Metaphorik von Hirt und Herde aufnimmt.58 In 2,6 wird sie durch die Verbindung des Zitats aus Mi 5,1 mit 2Sam 5,2 eingeführt: Jesus ist der aus Bethlehem hervorgehende ਲȖȠȝİȞȠȢ, der Gottes Volk Israel weiden wird. Das Sendungslogion in Mt 15,24 wie auch andere Texte des Evangeliums führen diese Metaphorik weiter. Was Jesu Hirtentätigkeit konkret bedeutet, umreißt Matthäus durch das bereits angesprochene erste Summarium in 4,23: Jesus lehrt, verkündigt das Evangelium vom Reich und heilt alle Krankheiten und Gebrechen, und zwar eben ਥȞ IJ ȜĮ. An das Ende der das Summarium exemplarisch entfaltenden Komposition in Kap. 5–9 hat Matthäus in 9,27–34 zwei Texte gestellt, die wesentlich dazu dienen, den heilsgeschichtlichen Horizont des Wirkens Jesu zu unterstreichen. In beiden Fällen dupliziert Matthäus Texte, die später noch einmal vorkommen59 (vgl. 12,22–24; 20,29–34). Die in 9,27–31 variierte markinische Erzählung von der Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,46–52) ist der markinische Text, in dem Matthäus die Anrufung Jesu als Davidsohn (Mt 9,27) vorgefunden hat. Die Anfügung des Exorzismus in 9,32–34 dient dazu, zum Schluss und damit paradigmatisch für das Ganze die divergierenden Reaktionen der Volksmengen und der Autoritäten auf die Taten Jesu herauszustellen.60 Dem den Pharisäern zugeschriebenen Beelzebulvorwurf ist die positive Reaktion der Volksmengen gegenübergestellt. Die Worte, die Matthäus diesen in den Mund legt, dürften dabei durch Mk 2,12 inspiriert sein. Indem aber das markinische „so etwas haben wir noch nie gesehen“ zu „so etwas ist in Israel noch nie geschehen“ variiert wird, wird aus einer auf den Erfahrungsraum der Menge begrenzten Bemerkung eine den Weg der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel umspannende Äußerung.61 Matthäus schreibt damit zugleich den ȤȜȠȚ zu, dass sie auf dem Weg sind, in einem heilsgeschichtlichen Gesamtrahmen die Singularität der göttlichen Zuwendung zu Israel in Jesus zu erkennen. Dies setzt sich über die noch mit Zweifeln besetzte Frage in 12,23
sowie auch D.J. VERSEPUT, The Role and Meaning of the ‘Son of God’ Title in Matthew’s Gospel, NTS 33 (1987), 532–556: 535f. 58 Siehe dazu die Monographie von R. HUNZIKER-RODEWALD, Hirt und Herde. Ein Beitrag zum alttestamentlichen Gottesverständnis, BWANT 155, Stuttgart – Berlin – Köln 2001. 59 In 9,27–34 bilden beide szenisch eine Einheit: Jesus geht in ein Haus; dort geschehen die Heilungen. 60 Mit HELD, Wundergeschichten (s. Anm. 44), 235; SAND, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 34), 205; COUSLAND, Crowds (s. Anm. 13), 137 u.a. 61 Ebenso COUSLAND, Crowds (s. Anm. 13), 137.
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fort, ob Jesus der Sohn Davids sei62, und kulminiert schließlich in der Akklamation Jesu als Sohn Davids durch die Volksmengen bei seinem Einzug in Jerusalem (21,9).63 Die Aussendung der Jünger in Mt 10 inauguriert nach der Schilderung des Wirkens Jesu in Lehre und Taten in Kap. 5–9 „gleichsam die ekklesiologische Verlängerung des Wirkens Jesu“64. Matthäus begründet die Aussendung in 9,3665 im Erbarmen Jesu mit den Volksmengen. Schon hier ist dabei die im Sendungswort in 10,6 begegnende Schaf-Metaphorik aufgenommen. 9,36 macht zugleich deutlich, dass Matthäus unter den Schafen eben die ȤȜȠȚ versteht. Dies gewinnt dadurch Profil, dass in der Betonung des desolaten Zu-
Zum ȝIJȚ zuletzt COUSLAND, Crowds (s. Anm. 13), 138f. Gut vergleichen kann man Joh 4,29. 63 In der matthäischen Komposition erfüllt sich damit das in 21,5 zitierte Schriftwort aus Sach 9,9 (und Jes 62,11): „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir“. Matthäus lässt die Volksmengen Jesus also genau als den erkennen, als welcher er zu ihnen gesandt wurde: als den davidisch-messianischen Hirten seines Volkes, der sich diesem helfend und heilend zuwendet. Dass die Volksmengen in dem in Jerusalem einziehenden Davidsohn einen Messias in politisch-nationalen Kategorien sehen und Matthäus diese Vorstellung korrigiert (s. nur SUHL, Davidssohn [s. Anm. 34], 73; J.M. JONES, Subverting the Textuality of Davidic Messianism: Matthew’s Presentation of the Genealogy and the Davidic Title, CBQ 56 [1994], 256–272: 268–270, auch NOVAKOVIC, Jesus [s. Anm. 17], 161), ist traditionsgeschichtliche Eisegese. Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass Matthäus von der Erwartung eines davidischen Messias, wie sie v.a. in PsSal 17–18 zutage tritt, erheblich abweicht, aber Matthäus stellt dies nicht durch eine Kontrastierung des Handelns Jesu mit der Erwartung Israels heraus. Durch die Einfügung des Reflexionszitats in V.4f stellt er die Akklamation des Volkes vielmehr gerade als in Übereinstimmung mit der Verheißung eines sanftmütigen Messias stehend dar. Zu beachten ist ferner, dass die Akklamation der Volksmengen im matthäischen Kontext im Horizont des Geschehens von 20,29–34 steht und sich ebendiese Charakterisierung der Davidsohnschaft Jesu in 21,14f wiederholt. In textpragmatischer Hinsicht ist m.E. zu bedenken, dass Matthäus noch bestrebt ist, die jüdischen Menschen seiner Umgebung zu überzeugen, dass Jesus der erwartete Heilsbringer ist. Die Davidsohnakklamation durch die Volksmengen im Evangelium (wie überhaupt deren weithin positive Zeichnung) ist in diesem Lichte zu sehen. Treffend J.M. GIBBS, Purpose and Pattern in Matthew’s Use of the Title ‘Son of David’, NTS 10 (1963/64), 446–464: 464: „The mass of the Jews were moving toward recognition of Jesus (ix. 33; xii. 23; xxi. 8f., 11) and would have come to accept him if it had not been for the direct opposition of the perverse Pharisees and other Jewish leaders“. Ergänzen muss man m.E.: Matthäus hat das Bemühen um die jüdischen Volksmengen noch nicht aufgegeben. 64 LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 4), 34. 65 Matthäus hat den Vers aus Mk 6,34, wo es im Kontext um die Speisung der 5000 geht, vorgezogen und so einen Hintergrund für die also im Erbarmen Jesu begründete Aussendung der Jünger geschaffen. 62
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stands der Herde in 9,36; 10,6 deutlich Kritik an den bisherigen Hirten mitklingt.66 Matthäus knüpft damit an Verwendungsweisen der Metaphorik im AT an, wo nicht nur Gott oder auch der davidische Messias (Ez 34,23–25; 37,24f) als Hirte bezeichnet wird, sondern in der prophetischen Kritik auch die Führungsschichten als schlechte Hirten gebrandmarkt werden. Hinzuweisen ist hier insbesondere auf Ez 34, wo die scharfe Kritik an den schlechten Hirten mit der Heilszusage verbunden ist, dass Gott selbst sich der Herde annimmt bzw. die schlechten Hirten durch den davidischen Messias als Hirten (vgl. PsSal 17,40) abgelöst werden ( Ez 34,23).67 Für Matthäus hat Gott diese Zusage mit der Sendung Jesu eingelöst. Die Jünger werden durch ihre Aussendung einbezogen in Jesu Aufgabe, das Volk Gottes zu weiden. Die Autoritäten hingegen werden, wie dies in 2,3–5 vorgezeichnet ist, zu Gegnern des messianischen Hirten. Die matthäische Differenzierung zwischen den Volksmengen und den Führungsschichten lässt sich an zahlreichen redaktionellen Eingriffen des Evangelisten weiter illustrieren, z.B. an der Gerichtspredigt des Täufers (Mt 3,7–9), die anders als bei Lukas nicht an das Volk, sondern speziell an die Autoritäten adressiert ist.68 Diese Differenzierung setzt sich auch in der Schilderung des Wirkens Jesu in Jerusalem fort. Matthäus hat an die eben erwähnte Einzugserzählung (21,1–9) eine kleine Szene angefügt: Die ganze Stadt Jerusalem erbebt, was an das IJĮȡııİıșĮȚ in 2,3 zurückdenken lässt, und fragt die Volksmengen, die also nicht zur Stadt gezählt werden, sondern als (galiläische?) Festpilger gedacht sind, nach der Identität dessen, den sie als Davidsohn ak-
66 Vgl. A.-J. LEVINE, The Social and Ethnic Dimensions of Matthean Salvation History, SBEC 14, Lewiston – Queenston 1988, 47.55f; J.P. HEIL, Ezekiel 34 and the Narrative Strategy of the Shepherd and the Sheep Metaphor in Matthew, CBQ 55 (1993), 698–708, 700f; COUSLAND, Crowds (s. Anm. 13), 92f; DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 31), 148, vorsichtig GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 4), 352. Anders LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 27), 81. 67 Matthäus’ Rede von den „verlorenen Schafen“ nimmt Jer 27,6LXX auf (s. aber auch die singularische Formulierung in Ps 118,176LXX), wo das Verlorensein der Herde (vgl. Ez 34,16) mit dem Versagen der Hirten erläutert wird. Ebenso bedeutet die Rede vom „Fehlen eines Hirten“ (Mt 9,36) im Lichte von Stellen wie Ez 34,5.8; Sach 10,2f (MT) betrachtet keineswegs eine tatsächliche Vakanz, sondern vielmehr eben, dass die bisherigen Hirten ihrer Aufgabe nicht nachgekommen sind. 68 Ebenso ist, wie oben angedeutet, der Beelzebulvorwurf wiederum anders als bei Lukas nicht einigen aus dem Volk, sondern, wohl inspiriert durch die Schriftgelehrten in Mk 3,22, in Mt 9,34 wie 12,24 den Pharisäern zugeschrieben und zudem durch die erwähnten positiven Äußerungen der Volksmengen (9,33; 12,23) kontrastiert. Siehe auch die Zeichenforderung in 12,38–42 sowie 16,1–4 (vgl. Lk 11,16.29–32).
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klamiert haben. Dass die ȤȜȠȚ nun von Jesus als Propheten aus Galiläa sprechen69, dient im Kontext nicht dazu, Schatten auf ihre christologische Erkenntnis zu werfen70, sondern ist im Kontext die passende Antwort auf die Frage ganz Jerusalems, wer dieser ist (21,10). Gefragt ist damit nämlich nicht, wer Jesus ist, sondern wer der ist, den die Volksmengen als Sohn Davids ausgerufen haben, d.h. es geht darum, den als Davidsohn Akklamierten zu identifizieren.71 Eigentlich Beachtung verdient daher, dass die Antwort der Volksmengen nicht bloß lautet „dieser ist Jesus aus Nazereth in Galiläa“, sondern die Bezeichnung Jesu als Prophet hinzugesetzt ist. Der Sinn erschließt sich für die Rezipienten, wenn sie ihn nicht schon in 21,11 selbst auf der Grundlage ihrer Kenntnis der Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten72 aufschlüsseln können, spätestens von 23,37 her. Matthäus schafft nämlich in 21,11 einen subtilen Querverweis auf die Klage Jesu über Jerusalem als prophetenmordende Stadt. Anders gesagt: Vom Propheten Jesus (vgl. noch 21,46 im Kontext von 21,35f) ist nun die Rede, weil das Gegenüber Jerusalem ist. Die Szenerie von 21,10f wiederholt sich mutatis mutandis in V.12–17: Jesu Einzug endet im Tempel, wo er die Tische der Händler (etc.) umstößt und, hier geht Matthäus wieder eigene Wege, anschließend die zu ihm strömenden Kranken heilt. Dies lässt erneut den Ruf „Hosanna, dem Sohn Davids“ laut werden (V.15), den Jesus auf den Protest der Hohepriester hin durch das Zitat von Ps 8,3 als gottgewolltes Lob ausweist. Auffallend ist, dass sich der Protest der Hohepriester und Schriftgelehrten nicht an Jesu Aktion gegen die Händler im Tempel, sondern erst an seinen Heilungen und an der Akklamation der Kinder entzündet.73 Wie bereits in der Magierperikope in 2,1–12 oder auch in 12,22–24 (vgl. auch 9,27–34) ist es wiederum die Jesus zugeschriebene Würde des davidischen Messiaskönigs, die den Kontext der feindseligen Haltung der Autoritäten bildet.74 Von Gewicht ist nun, dass die Differenzierung zwischen den Volksmengen, denen die heilende Zuwendung des Messiaskönigs gilt, und den von Anfang an feindseligen Autoritäten schwerlich durch die Verurteilungsszene in 27,11–26 revoziert bzw. für letztlich irrelevant erklärt wird. Nach einer matthäischen Einfügung in die Markusvorlage übernimmt am Ende in 27,25 ʌ઼Ȣ ȜĮંȢ die 69
Es gibt keinen Hinweis, dass hier speziell die Erwartung des eschatologischen Propheten im Blick ist (ebenso COUSLAND, Crowds [s. Anm. 13], 213–217, anders z.B. NOVAKOVIC, Jesus [s. Anm. 17], 161). 70 Anders z.B. SUHL, Davidssohn (s. Anm. 34), 79; KINGSBURY, Title (s. Anm. 56), 600. 71 Ebenso BURGER, Jesus (s. Anm. 34), 85. 72 Vgl. im Matthäusevangelium dazu Mt 5,12; 21,35f; 23,30f.34–36.37. Zur Analyse der Tradition s. O.H. STECK, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum, WMANT 23, Neukirchen-Vluyn 1967. 73 Vgl. BURGER, Jesus (s. Anm. 34), 87. 74 Vgl. dazu STANTON, Matthew’s Christology (s. Anm. 57), 108–112.
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Verantwortung für den Tod Jesu mit den Worten: „Sein Blut über uns und unsere Kinder“. Die in der gegenwärtigen Matthäusexegese kontrovers diskutierte Frage, ob Matthäus hier am Kulminationspunkt der Szene betont vom ganzen Gottesvolk redet75 oder ȜĮંȢ bloß Wechselbegriff zu ȤȜȠȢ in V.24 ist76, dürfte sich in einer letztlich wenig hilfreichen Alternative bewegen. Lohnend ist hier ein Seitenblick auf das lukanische Doppelwerk.77 ȁĮંȢ meint hier verschiedentlich betont das Gottesvolk78, häufig aber auch schlicht einen Volkshaufen. 79 Auffallend ist nun, dass Lukas in der Apg konsequent nur jüdische Volksmengen als ȜĮંȢ bezeichnet, nie also nicht-jüdische.80 ȁĮંȢ weist sozusagen Volksmengen als zum Gottesvolk gehörig aus. 81
75 So FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund (s. Anm. 5), 204–211; D.P. SENIOR, The Passion Narrative According to Matthew. A Redactional Study, BETL 39, Louvain 1975 (Neudruck 1982), 258f; I. BROER, Antijudaismus im Neuen Testament? Versuch einer Annäherung anhand von zwei Texten (1 Thess 2,14-16 und Mt 27,24f), in: Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium (FS A. Vögtle), hg. v. L. Oberlinner – P. Fiedler, Stuttgart 1991, 321–355: 335; P. FIEDLER, Die Passion des Christus, in: Salz der Erde [s.o.], 299–319: 309; U. LUZ, Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem. Eine Skizze, EvTh 53 (1993), 310–327: 314; KRAUS, Passion (s. Anm. 6), 416; COUSLAND, Crowds (s. Anm. 13), 83; GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 34), 458; SAND, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 34), 554 und viele andere. 76 So z.B. H. STRATHMANN – R. MEYER, ȜĮંȢ, ThWNT IV (1942), 29–57: 50; R. HUMMEL, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium, BEvT 33, München 1963, 145 (27,5 meint wohl 27,25); LEVINE, Dimensions (s. Anm. 66), 266ff; K. HAACKER, „Sein Blut über uns“. Erwägungen zu Matthäus 27,25, KuI 1 (1986), 47–50: 50, Anm. 12; M. GIELEN , Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, BBB 115, Bodenheim 1998, 383–386. 77 Auf dieses entfallen mit 84 Vorkommen (36+48) immerhin fast 60% der neutestamentlichen ȜĮંȢ-Belege. 78 Z.B. Lk 1,68.77; 7,16; Apg 3,23; 13,17.24, gelegentlich im ausdrücklichen Gegenüber zu den șȞȘ (Lk 2,32; Apg 26,17.23). 79 Lk 6,17; 7,1.29; 9,13; 20,1.9; Apg 3,12; 4,1 und öfter. 80 Nicht-jüdische Volksmengen heißen ȤȜȠȢ (Apg 13,45; 14,11.13.14.18.19; 16,22; 17,8.13; 19,26.33.35) oder auch IJઁ ʌȜોșȠȢ IJોȢ ʌંȜİȦȢ (Apg 14,4). 81 Ein ähnliches Oszillieren bzw. Ineinander der Bedeutungsaspekte des Polysems ȜĮંȢ lässt sich auch in frühjüdischen Schriften beobachten. So spricht ParJer 4,2 im Kontext der Einnahme Jerusalems von der Gefangennahme des ganzen Volkes (ʌȞIJĮ IJઁȞ ȜĮંȞ). Ȇ઼Ȣ ȜĮંȢ meint hier die Bevölkerung der Stadt, nicht ‚ganz Israel‘. ParJer 5,18 bestätigt dies, denn hier ist im Blick auf die Bevölkerung Jerusalems vom ʌ઼Ȣ ȜĮઁȢ IJ߱Ȣ ʌިȜİȦȢ IJĮުIJȘȢ die Rede. Nach VitProph 2,1 ist Jeremia vom Volk (ਫ਼ʌઁ IJȠ૨ ȜĮȠ૨) in Ägypten gesteinigt worden. Dies kann natürlich nicht das Gottesvolk im Ganzen, sondern nur dort lebende Juden meinen. VitProph 3,14 bezeichnet mit ȜĮઁȢ ǿıȡĮȜ allein die babylonische Exulantenschaft.
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In Mt 27,25 ist ʌ઼Ȣ ȜĮંȢ durch den Kontext eindeutig als der vor Pilatus versammelte und von den Autoritäten V.20 zufolge verführte Volkshaufen denotiert. Nach der vorangehenden Leserlenkung durch 2,3; 16,21; 21,10f und 23,37(–39) ist näherhin an Bewohner Jerusalems zu denken.82 Andererseits macht der Wechsel zu ʌ઼Ȣ ݸȜĮިȢ daraus zwar nicht „ganz Israel“, auch symbolisch nicht, spannt aber insofern einen heilsgeschichtlichen Horizont auf, als die, die die Verantwortung für Jesu Tod auf sich nehmen, als Glieder des Gottesvolkes benannt werden. Es geht um ein Geschehen in Israel, das sich in die Kette des Widerstandes gegen Gottes Boten in der Geschichte Israels einreiht (vgl. 21,33–46). Der messianische Hirte findet in seinem Volk nicht nur Gefolgschaft, sondern von Anfang an auch böswillige Ablehnung bei den Autoritäten und schließlich bei denen, die sich von diesen beeinflussen lassen. Israel spaltet sich an der Entscheidung zwischen dem Messias und den alten Autoritäten. Diesem Verständnis fügt sich der durch 27,25b aufgespannte Gerichtshorizont nahtlos ein. Die auffällige Hinzufügung der nachfolgenden Generation „Sein Blut über uns und unsere Kinder“ erklärt sich dadurch, dass Matthäus die fällige Strafe in der Zerstörung Jerusalems gesehen hat (vgl. 22,7), was die Identifikation des vor Pilatus versammelten Volkshaufens mit den Bewohnern Jerusalems erhärtet: Die prophetenmordende Stadt (23,37) wird für das in ihr und durch sie geschehene Unrecht zur Verantwortung gezogen. Das Ganze hat nun zwar paradigmatische Bedeutung: Wer unter der Ägide der böswilligen Autoritäten die Jünger Jesu schmäht und verfolgt (vgl. 5,11f; 22,6f), wird ebenfalls seine Strafe finden. Die Zerstörung der Stadt Jerusalem, die von Matthäus, wie gesehen, von Anfang an in die Reihe der Gegnerschaft Jesu eingestellt wurde (2,3), repräsentiert aber schwerlich die Verwerfung Israels.83 Dem stehen nicht nur die sonstige im Vorangehenden skizzierte matthäische Darstellung des Wirkens Jesu in Israel, die ansonsten unverständlich würde, und die ausdrückliche Gegenüberstellung von ganz Jerusalem und den (galiläischen?) Volksmengen in 21,10f entgegen; es gibt auch weitere Indizien. In 27,64 bitten die Hohepriester und Ältesten Pilatus, das Grab Jesu bewachen zu lassen, damit nicht die Jünger kommen, ihn stehlen und dem ȜĮંȢ sagen, Jesus sei auferstanden. Vorausgesetzt ist hier, dass die Jünger sich auch nach der Kreuzigung mit ihrer Botschaft weiterhin an Juden wenden.84 Dies 82 Der gegenüber dem Voranstehenden veränderte Bezug von ȤȜȠȢ ist dabei durch 26,47.55 vorbereitet: Dort geht es um eine große Schar, die mit den Hohepriestern und Ältesten verbunden ist. 83 Mt 27,24f ist nicht „eine von Mt in Szene gesetzte Ätiologie für das Ende ‚Israels‘“ (FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund [s. Anm. 5], 210). Frankemölle hat seine Position inzwischen selbst revoziert, s. H. FRANKEMÖLLE, Matthäus. Kommentar, Bd. 2, Düsseldorf 1997, 484f.515. 84 Die Furcht der Autoritäten verweist zugleich darauf, dass die Autoritäten das Volk keineswegs fest auf ihrer Seite wissen. Vgl. FRANKEMÖLLE, Matthäus II (s. Anm. 83), 515.
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lässt sich erhärten, wenn man noch einmal zur Aussendungsrede in Kap. 10 zurückgeht und nach dem Zeithorizont der dortigen Israelmission fragt. Matthäus lässt bereits im Rahmen der Aussendungsrede ausführlich die auf die Jünger zukommende Verfolgung und Bedrängnis thematisch werden, indem er die einschlägigen Passagen aus der markinischen Apokalypse in Mk 13,9–13 vorzieht bzw. zum Teil verdoppelt. Durch die damit geschaffenen Querverbindungen85 erscheint der Zeithorizont der Israelmission als kein anderer als der der endzeitlichen Mission unter ʌȞIJĮ IJ șȞȘ in Mt 24,9–14. Zu bedenken ist ferner, dass die Bedrängnis der Jünger Kennzeichen der Israel- wie der Völkermission ist. Setzt nun das Gehasstwerden ਫ਼ʌઁ ʌȞIJȦȞ IJȞ ਥșȞȞ (24,9) den Missionsauftrag gegenüber den Völkern nicht außer Kraft, so ist analog zu folgern, dass ebensowenig Negativerfahrungen unter Juden eine prinzipielle Beendigung des Heilsangebotes für Israel begründen. Eben dies wird durch 10,23 bestätigt. Der Vers ist wie V.19b–20.22b ein Trostwort an die Jünger angesichts der mit der Mission einhergehenden Drangsal in der letzten Zeit86, schlägt aber zugleich den Bogen zu 10,6 zurück und terminiert die Israelmission ausdrücklich: Sie endet (erst) mit dem Kommen des Menschensohnes.87 Die Verurteilungsszene einerseits und die Zeichnung der galiläischen Volksmengen andererseits stehen exemplarisch für die unterschiedlichen Reaktionen auf das Kommen des Messias in Israel. Verarbeitet das Matthäusevangelium intensive aktuelle Kontroversen mit der unter pharisäische Führung geratenden Synagoge und ringt die Gemeinde noch darum, Unentschlossene auf ihre Seite zu ziehen, bzw. muss sie dafür Sorge tragen, Zweifler in den eigenen Reihen zu festigen, liest sich die Verurteilungsszene, textpragmatisch betrachtet, als eindringliche Warnung, sich nicht, wie damals die Jerusalemer von den Hohepriestern, von den Pharisäern überreden und in die Irre führen zu lassen. Zum anderen bietet die weithin88 positive Zeichnung der galiläischen Volksmengen ein positives Identifikationsangebot und ermutigt zugleich die Entschlossenen, ihr Werben fortzusetzen. 85 Siehe besonders die von der Auslassung von IJȞ ਥșȞȞ abgesehen wörtliche Vorwegnahme von Mt 24,9b.13 in 10,22. 86 Vgl. FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund (s. Anm. 5), 133; GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 4), 373; V. HAMPEL, „Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen“. Eine exegetische Studie über Matthäus 10,23, ThZ 45 (1989), 1–31: 11; SAND, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 34), 225. 87 Vgl. S. BROWN, The Two-fold Representation of the Mission in Matthew’s Gospel, ST 31 (1977), 21–32: 23; WONG, Interkulturelle Theologie (s. Anm. 53), 89f. – Mt 21,43; 22,1– 10 sprechen m.E. nicht gegen dieses Verständnis, denn dort geht es allein um eine Auseinandersetzung mit den Autoritäten und ihre Verwerfung (s. dazu KONRADT, Israel [s. Anm. 15], 187–218). 88 Die bedeutendste Ausnahme ist Mt 13,10–17. Neben die Ermutigung zu weiterem Bemühen um die jüdischen ‚Volksmengen‘ tritt hier die Reflexion missionarischer Misserfolge. Zur Auslegung des Passus s. KONRADT, Israel (s. Anm. 15), 263–278.
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Zieht man zusammen, so ist festzuhalten: Die universale Völkermission ist nicht Antwort auf die Zurückweisung Jesu in Israel bzw. auf die Verwerfung Israels. Ebensowenig ist sie durch eine gezielte Wirksamkeit Jesu unter Nichtjuden vorbereitet.89 Was dann?
4. Die Gottessohnschaft Jesu und die Universalität des Heils Die vorangehenden Ausführungen ziehen nun keineswegs die Konsequenz nach sich, dass 28,18–20 im Duktus des Evangeliums unvermittelt kommt. Matthäus hat bekanntlich von Anfang an Signale gesetzt, die auf die Universalität des in Jesus erschienenen Heils hinweisen. Grundgelegt wird dies wiederum bereits in 1,1: Jesus ist nicht nur Sohn Davids, sondern auch Sohn Abrahams, womit angesichts der weiteren Rekurse auf Abraham in Mt 3,9 und 8,11 nicht nur auf den Beginn der Bundesgeschichte Gottes mit Israel verwiesen90, sondern zugleich (!) auf den universalen Völkersegen von Gen 12,3 angespielt wird.91 Dieses Textsignal wird sogleich im nachfolgenden Stammbaum Jesu verstärkt, indem Matthäus vier Frauen einfügt, deren gemeinsamer Nenner in ihrer nichtjüdischen Herkunft liegen dürfte.92 Beachtung verdient dabei, dass 89
Anders z.B. WONG, Interkulturelle Theologie (s. Anm. 53), 91–93. Vgl. dazu E. KRENTZ, The Extent of Matthew’s Prologue. Toward the Structure of the First Gospel, JBL 83 (1964), 409–414: 411.414; D. DORMEYER, Mt 1,1 als Überschrift zur Gattung und Christologie des Matthäus-Evangeliums, in: The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck), hg. v. F. van Segbroeck u.a., BETL 100, Vol. 2, Leuven 1992, 1361–1383: 1363f.1382; A. RUNESSON, Giving Birth to Jesus in the Late First Century. Matthew as Midwife in the Context of Colonisation, in: Infancy Gospels. Stories and Identities, hg. v. C. Clivaz u.a., WUNT 281, Tübingen 2011, 301–327: 309. 91 Ebenso z.B. GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 4), 7; H. FRANKEMÖLLE, Matthäus. Kommentar, Bd.1, Düsseldorf 1994, 133f; M. MAYORDOMO-MARÍN, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1–2, FRLANT 180, Göttingen 1998, 216 will dagegen auf der Basis seines leserorientierten Ansatzes die Bedeutungsmöglichkeiten des ‚Titels‘ in 1,1 offenhalten. Seine Argumentation macht allerdings nur in Bezug auf die Erstlektüre des Textes Sinn. Demgegenüber ist mit U. LUZ festzuhalten, dass das Matthäusevangelium nicht nur als Buch „vom Anfang bis zum Schluß gelesen werden will“ (Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, 12), sondern näherhin „für wiederholte Lektüre geschrieben“ ist (LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 [s. Anm. 4], 32, Hervorhebung von mir). 92 Für Rahab und Rut ist dies aus den alttestamentlichen Texten selbst (Jos 2; 6 bzw. Rut 1,4) evident. Bei Tamar (Gen 38) schweigt der Text. Die jüdische Tradition geht in verschiedene Richtungen. Nach einer von Jub 41,1 und TestJuda 10,1 bezeugten Tradition stammt sie als eine Tochter Arams aus der Familie Terachs, denn gemeint ist hier jeweils nicht der Sohn Sems (Gen 10,22), sondern der Sohn Kemuels aus Gen 22,21, also ein Enkel Nahors, des Bruders Abrahams (vgl. Jub 34,20; s. dazu R. BAUCKHAM, Tamar’s Ancestry and Rahab’s Marriage: Two Problems in the Matthean Genealogy, NT 37 [1995], 313–329: 314–318). Beide Schriften zeigen ein starkes Interesse an der Endogamie, in beiden treten 90
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dies nicht nur einen Hinweis auf die Universalität des Heils in Jesus Christus gibt, sondern auch eine Aussage darüber macht, dass das Gottesvolk Israel in seiner Geschichte schon immer für ‚Heiden‘ offen war. Nachdem Matthäus mit der bereits erwähnten Erzählung von den Magiern aus dem Osten in 2,1–12 einen weiteren Hinweis gegeben hat, dass mit dem messianischen „König der Juden“ auch die Heilshoffnung von Nichtjuden erfüllt wird93, setzt sich diese Perspektive sodann darin fort, dass der erste Evangelist das Wirken Jesu in Israel durch das Erfüllungszitat in 4,15f für die Universalität Jesu als Heilsbringer transparent macht (vgl. auch 12,17–21): Mit Jes 8,23 wird die Wirkungsstätte Jesu als īĮȜȚȜĮĮ IJȞ ਥșȞȞ bezeichnet. Auch in der Bezeichnung
(die Stämme) Levi und Juda in ihrer herausragenden Bedeutung für Israel hervor (s. exemplarisch zum einen Jub 31,5–32, zum anderen TestRub 6,5–12). In der Herkunftsangabe Tamars verschränken sich beide Interessen: Durch Tamar entstehen in dem wichtigen Stamm Juda ‚legitime‘ genealogische Linien. Philo, Virt 220–222 präsentiert Tamar hingegen als eine Götzendienerin aus dem palästinischen Syrien, die sich zu dem einen Gott bekehrte; sie ist hier also als eine Nichtjüdin gesehen, die, wie Rahab und Rut, Proselytin wurde. Kannte Matthäus diese Tradition, passt also auch Tamar zur These, dass der Grund für die Nennung der Frauen in ihrer ‚heidnischen‘ Herkunft zu sehen ist. Bei Batseba schließlich schweigt der alttestamentliche Text ebenfalls; anders aber als bei Tamar gibt es auch in der erhaltenen frühjüdischen Literatur keinen Beleg für eine Reflexion über ihre Herkunft. Auffallend ist hier im matthäischen Stammbaum, dass sie nicht wie die anderen mit Namen erwähnt, sondern als „die des Uria“ bezeichnet wird. Für sich genommen kann man dies so lesen, dass auf das Unrecht Davids (vgl. 2Sam 12) verwiesen werden soll (in diesem Sinne z.B. MAYORDOMO-MARÍN, Anfang [s. Anm. 91], 232.246; J. KENNEDY, The Recapitulation of Israel. Use of Israel’s History in Matthew 1:1–4:11, WUNT II.257, Tübingen 2008, 95f; A. WUCHERPFENNIG, Josef der Gerechte. Eine exegetische Untersuchung zu Matthäus 1–2, HBS 55, Freiburg u.a. 2008, 70–72). Im Kontext der drei anderen Frauen betrachtet legt sich aber nahe, dass sie über ihren ersten Mann Uria als Nichtjüdin identifiziert werden soll, denn Uria war Hethiter. Umgekehrt formuliert: Matthäus musste zu dieser ungewöhnlichen Formulierung greifen, weil er nur durch diesen Verweis auf ihre nichtjüdische Herkunft hindeuten konnte, da die Leser die Nennung Batsebas ansonsten auf der Basis ihres Traditionswissens nicht im genannten Sinn hätten entschlüsseln können (vgl. dazu H. STEGEMANN, „Die des Uria“. Zur Bedeutung der Frauennamen in der Genealogie von Matthäus 1,1–17, in: Tradition und Glaube. Das frühe Christentum in seiner Umwelt (FS K.G. Kuhn), hg. v. G. Jeremias – H.-W. Kuhn – H. Stegemann, Göttingen 1971, 246–276: 261f. 93 Der Stern, durch dessen Aufgehen veranlasst die Magier nach dem ‚geborenen König der Juden‘ suchen, ist in der Antike ein geläufiges Herrschaftssymbol. G. THEISSEN, Vom Davidssohn zum Weltenherrscher. Pagane und jüdische Endzeiterwartungen im Spiegel des Matthäusevangeliums, in: Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils. Begegnungen mit dem Neuen Testament und seiner Umwelt (FS H.-W. Kuhn), hg. v. M. Becker – W. Fenske, AGJU 44, Leiden – Boston – Köln 1999, 145–164: 149 hat näherhin als Hintergrund des Textes auf die „in den von Rom unterworfenen oder bedrohten östlichen Völkern“ weit verbreitete Erwartung eines Herrschers aus dem Osten hingewiesen, „der die Macht Roms ablösen werde“.
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der Jünger als „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ in 5,13.14 klingt Matthäus’ universalistische Perspektive bereits an.94 Nicht zuletzt weisen schließlich die drei erwähnten Begegnungen mit Nichtjuden voraus auf die Zeit der Zuwendung zu den Völkern. Im Blick auf die matthäische Einfügung von ʌȡઁ țĮȚȡȠ૨ in 8,29 gesprochen: Nach der heilsgeschichtlichen Konzeption des Matthäus gibt es einen bestimmten Zeitpunkt, einen Kairos, für die Völkermission im Heilsplan Gottes. Damit, dass Matthäus die Schilderung des Wirkens des Messias Israels in seinem Volk auf einer zweiten Verstehensebene in eine universalistische Perspektive einstellt, geht nun einher, dass seine Darstellung auch christologisch sozusagen einen doppelten Boden hat. Jesus ist noch mehr als der verheißene Messias aus dem Hause Davids, als welcher er sich dem Gottesvolk zugewandt hat und von den Volksmengen bei seinem Einzug in Jerusalem akklamiert wurde. Von zentraler Bedeutung ist hier das Motiv der Gottessohnschaft, in
94 Siehe auch ȜȝʌİȚ ʌߢıȚȞ IJȠȢ ਥȞ IJૌ Ƞੁț in Mt 5,15 und die offene Formulierung ȝʌȡȠıșİȞ IJȞ ਕȞșȡઆʌȦȞ in 5,16. – Kurz einzugehen ist an dieser Stelle auf das Postulat von B. PASCHKE (Particularism and Universalism in the Sermon on the Mount. A NarrativeCritical Analysis of Matthew 5–7 in the Light of Matthew’s View on Mission, NTA NF 56, Münster 2012, 103–117), dass der Aorist ȜĮȝȥIJȦȱin 5,16 ingressiv zu verstehen sei, so dass 5,16 zu übersetzen sei: „So from now on your light must shine in front of the people“ (104 [Hervorhebung im Original]). Der Auftrag gelte zeitlich unmittelbar (bzw. sobald Jesus die Rede auf dem Berg abgeschlossen hat) und nicht für eine (un)bestimmte Zukunft. Damit werde schon hier, nicht erst in 28,19, die Verheißung von 4,19 realisiert, die Jünger zu Menschenfischern zu machen. Oder anders: Die Mission der Jünger ist schon direkt nach der Bergpredigt nicht bloß auf Israel konzentriert, sondern universal. Nun entgeht Paschke nicht, dass Matthäus in Mt 8 nicht damit fortfährt zu erzählen, dass die Jünger begannen, ihrem Auftrag nachzukommen, doch behilft er sich mit dem Postulat, dass „the reader is supposed to assume that they are putting into practice Mt 5:16 and the other commands given to them in the Sermon on the Mount“ (110). Paschke bindet dies in die übergreifende These ein, „that whereas the ministry of the Matthean Jesus is continuously particularistic, that of his disciples consists of three subsequent stages, that is, (1) a universalistic beginning (Mt 4:18– 10:4), (2) a particularistic interim time (Mt 10:5–28:17), and (3) a universalistic open end (Mt 28:18–20)“ (2, vgl. 205). Überzeugen kann das nicht. Zweifelsohne sind zwar alle fünf großen Reden des Matthäusevangeliums in den narrativen Duktus eingebunden, doch weisen sie als direkte Anrede der realen Adressaten zugleich auch über diesen hinaus, so dass immer die Option zu erwägen ist, dass einzelne Elemente der Rede in erster Linie auf der Ebene der Kommunikation des Evangelisten mit seinen Adressaten zu lesen sind. Dies gilt zu 5,13–16 in jedem Fall für den nicht zu bestreitenden universalen Horizont der Aufgabe der Jünger, denn man kommt in der Anlage der matthäischen narratio nicht darum herum, dass mit der Sendung des irdischen Jesus auch die vorösterliche Sendung der Jünger allein auf Israel ausgerichtet ist. Die von Paschke angenommene universale Phase in 4,18–10,4 ist nicht mehr als ein Phantom. Nicht zuletzt wird mit dem Postulat einer eigenen Phase der Sendung der Jünger vor 10,5 der kompositorische Ort von Mt 10 nicht beachtet: Erst nach der systematischen Präsentation des Wirkens Jesu in 4,23–9,35 und auf dieser Basis werden die Jünger in ihren Dienst eingesetzt, das Wirken Jesu weiterzutragen.
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dem grundlegend die einzigartige Zugehörigkeit und Nähe Jesu zu Gott95 wie auch seine einzigartige universale Vollmacht zum Ausdruck kommen. Sachlich geht die Gottessohnschaft im Matthäusevangelium der Davidsohnschaft voraus. Davidsohn wird Jesus durch Adoption, Gottessohn ist er von Geburt an (1,20).96 Ferner: Als messianischer Davidsohn ist Jesus an seinen Werken erkennbar, wie Jesu Antwort auf die Anfrage des Täufers in 11,2–697 sowie die Erkenntnis der Volksmengen illustrieren (12,23; 21,9). Die Erkenntnis der Gottessohnschaft Jesu ist hingegen auf den Kreis der Jünger beschränkt. Sie basiert auf den besonderen Erfahrungen der Jünger mit Jesus, die ihnen vorbehalten sind. So reagieren die Jünger auf den Seewandel Jesu und die Errettung des sinkenden Petrus, worin die göttliche Vollmacht Jesu ansichtig wird, mit dem Ruf „Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn“ (14,33). Matthäus hat ferner das Petrusbekenntnis (vgl. Mk 8,29) zu „du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ erweitert (Mt 16,16)98 und daran eine Seligpreisung des Simon angefügt, in der er Jesus ausdrücklich vorbringen lässt, dass sich solche Erkenntnis nur durch besondere Offenbarung erschließt: „Fleisch und Blut haben dir dies nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel“ (16,17). ʌĮIJȡ ȝȠȣ ਥȞ IJȠȢ ȠȡĮȞȠȢ nimmt dabei die vorangehende Gottessohnprädikation auf. Den angeführten Belegen tritt die nach 3,17 erneute Proklamation Jesu als Sohn Gottes durch die Himmelsstimme in 17,5 zur Seite, wo sie im Zusammenhang mit der Schau der Verwandlung Jesu in die „kommende[] Herrlichkeitsgestalt des Auferstandenen“99 steht. Als Sohn Gottes wird Jesus hier also in Gestalt des erhöhten Herrn präsentiert. Dass Matthäus in 17,9 wie zuvor beim Petrusbekenntnis das markinische Schweigegebot übernimmt, gibt dabei zu erkennen, dass Gottessohnschaft und zukünftige Verwandlung und Erhöhung Jesu noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.100 95
Vgl. LUZ, Skizze (s. Anm. 17), 231. Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 4), 23; LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 4), 144.149; D.R. BAUER, The Structure of Matthew’s Gospel: A Study in Literary Design, JSNTS 31, Sheffield 1988, 80. 97 Matthäus kommentiert in der von ihm wohl redaktionell gestalteten Einleitung in 11,2, dass der Täufer von IJ ȡȖĮ IJȠ૨ ȋȡȚıIJȠ૨ hörte. Der Christustitel ist hier „im Sinn von ‚Messias Israels‘ und parallel zu ‚Davidssohn‘ zu verstehen“ (LUZ, Evangelium nach Matthäus II [s. Anm. 27], 167). Die Rede von seinen Werken verweist wie dann auch die Antwort Jesu in 11,5f auf das zuvor in der Komposition 4,23–9,35 Erzählte zurück, in der Matthäus die Zuwendung Jesu zum Gottesvolk (vgl. 4,23; 9,33) geschildert hatte. 98 An beiden Stellen sind Jesus und die Jünger unter sich. 99 LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 27), 510. 100 Eine instruktive Ausnahme bildet 8,29, wo die beiden besessenen Gadarener oder besser: die Dämonen in ihnen Jesus als Gottessohn anreden. Matthäus folgt hier Markus (ist es mehr als eine stilistisch bedingte Kürzung, dass Matthäus die Dämonen nicht ijȦȞૌ ȝİȖȜૉ [Mk 5,7] rufen lässt?); er hat aber die andere markinische Stelle, wo Dämonen Jesus als Gottessohn bezeichnen und es im Kontext um ein Wirken Jesu in Israel geht, gestrichen 96
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Matthäus lässt das Motiv der Gottessohnschaft Jesu ferner in 22,41–46 anklingen. In der Vorlage, Mk 12,35–37, belehrt Jesus das Volk, wieso die Schriftgelehrten von der Davidsohnschaft des Messias ausgingen, da doch David selbst den Messias nach Ps 110,1 als seinen Herrn tituliert. Matthäus hat den markinischen Monolog Jesu zum Abschluss der Auseinandersetzung mit den Autoritäten umgestaltet. Jesus fragt die Pharisäer, wessen Sohn der Messias sei. Im matthäischen Kontext gibt es darauf zwei gleichermaßen korrekte Antworten: Er ist Sohn Davids und Sohn Gottes.101 Weil Jesus auch und wesentlich Sohn Gottes ist, nennt David selbst ihn „Herr“, wie durch das Psalmzitat (Ps 110,1) ausgewiesen wird, durch das zugleich auf die kommende Inthronisation des Gottessohnes Jesus ausgeblickt wird. Im Gesamtaufbau des Evangeliums kommt der Frage nach der Sohnschaft des Messias in Mt 22,41– 46 eine Art Scharnierfunktion zu. Sie lässt an das vorangehende Wirken des Davidsohns zurückdenken und leitet zugleich zum Nachfolgenden über. Letzteres gilt freilich nicht bloß im Blick auf die Erhöhung Jesu. Vielmehr ist die Hoheit des Gottessohnes, seine Teilhabe an der Macht Gottes (vgl. 14,33), nur die eine Seite der matthäischen Rede von der Gottessohnschaft Jesu, denn wesentlich bestimmt ist dieses Christologumenon im Matthäusevangelium zugleich durch die Passion Jesu. Angelegt ist dies bereits durch das Gegenüber von 16,13–20 und 16,21–23. Da Matthäus in das Petrusbekenntnis in 16,16 das Bekenntnis der Gottessohnschaft Jesu eingefügt hat, signalisiert 16,21–23 entsprechend die Notwendigkeit des Leidens und Sterbens (und Auferstehens!) des Messias und Gottessohnes Jesus. Anders gesagt: Schon hier sind die christologisch-soteriologisch entscheidenden Geschehnisse von Tod und Auferstehung Jesu kontextuell mit der Rede von seiner Gottessohnschaft verknüpft. In Petrus’ Bekenntnis von 16,16 war, wie Petrus’ Verhalten und Jesu in scharfem Kontrast zu 16,17–19 ergehende Schelte in 16,22f102 signalisieren, das Leiden Jesu noch nicht in das Messias- und Gottessohnbekenntnis integriert. Im Fortgang der matthäischen Jesusgeschichte geht es entsprechend darum, diese Integration voranzubringen. Dem fügt sich die zentrale Bedeutung des Gottessohnmotivs in der Passionserzählung selbst ein. Matthäus hat beim Verhör vor dem Hohepriester dessen Frage (26,63) an den Wortlaut des Petrusbekenntnisses von 16,16 angeglichen: „Bist du der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes?“ Jesus bestätigt dies (Mk 3,11). Es ist verlockend, die alleinige Übernahme in 8,29 damit in Verbindung zu bringen, dass ‚Heiden‘ das Gegenüber sind. Als Sohn Gottes besitzt Jesus universale Vollmacht, doch ist jetzt noch nicht die Zeit (zu țĮȚȡંȢ in 8,29 s. oben S. 126), dass seine Sendung über Israel hinausreicht und seine Vollmacht als Sohn Gottes in Erscheinung tritt. 101 Vgl. zur Auslegung exemplarisch U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 3: Mt 18–25, EKK 1.3, Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1995, 286–289. 102 Wurde Petrus in 16,17 noch menschliches Vermögen übersteigende, auf Offenbarung des himmlischen Vaters beruhende Erkenntnis bescheinigt, so wird er in 16,23 als Satan attackiert, da sein Denken menschlichen Kategorien verhaftet ist.
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mit den Worten: „Du hast es gesagt“. Was also zuvor von den Jünger noch nicht nach außen getragen werden sollte (16,20, vgl.17,9), beginnt nun, seines ‚Geheimnischarakters‘ entkleidet zu werden.103 Matthäus lässt Jesus in 26,64, durch ʌȜȞ ȜȖȦ ਫ਼ȝȞ abgesetzt, noch anfügen, was seine Messianität und Gottessohnschaft impliziert: „Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Kraft sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.“ Die erste Hälfte weist auf das Zitat aus Ps 110,1 in 22,44 zurück. Durch die auffällige Einfügung von ਕʌૃ ਙȡIJȚ wird nun ausdrücklich der Tod Jesu als Zeitpunkt seiner Inthronisation als Weltenherr gedeutet.104 Dem fügt sich ein, dass Matthäus in 27,51–54 das Zerreißen des Vorhangs des Tempels als Gerichtszeichen gegen Jerusalem um ein Erdbeben und die Auferweckung von vielen entschlafenen Heiligen ergänzt.105 Zeichenhaft wird
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Man könnte dagegen auf 3,17 verweisen, wo Matthäus im Blick auf die Himmelsstimme die persönliche Anrede Jesu ıઃ İੇ ȣੂંȢ ȝȠȣ ਕȖĮʌȘIJંȢ (Mk 1,11) in ȠIJંȢ ਥıIJȚȞ ȣੂંȢ ȝȠȣ ਕȖĮʌȘIJંȢ umgewandelt hat. Daraus ist häufig geschlossen worden, dass es sich hier um eine öffentliche Proklamation handelt (für viele LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 [s. Anm. 4], 214), m.E. zu Unrecht. Zu beachten ist zunächst, dass Matthäus keinen Hinweis auf die allgemeine Vernehmbarkeit der Stimme gibt (es ist z.B. keine ijȦȞ ȝİȖȜȘ), im Gegenteil: Mit der Einfügung von ĮIJ nach ȞİȤșȘıĮȞ verweist Matthäus in 3,16 darauf, dass es um ein von Jesus wahrgenommenes Geschehen geht; entsprechend hat Matthäus das markinische İੇįİȞ übernommen. Dem fügt sich ein, dass im Anschluss keine Reaktion von Volksmengen als etwaigen Zeugen des Geschehens geschildert wird. Überhaupt wird durch nichts deutlich, dass Volksmengen zugegen sind. 3,5 (darauf verweist LUZ, ebd.) belegt dies jedenfalls nicht, da IJંIJİ in 3,13 einen szenischen Neueinsatz markieren kann (so J.D. KINGSBURY, Matthew: Structure, Christology, Kingdom, Philadelphia [PA] 1975, 14). Es weist zudem auch nichts darauf hin, dass der Täufer die Himmelsstimme vernommen hat. Im Gegenteil: Postulierte man ihn als Zeugen, folgte jedenfalls eine empfindliche Spannung zu 11,2f. Lässt sich 11,2f mit 3,14 noch in Einklang bringen (s. dazu in diesem Band im Beitrag „Die Taufe des Gottessohnes. Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium (Mt 3,13–17)“, 210–218), so ist dies für 3,17 auf der Basis der Annahme einer öffentlichen Proklamation ungleich schwerer. Auch aus diesem Grund ist es daher vorzuziehen, die Änderung der persönlichen Anrede in das verobjektivierende ȠIJȠȢ so zu erklären, dass Matthäus den sich in der markinischen Fassung nahelegenden Eindruck vermeiden wollte, dass Jesus (erst) bei der Taufe als Sohn Gottes angenommen wurde; er ist es bei ihm ja schon von Anfang an (ebenso GNILKA, Matthäusevangelium I [s. Anm. 4], 79). Kurzum: Matthäus intendiert in 3,17 keine öffentliche Proklamation. Wenn es ein Auditorium gibt, ist am ehesten an den himmlischen Hofstaat zu denken (ebenso J. NOLLAND, The Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids [MI] – Bletchley 2005, 157, vgl. ferner DORMEYER, Mt 1,1 als Überschrift [s. Anm. 90], 1369: „die Himmelsstimme erschallt [...] mit einer unpersönlich gehaltenen Proklamation [...], aber niemand außer Jesus hört sie“, ähnlich auch J.D. KINGSBURY, Matthew as Story, Philadelphia 71996, 51). 104 Vgl. KRAUS, Passion (s. Anm. 6), 423. 105 LUZ, Antijudaismus (s. Anm. 75), 315 fasst auch dies als Gerichtszeichen auf (s. dazu auch M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 447).
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damit der Anbruch einer neuen Epoche des Heils markiert.106 Die Worte des Hauptmanns und seiner Soldaten in V.54 „Wahrhaftig, Gottes Sohn war dieser“ erscheinen bei Matthäus als Antwort auf diese Geschehnisse. Zugleich weisen diese Worte bei Matthäus direkt zurück auf die Verspottungsszene, in die der Evangelist das Gottessohnmotiv eingefügt hat: „Wenn du Gottes Sohn bist, steig herab vom Kreuz“ (27,40), und: „Er hat Gott vertraut. Er soll ihn jetzt erlösen, wenn er Gefallen an ihm hat. Er hat ja gesagt: Gottes Sohn bin ich!“ (27,43). Jesus steigt nicht vom Kreuz, er erweist seine Sohnschaft genauso wenig wie im Prolog bei der Versuchung durch den Satan (4,1–11) durch eine Demonstration seiner Macht.107 Er geht vielmehr gehorsam den ihm zugedachten Weg108 und wird durch Gott selbst durch die seinen Tod begleitenden Ereignisse als sein Sohn bestätigt.109 Erst mit dem Kreuzesgeschehen ist Jesu Gottessohnschaft in ihrem Vollsinn erschlossen: Als der, der im Gehorsam gegenüber dem Willen seines Vaters (26,42) den Weg ans Kreuz zum Heil der „Vielen“ (26,28) auf sich nimmt und von Gott erhöht wird, ist Jesus der Gottessohn.110 Und mit diesem Erschlossensein der Gottessohnschaft Jesu ist zugleich der Zeitpunkt gegeben, dass die Rede von Jesus als Gottessohn mit den
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Dass die Auferweckten dabei nach V.53 erst nach der Auferweckung Jesu in Jerusalem erscheinen, ist szenisch mehr als merkwürdig, zumal V.54 zu den Soldaten zurücklenkt, die die Kreuzigung überwachen. Sich des Problems dadurch zu entledigen, dass die Worte ȝİIJ IJȞ ȖİȡıȚȞ ĮIJȠ૨ als nachmatthäische Glosse ausgeschieden werden (so z.B. W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 3, ICC, Edinburgh 1997, 634), ist freilich eine Verlegenheitslösung. Besser erscheint es, die durch die Worte angezeigte Zusammenbindung von Kreuzigung und Auferstehung als bestätigenden Hinweis auf die Bedeutung der Kreuzigung als Epocheneinschnitt zu fassen. – Vgl. dazu J.P. MEIER, Salvation-History in Matthew: In Search of a Starting Point, CBQ 37 (1975), 203–215: 207– 209; I. MAISCH, Die österliche Dimension des Todes Jesu. Zur Osterverkündigung in Mt 27,51–54, in: Auferstehung Jesu – Auferstehung der Christen. Deutungen des Osterglaubens, hg. v. L. Oberlinner, QD 105, Freiburg – Basel – Wien 1986, 96–123, 121f. 107 Zur Illustration kann man hinzuziehen, dass Jesus bei seiner Gefangennahme nicht von seinem Vater zwölf Legionen Engel herbeirief, um sich gegen die Schar zur Wehr zu setzen (26,53). 108 Zur Bedeutung des Gehorsamsmotivs in der matthäischen Rede von der Gottessohnschaft Jesu s. LUZ, Skizze (s. Anm. 17), 231–234. 109 Vgl. KRAUS, Passion (s. Anm. 6), 422f. Matthäus’ Erzählung lässt hier an Signale aus dem Prolog zurückdenken (zu den Querbeziehungen zwischen den Texten vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 [s. Anm. 4], 228): Die Herausforderung Jesu durch die Spottenden findet sich in den Versuchungen durch den Satan (4,1–11) präfiguriert, in denen Jesus sich, auf seine Gottessohnschaft angesprochen (4,3.6), ebenfalls nicht zu Demonstrationen seiner Vollmacht provozieren lässt und am Ende auch dem Angebot der Weltherrschaft widersteht. Verschlüsselt ist hier ein Hinweis auf das Geschehen am Ende gegeben, wo Jesus, nachdem er als gehorsamer Sohn Gottes die Kreuzigung auf sich genommen hat, als Weltenherr inthronisiert wird, dem „alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ gegeben ist. 110 Vgl. DORMEYER, Mt 1,1 als Überschrift (s. Anm. 90), 1369f.
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Worten der Soldaten unter dem Kreuz endgültig in die allgemeine Öffentlichkeit tritt. Die durch das ਕʌૃ ਙȡIJȚ in 26,64 markierte Zäsur lässt sich ferner durch den Erfüllungsgedanken illustrieren, der für die heilsgeschichtliche Konzeption des Evangelisten bekanntlich zentrale Bedeutung besitzt. Matthäus gibt gleich zu Beginn durch die Gliederung des Stammbaums in 1,17 in dreimal vierzehn Generationen dem Leser zu verstehen, dass Jesus Zielpunkt der mit Abraham begonnenen Heilsgeschichte ist. Er weist dann durch die zahlreichen Reflexionszitate nach, dass sich in Weg und Wirken Jesu die Ankündigungen der biblischen Propheten erfüllt haben und also Jesus der verheißene Heilsbringer ist.111 In Anknüpfung an Mk 14,49 ist der Erfüllungsgedanke nun auch und gerade in der Passionsgeschichte von Gewicht. Jesus widersetzt sich nicht der Gefangennahme, denn, so Jesus zu seinen Jüngern, „wie könnten die Schriften erfüllt werden, dass es so geschehen muss?“ (26,54, vgl. V.56).112 Mit Jesu Tod erreicht die Erfüllung des göttlichen Heilsplans ihr Ziel. Das verheißene Heil, mit 1,21 gesprochen, die Rettung von den Sünden, ist im Tod Jesu realisiert.113 Auch der Erfüllungsgedanke markiert also den Tod Jesu als heilsgeschichtliche Zäsur. Entscheidend für das matthäische Erzählkonzept ist nun der innere Konnex zwischen der skizzierten christologischen und der heilsgeschichtlichen Linie, deren Grundlage in der soteriologischen Interpretation des Todes Jesu zu sehen ist: Die Rede von den ʌȠȜȜȠ, für die Jesu Blut zur Vergebung der Sünden nach dem Kelchwort in 26,28 vergossen wird, ist bei Matthäus universalistisch interpretiert114; das Heil für die Völker (bzw. deren Heilschance) ist im Heilstod des Gottessohnes begründet. In 1,1 exponiert Matthäus mit der Davids- und Abrahamssohnschaft Jesu zwei Verheißungsthemen: den universalen Völkersegen und die eschatologische Heilsverheißung für Israel. Im Rahmen seiner christologischen Konzeption hat Matthäus die beiden Verheißungsthemen verschiedenen Phasen des Weges Jesu zugeordnet.115 Wie dabei das Wirken Jesu in Israel transparent gemacht wird für die universale Dimension des Heils in Christus, so ist die Präsentation Jesu als davidischer Hirte seines Volkes unterbaut von seiner zunächst verborgen bleibenden bzw. nur den Jüngern zugänglichen Identität als Gottessohn. Der Tod Jesu für die „Vielen“ und seine 111 THEISSEN, Davidssohn (s. Anm. 93), 156–158 profiliert dies mit Recht auf dem Hintergrund der durch den römisch-jüdischen Krieg enttäuschten Erwartung eines kriegerischen Messias. 112 Mit ȠIJȦȢ įİ ȖİȞıșĮȚ (26,54) verweist Matthäus auf das göttliche „Muss“ des Geschehens, auf den göttlichen Heilsplan (vgl. 16,21). 113 Vgl. die Hinzufügung von İੁȢ ਙijİıȚȞ ਖȝĮȡIJȚȞ in 26,28! 114 Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 34), 401; FRANKEMÖLLE, Matthäus II (s. Anm. 83), 449f. 115 Die auffällige Abfolge von „Sohn Davids“ und „Sohn Abrahams“ in 1,1 dürfte nicht zufällig sein: Sie signalisiert gewissermaßen die ‚Chronologie‘ der beiden Phasen.
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Auferstehung und das damit verbundene Offenbarwerden des Gottessohns als Weltenherr sind dann der Kairos, an dem sich in Jesus alle Verheißungen erfüllt haben, an dem mit der universalen soteriologischen Relevanz des Heilstodes Jesu und mit seiner universalen Vollmacht im Himmel und auf Erden (28,18) die Beschränkung der Heilszuwendung auf Israel heilsgeschichtlich außer Kraft gesetzt ist und also die Mission nunmehr auf ʌȞIJĮ IJ șȞȘ ausgeweitet ist:116 Menschen aus allen Völkern sollen zu Jüngern gemacht werden, indem sie getauft werden „auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (V.19). Festzuhalten ist also: Die mit der Zuwendung zu den Völkern gesetzte heilsgeschichtliche Zäsur ist angebunden an die christologische Konzeption des Evangelisten, die Offenbarung der Universalität des Heils gekoppelt an den Heilstod Jesu und die Einsetzung des Gottessohnes zum Weltenherrn.117 Die Zuwendung zu den Völkern ist hingegen nicht Antwort auf die vermeintlich kollektive Ablehnung Jesu durch Israel. Sucht man diese Konzeption theologiegeschichtlich einzubetten, kann man sie cum grano salis als eine Variante der judenchristlichen Tradition ansehen, die in Röm 1,3f verarbeitet ist:118 Jesus Christus ist „geboren aus dem Geschlecht Davids, eingesetzt als Sohn Gottes“119. Hier wie dort erscheint die irdische Existenz Jesu unter dem Vorzeichen seiner Davidsohnschaft. Hier wie dort bezeichnet die Erhöhung des Auferstandenen eine zweite Phase. Hier wie dort kann man von einer Art Zweistufenchristologie reden120, nur ist Jesus Matthäus zufolge, wie ausgeführt, ein adoptierter Sohn Davids, schon von Geburt
116 Das Verbot von 10,5 ist damit heilsgeschichtlich überholt, das Gebot von 10,6 nicht. Zu erwägen ist dabei, dass hier auf ein philologisches Detail zu achten ist. Matthäus gebraucht in den Verboten in V.5 den Aorist, im Gebot in V.6 aber den Imperativ Präsens. Letzterer ist durativ oder iterativ und passt zu allgemeinen Vorschriften; ersterer ist momentan und drückt Anweisungen für den Einzelfall aus (vgl. F. B LASS – A. DEBRUNNER, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. v. F. REHKOPF, 161984, § 335). Wendet man diese Grundregel auf Mt 10,5f an, folgt, dass das Verbot der Heiden- und Samaritanermission als etwas von Anfang an Einmaliges zu begreifen ist, während das Gebot der Israelmission bis zum Kommen des Menschensohnes Gültigkeit besitzt (erwogen auch von WONG, Interkulturelle Theologie [s. Anm. 53], 90). 117 Der Auftrag der Jünger zur Mission unter allen Völkern gründet bekanntlich, wie das schlussfolgernde ȠȞ in V.19 anzeigt, in dem vorangehenden Vollmachtswort: „Mir ist gegeben alle ਥȟȠȣıĮ im Himmel und auf Erden.“ Dass ein solches Vollmachtswort in den Erscheinungsberichten der Evangelien ohne Parallele ist, unterstreicht dabei den aufgewiesenen Zusammenhang. 118 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 101), 289, Anm. 24; THEISSEN, Davidssohn (s. Anm. 93), 146, Anm. 5; DORMEYER, Mt 1,1 als Überschrift (s. Anm. 90), 1367. Dagegen VERSEPUT, Role and Meaning (s. Anm. 57), 540. 119 Vgl. 2Tim 2,8; Ignatius, Sm 1,1. Zur Verbindung von Auferstehung und Gottessohnschaft vgl. Apg 13,32f; Hebr 1,3–5; 5,5. 120 Vgl. THEISSEN, Davidssohn (s. Anm. 93), 146, Anm. 5; GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 4), 22.30f.
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an aber Gottes Sohn. Das Gottessohnprädikat ist damit übergreifendes Kennzeichen der Identität Jesu121 und entsprechend in der dargestellten Weise bereits in die Präsentation des irdischen Weges Jesu eingewoben. Zugleich aber gilt, dass die Identität Jesu narrativ eben in verschiedenen Phasen enthüllt wird. Zweistufenchristologie meint im Blick auf Matthäus also nicht zwei Phasen der Identität Jesu selbst, sondern zwei Phasen ihrer Entfaltung. Die genuine Leistung des ersten Evangelisten besteht dabei darin, das Stufenkonzept konsequent mit der für ihn zentralen heilsgeschichtlichen Frage vernetzt zu haben, die Zuwendung Gottes zu seinem Volk in Christus mit der Einbeziehung der übrigen Völker zu vermitteln. Eben darin liegt das zentrale Anliegen der matthäischen Neuerzählung der Jesusgeschichte.
5. Resümee Zieht man zusammen, zeigt sich das Matthäusevangelium als durch den integrativen Ansatz gekennzeichnet, zum einen die Sonderstellung Israels positiv aufzunehmen, zum anderen eben die Öffnung auf die Völkerwelt zu vertreten und mit ersterer zu vermitteln. Verbindet man dies mit den eingangs angesprochenen neueren Versuchen der Verortung des Evangeliums im Kontext der jüdischen Formierungsprozesse nach 70 n. Chr., dann zeigt sich die matthäische Jesusgeschichte m.E. wesentlich als ein Versuch der Legitimation bzw. des Werbens für eine auf die Völkerwelt hin programmatisch in neuer Weise geöffnete Variante jüdischen Glaubens im Gegenüber und im Konflikt zur pharisäischen Spielart, die einen dominanten Einfluss auf die Synagogen auszuüben scheint. Die Art und Weise, wie Matthäus bemüht ist, die von ihm vertretene universalistische Heilsperspektive mit einer Betonung der Erfüllung der Heilshoffnungen Israels in Jesus zu verbinden, verweist dabei darauf, dass es dem Evangelisten darum geht, seine Gemeinde als legitime Sachwalterin des theologischen Erbes Israels zu positionieren. Daneben ist auch daran zu denken, dass Matthäus sich mit Reserven gegen die Völkermission in den eigenen (judenchristlichen) Reihen konfrontiert sah. Seine Art der Erzählung der Jesusgeschichte macht hier deutlich, dass die Öffnung für die Völker nicht auf Kosten der Heilszuwendung zu Israel geht; Jesus hat sich vielmehr als davidisch-messianischer Hirte der Notlage seines Volkes angenommen, und die Jünger setzen dieses Werk der messianischen Zuwendung zum Gottesvolk fort. Aber Jesus ist zugleich mehr, und darin ist die Öffnung auf die Völkerwelt hin begründet. Wichtig ist dabei, dass Matthäus auch diese Universalität des Heils in den heiligen Schriften Israels verankert, etwa durch den Rekurs auf Abraham gleich zu Beginn oder durch die Jesajazitate in 4,15f und 12,17–21. Die vier Frauen 121 Einschränkend ist hier nur zu sagen, dass Matthäus nicht den Gedanken der Präexistenz Jesu äußert.
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im Stammbaum illustrieren, dass das auf Jesus zulaufende Israel schon immer für Nicht-Juden offen war. Mit der Erfüllung der in Abraham begonnenen Verheißungsgeschichte bildet diese Offenheit nunmehr ein fundamentales Kennzeichen des Gottesvolkes. Lenkt man auf die eingangs angesprochene Neuorientierung christlicher Theologie in der Israelthematik zurück, so ist zuallererst auf die hermeneutische Problematik hinzuweisen, das matthäische Modell ohne Umschweife auf die Gegenwart zu übertragen. Denn dazu sind die jeweiligen historischen Konstellationen zu unterschiedlich. Die heutige Situation ist nicht die von innerjüdischen Differenzierungsprozessen, die in Trennungsprozesse umschlagen. Und auf der anderen Seite steht heutiger Theologie der Absolutheitsanspruch, der die matthäische Konfliktkultur prägt, nicht mehr gut an. Aus beiden Aspekten folgt etwa, dass sich aus der Fortdauer der Sendung zu Israel im Matthäusevangelium keine Bastion für eine Israelmission von Heidenchristen zimmern lässt. Was man aber hermeneutisch reflektiert versuchen kann, das ist, dem matthäischen Modell Richtungsimpulse zu entnehmen. Dazu sind die tragenden theologischen Motive der matthäischen Jesusgeschichte herauszufiltern, die dann darauf befragt werden können, inwiefern sie heutige Theologiebildung mitstrukturieren können. Als solche Grundmotive sind hier an erster Stelle zum einen die Ernstnahme der aus der ‚alttestamentlichen‘ Bundesgeschichte Gottes mit Israel resultierenden besonderen Stellung des Gottesvolkes Israel, zum anderen die grundsätzliche Öffnung des Heils für die Völkerwelt zu nennen. Vom Matthäusevangelium her könnte also für die heutige Diskussion und die systematisch-theologische Reflexion die Frage wachgehalten werden, inwiefern es gelingen kann, ekklesiologische Modelle zu entwickeln, in denen die besondere Stellung Israels ebenso bedacht wird wie die in Tod und Auferstehung Jesu begründete prinzipielle Universalität des Heils.
Davids Sohn und Herr Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie In seiner David-Darstellung in der Reihe „Biblische Gestalten“ hat Walter Dietrich darauf hingewiesen, dass David mit 59 Vorkommen „zu den am häufigsten im Neuen Testament aufgerufenen Namen aus dem Alten Testament“1 gehört. Nur in einem Teil der Belege ist allerdings das Interesse auf David selbst gerichtet.2 Ein nicht geringer Anteil der Vorkommen von ‚David‘ verdankt sich der in verschiedenen frühchristlichen Traditionsbereichen begegnenden Vorstellung, dass Jesus der Messias aus dem Hause Davids, der Sohn Davids, sei.3 Zu einem in das Zentrum der christologischen Reflexion führenden Leitgedanken ist das Christologumenon der davidischen Messianität Jesu 1
W. DIETRICH, David. Der Herrscher mit der Harfe, Biblische Gestalten 14, Leipzig 2006, 93. 2 In der synoptischen Tradition ist vor allem auf die Aufnahme von 1Sam 21,2–7 in Mk 2,25f (parr Mt 12,3f; Lk 6,3f) zu verweisen. Mehrere Rekurse auf David verdanken sich der Zuschreibung von Psalmen an David im atl. Psalter (Mk 12,36.37 [parr Mt 22,43.45; Lk 20,42.44]; Apg 1,16; 2,25–31.34f; 4,25f; Röm 4,6; 11,9; Hebr 4,7). In den Geschichtsrückblicken in der Rede des Stephanus und der Predigt des Paulus im pisidischen Antiochien ist David je ein kurzer Passus gewidmet (Apg 7,45f; 13,22); In Hebr 11,32 wird David nur neben anderen ohne weitere Ausführungen namentlich erwähnt. Siehe ferner noch Apg 13,34–37. 3 Im MkEv wird der davidischen Herkunft Jesu keine relevante Bedeutung beigemessen. Jesus wird zwar vom blinden Bartimäus als „Sohn Davids“ angerufen (Mk 10,47.48) und wenig später bei seinem Einzug in Jerusalem mit Worten aus Ps 118,26 und dem Ruf „gepriesen die kommende Königsherrschaft unseres Vaters David!“ begrüßt (11,9f). Aber mit der kritischen Reflexion über die davidische Herkunft des Messias in Mk 12,35–37 wird die (Bedeutung der) Davidsohnschaft Jesu deutlich marginalisiert, wenn nicht grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. dazu A. SUHL, Der Davidssohn im Matthäus-Evangelium, ZNW 59 [1968], 57–81: 57–60; G. SCHNEIDER, Die Davidssohnfrage (Mk 12,35–37), Bib. 53 [1972], 65–90: 89f; M. KARRER, Von David zu Christus, in: König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. 19. Kolloquium (2000) der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. v. W. Dietrich − H. Herkommer, Freiburg (Schweiz) – Stuttgart 2003, 327–365: 344f, anders z.B. E. LÖVESTAM, Die Davidssohnfrage, SEÅ 27 [1962], 72–82: 79f). Johannes hat überhaupt kein Interesse an der davidischen Herkunft Jesu. Die Erwartung, dass der Messias aus dem Geschlecht Davids und aus Bethlehem komme,
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in den im Neuen Testament kanonisierten Schriften dabei nur im MtEv aufgestiegen. Die große Bedeutung der Präsentation Jesu als des davidischen Messias ist hier konzeptionell aufs Engste mit der Betonung der Zuwendung Jesu zu Israel verbunden. Für Matthäus charakteristisch ist zudem das Gewicht, das in diesem Zusammenhang der Schrift als Referenztext zukommt. Die nachfolgende Skizze versucht, die Grundlinien der mt Präsentation Jesu als des davidischen Messias herauszuarbeiten und damit das wohl bedeutendste Segment der ntl. Wirkungsgeschichte ‚Davids‘ zu umreißen.
1. „Ich werde ihm Vater sein, und er wird mir Sohn sein“ (2Sam 7,14a). Der davidische Messias als Sohn Gottes In Natans Verheißung für David in 2Sam 7,8–17 wird David nicht nur der ewige Bestand seines Hauses und seines Königtums zugesagt (V.16), woran die spätere Erwartung eines davidischen Messias anknüpfen konnte 4, sondern es klingt zugleich das ansonsten alttestamentlich nur spärlich bezeugte Motiv der Gottessohnschaft des Königs5 an.6 Während dieses Motiv nach den erhaltenen Zeugnissen in der frühjüdischen Messianologie – wahrscheinlich wegen wird in Joh 7,41f einigen aus dem Volk sogar als kritischer Einwand gegen die Messianität Jesu in den Mund gelegt. Im LkEv tritt die davidische Messianität Jesu allein in der Kindheitsgeschichte als ein Leitmotiv hervor: Joseph stammt aus dem Haus David (Lk 1,27; 2,4); Maria wird vom Engel Gabriel angekündigt, dass Gott ihrem Sohn den Thron seines Vaters David geben werde (1,32). Zacharias preist im Benedictus (1,68–79) Gott, weil er „ein Horn des Heils im Hause seines Dieners David“ erweckt hat (1,69). Jesus wird in der „Stadt Davids“ geboren (2,4.11). In der Apg wird die davidische Herkunft in Paulus’ Predigt im pisidischen Antiochien aufgenommen (Apg 13,23). Ferner lässt Lukas den Herrenbruder Jakobus auf dem Apostelkonvent auf Am 9,11f rekurrieren (Apg 15,16–18). Die Aufnahme der davidischen Herkunft Jesu in das christologische Formelgut tritt in Röm 1,3f zutage (s. auch 2Tim 2,8). Die davidische Abstammung Jesu wird schließlich in Offb 5,5; 22,16 vorgebracht, ohne näher entfaltet zu werden; Offb 3,7 weist Jesus mit der aus Jes 22,22 stammenden Rede von den „Schlüsseln Davids“ die Vollmacht zu, „über die Zugehörigkeit zu Israel, dem ‚Haus Davids’, unwiderruflich zu entscheiden“ (J. ROLOFF, Die Offenbarung des Johannes, ZBK.NT 18, Zürich 21987, 61). 4 Siehe PsSal 17,4: „Du, Herr, erwähltest David zum König über Israel, und du schworst ihm für seinen Samen in Ewigkeit, dass sein Königtum vor dir nicht aufhöre.“ Ferner auch Sir 47,11aD; TestJuda 22,3; 4Q174 Fragm. 1i+21+2 (3,)10–13; 4Q252,2–5. 5 Siehe neben 2Sam 7,14 noch Ps 2,7 und Ps 89,27f. 6 Im jetzt vorliegenden Text legt V.13 einen Bezug der Sohnesprädikation allein auf Salomo nahe (vgl. A. BÖCKLER, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 22002, 192f). Für Rekonstruktionen einer dynastisch ausgerichteten Grundform s. z.B. W. DIETRICH, David, Saul und die Propheten. Das Verhältnis von Religion und Politik nach den
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der Bedeutung des Gottesohnmotivs in antiken Herrscherideologien7 – höchstens eine marginale Rolle gespielt hat8, ist das Zusammenspiel von Davidsohnund Gottessohnschaft für den Evangelisten Matthäus von leitender Bedeutung. Matthäus fand in seiner Markusvorlage in Mk 1,11 eine Anspielung auf Ps 2,7 vor: Bei der Taufe Jesu kündet die Himmelsstimme: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ Matthäus hat die persönliche Anrede in der 2. Person Singular in ein proklamierendes „dieser ist mein geliebter Sohn“ geändert (Mt 3,17). Der Grund ist schwerlich darin zu sehen, dass Matthäus hier eine öffentliche Proklamation darstellen wollte 9; eher ist daran zu denken, dass er einem möglichen Missverständnis der Himmelsstimme im Sinne einer Adoption Jesu zum Gottessohn bei der Taufe vorzubeugen suchte.10 Die Gottessohnschaft Jesu hat Matthäus nämlich mit der Zeugung Jesu durch den Heiligen Geist verbunden (Mt 1,18–25).11 Zwar kann man gegen diese Deutung der Zeugung ਥț ʌȞİȝĮIJȠȢ ਖȖȠȣ und der Jungfrauengeburt prophetischen Überlieferungen vom frühesten Königtum in Israel, BWANT 122, Stuttgart 2 1992, 116–121; M. PIETSCH, „Dieser ist der Sproß Davids...“. Studien zur Rezeptionsgeschichte der Nathanverheißung im alttestamentlichen, zwischentestamentlichen und neutestamentlichen Schrifttum, WMANT 100, Neukirchen-Vluyn 2003, 19–27. 7 Siehe M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998, 191f. 8 In 4Q174 Fragm. 1i+21+2 (3,)10–13 wird 2Sam 7,11b–14a in Ausschnitten zitiert und messianisch intepretiert (siehe J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran, WUNT II.104, Tübingen 1998, 110–112). Ferner dürfte, folgt man der – m.E. plausiblen – Deutung von ZIMMERMANN, Texte (s.o.), 128–170 (s. auch M.A. KNIBB, Messianism in the Pseudepigrapha in the Light of the Scrolls, DSD 2 [1995], 165–184: 174–177), die Rede vom „Sohn Gottes“ bzw. „Sohn des Höchsten“ in 4Q246 2,1 positiv auf eine messianische Gestalt zu beziehen sein. Die Interpretation von 4Q246 ist freilich hoch umstritten (s. exemplarisch S. SCHREIBER, Gesalbter und König. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung in frühjüdischen und urchristlichen Schriften, BZNW 105, Berlin – New York 2000, 498–508). 9 Zur Frage der Öffentlichkeit der Szenerie s. M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 309f. 10 Vgl. J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 1, HThKNT 1.1, Freiburg – Basel – Wien 21988, 79. 11 In diesem Sinne auch R. PESCH, Der Gottessohn im matthäischen Evangelienprolog (Mt 1–2). Beobachtungen zu den Zitationsformeln der Reflexionszitate, Bib. 48 (1967), 395– 420: 410f.416–419; R.E. BROWN, The Birth of the Messiah. A Commentary on the Infancy Narratives in the Gospels of Matthew and Luke, new updated edition, New York u.a. 1993, 133–137; J. RIEDL, Mt 1 und die Jungfrauengeburt, in: Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium (FS A. Vögtle), hg. v. L. Oberlinner – P. Fiedler, Stuttgart 1991, 91–109: 95–109; I. BROER, Versuch zur Christologie des ersten Evangeliums, in: The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck), Bd. 2, hg. v. F. v. Segbroeck – C.M. Tuckett, BETL 100, Leuven 1992, 1251–1282: 1277; L. NOVAKOVIC, Messiah, the Healer of the Sick. A Study of Jesus as the Son of David in the Gospel of Matthew, WUNT II.170, Tübingen 2003, 46f u.a. Anders z.B. D.J. VERSEPUT, The Role and Meaning of the ‘Son of God’ Title in Matthew’s Gospel, NTS 33 (1987), 532–556: 532f; J. NOLLAND, No Son-ofGod Christology in Matthew 1.18–25, JSNT 62 (1996), 3–12.
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geltend machen, dass erstmals mit dem Reflexionszitat aus Hos 11,1 in Mt 2,15 von Jesus explizit als Sohn Gottes die Rede ist. Auffallend ist jedoch, dass Matthäus das die Jungfrauengeburt als Erfüllung der Schrift ausweisende Zitat von Jes 7,14 in Mt 1,22 – und nur dieses – mit genau derselben Formel wie das Hoseazitat in 2,15 eingeführt12 und so beide Zitate aufeinander bezogen hat.13 Zudem ist auf die Verknüpfung von Geist und Gottessohnschaft zu verweisen, die nicht nur die in 3,16f rezipierte mk Darstellung der Taufe Jesu (Mk 1,10f) prägt, sondern auch in der in Röm 1,3f aufgenommenen judenchristlichen Tradition begegnet, die eine gewichtige Affinität zur mt christologischen Konzeption aufweist.14 Ist Jesus nach Mt 1,18–25 also von der Empfängnis an Sohn Gottes, so wird er zum Sohn Davids dadurch, dass Joseph, den Matthäus in 1,20 ausdrücklich als Nachkommen Davids kennzeichnet15, ihm dem Auftrag des Engels gemäß den Namen gibt (1,25) und ihn so adoptiert.16 Vergleicht man dies mit der in Ps 2,7 begegnenden Vorstellung der Adoption des Königs zum Gottessohn17, so zeigt sich in Mt 1 ein umgekehrter Adoptionsvorgang: Nicht wird der davidische Herrscher als Sohn Gottes adoptiert, sondern der Gottessohn wird durch Joseph in die Nachkommenschaft Davids eingestellt. Die alttestamentliche Tradition, wie sie neben Ps 2,7 auch in 2Sam 7,14; Ps 89,27f begegnet, wird damit in signifikanter Weise modifiziert. Dies geht damit einher, dass die Gottessohnschaft Jesu im MtEv insgesamt als das zentrale christologische Prädikat
Nur in Mt 1,22; 2,15 lautet die Einleitungsformel ȞĮ ʌȜȘȡȦșૌ IJઁ ૧ȘșȞ ਫ਼ʌઁ țȣȡȠȣ įȚ IJȠ૨ ʌȡȠijIJȠȣ. 13 Siehe dazu PESCH, Gottessohn (s. Anm. 11), 397f.405–413. 14 Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 9), 333f.400, ferner G. THEISSEN, Vom Davidssohn zum Weltenherrscher. Pagane und jüdische Endzeiterwartungen im Spiegel des Matthäusevangeliums, in: Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils. Begegnungen mit dem Neuen Testament und seiner Umwelt (FS H.-W. Kuhn), hg. v. M. Becker – W. Fenske, AGJU 44, Leiden – Boston 1999, 145–164: 146, Anm. 5; D. DORMEYER, Mt 1,1 als Überschrift zur Gattung und Christologie des Matthäus-Evangeliums, in: The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck), Bd. 2, hg. v. F. van Segbroeck u.a., BETL 100, Leuven 1992, 1361–1383: 1367. Anders VERSEPUT, Role (s. Anm. 11), 540. 15 Zur redaktionellen Herkunft von ȣੂઁȢǻĮȣįin 1,20 s. C. BURGER, Jesus als Davidssohn. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, FRLANT 98, Göttingen 1970, 103f sowie auch U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 142, Anm. 9. Anders z.B. W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 207f. 16 Vgl. exemplarisch SUHL, Davidssohn (s. Anm. 3), 67f; BURGER, Davidssohn (s. Anm. 15), 104; NOVAKOVIC, Messiah (s. Anm. 11), 43–45. 17 Siehe zu Ps 2,7 in diesem Sinn H.-J. KRAUS, Theologie der Psalmen, BK 15.3, Neukirchen-Vluyn 21989, 141–143. 12
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erscheint.18 Diese Feststellung berechtigt jedoch nicht zu einer Marginalisierung des Motivs der Davidsohnschaft Jesu bei Matthäus.19 Vielmehr ist die leitende Bedeutung zu betonen, die dem – in den genannten alttestamentlichen Texten grundgelegten – Zusammenhang von Gottes- und Davidsohnschaft in der christologischen Konzeption der mt Jesusgeschichte zukommt. Dies lässt sich durch eine diachron ausgerichtete Beobachtung erhärten: Das Motiv der Gottessohnschaft hat Matthäus in seiner Markusvorlage als christologische Leitkonzeption vorgefunden20; die Hervorhebung der Davidsohnschaft Jesu geht hingegen auf Matthäus’ eigene Hand zurück.21 Die leitende Bedeutung des konzeptionellen Zusammenhangs von Gottesund Davidsohnschaft Jesu im ersten Evangelium wird durch die mt Bearbeitung der Frage nach der Davidsohnschaft des Messias aus Mk 12,35–37 in Mt 22,41–46 untermauert. Matthäus lässt Jesus nicht die Frage aufwerfen, wie(so) die Schriftgelehrten sagen, dass der Christus Davids Sohn sei (Mk 12,35), und diese dann sogleich in einem Monolog Jesu durch den Hinweis problematisieren, dass doch David selber ihn „Herr“ nenne (12,36f). Matthäus gestaltet vielmehr einen Dialog zwischen Jesus und den Pharisäern, in dem Jesus diese mit der Frage konfrontiert, was sie über den Christus meinen, wessen Sohn er sei. Während die Pharisäer allein auf die Davidsohnschaft verweisen, ist die korrekte Antwort für Matthäus eine zweigliedrige, deren beide Aussagen einen unauflöslichen Zusammenhang darstellen, der in das Zentrum der christologischen Konzeption des ersten Evangelisten führt und im narrativen Duktus des Evangeliums einen Bogen zu Mt 1 zurückschlägt: Der Messias ist Sohn Davids und Sohn Gottes.22 Ebendies wird durch die beiden ʌȢ-Fragen 18 Insofern ist der besonderen Gewichtung des Motivs der Gottessohnschaft Jesu bei J.D. KINGSBURY, The Title “Son of God” in Matthew’s Gospel, BTB 5 (1975), 3–31 ein partielles Recht zu konzedieren. Siehe aber das Folgende. 19 Gegen J.D. KINGSBURY, The Title “Son of David” in Matthew’s Gospel, JBL 95 (1976), 591−602 (vgl. unten Anm. 68). 20 Siehe zur Gottessohnschaft Jesu im MkEv C. BREYTENBACH, Grundzüge markinischer Gottessohnchristologie, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. dems. – H. Paulsen, Göttingen 1991, 169–184; U. SCHNELLE, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 376–378. 21 Zum Befund im MkEv s. oben Anm. 3. Es gibt zudem kein Indiz für ein Vorkommen des Davidsohntitels in der Logienquelle. Matthäus hat den Titel neben den vier aus Mk übernommenen Belegen (Mt 20,30.31; 22,42.45 par Mk 10,47.48; 12,35.37) an weiteren sechs Stellen eingefügt (1,1; 9,27; 12,23; 15,22; 21,15; 21,9). Vor allem aber ist zu beachten, dass die vermehrte Rede von Jesus als „Sohn Davids“ lediglich ein Indiz für die Bedeutung der davidischen Messianität Jesu darstellt, dem andere Ausdrucksweisen wie die z.B. in 2,6; 9,36; 15,24 begegnende Hirtenmetaphorik (dazu im Folgenden) zur Seite stehen. 22 Im Mt 22,41–46 vorangehenden Kontext hat Matthäus die Davidsohnschaft wie die Gottessohnschaft Jesu explizit mit dem Christustitel verbunden. Weist zum einen Mt 1,1(– 17); 2,4; 11,2 auf davidisch-messianisches Kolorit, so hat Matthäus zum anderen das Christus-Bekenntnis des Petrus um ȣੂઁȢIJȠ૨șİȠ૨IJȠ૨ȗȞIJȠȢergänzt.
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in Mt 22,43.45 entfaltet, die keineswegs bedeutungsgleich sind.23 Die erste ʌȢ-Frage geht von der Davidsohnschaft aus, die die Pharisäer in ihrer Antwort namhaft gemacht haben (22,42), und zielt mit der Problematisierung, wie bzw. in welchem Sinn David ihn dann – in dem in 22,44 zitierten Psalmvers (Ps 110,1) – „Herr“ nenne, auf die Antwort: weil er Gottes Sohn und damit David übergeordnet ist. In der zweiten ʌȢ-Frage hingegen geht es umgekehrt darum, wie bzw. in welchem Sinn der von David als „Herr“ bezeichnete Gottessohn sein Sohn ist. Die Antwort kennen die Leserinnen und Leser des Evangeliums aus Mt 1,18–25: weil Joseph, ein Sohn Davids (1,20), den Gottessohn Jesus als seinen Sohn angenommen hat. Mit dem Hervortreten des Christologumenons der davidischen Messianität Jesu ist im MtEv die Betonung seiner (ausschließlichen) Zuwendung zu Israel während seines irdischen Wirkens verbunden (15,24)24, mit der sich die Israel in der Schrift gegebenen Verheißungen erfüllen. Matthäus kommt es also darauf an, das irdische Wirken des Gottessohns zentral durch die ihm als davidischem Messias zukommende Aufgabe in und an Israel bestimmt sein zu lassen. Konzeptionell bedeutsam ist dabei vor allem die Hirtenmetaphorik.
2. „Du sollst mein Volk, Israel, weiden, und du sollst Fürst werden über Israel“ (2Sam 5,2b). Der davidische Messias als Hirte Israels Dient der Prolog in Mt 1,1–4,16, der Begebenheiten vor dem öffentlichen Wirken Jesu schildert, dem Evangelisten im Ganzen zur Präsentation der Hauptfigur Jesus in seiner christologischen Identität als Sohn Davids, Sohn Gottes und Immanuel, mit dessen Kommen Gott eine neue Phase der Heilsgeschichte initiiert25, so wird durch das Mischzitat in 2,6 ebenfalls bereits im Prolog die Metaphorik von Hirt und Herde als ein Leitmotiv eingeführt, durch das Matthäus sein Verständnis Jesu als des davidischen Messiaskönigs entfaltet. Als sich die Magier in Jerusalem erkundigten, wo der geborene König der Juden sei (2,2), konsultiert König Herodes die Hohepriester und Schriftgelehrten, um in Erfahrung zu bringen, wo der Christus geboren werden solle (V.4). Der Idumäer (!) Herodes entziffert die Frage der Magier korrekt im Sinne der Erwartung des königlichen Messias und damit im Sinne der Hoffnung auf den messianischen davidischen Herrscher, als welcher Jesus in Mt 1 durch die 23
Vgl. zum Folgenden NOVAKOVIC, Messiah (s. Anm. 11), 61f. Ausführlich dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 9), 52–81. 25 Letzteres wird insbesondere durch den Stammbaum Jesu in Mt 1,2–17 deutlich, in dem Matthäus nach dem in V.17 angegeben Gliederungsschema in dreimal vierzehn Generationen von Abraham zu Jesus führt und so anzeigt, dass die Geschichte Israels planvoll auf Jesus zuläuft und in ihm ihre Erfüllung findet. 24
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Überschrift in 1,1, welche Jesus als Sohn Davids und Sohn Abrahams präsentiert, durch den Stammbaum in 1,2–1626 und durch die Erläuterung der Umstände seiner Geburt in 1,18–25 eingeführt wurde. Die Antwort der Hohepriester und Schriftgelehrten in 2,5f nimmt dies auf. Den Geburtsort des davidischen Messias vermögen sie aus Mi 5,1 zu erschließen. Mi 5,1–3 stellt den verheißenen Herrscher zwar streng genommen gar nicht direkt in die davidische Dynastie ein, sondern visiert – ähnlich wie Jes 11,1 – einen völligen Neuanfang an und ‚spielt‘ lediglich mit Allusionen an die Davidtradition.27 Matthäus macht diese Unterscheidung aber nicht, sondern lässt das von ihm redigierte Michazitat28 als Beleg für den Geburtsort des messianischen Davidsohns fungieren. Hat Matthäus das als Schriftbeleg für die Beantwortung der Frage des Herodes genügende Michazitat vermutlich in der Mt 2,1–12 zugrunde liegenden Tradition vorgefunden29, so dürfte die – wohl durch die Ankündigung ʌȠȚȝĮȞİIJઁʌȠȝȞȚȠȞĮIJȠ૨ਥȞੁıȤȚțȣȡȠȣin Mi 5,3
26
Im Stammbaum ist David nicht nur durch das Gliederungsschema in 1,17 besonders hervorgehoben, sondern auch dadurch, dass nur er explizit als König bezeichnet wird. Der einzige, der danach mit einem Titel genannt wird, ist Jesus selbst (vgl. GNILKA, Matthäusevangelium I [s. Anm. 10], 4 u.a.): Er wird, so V.16, Christus genannt. Im Licht von 1,1 liegt die Annahme nahe, dass Matthäus hier gezielt eine Verbindung zwischen dem König David und dem davidischen Messias Jesus aufbauen wollte (vgl. R. OBERFORCHER, Die jüdische Wurzel des Messias Jesus aus Nazaret. Die Genealogien Jesu im biblischen Horizont, in: Alttestamentliche Gestalten im Neuen Testament. Beiträge zur Biblischen Theologie, hg. v. M. Öhler, Darmstadt 1999, 5–26: 14f), um die Rede von Jesus als Davidsohn in 1,1 zu unterstreichen. 27 Vgl. H. SEEBASS, Herrscherverheißungen im Alten Testament, BThSt 19, NeukirchenVluyn 1992, 51 (kein Davidide, „nur noch David-Typologie“); R. KESSLER, Micha, HThKAT, Freiburg – Basel – Wien 1999, 223f.229. 28 Der wichtigste Eingriff ist bekanntlich die Einfügung von ȠįĮȝȢ: Damit, dass in Bethlehem der Messias geboren wurde, kann der Ort nicht mehr als ਥȜĮȤıIJȘ İੇ ਥȞ IJȠȢ ਲȖİȝંıȚȞȠįĮgelten (vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew I [s. Anm. 15], 242). 29 Es ist durchaus möglich, das Zitat aus dem Kontext zu lösen (vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 [s. Anm. 15], 159; A. VÖGTLE, Messias und Gottessohn. Herkunft und Sinn der matthäischen Geburts- und Kindheitsgeschichte, Düsseldorf 1971, 20; D.J. PAUL, „Untypische“ Texte im Matthäusevangelium? Studien zu Charakter, Funktion und Bedeutung einer Textgruppe des matthäischen Sonderguts, NTA NF 50, Münster 2005, 34). Andererseits lässt Herodes’ Frage an die Hohepriester und Schriftgelehrten einen Schriftbeweis erwarten (vgl. M.J.J. MENKEN, Matthew’s Bible. The Old Testament text of the evangelist, BETL 173, Leuven 2004, 263). Ohnehin dürfte die Tradition von der Geburt Jesu in Bethlehem eine auf Mi 5,1 beruhende theologische Konstruktion sein (anders KARRER, Jesus Christus [s. Anm. 7], 321f; zu Nazareth als Geburtsort Jesu vgl. nur G. THEISSEN – A. MERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 158, und P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1, Stuttgart 2006, 56). Das macht eine vorredaktionelle Herkunft des Zitats zumindest wahrscheinlich.
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mit inspirierte – Anfügung von 2Sam 5,230, wo es um die Einsetzung Davids zum König über (das Nordreich) Israel geht, auf die Hand des Evangelisten selbst zurückgehen. 31 Matthäus betont damit zum einen das davidische Kolorit der Präsentation Jesu als Messias in Mt 2. Genauer: Jesus erscheint als der davidisch-messianische Hirte seines Volkes. Der in Bethlehem, der Stadt Davids (Lk 2,4)32, geborene Davidsohn Jesus ist der ਲȖȠȝİȞȠȢ, der, wie es einst David aufgetragen war33, Gottes Volk Israel weiden wird. Fragt man, warum Matthäus das Michazitat nicht mit dem angeführten Passus aus Mi 5,3 fortgesetzt, sondern auf 2Sam 5,2 rekurriert hat, ist zum anderen darauf zu verweisen, dass für ihn die Rede vom ȜĮંȢin 2Sam 5,2 von Bedeutung war.34 Der Evangelist 30 Zuweilen ist darüber hinaus noch ein Bezug auf Gen 49,10 postuliert worden (s. H. HEATER, Matthew 2:6 and Its Old Testament Sources, JETS 26 [1983], 395–397; J. WILLITTS, Matthew’s messianic shepherd-king. In search of “The Lost Sheep of the House of Israel”, BZNW 147, Berlin 2007, 106f), doch fehlen dazu hinreichend sichere Indizien. Denn der Gebrauch von ਲȖȠȝİȞȠȢlässt sich problemlos auf den Einfluss von 2Sam 5,2fin (țĮ ıઃıİȚİੁȢݘȖȠުȝİȞȠȞਥʌIJઁȞǿıȡĮȜ) zurückführen, während ȖોȠįĮsich als durch ਥȞ IJȠȢਲȖİȝંıȚȞ ݯȠުįĮ inspirierte Anspielung des Evangelisten auf den Stammvater Juda als „progenitor of the royal tribe (1:2–3)“ (R.H. GUNDRY, Matthew. A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, Grand Rapids (MI) 21994, 29) verstehen lässt, ohne dass eine gezielte Anspielung auf Gen 49 vorliegen muss. 31 Ebenso z.B. M. GIELEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, BBB 115, Bodenheim 1998, 33 und MENKEN, Matthew’s Bible (s. Anm. 29), 259f, der auf den bei Matthäus geläufigen Gebrauch von ıIJȚȢverweist. – Möglicherweise ist ਲȖȠȝİȞȠȞ in Mt 2,6c im Zusammenhang der Anfügung von 2Sam 5,2 in das Michazitat geraten (ebenso MENKEN, Matthew’s Bible [s. Anm. 29], 259). Matthäischer Redaktion könnte sich schließlich die im alttestamentlichen Text nicht vorgegebene Wendung ȖોȠįĮ verdanken (vgl. E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 4[16]1986, 17; GIELEN, Konflikt [s.o.], 33). 32 Vgl. GUNDRY, Matthew (s. Anm. 30), 26: „The stress on Bethlehem serves his interest in Davidic Christology.“ 33 Siehe neben 2Sam 5,2 (= 1Chr 11,2) vor allem noch Ps 78,71f, ferner 4Q504 Fragm. 2 4,6–8: „Und Du hast Deinen Bund aufgerichtet für David, um Hirtenfürst über Dein Volk zu sein ʤʫʮʲ ʬʲ ʣʩʢʰ ʩʲʸʫ ʺʥʩʤʬ), damit er vor Dir sitze auf Israels Thron alle die Tage“ (Übers. J. MAIER, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd. 2, München – Basel 1995, 608). – Die spezifische Verwendung von Hirtenmetaphorik im Blick auf David lässt sich mit W. BRUEGGEMANN, First and Second Samuel, Interpretation, Louisville 1990, 237f so auf den Punkt bringen, dass Davids Karriere als Aufstieg vom Hirtenjungen zum Hirtenkönig dargestellt wird. Zu David als Hirt s. die Skizze von R. HUNZIKER-RODEWALD, David der Hirt. Vom „Aufstieg“ eines literarischen Topos, in: König David − biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, hg v. W. Dietrich − H. Herkommer, Freiburg (Schweiz) – Stuttgart 2003, 165−177. 34 Ebenso W. ROTHFUCHS, Die Erfüllungszitate des Matthäus-Evangeliums. Eine biblisch-theologische Untersuchung, BWANT 88, Stuttgart u.a. 1969, 61; MENKEN, Matthew’s Bible (s. Anm. 29), 260; G.M. SOARES-PRABHU, The Formula Quotations in the Infancy Narrative of Matthew, AnBib 63, Rom 1976, 266 eröffnet eine falsche Alternative, wenn er
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schlägt damit einen Bogen zu Mt 1,21 zurück, wo der Name Jesus dahingehend gedeutet wird, dass Jesus sein ȜĮંȢ von den Sünden retten wird. Die beiden Verse 1,21 und 2,6 bilden dabei einen sachlichen Zusammenhang: Die Aufgabe des messianischen Hirten Jesus besteht wesentlich in der Rettung des Volkes von den Sünden. Dies gewinnt an Profil, wenn man das Sendungslogion in 15,24 hinzuzieht: Nicht nur erfährt die Präsentation Jesu als des messianischen Hirten seines Volkes in 2,6 durch 15,24 eine Interpretation im Sinne seiner exklusiven Sendung zu Israel. Zugleich verstärkt die Rede von den verlorenen Schafen des Hauses Israel den soteriologischen Aspekt des ʌȠȚȝĮȞİȚȞ des messianischen Hirten, wie er durch 1,21 programmatisch exponiert wurde. Denn die Rede vom Verlorensein der Schafe blickt nicht nur, ja nicht zentral, auf physische Not, sondern hat, wie 18,14 bestätigt, an erster Stelle die soteriologische Notlage des Volkes im Blick.35 Jesu Aufgabe, das Gottesvolk Israel zu weiden (2,6), wird ferner durch das Summarium in 4,23 entfaltet: Jesus zog in ganz Galiläa umher, lehrte in ihren Synagogen, verkündigte das Evangelium vom Reich und heilte alle Krankheiten und Gebrechen ਥȞIJȜĮ. Die Bezüge von 2,6 zu 1,21 und 4,23 sind dabei in keiner Weise alternativ zu sehen. Ist Rettung von den Sünden nicht bloß isoliert auf den Akt des Zuspruchs der Sündenvergebung (9,2) bzw. die durch Jesu Tod gewirkte (und sakramental vermittelte) Vergebung von Sünden (26,28) zu beziehen, lässt sich 1,21 vielmehr als programmatisches Vorzeichen auch vor 4,23 setzen. Matthäus hat nämlich zum einen mit der mk Perikope von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12 par Mt 9,2–8) den traditionellen Konnex von Krankheit und Sünde und damit von Heilung und Sündenvergebung aufgenommen: Die Heilung erscheint nicht bloß als Genesung des körperlichen Gebrechens, sondern ist mit der Vergebung der von Gott trennenden Sünden verbunden. In Mt 9,2–8 wird die Heilung geradezu zum Beiwerk der im Vordergrund stehenden Sündenvergebung. Ist dieser Verknüpfung exemplarische Bedeutung zuzumessen, dann ist Jesu heilendes Handeln insgesamt in den Zusammenhang der Sündenvergebung eingestellt.36 Zum anderen eröffnet die Erschließung des Willens Gottes durch die vollmächtige Lehre Jesu (vgl. postuliert: „Matthew has added 2 Sam 5,2 to Mic 5,1 not because it speaks about ȜĮંȢbut because it is a text about David, and so explicitly identifies Jesus as the ‘son of David’“. 35 Siehe auch Mt 10,28.39; 16,25. 36 Vgl. NOVAKOVIC, Messiah (s. Anm. 11), 73, die auf der Basis von Mt 9,2–8 folgert: „It is therefore highly likely that Jesus’ healing ministry is viewed by Matthew as saving his people from their sins.“ Siehe auch P. BEAUCHAMP, L’Évangile de Matthieu et l’héritage d’Israël, RSR 76 (1988), 5–38: 23f; C. LANDMESSER, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott. Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluß an Mt 9,9–13, WUNT 133, Tübingen 2001, 138f; R. BEATON, Isaiah’s Christ in Matthew’s Gospel, MSSNTS 123, Cambridge (UK) 2002, 115f (im Rahmen der Auslegung von Mt 8,17). Gegen eine „ursächliche Verknüpfung von Sünde und Krankheit“ in Mt 9,2–8 hingegen FIEDLER, Matthäusevangelium (s. Anm. 29), 215.
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7,29) den Menschen die Möglichkeit, dem Willen Gottes gemäß zu leben, und vermag sie so vor Sünden zu bewahren.37 Bildet also 1,21 das Vorzeichen vor 2,6 und wird 2,6 zugleich durch 4,23 entfaltet, so bleibt anzufügen: Die militärische Konnotation, die der Rede vom „Weiden“ Davids in 2Sam 5,2 innewohnt (anders aber Ps 78,71f)38, spielt bei Matthäus überhaupt keine Rolle. In der mt Erzählkonzeption findet das Wirken Jesu in der Aussendung seiner Jünger seine Fortsetzung. Was Mt 15,24 im Blick auf Jesu Sendung formuliert, findet darin eine genaue Entsprechung, dass – bis Ostern – auch der Auftrag der Jünger exklusiv auf die verlorenen Schafe des Hauses Israel bezogen ist (10,5f). Die Hirt-Herde-Metaphorik hat der Evangelist im 10,6 unmittelbar vorangehenden Kontext bereits in 9,36 aufgegriffen, wo die Sendung der Jünger im Erbarmen Jesu über die „abgematteten“ und „daniederliegenden“ Volksmengen39 verankert wird, die Schafen gleichen, „die keinen Hirten haben“. Von 2,6 (und 15,24) her ergibt sich als Implikation der Rede von ʌȡંȕĮIJĮȝ ȤȠȞIJĮʌȠȚȝȞĮ, dass Jesus sich als der messianische Hirte Israels der Volksmengen erbarmt. Seine Jünger lässt er mit ihrer Aussendung zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel an seinem messianischen Hirtenamt partizipieren. Dem korrespondiert kompositorisch, dass die Aussendungsrede in Mt 10 – nach der durch die beiden Summarien in 4,23; 9,35 gerahmten (exemplarischen) Schilderung des Wirkens Jesu in seiner vollmächtigen Lehre (5,1–7,28) und in seinem vollmächtigen Handeln (8,1–9,34) – „gleichsam die ekklesiologische Verlängerung des Wirkens Jesu“40 inauguriert.41 Im Wirken der Jünger 37 Vgl. dazu jetzt T.R. BLANTON, Saved by Obedience: Matthew 1:21 in Light of Jesus’ Teaching on the Torah, JBL 132 (2013), 393–413, bes. 410f. 38 Siehe dazu R. HUNZIKER-RODEWALD, Hirt und Herde. Ein Beitrag zum alttestamentlichen Gottesverständnis, BWANT 155, Stuttgart – Berlin – Köln 2001, 47–50. 39 Zum Erbarmen Jesu mit seinem Volk als wichtigem mt Motiv s. D.C. DULING, Matthew’s Plurisignificant “Son of David” in Social Science Perspective: Kinship, Kingship, Magic and Miracle, BTB 22 (1992), 99–116: 112f; KONRADT, Israel (s. Anm. 9), 42; W. BAXTER, Israel’s Only Shepherd. Matthew’s Shepherd Motif and His Social Setting, LNTS 457, London – New York 2012, 141f. 40 LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 15), 34, vgl. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 2: Mt 8–17, EKK 1.2, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1990, 79, ferner z.B. P.S. MINEAR, The Disciples and the Crowds in the Gospel of Matthew, AThR.SS 3 (1974), 28–44, 34.42; D.J. WEAVER, Matthew’s Missionary Discourse. A Literary Critical Analysis, JSNTS 38, Sheffield 1990, 75–82.84f; M. LOHMEYER, Der Apostelbegriff im Neuen Testament. Eine Untersuchung auf dem Hintergrund der synoptischen Aussendungsreden, SBB 29, Stuttgart 1995, 365.367.374.378. 41 Dieses Moment wird durch die in 10,1 geschilderte Vollmachtsübertragung unterstrichen (vgl. Mk 3,15; 6,7; Lk 9,1), wobei durch die mt Anfügung von șİȡĮʌİİȚȞ ʌ઼ıĮȞ ȞંıȠȞ țĮ ʌ઼ıĮȞ ȝĮȜĮțĮȞ direkt auf die Summarien in Mt 4,23; 9,35 zurückverwiesen wird. Zudem ist der in der Aussendung ergehende Verkündigungsauftrag an die Jünger (10,7) – von der Auslassung des Umkehrrufes abgesehen – parallel zu 3,2 und 4,17 gestaltet, und der in 10,8 nachfolgende, zu einer viergliedrigen Imperativreihe ausgestaltete Heilungsauftrag (vgl. Mk 3,15; 6,13) lässt an Jesu eigene, in Mt 8f erzählte Taten zurückdenken.
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soll sich die messianische Zuwendung des Hirten Israels zu seiner Herde durch Heilung der Kranken, Verkündigung der Botschaft vom nahen Reich (10,7f) und durch Vergebung der Sünden (vgl. 9,842), kurz: durch Zuwendung zu den ‚verlorenen Schafen‘ fortschreiben.43 Werden die Jünger also in den Dienst der messianischen Zuwendung des Hirten Israels zu seiner Herde gestellt, so ist als weiteres wesentliches Moment der Präsentation Jesu als des messianischen Hirten die dezidierte Opposition gegen Jesu bei den (bisherigen) Autoritäten in Israel zu nennen. Auch dieses Moment wird mit der Rolle des Herodes und der mit ihm kollaborierenden Hohepriester und Schriftgelehrten bereits in Mt 2 eingeführt. Mt 2 weist in diesem Zusammenhang ein gezieltes ‚Spiel‘ mit der Verwendung des Königstitels auf: Nicht nur wird Jesus von den Magiern als ȕĮıȚȜİȢ bezeichnet (2,2), sondern auch Herodes vom Erzähler (2,1.3.9), jedoch nicht mehr nach 2,9. Das heißt: Nachdem die Magier dem „geborenen König der Juden“ ihre Huldigung erwiesen haben, fehlt der Königstitel bei Herodes.44 Dies ist kaum Zufall, sondern soll andeuten, dass nunmehr Jesus der wahre König Israels ist.45 Herodes nimmt denn auch Jesus als einen seine Position gefährdenden Konkurrenten wahr.46 Mit seiner Frage nach dem Geburtsort des Christus (2,4) gibt
42 Es besteht ein breiter Konsens, dass Matthäus, indem er die Volksmengen in Mt 9,8 Gott als den preisen lässt, der den Menschen Vollmacht (zur Sündenvergebung) gegeben hat, über die Vollmacht Jesu zur Sündenvergebung (9,2–7) hinaus auf die entsprechende Vollmacht der Gemeinde ausblickt. 43 Vgl. – mit Blick auf die kompositorische Stellung der Aussendungsrede – die treffende Bemerkung von WEAVER, Discourse (s. Anm. 40), 73: „The narrator wishes the implied reader to interpret the ministry to which Jesus commissions his disciples (10.5b–42) as not merely parallel to, but rather an integral part of, the ministry of Jesus himself.“ Zu den Jüngern als den neuen ‚Hirten Israels‘ vgl. S. MCKNIGHT, New Shepherds for Israel. An Historical and Critical Study of Matthew 9:35–11:1, Diss. masch., Nottingham 1986, bes. 183– 185; Y.S. CHAE, Jesus as the Eschatological Davidic Shepherd. Studies in the Old Testament, Second Temple Judaism, and in the Gospel of Matthew, WUNT II.216, Tübingen 2006, 217f sowie BAXTER, Shepherd (s. Anm. 39), 145–147, der allerdings betont, dass der Hirtentitel nicht auf die Jünger übertragen werde, sondern Jesus vorbehalten bleibe (s. dazu auch 170f.181f). Dieser klaren Unterscheidung steht freilich entgegen, dass die Sorge um ein verirrtes Schaf in 18,12–14 als Aufgabe der Jünger in den Blick kommt. 44 Siehe Mt 2,12.13.15.16.19.22. 45 Vgl. B.M. NOLAN, The Royal Son of God. The Christology of Mt 1–2 in the Setting of the Gospel, OBO 23, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1979, 39: „The omission of the title suggests that the kingship has returned to lowly Bethlehem at 2:11. The indubitable irony surrounding the act of homage in 2:2, 8, 11 favours the detection of significance in the absence of ‘king’ as the action progresses.“ 46 Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 15), 238; GUNDRY, Matthew (s. Anm. 30), 26; D.R. BAUER, The Kingship of Jesus in the Matthean Infancy Narrative. A Literary Analysis, CBQ 57 (1995), 306–323, 314; GIELEN, Konflikt (s. Anm. 31), 30.
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er ebenso zu erkennen, dass er begriffen hat, um wen es geht47, wie die Hohepriester und Schriftgelehrten mit ihrer Antwort (2,5f). Fortan kommt dem Messiaskönig die Aufgabe zu, das Gottesvolk zu weiden. Ihm hätten sich Herodes und die jüdischen Autoritäten unterzuordnen.48 Genau dies geschieht aber nicht, sondern der von den Hohepriestern und Schriftgelehrten assistierte Herodes versucht zunächst mit Hinterlist, indem er die Magier für seine Zwecke zu instrumentalisieren sucht (2,7f), dann mit einem äußerst brutalen Vorgehen, indem er alle bis zu zweijährigen Kinder in der Gegend von Bethlehem ermorden lässt (2,16–18), den messianischen König zu töten. Jesus wird jedoch durch das Eingreifen Gottes gerettet. Im Gesamtkontext des Evangeliums betrachtet liest sich dieser vergebliche Versuch des Herodes als Vorverweis auf die in der Kreuzigung Jesu kulminierende Opposition der (in Mt 2 bereits eingebundenen) jüdischen Autoritäten gegen Jesus. Auch diese suchen durch das Vorgehen gegen Jesus ihre Stellung zu behaupten. Auch ihr Versuch scheitert letztlich durch die Intervention Gottes, der den Gekreuzigten auferweckt 49 und ihn als zu seiner Rechten sitzenden (22,44; 26,64), mit universaler Vollmacht ausgestatteten (28,18) Weltenherrn einsetzt, der sein Regiment führt, indem er seine Jünger aussendet, um die Menschen zu lehren, alles zu halten, was er ihnen geboten hat.50 Beachtet man die Bedeutung der Konfliktthematik, in die die Präsentation Jesu als Hirte Israels eingebunden ist51, erschließt sich, warum Matthäus so stark die desolate Lage der „Schafe“ – sie sind „verloren“ (ਕʌȠȜȦȜંIJĮ,10,6; 15,24), „abgemattet“ (ਥıțȣȜȝȞȠȚ),„daniederliegend“ (ਥȡȡȚȝȝȞȠȚ) und „haben 47
Vgl. GIELEN, Konflikt (s. Anm. 31), 30. Daran ändert nichts, dass Matthäus Jesus nicht in den Farben eines politischen Herrschers zeichnet. 49 Vgl. die Reflexion des vergeblichen Vorgehens der Autoritäten gegen Jesus im Winzergleichnis in Mt 21,33–46 (s. bes. V.37–42). 50 Vgl. die Deutung des „Reiches des Menschensohns“ in 13,41 durch LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 40), 341: „Es ist die Herrschaft des Erhöhten über Himmel und Erde, die er jetzt vor allem durch die Verkündigung und das Leben seiner Jünger sichtbar werden läßt (28,16-20!)“. Zum Verständnis der Herrschaft des Erhöhten im oben dargelegten Sinne s. ferner THEISSEN, Davidssohn (s. Anm. 14), 164: „Eine ganz neue Art von Weltherrschaft kündigt sich hier an, eine Weltherrschaft durch ethische Gebote“ (s. auch K. BACKHAUS, Entgrenzte Himmelsherrschaft. Zur Entdeckung der paganen Welt im Matthäusevangelium, in: „Dies ist das Buch ...“. Das Matthäusevangelium. Interpretation – Rezeption – Rezeptionsgeschichte [FS H. Frankemölle], hg. v. R. Kampling, Paderborn – München 2004, 75–103: 91). 51 Einzustellen ist hier das Bemühen der Autoritäten, die sich im Volk einstellende Erkenntnis Jesu als „Sohn Davids“ zu unterdrücken. Siehe Mt 12,23f und 21,15f und dazu VERSEPUT, Role (s. Anm. 11), 535f; G.N. STANTON, Matthew’s Christology and the Parting of the Ways. in: Jews and Christians. The Parting of the Ways A.D. 70 to 135, hg. v. J.D.G. Dunn, WUNT 66, Tübingen 1992, 99–116: 108–112; KONRADT, Israel (s. Anm. 9), 123f.133–135.146f. 48
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keinen Hirten“ (ȝ ȤȠȞIJĮ ʌȠȚȝȞĮ, 9,36) – betont hat. Die genannten Attribute tragen deutlich einen polemischen, gegen die Autoritäten gerichteten Charakter, der klar zum Vorschein kommt, wenn man die Aussagen im Lichte prophetischer Kritik an den Autoritäten als den schlechten ‚Hirten‘ liest, wie sie insbesondere in Jer 23,1–4 und Ez 3452 begegnet.53 Jer 23,1 wirft den Hirten vor, die Schafe der Weide Gottes zerstreut und zugrunde gerichtet zu haben (LXX: ੯ȠੂʌȠȚȝȞİȢȠੂįȚĮıțȠȡʌȗȠȞIJİȢțĮܻʌȠȜȜުȠȞIJİȢIJʌȡંȕĮIJĮIJોȢȞȠȝોȢ ȝȠȣ). ਝʌȠȜȜȠȞIJİȢ findet in Jer 27,6LXX (50,6MT) in der Rede von ʌȡંȕĮIJĮ ਕʌȠȜȦȜંIJĮ, die von ihren Hirten in die Irre geführt wurden, eine Entsprechung. Ez 34 klagt die schlechten Hirten Israels, die nur sich selbst geweidet haben (V.2), unter anderem an, nicht gesucht zu haben, was verloren gegangen war (IJઁ ਕʌȠȜȦȜઁȢ Ƞț ਥȗȘIJıĮIJİ). Bedenkt man, wie stark der erste Evangelist seine Jesusgeschichte insgesamt im Lichte der Schrift reflektiert hat54, liegt es nahe, die ihm eigene Rede von IJ ʌȡંȕĮIJĮ IJ ਕʌȠȜȦȜંIJĮ ȠțȠȣ ıȡĮȜ
52 Zur zentralen Bedeutung von Ez 34 als Bezugstext des ersten Evangelisten s. J.P. HEIL, Ezekiel 34 and the Narrative Strategy of the Shepherd and the Sheep Metaphor in Matthew, CBQ 55 (1993), 698–708 und zuletzt W. BAXTER, Healing and the “Son of David”. Matthew’s Warrant, NT 48 (2006), 36–49, bes. 43–45 sowie CHAE, Jesus (s. Anm. 43), 205– 219. Siehe auch F. MARTIN, The Image of Shepherd in the Gospel of Sant [sic!] Matthew, ScEs 27 (1975), 261–301: 275f.282f.298. Diese These findet Bestätigung durch die matthäische Version des Gleichnisses vom verlorenen Schaf in Mt 18,12–14 (s. dazu U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, 3.Teilbd: Mt 18–25, EKK 1.3, Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1997, 32 mit Anm. 56). Erwägenswert ist ferner, dass die Einfügung von IJોȢ ʌȠȝȞȘȢin das Zitat aus Sach 13,7 in Mt 26,31 als eine Anspielung an Ez 34,31 zu identifizieren ist (vgl. R.H. GUNDRY, The Use of the Old Testament in St. Matthew’s Gospel with Special Reference to the Messianic Hope, NT.S 18, Leiden 1967, 27; WILLITTS, ShepherdKing [s. Anm. 30], 146f). D.J. VERSEPUT, The Davidic Messiah and Matthew’s Jewish Christianity, SBLSP 34 (1995), 102–116: 112 verweist gleichermaßen auf Ez 34 und Jer 23,1–3. – Für eine Analyse des Motivs des davidischen Hirten in Ez 34–37 s. D.I. BLOCK, Bringing Back David. Ezekiel’s Messianic Hope, in: The Lord’s Anointed. Interpretation of Old Testament Messianic Texts, hg. v. P.E. Satterthwaite – R.S. Hess – G.J. Wenham, Carlisle (UK) – Grand Rapids (MI) 1995, 167–188: 172–183; CHAE, Jesus (s. Anm. 43), 38–76. 53 Zur prophetischen Hirtenkritik s. HUNZIKER-RODEWALD, Hirt und Herde (s. Anm. 38), 50–62. 54 Diese Reflexion hat sich nicht nur in dem bekannten Phänomen der so genannten Reflexions- bzw. Erfüllungsszitate (Mt 1,22f; 2,15.17f.23; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,35; 21,4f; 27,9f) niedergeschlagen, mit denen der Evangelist Weg und Wirken Jesu als Erfüllung der Verheißungen der Schrift ausweist und so zu zeigen sucht, dass Jesus tatsächlich der in den Heilshoffnungen Israels erwartete Messias ist; vielmehr sind diese nur ein besonders augenfälliger Ausdruck für die Relevanz, die der Schrift in der matthäischen Jesusgeschichte insgesamt zukommt (vgl. exemplarisch D. SENIOR, The Lure of the Formula Quotations. Reassessing Matthew’s Use of the Old Testament with the Passion Narrative as Test Case, in: The Scriptures in the Gospels, hg. v. C.M. Tuckett, BETL 131, Leuven 1997, 89–115: 90.104–108; R.B. HAYS, The Gospel of Matthew. Reconfigured Torah, HTS 61 [2005], 165– 190: 168f).
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(Mt 10,6; 15,24) von diesen prophetischen Anklagen inspiriert zu sehen55 und damit in ihr die für das MtEv im Ganzen typische Kritik an den Autoritäten Israels56 mitklingen zu hören, die als „blinde Führer“ (15,14; 23,16.24) und „Heuchler“57 das Volk ins Verderben führen. Auch mit der Kritik an den Autoritäten, die in der Rede von den „Schafen, die keinen Hirten haben“ (9,36) mitschwingt, rekurriert Matthäus auf ein in der atl.-frühjüdischen Tradition begegnendes Motiv58, das unter anderem wiederum in Ez 34 begegnet (V.5.8). Ez 34,5.8 lässt dabei deutlich werden, dass die Rede vom Fehlen eines Hirten keineswegs eine tatsächliche Vakanz bedeutet59; im Blick ist vielmehr, dass die Hirten des Volkes ihrer Aufgabe nicht nachkommen.60 In Jer 23,1–4 sind Anklage und Gerichtsansage gegen die Hirten (V.1f, vgl. 50,6) mit der Ankündigung verbunden, dass Gott selbst sich des Restes seiner Schafe annimmt (vgl. 31,10) und diesen neue Hirten gibt (23,3f, vgl. 3,15); 23,5f spitzt dann die Heilszusage auf die Königsherrschaft eines gerechten Sprosses Davids zu (vgl. Jer 30,9; 33,14–17). Ez 34 weist eine zu Jer 23,1–6 analoge Struktur auf, nur sind hier die einzelnen Elemente breiter entfaltet. Die Hirten werden angeklagt, gut von der Herde gelebt, sich aber nicht um die Schafe gekümmert zu haben (V.3). Die Schwachen wurden nicht gestärkt, die Kranken nicht geheilt usw. (V.4); und da die Herde faktisch ohne Hirt war, wurden die Schafe „zum Fraß für alle Tiere des Feldes“ (V.5). Die Gerichtsansage (V.7–10) spricht konkret davon, dass die Hirten von ihrer Funktion entbunden werden: „Seht, ich gehe gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe
55 Zu Jer 27,6LXX vgl. z.B. GUNDRY, Matthew (s. Anm. 30), 184, zu Ez 34 MARTIN, Image (s. Anm. 52), 278; CHAE, Jesus (s. Anm. 43), 214–219 sowie auch BAXTER, Healing (s. Anm. 52), 44, Anm. 29. 56 Siehe zur negativen Charakterisierung der Autoritäten im MtEv unter anderen S. VAN TILBORG, The Jewish Leaders in Matthew, Leiden 1972; A. SALDARINI, Matthew’s Christian-Jewish Community, CSHJ, Chicago – London 1994, 44–67; B. REPSCHINSKI, The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form and Relevance for the Relationship Between the Matthean Community and Formative Judaism, FRLANT 189, Göttingen 2000, bes. 322–327; KONRADT, Israel (s. Anm. 9), 108–180. 57 Siehe Mt 15,7; 22,18; 23,13.15.23.25.27.29 sowie auch 6,2.5.16 (zu Mt 6,1–18 s. exemplarisch VAN TILBORG, Leaders [s. Anm. 56], 8.17 und J.C. ANDERSON, Matthew’s Narrative Web, Over, and Over, and Over Again, JSNTS 91, Sheffield 1994, 103f). 58 Num 27,17 (vgl. Philo, Agr 44; Virt 58); 1Kön 22,17 = 2Chr 18,16; Jes 13,14; Ez 34,5.8; Sach 10,2; (11,17); Jdt 11,19. 59 Siehe neben Ez 34,5.8 ferner auch Sach 10,2f (MT). Allerdings begegnet die Hirtenmetapher nicht in der LXX-Version von Sach 10,2f (vgl. dazu unten Anm. 92). – Gegen einen Bezug auf Sach 10,2 in Mt 9,36 C.A. HAM, The Coming King and the Rejected Shepherd. Matthew’s Reading of Zechariah’s Messianic Hope, New Testament Monographs 4, Sheffield 2005, 86f. 60 Vgl. BAXTER, Healing (s. Anm. 52), 39. – GUNDRY, Use (s. Anm. 52), 32 sieht zudem in ਥıțȣȜȝȞȠȚ țĮ ਥȡȡȚȝȝȞȠȚ eine Anspielung auf Ez 34,5 (in diesem Sinne jetzt auch WILLITTS, Shepherd-King [s. Anm. 30], 124).
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aus ihrer Hand und sorge dafür, dass sie keine Schafe mehr weiden“ (V.10). Breit ausgeführt wird sodann auch und vor allem die Heilsankündigung (V.11– 31): Gott selbst wird sich seiner Herde annehmen, wird die Schafe weiden (V.11–16) und zwischen den fetten und den mageren Schafen für Recht sorgen (V.17–22). Analog zu Jer 23,5f spitzt Ez 34,23 die Heilsankündigung auf den neuen David zu, nur wird nun explizit die Hirtenmetaphorik auch auf diesen angewandt: „Und ich werde einen einzigen Hirten über sie auftreten lassen, und dieser wird sie weiden, meinen Diener David, er wird sie weiden, und er wird ihnen Hirt sein“ (vgl. 37,24 sowie [Mi 5,3]; PsSal 17,4061). Die schlechten Hirten werden also durch den davidischen Messias als Hirten abgelöst. Stellt Ez 34,23–31 den dem Volk unter dem davidisch-messianischen Hirten zukommenden Segen heraus, so tritt schließlich in 37,24 hervor, dass „sie nach meinen Rechtssätzen leben und meine Satzungen einhalten und danach handeln werden“. Die obige These, dass die Betonung der desolaten Lage der ‚Schafe‘ von der prophetischen Kritik an den schlechten ‚Hirten‘ inspiriert ist, lässt sich nun ergänzen: Das MtEv weist eine zu Jer 23,1–6 und vor allem Ez 34 analoge Gesamtkonfiguration auf: Die Volksmengen gleichen aufgrund des Versagens ihrer nur auf sich selbst bedachten Führungsschicht62 verlorenen, hirtenlosen Schafen, die abgemattet daniederliegen. Nun aber wendet sich Gott ihnen durch Jesus als den messianischen Hirten zu, der seine Jünger in seinen Dienst der erbarmungsvollen Zuwendung zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel hineinstellt. Darin ist impliziert, dass Gott die bisherigen Autoritäten als Hirten des Volkes durch Jesus und die von ihm beauftragten Jünger ablöst.63 Der erbitterte Widerstand der Führungsschicht gegen Jesus erscheint in diesem Zusammenhang als – vergeblicher – Versuch, die angestammte Position zu behaupten. Kurz gesagt: Matthäus erzählt die Erfüllung von Jer 23,1–6 und Ez 34.
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Auch in PsSal 17 wird die Hoffnung auf das Kommen des davidischen Messias (V.21ff) auf dem Hintergrund des Versagens der Führungsschicht laut (V.20). – Zum Einfluss von Ez 34 auf PsSal 17 s. G.T. MANNING, Echoes of a Prophet. The Use of Ezekiel in the Gospel of John and in Literature of the Second Temple Period, JSNTS 270, London – New York 2004, 92f.95f. 62 Zur Unterscheidung zwischen Volksmengen und Autoritäten im MtEv s. J.R.C. COUSLAND, The Crowds in the Gospel of Matthew, NT.S 102, Leiden – Boston 2002, passim; KONRADT, Israel (s. Anm. 9), bes. 96–108. 63 Im Blick auf die Adressatensituation spiegeln sich darin miteinander konkurrierende Führungsansprüche von mt ecclesia und pharisäisch dominierter Synagoge. Siehe dazu grundlegend J.A. OVERMAN, Matthew’s Gospel and Formative Judaism. The Social World of the Matthean Community, Minneapolis (MN) 1990, 141–149; SALDARINI, Community (s. Anm. 56), bes. 11–67.107–120.
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3. „Was krank ist, werde ich stärken“ (Ez 34,16). Der davidische Messias als Heiler Matthäus hat im Rahmen seiner Darstellung der barmherzigen Zuwendung Jesu zu Israel dem heilenden Handeln des Messias einen prominenten Platz eingeräumt.64 Auffallend ist dabei, dass er speziell den Davidsohntitel konsequent mit Heilungen verbunden hat:65 Der ȣੂઁȢǻĮȣį ist bei Matthäus ein heilender Messias.66 Aufmerksamkeit verdient dabei die besondere Rolle von Blindenheilungen im Kontext der Rede von Jesus als ‚Sohn Davids‘. In seiner Markusvorlage war Matthäus dieser Zusammenhang in der Erzählung von der Heilung des blinden Bartimäus vorgegeben (Mk 10,46–52). Der erste Evangelist hat diese Perikope nicht nur in Mt 20,29–34 verarbeitet, sondern auch in 9,27–31 dupliziert. Im Ganzen redaktionell ist 21,14f: Nach Heilungen von Blinden und Lahmen im Tempel (V.14) nehmen Kinder den Akklamationsruf „Hosanna dem Sohn Davids“ auf (V.15), mit dem zuvor die Volksmengen in 21,9 den in Jerusalem einziehenden sanftmütigen Messiaskönig begrüßt haben, wobei 21,9 im Kontext mit der Heilung der Blinden in 20,29–34 verbunden ist. Besonders instruktiv ist schließlich 12,22f: Der Besessene, nach dessen Heilung Matthäus die ȤȜȠȚvermuten lässt, ob Jesus etwa der Sohn Davids ist, ist hier nicht nur wie in Q/Lk 11,14 stumm, sondern auch blind. Dies ist umso auffallender, als Matthäus es bei seiner ersten Aufnahme von Q 11,14 in Mt 9,32 bei der Cha-
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Redet schon das Summarium in 4,23 betont davon, dass Jesus jede Krankheit und jede Schwäche ਥȞIJȜĮ heilte (vgl. 9,35, im Blick auf die Jünger 10,1), so stellt Matthäus in 4,24, bevor er mit der Bergpredigt (Mt 5–7) die Lehre Jesu entfaltet, zunächst einmal die Heilung der Kranken heraus. Den beiden Speisungsgeschichten gehen bei Matthäus jeweils Massenheilungen voraus (14,14; 15,30); in 14,14 hat der Evangelist dazu die markinische Rede von Jesu Lehre (Mk 6,34) durch einen Verweis auf sein heilendes Handeln ersetzt – eine Änderung, die sich in Mt 19,2 par Mk 10,1 wiederholt. Schließlich sind auch die Heilungen im Tempel in Mt 21,14 eine redaktionelle Einfügung des ersten Evangelisten. – Zur redaktionellen Betonung der Heilungen als Ausdruck der Zuwendung Jesu zu den Volksmengen vgl. COUSLAND, Crowds (s. Anm. 62), 108–117. 65 Siehe dazu vor allem die monographische Studie von NOVAKOVIC, Messiah (s. Anm. 11), ferner z.B. D.C. DULING, The Therapeutic Son of David. An Element in Matthew’s Christological Apologetic, NTS 24 (1978), 392–410; K. PAFFENROTH, Jesus as Anointed and Healing Son of David in the Gospel of Matthew, Bib. 80 (1999), 547–554: 551–554; COUSLAND, Crowds (s. Anm. 62), 184–191; CHAE, Jesus (s. Anm. 43), 279–324 . 66 Auffallend ist die – wohl durch Mk 10,47f inspirierte – Emphase, die Matthäus der Anrufung Jesu als „Sohn Davids“ beigelegt hat: Wenn Jesus als Davidsohn um Erbarmen gebeten wird, wird dies immer mit țȡȗİȚȞ verstärkt (Mt 9,27; 15,22; 20,30.31). Zudem sind auch die Akklamationsrufe in 21,9.15 entsprechend charakterisiert (vgl. Mk 11,9). Hingegen fehlt țȡȗİȚȞ im Kontext der Erbarmensbitte in Mt 17,15, wo die Davidsohnanrede nicht begegnet.
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rakterisierung des Besessenen als țȦijંȢbelassen hat. Von daher liegt die Annahme nahe, dass die redaktionelle Erweiterung der Krankheitsangabe in 12,22 einerseits und die Einfügung des Motivs der Davidsohnschaft in 12,23 andererseits als sachlicher Zusammenhang zu betrachten sind. Konturen gewinnt dies, wenn man die – bei Matthäus ausschließlich auf die Pharisäer und Schriftgelehrten bezogene – metaphorische Verwendung von IJȣijȜંȢ in 15,14; 23,16.17.19.24.26 einbezieht. Liest man die Heilungsgeschichten in diesem Licht, erscheint die verschiedentlich geäußerte These plausibel, dass es in den genannten Heilungsgeschichten auch darum geht, dass Israel im übertragenen Sinn von seiner Blindheit geheilt wird67 (vgl. u.a. Ps 145,8LXX; Targum Jes 35,5). Genauer: Sie werden von der von den blinden Führern, den Pharisäern und Schriftgelehrten, verursachten Blindheit geheilt. Im Blick ist damit Jesu Lehre, mit der er den Volksmengen die Augen für den wahren Willen Gottes öffnet. Das oben zu Mt 1,21 als Vorzeichen vor 4,23 Gesagte ließe sich hier wiederholen. Deutlich ist damit zugleich, dass die Bedeutung des Christologumenons der Davidsohnschaft Jesu nicht, wie dies zuweilen geschehen ist, auf Jesu heilende Tätigkeit in einem rein physischen Sinn engzuführen ist68, wie es ohnehin methodisch fragwürdig wäre, die Verwendung des Titels „Sohn Davids“ isoliert von der Hirtenmetaphorik, der Rede von Jesus als „König der Juden“ (Mt 2,2; 27,11.29.37) oder „König Israels“ (Mt 27,42, s. auch 21,5) oder von dem sich auf den davidisch-königlichen Messias beziehenden Gebrauch von „Christus“ (Mt 1,1[–17]; 2,4; 11,2) zu betrachten. Die Verwendung des Davidsohntitels ist bei Matthäus Teil einer umfassenderen christologischen Konzeption, in der es zentral um die Erfüllung der Israel gegebenen Heilsverheißungen geht, und sie erhält von dieser umfassenderen Konzeption her ihr Gewicht. Dieser umfassendere Sinnzusammenhang ist deutlich in der Einführung des Davidsohntitels in Mt 1,1 vorausgesetzt. Denn mit dem Nebeneinander ‚Sohn Davids‘ und ‚Sohn Abrahams‘ lässt Matthäus die beiden heilsgeschichtlichen Horizonte seiner Jesusgeschichte anklingen: Ist mit der Davidsohnschaft die Erfüllung der Israel gegebenen Heilsver-
67 Vgl. J.M. GIBBS, Purpose and Pattern in Matthew’s Use of the Title ‘Son of David’, NTS 10 (1963/64), 446–464: 451–453.458.460; SUHL, Davidssohn (s. Anm. 3), 80f; U. LUZ, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach – H. Paulsen, Göttingen 1991, 221–235: 225; L. NOVAKOVIC, Jesus as the Davidic Messiah in Matthew, HBT 19 (1997), 148–191: 164. 68 Siehe vor allem die Tendenz bei KINGSBURY, Son of David (s. Anm. 19), bei dem sich die Beobachtung, dass der Davidsohntitel bei Matthäus mit dem heilenden Handeln Jesu ein begrenztes Applikationsfeld habe (592f), mit einer dezidierten Abwertung der Bedeutung der Davidsohnschaft Jesu im Gesamtzusammenhang der mt Christologie verbindet. Die enge Verbindung von Davidsohnschaft und Heilungen wird allgemein vermerkt, doch geht dies nicht notwendig wie bei Kingsbury mit der dezidierten Abwertung der Bedeutung des Titels einher (vgl. vor allem NOVAKOVIC, Messiah [s. Anm. 11], passim).
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heißungen verbunden, so setzt der Evangelist mit der Rede von der Abrahamsohnschaft Jesu einen Hinweis auf die Universalität des Heils.69 Mt 1,1 enthält somit in gewisser Hinsicht „in nuce das ganze mt Evangelium“70. Umgekehrt formuliert: Dass Matthäus diese heilsgeschichtliche Thematik gleich in 1,1 aufwirft, deutet deren Zentralität für die matthäische Neuerzählung der Jesusgeschichte an und verweist damit darauf, dass die Rede von der Davidsohnschaft Jesu ein wesentliches Thema der matthäischen Jesusgeschichte titularisch verdichtet. Dass Matthäus gleichwohl die Verwendung des Davidsohntitels nie direkt mit der Lehre verbunden hat, sondern den Davidsohn eben als Heiler präsentiert, ist konzeptionell damit zu erklären, dass Matthäus mit dem christologischen Motiv, dass mit Jesus der Israel verheißene messianische Sohn Davids gekommen ist, die gnadenhafte Zuwendung Gottes zu seinem Volk betonen wollte. Oder anders: Der Davidsohntitel kann nur insofern, wie dies in den metaphorischen Implikaten der Heilungsgeschichten anvisiert ist, mit der Lehre verbunden sein, als diese – durch die Erschließung des zuvor verdeckten Willens Gottes – Teil der göttlichen Heilsinitiative ist, mit der Gott sich des hirtenlosen, daniederliegenden Volkes (9,36) annimmt. Die Fokussierung der Verwendung des Davidsohntitels auf Jesu heilendes Handeln ist also nicht im Sinne einer Beschränkung der Bedeutung des Christologumenons der Davidsohnschaft Jesu zu lesen. Sie erklärt sich vielmehr dadurch, dass in der matthäischen Ausarbeitung dieses Motivs – allem voran durch die Aufnahme der die Fürsorge Gottes betonenden Hirtenmetaphorik – der Aspekt der barmherzigen Zuwendung Gottes zu seinem Volk in Einlösung der Israel in der Schrift gegebenen Heilsverheißungen im Zentrum steht. Eine Ausnahme von der Verbindung des Davidsohntitels mit Blindenheilungen bildet die Erzählung von der Heilung der Tochter der Kanaanäerin in Mt 15,21–28. Diese Ausnahme ist schwerlich Zufall. Das Motiv der von den Autoritäten ausgelösten „Blindheit“ ist bei Matthäus israelbezogen. Die redaktionelle Verwendung des Davidsohntitels in 15,22 in der Bitte der Kanaanäerin um Erbarmen für ihre kranke Tochter steht in einem anderen Sinnzusammenhang. Durch die Ersetzung von ਬȜȜȘȞȢ,ȈȣȡȠijȠȚȞțȚııĮIJȖȞİȚ (Mk 7,26) durch ȋĮȞĮȞĮĮ(Mt 15,22) hat Matthäus biblisches Kolorit in die Erzählung eingetragen71 und damit einen Impuls gesetzt, das Folgende vor dem Hintergrund des klassischen Gegensatzes zwischen Israel und Kanaan72 zu 69
Zur Begründung dieser Deutung s. KONRADT, Israel (s. Anm. 9), 286–288. H. FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund und Kirche Christi. Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des „Evangeliums“ nach Matthäus, NTA NF 10, Münster 21984, 318. 71 Siehe dazu ferner die Ergänzung von Tyros (Mk 7,24) durch Sidon in Mt 15,21 (vgl. Jes 23,1–18; Jer 25,22; 27,3; 47,4; Ez 26–28; Joel 4,4; Sach 9,2–4, ferner Jdt 2,28; 1Makk 5,15; EupolHist, Frgm. 2B [bei Euseb, Praep Ev IX 33,1; 34,4]). 72 Siehe Gen 9,25–27; 24,3.37; 28,1–8; Ex 23,23.28; 33,2; 34,11; Lev 18,3; Num 33,51f; Dtn 20,17; Jos 3,10; 24,11; Jdc 1,1ff; Ps 106,38; Esra 9,1 u.ö. 70
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lesen. Der mt Jesus weist die Frau beharrlich zurück.73 Erst durch ihr Argument in V.27 wird er überwunden. Matthäus lässt die kanaanäische Frau durch die Einfügung des ȞĮvor țȡȚİin V.27 dabei zunächst ausdrücklich bestätigen, dass es nicht gut ist, Israel das Heil zugunsten der ‚Heiden‘ wegzunehmen, doch falle unbeschadet der Versorgung der Kinder etwas für die Hunde ab.74 Die Frau akzeptiert also zum einen die Differenz zwischen Israel und den Völkern, verweist zum anderen aber darauf, dass das von Jesus gebrachte Heil über Israel hinausreicht. Sie antizipiert damit die Universalität der Heilszuwendung, die Jesus selbst erst nach seiner Auferstehung und Erhöhung zum Weltenherrn kundtun wird, und sie vermittelt dies in ihrem Argument zugleich mit dem heilsgeschichtlichen status quo der noch absoluten Differenz zwischen Juden und ‚Heiden. Ihr Glaube (15,28) nimmt, mit anderen Worten, das letztendliche Ziel der Sendung Jesu vorweg. Dass Matthäus in 15,22 die Frau Jesus als Herr und Sohn Davids anrufen lässt, ist hier einzustellen. In der mt Konzeption ist die Heilszuwendung zu den Völkern (28,19) nicht, wie häufig postuliert wurde, Antwort auf die vermeintlich kollektive (oder zumindest weitgehende) Ablehnung in Israel75, sondern positiv an die Israel geltende Heilszuwendung angebunden.76 Ist die in Jesu Tod und Auferstehung begründete Universalität des Heils der Zielpunkt der alle Heilsverheißungen 73 Auf die Bitte der Kanaanäerin um Hilfe für ihre dämonisch besessene Tochter reagiert Jesus zunächst gar nicht (V.22–23a), um dann das Begehren der Jünger, die Frau fortzuschicken (zu dieser Deutung von ਕʌંȜȣıȠȞĮIJȞ s. z.B. LUZ, Evangelium nach Matthäus II [s. Anm. 40], 429.434; J. NOLLAND, The Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Bletchley – Grand Rapids [MI] 2005, 633; J.H. NEYREY, Decision Making in the Early Church. The Case of the Canaanite Woman (Mt 15:21-28), ScEs 33 [1981], 373– 378: 375, anders, nämlich als Aufforderung, der Bitte der Frau zu entsprechen, S. LÉGASSE, L’épisode de la Cananéenne d’après Mt. 15,21-28, BLE 73 (1972), 21–40, 28; J.P. MEIER, Matthew 15:21–28, Interp. 40 (1986), 397–402: 398; F. WILK, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin – New York 2002, 145), mit den Worten zu erwidern, dass er allein zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt sei. Als die Frau näher gekommen ist, vor Jesus niederfällt (wie bereits zuvor in 15,22 [țȡĮȗİȞ] verwendet Matthäus in V.25 das Imperfekt [ʌȡȠıİțȞİȚ], um die Beharrlichkeit der Frau anzuzeigen), wehrt Jesus noch immer ab (V.26). 74 Im Kontext lässt sich dies durch die Speisungsgeschichte in 14,13–21 illustrieren: Nach der Speisung der 5000 bleibt mit 12 Körben voll Brot reichlich übrig (vgl. J.M.C. SCOTT, Matthew 15.21–28. A Test-Case for Jesus’ Manners, JSNT 63 [1996], 21–44: 40). Siehe auch 15,37 (dazu C.S. KEENER, A Commentary on the Gospel of Matthew, Grand Rapids [MI] – Cambridge [UK] 1999, 419). 75 Anders z.B. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 15), 92: „Das Matthäusevangelium erzählt [...], wie es dazu kam, daß der größte Teil Israels am Schluß Jesus ablehnt (vgl. 28,11–15). Die Antwort darauf ist der Befehl des Auferstandenen an die Jünger, ‚alle Völker‘ zu Jüngern zu machen (28,16–20).“ Siehe ferner z.B. J.P. MEIER, The Vision of Matthew. Christ, Church, and Morality in the First Gospel, New York – Ramsey – Toronto 1979, 180. 76 Zur ausführlichen Begründung dieser These s. KONRADT, Israel (s. Anm. 9).
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der Schrift erfüllenden Jesusgeschichte, so führt für den Evangelisten der einzige Weg zu diesem Ziel über die vorgängige Zuwendung Jesu zu Israel. Die in chronologischer Hinsicht auffallende Voranstellung von „Sohn Davids“ vor „Sohn Abrahams“ in Mt 1,1 lässt sich als Hinweis auf diesen Zusammenhang lesen: Der die Völker einschließenden Erfüllung der Abrahamverheißung geht die Erfüllung der Israel gegebenen Verheißungen durch die Zuwendung Gottes zu seinem Volk in Gestalt des davidischen Messias nicht nur ‚zeitlich‘, sondern auch sachlich voran; nur so kann sich die Abraham, dem Stammvater Israels und Vater der Proselyten (vgl. Philo, Virt 219), gegebene Verheißung erfüllen. Indem Matthäus die kanaanäische Frau von Jesus als Sohn Davids sprechen lässt (Mt 15,22), stellt er heraus, dass sie ihr Heil von Jesus als dem Messias Israels erwartet. Oder anders: Sie hat erkannt, dass Jesus als der Messias Israels und nur als dieser (!) zugleich der Heilsbringer für die Völker sein wird. Nun setzt die Präsentation des messianischen Sohn Davids im Vergleich zur Erwartung des davidischen Messias, wie sie in Qumrantexten77 und in PsSal 17 begegnet, wo der davidische Messias deutlich militärische Züge trägt78, be-
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In den Qumrantexten ist neben der auf den erwarteten davidischen Herrscher bezogenen Rede vom Messias in 4Q252 5,3 (in 4Q521 Fragm. 2 2,1 ist ein Bezug auf den davidischen Messias möglich, aber unsicher) auch auf die Rede von den „Gesalbten Aarons und Israels“ in 1QS 9,11 zu verweisen (singularisch [möglicherweise distributiv zu verstehen, vgl. Schreiber, Gesalbter {s. Anm. 8}, 202f] in CD 12,23–13,1; [14,19]; 19,10f; 20,1, s. ferner noch die Rede vom Messias [Israels] in 1QSa 2,12.14.20). Vor allem aber sind im Blick auf die Erwartung eines davidischen Messias weitere Bezeichnungen hinzuzuziehen, so zum einen die durch Jer 23,5; 33,15 inspirierte Rede vom „Spross Davids (ʣʩʥʣ ʧʮʶ)“ (4Q161 Fragm. 8–10 15.22; 4Q174 Fragm. 1i+21+2 [3,]11; 4Q252 5,3f [neben „Messias“]; 4Q285 Fragm. 5 3f, s. auch Sir 51,12h [vgl. dazu Ps 132,17] sowie Sach 3,8; 6,12; TestJuda 24,5). Zum anderen sind ausweislich des Nebeneinanders von „Spross Davids“ und „Fürst der Gemeinde (ʤʣʲʤ ʠʩˈʰ)“ in 4Q285 Fragm. 5 3f hier auch die Texte, in denen vom ʠʩˈʰ (vgl. Ez 34,24; 37,25!) die Rede ist, zu berücksichtigen (s. neben dem bereits genannten Beleg noch CD 7,20 sowie 1QSb 5,20f, wo der davidische Bezug explizit ausgeführt wäre, wenn der Textergänzung von H. STEGEMANN, Some Remarks to 1QSa, to 1QSb, and to Qumran Messianism, RdQ 17 [1996], 479–505: 499 zu folgen wäre, der für Z. 21 ʺʩʸʡʥ ʣʩ[ʥ]ʣ vorschlägt, wonach hier von der Erneuerung des Davidbundes durch Gott die Rede wäre, um die Königsherrschaft seines Volkes aufzurichten [zustimmend ZIMMERMANN, Texte {s. Anm. 8}, 53f.55; SCHREIBER, Gesalbter {s. Anm. 8}, 217f]). Zur Übersicht über die Belege s. die tabellarische Zusammenstellung bei ZIMMERMANN, Texte (s. Anm. 8), 126. 78 Das gilt auch für PsSal 17 (ebenso z.B. J.J. COLLINS, The Scepter and the Star: The Messiahs of the Dead Sea Scrolls and Other Ancient Literature, ABRL, New York u.a. 1995, 54; M.L. STRAUSS, The Davidic Messiah in Luke-Acts. The Promise and its Fulfillment in Lukan Christology, JSNTS 110, Sheffield 1995, 41f; KNIBB, Messianism [s. Anm. 8], 169; SCHREIBER, Gesalbter [s. Anm. 8], [9].170–172; PIETSCH, Sproß [s. Anm. 6], 244, anders K.E. POMYKALA, The Davidic Dynasty Tradition in Early Judaism. Its History and Significance for Messianism, EJIL 7, Atlanta [GA] 1995, 162; A. LAATO, A Star Is Rising. The
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kanntlich einen eigenen, ja eigenwilligen Akzent. In den bekannten frühjüdischen Texten zeichnet sich der davidische Messias nirgendwo durch Heilungen aus.79 Dies bedeutet allerdings nicht, dass Matthäus hier überhaupt unabhängig von atl.-frühjüdischen Traditionen konzipiert hat bzw. allein von der Verbindung der Anrufung Jesu als Davidsohn mit einer Heilung in Mk 10,46–52 inspiriert wurde. Zwar wird man der frühjüdischen Tradition von Salomo als Heiler und Exorzisten80 keinen leitenden Einfluss auf den Evangelisten zuerkennen können81, da bei Matthäus jedes spezifische Kolorit salomonischer Heilungspraktik fehlt82, doch lässt sich die Bedeutung, die das Motiv des heilenden Historical Development of the Old Testament Royal Ideology and the Rise of the Jewish Messianic Expectations, International Studies in Formative Christianity and Judaism 5, Atlanta [GA] 1997, 281f; J.H. CHARLESWORTH, Messianology in Biblical Pseudepigrapha, in: Qumran-Messianism. Studies on the Messianic Expectations in the Dead Sea Scrolls, hg. v. dems. – H. Lichtenberger – G.S. Oegema, Tübingen 1999, 21–52: 31): Der davidische Messias zermalmt ungerechte Fürsten (V.22), verstößt die Sünder vom Erbe (V.23a) und zerschlägt den Hochmut des Sünders wie des Töpfers Geschirr und all ihren Bestand mit eisernem Stab (V.23b.24a, vgl. Ps 2,9), er vernichtet gesetzlose Völker mit dem Wort seines Mundes (V.24b, ferner V.35a.36b, vgl. Jes 11,4). Siehe ferner 1QSb 5,24–29 (wiederum u.a. Rezeption von Jes 11,4 und Ps 2,9); 1QM 5,1f; 4Q161 Fragm. 8–10 23.25f; 4Q285 Fragm. 5 3f (auch hier steht Jes 11,4 im Hintergrund); Fragm. 6+4, s. auch CD 7,19–21; 4Q376 Fragm. 1 3,1–3 sowie 4Esra 12,31–34 (vgl. 13,25–38.49). – Zu Qumran s. das Resümee von ZIMMERMANN, Texte (s. Anm. 8), 94: „4Q161, 1QSb 5,20–22 und 4Q285 sind [...] wichtige Belege für die Verbindung von Jes 11 mit dem ‚Fürsten‘ als militärisch-politischem Führer in der Endzeit und in der eschatologischen Schlacht, der für die Qumran-Gemeinde zugleich der erwartete davidische König war.“ 79 Vgl. für viele BROER, Versuch (s. Anm. 11), 1261; M. KARRER, Der Gesalbte. Die Grundlagen des Christustitels, FRLANT 151, Göttingen 1991, 323; K.-W. NIEBUHR, Die Werke des eschatologischen Freudenboten (4Q521 und die Jesusüberlieferung), in: The Scriptures in the Gospels, h.g. v. C.M. Tuckett, BETL 131, Leuven 1997, 637–646: 640f. Anders jetzt CHAE, Jesus (s. Anm. 43), 292–296. 80 Siehe neben dem TestSal und den aramäischen Beschwörungstexten (dazu L.R. FISHER, “Can This Be the Son of David?”, in: Jesus and the Historian [FS E.C. Colwell], hg. v. F.T. Trotter, Philadelphia 1968, 82–97: 83–88) frühjüdisch SapSal 7,20; Josephus, Ant 8,46–49 und LAB 60,3. Vgl. zu dieser Tradition D.C. DULING, Solomon, Exorcism, and the Son of David, HTR 68 (1975), 235–252: 237–249; J.H. CHARLESWORTH, Solomon and Jesus, The Son of David in the Ante-Markan Traditions (Mk 10:47), in: Biblical and Humane (FS J.F. Priest), hg. v. L.B. Elder – D.L. Barr – E. Struthers Malbon, Atlanta (GA) 1996, 125–151: 136–143; P.A. TORIJANO, Solomon the Esoteric King. From King to Magus, Development of a Tradition, JSJ.S 73, Leiden – Boston 2002, 41–105; NOVAKOVIC, Messiah (s. Anm. 11), 97–103. 81 Ebenso z.B. COUSLAND, Crowds (s. Anm. 62), 185–187; NOVAKOVIC, Messiah (s. Anm. 11), 103–109.122f; BAXTER , Healing (s. Anm. 52), 47f; CHAE, Jesus (s. Anm. 43), 288–291. 82 Zudem begegnet die Bezeichnung des heilenden Salomo als Sohn Davids erst in TestSal 1,7; 20,1 (vgl. aber bereits 1Kön 2,46; 1Chr 29,22; 2Chr 1,1; 13,6; 30,26; 35,3; Prov 1,1; Koh 1,1; [Sir 47,12]) und dies nicht in einem titularischen Sinn. Ferner ist damit
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Davidsohns bei Matthäus gewonnen hat, gleichwohl im Kontext der Rezeption alttestamentlich-frühjüdischer Heilserwartungen verständlich machen. 83 Wie die in Mt 11,2–6 rezipierte Perikope Q 7,18–23 zeigt, war in der frühchristlichen Tradition schon vor Matthäus das heilende Wirken Jesu mit atl. Heilsverheißungen, in denen die Beseitigung physischer Gebrechen zu den Kennzeichen der Israel verheißenen Heilszeit gehört, namentlich mit Heilsverheißungen aus dem Jesajabuch (Jes [26,19]; 29,18f; 35,5f; 61,1), in Beziehung gesetzt worden.84 Zwar fehlt in den Jesajatexten ein Bezug auf die Gestalt des Messias, doch ließ sich dieser in der frühchristlichen Rezeption auf der Basis des vorausgesetzten Christusbekenntnisses ohne Weiteres eintragen. Zu beachten ist zudem, dass die Beseitigung von Krankheiten bzw. Heilung in frühjüdischen Texten zumindest vereinzelt als Kennzeichen der mit dem Auftreten des Messias verbundenen Heilszeit begegnet (2Bar [29,7]; 73,2; 4Q521 Fragm. 2 285)86. Zwischen 4Q521 und Q 7,18–23 zeigen sich dabei so enge Berührungen, dass die Annahme nahe liegt, dass 4Q521 als Zeuge einer Tradition zu lesen ist, die in Q 7,22 rezipiert ist.87 Zwar werden in 4Q521 die Heilungen nicht durch den Messias88 vollbracht89, doch gilt hier das eben zur Rezeption der zu rechnen, dass hier Einfluss der neutestamentlichen Texte vorliegt (vgl. DULING, Solomon [s. Anm.80], 243.249). – Zu beachten ist im Übrigen, dass David selbst als Psalmisten in Anknüpfung an 1Sam 16,14–23 die Fähigkeit zugeschrieben wurde, böse Geister zu vertreiben (LAB 60,2f; 11Q05 27,9f, s. dazu KARRER [s. Anm. 3], David, 337). 83 In diesem Sinne auch NOVAKOVIC, Messiah (s. Anm. 11), 124–184. Vgl. auch COUSLAND, Crowds (s. Anm. 62), 114–117. 84 Siehe dazu die synoptische Präsentation von Mt 11,5 und die angeführten Jesajastellen bei NOVAKOVIC, Messiah (s. Anm. 11), 160. 85 Als Kennzeichen paradiesischer Existenz 4Esra 7,123; 8,53. In Jub 23,30 begegnet die Heilung ebenfalls als Element endzeitlichen Heils, doch fehlt in der in Jub 23,26–31 laut werdenden Heilshoffnung das Auftreten eines Messias. 86 Vgl. NOVAKOVIC, Messiah (s. Anm. 11), 163–183 sowie auch COUSLAND, Crowds (s. Anm. 62), 115. 87 Vgl. exemplarisch J.J. COLLINS, The Works of the Messiah, DSD 1 (1994), 98–112, 107: „It is quite possible that the author of the Sayings source knew 4Q521; at the least he drew on a common tradition.“ 88 Singularisches Verständnis von ʥʤʩˇʮʬ ist Mehrheitsmeinung (s. z.B. F. GARCÍA MARTÍNEZ, Messianische Erwartungen in den Qumranschriften, JBTh 8 [1993], 171–208: 182f; R. BERGMEIER, Beobachtungen zu 4 Q 521 f 2, II, 1–13, ZDMG 145 [1995], 38–48: 39; J.J. COLLINS, Jesus, Messianism and the Dead Sea Scrolls, in: Qumran-Messianism. Studies on the Messianic Expectations in the Dead Sea Scrolls, hg. v. J.H. Charlesworth – H. Lichtenberger – G.S. Oegema, Tübingen 1998, 100–119: 114f; M.G. ABEGG – C.A. EVANS, Messianic Passages in the Dead Sea Scrolls, in: Qumran-Messianism [s.o.] 191–203: 194; NOVAKOVIC, Messiah [s. Anm. 11], 172). Pluralisch deuten dagegen z.B. M. BECKER, 4Q521 und die Gesalbten, RdQ 18 (1997), 73–96: 75–78; NIEBUHR, Werke (s. Anm. 79), 638. 89 Siehe für viele GARCÍA MARTÍNEZ, Erwartungen (s. Anm. 88), 184f; M. BECKER, 4Q521 (s. Anm. 88), 90–92. Anders akzentuieren COLLINS, Works (s. Anm. 87), 100 (da
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Jesajatexte Gesagte in analoger Weise: Das Proprium von Q 7,18–23 bzw. Mt 11,2–6, dass der Messias selbst Subjekt der Heilungen ist, resultiert daraus, dass die traditionellen Heilserwartungen im Licht der vorgegebenen Überlieferung von Jesu wundersamen Heilungen interpretiert wurden. Es bleibt also zwar dabei, dass in den bekannten frühjüdischen Schriften kein heilender Messias belegt ist, doch ist diese Vorstellung in einigen Texten dadurch, dass die messianische Heilszeit unter anderem als durch die Beseitigung von Krankheiten gekennzeichnet erscheint, zumindest angelegt. Matthäus hat den in Q 7,18–23 vorgefundenen Bezug auf alttestamentliche Verheißungstexte durch die zweimalige Einfügung von Reflexionszitaten im Anschluss an Heilungssummarien verstärkt (8,16f; 12,15–21)90, wobei es sich in beiden Fällen um Rekurse auf die Gestalt des Gottesknechts handelt. Vor allem aber ist auf die Bedeutung der Hirtenmetaphorik in der mt Darstellung Jesu als davidischer Messias zurückzukommen. In Ez 34,4 wird den schlechten Hirten vorgeworfen, dass sie das Schwache nicht stärken und das Kranke nicht heilen. Dem korrespondiert in der nachfolgenden Heilsankündigung die Zusage, dass Gott als Hirte Israels das Verwundete verbinden und das, was krank ist, stärken wird (34,16).91 Zieht man schließlich 34,23 hinzu, wo, wie gesehen, die Gestalt des davidischen Hirten – als des irdischen Repräsentanten Gottes als Hirt Israels – eingeführt wird, ist festzuhalten, dass Matthäus seine Konzeption des heilenden davidisch-messianischen Hirten auch hier in der Schrift verankert sehen konnte:92 Jesus ist der messianische Hirte Israels, der das Verlorene sucht und das, was krank ist, stärkt.
Gott als Subjekt der Verkündigung des Guten [Z.12] ungewöhnlich wäre, sei es „likely that God acts through the agency of a prophetic messiah in line 12.“) und vor allem W. LOADER, The New Dead Sea Scrolls. New Light on Messianism and the History of the Community, Coll(A) 25 (1993), 67–85: 71. 90 In 8,16f weist Matthäus Jesu heilendes Handeln als Erfüllung von Jes 53,4a aus. In 12,17–21 ist der Zusammenhang des Zitats von Jes 42,1–4 mit dem Heilungssummarium in 12,15 nicht so eindeutig, doch lässt sich V.20 im Kontext auf die Krankenheilungen beziehen. 91 Noch deutlicher tritt die Verbindung von Hirtenmotiv und Heilungen in ApokrEz, Fragm. 5 (OTP 1, p. 495) hervor. 92 Vgl. NOVAKOVIC, Messiah (s. Anm. 11), 131f; BAXTER, Healing (s. Anm. 52), 36f, der postuliert, „that Matthew’s warrant for connecting Jesus’ healing activity to the Son of David title is the Davidic Shepherd of Ezekiel 34“, sowie jetzt vor allem die monographische Studie von CHAE, Jesus (s. Anm. 43), der in Matthäus’ Rezeption der Hirtenmetaphorik den Schlüssel für das Verständnis der Verbindung von Davidsohnschaft und Heilungen sieht (5 u.ö.). – Beachtung verdient ferner, dass in Sach 10,2LXX der Verweis auf das Fehlen eines Hirten im Zusammenhang der elendigen Lage der „Schafe“ durch įȚંIJȚȠțȞĮıȚȢersetzt bzw. interpretiert ist. Vgl. CHAE, Jesus (s. Anm. 43), 77: „The translator of the LXX equates the presence of a shepherd with the possibility of healing the oppressed and sick ones.“
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4. Resümee Die militärischen Züge, die in der frühjüdischen Erwartung des davidischen Messias ein wichtiges Moment bilden, spielen in der mt Präsentation Jesu als Sohn Davids überhaupt keine Rolle. Die mt Darstellung bedeutet eine Entmilitarisierung der Gestalt des davidischen Messias und bildet in dieser Hinsicht zugleich einen Kontrast zu David, der seinen Aufstieg zum König über Juda und Israel seinen militärischen Erfolgen verdankte.93 Möglicherweise hat Matthäus mit den Heilungen im Jerusalemer Tempel in Mt 21,14f sogar gezielt Jesus und David kontrastieren wollen. Denn mit der im Evangelium singulären Zusammenstellung von Blinden und Lahmen in V.1494 dürfte Matthäus gezielt einen Kontrast zu 2Sam 5,6–8 gesetzt haben:95 Als David mit seinen Leuten Jerusalem von den Jebusitern erobern will, wird ihm bedeutet, dass ihn (sogar) die Blinden und Lahmen abwehren würden. David fordert daraufhin dazu auf, die Lahmen und Blinden, die ihm verhasst sind, zu erschlagen, und am Ende heißt es: „Daher sagt man: Kein Blinder und kein Lahmer darf ins Haus kommen!“ (2Sam 5,8). Jesus hingegen heilt im Tempel die Blinden und Lahmen. Es wäre jedoch grundlegend verkehrt, die mt Präsentation Jesu als des davidischen Messias allein auf einen Kontrast zu atl.-frühjüdischen Modellen zu fixieren. Matthäus’ Christologie ist in ihrem Zentrum durch die Zuordnung von Davids- und Gottessohnschaft Jesu gekennzeichnet, mit der der Evangelist alttestamentliche Aussagen über die Gottessohnschaft des davidischen Königs in modifizierter Gestalt aufnimmt. Ferner bewegt sich Matthäus mit der Israelbezogenheit des Wirkens des davidischen Messias in traditionellen Bahnen: Mit der Präsentation Jesu als des davidischen Messias ist die dezidierte Betonung seiner Zuwendung zu Israel und die Erfüllung der dem Gottesvolk gemachten Heilszusage verbunden – nur geschieht diese eben nicht durch die Unterwerfung der Völker im militärischen Sinn. Vor allem aber zeichnet sich die mt Darstellung Jesu als heilender davidisch-messianischer Hirte durch einen intensiven Dialog mit der Schrift aus. Neben der Rezeption jesajanischer Heilsverheißungen war insbesondere auf Bezüge auf Ez 34 zu verweisen, aber auch das – verkürzte – Zitat aus Sach 9,9 in Mt 21,5, mit dem Matthäus Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem als sanftmütigen König präsentiert, ist hier einzustellen. Es ergibt sich also ein differenzierter Befund, der sich anhand des Zitates in Mt 2,6 exemplarisch veranschaulichen lässt. Matthäus greift mit ıIJȚȢ 93 Siehe dazu die konzise Darstellung von Davids Aufstieg und Herrschaft in DIETRICH, David (s. Anm. 1), 130–180. 94 Blinde und Lahme werden zwar auch in Mt 11,5; 15,30.31 unter den Geheilten erwähnt, dort aber jeweils zusammen mit weiteren Kranken. 95 Vgl. PAFFENROTH, Jesus (s. Anm. 65), 553; R. DEINES, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2005, 492, Anm. 105 u.a.
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ʌȠȚȝĮȞİIJઁȞȜĮંȞȝȠȣIJઁȞıȡĮȜzwar 2Sam 5,2 auf, wo das militärische Wirken Davids den Kontext der Aussage bildet – die Stämme Israels sagen zu David: „Schon damals, als Saul König war über uns, bist du es gewesen, der Israel hinausgeführt und wieder zurückgeführt hat“. Aber er übergeht in seiner Rezeption des Verses dessen militärische Dimension und füllt die Bedeutung des Weidens im Dialog mit einem Text wie Ez 34: Jesus weidet sein Volk Israel, indem er die Verlorenen sucht und die Kranken heilt. Bezieht man den zeitgeschichtlichen Kontext ein, gewinnt die Präsentation Jesu als des gewaltlosen, sanftmütigen messianischen Hirten aus dem Hause Davids angesichts des gescheiterten Aufstandes gegen Rom 66–70 n.Chr., der in der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems endete, noch an Profil.96 Denn mit dem Scheitern des Aufstandes verlor zugleich die Hoffnung auf einen messianischen König, der Israel von der Fremdherrschaft befreit, an Plausibilität. Matthäus’ Präsentation Jesu als des davidischen Messias weist in diesem Kontext einen alternativen Weg: Die Hoffnung auf den davidischen Messias ist nicht gescheitert, sie hat sich in Jesus längst erfüllt, freilich anders als in einem politisch-militärischen Sinne.
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Vgl. dazu THEISSEN, Davidssohn (s. Anm. 14), 158.163f.
„Ihr wisst nicht, was ihr erbittet“ (Mt 20,22) Die Zebedaidenbitte in Mt 20,20f und die königliche Messianologie im Matthäusevangelium Matthäus’ Version der Bitte der beiden Zebedäussöhne Jakobus und Johannes (Mt 20,21) weist gegenüber der markinischen Vorlage (Mk 10,36) eine Reihe kleinerer Abweichungen auf. Unter anderem wird ਥȞ IJૌ įંȟૉ ıȠȣ als Referenzgröße des Sitzens zur Rechten und zur Linken von Matthäus durch ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ ıȠȣ ersetzt. In den Kommentaren wird diese Differenz häufig eher notiert als interpretiert oder es wird konstatiert, dass mit dieser Änderung keine gewichtige semantische Differenz verbunden sei.1 Demgegenüber möchten die folgenden Ausführungen aufweisen, dass die matthäische Version der Zebedaidenbitte sich nicht nur signifikant von der markinischen Fassung unterscheidet, sondern darüber hinaus auch in einen für Matthäus wichtigen übergreifenden christologischen Zusammenhang eingebettet ist, in dem es um die Charakterisierung des Königtums des Messias Jesus geht.2 In einem ersten Schritt ist zunächst das royale Kolorit, das Matthäus der Szene in 20,20f verliehen hat, darzulegen. Dieses Charakteristikum von 20,20f ist sodann in einen umfassenderen Zusammenhang einzuzeichnen, indem zweitens die Bedeutung des Königtums Jesu in der matthäischen Christologie skizziert wird. Der dritte Abschnitt verfolgt die Frage der Anbindung von 20,20f an den vorangehenden Kontext. Dazu ist zum einen Jesu Rede von der ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes (13,41; 16,28) als Hintergrund von 20,21 zu erörtern, zum anderen die Anbindung der Bitte an 19,28 zu bedenken und schließlich
1
Siehe z.B. W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 3, ICC, Edinburgh 1997, 88: „correct interpretation of Mark“. D.A. HAGNER, Matthew 14–28, WBC 33B, Dallas (TX) 1995, 578 sieht in ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ ıȠȣ lediglich „the more Jewish expression“. Vgl. ferner z.B. D.J. HARRINGTON, The Gospel of Matthew, SaPaSe 1, Collegeville (MN) 1991, 287: „Both expression refer to life in God’s kingdom.“ 2 Meine Deutung von Mt 20,20f habe ich in knapper Form in meinem Kommentar zum Matthäusevangelium (M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 314f) dargelegt. Der hier vorgelegte Beitrag verfolgt nicht nur das Ziel, die Interpretation ausführlicher zu begründen, sondern dient vor allem auch dazu, diese in den größeren Zusammenhang matthäischer Christologie einzubetten und vor dem Hintergrund der matthäischen Kommunikationssituation zu konturieren.
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„Ihr wisst nicht, was ihr erbittet“ (Mt 20,22)
der Zusammenhang mit der unmittelbar vorangehenden Ankündigung Jesu in 20,17–19 zu berücksichtigen. Auf dieser Basis kann dann viertens der Gehalt der Bitte in 20,21 und ihrer Zurückweisung in 20,22f analysiert werden. Der Schlussabschnitt bündelt die Ergebnisse.
1. Die matthäische Gestaltung der Szene in 20,20f Anders als in Mk 10,35–37 wird die Bitte nicht von den beiden Zebedaiden selbst, sondern von deren Mutter geäußert, die sich, wie Mt 27,56 bestätigt, mit in dem Tross befindet, der mit Jesus nach Jerusalem hinaufzieht (20,17). Ihr Herzutreten zu Jesus geschieht deutlich respektvoller als das der beiden Brüder in der markinischen Fassung. Während diese sich in Mk 10,35 in einem geradezu fordernden Ton an Jesus wenden: „Lehrer, wir wollen, dass du (für) uns tust, um was wir dich bitten werden“, fällt die Mutter vor Jesus nieder (ʌȡȠıțȣȞȠ૨ıĮ) – und schweigt zunächst. Im Unterschied zu den beiden synoptischen Seitenreferenten ist die Proskynese vor Jesus bei Matthäus ein gewichtiges Motiv. Markus gebraucht das Verb ʌȡȠıțȣȞİȞ nur in 5,6 für das Niederfallen des besessenen Geraseners vor Jesus sowie in der Verspottungsszene in 15,19.3 Lukas reserviert das Motiv für die Begegnung mit dem Auferstandenen vor dessen Himmelfahrt in 24,52.4 Proskynese vor dem auferstandenen Herrn begegnet bei Matthäus sowohl in der Notiz über die Begegnung Jesu mit den Frauen am Grab (28,9) als auch in der Erzählung von der Erscheinung Jesu vor den elf Jüngern (28,17). Im ersten Evangelium findet sich das Motiv darüber hinaus aber bereits in der Kindheitsgeschichte in der Erzählung von den Magiern aus dem Osten: Sie kommen nach Jerusalem, um Jesus zu huldigen (ਵȜșȠȝİȞ ʌȡȠıțȣȞોıĮȚ ĮIJ, 2,2); 2,11 berichtet die Durchführung: „Sie fielen nieder, huldigten ihm (ʌİıંȞIJİȢ ʌȡȠıİțȞȘıĮȞ ĮIJ) und öffneten ihre Schatzkästen …“ (vgl. ferner 2,8). Mehrfach hat Matthäus zudem bei Markus begegnende Beschreibungen des An beiden Stellen hat Matthäus redigiert und ʌȡȠıțȣȞİȞ ausgelassen. Zu Mk 5,6 kann man auf die extreme Straffung der markinischen Einleitung der Episode in Mk 5,2–6 in Mt 8,28b verweisen, doch ist darüber hinaus zu erwägen, dass Matthäus den Bezug des Proskynesemotivs auf einen Besessenen als unpassend empfunden hat. In der Verspottungsszene hat Matthäus das Motiv des Niederfallens vor Jesus nicht nur vor die Spottworte gestellt, sondern auch Markus’ IJȚșȞIJİȢ IJ ȖંȞĮIJĮ ʌȡȠıİțȞȠȣȞ ĮIJ (Mk 15,19) zu ȖȠȞȣʌİIJıĮȞIJİȢ ȝʌȡȠıșİȞ ĮIJȠ૨ verkürzt (Mt 27,29). Vielleicht wollte Matthäus die Rede von der Proskynese vor Jesus für echte Huldigungen Jesu reservieren. īȠȞȣʌİIJİȞ wird allerdings in 17,14, dem einzigen weiteren Vorkommen des Verbs im Matthäusevangelium, positiv und in Analogie zur Verwendung von ʌȡȠıțȣȞİȞ mit Bezug auf Menschen, die Jesus um Heilung ersuchen, gebraucht. 4 ȆȡȠıțȣȞİȞ begegnet im Lukasevangelium ansonsten nur noch in 4,7.8, doch geht es hier in der Versuchung Jesu durch den Teufel nicht um Proskynese vor Jesus. 3
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Verhaltens von Hilfesuchenden, die vor Jesus niederfallen, durch den Gebrauch von ʌȡȠıțȣȞİȞ interpretiert und damit die Jesus entgegengebrachte Ehrerbietung betont (Mt 8,2 par Mk 1,40; Mt 9,18 par Mk 5,22; Mt 15,25 par Mk 7,25)5, die sich in anderer Weise bei Matthäus auch darin dokumentiert, dass nicht nur die Jünger6, sondern auch Hilfesuchende Jesus mit țȡȚİ anreden.7 In 15,25 kommt hinzu, dass die Kanaanäerin Jesus zuvor auch als den (messianischen) Sohn Davids adressiert hat (15,22). Nicht zuletzt ist ferner das Gottessohnbekenntnis der Jünger in 14,33 mit dem Akt der Proskynese verbunden. Die Huldigung der Magier in 2,2.11 gilt explizit Jesus als dem „König der Juden“. Analog dazu meint auch die Proskynese der Zebedaidenmutter in 20,20 nicht bloß ein Niederfallen vor Jesus, sondern sie ist im vollen Sinne als ein Huldigungsgestus, wie er sich einem König gegenüber gebührt, zu werten. Ihr Schweigen unterstreicht ihre ehrfurchtsvolle Haltung. Sie muss von Jesus dazu aufgefordert werden, ihre Bitte vorzutragen. Jesu kurze Frage IJ șȜİȚȢ; steht damit in einem deutlich anderen Kontext als ihr Pendant in Mk 10,36 nach der Initiative der beiden Brüder mit ihrer offensiv-fordernden Haltung (Mk 10,35); im Kontext von V.20 eignet IJ șȜİȚȢ; ein geradezu königlicher Klang.8 Dem royalen Kolorit der Szene fügt sich schließlich ein, dass sich die Bitte der Mutter der Zebedaiden, wie eingangs ausgeführt, auf das Sitzen ihrer Söhne zur Rechten und Linken in Jesu Königreich richtet.9 Die auffällige Einfügung der – namenlos bleibenden – Mutter als Bittstellerin dient schwerlich dazu, die Jünger zu entlasten.10 Jakobus und Johannes sind vielmehr auch bei 5
Zur Auslassung der ‚Proskynese‘ des besessenen Geraseners (Mk 5,6) s. oben Anm. 3. Siehe Mt 8,21.25; 14,28.30; 16,22; 17,4; 18,21; 26,22. 7 Siehe Mt 8,2.6.8; 9,28; 15,22.25.27; 17,15; 20,30.31.33. Im Markusevangelium begegnet die Anrede Jesu mit țȡȚİ hingegen allein in 7,28. – Zum Kyrios-Titel im Matthäusevangelium s. I. BROER, Versuch zur Christologie des ersten Evangeliums, in: The Four Gospels 1992, Vol. 2 (FS F. Neirynck), hg. v. F. v. Segbroek u.a., BETL 100, Leuven 1992, 1251– 1282: 1267–1270. 8 Vgl. J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 2, HThKNT 1.2, Freiburg – Basel – Wien 21992, 188 sowie DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 88: „the counter-question to one bowed before him makes Jesus sound like a king“ (mit Verweis auf die Frage des Königs an Esther in Est 5,3: ȉ șȜİȚȢ). 9 Zum Sitzen zur Rechten und zur Linken eines Königs vgl. Josephus, Ant 6,235. 10 Die These, Matthäus wolle die Jünger entlasten, gehört geradezu zu den Standardbemerkungen in den Kommentaren. Siehe z.B. E. KLOSTERMANN, Das Matthäusevangelium, HNT 4, Tübingen 21927, 163; J. SCHMID, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 5 1965, 295; E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 4[16]1986, 259; A. SAND, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 1986, 406; HARRINGTON, Gospel of Matthew (s. Anm. 1), 286.288; U. LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK, Zürich 1993, 222; R.H. GUNDRY, Matthew. A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, Grand Rapids (MI) 21994, 401; HAGNER, Matthew 14–28 (s. Anm. 1), 578; J.A. OVERMAN, Church and Community in Crisis. The Gospel According to 6
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Matthäus Teil der Szenerie, denn ihre Mutter tritt nach V.20 ȝİIJ IJȞ ȣੂȞ ĮIJોȢ an Jesus heran. Zudem richtet sich Jesu Replik in V.22 an die Jünger, und Jesus macht sie als eigentliches Subjekt der Bitte namhaft: ȅț ȠįĮIJİ IJ ĮੁIJİıșİ. Im Lichte von V.22f ist die Mutter also lediglich das Sprachrohr ihrer Söhne. Von einer Entlastung der Jünger im Vergleich zu Mk 10,35–37 kann man daher nur insofern sprechen, als Matthäus ihr forsches Auftreten gestrichen hat. Der Grund für die Konstellation in V.20 ist nicht sicher auszumachen. Vielleicht wollte Matthäus insinuieren, dass die Jünger – nach der Rede in Mt 18 – ahnten, dass Jesus ihr Ansinnen als unangemessen abweisen würde. Dennoch wollen sie den Versuch nicht unterlassen, schicken aber aus Furcht, wie Petrus in 16,22f gemaßregelt zu werden, ihre Mutter vor, doch durchschaut Jesus das Manöver und wendet sich daher in seiner Antwort in V.22 von der Mutter ab und ihren Söhnen zu. Alternativ kann man erwägen, dass Matthäus eine (Kontrast-)Analogie zur Kanaanäerin in 15,21–28 schaffen wollte.11 Von beiden Frauen heißt es, dass sie vor Jesus niederfielen; beide bitten für ihre Kinder, doch wird der Kanaanäerin ihre Bitte am Ende gewährt, während die Bitte der Zebedaidenmutter, da sie unangemessen ist, nicht erfüllt werden kann. Nicht zuletzt besteht die Option, dass Matthäus die Intervention Batsebas für die Herrscherwürde ihres Sohnes Salomo in 1Kön 1,15–21 vor Augen stand.12 Auch in dieser Szene begegnet das Motiv der Proskynese: Batseba warf sich vor dem König nieder (V.16, LXX: ʌȡȠıİțȞȘıİȞ). Wie die Zebedaidenmutter schweigt auch Batseba zunächst. Davids Worte IJ ਥıIJȞ ıȠȚ (V.16) finden in Mt 20,21 ihr Pendant in Jesu Frage IJ șȜİȚȢ. Intendierte Matthäus mit der Einfügung der Zebedaidenmutter eine Anspielung auf 1Kön 1,15–21, würde diese intertextuelle Referenz das royale Kolorit von Mt 20,20f noch verstärken.13
Die in 20,20f ansichtig werdende Tendenz steht im Matthäusevangelium keineswegs für sich; sie ist vielmehr darin eingebettet, dass Matthäus royales Kolorit in seiner Darstellung Jesu als Messias insgesamt alles andere als fremd ist.14 Bevor näher analysiert wird, worauf genau die Bitte in 20,21 gerichtet ist, ist daher zunächst die königliche Dimension in der matthäischen Christologie zu erörtern. Zugleich untermauert umgekehrt dieser größere christologische Zusammenhang die These, dass Matthäus die Szene in 20,20f gezielt mit der Aura einer an einen König gerichteten Bitte umgeben hat.
Matthew, The New Testament in Context, Valley Forge (PA) 1996, 287; C.A. EVANS, Matthew, NCBiC, Cambridge (UK) – New York 2012, 353. Kritisch zu dieser These aber DAVIES/A LLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 86f sowie auch U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 3.: Mt 18–25, EKK 1.3, Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1997, 160f. 11 Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 87 sowie C.S. KEENER, A Commentary on the Gospel of Matthew, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) 1999, 485. 12 Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 87. 13 Noch anders sucht R.T. FRANCE, The Gospel of Matthew, NICNT, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) 2007, 756 die Einfügung der Zebedaidenmutter zu erklären: Matthäus biete „a reminiscence that this was in fact how the request was presented.“ 14 Vgl. D.J. VERSEPUT, The Davidic Messiah and Matthew’s Jewish Christianity, SBLSP 34 (1995), 102–116; D.R. BAUER, The Kingship of Jesus in the Matthean Infancy Narrative: A Literary Analysis, CBQ 57 (1995), 306–323 (bes. zu 1,18–2,23).
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2. Jesus als König im Matthäusevangelium Matthäus’ Christologie ist in ihrem Zentrum dadurch bestimmt, dass der Christustitel durch das differenzierte Zusammenspiel von Davidsohnschaft und Gottessohnschaft Jesu entfaltet wird.15 Die Betonung der davidischen Messianität Jesu, die sich, ohne darin aufzugehen, allem voran in der gegenüber Markus deutlich vermehrten Verwendung des Titels ‚Sohn Davids‘ manifestiert16, korrespondiert dabei mit der Konzentration des irdischen Wirkens Jesu auf Israel in der matthäischen Erzählkonzeption, worin sich die israelbezogene Ausrichtung der Heilshoffnung im Rahmen der frühjüdischen Erwartung eines davidischen Messias spiegelt. Mit der engen Verbindung des Davidsohntitels mit Jesu heilendem Wirken17 und dem gleichzeitigen – angesichts der historischen Grundlagen zwingenden – Fehlen aller militärischen Züge hat Matthäus seiner 15 Da ich dies anderorts ausführlich entfaltet habe (s. M. KONRADT, Israel, Church, and the Gentiles in the Gospel of Matthew, BMSEC 2, Waco [TX] 2014, 18–49.282–311, in geraffter Form KONRADT, Evangelium nach Matthäus [s. Anm. 2], 5–11), kann ich mich im Folgenden auf den Aufweis der königlichen Züge in der Darstellung Jesu konzentrieren. 16 Siehe Mt 1,1; 9,27; 12,23; 15,22; 20,30.31; 21,9.15; (22,42). Bei Markus begegnet „Sohn Davids“ hingegen allein in 10,47.48 sowie in 12,35(–37), wo die Davidsohnschaft des Messias zudem christologisch marginalisiert bzw. als adäquate Bezeichnung Jesu in Frage gestellt wird (vgl. z.B. M. KARRER, Von David zu Christus, in: König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. 19. Kolloquium [2000] der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. v. W. Dietrich – H. Herkommer, Freiburg [Schweiz] – Stuttgart 2003, 327–365: 344f). Matthäus hat Mk 12,35–37 in Mt 22,41–46 in dieser Hinsicht grundlegend umgestaltet (s. dazu KONRADT, Israel [s. Anm. 15], 29–31). 17 Der Davidsohntitel begegnet zum einen mehrfach im Kontext von Heilungen im Munde von Bittstellern (Mt 9,27; 15,22; 20,30.31 [par Mk 10,47.48]). Zum anderen keimt in der matthäischen Darstellung unter den Volksmengen aufgrund des heilendes Wirkens Jesu die Erkenntnis, dass dieser der Sohn Davids sei (Mt 12,22f). Die Akklamationen Jesu als Sohn Davids in 21,9 und 21,15 fügen sich hier ein, denn sie stehen ebenfalls im direkten Zusammenhang mit Jesu heilendem Wirken (20,29–34; 21,14). Drittens blickt die Rede von den „Werken des Christus“ in 11,2 in erster Linie auf Jesu heilendes Wirken zurück (vgl. 11,5), und der Christustitel ist hier im Sinne der davidischen Messianität Jesu bestimmt (s. dazu U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 2 : Mt 8–17, EKK 1.2, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1990, 167; D.J. VERSEPUT, The Role and Meaning of the ‘Son of God’ Title in Matthew’s Gospel, NTS 33 [1987], 532–556: 535; KONRADT, Israel [s. Anm. 15], 53). – Zum davidischen Messias als Heiler im Matthäusevangelium s. D.C. DULING, The Therapeutic Son of David. An Element in Matthew’s Christological Apologetic, NTS 24 (1978), 392–410; K. PAFFENROTH, Jesus as Anointed and Healing Son of David in the Gospel of Matthew, Bib. 80 (1999), 547–554: 551–554; J.R.C. COUSLAND, The Crowds in the Gospel of Matthew, NT.S 102, Leiden – Boston – Köln 2002, 184–191; L. NOVAKOVIC, Messiah, the Healer of the Sick. A Study of Jesus as the Son of David in the Gospel of Matthew, WUNT II.170, Tübingen 2003; Y.S. CHAE, Jesus as the Eschatological Davidic Shepherd. Studies in the Old Testament, Second Temple Judaism, and in the Gospel of Matthew, WUNT II.216, Tübingen 2006, 279–324.
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Präsentation Jesu als des davidischen Messias zugleich ein sehr eigenes Gepräge gegeben.18 Damit ist aber keineswegs eine Ausklammerung königlicher Züge verbunden. Vielmehr findet der schon in der Überschrift in 1,119 eingeführte Davidsohntitel bereits im nachfolgenden Stammbaum (1,2–17) eine erste Entfaltung, die das – im traditionsgeschichtlichen Kontext jüdischer Messianologie zu erwartende – royale Kolorit in der Präsentation Jesu als davidischer Messias zum Vorschein kommen lässt, denn anders als Lk 3,23–38 führt Matthäus den Stammbaum über die königliche Linie der Nachfahren Davids. David selbst wird dabei, indem nur bei ihm der Königstitel hinzugesetzt wird (1,6), besonders hervorgehoben. Der einzige weitere Titel im Stammbaum ist die Bezeichnung Jesu als Christus in 1,16.17.20 Ganz im Sinne der appositionellen Näherbestimmung Jesu Christi durch „Sohn Davids“ in 1,1 wird damit ein Bogen von David, dem König, zu Jesus, dem Messias, geschlagen, so dass schon hier angedeutet wird: Jesus ist der königliche davidische Messias. Die königliche Dimension der Davidsohnschaft Jesu wird ferner sogleich durch die Magiererzählung in Mt 2,1–12 vertieft, in der Matthäus die Magier nach dem „geborenen König der Juden“ fragen lässt und damit, wie gesehen, gleich das erste Vorkommen des Proskynesemotivs mit Jesu königlicher Würde verbindet (V.2). In seiner Konsultation mit den Hohepriestern und Schriftgelehrten variiert Herodes die Frage der Magier – sachlich völlig richtig – zur Frage nach dem Geburtsort des Messias (V.4). Die Antwort der jüdischen Autoritäten lässt mit dem Mischzitat aus Mi 5,1; 2Sam 5,2 zudem wiederum 18 Zur Erwartung eines königlichen Messias s. vor allem S. SCHREIBER, Gesalbter und König. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung in frühjüdischen und urchristlichen Schriften, BZNW 105, Berlin – New York 2000, ferner z.B. K.E. POMYKALA, The Davidic Dynasty Tradition in Early Judaism. Its History and Significance for Messianism, SBLEJL 7, Atlanta (GA) 1995, bes. 159–264; A. LAATO, A Star Is Rising. The Historical Development of the Old Testament Royal Ideology and the Rise of the Jewish Messianic Expectations, International Studies in Formative Christianity and Judaism 5, Atlanta (GA) 1997, bes. 279–289.294–299. – Zur Besonderheit der matthäischen Konzeption des davidischen Messias als eines heilenden Messias s. in diesem Band den Beitrag „Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie“, 161–168. 19 Zur Frage, ob Mt 1,1 Überschrift nur über den Stammbaum (1,2–17) bzw. über Mt 1, über den gesamten Prolog (1,1–4,16) oder das ganze Evangelium ist, s. die Diskussion bei U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 149–154; W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 149–154; M. MAYORDOMO-MARÍN, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1–2, FRLANT 180, Göttingen 1998, 208–213. 20 Vgl. exemplarisch H. FRANKEMÖLLE, Matthäus. Kommentar, Bd. 1, Düsseldorf 1994, 139; F. SCHNIDER – W. STENGER, Die Frauen im Stammbaum Jesu nach Mattäus. Strukturale Beobachtungen zu Mt 1,1–17, BZ NF 23 (1979), 187–196: 189(f) sowie R. DEINES, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2005, 470f.
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den Bezug auf David einfließen: Wie nach 2Sam 5,2 einst David von Gott zum Herrscher in Israel bestimmt wurde, so ist es nun die Aufgabe des königlichen davidischen Messias21, Gottes Volk Israel zu weiden.22 Herodes’ Versuch, den messianischen König zu ermorden (2,7f.13–18), wie auch das Erschrecken ganz Jerusalems (2,3) machen dabei deutlich, dass dem Königtum Jesu von den Handlungsfiguren eine politische Dimension beigemessen wird, die das etablierte Machtgefüge in Frage stellt.23 Betrachtet man dies im Lichte der konkreten politischen Ausrichtung frühjüdischer königlicher Messiaserwartung24, kann dieser Zug der Erzählung nicht überraschen. Die in Mt 1–2 eingeführte königliche Signatur der matthäischen Christologie wird sodann in den Jerusalemkapiteln aufgenommen und weitergeführt, und zwar nicht erst im Gefolge von Mk 15 in der Passionsgeschichte, sondern schon in der Einzugserzählung in Mt 21,1–17. Dabei zeigt sich ein im Ganzen 21 In der recht freien Wiedergabe von Mi 5,1 fällt unter anderem auf, dass != : 6 (MT) bzw. ȠੇțȠȢ IJȠ૨ ǼijȡĮșĮ (LXX) durch Ȗો ȠįĮ ersetzt ist. In Mt 2,1 schrieb Matthäus noch ǺȘșȜİȝ IJ߱Ȣ ݯȠȣįĮަĮȢ. Die Wahl der Wendung Ȗો ȠįĮ lässt sich am besten als Verweis auf Juda (vgl. Mt 1,2f) und damit auf den Vorfahren des Königsstammes verstehen, um das Königtum Jesu hervorzuheben (vgl. GUNDRY, Matthew [s. Anm. 10], 29; BAUER, Kingship [s. Anm. 14], 313). 22 Zu ʌȠȚȝĮȞİȚȞ als Herrschaftsmetapher mit Bezug auf den messianischen Davidsohn vgl. PsSal 17,40. – Ausführlicher zu Mt 2,6 in diesem Band in dem Beitrag „Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie“, 151–160. 23 Matthäus spielt dabei in Mt 2 subtil mit dem Königstitel, denn zum einen wird in V.1.3.9 auch Herodes als König bezeichnet (vgl. für viele BAUER, Kingship [s. Anm. 14], 308; D.J. WEAVER, Power and Powerlessness: Matthew’s Use of Irony in the Portrayal of Political Leaders, in: Treasures New and Old. Recent Contributions to Matthean Studies, hg. v. D.R. Bauer – M.A. Powell, SBLSymS 1, Atlanta [GA] 1996, 179–196: 182–187), womit das von Herodes wahrgenommene Konkurrenzverhältnis klar bestimmt ist. Zum anderen wird der Königstitel bei Herodes nicht mehr gesetzt, nachdem die Magier Jesus in V.11 gehuldigt haben (s. 2,12.13.15.16.19.22). Das ist kaum Zufall, sondern soll vermutlich andeuten, dass es nunmehr allein Jesus gebührt, König Israels zu sein (vgl. dazu B.M. NOLAN, The Royal Son of God. The Christology of Mt 1–2 in the Setting of the Gospel, OBO 23, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1979, 39). 24 Siehe z.B. PsSal 17 und 4Q161 Fragm. 8–10 15–19. Zu PsSal 17 vgl. G.L. DAVENPORT, The ‘Anointed of the Lord’ in Psalms of Salomon 17, in: Ideal Figures in Ancient Judaism. Profiles and Paradigms, hg. v. J.J. Collins – G.W.E. Nickelsburg, SBLSCS 12, Chico (CA) 1980, 67–92; S.H. BRANDENBURGER, Der „Gesalbte des Herrn“ in Psalm Salomo 17, in: Wenn drei das Gleiche sagen – Studien zu den ersten drei Evangelien, hg. v. S.H. Brandenburger – T. Hiecke, Theologie 14, Münster 1998, 217–236; SCHREIBER, Gesalbter (s. Anm. 18), 161–184; D. ZACHARIAS, The Son of David in Psalms of Salomon 17, in: “Non-Canonical” Religious Texts in Early Judaism and Early Christianity, hg. v. L.M. McDonald – J.H. Charlesworth, Jewish and Christian Texts in Context and Related Studies Series 14, London – New York 2012, 73–87, zu 4Q161 bes. J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran. Königliche, priesterliche und prophetische Messiasvorstellungen in den Schriftfunden von Qumran, WUNT II.104, Tübingen 1998, 59–71.
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stimmiger Zusammenhang zwischen der Einschaltung des Schriftworts in V.4f zum einen und der Umgestaltung des Hosannarufes aus Mk 11,9f in Mt 21,9 sowie der Anfügung von V.10f zum anderen. Das Schriftzitat in V.4f basiert hauptsächlich auf Sach 9,9: Mit Jesu Einzug in Jerusalem erfüllt sich, dass der Israel verheißene sanftmütige König zur Tochter Zion kommt. Matthäus hat aber die Einleitung von Sach 9,9 durch Worte aus Jes 62,11 ersetzt. Denn das Kommen des sanftmütigen Königs ist für Jerusalem gerade kein Anlass sich zu freuen, wie Mt 21,9–11 ausführt. Matthäus hat hier Mk 11,9f – unter anderem durch die Einfügung der ȤȜȠȚ als Subjekt und die Ergänzung des Hosannarufes um IJ ȣੂ ǻĮȣį – so umgestaltet, dass die Volksmengen Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem förmlich als Sohn Davids akklamieren. V.10 macht sodann deutlich, dass Matthäus unter den ȤȜȠȚ nicht Bewohner Jerusalems versteht, die Jesus freudig begrüßen, sondern Festpilger, die mit Jesus in die Stadt kommen. Ganz Jerusalem erbebt hingegen angesichts der Worte der Volksmengen. Durch die Voranstellung von İʌĮIJİ IJૌ șȣȖĮIJȡ ȈȚઆȞ aus Jes 62,11 vor das Zitat aus Sach 9,9 bildet die Szene in V.9–11 exakt ab, was nach der Schrift angekündigt ist: Der Tochter Zion wird von den Volksmengen das Kommen ihres Königs angesagt.25 Mit der Notiz, dass die ganze Stadt erbebte, ist ein deutlicher Rückverweis auf 2,3 gesetzt:26 Hier wie dort gerät die Stadt angesichts der Kunde vom Kommen des davidischen Messiaskönigs in Aufruhr. Wiederum wird damit die politische Dimension ansichtig, die sich in der Erwartung Israels mit dem Kommen des davidischen Messias verbindet: Die Stadt ist in Unruhe versetzt, weil – analog zur Reaktion von Herodes – mit einem Konflikt mit dem Establishment zu rechnen ist. Mit der in V.12–17 nachfolgenden Tempelszene, in der Matthäus die ‚Tempelreinigung‘ um V.14–17 erweitert hat, deutet sich ebendies denn auch sogleich an: Die Hohepriester schreiten nicht schon gegen Jesu ‚Reinigung‘ des Tempels ein, sondern erst, als Kinder im Tempel den Ruf der Volksmengen „Hosanna dem Sohn Davids“ aufnehmen (V.15f). Es ist also „the status of the Davidic Messiah-king that others ascribe to Jesus that forms the context of the authorities’ hostile attitude“.27 25 Vgl. unter anderen N. LOHFINK, Der Messiaskönig und seine Armen kommen zum Zion. Beobachtungen zu Mt 21,1–17, in: Studien zum Matthäusevangelium (FS W. Pesch), hg. v. L. Schenke, Stuttgart 1988, 179–200: 188f; D.J. VERSEPUT, Jesus’ Pilgrimage to Jerusalem and Encounter in the Temple: A Geographical Motif in Matthew’s Gospel, NT 36 (1994), 105–121: 116; W.J.C. WEREN, Jesus’ Entry into Jerusalem. Mt 21,1-17 in the Light of the Hebrew Bible and the Septuagint, in: The Scriptures in the Gospels, hg. v. C.M. Tuckett, BETL 131, Leuven 1997, 117–141: 125. 26 Zu den Bezügen zwischen Mt 2 und Mt 21 s. in diesem Band in dem Beitrag „Die Deutung der Zerstörung Jerusalems im Matthäusevangelium“ die Übersicht auf den S. 224– 226. 27 KONRADT, Israel (s. Anm. 15), 124. Vgl. dazu VERSEPUT, Role (s. Anm. 17), 535f; G.N. STANTON, Matthew’s Christology and the Parting of the Ways, in: Jews and Christians.
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Zieht man schließlich die Passionsgeschichte hinzu, so ist die die Erwartung des davidischen Messiaskönigs bestimmende politische Dimension offenkundig. Der Prozess gegen Jesus vor dem Hohen Rat gipfelt in 26,63–66 darin, dass Jesus vom Hohepriester auf der Basis des Vollmachtsanspruchs, der in dem als Zeugnis gegen ihn vorgebrachten Tempellogion28 zum Ausdruck kommt, bedrängt wird, sich zu erklären, ob er „der Christus, der Sohn Gottes“29 sei, und Jesu indirekte Bejahung sowie seine sich anschließende Ankündigung, dass sie den Menschensohn „von jetzt an sitzen sehen zur Rechten der Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels“ (26,64) als Anlass genommen werden, Jesus der Gotteslästerung zu bezichtigen. Pilatus’ Frage an Jesus in 27,11, ob er der König der Juden sei, lässt dann deutlich werden, dass die jüdischen Autoritäten bei der Auslieferung Jesu an Pilatus natürlich nicht die vermeintliche Blasphemie Jesu, sondern seinen Messiasanspruch anführten und diesen zudem, um ihre Erfolgsaussichten zu erhöhen, als einen politischen Anspruch darstellten, der in Opposition zur römischen Herrschaft steht: Jesus strebe das Königtum über Israel an.30 Jesu indirekte Antwort mit „Du sagst es“, die nicht abstreitet, sondern im Grundsatz bejahend ist31 (vgl. 26,25.64), aber die Frage zu Pilatus ‚zurückspielt‘, spiegelt die Ambivalenz der Frage: Jesus kann sie insofern nicht verneinen, als er tatsächlich der wahre König Israels ist; aber Jesu Königtum hat mit der Gestalt der in der Frage implizierten politischen Dimension des Königsanspruchs nichts gemein. Der Königstitel wird dann im Fortgang der Erzählung noch mehrfach aufgenommen: Die Verspottung Jesu als „König der Juden“ (V.29) seitens der römischen Soldaten (V.27–31) findet bei der Kreuzigung durch die über seinem Haupt angebrachte Aufschrift, die seine Schuld angab, ihre Fortsetzung: „Dieser ist Jesus, der König der Juden“ (V.37). Und schließlich wird auch in der Verspottung des Gekreuzigten durch die Passanten, die jüdischen Autoritäten und die Mitgekreuzigten nicht nur Jesu Anspruch, Sohn Gottes zu sein, aufgenommen (V.40.43), sondern die jüdischen Autoritäten treiben auch mit
The Parting of the Ways A.D. 70 to 135, hg. v. J.D.G. Dunn, WUNT 66, Tübingen 1992, 99–116: 108–112; B. REPSCHINSKI, The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form and Relevance for the Relationship Between the Matthean Community and Formative Judaism, FRLANT 189, Göttingen 2000, 335.339–341. 28 Zur Besonderheit der matthäischen Fassung und zur Frage, inwiefern es sich hier wie zuvor um ein Falschzeugnis handelt, s. KONRADT, Israel (s. Anm. 15), 144–147; G. HÄFNER, Ein übereinstimmendes Falschzeugnis – zur Auslegung von Mt 26,61, ZNW 101 (2010), 294–299. 29 Zur hier vorliegenden ‚Auslegung‘ des Christustitels durch ‚Sohn Gottes‘ vgl. Mt 16,16 (dazu unten S. 184–). 30 Vgl. z.B. HAGNER, Matthew 14–28 (s. Anm. 1), 818. 31 Vgl. für viele U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 4: Mt 26–28, EKK 1.4, Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 269.
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Jesu Königsanspruch ihren Spott: „König Israels ist er! So steige er jetzt vom Kreuz herab …“ (V.42). Nun soll die Einfügung des Gottessohnmotivs in die Verspottungsszene ganz offenkundig nicht besagen, dass dieses die Identität Jesu nicht angemessen zur Sprache bringt, sondern allein, dass die, die Jesus verspotten, eine völlig falsche Vorstellung von der Gottessohnschaft (Jesu) haben. Entsprechend endet Matthäus’ Erzählung von der Kreuzigung Jesu gerade damit, dass der Hauptmann und seine Soldaten aufgrund der Ereignisse, die Jesu Tod begleiten, zu der richtigen Erkenntnis gelangen, dass Jesus tatsächlich Gottes Sohn war (27,54).32 Ebenso bezeugen die Soldaten, die in V.37 den titulus crucis anbringen, mit diesem, ohne dass sie dies zu diesem Zeitpunkt ahnen, etwas Wahres über Jesus. Jesus ist tatsächlich der König Israels33, allerdings in einem ganz anderen Sinn, als dies seiner Verspottung zugrunde lag. Gerade indem er nicht, wie er von den Spottenden aufgefordert wird, vom Kreuz herabsteigt (27,40.42)34, sondern den Tod auf sich nimmt, erweist er sich Matthäus zufolge als Sohn Gottes und König Israels35, denn er nimmt den Tod im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes (26,39.42) auf sich, um andere zu retten, nämlich von ihren Sünden, wie dies schon in 1,21 als seine Aufgabe eingeführt wurde: Er gibt – gemäß seiner eigenen Deutung seines Todes in 20,28; 26,28 – sein
32
Das Bekenntnis der Soldaten in Mt 27,54 ist bei Matthäus nicht wie in Mk 15,39 Reaktion auf Jesu Tod, sondern auf das Erdbeben und die sonstigen Geschehnisse nach seinem Tod (s. ੁįંȞIJİȢ IJઁȞ ıİȚıȝઁȞ țĮ IJ ȖİȞંȝİȞĮ in Mt 27,54, vgl. für viele LUZ, Evangelium nach Matthäus IV [s. Anm. 31], 367f). – Auf Einzelheiten zu 27,51–54 ist hier nicht einzugehen. Zur Auslegung der Verse s. KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 2), 446– 449. 33 Durch die Ergänzung von ȠIJȠȢ im titulus crucis in 27,37 und die Ausweitung der ‚Bekennenden‘ in 27,54 auf die Soldaten, die Jesus verspottet (27,27–31) und gekreuzigt (27,35f) sowie den titulus crucis angebracht haben (vgl. unter anderen D.J. WEAVER, ‘Thus You Will Know Them by Their Fruits’: The Roman Characters of the Gospel of Matthew, in: The Gospel of Matthew in its Roman Imperial Context, hg. v. J. Riches – D.C. Sim, JSNT.S 276/ECC, London – New York 2005, 107–127: 121f), hat Matthäus das Bekenntnis in 27,54 direkt auf 27,37 rückbezogen: Was als Spott gemeint war, wendet sich nun – unter Aufnahme der Rede von der Gottessohnschaft Jesu in den Spottworten (27,40.43) – zum Bekenntnis: „Wahrhaftig, Gottes Sohn war dieser!“ 34 Matthäus setzt zweifelsohne voraus, dass Jesus dies ebenso gekonnt hätte, wie er sich der Verhaftung durch das Herbeirufen von zwölf Legionen Engel hätte entziehen können (26,53). Vgl. KONRADT, Israel (s. Anm. 15), 300f. 35 Vgl. J. NOLLAND, The Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) – Bletchley 2005, 821: „The echoing of the Magi’s words of 2:2 in the wording of the accusatory plaque in 27:37 may well point in an ironic manner to the cross as the place where Jesus effectively takes up his rule as king.“ Vgl. ferner z.B. I.C. BERG, Irony in the Matthean Passion Narrative, Minneapolis (MN) 2014, 162.
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Leben hin als „Lösegeld für viele“, „zur Vergebung der Sünden“, und schafft ihnen so das von Gott verheißene Heil.36 Festzuhalten ist: Matthäus klammert die königliche Dimension der Christologie keineswegs aus. Sowohl die Entfaltung der Messianität Jesu durch den Davidsohntitel als auch ihre Explikation durch die Vorstellung der Gottessohnschaft ist mit der Rede von Jesus als König verbunden. Allerdings wird das Königtum des Messias von Matthäus signifikant anders aufgefasst, als dies in frühjüdischen Texten wie PsSal 17 oder 4Q161 Fragm. 8–10 15–19 der Fall ist, in denen der königliche Messias als nationaler Befreier und irdische Herrschergestalt erwartet wird. Die konzeptionelle Differenz tritt dabei nicht erst in Mt 27 zutage, sondern wurde auch zuvor schon darin sichtbar, dass Jesu Rolle als Sohn Davids während seines irdischen Wirkens konsequent durch sein heilendes Wirken expliziert wurde, mit dem er sich seinem daniederliegenden Volk zuwendet. Dabei lässt sich unschwer ein gemeinsamer Nenner mit der Deutung seines Todes ausmachen, denn mutatis mutandis ist Jesu Königtum auch hier durch die – mit seinem Heilstod vollendete – Aufgabe bestimmt, andere zu retten (vgl. 9,21f). Dieser Konvergenz steht aber auch eine Differenz zur Seite: Im Falle der Heilungen hebt Matthäus darauf ab, dass Jesus an diesen als messianischer Sohn Davids erkannt werden kann (vgl. z.B. 11,2–6; 12,23f)37, denn in ihnen dokumentiert sich Jesu messianische Vollmacht. Der Gang ans Kreuz ist hingegen gerade durch Verzicht auf Vollmachtserweise gekennzeichnet, mit denen Jesus sich seiner Widersacher entledigen könnte (vgl. 26,53!). Erst die göttlichen Zeichen, die Jesu Tod begleiten, wenden hier den Spott zum Bekenntnis (27,51–54). Und erst die Auferweckung macht deutlich, dass die Kreuzigung in der Tat Jesu königliche Messiaswürde nicht in Frage stellt. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang, dass die Bedeutung der königlichen Dimension in der matthäischen Christologie nicht auf die Darstellung des irdischen Wirkens Jesu beschränkt ist. In 13,41 und 16,28 spricht der matthäische Jesus jeweils von der ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes. Die Vorstellung 36
Die matthäische Erweiterung des titulus crucis in 27,37 um den Namen „Jesus“ dürfte als ein gezielter Rückverweis auf die Namensdeutung in 1,21 zu lesen sein (vgl. J.P. HEIL, The Death and Resurrection of Jesus. A Narrative-Critical Reading of Matthew 26–28, Minneapolis [MN] 1991, 80; D. SENIOR, The Passion of Jesus in the Gospel of Matthew, Wilmington [DE] 1985, 131; B. REPSCHINSKI,“For He Will Save His People From Their Sins” [Matthew 1:21]: A Christology for Christian Jews, CBQ 68 [2006], 248–267: 264; J. HERZER, Auferstehung und Weltende als Rätsel? Zur Funktion und Bedeutung von Mt 27,51b53 im Kontext der matthäischen Jesuserzählung, in: Evangelium ecclesiasticum. Matthäus und die Gestalt der Kirche [FS C. Kähler], hg. v. C. Böttrich u.a., Frankfurt a.M. 2009, 115– 144: 139; KONRADT, Israel [s. Anm. 15], 298), um im Sinne von 20,28; 26,28 auf die soteriologische Dimension des Todes Jesu hinzuweisen: Hier geschieht die in 1,21 als Aufgabe Jesu ausgewiesene Rettung von den Sünden. 37 Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 15), 44.294f.
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bezieht sich, wie noch zu entfalten sein wird, auf den Zeitraum zwischen der Auferweckung Jesu und seiner Parusie.38 Darüber hinaus redet der matthäische Jesus indirekt auch von sich selbst als König, und zwar mit Bezug auf das Gericht. Denn der Menschensohn, der sich nach 25,31–46 auf seinen Thron setzen wird, um am Ende der Weltzeit das Endgericht durchzuführen, wird in 25,34.40 jeweils als „König“ bezeichnet. Durch die kompositionelle Stellung der Endgerichtsdarstellung direkt vor der Passionserzählung wird dabei über diese ein Sinnhorizont gespannt, der in der Passion selbst durch 26,64 zum Tragen kommt: Der als König der Juden bzw. König Israels Gekreuzigte wird einst in seiner königlichen Macht als Weltenherr zu Gericht sitzen. Cum grano salis kommt hier der mit der Erwartung des königlichen Messias verbundene Gedanke der Herrschaftsaufrichtung in einer eschatologisch transformierten Gestalt zum Zuge. Festzuhalten ist schließlich, dass sich die in der frühjüdischen Tradition mit der Gestalt des königlichen Messias verbundenen irdischen Herrschaftserwartungen in Mt 2 und Mt 21 je auf ihre Weise in den Reaktionen von Handlungsfiguren auf die Kunde vom Kommen des messianischen Königs spiegeln und diese Dimension zudem auch in Mt 27 manifest wird.39 Beachtet man den historischen Kontext der matthäischen Gemeinde(n), in dem der Konflikt zwischen den Christusgläubigen und ihrem pharisäisch dominierten synagogalen Umfeld von kaum zu überschätzender Bedeutung ist40, liegt es auf der Hand, dass Matthäus sich in seinem jüdischen Kontext mit einer Form der Messiaserwartung, wie sie sich etwa in PsSal 17 ausspricht41, auseinandersetzen musste. 38 Vgl. grundlegend J. ROLOFF, Das Reich des Menschensohnes. Ein Beitrag zur Eschatologie des Matthäus, in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Gräßer), hg. v. M. Evang – H. Merklein – M. Wolter, BZNW 89, Berlin – New York 1997, 275–292, ferner z.B. F. WILK, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin – New York 2002, 85f.133; W. KRAUS, Zur Ekklesiologie des Matthäusevangeliums, in: The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity, hg. v. D. Senior, BETL 243, Leuven – Paris – Walpole (MA) 2011, 195–239: 215f. 39 Vgl. J.D. KINGSBURY, Matthew: Structure, Christology, Kingdom, Philadelphia (PA) 1975, 97: „In those places in the Gospel where ‘Messiah’ is related epexegetically to ‘King of the Jews,’ it possesses, from the standpoint of the characters of the story, political overtones.“ 40 Zum Konflikt der matthäischen Gemeinde(n) mit den Pharisäern und den von ihnen dominierten Synagogen s. J.A. OVERMAN, Matthew’s Gospel and Formative Judaism. The Social World of the Matthean Community, Minneapolis (MN) 1990, 35–38.68–70.78–90; A.J. SALDARINI, Matthew’s Christian-Jewish Community, CSHJ, Chicago – London 1994, 44–67; KONRADT, Israel (s. Anm. 15), 355–365. 41 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass für die Psalmen Salomos zwar – entgegen älteren Annahmen – nicht zu erweisen ist, dass sie aus pharisäischer Feder stammen, aber dennoch zu konstatieren ist, „daß sie innerhalb des Judentums der pharisäischen Geistesrichtung am nächsten stehen“ (S. HOLM-NIELSEN, Die Psalmen Salomos, JSHRZ IV/2, Gütersloh 1977, 51, vgl. G.W.E. NICKELSBURG, Jewish Literature between the Bible and the Mishnah. A Historical and Literary Introduction, Philadelphia (PA) 41995, 203 [„they
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Die matthäische Präsentation Jesu als des messianischen davidischen Königs ist entsprechend keineswegs als bloße Entfaltung des durch Mk 10,47.48 gegebenen Anstoßes zu werten, sondern sie ist das Resultat einer substantiellen Interaktion mit jüdischen Heilshoffnungen und nur in diesem Kontext angemessen zu verstehen.42 Dem fügt sich ein, dass Matthäus die Heilungen, die im Zentrum seiner Präsentation Jesu als des messianischen Davidsohnes stehen, durch Schriftbezüge profiliert und damit ausdrücklich als Erfüllung der Israel gegebenen Heilsverheißungen ausgewiesen hat. 43 Kurzum: Die skizzierte matthäische Konzeption ist in ihrem historischen Kontext als ein Gegenentwurf zu etablierten Erwartungen eines königlichen Messias zu lesen. Die Frage ist nun, inwiefern dieser Zusammenhang auch für die Zebedaidenbitte von Belang ist. Um dies angemessen erörtern zu können, ist im Folgenden zunächst die kontextuelle bzw. narrative Einbettung von 20,20f im Matthäusevangelium zu analysieren.
3. Zur kontextuellen Einbettung der Zebedaidenbitte im Matthäusevangelium Im Blick auf die kontextuelle bzw. narrative Einbettung der Zebedaidenbitte sind im Matthäusevangelium primär drei Aspekte zu bedenken. Die ersten beiden bilden ein Proprium des Matthäusevangeliums, der dritte gewinnt durch die anderen beiden eine für Matthäus spezifische Ausrichtung. Zu beachten ist erstens, dass Mt 20,21 nicht die einzige Stelle ist, in der im Matthäusevangelium vom Reich Jesu gesprochen wird. Ihr gehen vielmehr, wie oben angedeutet, mit 13,41 und 16,28 zwei weitere Belege voran. In beiden Fällen handelt es sich um Worte vom Menschensohn; dazu passt in 20,21, dass der Bitte der Zebedaidenmutter ein Menschensohnwort unmittelbar vorangeht (20,18f).44 Weder 13,41 noch 16,28 hat ein Pendant bei den beiden synoptischen Seitenreferenten. Es handelt es sich bei der Rede von der ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes vielmehr um eine Besonderheit des ersten Evangelisten. Zweitens ist die Rede von den Plätzen zur Rechten und zur Linken Jesu bei Matthäus durch das in 19,28 eingefügte Logion vorbereitet. Als dritter kontextueller Aspekt ist appear to have emanated from circles closely related to the Pharisees.“]; A.-M. DENIS, Introduction à la littérature religieuse judéo-hellénistique, Tome I [Pseudépigraphes de l’Ancien Testament], Turnhout, 2000, 517–519). Insofern kommt PsSal 17 im hier verfolgten Zusammenhang besonderes Gewicht zu. 42 Vgl. den verwandten Interpretationsansatz von VERSEPUT, Davidic Messiah (s. Anm. 14). 43 Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 15), 41–44. 44 GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 8), 188 sieht richtig, dass „das Menschensohn-Prädikat“ auch in 20,21 zu ergänzen ist, doch muss man dazu nicht, wie er vorschlägt, auf V.28 rekurrieren; V.18f liegt näher.
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schließlich auf die in 20,17–19 vorangehende Ankündigung des Leidens und der Auferweckung Jesu einzugehen. 3.1 Die Vorstellung vom Reich des Menschensohnes im Matthäusevangelium Die Vorstellung vom Reich des Menschensohnes wird im Matthäusevangelium in 13,41 im Rahmen der Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen eingeführt: Der mit der Welt identifizierte Acker, auf den der Menschensohn seine gute Saat ausstreut, wird als seine ȕĮıȚȜİĮ, als sein Herrschaftsbereich, interpretiert.45 Von Aussaat war zuvor bereits im Gleichnis vom vierfachen Acker die Rede (13,3–9.18–23). Der Sämann ist hier an erster Stelle Jesus, d.h. Jesus reflektiert über Erfolg und Misserfolg seines (bisherigen) Wirkens. An zweiter Stelle begegnen aber auch die Jünger in der Figur des Sämanns46, da es ihre Aufgabe ist, das Werk Jesu fortzusetzen (9,36–11,1). Diese Konstellation gilt mutatis mutandis auch für das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, nur wird der Leser, der das Evangelium bis zum Ende gelesen hat, die Aussaat angesichts der Identifizierung des Ackers mit der Welt (13,38) mit der universalen Sendung der Jünger in 28,19f in Beziehung setzen.47 Zugleich erschließt sich die Rede vom Reich des Menschensohnes von der Selbstpräsentation des Auferstandenen in 28,18b her: Ihm ist alle Vollmacht im Himmel und auf Erden übergeben. Den Beginn der Aussaat mit Jesu irdischem Wirken muss man hier nicht ausklammern; aber der Ton liegt darauf, dass sich die Aussaat dadurch vollzieht, dass der Auferstandene seine Jünger aussendet, um in allen Völkern Menschen zu Jüngern zu machen (28,19f). Zur Illustration der Vorstellung vom Reich des Menschensohnes in 13,37– 41 ist ferner die Antwort Jesu auf die Frage des Hohepriesters im Prozess, ob er der Christus, der Sohn Gottes, sei, in 26,64 hinzuzuziehen. Matthäus hat in das Menschensohnwort, das die Anspielung auf Dan 7,13 mit einem Rückverweis auf das Zitat von Ps 110,1 in Mt 22,44 verbindet, ਕʌૃ ਙȡIJȚ (vgl. 23,39; 26,29) eingefügt: Von jetzt an also werden die Autoritäten den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen. Da man ਥȡȤંȝİȞȠȞ ਥʌ IJȞ ȞİijİȜȞ IJȠ૨ ȠȡĮȞȠ૨ nicht anders als auf die
45
ROLOFF, Reich (s. Anm. 38), 282 schlägt eine Differenzierung zwischen dem Reich des Menschensohns und dem Kosmos vor: „das Reich entsteht in der Welt erst dadurch, daß der Menschensohn in sie die der ȕĮıȚȜİĮ zugehörigen Menschen hineingibt.“ Daran ist richtig, dass sich in dem „Wachstum des Weizens“ die Herrschaft des Menschensohns sichtbar manifestiert. Aber nach 13,41 werden alle, die Anstoß geben, und die, die Gesetzloses tun, ਥț IJોȢ ȕĮıȚȜİĮȢ ĮIJȠ૨ zusammengelesen. Dies schließt ein, dass auch diese sich an sich im Herrschaftsbereich des Menschensohnes befinden, nur unterstellen sie sich nicht seinem Regiment. Im angeführten Aufsatz äußert ROLOFF selbst denn auch später die Ansicht, dass „die gesamte Menschenwelt“ das Reich des Menschensohnes sei (287). 46 Vgl. dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 15), 256f. 47 Vgl. exemplarisch ROLOFF, Reich (s. Anm. 38), 286f.
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Parusie beziehen kann (vgl. 24,30f)48, bereitet die Einfügung von ਕʌૃ ਙȡIJȚ hier offenkundige Schwierigkeiten. Besser verständlich ist sie aber im Blick auf das erste, auf die postmortale Erhöhung Jesu blickende Glied (țĮșȝİȞȠȞ ਥț įİȟȚȞ IJોȢ įȣȞȝİȦȢ), wenn man zum einen beachtet, dass Matthäus Tod und Auferstehung Jesu als einen Geschehenszusammenhang begreift49, und dabei zweitens einbezieht, dass die Geschehnisse in 27,51–53, die Jesu Tod bei Matthäus begleiten und auch von den Autoritäten gesehen werden, so aufgefasst werden können, dass sie zeichenhaft auf die Erhöhung Jesu verweisen. 50 Das Kommen des Menschensohnes auf den Wolken des Himmels nennt in 26,64 den Schlusspunkt der mit der Erhöhung Jesu eingeleiteten Phase und kann aufgrund dieses Zusammenhangs in das Geschehen, dessen Zeugen die Autoritäten ਕʌૃ ਙȡIJȚ werden, einbezogen werden. Wichtig ist hier: Die Einfügung von ਕʌૃ ਙȡIJȚ illustriert die matthäische Vorstellung von der ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes, die für den Evangelisten in der Gegenwart darin zum Ausdruck kommt, dass er als der Auferstandene zur Rechten der Kraft sitzt, und die sich eschatologisch in seinem Kommen auf den Wolken des Himmels zum Gericht manifestieren wird. In 28,18–20 wird die Herrschaft des Auferstandenen „in seinem Reich“, wie angedeutet, vornehmlich darin manifest, dass er seine Jünger aussendet, damit Menschen in der ganzen „Ökumene“ (24,14) sich dem unterstellen, was er geboten hat (28,20).51 Hingegen impliziert das Reich des Menschensohnes für Matthäus, wie 26,64 unterstreicht, natürlich keinen irdischen Thron. Betrachtet man 13,41 für sich, ist ein solches Missverständnis aber keineswegs kategorisch ausgeschlossen, auch durch das Motiv der Aussendung der Engel nicht, könnte doch schon der auf Erden wirkende Jesus zwölf Legionen Engel herbeirufen (26,53, vgl. auch 4,5–7). Zieht man 13,43 hinzu, ist anzufügen, dass 48 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus IV (s. Anm. 31), 179; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 35), 1131. 49 Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 15), 148.304f. 50 Vgl. NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 35), 1132; J.A. GIBBS, Jerusalem and Parousia. Jesus’ Eschatological Discourse in Matthew’s Gospel, Saint Louis (MO) 2000, 144f. – Zu beachten ist ferner, dass die Autoritäten bei Matthäus auch Zeugen des auf die Auferstehung und Erhöhung verweisenden leeren Grabes sind (28,11–15), womit sich die Ankündigung des Zeichens des Jona (12,40; 16,4) erfüllt. Wegen dieses Bezugs müssen in 27,62 die Pharisäer beteiligt sein, denn ihnen wurde in 12,40 und 16,4 das Zeichen des Jona angekündigt. 51 Vgl. dazu G. THEISSEN, Vom Davidssohn zum Weltenherrscher. Pagane und jüdische Endzeiterwartungen im Spiegel des Matthäusevangeliums, in: Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils. Begegnungen mit dem Neuen Testament und seiner Umwelt (FS H.W. Kuhn), hg. v. M. Becker – W. Fenske, AGJU 44, Leiden – Boston – Köln 1999, 145– 164: 164: „Eine ganz neue Art von Weltherrschaft kündigt sich hier an, eine Weltherrschaft durch ethische Gebote. […] Das Evangelium ist Zeuge für die Transformation politischer Macht in Ethik.“ – Zur Form der Realisierung der Herrschaft des Erhöhten vgl. ferner z.B. ROLOFF, Reich (s. Anm. 38), 286f.290.
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der Ort, in dem die Gerechten nach dem Endgericht wie die Sonne leuchten werden, im Unterschied zu V.41 als die ȕĮıȚȜİĮ IJȠ૨ ʌĮIJȡઁȢ ĮIJȞ bezeichnet wird. Der sich hier andeutende differenzierte Sprachgebrauch ist im Blick zu behalten, wenn 16,27f hinzugezogen wird. 16,27f bildet den zweigliedrigen Schlusspunkt der Mahnung zur Kreuzesnachfolge (V.24f), die an die erste Ankündigung des Leidens und der Auferweckung Jesu in V.21 und die Auseinandersetzung zwischen Petrus und Jesus in V.22f anschließt. Im engeren Kontext gelesen, bildet 16,21–28 mit 16,13– 20 ein Diptychon52, das die christologische Grundspannung der Erzählung bündelt und zugleich kompositorisch das zentrale Scharnier der gesamten Erzählung ist.53 Mit 16,13–20 ist der Gipfelpunkt der vorangehenden Darstellung erreicht. Die Jünger sind zu der von Petrus vorgetragenen Erkenntnis gelangt, dass Jesus „der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ ist (16,16). Die Auslegung des Messiastitels durch die Rede von Jesus als Gottessohn greift auf 14,33 zurück, wo die Jünger auf der Grundlage der machtvollen Taten Jesu, namentlich seines Seewandels und der Errettung des Petrus aus den Fluten, bereits zur Erkenntnis der Gottessohnschaft Jesu vorgedrungen sind und Jesus, wie angemerkt, entsprechend huldigten. Der gottgleichen Vollmacht des messianischen Königs und Gottessohnes stellt die andere Seite der Diptychons in 16,21–28 die Ankündigung des Leidens und der Auferweckung gegenüber. Petrus’ Reaktion in V.22 gibt dabei bekanntlich zu verstehen, dass er Jesu Leidensankündigung in keiner Weise mit der Vorstellung von Jesus als dem messianischen Gottessohn, wie sie sich ihm wie den anderen Jüngern bis dahin aufgrund ihrer Erfahrungen des vollmächtigen Handelns Jesu erschlossen hat, in Einklang bringen kann. Im Gegenzug dazu weist Jesus nicht nur – im schroffen Gegensatz zur Seligpreisung in V.17 – Petrus scharf zurecht (V.23), sondern er ermahnt zugleich auch seine Jünger, bereit zu sein, in der Nachfolge selbst das Kreuz auf sich zu nehmen (V.24f). Dabei geht es im doppelten Sinn um Leben und Tod, denn wer dann den Weg der Nachfolge verlässt, um sein Leben zu retten, wird es verlieren; wer nicht zurückweicht und es verliert, wird es gewinnen (V.25f). V.27 macht die endgerichtliche Perspektive von V.25f 52 Vgl. zu dieser Bezeichnung J. LAMBRECHT, „Du bist Petrus“. Mt 16,16–19 und das Papsttum, SNTU 11 (1986), 5–32: 6, Anm. 2. – Der Diptychoncharakter von 16,13–20.21– 28 wird bei Matthäus dadurch untermauert, dass der Evangelist die Komposition durch Menschensohnworte gerahmt hat (16,13.27f), indem er die Rede vom Menschensohn aus der ersten Leidens- und Auferweckungsankündigung (vgl. Mk 8,31) in Jesu Frage nach dem Urteil der Leute über ihn (16,13) vorgezogen hat. 53 Die Analyse der kompositorischen Struktur des Matthäusevangeliums von J.D. KINGSBURY (Matthew as Story, Philadelphia (PA) 71996) und D.R. BAUER (The Structure of Matthew’s Gospel: A Study in Literary Design, JSNTS 31, Sheffield 1988, bes. 73–108) behält darin ihr Recht, dass mit 4,17 und 16,21 Hauptteile des Matthäusevangeliums eröffnet werden. Zur weiteren Untergliederung (4,17–11,1; 11,2–16,20; 16,21–20,34; 21–25; 26–28) s. KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 2), 2–4.
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explizit: Der Menschensohn wird, wenn er in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln kommt, das Tun der Menschen vergelten54, also denen, die treu in seiner Gefolgschaft geblieben sind, das ewige Leben schenken, denen aber, die von ihm abgefallen sind, dieses verweigern. Dem nachfolgenden Vers hat Matthäus eine gegenüber Mk 9,1 signifikant veränderte Ausrichtung gegeben: Es ist nicht mehr davon die Rede, dass einige der Anwesenden nicht sterben werden, „bis sie das Reich Gottes in Kraft haben kommen sehen“, sondern Matthäus nimmt aus V.27 die Rede vom Kommen des Menschensohnes auf. Dieser kommt aber nun nicht wie in V.27 „in der Herrlichkeit seines Vaters“ zum Gericht, sondern ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ ĮރIJȠࠎ. Im Lichte der obigen Ausführungen zu 13,41 liegt die Annahme nahe, dass dies nicht lediglich als eine bloße Variation zu V.27 zu lesen ist. Vielmehr empfiehlt es sich, das Sehen des in seinem Reich kommenden Menschensohnes auf die Erscheinung des Auferstandenen zu beziehen.55 Dies wird dadurch dezidiert untermauert, dass bei Matthäus die Unterweisung in 16,24–28 allein an die zwölf Jünger gerichtet ist (V.24, anders Mk 8,34) und sich damit die Problematik eines Naherwartungslogions, die sich bei einem Bezug auf die Parusie ergäbe, insofern noch schärfer gestellt hätte, als zur Zeit der Abfassung des Evangeliums kaum noch „einige (IJȚȞİȢ)“ aus dem Zwölferkreis am Leben waren. Festzuhalten ist also: Matthäus hat in 16,28 ein für ihn problematisches Naherwartungslogion in eine Ankündigung der Christophanie in 28,16–20 transformiert und dabei das „Sehen“ des Auferstandenen (28,17), dem alle Vollmacht im Himmel und auf Erden übergeben ist, durch die Vorstellung von der ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes interpretiert. Wie die Leidensankündigung in V.21 nicht für sich steht, sondern mit der Ansage der Auferweckung verbunden ist, so blickt die Jüngerunterweisung nach der Aufforderung zur Kreuzesnachfolge also in doppelter Weise auf den Auferstandenen aus: Der Menschensohn kommt in der Herrlichkeit seines Vaters zum Gericht und noch zu ihren Lebzeiten werden einige der Jünger den Menschensohn in seinem Reich kommen sehen.56 54
Matthäus greift hier eine alttestamentlich und frühjüdisch geläufige Wendung auf. Vgl. z.B. Ps 62,13; Prov 24,12; Sir 35,22; 1Hen 95,5; 100,7; JosAs 28,3. 55 Ebenso J.P. MEIER, The Vision of Matthew. Christ, Church, and Morality in the First Gospel, New York – Ramsey – Toronto 1979, 120f; ROLOFF, Reich (s. Anm. 38), 288; WILK, Jesus (s. Anm. 38), 86; G. GARBE, Der Hirte Israels. Eine Untersuchung zur Israeltheologie des Matthäusevangeliums, WMANT 106, Neukirchen-Vluyn 2005, 146. Anders z.B. L.W. WALCK, The Son of Man in the Parables of Enoch and in Matthew, Jewish and Christian Texts in Contexts and Related Studies 9, London – New York 2011, 181f. 56 Deutet man so, ist das aus Mk 9,1 übernommene IJȚȞİȢ in Mt 16,28 allerdings eine Untertreibung, denn von den zwölf Jüngern wird allein Judas in 28,16–20 nicht mehr dabei sein. Positiv gewendet: „Die einschränkende Ausdrucksweise ‚einige …, die den Tod nicht kosten werden‘ erklärt sich […] als ein prophetischer Hinweis auf den Selbstmord des Judas (vgl. 27,5)“ (WILK, Jesus [s. Anm. 38], 86, Anm. 28).
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Wiederum ist aber darauf hinzuweisen, dass auf der Ebene der erzählten Welt für die Jünger in 16,28 noch nicht eindeutig erkennbar ist, was genau sie sich darunter vorstellen sollen, dass „sie den Menschensohn werden kommen sehen ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ ĮIJȠ૨“. Insbesondere stellt sich die Frage, inwiefern es sich beim Reich des Menschensohnes um ein irdisches messianisches Reich handeln könnte, wie dies im Lichte frühjüdischer königlicher Messiaserwartung naheliegt.57 Dem steht nicht entgegen, dass die Rede vom Kommen des Menschensohnes in seinem Reich im unmittelbaren Kontext, wie angesprochen, als Anknüpfung und Weiterführung der Auferstehungsaussage in V.21 erscheint. Denn im Spektrum frühjüdischer Vorstellungen über Auferstehung bzw. postmortale Existenz58 ist es keineswegs zwingend, dass die Ankündigung der Auferweckung am dritten Tag nur so verstanden werden kann, dass Jesus in die himmlischen Sphären zu Gott entrückt wird. Vielmehr besteht grundsätzlich auch die Option, an eine Rückkehr in eine erneu(er)te irdischleibliche Existenzform zu denken.59 Dies wird unterstrichen, wenn man den im Matthäusevangelium vorangehenden Kontext hinzuzieht. Zum einen hat Jesus selbst zuvor im (Rück-)Blick auf sein Wirken von der Auferweckung Toter gesprochen (11,5: ȞİțȡȠ ȖİަȡȠȞIJĮȚ), was nach der einzigen narrativen Illustration in 9,18f.23–26 die Rückkehr Verstorbener in ihr früheres irdisches Leben meint (V.25: țĮ ݗȖޢȡșȘ IJઁ țȠȡıȚȠȞ), und ferner seine Jünger beauftragt, Tote aufzuerwecken (10,8: ȞİțȡȠઃȢ ȖİަȡİIJİ). Die Jünger könnten sich also im Blick auf Jesu Ankündigung seiner Auferweckung an diesem Modell orientiert haben. Zum anderen teilte 57 Siehe z.B. PsSal 17; 4Q161 Fragm. 8–10 15–19; 4Q252 5,1–7 oder auch 4Esra 7,28f. Siehe dazu SCHREIBER, Gesalbter (s. Anm. 18), 161–190.211–214.222–224.347–350 und ZIMMERMANN, Messianische Texte (s. Anm. 24), 59–71.113–125. 58 Für einen Überblick s. C. SETZER, Resurrection of the Body in Early Judaism and Early Christianity. Doctrine, Community, and Self-Definition, Boston – Leiden 2004, 11–18; J. BECKER, Die Auferstehung Jesu Christi im Neuen Testament. Ostererfahrung und Osterverständnis im Urchristentum, Tübingen 2007, 182–208; P. FOSTER, The Hebrew Bible / LXX and the Development of Ideas on Afterlife in Matthew, in: Life Beyond Death in Matthew’s Gospel. Religious Metaphor or Bodily Reality?, hg. v. W. Weren – H. van de Sandt – J. Verheyden, BToSt 13, Leuven – Paris – Walpole (MA) 2011, 3–25. Für eine Übersicht über die vielfältigen Bedeutungsmöglichkeiten der Rede von ‚Auferstehung‘ s. J.H. CHARLESWORTH, Prolegomenous Reflections Towards a Taxonomy of Resurrection Texts (1QHa, 1En, 4Q521, Paul, Luke, the Fourth Gospel, and Psalm 30), in: The Changing Face of Judaism, Christianity, and Other Greco-Roman Religions in Antiquity, hg. v. I.H. Henderson – G.S. Oegema, Studien zu den Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 2, Gütersloh 2006, 237–264. 59 Zur Vorstellung von der Auferstehung als Rückkehr in eine erneu(er)te irdisch-leibliche Existenzform s. z.B. Jes 26,19LXX; 2Makk 7,10f; 14,46; 1Hen 51,1–5; TestLevi 18,10– 14; TestJuda 25,1–3; LAB 3,10; 19,12f; 51,5; 4Q385 Fragm. 2 2–8. Vgl. G. STEMBERGER, Der Leib der Auferstehung. Studien zur Anthropologie und Eschatologie des palästinischen Judentums im neutestamentlichen Zeitalter (ca. 170 v. Cr. [sic!] – 100 n. Chr.), AnBib 56, Rom 1972, ferner J. BECKER, Auferstehung, 192–194.200–202.
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Matthäus in 14,2 als Meinung des Landesfürsten Herodes Antipas über Jesus mit, dass es sich bei ihm angesichts der in ihm wirkenden Kräfte um Johannes den Täufer handeln müsse, der von den Toten auferweckt worden sei (ĮIJઁȢ ݗȖޢȡșȘ ਕʌઁ IJȞ ȞİțȡȞ). Vorausgesetzt ist hier die Vorstellung, dass ein Verstorbener – in veränderter Leiblichkeit (?) – auf Erden zurückkehrt. 16,14 nimmt dieses Urteil über die Identität Jesu – im Verbund mit den Optionen, Jesus sei Elia bzw. Jeremia oder einer der Propheten60 – im Rahmen eines ‚Referats‘ der Jünger über die Meinung der Leute über Jesus auf. Hier spricht sich natürlich keine reflektierte Auferstehungstheologie aus, sondern volkstümlicher Glaube61, doch illustriert dies, dass Jesu Ankündigung seiner Auferweckung ohne Weiteres so hätte verstanden werden können, dass er erneut auf Erden in einer leiblichen Existenzform präsent sein wird.62 Liest man 16,27f auf der Ebene der erzählten Welt, so ist zudem anzumerken, dass es für die Jünger zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs völlig klar sein muss, dass 16,27.28 von zwei verschiedenen Ereignissen sprechen. V.28 60 Allen Optionen ist gemeinsam, dass in Jesus die Wiederkehr einer Gestalt der Vergangenheit gesehen wird. 61 Vgl. FRANCE, Gospel of Matthew (s. Anm. 13), 553. – Nicht zuletzt steht ein solches ‚naives‘ Verständnis der Auferstehung als Fortsetzung des irdischen Lebens auch hinter der Frage der die Auferstehung ablehnenden Sadduzäer in Mt 22,23–28. Vgl. exemplarisch A. DENAUX, The Controversy between Jesus and the Sadducees about the Resurrection (Matt 22:22-33) in the Context of Early Jewish Eschatology, in: Life beyond Death in Matthew’s Gospel. Religious Metaphor or Bodily Reality?, hg. v. W. Weren – H. van de Sandt – J. Verheyden, BToSt 13, Leuven – Paris – Walpole (MA) 2011, 129–151: 144 und W.J.C. WEREN, Human Body and Life beyond Death in Matthew’s Gospel, in: ders., Studies in Matthew’s Gospel. Literary Design, Intertextuality, and Social Setting, BiInS 130, Leiden – Boston 2014, 71–87: 83: „they see life after death as an unbroken continuation of life as they know it. This appears from their assumption that after the resurrection there is still marriage and being given in marriage.“ 62 Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang ferner auf die merkwürdige Szene in Mt 27,52f, wonach viele Leiber (ıઆȝĮIJĮ) der entschlafenen Heiligen auferweckt wurden (ȖȡșȘıĮȞ), sie nach der Auferweckung Jesu nach Jerusalem hineingingen und vielen erschienen. Matthäus gibt nicht zu erkennen, dass er die Szene in irgendeiner Weise als zeichenhafte Antizipation oder Anbruch der universalen Auferstehung der Toten verstanden wissen möchte. Was mit den auferweckten Heiligen nach dem in 27,53 Geschilderten geschehen ist, wird nicht thematisiert und steht offenbar außerhalb des Blickfeldes und Interesses des Evangelisten. Gleiches gilt auch für die Frage, ob die Heiligen in identischer (so die Tendenz bei J.K. ZANGENBERG, “Bodily Resurrection” of Jesus in Matthew?, in: Life beyond Death in Matthew’s Gospel. Religious Metaphor or Bodily Reality?, hg. v. W. Weren – H. van de Sandt – J. Verheyden, BToSt 13, Leuven – Paris – Walpole [MA] 2011, 217– 231: 225) oder veränderter Leiblichkeit erscheinen (so WEREN, Human Body [s. Anm. 61], 82f). Eine Differenz zum auferweckten Jesus mag darin angezeigt sein, dass die Heiligen anders, als dies in der matthäischen Version der Grabeserzählung beim auferweckten und zu Gott entrückten Jesus der Fall ist (der Stein wird nach 28,2 erst bei der Ankunft der Frauen vom Engel weggewälzt), die bereits geöffneten Gräber verlassen (vgl. ZANGENBERG, Resurrection [s. oben], 227).
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könnte von ihnen auch als Bekräftigung von V.27 verstanden werden, die zugleich V.27 als ein Geschehen terminiert, das bald bevorsteht bzw. sich jedenfalls noch zu Lebzeiten der bzw. einiger Jünger ereignen wird. Die Jünger könnten die Worte Jesu in 16,21.24–28 also wie folgt (miss)verstehen: Jesus wird sterben, und sie selbst müssen bereit sein, das Kreuz auf sich zu nehmen; aber Jesus wird auferweckt werden und im Gefolge seiner Auferweckung in der Herrlichkeit seines Vaters und in seiner königlichen Macht erscheinen, einem jeden nach seinem Tun vergelten und so die rechte Ordnung in seinem Königreich herstellen. 3.2 Das Logion von den zwölf Thronen in Mt 19,28 als Kontext der Zebedaidenbitte Knüpfen die Zebedaiden mit ihrer Rede von der ȕĮıȚȜİĮ Jesu in 20,21 im matthäischen Kontext an Jesu eigene Aussagen zur ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes (13,41; 16,28) an, so besitzt darüber hinaus auch die Bitte des Sitzens zur Rechten und zur Linken im Matthäusevangelium einen spezifischen kontextuellen Bezug. In 19,28 nämlich hat Jesus seinen Jüngern verheißen, dass sie, „wenn sich der Menschensohn auf den Thron seiner Herrlichkeit gesetzt hat, auch selbst auf zwölf Thronen sitzen werden“. Die Bitte (der Mutter) der Zebedaiden schließt bei Matthäus an diese Ankündigung an: Jesus wird ersucht, Jakobus und Johannes die Ehrenplätze in diesem Ensemble zu gewähren.63 Die Zeitangabe IJĮȞ țĮșıૉ ȣੂઁȢ IJȠ૨ ਕȞșȡઆʌȠȣ ਥʌ șȡંȞȠȣ įંȟȘȢ ĮIJȠ૨ in 19,28 wird in 25,31 aufgenommen. Es ist schon von diesem Bezug her offenkundig, dass Matthäus in 19,28 an das auf die Parusie Jesu folgende Endgericht denkt. Entsprechend meint die 19,28 einleitende Wendung ਥȞ IJૌ
63 Vgl. H. FRANKEMÖLLE, Matthäus. Kommentar, Bd. 2, Düsseldorf 1997, 294: „Spezifizierung der Verheißung aus 19,28“. Zur Verbindung von 20,21 mit 19,28 s. ferner z.B. T. ZAHN, Das Evangelium des Matthäus, KNT, Leipzig – Erlangen 41922, 611; A. SCHLATTER, Der Evangelist Matthäus. Seine Sprache, sein Ziel, seine Selbständigkeit. Ein Kommentar zum ersten Evangelium, Stuttgart 31948, 595; HARRINGTON, Gospel of Matthew (s. Anm. 1), 287; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 10), 161, Anm. 13; D. SENIOR, Matthew, ANTC, Nashville 1998, 224f; KEENER, Gospel of Matthew (s. Anm. 11), 485; C.H. TALBERT, Matthew, Paideia. Commentaries on the New Testament, Grand Rapids (MI) 2010, 240; EVANS, Matthew (s. Anm. 10), 353.
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ʌĮȜȚȖȖİȞİı64 entweder die endzeitliche Totenauferstehung65 oder umfassender noch die Neuschöpfung (von Himmel und Erde).66 Für sich genommen ist die Wendung ਥȞ IJૌ ʌĮȜȚȖȖİȞİı aber keineswegs eindeutig, denn ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ begegnet in einer Vielzahl von Verwendungsoptionen.67 Instruktiv ist der Befund bei Philo, der das Wort recht häufig verwendet: In Aet 9 referiert er die stoische Lehre von den ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮȚ im Sinne der periodischen Erneuerungen der Welt68 nach dem Weltbrand (ਥțʌȡȦıȚȢ), mit der er sich im Fortgang kritisch auseinandersetzt (s. Aet 47.76.85.93.99.103.107). In Mos 2,65 hingegen bezeichnet Philo Noah und die Seinen als ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮȢ ਲȖİȝંȞİȢ; ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ meint hier also die „Wiederentstehung“ der Welt nach der Sintflut.69 Philo kann ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ zudem auch mit Bezug auf die individuelle postmortale Existenz verwenden (Cher 114).70 In Post 124 wird ferner die Geburt Seths als ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ ਡȕİȜ interpretiert. Und im Brief Agrippas an den Kaiser in LegGai 276–329 dient der Vergleich țĮșʌİȡ ਥț ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮȢ dazu, seine Befreiung von Todesfurcht zu illustrieren.71 Im einzigen weiteren neutestamentlichen Beleg, in Tit 3,5, wird die Taufe als ȜȠȣIJȡઁȞ ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮȢ interpretiert72; auch hier geht es um die Lebenswende von Individuen. Zur Illustration der Vielfalt der Verwendungen sei schließlich noch auf Josephus, Ant 11,66 verwiesen: Hier wird die Rückkehr ins Land nach dem Exil als ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ IJોȢ ʌĮIJȡįȠȢ bezeichnet.
Der Überblick zeigt, dass die Wendung ਥȞ IJૌ ʌĮȜȚȖȖİȞİı durchaus unterschiedliche Deutungen zulässt. Die nachfolgende Bestimmung IJĮȞ țĮșıૉ ȣੂઁȢ IJȠ૨ ਕȞșȡઆʌȠȣ ਥʌ șȡંȞȠȣ įંȟȘȢ ĮIJȠ૨ gewinnt ihren eindeutigen Bezug auf das Endgericht nach der Parusie, wie gesehen, durch 25,31. Vor 19,28 aber 64
Die Frage, ob Matthäus die Wendung in der rezipierten Q-Tradition (vgl. Lk 22,30b) vorfand oder selbst einfügte, kann hier offenbleiben. Zur kontroversen Diskussion s. die Dokumentation und Evaluation in: The Database of the International Q Project. Q 22:28, 30: You Will Judge the Twelve Tribes of Israel, hg. v. C. Heil, Documenta Q. Reconstructions of Q Through Two Centuries of Gospel Research, Leuven 1998, 296–335. 65 Siehe für diese Deutung z.B. J.D.M. DERRETT, Palingenesia (Matthew 19.28), JSNT 20 (1984), 51–58; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 10), 129. – Für ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ im Sinne der Auferstehung von den Toten vgl. z.B. Eusebius, HistEccl 5,1,63; 10,4,46. 66 In diesem Sinn D.C. SIM, The Meaning of ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ in Matthew 19.28, JSNT 50 (1993), 3–12, ferner z.B. J. DEY, ȆǹȁǿīīǼȃǼȈǿǹ. Ein Beitrag zur Klärung der religionsgeschichtlichen Bedeutung von Tit 3,5, NTA 17,5, Münster 1937, 30; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 35), 798f; FRANCE, Gospel of Matthew (s. Anm. 13), 742f; D.L. TURNER, Matthew, BECNT, Grand Rapids (MI) 2008, 475. – In diesem Fall kann man ਥȞ IJૌ ʌĮȜȚȖȖİȞİı als eine apokalyptische Transformation der stoischen Vorstellung von den periodischen Erneuerungen der Welt lesen (s. dazu oben im Folgenden). 67 Siehe dazu F. BÜCHSEL, ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ, ThWNT I, Stuttgart 1933, 685–688: 685–687; DEY, ȆǹȁǿīīǼȃǼȈǿǹ (s. Anm. 66), 3–35; DERRETT, Palingenesia (s. Anm. 65), 52. 68 Vgl. Marc Aurel 11,1; Plutarch, Mor 438D ; Eusebius, PraepEv 15,19,1. 69 Vgl. 1Klem 9,4: Noah verkündete der Welt eine ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ. 70 Vgl. ȖİȞıșĮȚ ʌȜȚȞ in Josephus, Ap 2,218 (vgl. Platon, Phaidon 70C; 72A; Menon 81B). Zu ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ im Kontext der Reinkarnationsvorstellung z.B. Plutarch, Mor 379F; 998C. Siehe ferner den Spott über die „Wiedergeburt“ bei Lukian, MuscEnc 7. 71 Zur Wendung țĮșʌİȡ ਥț ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮȢ vgl. Plutarch, Mor 722D. 72 Vgl. Eusebius, HistEccl 3,23,19 von der Wiedergewinnung eines Sünders.
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hat Jesus noch nicht davon gesprochen, dass sich der Menschensohn auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen wird. Im Erzählduktus ist daher der Zeitpunkt des in 19,28 anvisierten Geschehens noch keineswegs eindeutig fixiert. Anders gesagt: Liest man 19,28 auf der Ebene der erzählten Welt und fragt nach den Vorinformationen, die den adressierten Jüngern zum Verständnis des Wortes zur Verfügung stehen, so besteht für sie ohne Weiteres die Option, 19,28 als Anknüpfung und Weiterführung von 16,28 zu lesen: Einige von ihnen werden den Tod nicht schmecken, bis sie den Menschensohn kommen sehen werden in seiner ȕĮıȚȜİĮ; dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen, und sie selbst werden ebenfalls auf Thronen Platz nehmen. Die vorangestellte Wendung ਥȞ IJૌ ʌĮȜȚȖȖİȞİı würde dann der Verbindung von 16,28 mit der dort vorangehenden Auferweckungsaussage in 16,21 entsprechen und also mit individuellem Bezug die „Wiederentstehung“ Jesu am dritten Tag meinen. Es geht nun nicht darum anzuzweifeln, dass eine solche Deutung von 19,28 auf der Linie von 16,28, auf der Ebene der Kommunikation des Evangelisten mit seinen Adressaten betrachtet, ein Missverständnis wäre. Es sollte allein aufgewiesen werden, dass ein solches Missverständnis im Lichte etablierter Messiaserwartungen, die Matthäus, wie gesehen, in seiner Erzählung voraussetzt und in diese einfließen lässt, auf der Ebene der erzählten Welt möglich ist. Bevor dies näher ausgeführt wird, ist allerdings zunächst noch knapp ein dritter kontextueller Aspekt einzubeziehen: der Anschluss von 20,20f an Jesu Ankündigung in V.18f. 3.3 „Wir ziehen hinauf nach Jerusalem“ (20,17). Die Zebedaidenbitte im Kontext von 20,17–19 Im Gefolge von Mk 10,32–34.35–45 schließt die Zebedaidenbitte bei Matthäus direkt an die dritte Ankündigung des Leidens und der Auferweckung Jesu an. Bereits in der ersten Ankündigung hat Matthäus Jerusalem als Ort des Leidens ausdrücklich genannt (16,21). In 17,22 klingt dieser lokale Bezug in der einleitenden szenischen Notiz zumindest an, denn ıȣıIJȡİijȠȝȞȦȞ į ĮIJȞ ਥȞ IJૌ īĮȜȚȜĮ verweist auf die Versammlung zur Wallfahrt nach Jerusalem.73 In 20,17–19 steht nun die Ankunft in Jerusalem unmittelbar bevor, und nicht nur auf der Erzählebene wird in V.17 angemerkt, dass Jesus nach Jerusalem hinaufging, sondern auch Jesus selbst nimmt dieses Moment zu Beginn seiner Ankündigung auf: įȠઃ ਕȞĮȕĮȞȠȝİȞ İੁȢ İȡȠıંȜȣȝĮ (V.18). Aufgrund der in den voranstehenden Abschnitten erörterten spezifischen kontextuellen Einbettung der Zebedaidenbitte im Matthäusevangelium stellt sich nun auch der durch Mk 10 vorgegebene situative Zusammenhang mit 73 Die explizite Erwähnung, dass sie „in Galiläa zusammenkamen“, ist schon insofern auffällig, als zuvor nicht erzählt wurde, dass Jesus und seine Begleiter voneinander getrennt waren. Zum Bezug der Wendung auf die Sammlung zur Wallfahrt vgl. VERSEPUT, Pilgrimage (s. Anm. 25), 109–111.
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V.17–18a in neuer Weise dar: Auf der Basis der Ankündigung Jesu in 16,28 und der Verheißung an die Zwölf in 19,28 „folgern die Zebedaiden offenbar, dass die Aufrichtung der messianischen Herrschaft des Menschensohnes unmittelbar bevorsteht. Daher ist es an der Zeit, ihr Anliegen vorzutragen.“74 Matthäus’ Überleitung von Jesu Ankündigung in V.18f zur Zebedaidenbitte in V.20f durch das von ihm fast inflationär gebrauchte korrelative Zeitadverb IJંIJİ75 dient dabei nicht dazu, eine Zäsur zu signalisieren, die V.21–28 vom Vorangehenden absetzt, sondern – wie auch sonst häufig im Matthäusevangelium76 – im Gegenteil dazu, das Gespräch in V.20–23 unmittelbar an V.17–19 anzubinden:77 V.20f ist als direkte Reaktion auf Jesu Ankündigung in V.18f zu lesen. Überblickt man das Voranstehende, so ist als Zwischenfazit festzuhalten, dass Matthäus nicht nur der Szenerie in V.20f royales Kolorit verliehen hat – die Zebedaidenmutter nähert sich Jesus in einer Haltung, wie sie sich einem König gegenüber gebührt – und dies darin eingebettet ist, dass Matthäus der königlichen Dimension in seiner Christologie insgesamt auffallend breiten Raum gegeben hat, sondern es ist auch deutlich geworden, dass die vorgetragene Bitte infolge der eingangs angemerkten Ersetzung von ਥȞ IJૌ įંȟૉ ıȠȣ als Referenzgröße des Sitzens zur Rechten und zur Linken von Matthäus durch ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ ıȠȣ für Matthäus spezifische Anknüpfungspunkte in der vorangehenden Unterweisung Jesu besitzt, durch die zugleich die mit 20,17– 19 gegebene situative Einbettung der Bitte in neuer Weise profiliert wird: Die Zebedaidenbitte knüpft bei Matthäus an die vorangehende Rede Jesu vom Reich des Menschensohnes (13,41 und vor allem 16,28) und an die Verheißung an die Jünger in 19,28 an, und sie wird aus der Erwartung heraus vorgebracht, dass mit dem Gang nach Jerusalem die Inthronisation Jesu bevorsteht. Zu fragen bleibt, welche Vorstellung genau der Bitte zugrunde liegt und sich in ihr Ausdruck verschafft. Zudem ist im Folgenden die Korrektur zu erörtern, die das Anliegen der Zebedaiden durch die Replik Jesu erfährt.
74 75
KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 2), 314. Matthäus verwendet IJંIJİ neunzigmal, Markus hingegen nur sechsmal, Lukas fünfzehn-
mal. 76
TંIJİ steht bei Matthäus zuweilen zu Beginn von Perikopen (z.B. 3,13; 4,1; 9,14; 11,20; 12,22; 15,1), begegnet aber weitaus häufiger innerhalb von Erzähleinheiten (z.B. 2,7; 3,5.15; 4,5.10.11; 8,26; 9,29; 12,13; 15,12.28; 16,12.20) oder Redeabschnitten (z.B. 12,44.45; 13,26.43; 18,32; 24,9.23.40). Auch im ersten Fall kann IJંIJİ dabei eher überleitenden als abgrenzenden Charakter haben. 77 Vgl. SCHWEIZER, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 10), 259; GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 8), 187; DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 87; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 35), 818.
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4. Die Zebedaidenbitte und die Replik Jesu Liest man die Zebedaidenbitte im Lichte frühjüdischer Erwartung eines messianischen Königs, wie sie in Mt 2,1–12 und 21,1–17 in der matthäischen Erzählung selbst im Hintergrund steht, kann man fragen, ob Matthäus den Zebedaiden die Erwartung zuschreiben will, dass Jesus nun unmittelbar als Messiaskönig in Jerusalem den Thron Davids besteigen wird.78 In diesem Fall müsste man allerdings annehmen, dass die Jünger Jesu Ankündigung des Leidens in 20,18f völlig ignoriert haben. Dies ist umso unwahrscheinlicher, als 20,18f eben nicht die erste Ansage ist, die Jünger bei der zweiten in 17,22f mit Betrübnis reagierten und überdies speziell die beiden Zebedaiden zusammen mit Petrus in 17,10–13 noch eine Sonderbelehrung erhalten haben. Entsprechend ruft Jesus den Jüngern auch in V.22 nicht in Erinnerung, dass er „den Kelch“ trinken muss, sondern setzt dieses Wissen voraus und fragt allein, ob sie ihn ebenfalls trinken können. Integriert man V.18f in die Erwartung der Zebedaiden, ergibt sich eine Variante zur genannten Option: Die beiden Zebedaiden haben V.18f sehr wohl zur Kenntnis genommen, nur ist ihr Augenmerk diesmal nicht wie bei den Jüngern in 17,22f (und bei Petrus in 16,21–23) auf die Ankündigung des Todes Jesu gerichtet, so dass sie betrübt sind (17,23), sondern ihre Aufmerksamkeit gilt nun der Ankündigung der Auferweckung, die den Tod als ein bloßes Durchgangsstadium verstehen lässt79, und sie verbinden mit der Auferweckung Jesu eben die Einsetzung Jesu in seine Herrschaft, die sie – auf der Linie etablierter messianischer Erwartungen – im Sinne der Aufrichtung einer irdischen messianischen Regentschaft verstehen.80 Ihre Bitte ist darauf gerichtet, in diesem Reich als Throngenossen Jesu die Ehrenplätze zu erhalten. Mit anderen Worten: Matthäus lässt Jakobus und Johannes von der virulenten Erwartung
78
Vgl. in diesem Sinne E. LOHMEYER, Das Evangelium des Markus, KEK I.2, Göttingen 1963, 221f, der den Unterschied zwischen der – von ihm als die ursprüngliche angesehenen – matthäischen Version der Zebedaidenbitte und der markinischen Fassung wie folgt benennt: „Wo von Herrlichkeit gesprochen wird, da handelt es sich um das vollendete Reich des kommenden Äons, das mit dem Kommen des Menschensohnes ‚in seiner Herrlichkeit‘ ewig aufgerichtet ist. Wo von ‚Seinem Königreich‘ die Rede ist, da kann es sich auch um die Herrschaft des Messiaskönigs handeln, der in Jerusalem den Thron Davids wieder errichtet. Die Bitte kann nur dieses Zweite meinen […]“. Vgl. ferner z.B. GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 8), 188; HAGNER, Matthew 14–28 (s. Anm. 1), 580; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 35), 820; L. MORRIS, The Gospel According to Matthew, PilNTC, Grand Rapids (MI) – Leicester 62007, 509f sowie als Deutungsoption auch bei ROLOFF, Reich (s. Anm. 38), 290. 79 Vgl. FRANCE, Gospel of Matthew (s. Anm. 13), 757. 80 Anders z.B. P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1, Stuttgart 2006, 319: „In der Zeit der Weltherrschaft Christi möchten die beiden, wenn sie einmal gestorben sind, in seiner unmittelbaren Nähe sein.“ 16
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eines königlichen Messias ausgehen, aber die beiden Söhne des Zebedäus integrieren in diese auf der Basis von 16,21; 17,22f und 20,18f die – im Rahmen jüdischer Messianologie ungewöhnliche81 – Vorstellung von Tod und Auferstehung des Messias. In diese Deutung lassen sich die aufgewiesenen kontextuellen Bezüge von 20,20f zu 16,28 sowie zu 19,28 harmonisch einfügen. Schon zu 16,28 war zu vermerken, dass die dortige Verheißung im engeren Kontext mit der Ankündigung der Auferweckung verknüpft ist (16,21); in 19,28 wird die ‚Inthronisation‘ der Jünger durch ਥȞ IJૌ ʌĮȜȚȖȖİȞİı explizit datiert, was, wie gesehen, für sich genommen, eine Deutung auf die „Wiederentstehung“ Jesu nicht ausschließt. Nun ist es durchaus richtig, dass mit der Auferweckung Jesu, wie 28,16–20 illustriert, seine Einsetzung in eine Herrschaftsposition verbunden ist: Der Auferstandene proklamiert, dass ihm alle Vollmacht im Himmel und auf Erden übergeben ist (28,18b). Aber über die Gestalt der ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes haben die Zebedaiden sich eine völlig falsche Vorstellung gemacht. Denn Auferweckung heißt eben nicht Rückkehr in eine erneuerte Form irdischer Existenz, sondern Entrückung zu Gott in den Himmel. Entsprechend bedeutet die mit der Auferweckung verbundene Herrschaftseinsetzung, dass Jesus zur Rechten Gottes sitzt (22,44; 26,64) – und nicht auf einem Thron in Jerusalem. Er sagt seinen Jüngern zwar sein Mit-Sein zu (28,20b), aber physisch weilt er eben nicht mehr unter ihnen auf Erden (vgl. 17,17). Vor allem aber ist mit der Einsetzung des Auferweckten zum Weltenherrn (28,18) nicht das Ende dieser Welt und die vollendete Aufrichtung des Reiches Gottes verbunden. Das Kommen des Menschensohnes, auf das Jesus erstmals schon in 10,23 ausblickte, ist nicht mit Jesu Auferweckung identisch, und ebenso meint das sich mit der Auferweckung und der Einsetzung zum Weltenherrn realisierende Kommen des Menschensohnes ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ ĮIJȠ૨ in 16,28 nicht dasselbe wie sein Kommen in der Herrlichkeit seines Vaters, mit dem sich das Endgericht verbindet (16,27). Entsprechend ist die Auferweckung Jesu noch nicht die ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ, von der in 19,28 die Rede ist. Oder anders: Die Ankündigung, dass der Menschensohn sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen wird (19,28; 25,31), ist in der matthäischen Konzeption von der Aussage, dass der Auferstandene zur Rechten Gottes sitzt (22,44; 26,64), unterschieden. Kurzum: Das Anliegen der Zebedaiden basiert auf einem fundamentalen Missverständnis über die Gestalt der Herrschaft des auferstandenen Menschensohnes. Die Phase zwischen Ostern und dem Kommen des Menschensohnes zum Gericht und die ihr eigene Signatur müssen sie noch in den Blick bekommen.
81 Vgl. exemplarisch C. SETZER, Resurrection in the Gospel of Matthew: Reality and Symbol, in: Life beyond Death in Matthew’s Gospel. Religious Metaphor or Bodily Reality?, hg. v. W. Weren – H. van de Sandt – J. Verheyden, BToSt 13, Leuven – Paris – Walpole (MA) 2011, 43–55: 49.
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Jesu Antwort an die Zebedaiden „ihr wisst nicht, was ihr erbittet“ (20,22) erhält daher bei Matthäus einen hintergründigen Sinn: Aufgrund ihrer Unkenntnis über die Gestalt des Reiches Jesu bitten die Zebedaiden um etwas, das gar nicht existiert. Denn in der Phase zwischen Ostern und Parusie, wenn er, ausgestattet mit aller Vollmacht im Himmel und auf Erden, zur Rechten des Vaters sitzen wird, gibt es keine Plätze für Jünger als Throngenossen. Die Einsetzung Jesu zum mit universaler Vollmacht ausgestatteten Weltenherrn (28,18b) bildet für Matthäus die Basis, dass der Auferstandene seine Jünger nun nicht mehr nur allein zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ sendet (10,6, vgl. 15,24), sondern die Sendung auf alle (übrigen) Völker ausweitet. Die irdische Manifestation der Herrschaft des Auferstandenen konzentriert sich also, wie angedeutet, darauf, dass Jesus seine Jünger beauftragt, Menschen aus allen Völkern zu seinen Jüngern zu machen, indem sie diese lehren, seine Gebote zu befolgen, und er ihnen dazu sein Mit-Sein zusagt. Hingegen zieht die Inthronisation Jesu zur Rechten Gottes eben noch nicht eine sichtbare Umwälzung der irdischen Machtverhältnisse nach sich. Dass Matthäus in 16,28 neben der Ersetzung des markinischen įȦıȚȞ IJȞ ȕĮıȚȜİĮȞ IJȠ૨ șİȠ૨ ਥȜȘȜȣșȣĮȞ (Mk 9,1) durch įȦıȚȞ IJઁȞ ȣੂઁȞ IJȠ૨ ਕȞșȡઆʌȠȣ ਥȡȤંȝİȞȠȞ ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ ĮIJȠ૨ auch ਥȞ įȣȞȝİȚ aus Mk 9,1 weggelassen hat, kann man hier einstellen.82 In diesem Zusammenhang ist ferner noch einmal auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (13,24–30) und seine Deutung (13,36–43) zurückzukommen. Der Aussendung der Jünger durch den Auferstandenen entspricht in der metaphorischen Sprache des Gleichnisses die Aussaat des guten Samens. Das Augenmerk ist in dem Gleichnis aber darauf gerichtet, dass „der Feind“ mitten unter den Weizen Unkraut sät, das mit dem Weizen zusammen wächst und bis zur Ernte stehen bleibt. Ohne Bild gesprochen: Die Zeit der ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes ist neben der Gewinnung von „Söhnen des Reiches“ durch die Fortexistenz des Bösen gekennzeichnet. Ihre Aussendung bedeutet für die Jünger daher trotz des Mit-Seins Jesu, dass sie in der Nachfolge Anfeindung, Bedrängnis und Verfolgung ausgesetzt sein werden (5,10–12.44; 10,16–25; 24,9f und öfter). Jesu Antwort an die Zebedaiden bringt ebendieses Moment in der Frage zur Sprache, ob sie den Kelch zu trinken vermögen, welchen er trinken wird.83 Während ihre Bitte sich an der Ankündigung der Auferweckung festmachte und dabei die Leidensankündigung übersprang, obwohl diese mit der Nähe zu Jerusalem wesentlich detaillierter als zuvor ausfiel und somit den Ton erhielt, lenkt Jesus den Blick in seiner Replik also auf sein bevorstehendes Leiden84 82
Vgl. ROLOFF, Reich (s. Anm. 38), 289. Zur Deutung der Metapher vom Trinken des Bechers s. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 10), 161f. 84 Zum (Trinken des) Kelch(s) als Symbol für das Jesu bevorstehende Todesgeschick vgl. 26,39. Die These eines Missverständnisses der Jünger, wie HARRINGTON, Gospel of Matthew (s. Anm. 1), 288 annimmt, nach dem die Jünger die Rede vom Kelch mit der Freude 83
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und bezieht die Jünger in sein Leidensgeschick mit ein (vgl. 10,24f). Dass die beiden Zebedaiden Jesu Frage bejahen, ist nicht in Analogie zu Petrus’ Beteuerungen in 26,33.35 als ein leeres Wort zu disqualifizieren.85 Das Martyrium des Jakobus unter Agrippa I. (41–44) war im matthäischen Umfeld sicherlich bekannt, und in 20,23 bekräftigt Jesus selbst, dass sie den Kelch trinken werden.86 Sie kommen auf Erden nicht zur Herrschaft, sondern teilen mit Jesus das Schicksal des Leidens. Der Schluss der Replik Jesu in V.23b macht darüber hinaus deutlich, dass er ihnen auch danach ihre Bitte nicht wird erfüllen können, weil dies gar nicht in seiner Entscheidungsbefugnis liegt. Gegenüber der Bitte der Zebedaiden liegt dabei in diesen abschließenden Worten eine Verschiebung der Perspektive vor. Denn in V.23b geht es nicht mehr um das Reich Jesu, des Menschensohnes, sondern um das Reich des Vaters (13,43), um das Himmelreich, in das die Gerechten nach der Parusie bzw. nach dem Endgericht hineingehen werden (Mt 5,20; 7,21), wie das Echo zu ȠੈȢ ਲIJȠȝĮıIJĮȚ ਫ਼ʌઁ IJȠ૨ ʌĮIJȡંȢ ȝȠȣ (20,23) in 25,34 unterstreicht. Kurzum: Die Zebedaiden haben um etwas gebeten, das es in der Zeit zwischen der Auferweckung und der Parusie, also in der Zeit des Reiches des Menschensohnes, für sie gar nicht gibt und das er mit Blick auf das Reich des Vaters nicht zu vergeben hat, so dass sie mit ihrem Anliegen bei ihm an der falschen Adresse sind. Einzubeziehen ist in diesem Zusammenhang noch eine subtile Querverbindung zwischen der Zebedaidenbitte in V.21 und der Kreuzigungsszene, denn von Plätzen zur Rechten und zur Linken Jesu ist in 27,38 wieder die Rede.87 Matthäus hat diese Querverbindung noch dadurch betont, dass er in 20,21 Markus’ İੈȢ ਥȟ ਕȡȚıIJİȡȞ (Mk 10,37) zu İੈȢ ਥȟ İȦȞȝȦȞ geändert (und damit mit Mt 20,23 par Mk 10,40 vereinheitlicht) sowie zudem in 27,38 die Notiz von der Kreuzigung der beiden Räuber anders als Mk 15,27a ins Passiv gesetzt hat des messianischen Festmahls im Himmelreich assoziieren, ist nicht plausibel. Denn schon die Frage, ob sie den Kelch zu trinken vermögen, passt dazu nicht. 85 Ebenso SAND, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 10), 407: Jesus „bekräftigt die Leidensbereitschaft der Zebedäiden, sie wird nicht in Frage gestellt“. Anders z.B. HARRINGTON, Gospel of Matthew (s. Anm. 1), 289, vgl. auch LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 10), 162: „Die Leser/innen haben wohl mit Skepsis auf diese vollmundige Beteuerung reagiert“. 86 Zur Frage eines Martyriums des Johannes s. einerseits M. HENGEL, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch, WUNT 67, Tübingen 1993, 88–92, der dazu tendiert, dem Zweig der altkirchlichen Tradition, die den Märtyrertod des Johannes bezeugt, historisch den Vorzug zu geben; andererseits DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 90–92, die der bei Irenäus (AdvHaer 2,22,5; 3,3,4, zitiert von Eusebius, Hist Eccl 3,23,1–4) bezeugten Ansicht, dass Johannes noch in den Tagen Trajans in Ephesus lebte, folgen. M. OBERWEIS, Das Martyrium der Zebedaiden in Mk 10.35–40 (Mt 20.20–3) und Offb 11.3–13, NTS 44 (1998), 74–92 liest Offb 11,3–13 als Zeugnis für das Martyrium der beiden Zebedäussöhne. 87 Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 88; KEENER, Gospel of Matthew (s. Anm. 11), 486; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 35), 820; FRANCE, Gospel of Matthew (s. Anm. 13), 757.
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(„da werden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt“), so dass die nachfolgende Konkretisierung der Angabe bei ihm – analog zu 20,21 – nicht im Akkusativ, sondern im Nominativ steht (İੈȢ ਥț įİȟȚȞ țĮ İੈȢ ਥȟ İȦȞȝȦȞ). Durch diese wortgetreue Aufnahme der Wendung wird 20,21 „ein tiefgründiger Hintersinn unterlegt […]: In Jerusalem wird es Plätze zur Rechten und zur Linken geben, aber nicht auf einem Thron, sondern am Kreuz.“88 Oder anders: Der irdische Thron des „Königs von Israel“ (27,42) ist allein das Kreuz. Die Querverbindung der Zebedaidenbitte zu 27,38 liest sich wie ein Kommentar zu der Wendung des Gesprächs in 20,20–23, die Jesus diesem mit seiner Frage in V.22 gibt: Mitregentschaft mit Jesus auf Erden bedeutet nichts anderes, als sein Kreuz auf sich zu nehmen und Jesus nachzufolgen (10,38; 16,24). Für die Jünger gilt dies auch nach Ostern. Während der Auferstandene zur Rechten Gottes entrückt ist, bleiben sie auf Erden zurück. Jesus hat den Leidensweg durchschritten, für die Jünger ist dieser auch nach der Erhöhung Jesu Teil ihrer Lebensrealität. Dies hat nicht zuletzt Konsequenzen für das Ethos der Nachfolge, wie die in 20,25–28 folgende kurze ethische Unterweisung Jesu illustriert. Ihr Modell ist der irdische Weg des Menschensohnes, der in V.28 pointiert zu Sprache kommt: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben.“ Entsprechend geziemt es sich für die Jünger, die Rolle des Dieners und des Knechts einzunehmen (V.26f). Das Streben nach Statuspositionen hat darin keinen Ort; das übliche irdische Herrschaftsgebaren, wie es in V.25 dargestellt wird89, kann lediglich als Kontrastfolie für das Ethos der Jünger dienen.90
5. Resümee Die voranstehenden Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die matthäische Ersetzung von ਥȞ IJૌ įંȟૉ ıȠȣ (Mk 10,37) durch ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ ıȠȣ (Mt 20,21) Teil eines Verständnisses der Zebedaidenbitte ist, die gegenüber der markinischen Vorlage eine deutliche Sinnverschiebung bedeutet. Wird der Szenerie schon durch das Ensemble von Proskynese und Schweigen der Zebedaidenmutter sowie der matthäischen Gestaltung der Antwort Jesu mit „was willst du?“ royales Kolorit verliehen, so fügt sich die sich anschließende Bitte
88
KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 2), 316. Mit țĮIJĮțȣȡȚİİȚȞ und țĮIJİȟȠȣıȚȗİȚȞ werden nicht „Sonderfälle von gravierendem Fehlverhalten der Herrscher in den Blick genommen, sondern es geht hier generell um die in der Welt üblichen Strukturen“ (KONRADT, Evangelium nach Matthäus [s. Anm. 2], 317). Vgl. zu dieser Frage LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 10), 163. 90 Zur ethischen Unterweisung in Mt 20,24–28 s. KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 2), 316f. 89
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nach den Ehrenplätzen in der ȕĮıȚȜİĮ Jesu nicht nur allgemein in die matthäische Betonung der königlichen Messianität Jesu ein, sondern sie gewinnt zugleich in diesem Rahmen durch die dem ersten Evangelium eigenen kontextuellen Bezüge zu 16,28 und 19,28 einen spezifischen Zuschnitt. Die Zebedaiden gehen aufgrund der vorangehenden Ankündigungen Jesu davon aus, dass er nach seiner Auferweckung ein irdisches messianisches Reich aufrichten wird. Da ihre Ankunft in Jerusalem bevorsteht, sprechen sie Jesus – über ihre Mutter als Sprachrohr – als den kommenden König an und erbitten die Ehrenplätze zur Rechten und zur Linken in dem in 19,28 verheißenen Kreis der Throngenossen. Die ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes, von der in 13,41 und 16,28 die Rede ist, ist aber nicht im Sinne der Etablierung einer irdischen Herrschaft zu verstehen, wie sie etwa in PsSal 17 im Rahmen der Erwartung des davidischen Messias breiter ausgeführt wird, sondern Matthäus bezeichnet damit die königliche Herrschaft des zu Gott entrückten und zur Rechten Gottes sitzenden Auferstandenen, deren irdische Manifestation im Wesentlichen darin besteht, dass er seine Jünger aussendet, um aus allen Völkern Jünger zu gewinnen, die seinen Geboten folgen. Für die Jünger ist die Phase der ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes daher nicht schon eine Zeit der Throngenossenschaft, sondern nach wie vor der Nachfolge unter den Bedingungen des „Kosmos“, in dem die „Söhne des Reiches“ bis zum Ende des Äons mit den „Söhnen des Bösen“ koexistieren müssen (13,38f) und entsprechend Bedrängnis und Anfeindung ausgesetzt sind. Im Blick auf den historischen Kontext der matthäischen Fassung der Zebedaidenbitte ist schließlich festzuhalten, dass sich der Umstand, dass der Evangelist mit ihr dem Missverständnis einer irdischen messianischen Herrschaft Jesu Raum gab, wohl am plausibelsten im Lichte des Konfliktes zwischen den matthäischen Christusgläubigen und ihrem pharisäisch dominierten synagogalen Umfeld erklären lässt. Im Lichte frühjüdischer Messiaserwartung, wie sie sich etwa in PsSal 17 ausspricht, liegt die Annahme nahe, dass im Rahmen der pharisäischen Infragestellung des Glaubens an Jesus als dem verheißenen Messias die Tatsache, dass Jesus weder in seinem irdischen Wirken noch mit seiner von seinen Anhängern bezeugten Auferweckung eine Umwälzung der Machtverhältnisse auf Erden gebracht hat, als ein gewichtiger Einwand gegen den Christusglauben diente. Matthäus muss sich dem stellen. Er muss nicht nur eine alternative Vorstellung vom irdischen Wirken des davidischen Messias plausibel machen können, sondern auch die nachösterliche Zeit in die Vorstellung vom Königtum Jesu integrieren. Mit anderen Worten: Im Blick auf die bedrängte Gemeinde dient Matthäus’ Konzeption wesentlich der Erklärung und damit Bewältigung der nachösterlichen Situation. Mit der Zebedaidenfrage nimmt Matthäus die Vorstellung eines irdischen messianischen Königreiches auf, um sie von Jesus selbst als ein Missverständnis abweisen zu lassen. Matthäus bleibt aber nicht bei der Negation stehen, schon gar nicht entwickelt er aus der skizzierten Frontstellung heraus eine Ablehnung königlicher davidischer Messianologie, sondern er entwirft zum einen
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– mit kräftigen Bezügen auf die Schrift91 – ein alternatives Portrait des davidischen Messias als eines sanftmütigen Königs, der sich seinem Volk zuwendet, indem er die Kranken heilt, die Menschen einlädt, unter sein sanftes Joch zu kommen (11,28–30)92, und schließlich als „König Israels“ (27,42) sein Leben einsetzt, um sein Volk, wie dies in 1,21 als seine Aufgabe ausgewiesen wird, von den Sünden zu retten (vgl. 20,28; 26,28). Zum anderen führt Matthäus die Vorstellung vom Königtum Jesu nachösterlich durch den Gedanken der ȕĮıȚȜİĮ des Menschensohnes weiter, der auf der Basis seiner universalen Vollmacht Jünger aussendet, um Menschen aus allen Völkern durch die Unterweisung in seinen Geboten dem Himmelreich zuzuführen. Und schließlich wird Jesus in seiner königlichen Machtstellung am Ende der Weltzeit als Weltenrichter hervortreten (25,31–46). Die Gerechten werden dann in das ewige Leben eingehen (25,46). Ehrenplätze zu seiner Rechten und seiner Linken hat Jesus aber auch dann nicht zu vergeben.
91
Vgl. oben (bei) Anm. 43. Zur Option, Mt 11,28–30 auf der Basis der Verbindung der Selbstbezeichnung Jesu als ʌȡĮȢ (11,29) zur Konzentration des Zitats aus Sach 9,9 auf die Sanftmut des Königs in 21,5 in den Zusammenhang der königlichen Messianologie des Matthäusevangeliums einzustellen, s. C. MCAFEE MOSS, The Zechariah Tradition and the Gospel of Matthew, BZNW 156, Berlin – New York 2008, 77–80. 92
Die Taufe des Gottessohnes Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium (Mt 3,13–17) Die kurze markinische Notiz über die Taufe Jesu (Mk 1,9) ist im Matthäusevangelium um einen Dialog zwischen dem Täufer und Jesus erweitert worden, dessen Deutung nach wie vor kontrovers ist. Auf den Versuch des Täufers, Jesus von der Taufe abzuhalten, reagiert Jesus mit den Worten: „Lass jetzt! So nämlich ziemt es sich für uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Ulrich Luz hat in seinem großen Matthäuskommentar pointiert vermerkt: „In dem kurzen Ausspruch Jesu ist jedes Wort strittig.“1 Dies gilt insbesondere für die Interpretation von įȚțĮȚȠıȞȘ. Luz hat sich der Position angeschlossen, die įȚțĮȚȠıȞȘ im ethischen Sinn auf die vom Menschen zu erfüllende Forderung bezieht2, und hat insbesondere die Deutung auf die Passion3 als „eine verbreitete Eisegese in den Text“4 abgelehnt. Luz verneint dabei ferner explizit einen spezifischen Bezug von ʌ઼ıĮ įȚțĮȚȠıȞȘ auf Jesus: „‚Alle Gerechtigkeit‘ ist nicht eine besondere, nur von Jesus zu erfüllende Gerechtigkeit des Gottessohns, sondern ‚alles, was gerecht ist‘“5. Die Frage, warum es Gottes Wille sein soll, dass Jesus sich der Johannestaufe unterzieht, bleibt hier freilich zunächst offen. 1 U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 212. 2 LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 212–214. Siehe ferner z.B. J.D. KINGSBURY, The Title „Son of God“ in Matthew’s Gospel, BTB 5 (1975), 3–31: 9; I. B ROER, Versuch zur Christologie des ersten Evangeliums, in: The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck), hg. v. F. v. Segbroeck u.a., Bd. 2, BETL 100, Leuven 1992, 1251–1282: 1275 („Wir haben es hier mit den Motiven vom Gehorsam gegen und vom Wissen um den Willen Gottes zu tun.“). Siehe auch O. EISSFELDT, ȆȜȘȡıĮȚ ʌ઼ıĮȞ įȚțĮȚȠıȞȘȞ in Matthäus 3,15, ZNW 61 (1970), 209–215: 213–215. 3 Siehe vor allem O. CULLMANN, Die Tauflehre des Neuen Testaments. Erwachsenenund Kindertaufe, AThANT 12, Zürich 1948, 13f und J. SCHNIEWIND, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 101962, 27: „Die Rechtsordnung Gottes besteht darin, daß der Messias, der Gotteskönig, sich zu seinem Volk hält, daß der Knecht Gottes für die ‚Vielen‘ eintritt (Jes. 53,12). Jesus stellt sich mit Denen [sic!] zusammen, die Sünder sind.“ Siehe noch unten Anm. 10. 4 LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 214. 5 LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 212f.
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Die Taufe des Gottessohnes
Anders gesagt: Wenn es in 3,15 um eine Demonstration des Gehorsams Jesu geht, müsste man erklären können, wieso Jesus damit, dass er sich taufen lässt, dem göttlichen Willen entspricht, wenn Gottes Wille hier nicht als geradezu willkürlich – bzw. jedenfalls als nicht mit einem tieferen Sinn behaftet – erscheinen soll. Damit aber ist zugleich zu fragen, ob Mt 3,15 tatsächlich unter Absehung von einem spezifischen christologischen Sinn suffizient erklärbar ist. In kritischer Auseinandersetzung mit Luz hat zuletzt Roland Deines auf einen exklusiven Bezug der Rede von der Erfüllung der Gerechtigkeit auf Jesus insistiert6 und zugleich die ‚ethische‘ Deutung von įȚțĮȚȠıȞȘ in Frage gestellt. Die durch Jesus erfüllte Gerechtigkeit sei vielmehr „die Ermöglichung der Teilgabe und Teilhabe an der Königsherrschaft Gottes, weil er als Davidssohn sein Volk von seinen Sünden rettet (1,21) und ‚mit ihm‘ (1,23) ist“7. Insofern die Ankündigung in 1,21 in der matthäischen Konzeption wesentlich durch Jesu Tod eingelöst wird8, steht Deines der 3,15 mit der Passion in Beziehung setzenden Deutung nicht fern9, wie sie jüngst in dem Jesusbuch von Joseph Ratzinger wieder entfaltet wurde.10 Ein Konsens über die Bedeutung der Taufe Jesu in Mt 3,13–17 scheint nicht in Sicht. Man kann in einem ersten Schritt versuchen, sich der Aussage von 3,15 über eine Erörterung der sonstigen Verwendung von įȚțĮȚȠıȞȘ bei Matthäus zu nähern, doch lässt sich damit allein noch kein hinreichendes Verständnis des Textes gewinnen, zumal angesichts der Polyvalenz von įȚțĮȚȠıȞȘ bzw. von ʷʣʶ/ʤʷʣʶ in alttestamentlicher Tradition11 nicht von vornherein auszuschließen ist, dass Matthäus įȚțĮȚȠıȞȘ an verschiedenen Stellen mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen verwendet hat. Es ist daher in einem zweiten Schritt 6
Siehe R. DEINES, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2005, 132: Ȇ઼ıĮ įȚțĮȚȠıȞȘ meine „die exklusiv von Jesus zu erfüllende Gerechtigkeit Gottes“ (s. auch 255.439). 7 DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 644. 8 Siehe dazu M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 50.320f. 9 Siehe gleichwohl die Vorsicht von DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 129: „Dennoch dürfte es zu weit gehen, bereits in 3,15 einen sicheren Hinweis auf die Passion zu sehen (wiewohl sich dies für den – vorauszusetzenden – informierten Leser nahelegt“ (Hervorhebung im Original). 10 J. RATZINGER/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg – Stuttgart 22007, 43–45, vor allem a.a.O., 45: „Die ganze Bedeutung der Taufe Jesu, sein Tragen der ‚ganzen Gerechtigkeit‘, wird erst im Kreuz offenbar: Die Taufe ist Todesannahme für die Sünden der Menschheit“. 11 Zu diesem Argument vgl. J.P. MEIER, Law and History in Matthew’s Gospel. A Redactional Study of Mt. 5:17–48, AnBib 71, Rom 1976, 77; G. HÄFNER, Der verheißene Vorläufer. Redaktionskritische Untersuchung zur Darstellung Johannes des Täufers im MatthäusEvangelium, SBB 27, Stuttgart 1994, 110f.
Die Taufe des Gottessohnes
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der Sinn der Johannestaufe bei Matthäus zu erörtern und schließlich nach der christologischen Motivik zu fragen, die die matthäische Ausgestaltung von Mk 1,9–11 bestimmt.
1. ǻȚțĮȚȠıȞȘ im Matthäusevangelium Ich stelle eine Vorbemerkung voran: Die Analyse der matthäischen Verwendung von įȚțĮȚȠıȞȘ ist nicht auf der Basis des Stellenwerts, der der Rede von įȚțĮȚȠıȞȘ und Stammverwandten in (einigen) paulinischen Briefen zukommt, apriorisch damit zu belasten, dass sich hier im Blick auf die matthäische Theologie die soteriologische Frage nach dem Verhältnis von heilschaffendem Handeln Gottes und menschlichem Tun zentral entscheidet. Anders gesagt: Wenn Matthäus mit der Rede von įȚțĮȚȠıȞȘ durchgehend das dem Menschen gebotene Handeln in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes im Blick haben sollte, wäre damit noch keineswegs gesagt, dass er das dem Menschen aufgetragene Tun nicht in ein Heilshandeln Gottes eingebettet sieht und er, um ‚klassisches‘ Vokabular aufzunehmen, als Vertreter einer reinen ‚Werkgerechtigkeit‘ zu klassifizieren ist. Es wäre nur gesagt, dass Matthäus nicht auf die Rede von einer heilschaffenden Gerechtigkeit Gottes zurückgreift, um Gottes erbarmungsvolles Heilshandeln auszudrücken. Die Belege von įȚțĮȚȠıȞȘ im Mt konzentrieren sich auffallend auf die Bergpredigt (5,6.10.20; 6,1.33). Daneben ist, von 3,15 abgesehen, nur noch in 21,32 vom įઁȢįȚțĮȚȠıȞȘȢ die Rede, auf dem der Täufer gekommen sei. Da die Aussage Jesu in 3,15 den Täufer einbezieht, ergibt sich hier in gewisser Weise eine inclusio. Im Folgenden beschränke ich mich zunächst auf die Belege in der Bergpredigt. Auf 3,15 und 21,32 wird dann in den nachfolgenden Abschnitten noch eigens einzugehen sein. Schwerlich bestreiten lässt sich ein ethisches Verständnis für 5,20 und 6,1.12 6,1 spricht explizit vom Tun der Gerechtigkeit. Ebendarum geht es auch in 5,20, wo Jesus die Gerechtigkeit als Eingangsvoraussetzung für die Basileia thematisiert. Das auf ihrem unzureichenden Verständnis des Willens Gottes basierende Gerechtigkeitsniveau der Schriftgelehrten und Pharisäer reicht für den Zutritt zum Himmelreich nicht. Eine dafür qualifizierende Gerechtigkeit ist nur auf der Basis der Darlegung des Willens Gottes durch Jesus möglich. Die nachfolgenden Antithesen (5,21–48) illustrieren dies, indem dem (polemisch unterstellten) bloß wörtlichen bzw. den Sinngehalt einschränkenden Verständnis der Toragebote bei den Schriftgelehrten und Pharisäern die den 12 Dies konzediert auch D.A. HAGNER, Righteousness in Matthew’s Theology, in: Worship, Theology and Ministry in the Early Church (FS R.P. Martin), hg. v. M.J. Wilkins – T. Paige, JSNTS 87, Sheffield 1992, 101–120: 111: „There is little reason to doubt that the ethical conduct of the disciples is in view in these passages.“
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Willen Gottes in vollgültiger Weise erschließende Toraauslegung Jesu gegenübergestellt wird.13 Die Belege für įȚțĮȚȠıȞȘ in der vierten und achten Seligpreisung (5,6.10) signalisieren eine Untergliederung der ersten acht Makarismen in zwei Abschnitte.14 Mit dieser strukturierenden Funktion zeigt sich įȚțĮȚȠıȞȘ als ein Leitwort der Makarismenreihe. Die Makarismen zeigen bei Matthäus bekanntlich eine ethisierende Tendenz, die er aber – ausweislich 5,4 – nicht mit letzter Konsequenz zur Geltung gebracht hat. Nach Deines sind mit denen, die „hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“, Menschen anvisiert, „die sich zutiefst nach einer Gerechtigkeit sehnen, deren Verwirklichung nicht in ihrem Vermögen liegt, sondern gänzlich von Gottes Entgegenkommen und Gewähren erwartet wird“15. Gerechtigkeit sei hier als Gottes „‚Gabe‘“16 verstanden. Liest man so, kann man die Gerechtigkeit in dem Verheißungssatz eindenken: Die, die sich nach Gerechtigkeit sehnen, werden sie empfangen. Zwingend ist eine solche Korrelation zwischen Vorder- und Nachsatz aber keineswegs17, wie andere Seligpreisungen zeigen (s. 5,3.5.8–10).18 Deines hat seine Interpretation 13
Zum hier vorausgesetzten Verständnis der Antithesen s. in diesem Band den Beitrag „Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“, 294–303. – Zum Verständnis von įȚțĮȚȠıȞȘ in 5,20 vgl. exemplarisch B. PRZYBYLSKI, Righteousness in Matthew and His World of Thought, MSSNTS 41, Cambridge – New York 22004, 87: ǻȚțĮȚȠıȞȘ „is a term which refers to conduct according to a norm which in this case is the law.“ 14 Zur Untergliederung s. exemplarisch H. GIESEN, Christliches Handeln. Eine redaktionskritische Untersuchung zum įȚțĮȚȠıȞȘ-Begriff im Matthäus-Evangelium, EHS.T 181, Frankfurt a.M. – Bern 1982, 84–86; LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 269. 15 DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 148. Siehe ferner HÄFNER, Vorläufer (s. Anm. 11), 119–127. – Deines profiliert seine Interpretation des Weiteren dadurch, dass er für die Deuteworte zu Brot und Wein in 26,26–28 einen Rückverweis auf 5,6 postuliert und folgert: „Das verheißene Gesättigtwerden ist […] die Teilhabe am neuen Bund, an der von Jesus ermöglichten Gerechtigkeit“ (a.a.O., 152). 16 DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 149. In diesem Sinn z.B. auch M.J. FIEDLER, Der Begriff įȚțĮȚȠıȞȘ im Matthäus-Evangelium, auf seine Grundlagen untersucht, Diss. masch., Halle-Wittenberg 1957, 114–118 (vgl. ders., „Gerechtigkeit“ im Matthäus-Evangelium, ThV 8 [1977], 63–75: 66); G. BARTH, Das Gesetzesverständnis des Evangelisten Matthäus, in: G. Bornkamm – G. Barth – H.J. Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen 71975, 54–154: 131; MEIER, Law (s. Anm. 11), 77f; R.H. GUNDRY, Matthew. A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, Grand Rapids (MI) 21994, 70; HAGNER, Righteousness (s. Anm. 12), 112f. GIESEN, Handeln (s. Anm. 14), 100–103 sieht in 5,6 den Geschenkcharakter der Gerechtigkeit betont, ohne die Forderung zu einem gerechten Handeln, das durch die geschenkte Gerechtigkeit ermöglicht sei, auszuschließen. 17 Zudem lässt sich auch dann, wenn man von einer Korrelation von Vorder- und Nachsatz ausgeht, also „Gerechtigkeit“ in 5,6b eindenkt, 5,6a ohne Weiteres auch aktivisch verstehen, wie TestLevi 13,5 zeigt. 18 Vgl. PRZYBYLSKI, Righteousness (s. Anm. 13), 97; W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 452f.
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durch den Hinweis zu untermauern versucht, dass an den Stellen, an denen „hungern“ und „dürsten“ im AT metaphorisch verwendet wird19, „mit den Verben allein nirgends ein aktives Bemühen um das ersehnte Objekt impliziert ist, vielmehr das Ersehnte häufig überhaupt nicht in der menschlichen Verfügungsgewalt steht“20. Man wird hier allerdings nicht nur fragen müssen, ob tatsächlich an allen oder auch nur der Mehrzahl der von Deines angeführten Stellen metaphorischer Gebrauch vorliegt21; es ist vor allem darauf zu verweisen, dass bei Philo ein eindeutig metaphorischer Gebrauch belegt ist, in dem ein aktives Mühen impliziert ist. So spricht Philo vom „Durst nach Tugend“ (įȥĮਕȡİIJોȢ, Post 172), von den „nach Weisheit Dürstenden“ (įȚȥıȚ ıȠijĮȢ, Virt 79) und von „den nach sittlicher Güte Dürstenden und Hungernden“ (IJȠઃȢ įȚȥȞIJĮȢ țĮ ʌİȚȞȞIJĮȢțĮȜȠțਕȖĮșĮȢ, Fug 139).22 Von daher steht semantisch der ethischen Deutung von 5,6 auf Menschen, die sich um Gerechtigkeit (im Sinne menschlichen Verhaltens) mühen, nichts im Weg.23 Die vierte Seligpreisung würde sich damit der ethisierenden Tendenz der matthäischen Makarismenreihe einfügen. Für diese Deutung spricht nicht zuletzt der Zusammenhang mit der Seligpreisung der um der Gerechtigkeit willen Verfolgten in 5,10. Deines hat hier gegen die verbreitete ethische Deutung24 eingewandt, dass ethisches Verhalten
19 DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 139–145 führt Ps 106,5.9LXX; Jes 32,6; 49,10; 65,13; Jer 38,(12).25LXX; Sir 24,21 sowie Am 8,11 an. 20 DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 146 (Hervorhebung im Original). 21 Auf eine Diskussion dieser Frage muss hier aus Raumgründen verzichtet werden und kann auch verzichtet werden, da die Bedeutung der Belege für das Verständnis von Mt 5,6 gewichtiger noch von anderer Seite in Frage zu stellen ist. Siehe dazu oben im Folgenden. 22 Hinzuweisen ist hier auch auf den Passus in Sir 24,21 (Ƞੂ ਥıșȠȞIJȢ ȝİ [=ıȠijĮȞ] IJȚ ʌİȚȞıȠȣıȚȞ țĮ Ƞੂ ʌȞȠȞIJȢ ȝİ IJȚ įȚȥıȠȣıȚȞ), den DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 144f kaum mit Recht für seine These reklamiert hat. Denn das Verlangen nach mehr, das das „Essen und Trinken“ von Weisheit auslöst, bringt zum Ausdruck, dass der Weisheitsschüler mit seinem Erkenntnisdrang nie ans Ende kommt und immer weitere Erkenntnisse produziert (vgl. V.25–34). Das Verlangen nach Weisheit ist hier von dem aktiven Sich-Mühen um Weisheit schwerlich zu trennen (vgl. J. DUPONT, Les Béatitudes, Tome III: Les Évangélistes, EtB, Paris 1973, 370; GIESEN, Handeln [s. Anm. 14], 92: Es sei „ein aktives Mittun verlangt“.). Siehe ferner auch 1QH 12[4*],11 und die weiteren Belege bei LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 284, Anm. 108. 23 In diesem Sinn deuten auch DUPONT, Béatitudes III (s. Anm. 22), 355–384; PRZYBYLSKI, Righteousness (s. Anm. 13), 96–98; G. STRECKER, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 21985, 38f; J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 1, HThKNT 1.1, Freiburg – Basel – Wien 21988, 124; LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 283f. 24 Zu dieser s. BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 16), 131; PRZYBYLSKI, Righteousness (s. Anm. 13), 98; STRECKER, Bergpredigt (s. Anm. 23), 45; GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 23), 127; LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 289. – HÄFNER, Vorläufer (s. Anm. 11), 132–135 bezieht įȚțĮȚȠıȞȘ in Mt 5,10 dagegen auf das (Festhalten
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nach dem Maßstab der Tora nicht Anlass für Verfolgungen sein könne. Es gelte sogar: „Auch für Heidenchristen ist keine Verfolgungssituation wegen eines bestimmten ethischen Verhaltens denkbar: weder von jüdischer noch von römischer Seite“25. Deines übersieht bei diesem Postulat jedoch, dass zwischen Text und Lebenswelt, d.h. zwischen der sozialen Situation selbst und ihrer (bestimmten Identitätsinteressen dienenden) Interpretation durch die bedrängten Gemeinden zunächst einmal zu differenzieren ist. Die Möglichkeit, dass eine Gemeinde sich wegen ihres ethischen Wohlverhaltens bedrängt sieht, wird durch den 1. Petrusbrief exemplarisch belegt. Zu verweisen ist hier insbesondere auf die Rede vom ʌıȤİȚȞįȚįȚțĮȚȠıȞȘȞ in 1Petr 3,14, die vermutlich Mt 5,10 rezipiert26 und in 1Petr 3,13–17 in einem eindeutig ethischen Zusammenhang steht.27 Wichtiger noch: Das Matthäusevangelium selbst spiegelt einen scharfen Konflikt mit dem pharisäischen Gegenüber, der sich – neben der messianischen Würdestellung Jesu – auch an differierenden Verständnissen der Tora und den darauf basierenden unterschiedlichen Verhaltensweisen entzündet.28 5,10 spiegelt ebendies. Dem fügt sich ein, dass Jesus selbst nach Matthäus von den – durch ihren Neid getriebenen (27,18) – Autoritäten verurteilt und ausgeliefert wird, obwohl gegen ihn nichts vorzubringen war. Der Prozess gegen Jesus ist in der Darstellung von Mt 26,59–66 von Beginn an ein allein auf ȥİȣįȠȝĮȡIJȣȡĮȚ (26,59–
am) Bekenntnis zu Jesus. 5,10 würde dann lediglich die in Q vorgegebene Seligpreisung in V.11f duplizieren. 25 DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 157f. 26 Siehe dazu R. METZNER, Die Rezeption des Matthäusevangeliums im 1. Petrusbrief. Studien zum traditionsgeschichtlichen und theologischen Einfluß des 1. Evangeliums auf den 1. Petrusbrief, WUNT II.74, Tübingen 1995, 7–33. 27 Siehe für viele GIESEN, Handeln (s. Anm. 14), 107; R. FELDMEIER, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief, WUNT 64, Tübingen 1992, 147, Anm. 61. Anders jedoch HÄFNER, Vorläufer (s. Anm. 11), 128–130. 28 Siehe dazu in diesem Band den Beitrag „Die vollkommene Erfüllung der Tora …“ (s. Anm. 13), 303–313. – Hingegen diagnostiziert DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 269 eine „durch das ganze Evangelium begegnende Spannung zwischen Jesus und der Tora bzw. ihren Vertretern in Gestalt der Pharisäer und Schriftgelehrten“. Für Matthäus sind die Pharisäer und Schriftgelehrten aber gerade nicht legitime ‚Vertreter‘ der Tora; er wirft ihnen vielmehr wiederholt Unkenntnis und Unverständnis vor (s. v.a. Mt 9,13; 12,3.5.7; 19,4).
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61)29 beruhender Scheinprozess30, dessen Urteil längst beschlossen ist (26,4.59). Zum matthäischen Jesusbild gehört als ein Grundzug, dass gegen Jesus auf der Grundlage der Tora keine Anklage zu erheben ist. Jesus leidet unschuldig (vgl. 27,4), als ein Gerechter (27,19). 23,34f unterstreicht, dass dasselbe auch für die Jünger gilt: Mit der Verfolgung der Boten Jesu machen die Schriftgelehrten und Pharisäer das Maß ihrer Väter voll (23,32), so dass alles „gerechte Blut“ über sie kommen wird (23,35). Eine Deutung von įȚțĮȚȠıȞȘ im Sinne des dem Willen Gottes entsprechenden Lebenswandels bietet sich schließlich auch für 6,33 an. Der Vers bildet das positive Pendant zu der Mahnung, sich nicht wie die „Heiden“ (V.32) von den Sorgen um die alltäglichen Dinge bestimmen zu lassen. Für die Nachfolger Jesu kommt stattdessen der Ausrichtung auf die Basileia oberste Priorität zu. Analog zur ‚heidnischen Sorge‘ ist hier die konkrete Lebenspraxis jedenfalls mit im Blick. Mit der Einfügung von țĮIJȞįȚțĮȚȠıȞȘȞ in den aus Q vorgegebenen Zusammenhang (s. Lk/Q 12,31) stellt Matthäus ebendies heraus – und lenkt damit auf den in 5,20 vorgebrachten und bereits durch 5,6.10 vorbereiteten Zusammenhang von įȚțĮȚȠıȞȘ und ȕĮıȚȜİĮ zurück. Kennzeichen der Jünger Jesu soll sein, dass sie nach einer die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übersteigenden įȚțĮȚȠıȞȘ streben, indem sie der in den Antithesen vorgetragenen Auslegung des Willens Gottes durch Jesus folgen, welche für Matthäus wesentlicher Bestandteil des von Jesus verkündigten Evangeliums vom Reich (4,23) ist.31 Und diese Gerechtigkeit sollen sie nicht praktizieren, um damit vor Menschen als fromm zu glänzen (6,1); die Ehre gebührt vielmehr Gott (5,16).32 Mit 6,33 nimmt Matthäus den roten Faden, den er mit seinen Gerechtigkeitsaussagen der Bergpredigt eingewoben hat, ganz im Sinne der vorangegangenen Belege auf. „Gottes33 Gerechtigkeit“ meint in 6,33 also nicht sein Heil schaffendes Wirken, sondern blickt auf das vom Menschen
29 Der genetivus absolutus ʌȠȜȜȞ ʌȡȠıİȜșંȞIJȦȞ ȥİȣįȠȝĮȡIJȡȦȞ in 26,60a ist konzessiv aufzulösen: Der Hohe Rat scheitert nicht wie bei Markus, weil es sich um Falschzeugen handelt, sondern obwohl die Zeugen falsch aussagen. Zum Verständnis von 26,61 s. G. HÄFNER, Ein übereinstimmendes Falschzeugnis – zur Auslegung von Mt 26,61, ZNW 101 (2010), 294–299; M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 420f. 30 Vgl. D.J. HARRINGTON, The Gospel of Matthew (SaPaSe), Collegeville (MN) 1991, 383: „From Matthew’s perspective the Jewish ‚trial‘ and condemnation of Jesus were a sham based upon ‚false witness‘ (Matt 26:59)“. 31 Zum Zusammenhang von İĮȖȖȜȚȠȞ IJોȢ ȕĮıȚȜİĮȢ und Bergpredigt s. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 250. 32 Zum Zusammenhang von 5,16 und 6,1 vgl. C. BURCHARD, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 27–50: 44f. 33 Das Personalpronomen ĮIJȠ૨ bezieht sich in 6,33 auf Gott.
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geforderte Verhalten, das der von Jesus eröffneten und ermöglichten Gemeinschaft mit Gott entspricht.34 Möglicherweise ist dabei – wie in įȚțĮȚȠıȞȘ șİȠ૨ in Jak 1,2035 – ein deklaratorisches Moment mitzuhören: Den, der sein Leben auf die ȕĮıȚȜİĮ hin orientiert und also daran ausrichtet, was vor Gott recht ist, wird Gott als Gerechten anerkennen. Zieht man ein Zwischenfazit, so lässt sich für die Bergpredigt ohne Weiteres ein einheitlicher Gebrauch von įȚțĮȚȠıȞȘ festhalten.36 Damit ist, wie angemerkt, nicht die Frage entschieden, inwiefern das von Menschen erwartete gerechte Handeln Matthäus zufolge durch Gott ermöglicht und jedenfalls im Rahmen der messianischen Zuwendung Jesu und des durch Jesus vermittelten Gottesverhältnisses zu verstehen ist. Wohl aber ist entgegen einer von Paulus her geprägten Optik festzuhalten, dass sich diese Thematik bei Matthäus nicht über den ‚Begriff‘ įȚțĮȚȠıȞȘ verhandeln lässt. Der einheitliche Befund in der Bergpredigt lässt für 3,15 (und 21,32) einen analogen Gebrauch erwarten, ohne ihn zu erzwingen. Den Ausführungen zum matthäischen Gebrauch von įȚțĮȚȠıȞȘ in der Bergpredigt sind daher, wie angekündigt, eine Erörterung des Sinngehalts, den Matthäus der Johannestaufe zuschreibt, und eine Analyse der leitenden christologischen Motivik in 3,13– 17 zur Seite zu stellen.
34 Eine ‚ethische‘ Deutung von įȚțĮȚȠıȞȘ vertreten zu Mt 6,33 z.B. auch W. TRILLING, Das wahre Israel. Studien zur Theologie des Matthäus-Evangeliums, StANT 10, München 3 1964, 146f; PRZYBYLSKI, Righteousness (s. Anm. 13), 89–91; STRECKER, Bergpredigt (s. Anm. 23), 144f. Als Gabe verstehen įȚțĮȚȠıȞȘ in 6,33 hingegen z.B. FIEDLER, Begriff (s. Anm. 16), 139–141; MEIER, Law (s. Anm. 11), 78; HÄFNER, Vorläufer (s. Anm. 11), 118f. Vermittelnd z.B. BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 16), 131 („Die Gerechtigkeit ist beides zugleich: Forderung und eschatologische Gabe.“); J.A. ZIESLER, The Meaning of Righteousness in Paul. A Linguistic and Theological Inquiry, MSSNTS 20, Cambridge 1972, 134f.142f; GIESEN, Handeln (s. Anm. 14), 173f. DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 446 interpretiert Mt 6,33 als „Aufruf zu einer missionarischen Existenz“. „Unter dem Einsatz für die Basileia und die ihr zugehörende Gerechtigkeit“ sei „die Verkündigung, die Jesus in besonderer Weise seinen Jüngern als eine dringliche Aufgabe übertragen hat,“ zu verstehen (444f [Hervorhebung im Original]). 35 Siehe dazu M. KONRADT, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief. Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, StUNT 22, Göttingen 1998, 238. – Vgl. ferner grHen 99,10. 36 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 284: „ǻȚțĮȚȠıȞȘ kann an allen matthäischen Stellen als menschliches Verhalten verstanden werden; an einigen muß das Wort so verstanden werden“ (Hervorhebung im Original). Kritisch dazu HÄFNER, Vorläufer (s. Anm. 11), 111.
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2. Die Bedeutung der Johannestaufe nach Mt 3,1–12 Durch die Voranstellung und Neufassung von Mk 1,4 in Mt 3,1f mit der Einführung von Johannes als ȕĮʌIJȚıIJȢ țȘȡުııȦȞ ਥȞ IJૌ ਥȡȝ IJોȢ ȠȣįĮĮȢ țĮ ȜȖȦȞ·ȝİIJĮȞȠİIJİ … und durch die Einfügung von Q 3,7–9 tritt im matthäischen Täuferbild seine Rolle als Umkehrprediger37 und Bote des Himmelreiches betont hervor. Während Markus erzählt, dass Johannes „die Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden verkündigte“ (Mk 1,2), bringt Matthäus die zentrale Botschaft des Täufers in wörtlicher Rede vor: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ (Mt 3,2). Die Worte nehmen, wie vielfach angemerkt wurde, die Botschaft Jesu, wie sie in 4,17 summarisch angeführt und in 10,7 den Jüngern aufgetragen wird, vorweg; sie schließen also Johannes, Jesus und die Jünger als Verkündiger des nahe gekommenen Himmelreiches zusammen.38 Nach Mt 3,6 (par Mk 1,5) ist die Taufe mit dem Bekenntnis der Sünden verbunden. Von tatsächlicher Vergebung der Sünden spricht Matthäus hier im Unterschied zu Mk 1,4 aber zumindest explizit nicht. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass die in Mt 3 aus Mk 1,4 übergangene Wendung İੁȢ ਙijİıȚȞ ਖȝĮȡIJȚȞ vom ersten Evangelisten im Kelchwort (26,28) eingefügt wurde. Gedeutet wird dies, m.E. zu Recht, meist so, dass der Evangelist nicht die Johannestaufe, sondern erst den Tod Jesu mit der Vergebung der Sünden in Zusammenhang bringen wollte.39 Matthäus stellt so den Tod Jesu als das soteriologische Grunddatum heraus. Der Taufe durch den Umkehrprediger Johannes verbleibt in Mt 3 die Funktion, die Umkehr der Täuflinge zu symbolisieren, wobei das Sündenbekenntnis die Abwendung von der früheren Existenz ausdrücklich macht. Zu diesem Verständnis passt, dass Matthäus in V.11 İੁȢȝİIJȞȠȚĮȞeingefügt hat40 und also den Täufer selbst seine Wassertaufe als Taufe zur Umkehr bezeichnen lässt. Diachron betrachtet kann man hier ȕʌIJȚıȝĮȝİIJĮȞȠĮȢİੁȢਙijİıȚȞਖȝĮȡIJȚȞ aus Mk 1,4 nachklingen hören; umso mehr fällt die Verkürzung zu İੁȢ 37
Treffend GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 23), 65: „Alles, was er [sc. Johannes, M.K.] tat, kann in dem Wort ‚künden‘ (țȘȡııȦȞ) zusammengefaßt werden.“ 38 Vgl. die Sequenz in Mt 21,28–22,14, in der ebenfalls Johannes (21,28–32), Jesus (21,33–46) und die Jesusboten (22,1–10) verbunden werden (vgl. D. MARGUERAT, Le Jugement dans l’Évangile de Matthieu, MoBi(G) 6, Genf 1981, 280f). 39 Siehe z.B. HÄFNER, Vorläufer (s. Anm. 11), 13.33 („Reduzierung der Taufe des Johannes auf ein ȕʌIJȚıȝĮ İੁȢ ȝİIJȞȠȚĮȞ ohne sündenvergebende Qualität“ [33]); GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 23), 68.72; DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 18), 292; D.M. GURTNER, The Torn Veil. Matthew’s Exposition of the Death of Jesus, MSSNTS 139, Cambridge 2007, 134. Siehe aber als Gegenstimme LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 205. 40 Zur Frage matthäischer Redaktion s. HÄFNER, Vorläufer (s. Anm. 11), 43; GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 23), 64.
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ȝİIJȞȠȚĮȞ auf. Im Kontext von Mt 3,2 verstärkt sich damit zugleich der Eindruck, dass Matthäus den Akzent von der Taufe selbst auf die Verkündigung zu verlagern sucht.41 Kurzum: Das Wirken des Täufers besteht zentral darin, die Menschen angesichts des nahe herbeigekommenen Himmelreiches zur Umkehr zu mahnen; indem sich die Menschen von Johannes taufen lassen, unterstreichen sie ihre Umkehrbereitschaft. Schon angesichts der Mahnung in 3,8, Frucht zu bringen, die der Umkehr würdig ist, ist dabei evident, dass die Umkehr unabdingbar einen veränderten Lebenswandel einschließt. Jesu Aussage über den Täufer in 21,32 im Rahmen der Anwendung des Gleichnisses von den beiden Söhnen, dass Johannes ਥȞįįȚțĮȚȠıȞȘȢgekommen ist, lässt sich hier einstellen. Im Kontext von 21,23–27 gelesen beantwortet Jesus hier die Frage nach der Herkunft der Johannestaufe (21,25). Dass Johannes ਥȞįįȚțĮȚȠıȞȘȢ gekommen ist, impliziert seinen eigenen gerechten Wandel42, blickt aber vor allem auf seine Botschaft, also darauf, dass er die Menschen mit seiner Umkehrbotschaft zur Gerechtigkeit zu führen suchte 43, denn die nachfolgende Kontrastaussage, dass die Autoritäten im Unterschied zu den Zöllnern und Dirnen Johannes nicht geglaubt haben (vgl. 21,25), bezieht sich darauf, dass die Autoritäten der Umkehrpredigt des Täufers (vgl. 3,2.7– 10) nicht Folge geleistet haben.
3. Die christologische Motivik in Mt 3,13–17 Die in 3,14f von Matthäus eingefügte Szene knüpft an die Ankündigung des „Stärkeren“ in 3,11 an: Der, dem Johannes den Weg bereiten soll (V.3), dessen Kommen er angekündigt und dessen Überordnung er durch die Worte, dass er nicht würdig sei, ihm die Schuhe nachzutragen, nachdrücklich herausgestellt hat (V.11), kommt nun zu ihm. Die – in der Auslegung meist gar nicht gestellte oder aber ohne Weiteres bejahte – Frage, ob in dem Versuch des Täufers in
41
Vgl. HÄFNER, Vorläufer (s. Anm. 11), 10. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 3: Mt 18–25, EKK 1.3, Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1997, 212 bezieht die Wendung auf „den gerechten, dem Willen Gottes entsprechenden Lebenswandel“. 43 Vgl. G. STRECKER, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie des Matthäus, FRLANT 82, Göttingen 31971, 187; ZIESLER, Righteousness (s. Anm. 34), 131; PRZYBYLSKI, Righteousness (s. Anm. 13), 96; J. NOLLAND, The Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids (MI) – Bletchley 2005, 153f („His concern was […] to call people back into a right relationship with God. Through repentance and baptism people would once again be set on the path of righteousness.“). W. POPKES, Die Gerechtigkeitstradition im Matthäus-Evangelium, ZNW 80 (1989), 1–23: 6 sieht in Mt 21,32 „die Zielsetzung des Täufers“ zum Ausdruck kommen und paraphrasiert: „‚Johannes wollte euch zur Gerechtigkeit führen, aber ihr glaubtet ihm nicht‘.“ 42
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V.14, Jesus von der Taufe abzuhalten, die präzise Erkenntnis des Täufers vorausgesetzt ist, dass Jesus dieser Stärkere ist, stellt vor das Problem des Verhältnisses von 3,14 zu 11,2f, wo der inzwischen inhaftierte Täufer aufgrund der Kunde über Jesus bei diesem anfragen lässt, ob er der Kommende sei. Bejaht man, dass 3,14 Johannes’ Erkenntnis zum Ausdruck bringe, dass Jesus der erwartete „Stärkere“ sei, muss man entweder annehmen, dass Matthäus die dann zwischen 11,2f und 3,14 bestehende Spannung nicht bemerkt oder nicht für wichtig erachtet hat, oder man muss postulieren, dass Johannes zwischenzeitlich zum Zweifler geworden ist und aufgrund dessen, was von Jesus zu hören ist, hinter seine frühere Erkenntnis zurückgefallen ist.44 Der Zweifel des Täufers könnte dann des Näheren eine andere, für Matthäus fehlgeleitete Messiaserwartung reflektieren, nach der Jesu Heilungen, so erstaunlich sie auch sein und so sehr sie auf Gottes machtvolles Eingreifen verweisen mögen, nicht reichen, um Jesus als Messias auszuweisen. Nun ist im Blick auf die Erörterung dieser These in methodischer Hinsicht grundlegend zu beachten, dass Mutmaßungen über Johannes als historische Person, also über die mutmaßliche Messiaserwartung des Täufers für die Klärung des Verhältnisses von 3,14 zu 11,2f keine Rolle spielen; es geht vielmehr um Johannes als Figur der matthäischen Erzählung. Im Kontext der matthäischen Erzählkonzeption aber ist es gerade nicht plausibel, die Kunde von Jesu wundersamen Taten als Auslöser von Zweifel aufzufassen. Matthäus ist im Gegenteil bestrebt, Jesu Heilungen als klares Indiz für seine Messianität zu präsentieren, die sich auf diese Weise in einem von 9,33 über 12,23 bis 21,9 fortschreitenden Erkenntnisprozess sogar den Volksmengen erschließt.45 Man müsste also annehmen, dass ausgerechnet Johannes hinter dem christologischen Erkenntnisgewinn der Volksmengen zurückbleiben würde. Das ist unwahrscheinlich. Anders gesagt: Im matthäischen Kontext kann man die Notiz des Erzählers in 11,2a, dass Johannes von den „Werken Christi (IJ ȡȖĮ IJȠ૨ ȋȡȚıIJȠ૨)“ hörte, kaum anders denn positiv als Auslöser einer Frage nach der messianischen Identität Jesu lesen. Will man nicht zu der ultima ratio greifen, Matthäus eine Inkohärenz in der Erzählung anzulasten, kann man erwägen, ob 3,14 wirklich einschließt, dass Johannes in Jesus den zuvor angekündigten Stärkeren, der mit Geist und Feuer taufen wird, gesehen hat. Explizit wird dies jedenfalls nicht gesagt. 3,14 ist zunächst nur zu entnehmen, dass Johannes Jesus als ihm übergeordnet wertet, ohne Jesu Rolle präzise zu definieren.46 11,2f würde dann nicht keimenden Zweifel des Täufers, sondern im Gegenteil einen Erkenntnisfortschritt zum
44 Siehe z.B. GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 23), 406; U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 2: Mt 8–17, EKK 1.2, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1990, 167; W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 2, ICC, Edinburgh 1991, 239; D.A. HAGNER, Matthew 1–13, WBC 33A, Dallas (TX) 1993, 300; R.T. FRANCE, The Gospel of Matthew, NICNT, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) 2007, 422. 45 Vgl. dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 8), 101–107. 46 Anders wäre dies, wenn Johannes in 3,14 nicht nur ausführen würde, dass er es nötig hätte, von Jesus getauft zu werden, sondern wenn es präziser hieße, er hätte es nötig, von ihm mit heiligem Geist getauft zu werden (3,11). Aber dies wird eben so nicht gesagt. Meine Ausführungen in der ursprünglichen Fassung dieses Aufsatzes waren an dieser Stelle ungenau.
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Ausdruck bringen: Angesichts der Kunde vom Wirken Jesu fragt er nun, ob Jesus möglicherweise sogar der erwartete Messias sei.47 Jesu Antwort verweist ihn bezeichnenderweise auf seine Werke zurück: Diese sollen für sich (bzw. für ihn als Messias) sprechen.
Wie immer man die Worte des Täufers in 3,14 genau versteht, ist festzuhalten, dass seine abwehrende Haltung Ausdruck seines Wissens um seine untergeordnete Position ist: Er hätte es nötig, von Jesus getauft zu werden. Der Schlussfolgerung, dass umgekehrt Jesus der von Johannes durchgeführten Taufe İੁȢ ȝİIJȞȠȚĮȞ nicht bedarf, hätte Matthäus zwar kaum widersprochen, doch steht dies hier nicht im Vordergrund. Mit anderen Worten: Matthäus’ Thema ist – im Unterschied zum Nazaräerevangelium48 – nicht die Sündlosigkeit Jesu.49 Jesu Replik in V.15 liefert den Grund, warum Johannes seine abwehrende Haltung aufgibt. Um den Sinn von Mt 3,14f zu erschließen, bietet es sich an, bei der matthäischen Ausarbeitung des Christologumenons der Gottessohnschaft Jesu, das dem Evangelisten in der markinischen Fassung der Taufperikope vorgegeben war, anzusetzen. Ulrich Luz hat in seiner thetischen Skizze der matthäischen Christologie die Bedeutung des Gehorsamsmotivs in der matthäischen Gottessohnkonzeption herausgestellt.50 Die Relevanz dieses Aspekts für 3,13–17 wird im Folgenden noch deutlich werden. Zugleich ist zu betonen, dass mit der Gottessohnschaft ferner nicht nur das Moment der einzigartigen Nähe Jesu zu Gott, sondern auch das Motiv der exzeptionellen Vollmacht Jesu verbunden ist. Dies wird exemplarisch in der matthäischen Version der Seewandelperikope in 14,22–33 deutlich. Matthäus hat hier nicht nur die Petrusszene (V.28–31) eingefügt, sondern auch das Ende völlig neu gestaltet: Die Jünger bleiben nicht unverständig (Mk 6,52), sondern fallen vor Jesus nieder und bekennen ihn als Sohn Gottes. Matthäus bringt damit die Gottessohnschaft Jesu zum einen mit dessen rettendem Handeln in Zusammenhang, zum anderen mit dem Erweis einer Vollmacht, die Jesus in die Nähe Gottes rückt, denn Menschen ist das Gehen auf dem Wasser nicht möglich. 51 In 16,16 hat Matthäus das Petrusbekenntnis um den Gottessohntitel erweitert: ȈઃİੇȤȡȚıIJઁȢȣੂઁȢ IJȠ૨șİȠ૨IJȠ૨ȗȞIJȠȢ. Im Kontext betrachtet nimmt Petrus damit die Erkenntnis auf, die sich ihm und den übrigen Jüngern aufgrund des Geschehens in 47 Die Szene in Mt 3,16f steht dieser Konstruktion des Erzählzusammenhangs nicht im Wege, denn Johannes wird von Matthäus nicht als Zeuge des Geschehens dargestellt. Siehe dazu unten Anm. 66. 48 Siehe Hieronymus, Adv. Pelag. 3,2. 49 Vgl. GIESEN, Handeln (s. Anm. 14), 25; GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 23), 76; LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 211 u.a. 50 U. LUZ, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach – H. Paulsen, Göttingen 1991, 221–235: 231f. 51 Für eine Übersicht über das religionsgeschichtliche Vergleichsmaterial s. W. BERG, Die Rezeption alttestamentlicher Motive im Neuen Testament – dargestellt an den Seewandelerzählungen, Hochschul-Sammlung Theologie. Exegese 1, Freiburg 1979, 37–39 und LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 44), 407f.
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14,22–33 erschlossen hat. Zu diesem Bezugspunkt passt die sich anschließende Reaktion des Petrus auf die erste Leidensankündigung Jesu. Jesu Gottessohnschaft hat er durch den Erweis einer menschliche Möglichkeiten übersteigenden Vollmacht erfahren. Den Gedanken, dass der Gottessohn leiden und von seinen Widersachern getötet wird, also ihrer Gewalt ausgeliefert wird und ihnen scheinbar unterliegt, muss er noch in sein Verständnis integrieren. Das dem Gottessohn durch seine Widersacher zugefügte Leiden steht dabei für Matthäus nicht im Widerspruch zur Vollmacht Jesu. Wie die Getsemaniperikopen (26,36–46.47–56) zeigen, interpretiert Matthäus das Leiden vielmehr als bewussten Verzicht Jesu auf seine Möglichkeit, sich dem Leiden zu entziehen (26,52–54), im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes (26,39.42). Dieses Moment bestimmt ebenso die Kreuzigungsszene. Matthäus hat nicht nur in die – das Tempellogion aus 26,61 aufnehmende – Verspottung Jesu durch die am Kreuz Vorübergehenden in 27,39f İੁȣੂઁȢİੇIJȠ૨șİȠ૨ eingefügt, sondern das Gottessohnmotiv auch in die Verspottung Jesu durch die Hohepriester, Schriftgelehrten und Ältesten in 27,41–43 eingebaut, so dass die Infragestellung der Gottessohnschaft Jesu als zentraler Aspekt der Kreuzigungsszene hervortritt.52 Der Konditionalsatz in 27,40 lässt dabei an die Worte des Teufels in 4,3.6 zurückdenken.53 Dort geht es nicht darum, Jesu Gottessohnschaft in Zweifel zu ziehen. Sie ist hier vielmehr vorausgesetzt, und der Teufel sucht Jesus in den ersten beiden Versuchungen zu eigenmächtigen Demonstrationen seines ihm als Gottessohn zukommenden Vermögens zu verleiten.54 Tatsächlich aber beweist Jesus seine Gottessohnschaft gerade darin, dass er sich solcher Demonstration im Gehorsam gegen Gott verweigert.55 Ebenso macht Jesus als Gottessohn im Gehorsam gegen den Willen des Vaters in der Passion nicht von der ihm an sich zukommenden Macht Gebrauch, sondern erfüllt Gottes Willen, indem er sich dem Leiden nicht entzieht. Ansichtig wird hier ein Grundmoment der matthäischen Gottessohnkonzeption: Als Sohn Gottes partizipiert Jesus an göttlicher Vollmacht, zur Gottessohnschaft gehört aber ebenso die strenge Bindung an den Willen Gottes – auch im Blick auf die Inanspruchnahme seiner göttlichen Vollmacht. 52 In diesem Sinne z.B. auch D. SENIOR, The Death of Jesus and the Resurrection of the Holy Ones (Mt 27:51-53), CBQ 38 (1976), 312–329: 323: „The prime issue of the death scene has become a challenge to Jesus’ sonship.“ 53 Vgl. T. SÖDING, Der Gehorsam des Gottessohnes. Zur Christologie der matthäischen Versuchungsgeschichte (4,1-11), in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, hg. v. C. Landmesser, BZNW 86, Berlin – New York 1997, 711–750: 739f. 54 Ebenso z.B. DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 18), 361: „The introductory İੁ expresses a real condition (‘since’ [...]). Jesus’ status as ‘Son of God’ is not questioned; rather it is the presupposition for the devil’s temptation.“ 55 Zur Bedeutung des Gehorsamsmotivs in 4,1–11 s. z.B. LUZ, Skizze (s. Anm. 50), 231f; BROER, Versuch (s. Anm. 2), 1274f; SÖDING, Gehorsam (s. Anm. 53), 733.
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Das Mt 4 und Mt 26f gemeinsame Moment, dass Jesus im Gehorsam gegen Gottes Willen auf den Gebrauch seiner ihm als Gottessohn zukommenden Möglichkeiten verzichtet und sich gerade darin als Sohn Gottes erweist, ist nun ferner damit verbunden, dass Jesus jeweils von Gott selbst als sein Sohn bestätigt wird. Deutet sich dies in 4,11 darin an, dass die Engel Jesus nach Bestehen der Versuchungen dienen, so wird dies in der Passionsgeschichte durch 27,51– 54 nachdrücklich herausgestellt: Durch die seinen Tod begleitenden Zeichen (27,51–53) wird Jesus von Gott selbst als sein Sohn ausgewiesen.56 Das die Verspottung kontrastierende Bekenntnis des Hauptmanns und der Seinen ਕȜȘșȢșİȠ૨ȣੂઁȢȞȠIJȠȢin 27,54 erscheint im matthäischen Kontext als Antwort auf die zuvor geschilderten Geschehnisse.57 Um die christologische Konzeption auszuleuchten, die hinter der matthäischen Taufperikope steht, ist noch ein weiterer Aspekt hinzuzuziehen, nämlich die Verborgenheit Jesu als Gottessohn während seines irdischen Wirkens. Während nach der christologischen Konzeption des ersten Evangelisten die davidische Messianität Jesu an seinen Werken erkannt werden kann (9,27; 11,2– 6; 12,22f; 20,30f; 21,9.15)58, erschließt sich die Gottessohnschaft Jesu nur aufgrund besonderer Offenbarung (16,17), wie sie den Jüngern zuteil wird (14,22– 33; 17,1–9), die jedoch – befristet bis zur Auferstehung – zum Schweigen ermahnt werden (16,20; 17,9). Erst mit der Passion tritt die Gottessohnidentität Jesu über den Jüngerkreis hinaus in die Öffentlichkeit ([21,37; 22,2]; 26,63f)59, freilich hier, wie ausgeführt, so, dass der Gottessohn dem menschlichen Leiden, das ihm durch seine Gegner zugefügt wird, und dem Tod nicht ausweicht. Die skizzierte Gottessohnkonzeption des ersten Evangelisten lässt sich als ein Versuch lesen, die geglaubte Partizipation Jesu als Sohn Gottes an göttlicher Macht mit seinem irdischen Ergehen zu vermitteln. Nach Matthäus entsprach es dem Willen Gottes, dass Jesus, der im ersten Evangelium gewissermaßen ‚von Geburt an‘ Sohn Gottes ist60, sich voll und ganz in die Niedrigkeit menschlicher Existenz hineinbegab – bis zu seinem Tod am Kreuz. Erst mit dem von Matthäus als einem Zusammenhang aufgefassten Geschehen von Tod, Auferweckung und Einsetzung Jesu zum Weltenherrn61 ist in der matthäischen Konzeption der Zeitpunkt gekommen, an dem Jesu Identität als Sohn Gottes über den Jüngerkreis hinaus zum Thema der öffentlichen Verkündigung wird 56 Vgl. für viele W. KRAUS, Die Passion des Gottessohnes. Zur Bedeutung des Todes Jesu im Matthäusevangelium, EvTh 57 (1997), 409–427: 422–424. 57 Vgl. exemplarisch SENIOR, Death (s. Anm. 52), 312.323f. 58 Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 8), 102–105.315–317. 59 Siehe dazu J.D. KINGSBURY, The Parable of the Wicked Husbandmen and the Secret of Jesus’ Divine Sonship in Matthew. Some Literary-Critical Observations, JBL 105 (1986), 643–655. – Zu Mt 3,16f in dieser Hinsicht s. unten Anm. 66. 60 Zur Verbindung der Gottessohnschaft Jesu mit dem Motiv der Zeugung aus Heiligem Geist s. exemplarisch KINGSBURY, Title (s. Anm. 2), 6f. 61 Vgl. KONRADT, Israel (s. Anm. 8), 326f.
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(vgl. 17,9), wie dies im Taufbefehl in 28,19 vorausgesetzt ist, denn der Auftrag, auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes zu taufen, impliziert, dass Jesus als Gottessohn verkündigt wird.62 Die dargelegte Spannung zwischen dem Status Jesu als Sohn Gottes und seinem freiwilligen Statusverzicht dürfte nun auch der Schlüssel für das Verständnis der matthäischen Taufperikope sein. Genauer: Das in der Markusvorlage vorgefundene Christologumenon der Gottessohnschaft wird von Matthäus im Sinne des seine Gottessohnkonzeption im Ganzen prägenden Motivs expliziert, dass der Gottessohn sich im Gehorsam gegen den Willen des Vaters in die menschliche Existenz hineinbegibt. In 4,2–4 ist Jesu Hunger elementarer Ausdruck seiner Menschlichkeit63; Jesus entzieht sich nicht seiner kreatürlichen Bedürftigkeit, obwohl er dies nach matthäischer Überzeugung könnte, und zeigt sich zugleich in seiner Reaktion auf die Versuchung des Teufels als Vorbild. In Mt 26f stellt er sich der Verwundbarkeit menschlichen Lebens durch die Gewalt anderer, indem er sich dem Leiden und dem Tod am Kreuz nicht entzieht. Auch damit ist er zugleich Vorbild für die, die in seiner Nachfolge ihr Kreuz zu tragen haben (10,38f; 16,24–26, vgl. 10,24f u.ö.). In beiden Fällen sieht Matthäus einen bewussten Verzicht Jesu, die ihm als Gottessohn zukommende Vollmacht auszuüben und so seinen (tatsächlichen) Status zum Ausdruck zu bringen. In diesem Kontext betrachtet verweist Jesu Gang zum Täufer eben darauf, dass es dem Gottessohn aufgegeben ist, sich in die Wirklichkeit menschlicher Existenz hineinzustellen.64 Seine Gottessohnwürde bleibt vor der (den Jüngerkreis übersteigenden) Öffentlichkeit zunächst verborgen.65 Zugleich tritt Jesus auch bei der Taufe als Vorbild hervor, denn Jesus zeigt, welchen Weg die Menschen gehen sollen: Sie sollen zum Täufer kommen, seiner Mahnung zur Umkehr angesichts des nahe herbeigekommenen Himmelreiches folgen und sich taufen lassen. Zieht man 3,16f hinzu, zeigt sich, dass die Taufperikope näherhin durch dieselbe Sequenz geprägt ist, die in der Versuchungsgeschichte angedeutet und in der Passionsgeschichte ausformuliert ist: Auf den Erweis seines Gehorsams, in
62 Dem fügt sich ein, dass das Gottessohnbekenntnis des Petrus in 16,16 Basis der in 16,18f an Petrus ergehenden Verheißung des Baus der ecclesia ist, der mit der Aussendung der Jünger in 28,16–20 beginnt. Zum Zusammenhang von 16,18 mit 28,16–20 s. KONRADT, Israel (s. Anm. 8), 371f. 63 Vgl. SÖDING, Gehorsam (s. Anm. 53), 728. 64 Vgl. die Deutung von ਙijİȢ ਙȡIJȚ in Mt 3,15 bei U. LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK.NT 1, Zürich 1993, 35: „Dadurch, daß die Herrschaft Jesu erst nach Ostern offenbar wird, kann und muß er vor Ostern den Weg aller Menschen gehen. Darauf bezieht sich der Satz: Laß es jetzt geschehen!“ 65 In der christologischen Konzeption des Matthäus geht dies des Näheren damit einher, dass die irdische Wirksamkeit unter dem Vorzeichen der davidischen Messianität Jesu steht. Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 8), 18–52.329–334.
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dem Jesus seine ihm als Gottessohn zukommende Hoheit in seiner menschlichen Existenz verborgen sein lässt, folgt die Bestätigung bzw. Proklamation seiner Gottessohnschaft durch Gott selbst. Angesichts von 3,15 stellt 3,16f den tatsächlichen Status Jesu heraus.66 Die sequentielle Analogie zwischen der Taufperikope und der Passionsgeschichte führt nun keineswegs geradlinig zur Erneuerung des Postulats, dass die Taufe Jesu im Gesamtkontext des Evangeliums auf das durch Jesu Tod nach 26,28 gewirkte Heil voraus verweist. Es geht Matthäus hier schwerlich darum, dass Jesus „die Last der Schuld der ganzen Menschheit auf seine Schultern geladen“ und sie „den Jordan hinunter“ getragen habe67 – zumal zu bedenken ist, dass Matthäus es, wie gesehen, gegen seine Markusvorlage unterlassen hat, der Johannestaufe ausdrücklich eine sündenvergebende Bedeutung zuzuschreiben. Es kommt hinzu, dass Matthäus die auf den Tod Jesu blickende metaphorische Verwendung von ȕʌIJȚıȝĮin Mk 10,38 (vgl. Lk 12,50) gerade ausgelassen hat. Ferner wird, wie gesehen, in 3,14 nicht die Sündlosigkeit Jesu herausgestellt. Der zentrale Aspekt ist sein übergeordneter Status, der dadurch, dass Jesus sich der Taufe des Johannes unterzieht, verdeckt wird. Die leitende, Mt 3,13–17 mit der Passionsgeschichte verbindende christologische Motivik ist demnach in dem Zusammenhang von Menschlichkeit und Gottessohnschaft Jesu zu sehen.68 Der Gottessohn geht gehorsam seinen ihm von Gott zugedachten irdischen Weg. Im Blick auf dieses Moment verweist Jesu Taufe auf die Passion voraus. Eine Beziehung zur Passion besteht also insofern, als es hier wie dort darum geht, den Weg Jesu mit seinem Status und seiner Vollmacht als Gottessohn zu vereinbaren, indem die Annahme des menschlichen Weges und das Verborgenbleiben der Vollmacht des Gottessohnes als Akt des Gehorsams gegen den göttlichen Willen interpretiert wird. Mit seiner Unterordnung unter den Willen Gottes in Mt 3,13–17 fungiert der Gottessohn, wie Ulrich Luz betont hat, als „Ur- und Vorbild der Christen“69. Zugleich ist die Verbindung zwischen der Taufe Jesu und seiner Passion aber 66 Die Änderung der persönlichen Anrede (Mk 1,11) in das objektivierende ȠފIJިȢ ਥıIJȚȞ ȣੂંȢ ȝȠȣ ਕȖĮʌȘIJંȢ lässt dabei schwerlich darauf schließen, dass es sich hier um eine öffentliche Proklamation handelt. Die Öffnung der Himmel ist nach 3,16 ein von Jesus geschautes Geschehen – ihm öffneten sich die Himmel –, und er sieht den Heiligen Geist herabkommen. Analog dazu ist in 3,17 an eine Himmelsstimme zu denken, die Jesus hört, weil die Himmel für ihn geöffnet sind. Als Auditorium ist am ehesten der himmlische Hofstaat zu denken (ebenso NOLLAND, Gospel [s. Anm. 43], 157; zur weiteren Begründung s. KONRADT, Israel [s. Anm. 8], 309f; anders z.B. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 [s. Anm. 1], 214). 67 Anders RATZINGER, Jesus von Nazareth (s. Anm. 10), 44. Siehe ferner z.B. BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 16), 131: „Jesus erfüllt hier alle Gerechtigkeit durch seine Erniedrigung, indem er in die Reihe der Sünder tritt.“ 68 Dem fügt sich ein, dass es genau diese Thematik ist, die in der direkt anschließenden Versuchungsgeschichte weitergeführt wird. 69 LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 213.
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nicht auf den Aspekt des Gehorsams des Gottessohns in einem rein formalen Sinn70 zu reduzieren, sondern dieses ist mit dem dargestellten christologischen Motiv verbunden, die Niedrigkeitsaspekte der menschlichen Existenz Jesu mit seiner Gottessohnschaft zu verbinden. Wertet man dies im Blick auf das Verständnis von Mt 3,15 aus, so legt sich für įȚțĮȚȠıȞȘeine Interpretation auf der Linie der Verwendungsweise, die in den Vorkommen in der Bergpredigt zutage getreten ist, nahe. Übergreifendes Thema ist der Gehorsam des Gottessohnes. ǻȚțĮȚȠıȞȘ meint das dem Gottesverhältnis entsprechende Verhalten, den Gehorsam gegen Gottes Willen.71 Solcher Gehorsam ziemt sich für alle Menschen. Insofern kann sich die Gemeinde in dem auf der Erzählebene Jesus und Johannes zusammenschließenden ʌȡʌȠȞ ਥıIJȞ ݘȝ߿Ȟ mit adressiert sehen.72 Dies bedeutet nicht, dass das dem Gottesverhältnis gemäße Verhalten für die Gemeinde, für Johannes und für Jesus ein und dasselbe ist, denn Jesu Status als Gottessohn definiert ein singuläres Gottesverhältnis. Entsprechend trägt der Gehorsam des Gottessohnes gegen den Willen des Vaters spezifische Züge. Das angesprochene Verhältnis von Menschlichkeit und Gottessohnschaft zeigt sich hier als Leitthema. Entgegen dem eingangs zitierten Votum von Ulrich Luz ist daher m.E. festzuhalten, dass die Forderung der įȚțĮȚȠıȞȘsich im Falle Jesu in spezifischer Weise konkretisiert. Dem fügt sich ein, dass dem Verb ʌȜȘȡȠ૨Ȟein spezifisch christologischer Akzent nicht abzusprechen ist (vgl. 5,17).73 Umgekehrt führt dies nicht dazu, einen gemeinsamen Nenner zwischen der Erfüllung der įȚțĮȚȠıȞȘ durch Jesus und – in Anlehnung an 6,1 gesprochen – dem von den Jüngern 70
Vgl. z.B. GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 23), 79, Anm. 23: „Nur unter dem Aspekt des Willens Gottes besteht die Verbindung zum Leiden, nicht unter dem des Sühnegedankens.“ 71 Vgl. die Definition bei GIESEN, Handeln (s. Anm. 14), 40: „‚Gerechtigkeit‘ ist eine Haltung Jesu und der Christen, aus der heraus sie das jeweils von Gottes Willen Geforderte frei (ʌȡʌȠȞ ਥıIJȞ) tun.“ Vgl. ferner GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 23), 77 (Gerechtigkeit meine „die an die Menschen gerichtete göttliche Forderung“); ZIESLER, Righteousness (s. Anm. 34), 133f; PRZYBYLSKI, Righteousness (s. Anm. 13), (91–)94. 72 Ein die Gemeinde inkludierendes Verständnis von ਲȝȞ vertreten z.B. GIESEN, Handeln (s. Anm. 14), 27.31–33.41 und GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 23), 77, s. auch POPKES, Gerechtigkeitstradition (s. Anm. 43), 6. Es ist, streng genommen, jedoch zu unterscheiden zwischen der Ebene der erzählten Welt, auf der ਲȝȞ Jesus und Johannes zusammenschließt, und der kommunikativen appellativen Funktion der Szene für die Hörerinnen und Hörer bzw. Leserinnen und Leser des Evangeliums. Gegen eine Einbeziehung der Gemeinde z.B. FIEDLER, Begriff (s. Anm. 16), 108; DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 6), 439. – Das einleitende ȠIJȦȢ ist schwerlich so zu verstehen, dass mit dem einen Akt der Taufe alle Gerechtigkeit erfüllt wird, sondern so, dass die Taufe zur Erfüllung aller Gerechtigkeit dazugehört. Vgl. GIESEN, a.a.O., 29: „ȅIJȦȢ bezieht sich auf die Taufe Jesu, ohne auf sie eingeschränkt zu bleiben.“ 73 Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag „Die vollkommene Erfüllung der Tora …“ (s. Anm. 13), 289–294.
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geforderten ʌȠȚİ߿ȞįȚțĮȚȠıȞȘȞzu verneinen. In beiden Fällen geht es darum, dem jeweiligen Gottesverhältnis gemäß zu handeln. 74
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Legt man den hier verfolgten Interpretationsansatz zugrunde, lässt sich auch verständlich machen, warum Matthäus an den Imperativ ਙijİȢ das Zeitadverb ਙȡIJȚ angefügt hat: Matthäus verweist damit auf die Phase des irdischen Wirkens Jesu, in der er im Blick auf seinen Weg ins Leiden von seiner ihm als Sohn Gottes zukommenden Vollmacht keinen Gebrauch macht. Die in 23,39; 26,29 und 26,64 jeweils durch ਕʌૃ ਙȡIJȚ betonte, durch Tod und Auferweckung Jesu markierte Zäsur fügt sich dem Gebrauch von ਙȡIJȚ in 3,15 nahtlos ein.
Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Matthäusevangelium Im Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl in Mt 22,1–14 sendet der König, nachdem seine Knechte von den Geladenen verhöhnt und getötet wurden, seine Heere aus, lässt die Mörder umbringen und deren Stadt zerstören. Geht es hier, wie zumeist und m.E. mit Recht angenommen wird, um die Zerstörung Jerusalems1, erscheint diese als Strafe für die Feindseligkeit, die die Boten Jesu im Rahmen ihrer Mission erfahren haben. 27,25, wo Matthäus das vor Pilatus versammelte Volk mit den Worten: „Sein Blut über uns und unsere Kinder“ die Verantwortung für den Tod Jesu übernehmen lässt, bindet die Schuld am Tode Jesu in den Zusammenhang der Deutung der Zerstörung Jerusalems ein. Weil zwischen dem Tod Jesu und der Zerstörung Jerusalems vierzig Jahre liegen, sind die Kinder in den Blutruf eingefügt. 2 Bildet der geschichtstheologische Ansatz, die Zerstörung Jerusalems als Strafgericht Gottes zu verstehen, für Matthäus wie überhaupt in seiner jüdischen Umwelt im Gefolge der deuteronomistischen Deutung der Zerstörung des ersten Tempels die selbstverständliche und unhinterfragte Grundvoraussetzung für die Deutung des Geschehens und geben die eben zitierten Texte exemplarisch zu erkennen, worin Matthäus die Schuld gesehen hat, die zur
1 Vgl. für viele W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 3, ICC, Edinburgh 1997, 201; U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 3: Mt 18– 25, EKK 1.3, Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1997, 242; W.G. OLMSTEAD, Matthew’s Trilogy of Parables. The Nation, the Nations and the Reader in Matthew 21.28– 22.14, MSSNTS 127, Cambridge 2003, 120–122. Anders aber K.H. RENGSTORF, Die Stadt der Mörder (Mt 22,7), in: Judentum, Urchristentum, Kirche (FS J. Jeremias), hg. v. W. Eltester, BZNW 26, Berlin 1960, 106–129, bes. 125f; B. REICKE, Synoptic Prophecies on the Destruction of Jerusalem, in: Studies in New Testament and Early Christian Literature (FS A.P. Wikgren), hg. v. D.E. Aune, Leiden 1972, 121–134: 123. 2 ȉțȞĮmeint entsprechend ‚die nächste Generation‘, nicht ‚alle folgenden Geschlechter‘. Ebenso z.B. DAVIES/ALLISON , Matthew III (s. Anm. 1), 592; K. HAACKER, „Sein Blut über uns“. Erwägungen zu Matthäus 27,25, KuI 1 (1986), 47–50: 48; G. GARBE, Der Hirte Israels. Eine Untersuchung zur Israeltheologie des Matthäusevangeliums, WMANT 106, Neukirchen-Vluyn 2005, 113.117.120. Anders W. TRILLING, Das wahre Israel. Studien zur Theologie des Matthäus-Evangeliums, StANT 10, 3., neubearb. Aufl., München 1964, 71.
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Zerstörung Jerusalems3 geführt hat, so sind damit die genauen Konturen der matthäischen Deutung freilich noch in keiner Weise hinreichend in den Blick genommen. Eine Reihe von Aspekten bedarf der Analyse. Zu fragen ist an erster Stelle, was die Zerstörung der Stadt samt ihrem Tempel im Blick auf Rolle und Geschick Israels genau bedeutet. Die Antwort hängt von der – in der gegenwärtigen Forschung umstrittenen – Interpretation der Konfliktkonfiguration der matthäischen Jesusgeschichte und der Rolle Jerusalems in ihr sowie von der sozialen Verortung der matthäischen Gemeinde(n) ab. Ist Mt 27,25 „eine von Mt in Szene gesetzte Ätiologie für das Ende ‚Israels‘“4? Ist es zum definitiven Bruch zwischen der Gemeinde und, wie es häufig pauschal heißt, dem Judentum gekommen und versteht Matthäus die Zerstörung Jerusalems als Beleg für das Nein Gottes zu Israel? Oder dient die Zerstörung Jerusalems dem als Judenchristen zu identifizierenden Evangelisten in einem zumindest von ihm selbst noch als innerjüdisch wahrgenommenen Konflikt5 zur Delegitimation seines pharisäischen Gegenübers? Zu fragen ist sodann, ob Matthäus die Zerstörung Jerusalems allein als ein innergeschichtliches Strafhandeln Gottes versteht, mit dem die Schuld abgetan ist6, oder aber das historische Geschehen über sich hinaus auf das Ergehen im Endgericht verweist. Einer eigenen Betrachtung bedarf ferner im Zusammenhang des Schicksals Jerusalems die Rolle des Tempels. Zu beachten ist schließlich die intertextuelle Dimension der matthäischen Deutung, wobei sich hier eine Konzentration auf die Beziehungen zum Jeremiabuch empfiehlt. Die Schritte der folgenden Untersuchung sind damit vorgezeichnet. Am Ende soll ferner der Versuch unternommen werden, die matthäische Deutung mit Josephus’ Verständnis der Zerstörung Jerusalems in Beziehung zu setzen.7
3
Zur historischen Rekonstruktion s. H. SCHWIER, Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg (66–74 n.Chr.), NTOA 11, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1989, 4–54. 4 So H. FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund und Kirche Christi. Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des „Evangeliums“ nach Matthäus, NTA NF 10, Münster 21984, 210. 5 Zu dieser Einordnung des Matthäusevangeliums s. vor allem J.A. OVERMAN, Matthew’s Gospel and Formative Judaism. The Social World of the Matthean Community, Minneapolis (MN) 1990; A.J. SALDARINI, Matthew’s Christian-Jewish Community, CSHJ, Chicago – London 1994. 6 So zuletzt mit Nachdruck GARBE, Hirte (s. Anm. 2), 120.206.212. 7 Zitate aus dem Bellum in deutscher Übersetzung folgen: Flavius Josephus, De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg. Griechisch und Deutsch, hg. und mit einer Einl. sowie mit Anm. versehen von O. Michel und O. Bauernfeind, 3 Bde., Darmstadt 1959–1969. – Zu Deutungen der Zerstörung Jerusalems in 4Esra, 2–4 Bar; Sib 4 und 5 sowie ApkAbr s. jetzt K.R. JONES, Jewish Reactions to the Destruction of Jerusalem in A.D. 70. Apocalypses and Related Pseudepigrapha, JSJ.S 151, Leiden – Boston 2011.
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1. Die Konfiguration der Konfliktgeschichte und die Rolle Jerusalems im Matthäusevangelium8 Die matthäische Jesusgeschichte ist durch die deutliche Tendenz gekennzeichnet, zwischen den Reaktionen auf Jesu Wirken bei den Volksmengen, die bei Matthäus stärker als in seinen Quellen als eigene Größe der Erzählung hervortreten9, und den Autoritäten, die Jesus von Anfang feindselig gegenüberstehen, zu differenzieren, wie exemplarisch die von Matthäus duplizierte Beelzebulperikope deutlich macht, die Matthäus zum einen in 9,32–34 als Abschluss des Zyklus von Kap. 8–9 eingestellt und zum anderen in 12,22–24 inmitten seiner Darstellung der unterschiedlichen Reaktionen auf Jesu Wirken in Israel wieder aufgenommen hat. Matthäus’ Proprium ist dabei, dass in beiden Fällen zwei einander entgegengesetzte Reaktionen auf Jesu heilendes Handeln geschildert werden, die jeweils auf die Volksmengen und die Pharisäer verteilt sind: Während der Vorwurf, Jesus treibe die Dämonen durch ihren Obersten aus (9,34; 12,24), durch die Schriftgelehrten aus Mk 3,22 inspiriert jeweils den Pharisäern zugeschrieben wird (diff. Lk 11,15), ist den Volksmengen im Kontrast dazu jeweils eine positive Reaktion in den Mund gelegt. 10 Äußern sie in 9,33 erstaunt, dass so etwas in Israel noch nie geschehen sei, so zeigt 12,23 sie auf dem Weg, die messianische Identität Jesu zu erkennen.11 In 21,9 lässt Matthäus dann die Volksmengen den in Jerusalem einziehenden Jesus als Davidsohn akklamieren. Entsprechend sind auch ‚kritische‘ Worte wie die Gerichtspredigt des Täufers im Matthäusevangelium an die Autoritäten umadressiert (vgl. auch Mt 12,25–27 mit Lk 11,16–18, Mt 12,38–42 mit Lk 11,29–32). Dieser Differenzierung korrespondiert ferner, dass Matthäus die Sendung Jesu (und seiner Jünger) von vornherein allein auf die Volksmengen hin ausrichtet, denn die 8 Ich muss mich im Folgenden auf eine Skizze beschränken. Für eine ausführliche Darstellung s. M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 97–181. Siehe ferner vor allem J.D. KINGSBURY, The Developing Conflict between Jesus and the Jewish Leaders in Matthew’s Gospel. A Literary-Critical Study, CBQ 49 (1987), 57–73; M. GIELEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, BBB 115, Bodenheim 1998; B. REPSCHINSKI, The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form and Relevance for the Relationship Between the Matthean Community and Formative Judaism, FRLANT 189, Göttingen 2000. 9 Siehe zu den Volksmengen im Matthäusevangelium vor allem P.S. MINEAR, The Disciples and the Crowds in the Gospel of Matthew, in: Gospel Studies in Honor of Sherman Elbridge Johnson, hg. v. M.H. Shepherd – E.C. Hobbs, AThR.SS 3, New York 1974, 28–44 sowie J.R.C. COUSLAND, The Crowds in the Gospel of Matthew, NT.S 102, Leiden – Boston – Köln 2002. 10 In 9,33 wie 12,23 erweitert Matthäus seine Vorlage um eine direkte Rede der Volksmengen. 11 Die Fragepartikel ȝIJȚweist hier nicht auf eine negative Antwort hin, sondern kennzeichnet die Überlegung der Volksmengen als mit Zweifeln behaftet (vgl. Joh 4,29).
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„verlorenen Schafe des Hauses Israel“, denen die Sendung Jesu (15,24) und seiner Jünger (10,6) gilt, werden durch die Verankerung von 10,6 im Erbarmen Jesu über die „Schafe“ in 9,36 als die Volksmengen identifiziert. Zugleich schwingt in der Charakterisierung der Schafe in 9,36; 10,6 als „abgemattet“, „daniederliegend“, „ohne Hirten“ und „verloren“ Kritik an den Autoritäten mit12: Die Not des Volkes liegt an ihrem Versagen. Die Sendung des messianischen Hirten Jesus13 bedeutet, dass die alten ‚Hirten‘ durch Jesus und die von ihm zur Fortsetzung seines Dienstes bevollmächtigten Jünger (9,36ff) abgelöst werden.14 Dem steht zur Seite, dass Matthäus den Versuch der eigenmächtigen Selbstbehauptung der Autoritäten gegenüber dem Messiaskönig als ein Grundmotiv des Konflikts zu erkennen gibt. Bereits in der Exposition der Konfliktthematik in der Magierperikope in Mt 2,1–12 wird dies sichtbar, denn durch das Nebeneinander der Rede vom „geborenen König der Juden“ im Munde der Magier (2,2) und der gleichzeitigen Bezeichnung des Herodes als König (2,1.3.9)15 deutet Matthäus an, dass (der Idumäer!) Herodes die Geburt des davidischen Messias, wie dieser die Frage der Magier richtig auslegt (2,4), als Gefährdung seiner Herrscherposition begreift.16 Dieses Grundmotiv lässt sich an weiteren Texten illustrieren. So weist Matthäus in der bereits erwähnten Wiederholung des Beelzebulvorwurfs in 12,24 durch die Einfügung des Partizips ਕțȠıĮȞIJİȢdarauf hin, dass die Pharisäer auf die vorangehende Überlegung der Volksmengen reagieren17, d.h. die Pharisäer suchen mit ihrer Diffamierung Jesu der keimenden Erkenntnis der ȤȜȠȚ entgegenzuwirken.18 Genau dies wiederholt sich in Mt 21,1–17. Matthäus lässt den Einzug Jesu in Jerusalem gleich im Tempel enden. Hier schon kommt es zur Vertreibung der Händler und anschließend – wieder ein matthäisches 12 Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag „Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie“, 129f. 13 Siehe neben Mt 9,36; 10,6; 15,24 vor allem noch 2,6 und 26,31. 14 Matthäus dürfte hier inspiriert sein durch Texte wie Jer 23,1–6 und Ez 34. Siehe dazu D.J. VERSEPUT, The Davidic Messiah and Matthew’s Jewish Christianity, SBLSP 34 (1995), 102–116: 112, speziell zu Ez 34 J.P. HEIL, Ezekiel 34 and the Narrative Strategy of the Shepherd and the Sheep Metaphor in Matthew, CBQ 55 (1993), 698–708; Y.S. CHAE, Jesus as the Eschatological Davidic Shepherd. Studies in the Old Testament, Second Temple Judaism, and in the Gospel of Matthew, WUNT II.216, Tübingen 2006, 215–219 sowie in diesem Band den Beitrag „Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie“, 151–160. 15 Vgl. für viele D.R. BAUER, The Kingship of Jesus in the Matthean Infancy Narrative. A Literary Analysis, CBQ 57 (1995), 306–323: 308–313. 16 Vgl. BAUER, Kingship (s. Anm. 15), 314; GIELEN, Konflikt (s. Anm. 8), 30. 17 Vgl. exemplarisch REPSCHINSKI, Stories (s. Anm. 8), 122. 18 M. MEISER, Die Reaktion des Volkes auf Jesus. Eine redaktionskritische Untersuchung zu den synoptischen Evangelien, BZNW 96, Berlin – New York 1998, 241 spricht in diesem Zusammenhang zutreffend von den Autoritäten als „Träger[n] aktiver Gegenpropaganda“.
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Proprium – zu Heilungen im Tempel, worauf Kinder das jubelnde „Hosanna dem Sohn Davids“ der Volksmengen aus 21,9 aufnehmen. Die Szenerie spitzt sich jetzt zu, denn nun werden die Hohepriester und Schriftgelehrten aktiv, also genau die Gruppen, die schon in Mt 2 auftraten und Herodes sekundierten. Auffallend ist nun, dass sich ihr Protest anders als bei Markus (Mk 11,15–18) nicht gegen Jesu Aktion gegen die Händler wendet, sondern auf die Davidsohnakklamation bezieht.19 Angesichts der Analogie zu 12,23f ist darin zweifelsohne eine bewusste Gestaltung des Evangelisten zu sehen. Für Matthäus artikuliert sich hier der Versuch der Autoritäten, sich gegen den Messiaskönig zu behaupten, indem sie seiner Verehrung im Volk entgegentreten. Welche Rolle spielt nun Jerusalem in dieser Konfliktkonfiguration mit ihrer Differenzierung zwischen Volksmengen und Autoritäten? In 3,5 erwähnt Matthäus Jerusalem in der Reihe derer, die zu Johannes dem Täufer hinausziehen, um sich taufen zu lassen, wobei Matthäus hier das markinische Ƞੂ İȡȠıȠȜȣȝIJĮȚʌȞIJİȢzuİȡȠıંȜȣȝĮändert und damit wohl abschwächt.20 4,25 führt Jerusalem ferner unter den Gebieten an, aus denen ȤȜȠȚʌȠȜȜȠzu Jesus strömen. Diesen beiden auf der Markusvorlage (Mk 1,5; 3,8) basierenden Stellen stehen mehrere Matthäus eigene Passagen gegenüber, mit denen der erste Evangelist die Rolle Jerusalems in der Passionsgeschichte vorbereitet. So wird Jerusalem ebenfalls schon im Rahmen der Exposition der Konfliktthematik in Mt 2 eingeführt: Auf die Frage der Magier nach dem Ort der Geburt des geborenen Königs der Juden erschrickt nicht nur Herodes, sondern auch „ganz Jerusalem mit ihm“ (2,3). Eine aktive Rolle spielt „ganz Jerusalem“ hier freilich (noch) nicht. Es bleibt zunächst bei dieser Notiz. Der „geborene König der Juden“ (2,2) befindet sich in Bethlehem; nach Jerusalem, der „Stadt des großen Königs“ (5,35) und des Thrones Davids, wird er noch nicht geführt. Dort herrschen die alten Autoritäten, vor denen Jesus in Sicherheit gebracht werden muss, wie dies die Schrift nach Mt 2,15 vorhergesehen hat. Sein Wirkungsfeld wird der Messias – nach 4,12–16 ebenfalls in Übereinstimmung mit der Schrift – in Galiläa finden. Die hier ansichtig werdende Tendenz, die ‚Geographie‘ der Jesusgeschichte theologisch zu profilieren21, findet darin ihre Fortsetzung, dass Matthäus Jerusalem nicht erst wie Markus in der dritten Leidensankündigung (s. Mk 10,33 par. Mt 20,18), sondern bereits in der ersten Leidensweissagung als Ort der Hinrichtung Jesu explizit nennt (Mt 16,21). Weitere geographische Angaben 19
Vgl. C. BURGER, Jesus als Davidssohn. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, FRLANT 98, Göttingen 1970, 87; GIELEN, Konflikt (s. Anm. 8), 34. 20 Anders als in 2,3; 21,10 ist hier bei İȡȠıંȜȣȝĮ kein ʌ઼ıĮhinzugesetzt. 21 Siehe neben der Geburt in Bethlehem (2,1–12), der Flucht und Rückkehr aus Ägypten in das „Land Israel“ (2,13–15.19–21) und dem Wirken Jesu in Galiläa (4,12–16) auch noch die Übersiedlung nach Nazareth in 2,22f. Zu der sich hier dokumentierenden ‚theologischen Geographie‘ s. H. GIESEN, Galiläa – mehr als eine Landschaft. Bibeltheologischer Stellenwert Galiläas im Matthäusevangelium, ETL 77 (2001), 23–45.
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spinnen diesen Faden weiter. So ist in der Einleitung zur zweiten Leidensankündigung in 17,22 das geographische Motiv von 16,21 aufgenommen, denn ıȣıIJȡİijȠȝȞȦȞįĮIJȞਥȞIJૌīĮȜȚȜĮdürfte auf die Sammlung zur Wallfahrt zu beziehen sein22, so dass in allen drei Leidensankündigungen auf Jerusalem hingewiesen wird. In 19,1 verlässt Jesus dann Galiläa. Matthäus hat dabei an der markinischen Vorlage eine kleine, aber wohl nicht belanglose Änderung vorgenommen, indem er in İੁȢIJȡȚĮIJોȢȠȣįĮĮȢțĮ ʌȡĮȞIJȠ૨ ȠȡįȞȠȣ(Mk 10,1) das țĮ gestrichen hat, so dass stärker der Eindruck einer linearen, auf Jerusalem zugehenden Bewegung entsteht.23 Die Perspektive ist von 16,21 an auf Jerusalem gerichtet. Beachtung verdient im Blick auf die Rolle Jerusalems sodann und vor allem die matthäische Gestaltung der Einzugsperikope. Mit dem „Hosanna dem Sohn Davids“ der Volksmengen (21,9) erfüllt sich in der matthäischen Komposition das in V.5 eingefügte Reflexionszitat aus Sach 9,9, dem Matthäus, um der Szenerie zu entsprechen, eine Zeile aus Jes 62,11 vorangestellt hat: Jerusalem wird von den Volksmengen das Kommen des sanftmütigen Königs angesagt.24 Die ganze Stadt aber erbebt daraufhin (Mt 21,10). Die beiden Matthäus eigentümlichen Erwähnungen Jerusalems in Kap. 2 und Kap. 21 sind deutlich aufeinander bezogen, und zwar, wie die nachstehende Synopse illustriert, über die Entsprechung zwischen ਥIJĮȡȤșȘ … ʌߢıĮ İȡȠıંȜȣȝĮ (2,3) und ਥıİıșȘ ʌߢıĮ ਲ ʌંȜȚȢ (21,10) hinaus, denn in beiden Fällen ist es die Konfrontation mit der Kunde von der Ankunft des messianischen Königs, welche die gesamte Stadt in Unruhe versetzt.
22 Mit D.J. VERSEPUT, Jesus’ Pilgrimage to Jerusalem and Encounter in the Temple. A Geographical Motif in Matthew’s Gospel, NT 36 (1994), 105–121: 109–111. Die Platzierung der Einsammlung der Tempelsteuer in Mt 17,24–27 macht dann chronologisch guten Sinn (s. VERSEPUT, Pilgrimage [s. oben], 111f). 23 Hingegen kann man den markinischen Text im Sinne eines Übergangs „to a new field of ministry preceding the final ascent to Jerusalem“ verstehen (VERSEPUT, Pilgrimage [s. Anm. 22], 114). 24 Vgl. N. LOHFINK, Der Messiaskönig und seine Armen kommen zum Zion. Beobachtungen zu Mt 21,1–17, in: Studien zum Matthäusevangelium (FS W. Pesch), hg. v. L. Schenke, Stuttgart 1988, 179–200: 188f; W.J.C. WEREN, Jesus’ Entry into Jerusalem. Mt 21,1–17 in the Light of the Hebrew Bible and the Septuagint, in: The Scriptures in the Gospels, hg. v. C.M. Tuckett, BETL 131, Leuven 1997, 117–141: 125; L. NOVAKOVIC, Messiah, the Healer of the Sick. A Study of Jesus as the Son of David in the Gospel of Matthew, WUNT II.170, Tübingen 2003, 87 u.a.
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Synopse von Mt 2,1–12; 21,1–17 Mt 2,1–12
Mt 21,1–17
Jesus als davidisch-messianischer König V.2: Frage der Magier: ȆȠ૨ ਥıIJȚȞ IJİȤșİȢ ȕĮıȚȜİઃȢ IJȞ ȠȣįĮȦȞ; V.4: Herodes erkundigt sich bei den Hohepriestern und Schriftgelehrten, ʌȠ૨ ȤȡȚıIJઁȢ ȖİȞȞ઼IJĮȚ.
V.4f: 4 ȉȠ૨IJȠ į ȖȖȠȞİȞ ȞĮ ʌȜȘȡȦșૌ IJઁ ૧ȘșȞ įȚ IJȠ૨ ʌȡȠijIJȠȣ ȜȖȠȞIJȠȢ· 5 İʌĮIJİ IJૌ șȣȖĮIJȡ ȈȚઆȞ· ੁįȠઃ ȕĮıȚȜİȢ ıȠȣ ȡȤİIJĮ ıȠȚ ʌȡĮȢ țĮ ਥʌȚȕİȕȘțઅȢ ਥʌ ȞȠȞ țĮ ਥʌ ʌȜȠȞ ȣੂઁȞ ਫ਼ʌȠȗȣȖȠȣ.
V.5f: In der Antwort der Hohepriester und Schriftgelehrten wird 2Sam 5,2 (Einsetzung Davids!) mit Mi 5,1 verbunden: ... ਥț ıȠ૨ Ȗȡ ਥȟİȜİıİIJĮȚ ਲȖȠȝİȞȠȢ, ıIJȚȢ ʌȠȚȝĮȞİ IJઁȞ ȜĮંȞ ȝȠȣ IJઁȞ ıȡĮȜ.
V.9: ȅੂ į ȤȜȠȚ Ƞੂ ʌȡȠȖȠȞIJİȢ ĮIJઁȞ țĮ Ƞੂ ਕțȠȜȠȣșȠ૨ȞIJİȢ țȡĮȗȠȞ ȜȖȠȞIJİȢ· ੪ıĮȞȞ IJ ȣੂ ǻĮȣį· İȜȠȖȘȝȞȠȢ ਥȡȤંȝİȞȠȢ ਥȞ ੑȞંȝĮIJȚ țȣȡȠȣ· ੪ıĮȞȞ ਥȞ IJȠȢ ਫ਼ȥıIJȠȚȢ. (vgl. V.15: ... țĮ IJȠઃȢ ʌĮįĮȢ IJȠઃȢ țȡȗȠȞIJĮȢ ਥȞ IJ ੂİȡ țĮ ȜȖȠȞIJĮȢ· ੪ıĮȞȞ IJ ȣੂ ǻĮȣį ...)
Reaktion Jerusalems V.3: ਝțȠıĮȢ į ȕĮıȚȜİઃȢ ȡįȘȢ ਥIJĮȡȤșȘ țĮ ʌ઼ıĮ İȡȠıંȜȣȝĮ ȝİIJૃ ĮIJȠ૨.
V.10: ȀĮ İੁıİȜșંȞIJȠȢ ĮIJȠ૨ İੁȢ İȡȠıંȜȣȝĮ ਥıİıșȘ ʌ઼ıĮ ਲ ʌંȜȚȢ ȜȖȠȣıĮ· IJȢ ਥıIJȚȞ ȠIJȠȢ;
Verhalten der Hohepriester und Schriftgelehrten V.4–6: 4 ȀĮ ıȣȞĮȖĮȖઅȞ ʌȞIJĮȢ IJȠઃȢ ਕȡȤȚİȡİȢ țĮ ȖȡĮȝȝĮIJİȢ IJȠ૨ ȜĮȠ૨ ਥʌȣȞșȞİIJȠ ʌĮȡૃ ĮIJȞ ʌȠ૨ ȤȡȚıIJઁȢ ȖİȞȞ઼IJĮȚ. 5 Ƞੂ į İੇʌĮȞ ĮIJ· ਥȞ ǺȘșȜİȝ IJોȢ ȠȣįĮĮȢ· ...
V.15–16a: 15 įંȞIJİȢ į Ƞੂ ਕȡȤȚİȡİȢ țĮ Ƞੂ ȖȡĮȝȝĮIJİȢ IJ șĮȣȝıȚĮ ਘ ਥʌȠȘıİȞ țĮ IJȠઃȢ ʌĮįĮȢ IJȠઃȢ țȡȗȠȞIJĮȢ ਥȞ IJ ੂİȡ țĮ ȜȖȠȞIJĮȢ· ੪ıĮȞȞ IJ ȣੂ ǻĮȣį, ȖĮȞțIJȘıĮȞ 16 țĮ İੇʌĮȞ ĮIJ· ਕțȠİȚȢ IJ ȠIJȠȚ ȜȖȠȣıȚȞ;
Die Antwort der Volksmengen auf die Frage Jerusalems nach der Identität des von ihnen als Davidsohn Akklamierten in 21,11, dass dieser „der Prophet Jesus, der von Nazareth in Galiläa“ sei, dient entgegen einer verbreiteten Deu-
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tung weder der Relativierung der Erkenntnis der Volksmengen noch der Definition ihres Davidsohnverständnisses25, sondern sie erschließt sich von der Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten26 her. Intratextuell wird diese Assoziation dann durch die Klage Jesu über Jerusalem als prophetenmordende Stadt in 23,37 bestätigt. 21,11 gibt also schon einen Hinweis, worin die durch die Ansage der Volksmengen entstandene Unruhe der Stadt einmünden wird. Wichtig ist dabei, dass das Gegenüber von jüdischen Volksmengen und Jerusalem in Mt 21,9–11 einen deutlichen Hinweis darauf gibt, dass Matthäus Jerusalem keineswegs als Repräsentantin Israels auffasst.27 Vergleicht man die Szenen in 21,9–11 und 21,15f, also die Reaktionen Jerusalems einerseits und der Autoritäten andererseits miteinander, tritt eine nicht unwichtige Differenz zutage: Während die Stadt als Ganze nach der Auskunft der Volksmengen (zunächst) nicht weiter in Erscheinung tritt, es hier also bei dem Ausdruck der durch die Ansage der Volksmengen entstandenen Beunruhigung bleibt, ohne dass feindliche Schritte gegen Jesus unternommen werden, sind es die Autoritäten, die sich als Gegner positionieren. Auch dies harmoniert mit der Konfliktexposition in Mt 2,3–6: Während es Matthäus im Blick auf Jerusalem dort bei der Notiz belassen hat, dass die ganze Stadt zusammen mit Herodes erschrak, werden die Autoritäten an Herodes’ Seite aktiv.28
25 Anders z.B. A. SUHL, Der Davidssohn im Matthäus-Evangelium, ZNW 59 (1968), 57– 81: 79; J.D. KINGSBURY, The Title “Son of David” in Matthew’s Gospel, JBL 95 (1976), 591–602: 600; D. VERSEPUT, The Rejection of the Humble Messianic King. A Study of the Composition of Matthew 11–12, Frankfurt a.M. – New York 1986, 25; J.A. GIBBS, Jerusalem and Parousia. Jesus’ Eschatological Discourse in Matthew’s Gospel, Saint Louis (MO) 2000, 117f; COUSLAND, Crowds (s. Anm. 9), 224. 26 Vgl. im Matthäusevangelium dazu Mt 5,12; 21,35f; 23,30f.34–36.37. Zur Analyse der Tradition s. O.H. STECK, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum, WMANT 23, Neukirchen-Vluyn 1967. 27 Vgl. W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 238: „Jerusalem does not stand for the entire Jewish community. Instead she represents those in charge, the Jewish leadership“. – Dies unterstreicht, dass man mit Generalisierungen und Repräsentanzhypothesen, wie sie zu Mt 2,3f; 21,10 etwa FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund (s. Anm. 4), 204, mit seiner Rede von der matthäischen „Tendenz zur Totalität und solidarischen Uniformität im Komplex ‚Israel‘“ vorgetragen hat, vorsichtig sein muss. 28 Entgegen der Deutung von M.A. POWELL, The Plot to Kill Jesus from Three Different Perspectives. Point of View in Matthew, SBLSP 29 (1990), 603–613: 605 weist dabei nichts darauf hin, dass die Hohepriester und Schriftgelehrten über die feindliche Absicht des Herodes gegen den „geborenen König der Juden“ im Unklaren waren. Im Sinne von Powell aber auch R. FENEBERG, Die Erwählung Israels und die Gemeinde Jesu Christi. Biographie und Theologie Jesu im Matthäusevangelium, HBS 58, Freiburg u.a. 2009, 124; M.T. PLONER, Die Schriften Israels als Auslegungshorizont der Jesusgeschichte. Eine narrative und intertextuelle Analyse von Mt 1–2, SBB 66, Stuttgart 2011, 114f.
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In Mt 21,23–22,46 kommt es am zweiten Tag des Auftretens Jesu im Tempel, nun nach V.23 in der Rolle des Lehrers, zur großen Auseinandersetzung, die sich an der Frage der Hohepriester und Ältesten, also der Vertreter des Synedriums, nach der Vollmacht Jesu entzündet. An die Parabeltrilogie, mit der Jesus die Autoritäten mit der Konsequenz ihrer Ablehnung des Täufers im Gleichnis von den ungleichen Söhnen (21,28–32), seiner selbst im Winzergleichnis (21,33–46) und schließlich auch seiner Jünger im Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (22,1–14) konfrontiert29, schließt sich der ebenfalls dreifache Gegenangriff der Autoritäten an: Sie versuchen nun, Jesus, wie es in 22,15 heißt, in einem Wort zu fangen, um etwas gegen ihn in der Hand zu haben, doch misslingt dieser Versuch. Jesus hingegen bringt seine Gegner mit einer einzigen Gegenattacke, mit der Problematisierung der Sohnschaft des Messias in 22,41–46, zum Verstummen und erweist so eindrücklich seine auf seiner göttlichen Vollmacht basierende Überlegenheit. Damit ist die Bühne bereitet für die Abrechnung mit den Schriftgelehrten und Pharisäern in Mt 23, deren Hörer nicht von ungefähr neben den Jüngern auch die Volksmengen sind: Sie werden darüber belehrt, was von jenen zu halten ist. Die Weherede kulminiert in einer solennen Gerichtsansage im siebten Weheruf (V.29–36) und in der im hier verfolgten Zusammenhang bedeutsamen Klage über Jerusalem (V.37–39). Beide Abschnitte sind durch den Vorwurf des Prophetenmordes miteinander verbunden. Wird Jerusalem in 23,37, wie gesehen, als prophetenmordende Stadt prädiziert, so werden die Schriftgelehrten und Pharisäer in dem Sendungswort in V.34 mit dem – sich hier auf die Verfolgung der Jesusboten beziehenden – Vorwurf des Prophetenmordes30 belastet. Durch die Einfügung von V.32f erscheint in der matthäischen Komposition als Grund31 für die Sendung der Propheten etc., dass damit das Sündenmaß der „Väter“ der Schriftgelehrten und Pharisäer voll wird (V.32)32 und so 29 Entgegen einem verbreiteten Deutungstyp thematisiert die Parabeltrilogie nicht die heilsgeschichtliche Ablösung Israels. Die Gleichnisse beziehen sich vielmehr auf die Rolle der Autoritäten. Dies ist für das Gleichnis von den ungleichen Söhnen (21,28–32) mit seiner innerjüdischen Differenzierung zwischen den angeredeten Hohepriestern und Ältesten auf der einen Seite und den Zöllnern und Huren auf der anderen Seite evident, gilt aber auch und gerade für das Winzergleichnis, in dem der Weinberg für Israel steht. Nicht wird hier Israel abgelöst, sondern der Weinberg Israel bekommt neue Winzer. Auch 21,43 ist auf dieser Linie zu lesen (vgl. SALDARINI, Community [s. Anm. 5], 58–63; GIELEN Konflikt [s. Anm. 8], 210–231). Für eine ausführliche Begründung der Auslegung der Parabeltrilogie s. KONRADT, Israel (s. Anm. 8), 184–220. 30 Zur Einstellung der Jesusboten in die Reihe der Propheten s. auch die Rede von „den Propheten vor euch“ in Mt 5,12 (s. dazu M. KNOWLES, Jeremiah in Matthew’s Gospel. The Rejected Prophet Motif in Matthean Redaction, JSNTS 68, Sheffield 1993, 120). 31 Siehe den Anschluss des Sendungsworts in 23,34 mit įȚIJȠ૨IJȠ. 32 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 1), 372; DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 315. Anders J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 2, HThKNT 1.2, Freiburg – Basel – Wien 21992, 300.
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das Gericht über sie hereinbrechen kann (V.33). Die Verfolger der Jesusboten bilden also mit den Mördern der (alttestamentlichen) Propheten ein die Zeiten übergreifendes Schuldkollektiv. V.35f führt dann die in V.33 hervorgetretene Gerichtsperspektive weiter, wobei Matthäus eine enge Verknüpfung mit der nachfolgenden Passionsgeschichte hergestellt hat, denn die von ihm gewählte Formulierung Ȝșૉ ਥijૃ ਫ਼ȝ઼Ȣʌ઼ȞĮੈȝĮįțĮȚȠȞ... (V.35) klingt in mehreren Passagen in Mt 27 nach, so in dem Bekenntnis des Judas, unschuldiges Blut33 ausgeliefert zu haben, in 27,4; in der Warnung der Frau des Pilatus an ihren Mann, er solle nichts mit jenem Gerechten zu schaffen haben, in 27,19; in Pilatus’ Worten in 27,24, er sei unschuldig an diesem Blut; und insbesondere in dem Ruf des Volkes in 27,25 (IJઁĮੈȝĮĮIJȠ૨ਥijૃਲȝ઼ȢțĮਥʌIJIJțȞĮਲȝȞ). Durch diesen Kontextbezug wird unterstrichen, dass die Tötung Jesu, wie dies auch in der Parabeltrilogie (21,28–22,14) deutlich wird, kein trauriger Einzelfall ist, sondern in eine lange Reihe des Widerstandes gegen Gottes Gesandte gehört, der sich nachösterlich an den Jesusboten noch fortsetzt (vgl. 10,24f). Zugleich wird in 23,29–36 deutlich, dass das Gericht nicht in Jesu Tod allein begründet liegt; vielmehr ist – neben der Verfolgung der alttestamentlichen Propheten – die auch nachösterlich ausgebliebene Umkehr (vgl. 27,62–66; 28,11–15!) und die damit einhergehende Ablehnung und Verfolgung der Jesusboten einbezogen (vgl. 22,2–7).34 In Mt 23,35f wird der Wechsel von ਥijૃਫ਼ȝ઼Ȣ, womit im Kontext eindeutig die apostrophierten Schriftgelehrten und Pharisäer gemeint sind, zu ਥʌ IJȞ ȖİȞİȞIJĮIJȘȞhäufig als eine Ausweitung der Schuldigen von den Autoritäten auf die ganze gegenwärtige Generation Israels interpretiert.35 Lexikalisch zwingend ist das nicht, denn ȖİȞİ bezeichnet keineswegs immer die Gesamtheit einer Sippe bzw. alle Zeitgenossen, sondern kann im positiven wie im negativen Sinne auch eine bestimmte Menschengruppe meinen – Liddell/Scott36 geben als Bedeutung neben „race, familiy“ und „generation“ auch „class, kind“ an, und dafür lassen sich auch LXX-Belege beibringen. So gibt es in Ps 23,6LXX die ȖİȞİderer, die Gott suchen (ਲȖİȞİȗȘIJȠȞIJȦȞĮIJંȞ), als Bezeichnung 33 Zum alttestamentlichen Hintergrund des Motivs des unschuldig vergossenen Blutes im Kontext der Zerstörung Jerusalems s. unten S. 241–251. 34 Zur Einbeziehung der Jesusboten vgl. H.-M. DÖPP, Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Zweiten Tempels im Jahre 70 in den ersten drei Jahrhunderten n. Chr., TANZ 24, Tübingen – Basel 1998, 22–24. 35 Siehe nur D.R.A. HARE, The Theme of Jewish Persecution of Christians in the Gospel According to St Matthew, MSSNTS 6, Cambridge 1967, 151f; H.-J. B ECKER, Die Zerstörung Jerusalems bei Matthäus und den Rabbinen, NTS 44 (1998), 59–73: 60. 36 H.G. LIDDELL – R. SCOTT, (A) Greek – English Lexicon (revised and augmented throughout by H.S. Jones), 5. Nachdr. der 9. Aufl., Oxford 1961, s. v. – Zur Bedeutung von ȖİȞİ s. jetzt auch die ausführliche Untersuchung von S. JÖRIS, The Use and Function of genea in the Gospel of Mark: New Light on Mk 13:30, FzB 133, Würzburg 2015, 28–120.
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derer, die reinen Herzens sind und auf den Berg des Herrn gehen dürfen (V.3– 5); und in negativem Sinn wie im Matthäusevangelium bezieht sich z.B. in Ps 11,8LXX die Rede von diesem Geschlecht auf die Gruppe der Gottlosen, die die Armen und Elenden bedrängen.37 Besonders instruktiv ist hier freilich eine Textpassage bei Josephus, nämlich Bell 5,566, wo die ȖİȞİ, die sogar gottloser als Sodom war, den ‚Räuberhauptmann‘ Johannes und seine Leute meint, die dort vom ʌ઼ȢȜĮંȢ(ebd.), womit hier die Jerusalemer Bevölkerung, nicht ‚ganz Israel‘, gemeint ist38, unterschieden sind.39 Entsprechend muss ਥʌIJȞȖİȞİȞIJĮIJȘȞin Mt 23,36 keineswegs einen weiteren Personenkreis in den Blick nehmen als ਥijૃਫ਼ȝ઼Ȣ in V.35. Vielmehr lässt sich umgekehrt die wohl redaktionelle Variation von ਥʌ IJȞ ȖİȞİȞ IJĮIJȘȞ zu ਥijૃਫ਼ȝ઼Ȣ in V.3540 als Indiz werten, dass Matthäus ਥʌIJȞȖİȞİȞ IJĮIJȘȞallein auf die apostrophierten Schriftgelehrten und Pharisäer bezogen sehen möchte. Sie können dem Höllengericht nicht entfliehen (V.33)41, da sie das Maß ihrer Väter anfüllen (V.32), so dass das gerechte Blut von Abel bis Secharja über sie kommt (V.35). Kurzum: Im matthäischen Duktus erscheint ਥʌIJȞȖİȞİȞIJĮIJȘȞin 23,36 als nichts anderes denn als Substitut für ਥijૃ ਫ਼ȝ઼Ȣ. Dem steht zur Seite, dass sich die Rede von diesem bösen und ehebrecherischen Geschlecht im Rahmen der Zeichenforderungen in 12,38–45 und 16,1–4 eindeutig auf die Pharisäer bzw. die Pharisäer und Sadduzäer bezieht.42 Eine Ausweitung der Gerichtsperspektive auf ganz Israel ist schließlich auch nicht durch die Anfügung der Klage über Jerusalem in 23,37–3943 zu re-
Die Belege lassen sich erweitern. Positiv ist zu nennen: Ps 13,5LXX (... IJȚ șİઁȢ ਥȞ ȖİȞİઽ įȚțĮ); 111,2LXX (ȖİȞİ İșİȦȞ); PsSal 18,9, negativ noch Sap 3,19, im MT ferner Prov 30,11–14. Siehe zudem noch Dtn 2,14 (ʌ઼ıĮ ȖİȞİ ਕȞįȡȞ ʌȠȜİȝȚıIJȞ) und Lk 16,8, wo sich ਲ ȖİȞİ ਲ ਦĮȣIJȞ auf die Gruppe der „Söhne dieses Äons“ bezieht. 38 Vgl. z.B. Josephus Bell 2,425; 4,326.363.582; 5,251.335.345.547; 6,259, auch 5,355. 39 Siehe auch Josephus, Bell 5,442; 6,408. 40 In der Logienquelle war ausweislich der lukanischen Version vermutlich an beiden Stellen von „diesem Geschlecht“ die Rede. 41 Der Bezug allein auf die Autoritäten wird für 23,33 noch dadurch untermauert, dass ihre Anrede als ȖİȞȞȝĮIJĮ ਥȤȚįȞȞ auf Mt 3,7 und 12,34 zurückgreift, wo ebenfalls die Pharisäer (in 3,7 zusammen mit den Sadduzäern) anvisiert sind; zudem lässt die rhetorische Frage ʌȢ ijȖȘIJİ ਕʌઁ IJોȢ țȡıİȦȢ IJોȢ ȖİȞȞȘȢ; in 23,33 an die ähnliche Frage des Täufers an die Pharisäer und Sadduzäer in 3,7 (IJȢ ਫ਼ʌįİȚȟİȞ ਫ਼ȝȞ ijȣȖİȞ ਕʌઁ IJોȢ ȝİȜȜȠıȘȢ ੑȡȖોȢ;) zurückdenken. 42 Ausführlich zu den Worten gegen „dieses Geschlecht“ im Matthäusevangelium KONRADT, Israel (s. Anm. 8), 226–265. 43 Lukas bringt den Q-Text bekanntlich in einem anderen Zusammenhang. Die Anfügung an die Weherede gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer geht auf die Hand des ersten Evangelisten zurück (ebenso HARE, Theme [s. Anm. 35], 94f; D.E. GARLAND, The Intention of Matthew 23, NT.S 52, Leiden 1979, 187–197; LUZ, Evangelium nach Matthäus III [s. Anm. 1], 377, anders DAVIES/ALLISON, Matthew III [s. Anm. 1], 312). 37
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gistrieren, da Jerusalem, wie gesehen, in der matthäischen Konzeption keineswegs pars pro toto für Israel steht.44 Vielmehr gibt umgekehrt die Anfügung der Klage über Jerusalem an die gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer gerichtete Weherede zu erkennen, dass Matthäus die Verantwortung für die Zerstörung der Stadt den Autoritäten zuweist.45 Einzubeziehen ist schließlich die Verurteilungsszene in 27,11–26, allem voran der Blutruf des Volkes in V.25. Der Wechsel von ȤȜȠȢ(27,15.20.24) zu ȜĮંȢ in V.25 ist häufig so interpretiert worden, dass entgegen der vorangegangenen Darstellung am entscheidenden Kulminationspunkt der das Evangelium durchziehenden Konfliktlinie die Differenz zwischen den Autoritäten und dem Volk aufgehoben werde und ganz Israel die Verantwortung für den Tod Jesu übernehme.46 Andere sehen in ʌ઼Ȣ ȜĮંȢhingegen bloß einen Wechselbegriff zu ȤȜȠȢ47 (vgl. Lk 9,12f!). Im Ansatz geht Letzteres m.E. in die richtige Richtung: Durch den Kontext und den vorangehenden Gebrauch von ȤȜȠȢ ist der ȜĮંȢ eindeutig als der vor Pilatus versammelte Volkshaufen denotiert.48 Gleichwohl dürfte die Aufeinanderfolge des Gebrauchs von ȤȜȠȢ und ȜĮંȢ in 27,24f nicht einfach austauschbar sein; vielmehr wird durch den Wechsel zu ȜĮંȢ ein neuer Akzent gesetzt, allerdings nicht der, dass die Volksmenge ganz Israel repräsentieren soll, sondern durch ȜĮંȢ wird angezeigt, dass es um ein Geschehen in Israel geht.49 44 Anders KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 141; BECKER, Zerstörung (s. Anm. 35), 60; GARBE, Hirte (s. Anm. 2), 104. 45 HARE, Theme (s. Anm. 35), 96 verweist mit Recht darauf, dass das Jerusalemwort durch seine kompositionelle Stellung im Matthäusevangelium eine ihm ursprünglich fremde antipharisäische Stoßrichtung erhält. 46 Siehe neben vielen anderen FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund (s. Anm. 4), 204–211; D.P. SENIOR, The Passion Narrative According to Matthew. A Redactional Study, BETL 39, Neudruck, Leuven 1982, 258f; U. LUZ, Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem. Eine Skizze, EvTh 53 (1993), 310–327: 314; W. KRAUS, Die Passion des Gottessohnes. Zur Bedeutung des Todes Jesu im Matthäusevangelium, EvTh 57 (1997), 409–427: 416. 47 Siehe z.B. H. STRATHMANN – R. MEYER, ȜĮંȢ, in: ThWNT IV, Stuttgart – Berlin – Köln 1942, 29–57: 50; F. LOVSKY, Comment comprendre «Son sang sur nous et nos enfants»?, ETR 62 (1987), 343–362: 350f; A.-J. LEVINE, The Social and Ethnic Dimensions of Matthean Salvation History, SBEC 14, Lewiston – Queenston 1988, 266ff; SALDARINI, Community (s. Anm. 5), 32f; GIELEN, Konflikt (s. Anm. 8), 383–386. 48 Vgl. z.B. H. KOSMALA, “His Blood on Us and on Our Children” (The Background of Mat. 27,24-25), ASTI 7 (1970), 94–126: 96; P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1, Stuttgart 2006, 411 sowie auch HAACKER, Blut (s. Anm. 2), 50. 49 Das hier vorgeschlagene Verständnis von ȜĮંȢ lässt sich exemplarisch durch den Sprachgebrauch im lukanischen Doppelwerk illustrieren, wo ȜĮંȢ verschiedentlich betont das Gottesvolk meint (im ausdrücklichen Gegenüber zu den șȞȘLk 2,32; Apg 26,17.23, s. ferner z.B. Lk 1,68.77; 7,16; Apg 3,23; 13,17.24), häufig aber auch bloß einen Volkshaufen (Lk 6,17; 7,1.29; 9,13; 18,43; 20,1.9; Apg 3,12; 4,1 u.ö.), aber ȜĮંȢ nie zur Bezeichnung
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Die Identifizierung des Volkshaufens in Mt 27,15–26 dürfte dabei noch dahingehend zu präzisieren sein, dass Matthäus die Jerusalemer Bevölkerung im Blick hat.50 Daran lässt jedenfalls die vorangehende Leserlenkung denken. Denn zum einen ist die Tötung des „Propheten“ Jesus (21,11.46) durch Jerusalem mit ihrer Bezeichnung als prophetenmordende Stadt (23,37) vorbereitet. Dass Matthäus das Ergehen Jesu in Jerusalem im Lichte des gewaltsamen Geschicks der Propheten deutet, wird dabei nicht nur durch das Winzergleichnis in 21,33–46 unterstrichen, wo Jesus als der Sohn von den Propheten als den Knechten zwar abgehoben, gleichwohl aber in ihr Geschick eingereiht wird. Auch 27,52f bietet ein in diese Richtung weisendes Indiz, da unter den auferweckten Heiligen, die aus den Gräbern kommen, im Lichte von 23,29–36 zumindest primär an die getöteten Propheten zu denken sein dürfte.51 Ihr Erscheinen in Jerusalem (!) ist für die prophetenmordende Stadt Zeichen des über sie kommenden Gerichts52 und bindet zugleich wiederum Jesus und die Propheten als von den jüdischen Autoritäten verfolgte Boten Gottes zusammen.53 Zum anderen nimmt ʌߢȢ ȜĮંȢ in 27,25 nicht nur im engeren Kontext ʌȞIJİȢaus 27,22 auf, sondern knüpft zugleich an 2,3 (ʌߢıĮİȡȠıંȜȣȝĮ) und 21,10 (ʌߢıĮਲ ʌંȜȚȢ) an.54 Der mit 2,3–5 signalhaft eröffnete Spannungsbogen nicht-jüdischer Volksmengen verwendet wird. Mit ȜĮંȢ werden gewissermaßen Volksmengen als zum Gottesvolk gehörig ausgewiesen. Eben dieser Sprachgebrauch liegt auch in Mt 27,25 vor – wie ebenfalls in den, von der Wendung „Älteste des Volkes“ (26,3.47; 27,1) abgesehen, beiden weiteren Vorkommen von ȜĮંȢ in der matthäischen Passionsgeschichte (Mt 26,5; 27,64). Ein Oszillieren zwischen den Polen „Gottesvolk“ und „Volkshaufen“ lässt sich im Übrigen auch in LXX und anderen frühjüdischen Texten beobachten (s. dazu KONRADT, Israel [s. Anm. 8], 172–174). 50 Für eine ausführliche Begründung s. KONRADT, Israel (s. Anm. 8), 174–181. 51 In diesem Sinne auch P. HOFFMANN, Die Auferweckung Jesu als Zeichen für Israel. Mt 12,39f und die matthäische Ostergeschichte, in: Christus bezeugen (FS W. Trilling), hg. v. K. Kertelge – T. Holtz – C.P. März, Freiburg – Basel – Wien 1990, 110–123: 122; GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 32), 477 sowie vor allem J. HERZER, Auferstehung und Weltende als Rätsel? Zur Funktion und Bedeutung von Mt 27,51b-53 im Kontext der matthäischen Jesuserzählung, in: Evangelium ecclesiasticum. Matthäus und die Gestalt der Kirche (FS C. Kähler), hg. v. C. Böttrich u.a., Frankfurt a.M. 2009, 115–144: 131–141. 52 Vgl. exemplarisch U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 4: Mt 26–28, EKK 1.4, Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 366. 53 Einzubeziehen ist in diesem Zusammenhang ferner noch Mt 13,57, denn mit dem Logion, dass ein Prophet nirgends verachtet ist außer in seiner Heimat, bezieht Jesus sich auf seine eigene Zurückweisung. Auch hier steht das Motiv des Widerstands gegen die Propheten Gottes Pate (vgl. REPSCHINSKI, Stories [s. Anm. 8], 151). Schließlich ist noch einmal auf Mt 23,34 zu verweisen, wo die Anfügung von țĮ ıIJĮȣȡઆıİIJİ an ਕʌȠțIJİȞİIJİdie Kreuzigung Jesu assoziieren lässt. – Zu Jesus als „rejected prophet“ im Matthäusevangelium vgl. KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 152–161. 54 Vgl. OLMSTEAD, Trilogy (s. Anm. 1), 62: „‘All the people’ recalls both ‘the whole city’ (21.10) and ‘all Jerusalem’ (2.3)“. Vgl. auch DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 594.
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gelangt mit 27,25 ans Ziel. Die beiden Textzusammenhänge sind nicht nur dadurch miteinander verbunden, dass sich das Bestreben der Gegner hier wie dort gegen Jesus als den „König der Juden“ (2,2; 27,11, vgl. 27,29.37) richtet, sondern Exposition und Zielpunkt der Konfliktgeschichte entsprechen sich auch darin, dass mit der Stadt Jerusalem und ihrer Führungsspitze dieselbe Konfiguration der Gegnerschaft Jesu begegnet. Anders gesagt: Mt 2,3–6 fungiert auch hinsichtlich des ‚Figurenbestands‘ des Konflikts als Signal im Blick auf die Passionsgeschichte.55 Wurde oben darauf verwiesen, dass Jerusalem in 2,3 noch keine aktive Rolle im Vorgehen gegen Jesus zugewiesen ist, so verdient in 27,15–26 Beachtung, dass das Volk hier keineswegs von Anfang an gegen Jesus eingenommen ist. Anders als bei Markus geht die Initiative zur Passaamnestie bei Matthäus von Pilatus aus, der nach 27,18 erkannt hat, dass die Hohepriester und Ältesten Jesus aus Neid, also deshalb, weil Jesus beim Volk großen Anklang gefunden hat, ausgeliefert haben56, und der daher in der Passaamnestie eine Möglichkeit sieht, das Bestreben der jüdischen Autoritäten ins Leere laufen zu lassen. Die durch die Botschaft der Frau des Pilatus (V.19) bedingte Unterbrechung bietet den Autoritäten dann die Gelegenheit, auf den Schachzug des Pilatus zu reagieren und das Volk zu überreden. Erst jetzt wendet sich das Volk gegen Jesus. Die Ersetzung des markinischen ਕȞıİȚıĮȞ (Mk 15,11) durch ʌİȚıĮȞ (Mt 27,20) dient dabei schwerlich dazu, die tumultuarischen Züge der markinischen Szenerie zu vermeiden57, sondern fügt einen neuen Akzent hinzu, der darauf zielt, die Szenerie für die Gegenwart des Evangelisten transparent werden zu lassen: Es geht um die Gefahr der Verführung des Volkes durch die Jesus ablehnenden Autoritäten. In seiner Gegenwart sieht Matthäus diese Gefahr vornehmlich von den Pharisäern ausgehen, die, wie ihr Hervortreten als Hauptgegner Jesu im Evangelium58 nahe legt, in der jüdischen Umwelt der
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Zu den Querverbindungen zwischen Mt 2 und der Passionsgeschichte vgl. KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 77–81; DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 594. 56 Als Subjekt von ʌĮȡįȦțĮȞin 27,18 können dem Kontext nach (s. 27,1f) nur die Hohepriester und Ältesten eingedacht werden. Vgl. R.H. GUNDRY, Matthew. A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, Grand Rapids (MI) 21994, 562; LUZ, Evangelium nach Matthäus IV (s. Anm. 52), 272 u.a. Anders aber I. BROER, Der Prozeß gegen Jesus nach Matthäus, in: Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung, hg. v. K. Kertelge, QD 112, Freiburg – Basel – Wien 1988, 84–110: 103; A. SUHL, Beobachtungen zu den Passionsgeschichten der synoptischen Evangelien, in: Von Jesus zum Christus. Christologische Studien (FS P. Hoffmann), hg. v. R. Hoppe – U. Busse, BZNW 93, Berlin – New York 1998, 321–377: 348. 57 Matthäus spricht vielmehr in 27,24 ausdrücklich von einem șંȡȣȕȠȢ, s. ferner ʌİȡȚııȢ țȡĮȗȠȞin V.23. 58 Instruktiv sind vor allem die redaktionellen Erwähnungen der Pharisäer (s. Mt 3,7; 5,20; 9,34; 12,24; 15,12[–14]; [16,11f]; 21,45; 22,34.41; 27,62 sowie den konzentrierten Angriff auf die Schriftgelehrten und Pharisäer in Mt 23). Zu den Pharisäern als den bedeu-
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matthäischen Gemeinde(n) offenbar eine führende Position in den Synagogen gewinnen konnten.59 Anhand des Beispiels von Jerusalem ist für Matthäus zu studieren, zu welchen Konsequenzen es führt, sich den Gegnern Jesu anzuvertrauen. Dass die Pharisäer im Kontext des – von Jerusalem ausgehenden60 und „bis heute“, also offenbar auch im Umkreis des Evangelisten „unter Juden“ umlaufenden – Gerüchts vom Diebstahl der Leiche Jesu (27,62–66; 28,11–15) noch einmal ausdrücklich genannt werden (27,62), fügt sich diesem Bild nahtlos ein. Als Zwischenfazit ist damit festzuhalten: Matthäus belastet nicht pauschalisierend ‚ganz Israel‘ mit der Schuld am Tod Jesu und/oder an der Bedrängnis der Jünger. Entsprechend ist die Zerstörung Jerusalems für Matthäus auch nicht Zeichen für die Verwerfung Israels bzw. Gottes Strafgericht an Israel.61 Nach 10,23 ist im Übrigen der Zeithorizont der Israelmission bei Matthäus kein anderer als der der Völkermission: Beide enden erst mit der Parusie des Herrn.62 Matthäus fokussiert die Schuldzuweisung auf die Jesus von Anfang an feindlich gesonnenen Autoritäten, die wie Herodes bei der Geburt Jesu um ihre Stellung besorgt sind und auch nach der Kreuzigung besorgt bleiben (27,62–66; 28,11–15). Sie sind es, die Jesus nach 27,18 aus Neid ausgeliefert und den vor Pilatus versammelten Volkshaufen nach 27,20 überredet haben, die Kreuzigung Jesu zu fordern. Sie lassen nach der Kreuzigung das Grab Jesu bewachen, damit „nicht etwa seine Jünger kommen, ihn stehlen und dem Volk (ȜĮંȢ) sagen: Er ist von den Toten auferstanden“ (27,64). Sie bestechen nach der Auferstehung die Grabwächter, um einen weiteren Einfluss der Jesusjünger zu unterbinden; und von ihnen geht die Verfolgung der Jünger aus. Sie sind es daher, tendsten Opponenten vgl. R. HUMMEL, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium, BEvT 33, München 1963, 12–14; REPSCHINSKI, Stories (s. Anm. 8), 322f.325f. 59 Siehe dazu exemplarisch REPSCHINSKI, Stories (s. Anm. 8), 343–349. 60 Vgl. dazu VERSEPUT, Pilgrimage (s. Anm. 22), 120. 61 Ebenso DÖPP, Deutung (s. Anm. 34), 24. Anders z.B. GARLAND, Intention (s. Anm. 43), 210; GIBBS, Jerusalem (s. Anm. 25), 124; D.J. PAUL, „Untypische“ Texte im Matthäusevangelium? Studien zu Charakter, Funktion und Bedeutung einer Textgruppe des matthäischen Sondergutes, NTA NF 50, Münster 2005, 311. 62 Vgl. J.M. MCDERMOTT, Mt. 10:23 in Context, BZ NF 28 (1984), 230–240: 235; S. MCKNIGHT, Jesus and the End-Time: Matthew 10:23, SBLSP 25 (1986), 501–520: 519; E.K.-C. WONG, Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium. Zum Verhältnis von Juden- und Heidenchristen im ersten Evangelium, NTOA 22, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1992, 89f; M. LOHMEYER, Der Apostelbegriff im Neuen Testament. Eine Untersuchung auf dem Hintergrund der synoptischen Aussendungsreden, SBB 29, Stuttgart 1995, 384; H. GIESEN, Jesu Sendung zu Israel und die Heiden im Matthäusevangelium, in: Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt (FS A. Fuchs), hg. v. C. Niemand, LPTR 7, Frankfurt a.M. – New York 2002, 123–156: 131; GARBE, Hirte (s. Anm. 2), 145–147 u.a. Anders z.B. E.C. PARK, The Mission Discourse in Matthew’s Interpretation, WUNT II.81, Tübingen 1995, 141.
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die letztlich die Verantwortung für das Schicksal Jerusalems tragen.63 Das Volk der Stadt ist das Opfer derer geworden, die in ihr das Sagen hatten.
2. Die Zerstörung Jerusalems und das Endgericht Verweist die Zerstörung Jerusalems nicht auf die Verwerfung Israels, so gilt gleichwohl, dass die Bestrafung der prophetenmordenden Stadt, mit der sie für das in ihr und durch sie geschehene Unrecht zur Verantwortung gezogen wird, paradigmatische Bedeutung hat: Wer unter der Ägide der böswilligen Autoritäten die Jünger Jesu schmäht und verfolgt, wird ebenfalls seine Strafe finden. Dies lässt sich profilieren, wenn man hinzuzieht, dass sich in Mt 23,29–39 ein doppelter Gerichtshorizont beobachten lässt. Blickt 23,37f wie 22,7 und auch 27,25 auf die Zerstörung Jerusalems, so steht die Ankündigung in 23,34–36, dass alles gerechte Blut über sie kommen wird, durch V.33 zugleich unter dem Vorzeichen des eschatologischen Gerichts: „Schlangen! Otternbrut! Wie wollt ihr vor dem Gericht der Hölle fliehen?“64 Dieser doppelte Gerichtshorizont verweist schwerlich auf eine konzeptionelle Unausgeglichenheit, sondern beide Perspektiven bilden einen Zusammenhang: Matthäus instrumentalisiert das innergeschichtliche Gericht der Zerstörung Jerusalems als Beleg dafür, dass die Gegner Jesu und deren Gefolge dem eschatologischen Strafgericht Gottes anheim fallen65, d.h. an der Zerstö-
63 Die nahtlose Anknüpfung des Wortes gegen Jerusalem in 23,37–39 an die Weherede sowie vor allem die von Mt in 23,35 als Parallele zu 27,25 gestaltete Wendung, dass alles gerechte Blut über sie kommt, spiegeln diesen Zusammenhang wider. 64 Die Verbindung zwischen dem innergeschichtlichen Gericht an Jerusalem und dem Endgericht wird durch die Analogie zwischen 23,29–36 und 22,2–7 und die Querverbindung von 23,35f zu 27,25 über das Blutmotiv untermauert. 65 Dagegen hat GERNOT GARBE einen Zusammenhang zwischen der Zerstörung Jerusalems und dem Endgericht bestritten. GARBE geht dabei von der unzutreffenden Voraussetzung aus, dass die Zerstörung Jerusalems als Gericht an Israel zu verstehen sei (GARBE, Hirte [s. Anm. 2], 104f.115). Wenn nun die Zerstörung Jerusalems als Kollektivstrafe an Israel gedeutet wird, wird eine Verweisfunktion der Zerstörung der Stadt im Blick auf das Endgericht allerdings problematisch, weil dem dann andere explizite Aussagen des Evangeliums wie die fortbestehende Aufgabe der Sendung zu Israel oder auch Mt 19,28 entgegenstehen. Anders gesagt: Wenn man die Zerstörung Jerusalems als Gericht an Israel deutet, ist es geradezu notwendig, einen Zusammenhang mit dem Endgericht abzustreiten und zu postulieren, dass die mit der Tötung Jesu und seiner Boten aufgeladene Schuld durch Gottes Gerichtshandeln an Jerusalem abgetan ist (GARBE, Hirte [s. Anm. 2], 120.206.212). Schon im Duktus von Mt 23,29–39 ist dieser Ansatz aber, wie gesehen, nicht haltbar. Umgekehrt findet die Ablehnung einer pauschalisierenden Deutung von 23,34–39 auf ganz Israel Bestätigung, wenn man den doppelten Gerichtshorizont beachtet.
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rung Jerusalems ist für Matthäus abzulesen, dass die in 23,33 an die Schriftgelehrten und Pharisäer adressierte Frage, wie sie vor dem Gericht der Hölle fliehen wollen, keine leere Drohung ausspricht. Die Zerstörung der Stadt wird damit, textpragmatisch betrachtet, im Konflikt der Gemeinde mit der pharisäisch dominierten Synagoge zur Delegitimation des Gegenübers und zur Legitimation der eigenen Position funktionalisiert, denn an ihr wird ansichtig, wer auf Gottes Seite steht und wer nicht. Oder anders: Die Zerstörung Jerusalems wird zur Warnung, dass die, die sich gegen Jesus und seine ecclesia stellen, dem eschatologischen Gericht entgegengehen. Von einem kollektiv Israel treffenden Strafgericht ist aber weder in 23,35f noch in 23,37–39 die Rede.
3. Die Zerstörung des Tempels im Matthäusevangelium Nach Mt 23,38 manifestiert sich Gottes Gerichtshandelns näherhin darin, dass „euer Haus öde zurückgelassen wird“. Im Lichte von 24,1f dürfte bei Matthäus nicht allgemein die Stadt, sondern speziell der Tempel66 im Blick sein67 (s. auch 21,13). In 21,1–17 ist der Tempel, wie gesehen, das Ziel des Einzugs Jesu in Jerusalem. Im Tempel beginnt Jesus nach der Vertreibung der Händler sein heilendes Wirken, das ihn als Sohn Davids ausweist, doch stellen sich die Autoritäten diesem Anspruch entgegen (21,14–17). Als Jesus am nächsten Tag im Tempel lehrt, erfährt er wiederum die Feindschaft der Autoritäten (21,23– 22,46). Der Tempel ist ihre ‚Domäne‘ und wird dies bis zu seiner Zerstörung auch bleiben. In 24,1f verlässt Jesus den Tempel und kündigt dessen Zerstörung an. Da Jesus der Immanuel ist (1,23), symbolisiert sein Weggang zugleich, dass Gott sich aus dem Tempel68 zurückgezogen hat69, womit der Tempel der Zerstörung preisgegeben ist.70
Zur Bezeichnung des Tempels als ȠੇțȠȢ vgl. 3Reg (1Kön) 9,1.3.8; Jes 56,7 (zit. in Mt 21,13); 60,7; 64,10; Jer 7,11; 33,6LXX. 67 Auf den Tempel deuten z.B. auch GUNDRY, Matthew (s. Anm. 56), 473; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 1), 382. Die These, dass ȠੇțȠȢ ਫ਼ȝȞim Sinn von ‚Haus Israel‘ (vgl. Mt 10,6; 15,24) aufzufassen sei (so HARE, Theme [s. Anm. 35], 154), wird hingegen im Kontext durch nichts nahe gelegt. 68 Zum Tempel als Wohnort Gottes s. im Matthäusevangelium 23,21. 69 Matthäus nimmt damit ein in Ez 9–11 (s. besonders 11,22f) verankertes Motiv auf, das frühjüdisch verschiedentlich rezipiert wurde (s. 1Hen 89,56; 2Bar 8,2; 64,6; Josephus, Bell 2,539; 5,412; 6,299; Ant 20,166, vgl. ferner Tacitus, Hist 5,13,1f). 70 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 1), 382.387; GARBE, Hirte (s. Anm. 2), 107 u.a. DÖPP, Deutung (s. Anm. 34), 21 spricht im Blick auf Mt 24,1 von „einer prophetischen Zeichenhandlung“. 66
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Durch die – wohl redaktionelle – Einfügung von ȡȘȝȠȢ71 in 23,38 hat Matthäus eine Querverbindung zur Rede vom durch den Propheten Daniel angekündigten ȕįȜȣȖȝĮ IJોȢ ਥȡȘȝઆıİȦȢ ... ਦıIJઁȢ ਥȞ IJંʌ ਖȖin 24,15 geschaffen. Matthäus bezieht den „Gräuel der Verwüstung“72 offenbar auf Vorgänge im Tempel während bzw. zu Beginn73 des jüdisch-römischen Krieges74, in die Josephus’ Bellum Einblick gewährt, ohne dass sich ein bestimmtes Ereignis identifizieren ließe.75 Diese Vorgänge sind dabei nicht Ursache der folgenden Die lukanische Version ohne ȡȘȝȠȢ (in Lk 13,35 ist ȡȘȝȠȢ textkritisch als spätere Hinzufügung zu werten) dürfte dem Q-Wortlaut entsprechen. Vgl. z.B. F.D. WEINERT, Luke, the Temple and Jesus’ Saying about Jerusalem’s Abandoned House (Luke 13:34–35), CBQ 44 (1982), 68–76: 73 sowie J.M. ROBINSON – P. HOFFMANN – J.S. KLOPPENBORG (Hg.), The Critical Edition of Q, Hermeneia, Minneapolis – Leuven 2000, 422f. 72 Ursprünglicher Bezugspunkt und zugleich Entstehungskontext der vormarkinischen Apokalypse könnte die Caligulakrise gewesen sein (vgl. G. THEISSEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, NTOA 8, Freiburg [Schweiz] – Göttingen 1989, 161–176). Matthäus hat dies aber nicht mehr im Blick. 73 Nach Mt 24,16–20 ist die Flucht noch möglich. Dies lässt an eine Zeit denken, zu der Jerusalem noch nicht von den Römern eingeschlossen war. 74 Ebenso V. BALABANSKI, Eschatology in the Making. Mark, Matthew and the Didache, MSSNTS 97, Cambridge 1997, 154.156.160; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 1), 426f u.a. (vorausgesetzt ist dabei, dass es sich in Mt 24,6–14 und 24,15–31 um parallele Sequenzen handelt, s. dazu BALABANSKI, Eschatology [s.o.], 153–162). Anders z.B. HARE, Theme (s. Anm. 35), 163: „[T]he ‘desolating sacrilege’ of verse 15 is not for him an allusion to the profanation of the Temple by Titus but rather a supernatural prodigy which will appear shortly before the final coming of the Son of man on the clouds of heaven (24:29f.)“. 75 Die Optionen sind mannigfaltig, s. z.B. Bell 2,422–424 (der Bürgerkrieg zwischen den Aufständischen, die das Heiligtum besetzt hielten, und den Vornehmen, darunter den Hohepriestern); Bell 2,443–445 (im Zuge des Konflikts zwischen Menachem und Eleazar, dem Tempelhauptmann und Sohn des von Menachem ermordeten Hohepriesters Ananias [2,441], wird Menachem im Tempel angegriffen; Menachem flieht, wird am Ophel gestellt und ermordet); Bell 4,138–157 (die Gräueltaten der ȜૉıIJĮ in Jerusalem, die darin gipfeln, dass sie „mit befleckten Füßen das Heiligtum betraten“ [150], „den Tempel zu einer Festung für sich selbst verkehrten“ [151] und per Los einen gewissen Phanni zum Hohepriester bestimmten [155–157]); s. auch die Kennzeichnung der Taten der „Räuber“ in der Rede des Oberpriesters Ananos vor dem Volk in 4,162–192, vor allem 163–172.181–183, und in der Rede des Oberpriesters Jesus (4,238–269) während des Bürgerkriegs zwischen den „Zeloten“ und dem von Ananos angeführten „Volksheer“ (4,193–365) vor den angerückten Idumäern in 4,242.261f, s. auch Josephus’ Darstellung der Folgen des Bürgerkriegs in 4,313 („Der äußere Vorhof des Tempels war völlig mit Blut überschwemmt, und das Licht des kommenden Tages legte das Bild von 8500 Toten frei.“); Bell 5,5–38 (im Zuge der Kämpfe der verschiedenen Gruppen der Aufständischen gegeneinander „wurde das Heiligtum überall durch Leichen befleckt“ [10], selbst Opfernde und Priester wurden durch die von Wurfmaschinen geschleuderten Geschosse getroffen und getötet, so dass der Tempel zum Massengrab wurde [14–19]; eine Flucht aus der Stadt war für die Bevölkerung schon längst kaum mehr möglich [29f, vgl. bereits 4,312.378f.564f]). – FIEDLER, Matthäusevangelium (s. Anm. 48), 364 und G.W.H. LAMPE, A.D. 70 in Christian Reflection, in: Jesus and the Politics of His Day, hg. 71
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Zerstörung – diese sieht Matthäus ja vielmehr in der Tötung Jesu und seiner Boten begründet –, sondern das ȕįȜȣȖȝĮ IJોȢ ਥȡȘȝઆıİȦȢ ist Ausdruck der mit dem Weggang Jesu aus dem Tempel anhebenden Preisgabe des Tempels, die sich schließlich als letzte Stufe in dessen Zerstörung manifestiert.76 Die Gegenwart Gottes unter den Menschen ereignet sich fortan im Mitsein des erhöhten Jesus mit den Seinen (18,20; 28,20).77 Beachtung verdient in diesem Zusammenhang das Zerreißen des Tempelvorhangs in 27,51 bei Jesu Tod. Im Kontext der matthäischen Passionsgeschichte ist dieses insbesondere mit Jesu Ankündigung vor den Mitgliedern des Synedriums in Mt 26,64 im Zusammenhang zu sehen, sie würden „von jetzt an den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht“. Das Zerreißen des Vorhangs ist ein erstes Zeichen dafür, dass der Versuch der Autoritäten, Jesus aus dem Weg zu räumen, zum Scheitern verurteilt ist, weil der Tod Jesu nicht sein Ende, sondern der Zeitpunkt seiner Erhöhung zum Weltenherrn ist. Das Zerreißen des Vorhangs ist damit zugleich ein erstes Zeichen für die Entmachtung der Autoritäten bei Gott und für das auf sie zukommende Strafgericht.78 Mit dem Winzergleichnis gesprochen: Der verworfene Stein ist zum Eckstein geworden (21,42); die, die ihn verworfen haben, erwartet das Gericht. Mit dem Zerreißen des Vorhangs ist zugleich das Ende des Tempels selbst im Blick. Da Jesu Tod „zur Vergebung der Sünden“ geschieht (26,28), ergibt sich hier ein hintergründiger Zusammenhang: Die Autoritäten, die sich durch die Tötung Jesu in Jerusalem bzw. näherhin im Tempel als ihrem Machtzentrum zu behaupten suchen, ziehen damit nicht nur das Strafgericht auf sich v. E. Bammel – C.F.D. Moule, Cambridge (UK) – New York 1984, 153–171: 162, denken hingegen an die Opfer, die die Römer nach Bell 6,316 ihren Feldzeichen, also der Göttin Roma, darbrachten, nachdem sie diese in den Tempel gebracht hatten. Das passt gut zu dem expliziten Verweis auf das Danielbuch in Mt 24,15, aber schlecht zur nachfolgenden Aufforderung zur Flucht (vgl. oben Anm. 73). 76 GIBBS, Jerusalem (s. Anm. 25), 188–201 bezieht im Duktus der eschatologischen Rede Mt 24,29f auf die Zerstörung Jerusalems (ebenso zuvor L. GASTON, No Stone on Another. Studies in the Significance of the Fall of Jerusalem in the Synoptic Gospels, NT.S 23, Leiden 1970, 483–485). Die ijȣȜĮseien die Stämme Israels, das Genitivattribut IJોȢ ȖોȢmeine das Land Israel (GIBBS, Jerusalem [s. Anm. 25], 199f). 24,31 soll sich dann auf die Aussendung zu den Völkern beziehen (201–204). Plausibel ist das nicht. Wenn Matthäus das Land Israel meint, schreibt er explizit Ȗો ıȡĮȜ (2,20.21); daneben begegnen auch andere Näherbestimmungen, unter anderem auch „das Land der Sodomer (und Gomorrer)“ (10,15; 11,24). In 24,30 meint ਲ Ȗો eindeutig die Erde (wie auch im direkt nachfolgenden Kontext in 24,35). Zudem kann man 24,31 nicht anders als auf die Parusie Jesu beziehen (vgl. exemplarisch LUZ, Evangelium nach Matthäus III [s. Anm. 1], 432–436). Ginge es in 24,31 um die Mission der Jünger, sammelten diese im Lichte von 22,(8–)14 im Übrigen schwerlich die ਥțȜİțIJȠ (24,31), sondern die țȜȘIJȠ. 77 Vgl. D.D. KUPP, Matthew’s Emmanuel. Divine Presence and God’s People in the First Gospel, MSSNTS 90, Cambridge 1996, 240. 78 Vgl. dazu GIBBS, Jerusalem (s. Anm. 25), 145.
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selbst herab, sondern sie besiegeln zugleich das Ende des Tempels, weil der Tempel, der unter der Leitung der (alten) Autoritäten ohnehin zu einer „Räuberhöhle“ verkommen war (21,13), durch Jesu Sühnetod (Mt 26,28) obsolet geworden ist. Von daher ist zugleich zu verstehen, dass Matthäus in 21,13 das Zitat von Jes 56,7 gegenüber der Markusvorlage (Mk 11,17: ȠੇțંȢ ȝȠȣ ȠੇțȠȢ ʌȡȠıİȣȤોȢ țȜȘșıİIJĮȚ ʌ઼ıȚȞ IJȠȢ șȞİıȚȞ) um ʌ઼ıȚȞ IJȠȢ șȞİıȚȞ gekürzt hat.79 Anders gesagt: Die Auslassung ist nicht allein dem historischen Faktum geschuldet, dass der Tempel in der Gegenwart des Evangelisten als mögliches Gebetshaus für die Völker nicht mehr zur Verfügung steht80, sondern darüber ist eine theologische Deutung gelegt, der das historische Geschehen als Bestätigung dienen konnte. „It is through Jesus not the temple that all the nations will come to worship God.“81 Matthäus spricht in 21,12 davon, dass Jesus alle Händler aus dem Tempel ausgetrieben hat (diff. Mk 11,15), worin man das Ende des Tempels bereits zeichenhaft angedeutet sehen kann. 82 Der an Jer 7,11 anknüpfende Vorwurf, der Tempel sei zu einer „Höhle der Räuber“ verkommen, lässt erkennen, dass sich die Austreibung der Händler gegen „die Verfilzung von Gottesdienst und finanziellem Vorteil“83 richtet. Eigentliche Zielscheibe der Kritik sind für Matthäus zweifelsohne die für den Tempelbetrieb verantwortlichen Autoritäten, die sich auch durch den Tempelbetrieb als die schlechten ‚Hirten‘ erweisen, die sich um die „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (Mt 10,6; 15,24) nicht kümmern84, sondern nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Dem steht Jesu Zuwendung zu den Kranken gegenüber (21,14), die im Gesamtzusammenhang des Evangeliums als Ausdruck des Erbarmens Jesu zu verstehen ist.85 Ordnet Jesus in 12,6f die Barmherzigkeit dem Tempelkult vor86, so findet dies auf eigene Weise in 21,12–14 seine Entfaltung. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang ferner darauf, dass dem Obsoletwerden des Tempelkultes durch den Tod Jesu im Matthäusevangelium die Relativierung seiner Bedeutung in der Lehre Jesu vorangeht, wie dies nicht nur 79 Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 32), 208; D.A. HAGNER, Matthew 14– 28, WBC 33B, Dallas (TX) 1995, 601. Anders FIEDLER, Matthäusevangelium (s. Anm. 48), 325. 80 Vgl. dazu z.B. D.J. HARRINGTON, The Gospel of Matthew, SaPaSe, Collegeville (MN) 1991, 294; DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 133. 81 J.Y.-H. YIEH, One Teacher. Jesus’ Teaching Role in Matthew’s Gospel Report, BZNW 124, Berlin – New York 2004, 54. 82 Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 32), 207; WEREN, Entry (s. Anm. 24), 141. 83 GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 32), 207. 84 Vgl. oben S. 221f. 85 Siehe vor allem Mt 14,14; 20,34 sowie 9,27; 15,22; 17,15; 20,30.31. 86 Zur Deutung von ȝİȗȠȞ in Mt 12,6 auf IJઁ ȜİȠȢ in 12,7 s. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 2: Mt 8–17, EKK 1.2, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1990, 231.
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aus der zweifachen Zitation von Hos 6,6 hervorgeht (Mt 9,13; 12,7), sondern auch in Mt 5,23f angelegt ist, wo die zwischenmenschliche Versöhnung dem Vollzug des Opfers im Tempel übergeordnet wird.87 Matthäus verfolgt zwar nicht prinzipiell eine dezidiert tempelkritische Linie. Der matthäische Jesus kann vielmehr vom Tempel auch selbstverständlich als „heiligem Ort“ (24,15 diff. Mk 13,1488) oder als Wohnort Gottes (23,21) reden, wenngleich Letzteres eingebettet ist in eine Argumentation gegen die Schwurpraxis der Pharisäer; auch in 21,12f wendet sich Jesus nicht prinzipiell gegen den Tempel, sondern gegen den aktuellen Tempelbetrieb, und Hos 6,6 wird von ihm komparativisch, nicht antithetisch verstanden. 89 Dennoch ist schon durch die Lehre Jesu ein Zurücktreten der Bedeutung des Opfers eingeleitet, während den Gegnern eine Haltung zugeschrieben wird, die auf Kosten der Barmherzigkeit gegenüber den Mitmenschen um den Opferkult kreist. Das durch das Zerreißen des Vorhangs in 27,51 signalisierte Ende des Tempels liest sich in diesem Zusammenhang zugleich als Bestätigung der Lehre Jesu und umgekehrt als Nein Gottes zur Position der Gegner Jesu. Von Gewicht ist schließlich, dass der Tempel auch im Prozess gegen Jesus eine bedeutende Rolle spielt. Matthäus lässt den Hohen Rat von Anfang an falsches Zeugnis gegen Jesus suchen (26,59), wiederholt dies aber nicht in V.60b.61 in der Einleitung zur Aussage der beiden Zeugen, die Jesus das Wort zuschreiben, er könne den Tempel Gottes abbrechen und in drei Tagen aufbauen. Aus dem Fehlen des erneuten Vorwurfs des Falschzeugnisses wird häufig geschlossen, dass die Aussage als ein wahres Zeugnis zu verstehen sei90,
87 Vgl. GASTON, Stone (s. Anm. 76), 95: Mt 5,23f „does not say anything different from the Hosea word ‘I desire mercy and not sacrifice’ quoted in Mt 9:13 and 12:6.“ 88 Markus will in 13,14 mit seiner vagen Angabe ʌȠȣ Ƞ įİ im Verbund mit der Personalisierung des ȕįȜȣȖȝĮ IJોȢ ਥȡȘȝઆıİȦȢ durch die maskuline Form des Partizips ਦıIJȘțંIJĮeinen Bezug auf den Jerusalemer Tempel offenbar gerade meiden – wohl gegen seine Vorlage (vgl. N. WALTER, Tempelzerstörung und synoptische Apokalypse, ZNW 57 [1966], 38–49: 43 u.a., anders z.B. N.H. TAYLOR, The Destruction of Jerusalem and the Transmission of the Synoptic Eschatological Discourse, HTS 59 [2003], 283–311: 292). Matthäus stellt diesen Bezug wieder her (vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus III [s. Anm. 1], 426; FIEDLER, Matthäusevangelium [s. Anm. 48], 364, anders WALTER, Tempelzerstörung [s. oben], 48). 89 Mit anderen Worten: Hos 6,6 bedeutet für ihn, dass Gott mehr Wert auf Barmherzigkeit als auf Opfer legt (in diesem Sinne z.B. auch LUZ, Matthäusevangelium II [s. Anm. 86], 44). 90 Siehe SENIOR, Passion Narrative (s. Anm. 46), 163f.166–168; P. FIEDLER, Die Passion des Christus, in: Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium (FS A. Vögtle), hg. v. L. Oberlinner – P. Fiedler, Stuttgart 1991, 299–319: 306f; GUNDRY, Matthew (s. Anm. 56), 542; GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 32), 427; DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 525; HAGNER, Matthew II (s. Anm. 79), 798; LUZ, Evangelium nach Matthäus IV (s. Anm. 52), 176 u.a. Anders J.D. KINGSBURY, Matthew as Story, Philadelphia 71996, 87; GIELEN, Konflikt (s. Anm. 8), 358f.362f; F. SIEGERT,
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doch wird man hier differenziert urteilen müssen. Die Aussage ist einerseits insofern ‚wahr‘, als Jesus dem Tempelbetrieb entgegengetreten ist und tatsächlich die Zerstörung des Tempels angekündigt hat; zudem geht es in der matthäischen Version des Tempellogions um die Vollmacht, den Tempel zu zerstören und wieder zu errichten, und diese Vollmacht besitzt Jesus nach Matthäus allerdings. Andererseits weiß der Leser, dass in der Ankündigung der Tempelzerstörung in 23,38 nicht Jesus selbst als Subjekt erscheint, und vor allem hat Jesus nirgends mit der Vollmacht ‚geprahlt‘, den Tempel niederreißen und neu errichten zu können. Insofern handelt es sich auch in V.61 um ein Falschzeugnis. Im Unterschied zu den vorangehenden Falschzeugnissen ist dieses aber, wie der Fortgang zeigt, für den Hohen Rat verwertbar. Als Moment, das diese Verwertbarkeit begründet, kann man zum einen darauf verweisen, dass die Anklage nun von zwei in ihren Aussagen offenbar übereinstimmenden Zeugen vorgebracht wird, so dass die Verfahrensvorschriften formal erfüllt sind (vgl. Dtn 17,16; 19,15, auch Num 35,30; 11QT 61,6f).91 Zum anderen kann man einbeziehen, dass mit dem Wort über den Tempel ein wahrlich substantieller Punkt tangiert ist92: Es geht um nichts Geringeres als das kultische Zentrum, und wer behauptet, über dieses Vollmacht zu besitzen, erhebt einen einzigartigen Anspruch. Entsprechend sucht der Hohepriester in V.63 auf Jesus einzuwirken, auf den im Tempellogion implizierten Anspruch zu reagieren. Jesu Verhältnis zum Tempel erhält also für den Fortgang und ‚Erfolg‘ des Prozesses vor dem Hohen Rat eine zentrale Bedeutung. Indem die Hohepriester und Ältesten Jesus dann verurteilen, an Pilatus ausliefern und ihn durch die Überredung des Volkes zu Tode bringen, führen aber gerade sie, die Hüter des Tempels, das Ende des Tempels herbei.
„Zerstört diesen Tempel ...!“ Jesus als „Tempel“ in den Passionsüberlieferungen, in: Zerstörungen des Jerusalemer Tempels. Geschehen – Wahrnehmung – Bewältigung, hg. v. J. Hahn, WUNT 147, Tübingen 2002, 108–139: 115. 91 Vgl. G. HÄFNER, Ein übereinstimmendes Falschzeugnis – zur Auslegung von Mt 26,61, ZNW 101 (2010), 294–299. – In der ursprünglichen Fassung dieses Aufsatzes habe ich vertreten, dass der Grund für die Verwertbarkeit wohl nicht darin zu sehen sei, dass erst jetzt zwei Zeugen übereinstimmen, und dafür geltend gemacht, dass Matthäus nicht nur Mk 14,59 (țĮ Ƞį ȠIJȦȢ ıȘ Ȟ ਲ ȝĮȡIJȣȡĮ ĮIJȞ), sondern auch bereits die erste markinische Notiz in Mk 14,56 übergangen habe, dass die Aussagen der Zeugen nicht übereinstimmten (vgl. K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu. Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament, FRLANT 184, Göttingen 1999, 40). HÄFNER, Falschzeugnis (s. oben), 298 hat dagegen zu Recht eingewendet, dass die Leser bzw. Hörer des Matthäusevangeliums dies ohne eine vergleichende Lektüre des Markusevangeliums nicht nachvollziehen können, und, ebenfalls zu Recht, darauf verwiesen, dass auf der synchronen Ebene des Matthäusevangeliums mit der Nennung der Zahl der Zeugen der entscheidende neue Aspekt genannt wird. 92 So GUNDRY, Matthew (s. Anm. 56), 542.
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4. Jeremia als Intertext im Rahmen der matthäischen Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Tempels Das Matthäusevangelium durchzieht ein dichtes Netz von Bezügen und Anspielungen auf die Schrift. Die dem Matthäusevangelium eigenen Erfüllungszitate93 sind dafür nur ein exemplarischer Ausdruck. Geben die sorgfältig gestalteten intratextuellen Verknüpfungen in der matthäischen Jesusgeschichte zu erkennen, dass diese sich einer längeren konzentrierten Reflexion der überkommenen schriftlichen Quellen und mündlichen Überlieferungen der Jesustradition verdankt94, so wurde dieser Prozess offenkundig durch die intensive Rezeption der Schrift, sei es in Gestalt gottesdienstlicher Lesung und Erläuterung oder des privaten Schriftstudiums, wesentlich mitgeprägt.95 Dieses Charakteristikum ist nun auch im Blick auf die matthäische Deutung der Zerstörung Jerusalems zu beobachten. Ich konzentriere mich dabei im Folgenden auf die in diesem Zusammenhang besonders gewichtigen Beziehungen zum Jeremiabuch.96 Das Matthäusevangelium ist die einzige neutestamentliche Schrift, die mit Jeremia den Propheten, der in der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition aufs Engste mit der Zerstörung des ersten Tempels verbunden ist97, explizit erwähnt – und dies gleich an drei Stellen (2,17; 16,14; 27,9). Besonders auffällig ist 16,14: Matthäus hat hier die in Mk 8,28 vorgefundene 93
Siehe Mt 1,22f; 2,15.17f.23; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,35; 21,4f; 27,9f. Dem korrespondiert, dass das Matthäusevangelium offenbar „für wiederholte Lektüre geschrieben“ ist (U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 32 [Hervorhebung von mir], s. auch D.C. ALLISON, Anticipating the Passion: The Literary Reach of Mt 26:47– 27:56, CBQ 56 [1994], 701–714: 703: „I assume that our gospel was composed for repeated use in an oral setting which also featured scriptural readings from the LXX.“). 95 Vgl. dazu in diesem Band in dem Beitrag „Das Matthäusevangelium als judenchristlicher Gegenentwurf zum Markusevangelium“, 65–68. – Ich gehe dabei davon aus, dass Texte, die zitiert werden oder auf die angespielt wird, nicht eo ipso von ihrem ursprünglichen Kontext isoliert, also gewissermaßen ‚atomistisch‘ zu betrachten sind, sondern jeweils geprüft werden muss, inwiefern ihr ursprünglicher Kontext beim Zitat bzw. bei der Anspielung eine Rolle spielt. Vgl. R.B. HAYS, The Gospel of Matthew. Reconfigured Torah, HTS 61 (2005), 165–190. 96 Monographisch sind diese Beziehungen bis jetzt allein in der Studie von KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30) untersucht worden. Siehe ferner R.E. WINKLE, The Jeremiah Model for Jesus in the Temple, AUSS 24 (1986), 155–172. Zu den – in der jüdischen Tradition Jeremia zugeschriebenen (s. unten Anm. 97) – Klageliedern s. D.M. MOFFITT, Righteous Bloodshed, Matthew’s Passion Narrative, and the Temple’s Destruction. Lamentations as a Matthean Intertext, JBL 125 (2006), 299–320. 97 Neben dem Jeremiabuch selbst verdient Beachtung, dass bereits in 2Chr 36,19–21 im Blick auf die Zerstörung Jerusalems und die Exilierung auf die Erfüllung der Prophetie Jeremias (s. auch 2Chr 36,12) verwiesen wird. In Sir 49,6f wird die Zerstörung Jerusalems sogar auf die Demütigung Jeremias zurückgeführt (vgl. Jer 26,15). Eupolemos (bei Eusebius, 94
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Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im MtEv
Meinung der Leute über Jesus, er sei einer der Propheten, durch eine gesonderte Erwähnung Jeremias erweitert. Diese Einfügung geschah zweifelsohne nicht unüberlegt und grundlos. Offenbar verbindet Matthäus mit Jeremia bestimmte Aspekte, die eine Assoziierung mit Jesus erlauben und auf die unter anderem durch 16,14 hingewiesen werden soll. Die folgenden Ausführungen werden dazu Ansatzpunkte liefern.98 In 2,17 und 27,9 handelt es sich jeweils um die in beiden Fällen genau gleichlautende Einleitung eines Reflexionszitats. Die beiden Verse heben sich von den übrigen Belegen dadurch ab, dass sie im Kontext der Opposition gegen Jesus und ihrer Folgen stehen und Matthäus hier nicht wie sonst final formuliert, sondern lediglich, durch IJંIJİ eingeleitet, das Eintreffen des prophetischen Wortes konstatiert.99 Nicht nur gelangen in Jesus die Heilsverheißungen der Schrift in Erfüllung; die Schrift hat auch vorausgesehen, dass sich Widerstand gegen den Messias erheben wird. Schon deshalb kann Anfeindung für
PraepEv 10,39,2–5) erwähnt in seiner Notiz über Jojakim nicht nur, dass Jeremia das bevorstehende Unheil offenbart hat, sondern er weiß auch davon zu berichten, dass Nebukadnezar eben durch die Unheilsankündigungen Jeremias zum Feldzug gegen Juda motiviert wurde. Josephus (dazu unten S. 251–257), 2Bar und 4Bar illustrieren die Bedeutung der Rezeption von Jeremia bzw. des Jeremiabuchs im Kontext der Auseinandersetzung mit der Zerstörung des zweiten Tempels. Und schließlich ist darauf zu verweisen, dass die Klagelieder in der LXX in einer Einleitung zu ihnen (țĮ ਥȖȞİIJȠ ȝİIJ IJઁ ĮੁȤȝĮȜȦIJȚıșોȞĮȚ IJઁȞ ǿıȡĮȘȜ țĮ ǿİȡȠȣıĮȜȘȝ ਥȡȘȝȦșોȞĮȚ ਥțșȚıİȞ ǿİȡİȝȚĮȢ țȜĮȦȞ țĮ ਥșȡȞȘıİȞ IJઁȞ șȡોȞȠȞ IJȠ૨IJȠȞ ਥʌ ǿİȡȠȣıĮȜȘȝ țĮ İੇʌİȞ) Jeremia zugeschrieben werden (vgl. auch 2Chr 35,25 [dazu C. WOLFF, Jeremia im Frühjudentum und Urchristentum, TU 118, Berlin 1976, 2–4]; 3Esra 1,30; Josephus, Ant 10,78 sowie 2Bar 9,1f und 4QApocrJerC[385b] 16 2,4f [dazu L. DOERING, Jeremia in Babylonien und Ägypten. Mündliche und schriftliche Toraparänese für Exil und Diaspora nach 4QApocryphon of Jeremiah C, in: Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie, hg. v. W. Kraus – K.-W. Niebuhr, WUNT 162, Tübingen 2003, 50–79: 64]). – Vgl. KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 247–256.288. 98 Die Palette der Vorschläge ist breit (s. die Übersicht bei W.D. DAVIES – D.C.ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 2, ICC, Edinburgh 1991, 618f und vor allem KNOWLES, Jeremiah [s. Anm. 30], 82–94). Dass Matthäus eine Tradition gekannt haben soll, die eine Wiederkehr Jeremias erwartete (s. z.B. WOLFF, Jeremia [s. Anm. 97], 28f), reicht zumindest als alleiniges Motiv nicht aus (kritisch zu diesem Ansatz z.B. auch M.J.J. MENKEN, The References to Jeremiah in the Gospel According to Matthew [Mt 2,17; 16,14; 27,9], ETL 60 [1984], 5–24: 13–17). Es ist vielmehr nach inhaltlichen Entsprechungen zu fragen. Vgl. unten S. 249. 99 Durch die differierende Einleitung vermeidet Matthäus, die Gegnerschaft wie den Weg Jesu selbst als von Gott intendiert darzustellen. „Das Unheil ist von Gott nicht beabsichtigt, aber vorausgewußt“ (GNILKA, Matthäusevangelium II [s. Anm. 32], 448). Die Menschen tragen die volle Verantwortung.
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die Gemeinde kein Grund zum Zweifel sein. Wer die Schrift kennt, kann vielmehr von solcher Opposition nicht überrascht sein, sondern darin nur Bestätigung finden.100 Das erste Zitat steht im weiteren Zusammenhang der oben angesprochenen Exposition der Konfliktthematik in Mt 2: In dem Kindermord in Bethlehem (2,16) sieht Matthäus das in Jer 31(38),15 vorhergesagte Weinen Rahels zur Erfüllung kommen. Der Versuch der Autoritäten, ihre Macht zu behaupten, geht damit einher, dass dem Volk schweres Leid zugefügt wird. Auffallend ist, dass Rahel in der von Matthäus gebotenen Textform abweichend vom alttestamentlichen Wortlaut nicht über ihre Söhne (MT: ʕʤʩʓʰ ʕˎʚʬˆʔ , LXX: ਥʌ IJȠȢ ȣੂȠȢ ĮIJોȢ), sondern über ihre Kinder weint. Matthäus intendiert damit offenbar eine intratextuelle Verbindung zum Blutruf des Volkes in 27,25.101 Andeutungsweise wird schon mit diesem ersten Jeremiazitat der Horizont des sich in der Zerstörung Jerusalems manifestierenden Strafgerichts über die Gegner Jesu aufgespannt. In 27,9f weist Matthäus Jeremia ein Zitat zu, dessen primärer Bezugstext gar nicht im Jeremiabuch, sondern in Sach 11,13 zu finden ist, das freilich Anklänge an Jeremia enthält. So erinnert die Rede vom Töpfer an Jer 18,1–12; 19,1–13, die vom Acker ferner an 32(39),7–9, wobei 19,1–13, wie sich gleich zeigen wird, besondere Bedeutung zukommt. 102 Die Zuschreibung an Jeremia103 ist dabei kein Versehen104, aber auch nicht allein mit dem Verweis auf den eher peripheren Einfluss von Jeremia im Zitat selbst schon hinreichend
100 Vgl. D. SENIOR, The Lure of the Formula Quotations. Re-assessing Matthew’s Use of the Old Testament with the Passion Narrative as Test Case, in: The Scriptures in the Gospels, hg. v. C.M. Tuckett, BETL 131, Leuven 1997, 89–115: 114: „The backdrop of scriptural fulfillment certifies that such opposition is, however paradoxically, within the scope of God’s plan of salvation revealed in the Scriptures. Thus neither Jesus’ messianic authority nor the legitimacy of the Christian community are diminished by such opposition.“ 101 Vgl. KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 37; GARBE, Hirte (s. Anm. 2), 32f. 102 Zu möglichen Bezügen s. die Übersicht bei DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 1), 558f, speziell zu Jer 19,1–13 R.H. GUNDRY, The Use of the Old Testament in St. Matthew’s Gospel with Special Reference to the Messianic Hope, NT.S 18, Leiden 1967, 124f; D.P. SENIOR, The Fate of the Betrayer. A Redactional Study of Matthew XXVII, 3-10, in: Passion Narrative (s. Anm. 46), 343–397: 359–361; D.J. MOO, Tradition and Old Testament in Matt 27:3–10, in: Gospel Perspectives. Studies in Midrash and Historiography, Bd. 3, hg. v. R.T. France – D. Wenham, Sheffield 1983, 157–175: 159f; MENKEN, References (s. Anm. 98), 10f und vor allem KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 69–76. 103 Eine Übersicht über Erklärungsversuche bietet KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 60– 77. 104 Anders zuletzt wieder LUZ, Evangelium nach Matthäus IV (s. Anm. 52), 240. LUZ zieht aus der seines Erachtens „fälschlichen Zuschreibung von 27,9 an Jeremia durch Mt“ (Evangelium nach Matthäus I [s. Anm. 94], 191) ferner die Konsequenz, dass die matthäische Gemeinde wohl keine Jeremiarolle besessen habe (a.a.O., 191). M.E. ist vom Gegenteil auszugehen.
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erklärt. Sie erschließt sich vielmehr zum einen als Textsignal auf dem Hintergrund der Beziehungen, die Matthäus zwischen Mt 2 und der Passionsgeschichte gesetzt hat.105 Zum anderen und vor allem aber fungiert die Nennung Jeremias in Mt 27,9 „as a means of drawing attention to an important allusion that could otherwise easily be overlooked“.106 Anders gesagt: Matthäus selbst hat Sach 11,13 sowie die vorangehende Erzählung im Lichte der genannten Jeremiastellen reflektiert und weist die Leser durch die Nennung Jeremias darauf hin, das Geschehen in Mt 27,3–8 im Lichte des Jeremiabuches bzw. der Jeremiastellen, auf die mit der Erwähnung des Töpfers und des Ackers angespielt wird, zu betrachten.107 Dabei ist zum einen zu beachten, dass in Jer 19 die Zerstörung Jerusalems mit dem Vergießen unschuldigen Blutes begründet wird (V.4, vgl. Mt 27,4.24f). Zwar kann man darauf verweisen, dass Matthäus mit dem Gedanken des unschuldig vergossenen Blutes, wie er in 23,30.35f; 27,4.24f hervortritt, ein Motiv aufgenommen hat, das alttestamentlich auch abseits des Jeremiabuches geläufig ist108, doch begegnet es bei Jeremia nicht nur besonders dicht, sondern ferner auch direkt im Zusammenhang der Begründung der Zerstörung Jerusalems.109 Dem steht zur Seite, dass Matthäus’ Rede vom ĮੈȝĮ įަțĮȚȠȞin 23,35 durch einen Vers der in der LXX Jeremia zugeschriebenen110 Klagelieder, nämlich durch Thr 4,13 mit inspiriert sein dürfte111, wo die Zerstörung Jerusalems unter anderem darauf zurückgeführt wird, dass die Priester in der Stadt ĮੈȝĮ įțĮȚȠȞ vergossen haben. Zu verweisen ist ferner auch auf Jer 26(33),15112, worauf unten näher einzugehen sein wird. Dieser Befund legt die Annahme nahe, dass die dem ersten Evangelisten eigene Fokussierung der
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Siehe dazu KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 78–80. KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 77. In diesem Sinne auch GUNDRY, Use (s. Anm. 102), 125; SENIOR, Fate (s. Anm. 102), 369; MOO, Tradition (s. Anm. 102), 161; S. VAN TILBORG, Matthew 27. 3-10. An Intertextual Reading, in: Intertextuality in Biblical Writings (FS B. van Iersel), hg. v. S. Draisma, Kampen 1989, 159–174: 168. 107 Instruktiv ist in diesem Zusammenhang Mt 24,15, denn durch die Einfügung IJઁ ૧ȘșȞ įȚ ǻĮȞȚȜ IJȠ૨ ʌȡȠijIJȠȣ ist der Appell ਕȞĮȖȚȞઆıțȦȞ ȞȠİIJȦ als Aufforderung zum Studium der Passagen des Danielbuches über den „Gräuel der Verwüstung“ (Dan [9,27]; 11,31; 12,11) zu verstehen (mit LUZ, Evangelium nach Matthäus III [s. Anm. 1], 425). Eine analoge Absicht dürfte in 27,9 mit dem Verweis auf Jeremia intendiert sein. 108 Siehe Dtn 27,25; 1Reg (1Sam)19,5; 25,26.31; 3Reg (1Kön) 2,5; 4Reg (2Kön) 21,16; 24,4; 2Chr 36,5d; 1Makk 1,37; 2Makk 1,8; Ps 93,21LXX; 105,38LXX; Jer 7,6; 19,4; 22,3.17; 33,15LXX [= 26,15MT], vgl. TestLevi 16,3; TestSeb 2,2; Philo, SpecLeg 1,204. 109 Jer 7,6; 19,4; 22,3.17; 33,15LXX, vgl. noch Thr 4,13. Siehe ansonsten noch 4Reg (2Kön) 21,16; 24,4; 2Chr 36,5d. 110 Siehe dazu oben Anm. 97. 111 Siehe GUNDRY, Matthew (s. Anm. 56), 470f. – Siehe aber auch Ps 94,21LXX; Prov 6,17LXX; Joel 4,19LXX; Jona 1,14LXX. 112 Vgl. WINKLE, Model (s. Anm. 96), 168. 106
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Begründung der Zerstörung Jerusalems auf den Gedanken des unschuldig vergossenen bzw. gerechten Blutes durch die Lektüre des Jeremiabuches (und der Klagelieder) mit inspiriert ist, ja sich überhaupt der Reflexion der vorgegebenen Traditionen im Licht des Jeremiabuches verdankt. Dazu passt, dass die durch das Blutmotiv geprägte Ankündigung des Strafgerichts in Mt 23,29–39 mit dem Motiv der fortwährenden Zurückweisung der Propheten verbunden113 und auch dieses im Jeremiabuch breit verankert ist.114 Wenn die Nennung Jeremias in 27,9 wie skizziert zu explizieren ist, bedeutet dies, dass Matthäus für den schriftkundigen Leser/Hörer durch diesen Verweis in 27,3–10 das Thema der Zerstörung Jerusalems präsent sein lässt. Dies macht exemplarisch deutlich, wie im Matthäusevangelium durch die intertextuelle Dimension des Textes dessen Sinn mit generiert wird. Zum anderen dürfte für den Evangelisten eine wichtige Rolle gespielt haben, dass in Jer 19 die Ältesten des Volkes und die Ältesten der Priester adressiert sind (V.1, vgl. Mt 27,3). Auch anderorts richtet sich die Kritik im Jeremiabuch vorrangig an die führenden Schichten.115 In der Erzählkonzeption der matthäischen Jesusgeschichte ist dies, wie gesehen, ein zentrales Moment. Oben wurde 113 Eine große Affinität zur matthäischen Interpretation weist die christliche Redaktion von TestLevi 16,2–4 auf: Erstens sind auch hier die Missachtung der Propheten und die Tötung Jesu (auf ihn bezieht sich V.3) zusammengebunden. Zweitens begegnet im Rahmen der Rede von der Tötung Jesu das Motiv des ‚unschuldigen Blutes‘, ja es heißt: „ihr nehmt unschuldiges Blut in Bosheit auf eure Häupter“ (vgl. Mt 27,25!). Und drittens wird die folgende Strafe in mit Mt 23,38 verwandter Weise formuliert: ǻȚૃ ĮIJઁȞ ıIJĮȚ IJ ਚȖȚĮ ਫ਼ȝȞ ȡȘȝĮ (TestLevi 16,4). TestLevi ‚weiß‘ im Übrigen auch vom Zerreißen des Vorhangs des Tempels (10,3). 114 Siehe Jer 2,30; 7,25f; 25,4; 26,5; 29,19; 35,15; 44,4f, s. ferner 11,7. – Möglicherweise stehen ferner in Mt 23,38 Jer 12,7 und Jer 22,5 im Hintergrund (so GUNDRY, Matthew [s. Anm. 56], 473, s. auch DÖPP, Deutung [s. Anm. 34], 24), doch lassen sich hier – abgesehen davon, dass ȡȘȝȠȢ insgesamt ein geläufiges Wort ist – mit Hag 1,9 (ਕȞșૃ ੰȞ ȠੇțંȢ ȝȠ ਥıIJȚȞ ȡȘȝȠȢ, ਫ਼ȝİȢ į įȚઆțİIJİ ਪțĮıIJȠȢ İੁȢ IJઁȞ ȠੇțȠȞ ĮIJȠ૨) und Tob 14,4 (...țĮ ǿİȡȠıંȜȣȝĮ ıIJĮȚ ȡȘȝȠȢ, țĮ ȠੇțȠȢ IJȠ૨ șİȠ૨ ਥȞ ĮIJૌ țĮIJĮțĮıİIJĮȚ țĮ ȡȘȝȠȢ ıIJĮȚ ȝȤȡȚ ȤȡંȞȠȣ) andere eng verwandte Texte benennen. Für einen Einfluss der Jeremiabelege spricht freilich die durch andere Stellen nachgewiesene Jeremiarezeption. Man müsste dann allerdings im Blick auf Jer 22,5 von einer recht freien Rezeption sprechen, denn in Jer 22,5 meint „dieses Haus“ dem Kontext nach „das Haus des Königs von Juda“ (22,1), also den Königspalast (in Jer 12,7 hingegen kann man „mein Haus“ auf den Tempel beziehen [in diesem Sinne z.B. G. WANKE, Jeremia, Bd. 1: Jeremia 1,1–25,14, ZBK.AT 20.1, Zürich 1995, 129], d.h. in den drei Gliedern von Jer 12,7 kann man Tempel, Land und Volk nacheinander angeführt sehen). 115 Pauschale Anklagen des Volkes sind dem Jeremiabuch keineswegs fremd (s. nur 2,13; 5,1–14; 32,23), doch treten die führenden Schichten immer wieder als konkrete Adressaten der Kritik hervor (s. Jer 2,8; 4,9; 5,5.13; 8,8–13; 10,21; 12,10f; 14,13–15; 21–23 [s. bes. 23,1f.15.32]; 29,24–32, 36,21–24.30f u.ö., s. auch Thr 2,14; 4,13f). Zugleich spielen die Führungsschichten im Jeremiabuch in der Verfolgung des Propheten zwar nicht durchgehend die alleinige (s. Jer 26, dazu gleich), aber jedenfalls eine prominente Rolle. So ist es in
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in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass in der Kennzeichnung der Schafe des Hauses Israel als „verloren“ (Mt 10,6; 15,24), „abgemattet“ und „daniederliegend“ (9,36) eine implizite Kritik an den schlechten Hirten mitschwingt. Durch die Sendung Jesu als des messianischen Hirten seines Volkes und der von ihm in den Dienst gestellten Jünger führt Gott die soteriologische Wende herbei. Außer durch Ez 34 dürfte Matthäus auch hier durch das Jeremiabuch beeinflusst sein.116 So hat das Syntagma IJ ʌȡંȕĮIJĮ IJ ਕʌȠȜȦȜંIJĮ in Jer 27,6LXX (=50,6MT), wo das Volk Gottes mit einer verlorenen Herde verglichen wird, die ihre Hirten in die Irre haben gehen lassen, eine Entsprechung. 117 Auch sonst werden die Autoritäten im Jeremiabuch metaphorisch als Hirten angesprochen und scharf kritisiert118, ja 23,3–6 verheißt die Sammlung der zerstreuten Herde unter neuen Hirten (V.3f) bzw. durch den Spross Davids (V.5f).119 Für Mt 27,9 legt dies nahe, dass bei der Nennung Jeremias – ganz auf der Linie der matthäischen Intention in 27,3–8 und des das Verhalten eben der Autoritäten thematisierenden Zitats selber – das Moment der Autoritätskritik mitschwingt.120
Jer 20,1–6 der Tempelvorsteher Paschhur, der Jeremia gefangen setzt. In Jer 37,15 wird Jeremia von den ‚Oberen‘ ins Gefängnis geworfen. In Jeremia 38,1–6 intervenieren diese bei Zedekia, er solle Jeremia töten lassen; nachdem Zedekia ihnen den Propheten überlassen hat, werfen sie ihn in eine schlammige Zisterne, aus der er durch Ebed-Melech gerettet wird (38,7–13, s. ferner 36,26). Natürlich lassen sich auch gegenläufige Textpassagen anführen. In Jer 26(33),7–19.24 ist es – neben den Priestern (vgl. Jer 2,8.26f; 5,31; 6,13; 8,10; 23,11f u.ö.) und (falschen) Propheten (vgl. Jer 5,31; 6,13f; 8,10; 14,13–15.18; 23,9ff; 27,9f.14–18; 29,8f u.ö.) – gerade der ȜĮંȢ, der Jeremia zu töten trachtet, während die Oberen und Ältesten dies verhindern (zum ‚Volk‘ s. aber auch V.16 [dazu unten]). Dies ändert aber nichts daran, dass Matthäus im Jeremiabuch, besonders in Jer 21–23, spezifisch autoritätskritische Texte finden konnte. Und wie frei die biblischen Texte verarbeitet, d.h. durch die eigenen Interessen und Konzepte überformt werden konnten, erhellt exemplarisch Josephus’ Rezeption von Jer 26 in Ant 10,90–92: Hier sind die Priester und Propheten als Gegner ganz verschwunden, d.h. aus „Priestern, (Falsch-[LXX])Propheten und dem ganzen Volk (ʌ઼Ȣ ȜĮંȢ)“ (Jer 26[33],8) als Gegnern sind bei Josephus IJઁ ʌȜોșȠȢ țĮ Ƞੂ ਙȡȤȠȞIJİȢ (Ant 10,90) geworden (s. dagegen die Archonten in Jer 33,10.16LXX, wobei in V.16 auch ʌ઼Ȣ ȜĮંȢ auf Seiten der Archonten erscheint). 116 Zu Ez 34 s. oben Anm. 14. 117 Vgl. GUNDRY, Matthew (s. Anm. 56), 184. – Siehe aber auch Ez 34,4.16. 118 Siehe Jer 2,8; 10,21; 12,10f; 22,22; 23,1f, ferner auch 25,34–36. 119 Vgl. Jer 30,9(.21); 33,15. 120 Vgl. PAUL, Texte (s. Anm. 61), 80. – Das oben Ausgeführte ließe sich untermauern, wenn in Mt 15,13 eine Anspielung auf Jer 1,10 vorliegen sollte (so KNOWLES, Jeremiah [s. Anm. 30], 189–192). Dann hätte Matthäus das „Ausreißen“ konkret auf die Autoritäten bezogen.
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Schließlich konnte Matthäus seine eigene Konzipierung Jerusalems, wie sie in Abschnitt 1 skizziert wurde, in der stark auf Jerusalem bezogenen Gerichtsprophetie Jeremias121 angelegt finden.122 In Jer 19 symbolisiert das Zerbrechen des Gefäßes des Töpfers die Zerstörung der Stadt und die Vernichtung ihres Volkes, durch welche das Tofet zum Begräbnisort (vgl. Jer 7,32) werden soll (19,11f).123 Im Blick auf Mt 27,25 ist dabei anzumerken, dass sich in Jer 19,11 ȜĮઁȢ ȠIJȠȢ ausweislich der Entsprechung zu Ƞੂ țĮIJȠȚțȠ૨ȞIJİȢ ਥȞ ĮIJ124 (V.12, vgl. 26[33],15) auf die Jerusalemer Bevölkerung bezieht.125 Die zu Mt 27,9 beobachtete Evokation des Themas der Zerstörung Jerusalems durch die intertextuelle Referenz auf Jeremia lässt sich anhand der bereits erwähnten Anspielung in Mt 21,13 auf die Tempelrede Jeremias in Jer 7, genauer: auf Jer 7,11126, weiter illustrieren. Jeremias Tempelrede stellt zwei Op-
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Siehe z.B. Jer 4,9–14; 6,1–8; 8,1–3; 15,5f; 19,3ff; 23,14. Das Jeremiabuch weist im Übrigen insofern keine pauschale Gerichtsbotschaft gegen das gesamte Gottesvolk auf, als, wie Jer 24 – veranschaulicht durch das Bild der guten und der schlechten Feigen – eindrücklich illustriert, zwischen den nach Babylon Exilierten (V.6) auf der einen Seite und „Zedekia ... samt seinen Großen und allen, die übrig geblieben sind in Jerusalem und in diesem Lande und die in Ägyptenland wohnen“ (V.8), auf der anderen Seite unterschieden wird (vgl. Jer 29,7–23, s. ferner auch die Heilszusage an die Rechabiter im Kontrast zum Ergehen Judäas und Jerusalems in Jer 35,17–19 und die Aussonderung Ebed-Melechs und Baruchs aus dem Unheil für Jerusalem in 39,15–18 bzw. 45,2–5). 123 Ob Matthäus dies bei der Zweckbestimmung des Töpferackers in Mt 27,7 – er soll İੁȢ IJĮijȞ IJȠȢ ȟȞȠȚȢ dienen – im Blick hatte, ist nicht auszuschließen, aber auch nicht mit hinreichender Plausibilität zu bejahen. In der Septuaginta fehlt in 19,11 der Verweis auf das Begräbnis im Tofet. Matthäus müsste also entweder den hebräischen Text gelesen oder aber zugleich Jer 7,32 vor Augen gehabt haben. Im letzteren Fall könnte man darauf hinweisen, dass die Umbenennung des Töpferackers in Blutacker in Mt 27,8 in Jer 7,32 ein Pedant hat, doch bleibt es spekulativ, ob Matthäus dies im Blick hatte. 124 ਫȞ ĮIJ = ਥȞ IJ IJંʌ IJȠIJ (V.12) als sprachliche Variation zu „dieser Stadt“ in V.11. 125 Auch in 4Bar 2,2f.5.7; 3,6 u.ö. ist ȜĮંȢ äquivalent gebraucht zu Ƞੂ țĮIJȠȚțȠ૨ȞIJİȢ ਥȞ ĮIJૌ (4Bar 1,1.7), wie die Wendung ʌ઼Ȣ ȜĮઁȢ IJોȢ ʌંȜİȦȢ IJĮIJȘȢ (4Bar 5,18) unterstreicht. Zu ȜĮંȢ mit Bezug auf die Bewohner Jerusalems s. ferner 2Chr 31,4 (țĮ İੇʌİȞ IJ ȜĮ IJȠȢ țĮIJȠȚțȠ૨ıȚȞ ਥȞ ǿİȡȠȣıĮȜȘȝ); 32,18; 1Makk 10,7 (țĮ ȜșİȞ ǿȦȞĮșĮȞ İੁȢ ǿİȡȠȣıĮȜȘȝ țĮ ਕȞȖȞȦ IJȢ ਥʌȚıIJȠȜȢ İੁȢ IJ ੯IJĮ ʌĮȞIJઁȢ IJȠ૨ ȜĮȠ૨ țĮ IJȞ ਥț IJોȢ ਙțȡĮȢ); s. auch Sach 14,2; Jes 28,14; 30,19; 33,24; Jer 14,16; 21,7; 43(36),9; 45(38),4; Thr 1,7.11. Ebenso meint in Josephus, Bell 5,566 oder auch in 6,301 ʌ઼Ȣ ȜĮંȢ – wie ȜĮંȢ häufig im Bellum – die Jerusalemer Bevölkerung (und dies im Unterschied zu den Aufständischen, s. Bell 2,425; 4,326[.363]; 5,101.251.335.345.547.566; 6,259.273). 126 WOLFF, Jeremia (s. Anm. 97), 157 verneint im Blick auf Mk 11,17 (zu Mt 21,13 s. a.a.O., 165) eine bewusste Bezugnahme auf Jer 7,11. Seine Gegenthese beruht freilich auf reiner Spekulation: „Der Begriff ‚Räuberhöhle‘ war vermutlich damals in bestimmten Kreisen eine bekannte Bezeichnung für den Jerusalemer Tempel“ (157). Auch dann allerdings, wenn Wolffs Vermutung das Richtige treffen würde, liegt jedenfalls für Matthäus angesichts 122
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tionen einander gegenüber: Entweder ändern die Judäer, statt sich auf die Lügenworte zu verlassen, dass sie sicher seien (V.10), weil „hier des Herrn Tempel ist“ (V.4), ihr Leben; dann wird Gott an diesem Ort bei ihnen wohnen bleiben. Oder aber sie bleiben bei ihrem Wandel; dann kommt Gottes Strafgericht auf sie zu. In Mt 21,13 ist nun die Frage des Bezugstextes, ob sie denn das Haus Gottes für eine Räuberhöhle halten (Jer 7,11), zu dem Urteil transformiert ਫ਼ȝİȢ į ĮIJઁȞ ʌȠȚİIJİ ıʌȜĮȚȠȞ ȜૉıIJȞ. Im Lichte des Kontextes in Jer 7 betrachtet heißt dies, dass damit die Zerstörung des Tempels bevorsteht. Setzt Matthäus bei seinen Adressaten die Kenntnis des Textzusammenhangs von Jer 7 voraus, auf den durch ıʌȜĮȚȠȞ ȜૉıIJȞ angespielt wird, ergibt sich ein schlüssiger Zusammenhang mit der vorangehenden Notiz von der Austreibung aller Händler, der die obige Interpretation untermauert: Sie ist symbolhafte Antizipation des Endes des Tempels.127 Beachtung verdient im Blick auf Jer 7 ferner, dass auch hier sowohl das Motiv des unschuldig vergossenen Blutes (7,6) begegnet als auch der Gedanke ausgeführt wird, dass Gott vom Exodus bis zur Gegenwart des Propheten immer wieder seine „Knechte, die Propheten“ (vgl. Mt 21,35) gesandt hat (Jer 7,25), ja die Zeitgenossen des Propheten es noch ärger als ihre Väter treiben (7,26). Das kommende Strafgericht (7,32–34) erscheint also auch hier – wie in Mt 23,29–36 – als Konsequenz des fortwährenden, die Generationen übergreifenden Widerstandes. Erwägen kann man ferner, ob die Parallele zur Tempelrede von Jer 7 in Jer 26 Matthäus beeinflusst hat.128 Spielt der Tempel im Prozess gegen Jesus, wie gesehen, eine bedeutende Rolle, so schildert Jer 26, dass Jeremia nach seiner Androhung der Tempelzerstörung (V.6) von den Priestern, Propheten und dem ganzen Volk (ʌ઼Ȣ ȜĮંȢ) ergriffen wird und sie ihn zum Tode verurteilt sehen möchten (V.7–9). Im Verfahren vor den Oberen Judas verweist Jeremia dann nicht nur darauf, dass er im Namen Gottes geredet hat, sondern auch darauf, dass sie im Falle seiner Tötung unschuldiges Blut auf sich, auf diese Stadt und ihre Einwohner laden würden (26,15). Jeremia wird darauf freigelassen. Vergleicht man dies mit Mt 23,29–39; 26,59–66; 27,25, liegen die Berührungspunkte und zugleich die Differenz, die im Sinne einer Überbietung Jere-
seiner insgesamt zu beobachtenden schriftgelehrten Kompetenz die Annahme nahe, dass er den Ursprung der Wendung zu identifizieren wusste. 127 T. ZAHN, Das Evangelium des Matthäus, KNT, Leipzig – Erlangen 41922, 623f sieht eine Analogie zwischen Mt 21 und Jer 7 ferner darin, dass die Angeredeten sich „im Vertrauen auf die Unverletzlichkeit des Tempels, dessen Kultus sie in ihrer Weise fördern, vor den Strafgerichten Gottes für ihre Sünden sicher zu sein wähnen“ (624). Zum falschen Vertrauen auf den Kult im Jeremiabuch s. auch Jer 11,15, s. ferner die kultkritische Tendenz in Jer 6,20; 7,21–23. Zum Befund im Matthäusevangelium s. oben S. 235–240. 128 Bejahend WINKLE, Model (s. Anm. 96), 163–171; KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 199–203.220.245.
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mias durch Jesus zu interpretieren ist, auf der Hand: Auch Jesus redet im Tempel (Mt 21,23–23,39, vgl. Jer 26,2f); er verweist auf den notorischen Widerstand gegen die Propheten (Mt [21,35f;] 23,29–31.34, vgl. Jer 26,5) und kündigt die Zerstörung des Tempels an (Mt 23,38, vgl. Jer 26,6); wie Jeremia wird Jesus daraufhin der Prozess gemacht (Mt 26,3–5, vgl. Jer 26,7–9). Nur wurde Jesus tatsächlich zum Tode verurteilt, und damit ist unschuldiges Blut über die Autoritäten (Mt 23,35) und die Einwohner Jerusalems (Mt 27,25) gekommen (vgl. Jer 26,15). Zieht man noch einmal Mt 16,14 hinzu und beachtet man, dass mit den Voten in Mt 16,14 zwar keine suffizienten Positionen zur Identität Jesu formuliert werden, gleichwohl aber Aussagen angeführt werden, die sich der Identität Jesu von verschiedenen Seiten annähern129, so gewinnt die Annahme an Plausibilität, dass Matthäus die genannten Bezüge zwischen Jesus und Jeremia gesehen hat und in seiner Darstellung durch verschiedene Anspielungen zur Geltung zu bringen suchte.130 Das Bild wird ergänzt, wenn man einbezieht, dass die Verbindung von Bund und Sündenvergebung, wie sie im Kelchwort in Mt 26,28 begegnet, den neuen Bund von Jer 31,31–34 assoziieren lässt. Matthäus redet zwar nicht expressis verbis vom neuen Bund und das Syntagma „Blut des Bundes“ weist auf Ex 24,8 als Bezugspunkt (s. auch Sach 9,11); ferner kann man angesichts der Rede von den „Vielen“ im Blick auf das Motiv der Sündenvergebung auch Einfluss von Jes 53,11 vermuten. Es besteht aber keine Notwendigkeit, hier einander ausschließende Alternativen zu sehen, und da der Bezug auf Ex 24,8 ein typologischer ist, geht es sachlich auch in Mt 26,28 um den neuen Bund131 bzw. besser:
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Vgl. KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 91. – Der Täufer ist der Vorläufer Jesu und als solcher der Elia redivivus. Als Prophet bezeichnet Jesus sich sogar selbst (Mt 13,57, s. auch 23,37), wenngleich er, wie auch der Täufer (s. 11,9), natürlich mehr ist als ein Prophet. 130 Im Blick auf den Grund für die Nennung Jeremias in Mt 16,14 bedeuten die obigen Ausführungen, dass keineswegs bloß von einem Einzelaspekt auszugehen, sondern ein ‚Cluster‘ von zusammengehörigen Motiven zu beachten ist, nämlich a) Verfolgung und Leiden des Propheten (s. z.B. MENKEN, References [s. Anm. 98], 17–23), b) sein Bezug zur Zerstörung Jerusalems und näherhin des Tempels (s. WINKLE, Model [s. Anm. 96], 157.172), aber auch c) seine Kritik an und Auseinandersetzung mit den Autoritäten (vgl. oben Anm. 115). 131 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus IV (s. Anm. 52), 115.
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den erneuerten Bund. Hatte Matthäus Jer 31,31–34 mit im Blick132, war Jeremia für ihn keineswegs bloß der Unheilsprophet.133 Dem steht zur Seite, dass, wie gesehen, Jer 23,5f im Kontext der Hirtenkritik und der Verheißung neuer Hirten auf den Spross Davids ausblickt. Festzuhalten ist: Matthäus konnte tragende Pfeiler seiner Erzählkonzeption vom Jeremiabuch her beleuchten bzw. profilieren und damit das für ihn wichtige Moment, die Geschichte Jesu als Erfüllung der Schrift darzustellen, vertiefen. Das Jeremiabuch steht nicht nur Pate bei der Darstellung der Ablehnung Jesu, die zu seinem Tod führt, und bei dem daraus folgenden Strafgericht über Jerusalem134, sondern auch bei der Darstellung des von Jesus (durch seinen Tod) gebrachten Heils. Kurzum: Die Beziehungen zum Jeremiabuch sind nicht auf das Moment des Strafgerichts engzuführen, sondern umgreifen die durch die Sendung Jesu herbeigeführte soteriologische Wende im Ganzen: Zwar erleidet auch Jesus das Geschick der Propheten vor ihm, aber nun ist die Zeit gekommen, dass die Widersacher dafür bestraft werden und zugleich Gott sein
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Bejahend GUNDRY, Use (s. Anm. 102), 58; SENIOR, Lure (s. Anm. 100), 110; KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 208f. Anders WOLFF, Jeremia (s. Anm. 97), 131f. – Für die Rezeption von Jer 31(38),31–34 lässt sich im Übrigen noch darauf verweisen, dass Matthäus mit dem in 2,18 zitierten Vers Jer 31(38),15 und dem Passus Jer 32(39), der in Mt 27,9f mit zu den Bezugstexten gehören dürfte, Texte aufgenommen hat, die Jer 31(38),31–34 umschließen (M.F. WHITTERS, Jesus in the Footsteps of Jeremiah, CBQ 68 [2006], 229–247: 247 postuliert Jer 31–32 als Matthäus’ „favorite chapters“). 133 Vgl. KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 245f.264.306f. – Dass Jeremia im biblischen Jeremiabuch nicht nur der Prophet der Zerstörung Jerusalems, sondern auch des darauf folgenden Heils ist (s. auch Josephus, Ant 10,112f), findet sich in der frühjüdischen Jeremiarezeption durchaus kreativ ausgebaut. Zum einen begegnet verschiedentlich und im Detail unterschiedlich ausgeführt das Motiv, dass Jeremia Tempelgeräte verborgen habe. 2Makk 2,4– 8 zufolge hat Jeremia das Zelt, die Lade und den Rauchopferaltar in einer Höhle verborgen. Nach VitProph 2,9 entrückte Jeremia „vor der Zerstörung des Tempels die Lade des Gesetzes und die Dinge drinnen und er vollbrachte, daß diese verschlungen wurden in einem Felsen“ (Übers. A.M. SCHWEMER, Vitae Prophetarum, JSHRZ I/7, Gütersloh 1997, 579). 4Bar 3,7f.18 lässt Jeremia und Baruch (anders 2Bar 6,7–10: die Engel) die Geräte des Tempeldienstes der Erde übergeben, von der sie sogleich verschlungen werden (s. zu diesem Motiv WOLFF, Jeremia [s. Anm. 97], 61–79; DÖPP, Deutung [s. Anm. 34], 112–118). Zum anderen geht Jeremia nach 4Bar – entgegen dem biblischen Jeremiabuch (s. Jer 40,1–6) – nicht nur mit dem Volk nach Babylon (3,11; 5,21, vgl. 4QApocrJerC[385b] 16 1,5–7 [dazu DOERING, Jeremia {s. Anm. 97}, 58]; 2Bar 10,2; 33,2), sondern der Prophet selbst leitet das Volk auch wieder aus Babylon heraus (4Bar 8,1–3) und übernimmt damit in typologischer Entsprechung die Rolle des Mose beim Exodus (vgl. zu Jeremia und Mose WOLFF, Jeremia [s. Anm. 97], 79–83). 134 Ergänzend kann man auf einen weiteren Aspekt verweisen: Hat nach Jeremia Gott selbst Nebukadnezar herbeikommen lassen (Jer 25,9; 27,6f u.ö.), so ist in Mt 22,7 im Grunde impliziert, dass das römische Heer Gott als Werkzeug diente, doch führt Matthäus dies nicht weiter aus.
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Heil durchsetzt. Im Lichte des Winzergleichnisses formuliert: Konnten die Autoritäten bei der Sendung der Knechte (= Propheten) ihre Stellung noch behaupten (Mt 21,35f), so gilt im Blick auf den von den Winzern getöteten Sohn, dass der verworfene Stein zum Eckstein geworden ist (21,42). Dabei bilden bei Matthäus Verderben und Heil – anders als im Jeremiabuch – nicht zwei aufeinander folgende Phasen, sondern es geht um zwei Seiten eines Geschehenszusammenhangs.135 Für die Zeitgenossen des Evangelisten stehen zwei Optionen nebeneinander, zwischen denen sie sich entscheiden müssen: Sie können entweder den alten, bei Gott entmachteten Autoritäten anhängen und werden dann, wie die Zerstörung Jerusalems belegt, das Verderben ernten; oder sie können Jünger Jesu werden.
5. Die Deutung der Zerstörung Jerusalems bei Matthäus und Josephus Wenn nun abschließend Matthäus’ Deutung mit Josephus in Beziehung gesetzt werden soll, kann es nicht darum gehen, im religionsgeschichtlich-genetischen Sinn nach direkten Abhängigkeiten zu fragen.136 Der Sinn kann in diesem Fall nur sein, Josephus als einen Zeugen des frühen Judentums nach 70 n.Chr. heranzuziehen, der den geistesgeschichtlichen Kontext mit zu erhellen vermag, in dem auch Matthäus eingebettet ist. Vergleicht man nun Matthäus’ und Josephus’ Deutungen der Zerstörung Jerusalems miteinander, so ist zunächst auf die grundlegend verschiedenen rhetorischen Herausforderungen zu verweisen. Matthäus’ Deutung ist geprägt durch den Konflikt zwischen der ecclesia und der pharisäisch dominierten Sy-
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Man kann dies gut an dem Zitat von Jer 31(38),15 in Mt 2,17f illustrieren, wenn auch hier gilt, dass man den Kontext des zitierten Verses einbeziehen muss (vgl. HAYS, Gospel [s. Anm. 95], 175–177, s. auch C. RITTER, Rachels Klage im antiken Judentum und frühen Christentum. Eine auslegungsgeschichtliche Studie, AGJU 52, Leiden – Boston 2003, 122f). In Jer 31(38) geht es nämlich um die erneute Zuwendung Gottes zu Israel. In diesen Zusammenhang eingebettet nimmt 31(38),15 das Unheil des Volkes in der Perspektive auf, dass dieses nun gewendet werden soll (V.16–18). Transformiert in den matthäischen Kontext bedeutet das: Rahels Klage verweist auf das Leid, das durch die Opposition der Autoritäten gegen den Messias über das Volk gebracht wird; die Zerstörung Jerusalems ist der sichtbare (und schreckliche) Beleg dafür. Zugleich aber – und hier kommt der Kontext von Jer 31(38),15 ins Spiel – hat Gottes Zuwendung zu Israel mit der Geburt Jesu bereits ihren Anfang genommen. 136 Zu methodischen Aspekten s. die Untersuchung von G. SEELIG, Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart. Studien zur Geschichte und Methode des religionsgeschichtlichen Vergleichs in der neutestamentlichen Wissenschaft, ABIG 7, Leipzig 2001.
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nagoge, in dem es darum geht, wer legitimer Sachwalter des theologischen Erbes Israels ist.137 Matthäus sucht nicht gegenüber einem nicht-jüdischen Publikum darzulegen, dass das Verhalten der Aufständischen keine verallgemeinernden Rückschlüsse über den Charakter des jüdischen Volkes im Ganzen zulässt und ferner aus der Zerstörung der Stadt samt Tempel nicht die Unterlegenheit des jüdischen Gottes zu folgern ist.138 Und dem Gedanken des aus priesterlichem Geschlecht (!) stammenden Josephus, dass der Tempel wegen der durch die Gräueltaten der Aufständischen entstandenen Befleckung durch Feuer gereinigt werden musste (Bell 4,323; 5,19, s. auch Ant 20,166), steht bei Matthäus das Urteil gegenüber, dass der Tempel obsolet geworden ist.139 Zudem: Während Matthäus die Zerstörung Jerusalems theologisch einlinig auf die Verfolgung und Tötung der Propheten, Jesu und seiner Boten zurückführt, hat der Historiker und Apologet Josephus verschiedene Motive und Erklärungen zu einem komplexen Gewebe verbunden.140 Man kann aber auch Konvergenzpunkte verzeichnen. Deutet Matthäus das in Ez 9–11 grundgelegte Motiv, dass Gott den Tempel vor dessen Zerstörung verlassen hat, mit dem Weggang des Immanuel aus dem Tempel an, so hat Josephus dieses Motiv mehrmals aufgenommen (Bell 2,539; 5,412; 6,299; Ant 20,166)141. Im Blick auf den Schriftbezug zur Deutung des Geschehens ist aber vor allem auf die jeweilige Rezeption von Jeremia zu verweisen, denn auch bei Josephus ist Jeremia im hier verfolgten Zusammenhang von großer Bedeutung. Josephus hat keinem anderen der späteren Propheten in den Antiquitates so viel Aufmerksamkeit gewidmet wie Jeremia.142 In Ant 10,79 stellt Josephus Jeremia dabei nicht nur als den Propheten vor, der die schrecklichen Ereignisse, die auf Jerusalem zukommen sollten, im Voraus angekün-
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Vgl. neben den in Anm. 5 Genannten z.B. P. LUOMANEN, Entering the Kingdom of Heaven. A Study on the Structure of Matthew’s View of Salvation, WUNT II.101, Tübingen 1998, 88. 138 Zu diesen Leitmotiven im Bellum s. S. MASON, Flavius Josephus und das Neue Testament, Tübingen – Basel 2000, 89–93. 139 Zur Tradition der Bewahrung der Tempelgeräte s. oben Anm. 133. 140 Dies ist hier nicht im Einzelnen zu entfalten. Siehe dazu P. BILDE, The Causes of the Jewish War According to Josephus, JSJ 10 (1979), 179–202: 191–194, zu Josephus’ theologischen Erwägungen. 141 Für weitere Belege s. oben Anm. 69. 142 Siehe C.T. BEGG, The “Classical Prophets” in Josephus’ Antiquities, in: “The Place is too Small for Us”. The Israelite Prophets in Recent Scholarship, hg. v. R.P. Gordon, Winona Lake (IN) 1995, 547–562: 549.557. Die relevanten Passagen sind: Ant 10,79f.89–96.(104– 107).112–130.(141f).156–158.176–180. Zur Rezeption bzw. Verarbeitung des Jeremiabuches in diesen Passagen s. C.T. BEGG, Josephus’ Story of the Later Monarchy (AJ 9,1– 10,185), BETL 145, Leuven 2000, 508–519.(536–542).542–574.(584f).599–603.613–622.
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digt hat. Nach Josephus hat Jeremia auch die Zerstörung unter Titus geweissagt.143 Inwiefern dabei exegetisch die Gleichung Babylon = Rom144 von Bedeutung ist145, kann hier offen bleiben. Von Gewicht ist im Blick auf das Matthäusevangelium, dass die Notiz exemplarisch beleuchtet, dass nach den Ereignissen des Jahres 70 das Jeremiabuch auf die eigene Gegenwart hin gelesen und interpretiert wurde. Schriften wie 2Bar und vor allem 4Bar unterstreichen dies und verweisen dadurch auf den frühjüdischen Kontext der Jeremiarezeption im ersten Evangelium: Matthäus’ Rückgriff auf Jeremia ist eingebettet in die verstärkte Aufmerksamkeit, die dieser Prophet nach 70 n.Chr. im Frühjudentum gefunden hat.146 Umgekehrt gesagt: Es ist zeitgeschichtlich plausibel, dass das Jeremiabuch in der biblischen ‚Enzyklopädie‘ des Evangelisten (und der matthäischen Gemeinde[n]) eine prominente Rolle spielte. Bei Josephus ist in diesem Zusammenhang ferner darauf zu verweisen, dass nicht nur die Darstellung des Unheilspropheten Jesus ben Ananias (Bell 6,301– 309) vom Jeremiabuch, näherhin speziell von Jer 7, beeinflusst ist 147, sondern Josephus auch sich selbst im Bellum „as the Jeremiah of his time“148 stilisiert149 143
Vgl. die Ankündigung des Baruch in 2Bar 32,2f: „Denn Zions Bau wird kurze Zeit danach bewegt, um wiederaufgebaut zu werden. Doch dies Gebäude wird nicht bleiben, vielmehr wird es nach einiger Zeit entwurzelt werden und dann verlassen sein bis auf die (vorbestimmte) Zeit.“ (Übers. A.F.J. KLIJN, Die syrische Baruch-Apokalypse, JSHRZ V/2, Gütersloh 1976, 105–191: 143). 144 Vgl. 1Petr 5,13; Apk 14,8; 16,19; 17,5; 18,2.10.21; 2Bar 67,7; Sib 5,143 u.ö. (vgl. C.H. HUNZINGER, Babylon als Deckname für Rom und die Datierung des 1. Petrusbriefes, in: Gottes Wort und Gottes Land [FS H.-W. Hertzberg], hg. v. H. Graf Reventlow, Göttingen 1965, 67–77). 145 Siehe zu dieser Erwägung WOLFF, Jeremia (s. Anm. 97), 11. 146 Vgl. WOLFF, Jeremia (s. Anm. 97), 11f.190f. 147 Siehe dazu C.A. EVANS, Predictions of the Destruction of the Herodian Temple in the Pseudepigrapha, Qumran Scrolls, and Related Texts, JSPE 10 (1992), 89–147: 119f; KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 253f. 148 Siehe S. COHEN, Josephus, Jeremiah, and Polybius, HTh 21 (1982), 366–381: 368. Siehe neben der Studie von Cohen ferner H. LINDNER, Die Geschichtsauffassung des Flavius Josephus im Bellum Judaicum. Gleichzeitig ein Beitrag zur Quellenfrage, AGJU 12, Leiden 1972, 32f; D. DAUBE, Typology in Josephus, JJS 30 (1979), 18–36: 26f.33; TILBORG, Matthew 27. 3-10 (s. Anm. 106), 170f; KNOWLES, Jeremiah (s. Anm. 30), 251–253; BEGG, Story (s. Anm. 142), 550.573f. 149 Im Rahmen seiner Rede vor der belagerten Stadt in Bell 5,362–419 verweist Josephus, nachdem er von der Stadtmauer herab nicht nur geschmäht, sondern auch beschossen wurde, explizit in einem Vergleich auf Jeremia: „Als der König der Babylonier diese Stadt belagerte, ließ sich unser König Sedekias gegen die Weissagungen des Jeremia auf einen Kampf ein; dabei wurde er selbst gefangengenommen und mußte es mit ansehen, wie die Stadt samt dem Tempel der Zerstörung anheimfiel. Und doch – wieviel gemäßigter als eure Anführer war jener König und das ihm unterstellte Volk als ihr! Als Jeremia laut ausrief, das Volk mache sich Gott durch seine Verfehlungen gegen ihn zum Feinde und werde in Gefangenschaft geraten, wenn es die Stadt nicht übergäbe, da hat weder der König noch das Volk das Leben
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– die deutlichen Differenzen zu Jeremia, der in Jerusalem Opfer von Verfolgung geworden ist, stören ihn dabei offenbar nicht.150 Umgekehrt fließen im Zuge dieser Analogisierung durch die biblischen Texte nicht gedeckte Züge in die Darstellung der ersten Zerstörung ein151, und dabei zeigt sich – auch dies ist im Blick auf Matthäus’ Rezeption ausdrücklich festzuhalten – eine gewisse Freiheit, die eigene Konstellation bei der Verarbeitung des Jeremiabuches einzutragen. So prägt Josephus die differenzierte Reaktion, die seine Reden vor der belagerten Stadt gefunden haben, analog auch seiner Darstellung Jeremias auf.152 Auch abseits konkreter inhaltlicher Entsprechungen ist die Beachtung des Jeremia angetastet. Aber wie verhaltet denn ihr euch? Ich will nicht von dem reden, was bei euch drinnen in der Stadt geschieht, denn ich wäre nicht imstande, eure Verstöße gegen das Gesetz gebührend wiederzugeben; ihr schmäht und schießt auf mich, der ich euch Ratschläge zu eurer Rettung gebe ...“ (5,391–393). 150 Zu weiteren Differenzen s. COHEN, Josephus (s. Anm. 148), 371f. 151 Hat Josephus von Titus erfolgreich die Freilassung seines Bruders samt fünfzig Freunden erbeten (Vita 419), so trägt er in seine Darstellung Jeremias ein, dass dieser die Freilassung von Baruch erbat und erreichte (Ant 10,158). Nach Bell 5,362–419 hat Josephus die belagerte Stadt in einer längeren Rede vor der Stadtmauer zur Übergabe aufgefordert (s. auch 5,541–546, ferner dann 6,93–110.365); dabei wird wiederholt das Schicksal des Tempels eigens in den Blick genommen (5,362f.391.406.411.416f, s. ferner dann 6,95.104). Dem korrespondiert, dass auch Jeremia in seiner Begegnung mit Zedekia den Tempel eigens nennt (Ant 10,126.128), während im alttestamentlichen Bezugstext Jer 38,17f nur von der Stadt die Rede ist. Siehe ferner die nachfolgende Anmerkung. 152 Vgl. Anm. 149 zu Bell 5,362–419, s. auch 5,542. Im Anschluss an die Rede hält Josephus dann fest, dass die Aufständischen bei ihrer unnachgiebigen und uneinsichtigen Haltung blieben, das Volk ( įોȝȠȢ) sich aber zum Überlaufen bewegen ließ. Unterschiedliche Reaktionen auf Josephus treten ebenso in 5,541–547 zutage, und dies wiederholt sich noch einmal bei einem weiteren Versuch des Josephus auf Geheiß von Titus, als sich das römische Heer bereits der Antonia bemächtigt hatte (Bell 6,93–110): Josephus solle Johannes ausrichten, „es stände ihm frei, mit so vielen er wolle zum Streit herauszukommen, um nicht beide, die Stadt und den Tempel, mit sich ins Verderben zu ziehen“ (6,95). Wieder notiert Josephus eine doppelte Reaktion: „Das Volk nahm diese Worte mit Niedergeschlagenheit und Stille auf, der Tyrann aber erging sich in einer Fülle von Schmähungen und Verwünschungen gegen Josephus ...“ (6,98, s. auch 6,111–116). Eine zu diesen Szenen analoge Konstellation trägt Josephus in seiner Verarbeitung von Jer 37,5–10 in Ant 10,110–114 ein (vgl. zu dieser Analogie BEGG, Story [s. Anm. 142], 549f): Während das Jeremiabuch keine direkte Reaktion auf Jeremias Ankündigung schildert, die Babylonier würden zurückkehren, die Stadt erneut belagern und sie mit Feuer verbrennen, führt Josephus in Ant 10,114 aus, dass dem Propheten ਫ਼ʌઁ IJȞ ʌȜİȚંȞȦȞ Glauben geschenkt wurde, während ihn Ƞੂ ਲȖİȝંȞİȢ țĮ Ƞੂ ਕıİȕİȢ schmähten (anders stellt sich noch die Konstellation in Ant 10,90 im Gefolge von Jer 26 dar: țĮ Ȗȡ IJઁ ʌȜોșȠȢ țĮ Ƞੂ ਙȡȤȠȞIJİȢ ਕțȠȠȞIJİȢ ʌĮȡȘȝȜȠȣȞ). Josephus hat hier also eine differenzierte Reaktion auf die Botschaft Jeremias eingetragen, wie er sie im Bellum auch den von den Römern Belagerten zugeschrieben hat. Man wird ferner kaum fehlgehen, dass es mit Josephus’ Herkunft und seiner Perspektive der Wahrnehmung des Krieges von 66–70 n. Chr. zu tun hat, dass er in Ant 10,90–92 die Gegnerschaft der Priester gegen Jeremia verschweigt (vgl. dazu oben Anm. 115).
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solcher hermeneutischer Aspekte im Umgang mit der Schrift in der jüdischen Umwelt des Matthäus von Bedeutung, um im Sinne eines historisch adäquaten Zugangs zum Thema der Schriftrezeption des ersten Evangelisten die in der Umwelt möglichen Gestaltungsspielräume ausloten zu können. 153 Kann man im Blick auf die Jeremiarezeption bei Josephus dank der Antiquitates direkt nachvollziehen, wie sich das Verständnis der Geschehnisse der eigenen Gegenwart bei der Rezeption und Interpretation des biblischen Textes bemerkbar macht, so lässt sich dies für Matthäus aus dem Kontext von 27,9 indirekt erschließen.154 Einen weiteren Konvergenzpunkt von Matthäus und Josephus kann man darin sehen, dass die Römer für Josephus – wie für Jeremia die Babylonier – das Werkzeug Gottes sind (s. z.B. Bell 5,39; 6,110)155; Matthäus deutet eine solche Sichtweise in 22,7 an.156 Zugleich ist freilich die signifikant unterschiedliche Relevanz dieses Aspekts bei Josephus und Matthäus zu betonen.157 Eine formale Analogie ist ferner darin zu sehen, dass dem Zerreißen des Tempelvorhangs in Mt 27,51 als Vorzeichen für die Zerstörung bei Josephus eine ganze Reihe von Prodigien entspricht (Bell 6,288–299). Zu beachten ist darüber hinaus noch ein anderer Aspekt: Matthäus und Josephus sind der Meinung, dass die für die Zerstörung verantwortlichen Kreise in ihrem eigenmächtigen Handeln theologisch versagt haben, weil sie sich in ihrer Verblendung gegen den von Gott legitimierten Herrscher gestellt haben. Nur ist dies für Matthäus der messianische Davidsohn Jesus, dessen Darstellung im Sinne eines sanftmütigen Königs (11,29; 21,5), der zur Feindesliebe auffordert (5,43–48), man dabei zeitgeschichtlich als implizite Kritik an der im
153
Ein instruktives Beispiel aus dem Matthäusevangelium selbst kann man bekanntlich in Mt 2,6 finden, denn dass Matthäus in das Zitat von Mi 5,1 ȠįĮȝȢeingefügt und damit dem Vers eine neue Wendung gegeben hat, zeigt exemplarisch die kreative Freiheit in der Adaptation der Schrift. 154 Vgl. zur Analogie zwischen Josephus und Matthäus im Blick auf die Rezeption Jeremias das Urteil von TILBORG, Matthew 27. 3-10 (s. Anm. 106), 171: „Taking into consideration the different narrative situations, Josephus built up a narrative structure around the prophet Jeremiah which is fairly similar to that of Matthew’s gospel.“ 155 Zur Darstellung der Römer im Bellum im Kontext der Zerstörung Jerusalems s. DÖPP, Deutung (s. Anm. 34), 221–226, bes. 225f. Nach Bell 5,566 verhinderten die Römer durch ihr Eingreifen gar ein noch schlimmeres Schicksal der Stadt: „Wenn die Römer gezaudert hätten, gegen dieses verworfene Gesindel einzuschreiten, die Stadt hätte, davon bin ich überzeugt, vom Abgrund verschlungen oder durch eine Flut hinweggespült oder wie Sodom vom Blitz getroffen werden müssen ...“. 156 Vgl. oben Anm. 134. 157 Zur Darstellung der Römer bei Matthäus s. D.J. WEAVER, ‘Thus You Will Know Them by Their Fruits’. The Roman Characters of the Gospel of Matthew, in: The Gospel of Matthew in its Roman Imperial Context, hg. v. J. Riches – D.C. Sim, JSNTS 276, London – New York 2005, 107–127.
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jüdisch-römischen Krieg gescheiterten Erwartung eines kriegerischen davidischen Messias lesen kann. 158 Für Josephus ist der von Gott legitimierte Herrscher hingegen Vespasian, auf den er die zweideutige Weissagung eines Herrschers aus dem Osten bezieht, welche die Aufständischen, so Bell 5,312, am meisten zum Krieg angestachelt hatte.159 Vertritt Josephus mit der Deutung auf Vespasian eine Neuinterpretation der Weissagung, so kann man Matthäus am Werk sehen, die Gestalt des davidischen Messias neu zu kolorieren.160 So unterschiedlich, ja entgegengesetzt die beiden Ansätze inhaltlich ausfallen, stimmen sie doch insofern zusammen, als sie – je auf ihre Weise – als kritische Reaktionen auf die Herausforderung des Judentums nach 70 zu lesen sind, angesichts der Geschehnisse, die in der Zerstörung Jerusalems eskalierten, die überkommenen messianischen Traditionen neu zu kanalisieren. Mit ihrer jeweiligen Deutung der Zerstörung der Stadt suchen Matthäus und Josephus dabei die eigene, von anderen kritisierte Position zu legitimieren.161 Festzuhalten ist schließlich, dass weder Matthäus noch Josephus eine Kollektivschuldthese entwickeln, sondern in einer innerjüdisch differenzierten Sicht jeweils bestimmte – wenn auch aus der jeweiligen Perspektive162 unterschiedliche – Kräfte belastet werden.163 Und nicht nur für Josephus, sondern 158
Vgl. G. THEISSEN, Vom Davidssohn zum Weltenherrscher. Pagane und jüdische Endzeiterwartungen im Spiegel des Matthäusevangeliums, in: Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils. Begegnungen mit dem Neuen Testament und seiner Umwelt (FS H.-W. Kuhn), hg. v. M. Becker – W. Fenske, AGJU 44, Leiden – Boston 1999, 145–164: 158.161– 164. 159 Vgl. Tacitus, Hist 5,13,2; Sueton, Vespasian 4,5. Vgl. dazu SCHWIER, Tempel (s. Anm. 3), 238–244; zum Verhältnis zwischen Josephus, Bell 6,288–315 und der genannten Passage bei Tacitus s. auch U. FISCHER, Eschatologie und Jenseitserwartung im hellenistischen Diasporajudentum, BZNW 44, Berlin – New York 1978, 161–166, der sich gegen die literarische Abhängigkeit des Tacitus von Josephus und für gemeinsame Abhängigkeit von einer ‚heidnischen‘ Quelle ausspricht (164f). 160 Es ist dabei durchaus möglich, dass bei der zweideutigen Weissagung Num 24,17 eine Rolle spielte (s. THEISSEN, Davidssohn [s. Anm. 158], 153; FISCHER, Eschatologie [s. Anm. 159], 160f präferiert hingegen Num 24,7), und dieser Text auch in Mt 2 im Hintergrund steht (vgl. nur DAVIES/ALLISON, Matthew I [s. Anm. 27], 231.234f). 161 Vgl. zu Josephus die Ausführungen bei DÖPP, Deutung (s. Anm. 34), 228–231. 162 Siehe oben bei Anm. 137 den Hinweis auf die grundlegend verschiedenen rhetorischen Herausforderungen von Josephus und Matthäus. Dass Josephus zwischen den Aufständischen und dem Volk zu differenzieren sucht, ist Teil seiner Apologie des Judentums. 163 Zu Josephus’ Fokussierung auf die Aufständischen s. DÖPP, Deutung (s. Anm. 34), 226–231 mit dem Fazit auf S. 237: „Josephus hat [...] nicht ganz Israel, sondern v.a. die zelotischen Anführer im Blick.“ Siehe auch BILDE, Causes (s. Anm. 140), 202: „[I]t is a chief concern of his to acquit the Jewish people as a whole of responsibility for the rebellion.“ – Zur Unterscheidung zwischen den Aufständischen und dem Volk s. z.B. 4,158–160 (s. dazu oben Anm. 75); 5,335.345 und 5,355: „Zudem war es auch vom Schicksal so verhängt, daß die Unschuldigen mit samt den Schuldigen zugrunde gehen sollten, und mit den Aufrühren die ganze Stadt.“
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auch für Matthäus bedeutet die Zerstörung Jerusalems in keiner Weise das Ende Israels.
III Glaube und Handeln
Die Rede vom Glauben in Heilungsgeschichten und die Messianität Jesu im Matthäusevangelium 1. Präliminarien Dem matthäischen Glaubensverständnis ist in der neutestamentlichen Forschung bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. In Untersuchungen zum Verständnis des Glaubens im entstehenden Christentum spielt das Matthäusevangelium, wenn es überhaupt vorkommt, kaum eine Rolle.1 In der Matthäusforschung korrespondiert dem, dass die Rede vom Glauben allenfalls den Rang eines Randthemas beansprucht.2 Insbesondere fehlt
1 R. BULTMANN, ʌȚıIJİȦ țIJȜ D. Die Begriffsgruppe im NT, ThWNT 6, Stuttgart – Berlin – Köln 1959, 203–230 entfaltet – analog zu seiner Theologie des Neuen Testaments (Tübingen 91984) – allein Paulus und Johannes als eigenständige Konzeptionen. D. LÜHRMANN behandelt die Synoptiker in seiner Monographie zum Thema (Glaube im frühen Christentum, Gütersloh 1976, 17–30) nicht je für sich, sondern en bloc und zudem primär unter überlieferungsgeschichtlichen Gesichtspunkten bzw. als Quellen für den historischen Jesus. Letzteres gilt ähnlich für den TRE-Artikel von K. HAACKER (Glaube II/3. Neues Testament, TRE 13, Berlin – New York 1984, 289–304: 292–294) sowie für H.-J HERMISSON – E. LOHSE, Glauben, BiKon, Stuttgart u.a. 1978, 89–102. 2 Einen knappen Überblick über die matthäische Rede vom Glaube bietet H. KLEIN, Das Glaubensverständnis im Matthäusevangelium, in: Glaube im Neuen Testament (FS H. Binder), hg. v. F. Hahn – H. Klein, BThSt 7, Neukirchen-Vluyn 1982, 29–42. Im Blick auf die Wundergeschichten spielt das Glaubensmotiv eine gewichtige Rolle in der Untersuchung von H.J. HELD, Matthäus als Interpret der Wundergeschichten, in: G. Bornkamm – G. Barth – H.J. Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen-Vluyn 71975, 155–287. Siehe ferner G. BARTH, Das Gesetzesverständnis des Evangelisten Matthäus, in: G. Bornkamm – G. Barth – H.J. Held, Überlieferung … (s.o.), 54–154: 105–108; J. ZUMSTEIN, La condition du croyant dans l’Évangile selon Matthieu, OBO 16, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1977, 233–238; E. LOHSE, Glaube und Wunder. Ein Beitrag zur theologia crucis in den synoptischen Evangelien, in: Theologia crucis – Signum crucis (FS E. Dinkler), hg. v. C. Andresen – G. Klein, Tübingen 1979, 335–350: 343–345. Anders als im Falle des Markusevangeliums (s. T. SÖDING, Glaube bei Markus. Glaube an das Evangelium, Gebetsglaube und Wunderglaube im Kontext der markinischen Basileiatheologie und Christologie, SBB 12, Stuttgart 1985 sowie C.D. MARSHALL, Faith as a Theme in Mark’s Narrative, MSSNTS 64, Cambridge – New York 1989) fehlt zum Matthäusevangelium aber eine umfassende monographische Untersuchung.
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eine Studie, die die Vorkommen von ʌıIJȚȢ țIJȜ nicht bloß je für sich atomistisch untersucht, sondern mit der Entwicklung der Gesamterzählung in Beziehung setzt. Etwas Interesse hat allein das für Matthäus charakteristische Motiv des Kleinglaubens der Jünger (6,30; 8,26; 14,31; 16,8; 17,20) auf sich gezogen.3 Bei diesem Sachstand könnte man es bewenden lassen, wenn Matthäus in der Rede vom Glauben keinen eigenen Gestaltungswillen zeigte.4 Dies aber ist keineswegs der Fall. Vielmehr gibt Matthäus – auch abseits des Motivs des Kleinglaubens – durchaus einen theologisch reflektierten Gebrauch von ʌıIJȚȢ țIJȜ zu erkennen. Der Befund sei vorab knapp skizziert: Die Verwendung des Nomens ʌıIJȚȢ ist im Matthäusevangelium auf zwei Verwendungszusammenhänge konzentriert. Zum einen nimmt der Evangelist das Motiv der Macht des Glaubens, der sogar Berge versetzen kann, auf (Mt 17,20 [par Lk 17,6]; 21,21 [par Mk 11,22f]). Zum anderen ist in einer in sich differenzierten Weise vom Glauben von Menschen die Rede, die mit der Bitte um Heilung an Jesus herantreten (8,10 [par Lk 7,9]; 9,2 [par Mk 2,5]; 9,22 [par Mk 5,34]; 9,29 [red., vgl. Mk 10,52]; 15,28 [red.]). Ansonsten begegnet das Nomen nur noch in der Trias țȡıȚȢ, ȜİȠȢ, ʌıIJȚȢ in 23,23, mit der Matthäus IJ ȕĮȡIJİȡĮ IJȠ૨ ȞંȝȠȣ kennzeichnet.5 Ein Teil der Belege des Verbs sind ebenfalls den beiden genannten Verwendungszusammenhängen zuzuordnen (21,22 [par Mk 11,24] bzw. 8,13 [red.]; 9,28 [red.]), doch wird das Verb darüber hinaus zur Bezeichnung der personalen Relation zu Johannes dem Täufer (21,25 [par Mk 11,31]; 21,32 [red.]) und zu Jesus (18,6 [par Mk 9,42]; 27,42 [par Mk 15,32]) verwendet. 3
Siehe z.B. HELD, Interpret (s. Anm. 2), 278–284; G. BARTH, Glaube und Zweifel in den synoptischen Evangelien, ZThK 72 (1975), 269–292: 282–290; ZUMSTEIN, Condition (s. Anm. 2), 239–255; J.K. BROWN, The Disciples in Narrative Perspective. The Portrayal and Function of the Matthean Disciples, AcBib 9, Atlanta 2002, 101–107. Ferner auch U. POPLUTZ, Verunsicherter Glaube. Der finale Zweifel der Jünger im Matthäusevangelium aus figuranalytischer Sicht, in: Studien zu Matthäus und Johannes / Études sur Matthieu et Jean (FS J. Zumstein), hg. v. A. Dettwiler – U. Poplutz, AThANT 97, Zürich 2009, 29–47. Speziell zu Mt 14,22–33 A. DETTWILER, La conception matthéenne de la foi (à l’example de Matthieu 14/22-33), ETR 73 (1998), 333–347. 4 In diesem Sinne notiert KLEIN, Glaubensverständnis (s. Anm. 2), 29: „In den Abhandlungen zum Thema ‚Glauben‘ wird das Glaubensverständnis des Matthäus nicht genauer untersucht. Das hat seine Berechtigung darin, daß Matthäus vom ‚Glauben‘ so redet, wie es seine Tradition auch tat.“ 5 ȆıIJȚȢ wird in Mt 23,23 häufig im Sinne von ‚Treue‘ gefasst (vgl. für viele U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 3: Mt 18–25, EKK 1.3, Zürich – Düsseldorf – NeukirchenVluyn 1997, 333. Anders aber z.B. W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 3, ICC, Edinburgh 1997, 294, die für die Bedeutung ‚Glaube‘ statt ‚Treue‘ votieren, weil Matthäus zum einen ʌıIJȚȢ sonst nicht im Sinne von „faithfulness“ verwendet und zum anderen intertextuell die Verbindung mit Mi 6,8 dafür spreche, dass hier mit ʌıIJȚȢ die Relation zu Gott im Blick sei: „if our verse depends upon Mic 6.8, the third member of its triad has to do with God: ‚walk humbly with your God.‘“
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Daneben begegnet das Verb nur noch im Rahmen der eschatologischen Rede (24,3–25,46) in 24,23.26 in der Warnung, denen, die behaupten „siehe, hier ist der Christus!“ (24,23 [par Mk 13,21]) oder „siehe, er ist in der Wüste!“ bzw. „siehe, in den Kammern!“ (24,26 [red.?, vgl. Q 17,23]), kein Vertrauen zu schenken. Von ਕʌȚıIJĮ spricht Matthäus nur in 13,58 (par Mk 6,6); der Unglaube der Nazarener ist dabei negatives Gegenstück zu den Vorkommen von ʌıIJȚȢ in Wundergeschichten. Das Adjektiv ਙʌȚıIJȠȢ kommt im Matthäusevangelium allein in 17,17 (par Mk 9,19) vor und ist dort der Thematisierung der Macht des Glaubens zugeordnet.6 Das Motiv des Kleinglaubens hat Matthäus ausweislich Lk 12,28 in Q vorgefunden, aber, wie die oben bereits genannten Belege zeigen, erheblich ausgebaut und zu einem gewichtigen Moment seiner Darstellung der Jünger gemacht. Das bestimmende Moment des Glaubens bildet dabei sowohl in den beiden genannten charakteristischen Verwendungszusammenhängen von ʌıIJȚȢ wie auch in der für Matthäus typischen Rede vom Kleinglauben – gut alttestamentlich7 – der Aspekt des Vertrauens.8 Im Blick auf Jesus geht es zentral um das Vertrauen in seine helfende und rettende Vollmacht, die sich in seinen Heilungen (8,5–13; 9,2–8.20–22.27–31; 15,21–28), aber auch in seinem bewahrenden und rettenden Mit-Sein mit den kleingläubigen Jüngern manifestiert (8,23–27; 14,22–33; 16,8). In Bezug auf Gott steht dem zur Seite, dass der Glaubende darauf vertraut, dass Gott in seiner Schöpfergüte für seine Geschöpfe Sorge trägt (6,30) und machtvoll in das Geschehen auf Erden einzugreifen vermag. Letzteres bildet die Basis für die Logien vom Berge versetzenden Glauben in 17,20; 21,21f, in denen dem Glaubenden (im Gebet) sogar die Teilhabe an göttlicher Macht verheißen wird. Glaube wird hier zum „Vertrauen in die zugesagte Wirkmächtigkeit“9 des eigenen Handelns, zu dem die Jünger im Blick auf die Heilungen von Jesus nicht nur beauftragt (10,8), sondern auch befähigt wurden (10,1).10 Die zu Mk 11,22–24 parallele ausführlichere Fassung in Vgl. zu Mt 17,14–20 unten S. 284f. – Das Adjektiv ʌȚıIJંȢ begegnet im Sinne von ‚treu, zuverlässig‘ in Mt 24,45; 25,21.23. 7 Zum ‚Glauben‘ im Alten Testament s. z.B. H.D. PREUSS, Theologie des Alten Testaments, Bd. 2: Israels Weg mit JHWH, Stuttgart – Berlin – Köln 1992, 171–177; O. KAISER, Glaube II. Altes Testament, RGG4 3, Tübingen 2000, 944–947; T. HIEKE, „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ (Jes 7,9). Die Rede vom Glauben im Alten Testament, ThGl 99 (2009), 27–41. 8 Vgl. exemplarisch BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 2), 105–108; ZUMSTEIN, Condition (s. Anm. 2), 233; D. LÜHRMANN, Glaube, RAC 11, Stuttgart 1981, 48–122: 72. 9 POPLUTZ, Glaube (s. Anm. 3), 42. 10 Beispielhaft illustriert wird das Moment des Glaubens als Vertrauen in die durch Jesus zugesprochene eigene Vollmacht der Jünger im missglückten Seewandel des Petrus in 14,28–31, der auf Jesu Wort hin (V.29) im Vertrauen auf dieses zunächst selbst auf dem Wasser zu gehen vermag, aber in dem Moment zu sinken beginnt, als sein Vertrauen beim Blick auf den starken Wind der Furcht (V.30) und dem Zweifel (V.31) weicht, so dass Jesus ihn als ੑȜȚȖંʌȚıIJȠȢ (V.31) schilt. 6
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Mt 21,21f macht – anders als die auf Q 17,6 beruhende kürzere Version in 17,20 – den Zusammenhang dieses Glaubens mit dem Gebet ausdrücklich. Nähe zum Gebetsglauben ist auch für die synoptische Rede vom Glauben in den Heilungsgeschichten vorgebracht worden.11 Der Glaube ist hier bekanntlich nicht erst – wie anderorts – Folge des erfahrenen Wunders (siehe z.B. Lukian, Philops 13; 15; 30), sondern geht diesem voran:12 Dem Glaubenden wird die Heilung gewährt. Die Nähe zum Gebetsglauben bringt Heinz Joachim Held pointiert mit den Worten zum Ausdruck, dass sich „der Glaube […] zu dem Wunder wie die Bitte zu ihrer Erhörung [verhält]“13. Im Matthäusevangelium findet dieses Moment seinen prägnanten Ausdruck in dem für Matthäus charakteristischen Zuspruch Jesu, dass dem Bittsteller geschieht, wie er geglaubt (8,13, vgl. 9,29) bzw. gewollt hat (15,28): Dem Glaubenden wird seine Bitte um Heilung gewährt.14 Mit den Aspekten des Vertrauens und der Nähe zum Gebetsglauben ist allerdings, wie zu zeigen sein wird, keineswegs alles gesagt, was sich im Matthäusevangelium mit dem Vorkommen von ʌıIJȚȢ țIJȜ im Zusammenhang von Heilungen verbindet. Ausgelassen hat Matthäus die Aufforderung Jesu in Mk 1,15fin ʌȚıIJİİIJİ ਥȞ IJ İĮȖȖİȜ.15 Das besagt nicht, dass christlicher Glaube bei Matthäus nicht auf dem Hören und Annehmen einer Botschaft beruhen kann; aber Matthäus bezeichnet nirgends den Akt der Annahme der Botschaft selbst bzw. diesen allein als Glauben. Statt dessen zeigt Matthäus die Tendenz, den personalen Bezug des Glaubens auf Jesus zu betonen. Pointiert zum Ausdruck kommt dies in 18,6 in der Rede von „diesen Geringen, die an mich glauben“. Wenn in Mk 9,42 İੁȢ ਥȝ textkritisch als sekundär auszuscheiden ist 16, hat erst Matthäus aus den „Geringen, die glauben“ „die Geringen, die an mich glauben“ gemacht Vgl. für viele BULTMANN, ʌȚıIJİȦ țIJȜ (s. Anm. 1), 206; HELD, Interpret (s. Anm. 2), 268–276 (darin 272–276 speziell zu Matthäus); ZUMSTEIN, Condition (s. Anm. 2), 236–238; LOHSE, Glaube und Wunder (s. Anm. 2), 343–345 (speziell zu Matthäus). 12 Vgl. exemplarisch G. BARTH, ʌıIJȚȢ, ʌȚıIJİȦ, EWNT III, Stuttgart – Berlin – Köln 2 1992, 216–231: 224. 13 HELD, Interpret (s. Anm. 2), 269. 14 Vgl. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 2: Mt 8–17, EKK 1.2, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1990, 16 zu 8,13: „īİȞȘșIJȦ erinnert an das Unservater (Mt 6,10) und zeigt, wie sehr Glaube für Matthäus Gebetsglaube ist.“ 15 Der matthäische Jesus fordert auch sonst nirgends zum Glauben auf (vgl. KLEIN, Glaubensverständnis [s. Anm. 2], 32). Siehe neben Mk 1,15 noch die Auslassung von Mk 5,36 (ȝ ijȠȕȠ૨, ȝંȞȠȞ ʌıIJİȣİ) und Mk 11,22 (ȤİIJİ ʌıIJȚȞ șİȠ૨). Vgl. ferner Mt 21,22 (ʌȞIJĮ ıĮ ਗȞ ĮੁIJıȘIJİ ਥȞ IJૌ ʌȡȠıİȣȤૌ ʌȚıIJİȠȞIJİȢ Ȝȝȥİıșİ) mit Mk 11,24 (ʌȞIJĮ ıĮ ʌȡȠıİȤİıșİ țĮ ĮੁIJİıșİ, ʌȚıIJİުİIJİ IJȚ ਥȜȕİIJİ, țĮ ıIJĮȚ ਫ਼ȝȞ). Bei Matthäus begegnen allein verneinte Imperative (Mt 24,23.26). 16 Vermutlich liegt hier ein Paralleleinfluss aus Mt 18,6 vor. Vgl. exemplarisch J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus, Bd. 2: Mk 8,27–16,20, EKK 2.2, Zürich u.a. – Neukirchen-Vluyn 1979, 64, Anm. 7. Anders aber A.Y. COLLINS, Mark. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis (MN) 2007, 443. 11
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(Mt 18,6) und so im Glaubensbegriff die personale Bindung an Jesus betont, die sonst eher durch den Begriff der Nachfolge (ਕțȠȜȠȣșİȞ) zum Ausdruck kommt. Zu verweisen ist ferner darauf, dass in der Verspottung Jesu durch die jüdischen Autoritäten, er solle vom Kreuz herabsteigen, an die Stelle von ȞĮ įȦȝİȞ țĮ ʌȚıIJİıȦȝİȞ (Mk 15,32) bei Matthäus țĮ ʌȚıIJİıȠȝİȞ ʌߩ ĮރIJިȞ (27,42) getreten ist; ʌȚıIJİİȚȞ meint hier dem Kontext nach die Anerkennung der Gottessohnwürde Jesu, die für die Hohepriester, Schriftgelehrten und Ältesten die Unterstellung unter Jesu messianische Autorität implizierte.17 Die in 18,6 und 27,42 ansichtig werdende matthäische Tendenz wirft die Frage auf, wie sich die Rede vom Glauben von Bittstellern in Heilungsgeschichten dazu verhält. Der Vergleich mit dem Markusevangelium zeigt, dass Matthäus hier keineswegs bloß der markinischen Jesusgeschichte folgt und dabei nicht nur in den einzelnen Texten Änderungen vorgenommenen hat, sondern sich im Gefolge dieser Änderungen zugleich in kompositorischer Hinsicht ein auffälliger Befund ergibt. Bei Markus begegnet das Glaubensmotiv in fünf Heilungserzählungen, nämlich in Mk 2,5 (Heilung des Gelähmten), in 5,34 (Heilung der blutflüssigen Frau), in 5,36 (Auferweckung der Tochter des Jairus), in 10,52 (Heilung des blinden Bartimäus) sowie in komplexer Weise in 9,23f (Heilung des epileptischen Knaben).18 Mk 10,46–52 hat Matthäus nicht nur in Mt 20,29–34 aufgenommen, sondern in freierer Form auch in 9,27–31. Das Glaubensmotiv von Mk 10,52 findet nur in Mt 9,27–31 ein Pendant (9,28f), doch hat Matthäus dieses neu ausgestaltet; in 20,29–34 hingegen hat Matthäus den abschließenden Zuspruch ʌĮȖİ, ਲ ʌıIJȚȢ ıȠȣ ııȦțȞ ıİ aus Mk 10,52 durch die Notiz ersetzt, dass Jesus die Augen der Blinden berührte.
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Eng verwandt sind damit die oben angesprochenen auf den Täufer bezogenen Belege von ʌȚıIJİİȚȞ. Die sich ebenso in der Markusparallele (Mk 11,31) findende Überlegung der jüdischen Autoritäten, dass sie sich die Frage gefallen lassen müssen, warum sie Johannes nicht „geglaubt“ haben, wenn sie konzedieren, dass seine Taufe „vom Himmel“ war (Mt 21,25), wird von Matthäus im Sondergutgleichnis von den ungleichen Söhnen (21,28– 32) in V.32 aufgenommen. Deutlich ist an diesen Stellen, dass es beim Glauben nicht um ein bloßes Fürwahrhalten geht. Matthäus insinuiert ja vielmehr, dass die Autoritäten durchaus wissen, dass die Taufe des Johannes vom Himmel war. Die Aussage, dass sie ihm nicht „geglaubt“ haben, blickt darauf, dass sie ihm den Gehorsam schuldig geblieben sind. Sie haben sich nicht auf Johannes und den von ihm gewiesenen „Weg der Gerechtigkeit“ eingelassen. 18 Die Interpretation von ʌȞIJĮ įȣȞĮIJ IJ ʌȚıIJİȠȞIJȚ in Mk 9,23 ist chronisch umstritten. Am plausibelsten ist m.E. die Deutung von O. HOFIUS, Die Allmacht des Sohnes Gottes und das Gebet des Glaubens. Erwägungen zu Thema und Aussage der Wundererzählung Mk 9,14–29, in: ders., Exegetische Studien, WUNT 223, Tübingen 2008, 3–23: 13–15, nach dem es um das Vermögen Jesu und den Glauben des Vaters (IJ ʌȚıIJİȠȞIJȚ ist dativus commodi) geht. Vgl. M. KONRADT, Faith II. New Testament, EBR 8, Berlin – Boston 2014, 691–701: 696: „as the agent of God, for whom all things are possible (10:27; 14:36), Jesus works miracles where he encounters faith“.
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Mk 9,23f hat Matthäus ebenso wie Mk 5,36 ganz ausgelassen.19 Im Blick auf die Makrostruktur des Matthäusevangeliums ergibt sich aus diesen Veränderungen, dass in den Hauptteilen ab 16,2120 das Motiv des Glaubens von Bittstellern nicht mehr begegnet.21 Trotz der genannten Auslassungen kommt Matthäus wie Markus auf fünf Heilungserzählungen, in denen das Glaubensmotiv vorkommt. Denn zum einen hat Matthäus das Motiv in der Logienquelle in der Erzählung von der Heilung des Sohnes22 des Hauptmanns von Kafarnaum (Mt 8,5–13 par Lk 7,1–10) vorgefunden. Zum anderen hat er es, offenbar durch diesen Q-Text inspiriert, in die von ihm gezielt als Parallele zu 8,5–13 gestaltete Erzählung von der Heilung der Tochter der Kanaanäerin (15,21–28) eingetragen (15,28). Die Besonderheit des Vorkommens des Glaubensmotivs in der Q-Erzählung vom Hauptmann von Kafarnaum besteht darin, dass sein Glaube von Jesus in komparativischer Weise als besonders groß herausgestellt wird.23 Dem korrespondiert in 15,28, dass Jesus der Kanaanäerin am Ende einen großen Glauben attestiert: ੳ ȖȞĮȚ, ȝİȖޠȜȘ ıȠȣ ਲ ʌıIJȚȢ. Der Fortgang des Wortes Jesu an die Kanaanäerin mit ȖİȞȘșIJȦ ıȠȚ ੪Ȣ șȜİȚȢ sowie die abschließende Notiz des Erzählers (țĮ ੁșȘ ਲ șȣȖIJȘȡ ĮIJોȢ ਕʌઁ IJોȢ ੮ȡĮȢ ਥțİȞȘȢ) erhärten die Annahme, dass Matthäus hier eine gezielte Querverbindung zur Hauptmannerzählung gesetzt hat, denn diese schließt in 8,13 mit einem ganz ähnlichen Wort Jesu an den Hauptmann (ʌĮȖİ, ੪Ȣ ਥʌıIJİȣıĮȢ ȖİȞȘșIJȦ ıȠȚ) und einer analogen Heilungsnotiz (țĮ ੁșȘ ʌĮȢ ĮIJȠ૨ ਥȞ IJૌ ੮ȡ ਥțİȞૉ). Die Signifikanz dieser Konvergenz wird zudem noch dadurch unterstrichen, dass das Verb ੁȠȝĮȚ bei Matthäus überhaupt nur in 8,8.13 und 15,28 in Heilungsgeschichten begegnet.24 Kompositorisch bilden 8,5–13 und 15,21–28 also einen Rahmen um die drei Erzählungen in 9,2–8; 9,20–22 und 9,27–31. Ich setze im Folgenden mit den Erzählungen in Mt 9 ein.
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In beiden Fällen hat Matthäus die markinischen Erzählungen insgesamt bedeutend gestrafft. 20 Ich untergliedere das Matthäusevangelium nach dem Prolog in 1,1–4,16 in die Hauptteile 4,17–11,1; 11,2–16,20; 16,21–20,34; 21,1–25,46; 26,1–28,20. Zur Erläuterung s. M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 2–4. 21 Vgl. KLEIN, Glaubensverständnis (s. Anm. 2), 32. 22 Zur Übersetzung von ʌĮȢ mit Sohn in Mt 8,6.8.13 s. LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 14), 14, Anm. 17. 23 Mt 8,10 (ʌĮȡૃ ȠįİȞ IJȠıĮުIJȘȞ ʌަıIJȚȞ ਥȞ IJ ıȡĮȜ İȡȠȞ) und Lk 7,9 (Ƞį ਥȞ IJ ıȡĮȜ IJȠıĮުIJȘȞ ʌަıIJȚȞ İȡȠȞ) konvergieren an diesem Punkt, so dass die Rückführung dieses Zuges auf Q alle Wahrscheinlichkeit für sich hat. 24 Neben den genannten Stellen im Matthäusevangelium nur noch in 13,15 im Zitat von Jes 6,9f.
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2. Das Glaubensmotiv in den Heilungsgeschichten in Mt 9 2.1 Mt 9,2–8 Die markinische Version der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12) bietet eine ausführliche Exposition, die den großen Aufwand der Leute schildert, die den Gelähmten zu Jesus bringen: Da sich Jesus in ein Haus begeben hat und sie wegen der ihn umgebenden Menschenmenge nicht zu ihm vorzudringen vermögen, decken sie das Dach ab und lassen den Gelähmten von oben hinab. Matthäus hat all diese narrativen Ausschmückungen in 9,2a zu einer schlichten Notiz verdichtet, deren Formulierung (țĮ ੁįȠઃ ʌȡȠıޢijİȡȠȞ ĮރIJࠜ ʌĮȡĮȜȣIJȚțઁȞ ਥʌ țȜȞȘȢ ȕİȕȜȘȝȞȠȞ) sich in eine Reihe verwandter Aussagen mit einer Form von ʌȡȠıijȡİȚȞ + ĮIJ einfügt.25 Insbesondere im Lichte des Vorkommens dieser Wendung in den in 4,24; 8,16 vorangehenden Summarien wird auf diese Weise deutlich, dass es sich in 9,2a um eine Begebenheit handelt, die geradezu zum Alltag des Wirkens Jesu gehörte. Dennoch fährt Matthäus in V.2b analog zu Mk 2,5 mit der Bemerkung fort, dass Jesus ihren Glauben sah (țĮ ੁįઅȞ ȘıȠ૨Ȣ IJȞ ʌıIJȚȞ ĮIJȞ), wobei das Personalpronomen neben den Helfern auch den Gelähmten selbst einschließen dürfte.26 Die Veränderung der Einleitung führt allerdings weder dazu, dass das Glaubensmotiv in Mt 9,2, wie verschiedentlich postuliert wurde, durch die Kürzungen „in der Luft“ hängt27, noch ist zu folgern, dass Matthäus hier die Kenntnis der markinischen Version (bei seinen Adressaten) voraussetzt.28 Vielmehr dürfte gerade das Bestreben, den Fall seines besonderen Kolorits zu entkleiden, konstitutiv für das matthäische Verständnis des Glaubens in den Heilungserzählungen sein. Dadurch, dass der Glaube der Träger und des Gelähmten nicht mehr an den besonderen
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Siehe Mt 4,24; 8,16; 9,32; 12,22; 14,35. In diesem Sinne z.B. auch D.A. HAGNER, Matthew 1–13, WBC 33A, Dallas (TX) 1993, 232; P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1, Stuttgart 2006, 214, vgl. auch W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 2, ICC, Edinburgh 1991, 88. Allein auf den Glauben der Träger deuten hingegen z.B. LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 14), 36; D.J. HARRINGTON, The Gospel of Matthew, SaPaSe 1, Collegeville (MN) 1991, 121; J. NOLLAND, The Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids (MI) – Bletchley 2005, 380. 27 Gegen W. WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK 1, Leipzig 1998, 175, Anm. 5. Siehe ferner E. KLOSTERMANN, Das Matthäusevangelium, HNT 4, Tübingen 21927, 80; J. SCHMID, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 51965, 169 sowie auch HELD, Interpret (s. Anm. 2), 165, der die matthäische Kürzung mit den Worten kommentiert, „daß bei ihm die Darstellung des Glaubens fehlt, den die Träger des Kranken beweisen“. 28 Anders HAGNER, Matthew 1–13 (s. Anm. 26), 232. Als Frage bei DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 26), 88, ferner auch R.T. FRANCE, The Gospel of Matthew, NICNT, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) 2007, 344. 26
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Umständen, wie sie zu Jesus gelangen, festgemacht wird, erscheint die Konstatierung des Glaubens stärker als eine exemplarische Aussage: Wenn Kranke Jesus um Hilfe bitten oder Menschen ihre Kranken zu ihm bringen, ist (allein) dies (schon) Ausdruck ihres Glaubens.29 Dieser Deutungsansatz wird durch 8,10 unterstrichen. Im markinischen Erzählduktus ist Mk 2,1–12 die erste Heilungserzählung, in der vom Glauben die Rede ist. Bei Matthäus hingegen ist Mt 9,2–8 allein die erste Erzählung, in der das Glaubensmotiv im Rahmen einer Heilung eines der „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ begegnet, denen die irdische Sendung Jesu gilt (15,24)30, denn durch die Einfügung der Q-Erzählung vom Hauptmann von Kafarnaum geht nun 8,10.13 voran. Auf die Worte des Hauptmanns in 8,8f reagiert Jesus in 8,10 mit der Aussage: „Bei niemandem habe ich so großen Glauben in Israel gefunden.“ Auf die Frage, worin die besondere Größe des Glaubens des Hauptmanns besteht, wird später in Abschnitt 3.2 einzugehen sein. Hier ist zunächst nur von Interesse, dass die Aussage impliziert, dass Jesus auch in Israel auf Glauben gestoßen ist, wenngleich sich dieser quantitativ vom Glauben des Hauptmanns unterschied. Dies wird erzähllogisch dann verständlich, wenn Matthäus auch in der summarischen Notiz von 4,24, dass die Menschen ihre Kranken zu Jesus brachten, die ʌıIJȚȢ der Betreffenden impliziert sah: Die Menschen kamen zu Jesus, weil sie glaubten und darauf vertrauten, dass er zu helfen vermag. 9,2 macht im matthäischen Erzählduktus betrachtet also ‚nur‘ explizit, was zuvor – ausweislich 8,10 – bereits vorausgesetzt wurde. Bezieht man das diachrone Profil von 9,2a mit ein, ist des Näheren festzuhalten: Nur dadurch, dass die Einleitung in Mt 9,2–8 der außergewöhnlichen Umstände, die bei Markus das Glaubensmotiv mit der besonderen Entschlossenheit verbinden, entkleidet wird, kann 9,2a die dargelegte Implikation von 8,10 aufnehmen und explizieren. Einzustellen ist hier ferner 13,58, wo Matthäus den markinischen Schluss der Darstellung des Auftretens Jesu in seiner Vaterstadt signifikant verändert hat. Dass Jesus nicht viele Machttaten in Nazareth wirkte, liegt für Matthäus nicht daran, dass er dies nicht vermocht hätte – dies würde nicht in seine hohe Christologie passen –, sondern „an ihrem Unglauben“, der in Mk 6,6 lediglich als Gegenstand der Verwunderung Jesu erscheint. Via negationis bildet sich hier ab, dass Jesus dort heilt, wo er auf Glauben stößt, wo Menschen ihr Vertrauen in ihn setzen, da sie überzeugt sind, dass er derjenige ist, der ihnen helfen kann.31 Die im Folgenden zu untersuchenden Texte werden dies konkretisieren. 29
Ähnlich NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 26), 380. Vgl. dazu M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, bes. 17–94. 31 Da V.58 impliziert, dass Jesus zumindest wenige Machttaten vollbrachte (vgl. V.54), ist hier streng genommen vorausgesetzt, dass nicht ganz Nazareth Unglauben zeigte. Der Akzent liegt hier aber auf dem – negativen – Gesamtbild. 30
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2.2 Mt 9,20–22 Die Erzählung von der Heilung der blutflüssigen Frau aus Mk 5,25–34 ist von Matthäus in Mt 9,20–22 auf ein dürres Gerippe ohne jedes farbige Detail reduziert worden. Nichts verlautet über das Versagen der Ärzte, die die Frau auch noch um ihre Habe gebracht haben (Mk 5,26), oder über das Gedränge der Menge (Mk 5,24.27) – bei Matthäus folgen nur die Jünger Jesus (V.19). Auch Mk 5,30–33 ist vollständig gestrichen: Weder redet Matthäus davon, dass eine Kraft von Jesus ausging und er dies bemerkte, noch findet Jesu in die Menge hineingesprochene Frage, wer seine Kleider berührt habe (5,30), bei Matthäus ein Pendant. Die matthäische Szene ist ganz auf die Begegnung der Frau mit Jesus konzentriert: Sie tritt hinzu, um die Quasten seines Gewandes zu berühren, weil sie, wie die in Mt 9,21 eingeschobene Erläuterung ausführt, davon ausgeht, dass die bloße Berührung seines Gewandes sie retten wird; V.22 schildert bündig die Reaktion Jesu, der, als er sich umdreht, sofort über die Frau und das Geschehene im Bilde ist. Die Erwartung der Frau, durch die Berührung des Gewandes gerettet zu werden, wird durch Jesu Zuspruch ݘʌަıIJȚȢ ıȠȣ ııȦțȞ ıİ (V.22) gedeutet. Eine Auslassung des Glaubensmotivs analog zu Mk 5,36; 9,23f kam an dieser Stelle wohl schon deshalb nicht in Frage, weil dieses dem Evangelisten hier als ein notwendiges Interpretament des Heilungsvorgangs erschien, um ein (rein) magisches Verständnis des Geschehens, als würde die Berührung für sich schon genügen, auszuschließen: Das entscheidende Moment ist der Glaube. Die Rede vom ıȗİȚȞ blickt dabei zunächst einmal auf die körperliche Gesundung der Frau, doch ist das Wort hier darüber hinaus auch in einem weiteren Sinn zu verstehen: Es geht umfassend um das Heil, das Jesus bringt und in der Heilung seinen physischen Ausdruck findet.32 Der sorgfältige Tempusgebrauch bei den beiden Formen von ıȗİȚȞ in 9,22 unterstreicht dies. Der perfektischen Aussage ਲ ʌıIJȚȢ ıȠȣ ııȦțȞ ıİ steht im Schlusssatz von V.22, in dem die Heilung konstatiert wird, der punktuelle Aorist gegenüber. Die Heilung ist ‚nur‘ ein Aspekt der Rettung. 33 Durch die Auslassung von Mk 10,52 in Mt 20,34 ist Mt 9,22 das einzige matthäische Vorkommen des Zuspruchs ਲ ʌıIJȚȢ ıȠȣ ııȦțȞ ıİ. Kompositorisch betrachtet, steht er im Zentrum der drei ‚Glaubensperikopen‘ in Mt 9. Der Sache nach hebt er 9,20–22 nicht von den übrigen Glaubensperikopen ab, sondern er gilt ebenso für diese: Die Voraussetzung dafür, dass Menschen von Jesus Heilung und Heil zuteilwird, ist der Glaube, mit dem die Menschen an Jesus herantreten. Deshalb ist es auch nur konsequent, dass Matthäus die Ambivalenz von Mk 9,23f gemieden hat und ferner auch den Zuspruch und die Aufforderung 32 Vgl. zu dieser umfassenderen Dimension der Heilungen den Konnex von Heilung und Sündenvergebung in 9,2–8 sowie die symbolische Dimension der Blindenheilungen (dazu unten S. 270–276, s. ferner KONRADT, Israel [s. Anm. 30], 48–51). 33 Vgl. dazu LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 14), 53f.
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Jesu an den Synagogenvorsteher Jairus in Mk 5,36 ȝ ijȠȕȠ૨, ȝંȞȠȞ ʌıIJİȣİ, nachdem dieser mit der Nachricht des bereits eingetretenen Todes seiner Tochter konfrontiert wurde, ausgelassen hat. Die zweistufige Dramaturgie der markinischen Erzählung – der Vorsteher tritt an Jesus heran, als seine Tochter im Sterben liegt (Mk 5,22f); dann trifft die Nachricht ihres Todes ein (5,35) – ist bei Matthäus gänzlich aufgelöst. In Mt 9,18 ist die Tochter bereits verstorben, als der Vorsteher Jesus um Hilfe ersucht. Im Lichte der obigen Ausführungen ist davon auszugehen, dass Matthäus seinen Glauben selbstverständlich voraussetzt. Das heißt: Der Vorsteher zeigt von Anfang an einen Glauben, der Jesus nicht nur eine wundersame Heilung, sondern die Auferweckung einer Toten zutraut.34 Der matthäische Jesus fordert also nirgends in Heilungserzählungen zum Glauben auf.35 Dass Jesus ʌıIJȚȢ entgegengebracht wird, ist vielmehr Grundlage für die rettende Zuwendung Jesu. 9,27–31 hilft, dies zu konkretisieren. 2.3 Mt 9,27–31 Mt 9,27–31 ist ein in mehrfacher Hinsicht eigentümlicher und auffälliger Text. Der Passus basiert, wie angesprochen, auf der Erzählung in Mk 10,46–52, die Matthäus an ihrem markinischen Ort und mit engerer Anlehnung an die Vorlage in Mt 20,29–34 noch einmal aufnimmt. Mit 9,32–34 steht ihm ein weiterer Text zur Seite, den Matthäus dupliziert hat, denn 9,32–34 hat eine innermatthäische Parallele in 12,22–24, wo Matthäus den zugrunde liegenden Q-Text (vgl. Lk 11,14f) mit dem in Q nachfolgenden Kontext bietet. Mit 9,27–31.32– 34 setzt Matthäus den Schlusspunkt seiner Komposition in 8,1–9,34, mit der – als Pendant zur Bergpredigt als exemplarischer Illustration der Lehre Jesu – Jesu vollmächtiges Handeln grundlegend illustriert wird. Der Grund für die Duplizierung der Texte und ihrer Platzierung am Ende des Zyklus 8,1–9,34 wird im Allgemeinen darin gesehen, dass Matthäus als Hintergrund für 11,5 noch die Heilung eines Blinden und eines Taubstummen braucht36, doch ist daneben darauf zu verweisen, dass der Evangelist mit 9,27–34 am Ende der Komposition und damit paradigmatisch für das Ganze den Bezug des Wirkens Jesu auf Israel unterstreicht. In 9,33 wird dies durch die den Volksmengen in
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In diesem Sinne auch HELD, Interpret (s. Anm. 2), 169f. Bei Markus ist neben 5,36 wiederum auch auf 9,23 zu verweisen, denn Jesu Wort an den Vater ʌȞIJĮ įȣȞĮIJ IJ ʌȚıIJİȠȞIJȚ (zur Deutung s. Anm. 18) ist nach dessen vorangehender Einschränkung İ IJȚ įȞૉ (V.22) eine implizite Aufforderung zum Glauben. V.24 schließt daran folgerichtig an. – Aufforderungen zum Glauben begegnen im Mk ferner noch außerhalb von Heilungsgeschichten in 1,15 und 11,22. Matthäus hat beide Passagen nicht übernommen. Vgl. oben Anm. 15. 36 ௗSiehe für viele C. BURGER, Jesus als Davidssohn. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, FRLANT 98, Göttingen 1970, 76; DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 26), 134.138; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 26), 400.403. 35
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den Mund gelegte Äußerung signalisiert, dass so etwas noch nie in Israel geschehen sei; in 9,27–31 wird der Israelbezug durch die Anrufung Jesu als „Sohn Davids“ (V.27) eingespielt.37 Auffallend ist auch die Gestaltung des Textes im Einzelnen: Bildet Mk 10,46–52 die Basis, so fließen daneben in Mt 9,30b.31 Versatzstücke aus Mk 1,43.45 ein, die Matthäus in seiner Version der Heilung des Aussätzigen in Mt 8,1–4 (par Mk 1,40–45) ausgelassen hat (vgl. auch Mk 5,43a). Vor allem aber begegnen in 9,27–31 zahlreiche Reminiszenzen an andere Texte in Mt 8– 9.38 Das Nebeneinander vom ʌĮȡȖİȚȞ Jesu und ਕțȠȜȠȣșİȞ dürfte durch 20,30.34 inspiriert sein, begegnete zuvor aber auch in 9,9. Die Einkehr in das Haus greift auf 9,10 zurück (vgl. auch 8,14), die Bitte um Erbarmen (ਥȜȘıȠȞ ਲȝ઼Ȣ) lässt an die Zitation von Hos 6,6 (ȜİȠȢ șȜȦ …) in Mt 9,13 zurückdenken, mit der Jesus sein Verhalten rechtfertigte. Das Glaubensmotiv, auf das gleich näher einzugehen sein wird, verbindet mit den oben angesprochenen Textpassagen in 9,2 und 9,22. Jesu Frage, ob die Blinden glauben, dass er dies zu tun vermag (…įުȞĮȝĮȚ IJȠ૨IJȠ ʌȠȚોıĮȚ), erinnert an die Bitte des Aussätzigen in 8,2: ȀȡȚİ, ਥȞ șȜૉȢ įުȞĮıĮަ ȝİ țĮșĮȡıĮȚ; nur an diesen beiden Stellen kommt das Vermögen (įȞĮıșĮȚ) Jesu in Heilungsgeschichten explizit zur Sprache.39 Der Heilungszuspruch in V.29b (țĮIJ IJȞ ʌıIJȚȞ ਫ਼ȝȞ ȖİȞȘșIJȦ ਫ਼ȝȞ) ist 8,13 nachgebildet (੪Ȣ ਥʌıIJİȣıĮȢ ȖİȞȘșIJȦ ıȠȚ). In V.31 (Ƞੂ į ਥȟİȜșંȞIJİȢ įȚİijȝȚıĮȞ ĮIJઁȞ ਥȞ Ȝૉ IJૌ Ȗૌ ਥțİȞૉ) klingt zudem deutlich V.26 (țĮ ਥȟોȜșİȞ ਲ ijȝȘ ĮIJȘ İੁȢ ȜȘȞ IJȞ ȖોȞ ਥțİȞȘȞ) nach. Als Erklärung für diesen Befund genügt es kaum, auf das Bestreben des Evangelisten zu verweisen, „to sound again many of the notes that have sounded through the section as he moves things towards a climax.“40 Es ist vielmehr zugleich nach dem eigenen Sinn der durch die skizzierte Kompositionsarbeit entstandenen Erzählung in 9,27–31 zu fragen. Matthäus hat in 9,27f eine merkwürdige szenische Konstellation entworfen. Nachdem Jesus die Tochter des Oberen auferweckt hat (V.18f.23–26), begibt er sich zurück in das Haus, in dem zuvor das Gastmahl mit den Zöllnern und Sündern stattgefunden hat (9,10–13).41 Während des Rückwegs werden die 37 Ausführlicher zu diesem Aspekt von 9,27–34 KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 55f. Zum Bezug des Titels „Sohn Davids“ auf die Zuwendung zu Israel im Matthäusevangelium s. a.a.O., 18–52 sowie in diesem Band auf 146–170 den Beitrag „Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie“, bes. 151–160. 38 Vgl. zum Folgenden z.B. NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 26), 399f. 39 ௗIm Blick auf das Unvermögen der Jünger vgl. Mt 17,16.19. Mk 6,5 hat Matthäus (Mt 13,58) umgearbeitet (vgl. oben in Abschnitt 2.1). 40 NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 26), 400. 41 Das Haus dürfte jenes sein, in dem Jesus auch sonst in Kafarnaum einzukehren pflegt (vgl. 8,14; [13,1]; 13,36; 17,25). Matthäus sagt jedenfalls nicht wie Lk 5,29, dass das Mahl von dem Zöllner in seinem Haus ausgerichtet wird. Möglich, wenn nicht wahrscheinlich ist, dass des Näheren an das Haus des Petrus gedacht ist (vgl. 8,14).
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beiden Blinden darauf aufmerksam, dass Jesus vorbeigeht. Anders als in 20,29–34 findet die Heilung aber nicht in der Öffentlichkeit der Straße statt, sondern Matthäus lässt die beiden Blinden (!) Jesus nachfolgen (țȠȜȠșȘıĮȞ) und währenddessen, offenbar wiederholt, ihren Bittruf42 äußern: „Erbarme dich unser, Herr, Sohn Davids!“ Das Verb ਕțȠȜȠȣșİȞ verbindet 9,27–31, wie angemerkt, mit der Parallelerzählung in 20,29–34, wo es aber wie in der Markusvorlage am Ende steht (20,34 par Mk 10,52). Das Verb kann bloß meinen, dass sie hinter Jesus her gingen, oder es kann ‚nachfolgen‘ im technischen Sinn bedeuten. Ähnlich wie bei der Rede vom ਕțȠȜȠȣșİȞ der Volksmengen43 dürfte Matthäus auch hier gezielt mit der semantischen Ambiguität des Wortes spielen: Die Blinden folgen Jesus auf dem Weg, aber assoziativ wird das Motiv der Nachfolge eingespielt, zumal ihre Anrufung Jesu als Sohn Davids ihre christologische Erkenntnis andeutet (dazu gleich). Erst als Jesus in das Haus eingekehrt ist, können die Blinden herzutreten.44 Das Gespräch wird nun von Jesus eröffnet. Matthäus lässt Jesus aber nicht wie in 20,32 (par Mk 10,51) fragen, was sie wollen, dass er ihnen tun soll, sondern er fordert die Blinden auf, ihren Glauben zu bekunden: ȆȚıIJİİIJİ IJȚ įȞĮȝĮȚ IJȠ૨IJȠ ʌȠȚોıĮȚ; IJȠ૨IJȠ kann sich dabei nur darauf beziehen, dass Jesus in der Lage ist, sich der Blinden zu erbarmen, d.h. sie zu heilen. Der Heilungszuspruch in V.29b bestätigt dies. Wurde das Vermögen Jesu, Menschen zu heilen, vom Aussätzigen in 8,2 als gegeben vorausgesetzt, so macht nun Jesus selbst dieses Vermögen explizit zum Thema. Auch dies ist schon insofern ein auffälliger Zug in der Erzählung, als er im Matthäusevangelium singulär ist. Ebenfalls ohne Parallele ist, dass Jesus nach dem Glauben seines Gegenübers fragt; ansonsten erkennt Jesus jeweils den Glauben derer, die seine Hilfe suchen, und bescheinigt ihn den Bittstellern. Die Besonderheit von 9,28 lässt danach fragen, welche Intention Matthäus mit diesem kleinen „Glaubensscrutinium“45 verfolgt. Dies gilt umso mehr, als das Glaubensmotiv, wie angemerkt, in der Markusvorlage (10,46–52) vorgegeben war, dort aber am Ende steht (10,52). Hätte Matthäus die markinischen Worte Jesu aus Mk 10,52 (ਲ ʌıIJȚȢ Die Verwendung von țȡȗİȚȞ in diesem Zusammenhang (9,27), ist durch Mk 10,47.48 inspiriert. Matthäus verwendet das Verb durchgehend, wenn Menschen Jesus als Sohn Davids um Hilfe anrufen (s. neben 9,27 noch 15,22.[23]; 20,30.31). Vgl. ferner auch die Verwendung des Verbs in den Davidsohnakklamationen in 21,9.15. 43 Siehe 4,25; 8,1; 14,13; 19,2; 20,29; (21,9). 44 Man kann prima vista aus dieser szenischen Konstellation die Beharrlichkeit der beiden Blinden ableiten und daraus im Blick auf das matthäische Glaubensverständnis folgern, dass Glaube „ein aktiver, beharrlicher Glaube sein muß“ (LUZ, Evangelium nach Matthäus II [s. Anm. 14], 61), doch ist zu beachten, dass 9,2, wie gesehen, einen anderen Akzent setzt. Zudem wäre dann in 9,27–31 zu erwarten, dass Jesus den Glauben der beiden Blinden in V.28 konstatiert, doch geht Matthäus hier einen anderen Weg. 45 J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 1, HThKNT 1.1, Freiburg– Basel – Wien 2 1988, 345. 42
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ıȠȣ ııȦțȞ ıİ) übernommen, hätte sich eine perfekte Analogie zu Mt 9,22 ergeben. Warum hat Matthäus das Glaubensmotiv stattdessen in einen konstruiert wirkenden Dialog vorgezogen? Die Suche nach einer Erklärung für den auffälligen Textbefund wird bei einem weiteren wichtigen Charakteristikum des Textes einzusetzen haben: Während die Leser schon an der prominenten Stelle der Überschrift des Matthäusevangeliums darauf hingewiesen wurden, dass Jesus der Sohn Davids ist (1,1)46, wird er in der erzählten Welt zum allerersten Mal in 9,27 von Menschen, denen er begegnet, als „Sohn Davids“ tituliert. Der Davidsohntitel ist bei Matthäus fest mit Jesu heilendem Wirken verbunden47, wobei es mit der Ausnahme des Sonderfalls in 15,22 stets um Blindenheilungen geht. Diese Konzentration der Verwendung des Titels impliziert nicht, dass die davidische Messianität für Matthäus ein bestenfalls zweitrangiges Christologumenon darstellt.48 Matthäus hat sie vielmehr zu einem Leitmotiv seiner Christologie gemacht.49 Zu bedenken ist dabei grundlegend, dass die Vorkommen der Wen-
46 Die Frage, ob 1,1 lediglich Überschrift über den Stammbaum (bzw. Mt 1) oder über den Prolog (1,1–4,16) oder über das gesamte Evangelium ist, wird in der Forschung kontrovers beurteilt. Zur Diskussion der Argumente s. die Ausführungen bei W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 149–154; U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 2002, 117–119 und M. MAYORDOMOMARÍN, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1–2, FRLANT 180, Göttingen 1998, 208–213. 47 Siehe neben Mt 9,27 noch 12,22f; 15,22; 20,30f; 21,9 (im Kontext von 20,29–34) sowie 21,14f. Indirekt ist auch 11,2–6 heranzuziehen, da der Christustitel in IJ ȡȖĮ IJȠ૨ ȋȡȚıIJȠ૨ aufgrund des Bezugs der Wendung auf den in 4,23–9,35 vorangehenden Kontext davidisch koloriert ist (vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus II [s. Anm. 14], 167; D.J. VERSEPUT, The Role and Meaning of the ‘Son of God‘ Title in Matthew’s Gospel, NTS 33 [1987], 532–556: 535). – Zu Jesus als dem heilenden davidischen Messias s. L. NOVAKOVIC, Messiah, the Healer of the Sick. A Study of Jesus as the Son of David in the Gospel of Matthew, WUNT II.170, Tübingen 2003 und KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 41–52. 48 Gegen J.D. KINGSBURY, The Title “Son of David” in Matthew’s Gospel, JBL 95 (1976), 591–602. 49 Ein diachroner Blick bekräftigt dies: Das Christologumenon der Gottessohnschaft hat Matthäus im Markusevangelium als ein Leitmotiv vorgefunden (s. v.a. Mk 1,11; 9,7; 15,39). Die Hervorhebung der Davidsohnschaft Jesu geht hingegen auf seine eigene Hand zurück. Denn neben den vier aus dem Markusevangelium übernommenen Belegen (Mt 20,30.31; 22,42.45 par Mk 10,47.48; 12,35.37) hat Matthäus den Titel an weiteren sechs Stellen eingefügt. Resultiert der Beleg in 9,27 aus der Duplizierung von Mk 10,46–52 und hat die Verwendung des Titels in Mt 21,9 in der Vorlage Mk 11,10 („... gelobt sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt“) zumindest einen gewissen Anhalt, so sind die sonstigen vier Belege (1,1; 12,23; 15,22; 21,15) sowie auch die Bezeichnung Josephs als ȣੂઁȢ ǻĮȣį (1,20) dem Matthäusevangelium eigen. – Zum Motiv der Davidsohnschaft Jesu im Matthäusevangelium vgl. in diesem Band auf S. 146–170 den Beitrag „Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie“.
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dung „Sohn Davids“ nicht isoliert zu betrachten sind, sondern der Davidsohntitel, wie sich dies bereits aus Mt 1–2 ergibt, in seinem konzeptionellen Zusammenhang mit der Rede von Jesus als „König der Juden“ (2,2), als „Christus“ (2,4) oder als Hirte (2,6) zu sehen ist50 und mithin „Sohn Davids“ lediglich die titularische Verdichtung eines umfassenderen christologischen Konzepts darstellt: Die matthäische Hervorhebung der davidischen Messianität Jesu bildet das christologische Korrelat zur Betonung der – während des irdischen Wirkens Jesu exklusiven – Zuwendung zu Israel:51 Als Hirte Israels (2,6) ist Jesus allein zu den verlorenen Schafen des Hauses gesandt (15,24). Die Konzentration der davidischen Messianität Jesu auf sein heilendes Wirken dient in diesem Zusammenhang positiv dazu, die barmherzige Zuwendung Gottes herauszustellen, die Israel durch seinen messianischen König Jesus zuteilwird. Die Verbindung der Anrufung Jesu als Sohn Davids mit der Bitte um Erbarmen in 9,27, die sich in 15,22 und 20,30.31 wiederholt52, fügt sich hier ein. Die Fokussierung auf Blindenheilungen spielt darüber hinaus eine Sinndimension ein, die über die Heilung im physischen Sinn hinausgeht: Israel wird vom davidischen Messias von der geistigen ‚Blindheit‘ geheilt, die durch die inkompetenten alten Autoritäten, die „blinde Führer“ sind (15,14; 23,16–26), verursacht wurde. Der davidischen Messianität Jesu wird zudem intertextuell durch Bezüge auf die Schrift Tiefenprofil verliehen, wobei die eben angesprochene Hirtenmetaphorik, die in 2,6 durch das Mischzitat aus Mi 5,1; 2Sam 5,2 eingeführt wird, von leitender Bedeutung ist. Weiterer wichtiger Referenztext ist für Matthäus in dieser Hinsicht Ez 34:53 Angesichts des Versagens der bisherigen Autoritäten (V.2–10), nimmt Gott sich seines Volkes an (V.11–31), indem er den davidischen Messias als Hirten einsetzt (V.23f).54 Mt 9,27–31 ist in diesen größeren Zusammenhang einzubetten. Mit dem ersten Vorkommen der Anrufung Jesu als Sohn Davids bildet 9,27 im Blick auf Matthäus’ Entfaltung seiner christologischen Konzeption einen ersten Gipfelpunkt. Der Sinn der matthäischen Einfügung der Frage Jesu erschließt sich vor diesem christologischen Hintergrund. 9,28 dient dazu, das Augenmerk auf den in 9,27 aufgeworfenen Aspekt der Identität Jesu zu lenken. „Glaubt ihr, dass 50
Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 33–35. 15,22 steht dem nicht entgegen. Vgl. unten S. 276–279. 52 Die Erbarmensbitte begegnet im Matthäusevangelium nur in 17,15 ohne Verbindung mit der Anrufung Jesu als Sohn Davids. 53 Vgl. dazu J.P. HEIL, Ezekiel 34 and the Narrative Strategy of the Shepherd and the Sheep Metaphor in Matthew, CBQ 55 (1993), 698–708; W. BAXTER, Healing and the “Son of David”: Matthew’s Warrant, NT 48 (2006), 36–49, bes. 43–45; KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 38f. 54 In der Passionserzählung ist ferner das Sacharjabuch als Referenztext von Gewicht (s. v.a. das Zitat von Sach 13,7 in Mt 26,31 und die Aufnahme von Sach 11,4–13 in Mt 26,14– 16; 27,3–10, dazu C. MCAFEE MOSS, The Zechariah Tradition and the Gospel of Matthew, BZNW 156, Berlin – New York 2008, 157–188). 51
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ich dies tun kann“ lässt sich entsprechend paraphrasieren mit: „Glaubt ihr, dass ich der messianische Davidsohn bin, in dem Gott sich, wie in Ez 34 verheißen, heilend seinem Volk zuwendet?“ Die Antwort der Blinden mit ȞĮ țȡȚİ bildet ein weiteres Element, das 9,27–31 mit 15,21–28 verbindet (vgl. 15,27), nur genügt in 9,28 die knappe Bejahung der Frage, während die Kanaanäerin in 15,27 noch aufweisen muss, warum auch sie als Nichtjüdin vom zu Israel gesandten „Sohn Davids“ (15,22.24) Erbarmen erhoffen kann (dazu gleich). In 9,29 kann hingegen sogleich die Heilung folgen, Jesus waltet in V.29 gewissermaßen seines ‚Amtes‘ als davidischer Messias: Er heilt die beiden Blinden „gemäß ihrem Glauben“, dass er sie zu heilen vermag, da er als messianischer Sohn Davids das Medium der barmherzigen Zuwendung Gottes zu seinem Volk ist. Die Konstatierung der Heilung in V.30a bekräftigt die oben angesprochene intertextuelle Tiefendimension der davidischen Messianität Jesu, denn die Wendung ȞİȤșȘıĮȞ ĮIJȞ Ƞੂ ੑijșĮȜȝȠ (vgl. 20,33 diff. Mk 10,51) lässt die prophetische Heilsverheißung in Jes 35,5(LXX) anklingen55 (vgl. noch Jes 42,7 sowie 29,18; 61,1), auf die Matthäus in 11,5 – in direktem Zusammenhang mit der Rede von den Werken des Christus (11,2) – erneut anspielen wird: Die prophetische Heilsverheißung erfüllt sich in Jesu Wirken. Die Bedeutung der 9,27–31 einleitenden Anrufung Jesu als Sohn Davids bildet schließlich auch die Basis für den in V.30b folgenden Schweigebefehl. Denn dessen Einfügung an dieser Stelle wird verständlich, wenn man beachtet, dass es in der matthäischen Jesusgeschichte ganz zentral die Würdestellung Jesu als des messianisch-davidischen Königs ist, die die feindliche Haltung und den Widerstand der (alten) Autoritäten gegen ihn evoziert. Dieser Grundzug der matthäischen Erzählung wird bereits in 2,1–6 exponiert. Die Konstellation wiederholt sich in 12,23f und in 21,9–17.56 Das Schweigegebot ist vor diesem Hintergrund als Versuch lesbar, den Konflikt mit den jüdischen Autoritäten, zu dem 9,2–13 bereits ein erstes Vorspiel lieferte, nicht zu schüren. Die Geheilten halten sich allerdings nicht an Jesu Gebot und machen ihn (!), d.h. Jesus als heilenden Sohn Davids, bekannt, womit der sich in 9,32–34 bereits andeutenden Zuspitzung des Konfliktes die Bahn bereitet ist. Stellt das Davidsohnmotiv die Grundlage in V.30b–31 dar, bekräftigt dies zugleich indirekt, dass dieses auch den Bezugspunkt des Dialogs in V.28f bildet. Mit anderen Worten: Das Motiv der davidischen Messianität Jesu bestimmt die gesamte Perikope. Der personale Bezug des Glaubens, wie er in Mt 18,6 und 27,42 hervortritt, spiegelt sich damit auch in 9,28f: Bei dem Glauben der beiden Blinden geht es um Glauben an Jesus als den davidischen Messias, in dessen Wirken sich Gottes Erbarmen mit seinem Volk manifestiert.
55 56
Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 26), 137. Siehe dazu KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 110–112.123f.133f.146f.
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Im Lichte von 9,27–31 ist nun auch noch einmal auf 13,53–58 zurückzukommen. Der sich nahelegenden Antwort nach der Herkunft der Weisheit Jesu und seiner įȣȞȝİȚȢ (13,54), dass diese von Gott stammen und Jesus der erwartete Messias ist, wie die Volksmengen dies bereits in 12,22f aufgrund des heilenden Wirkens Jesu in Erwägung gezogen haben (vgl. dann 21,9.15)57, versperren sich die Nazarener, weil sie auf Jesu (vermeintliche) Herkunft aus einfachen Verhältnissen blicken (13,55f). In der Konstatierung ihres Unglaubens schwingt entsprechend mit, dass sie in Jesus trotz der ihn ausweisenden Weisheit und seiner įȣȞȝİȚȢ nicht den zu sehen vermögen, den Gott als messianischen Hirten des Volkes gesandt hat (2,6; 15,24), um dem Gottesvolk das verheißene messianische Heil zu bringen.
3. Der große Glaube des Hauptmanns von Kafarnaum (8,5–13) und der Kanaanäerin (15,21–28) Auf die Zusammengehörigkeit dieser beiden Texte ist bereits einleitend anhand der von Matthäus parallel gestalteten Schlussabschnitte hingewiesen worden. In beiden Texten geht ein Nichtjude Jesus um Hilfe nicht für sich selbst, sondern für einen Angehörigen an; beide werden von Jesus zunächst zurückgewiesen; beiden gelingt es im Gespräch, Jesu ablehnende Haltung zu überwinden. Begründet ist dies jeweils in ihrem Glauben, den Jesus erkennt und ihnen attestiert. Die entscheidende Frage ist, was die Größe des Glaubens des Hauptmanns und der Kanaanäerin ausmacht. Die geläufigen Antworten sind, dass das Vertrauen des Hauptmanns zu Jesus so groß ist, dass er ihm eine Fernheilung durch das Wort zutraut58, und die Kanaanäerin durch ihre Beharrlichkeit besticht.59 Beides reicht schwerlich aus, um die abschließende Zuwendung Jesu suffizient zu erklären. 3.1 Mt 15,21–28 Die Größe des Glaubens der Frau an ihrer Beharrlichkeit festzumachen, ist deshalb keine überzeugende These, weil die Frau in der matthäischen Erzählung 57 Zur ‚Erkennbarkeit‘ Jesu als des davidischen Messias anhand seiner Werke (vgl. auch 11,2–6) s. KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 46. 58 Siehe für viele G. TISERA, Universalism According to the Gospel of Matthew, EHS.T 482, Frankfurt a.M. – New York 1993, 121; HAGNER, Matthew 1–13 (s. Anm. 26), 204. 59 Siehe exemplarisch J.P. MEIER, Matthew 15:21–28, Interp. 40 (1986), 397–402: 398f; J.P. HEIL, The Narrative Roles of the Women in Matthew’s Genealogy, Bib. 72 (1991), 538– 545: 544 und K.M. WOSCHITZ, Erzählter Glaube. Die Geschichte vom starken Glauben als Geschichte Gottes mit Juden und Heiden (Mt 15,21-28 par), ZKT 107 (1985), 319–332: 326: „ein Glaube, der der Vollmacht Jesu vertraut, das Moment der unbeirrbaren Zuversicht bei sich hat, zielstrebig und unbeugsam in der Ausdauer ist“.
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auch dann noch eine dezidierte Ablehnung erfährt, als sie ihre Beharrlichkeit bereits bewiesen hat. Matthäus hat die Perikope zu einem viergliedrigen Dialog ausgestaltet, der von knappen szenischen Rahmennotizen (V.21–22a.28fin) eingefasst ist. In diesem Dialog kommt Jesus jeweils die ‚antwortende‘ Position zu. Genauer: Zunächst antwortet er der Frau mit keinem Wort (V.23: į Ƞț ਕʌİțȡșȘ ĮރIJ߲ ȜંȖȠȞ). Darauf bekräftigt er die Intervention der Jünger, sie wegen ihres lästigen Geschreis fortzuschicken (V.23b.c)60, mit dem Verweis auf seine exklusive Sendung zu Israel (V.24). Als die Frau, die ihnen auf dem Weg hinterherlief, nahe gekommen ist, vor ihm niederfällt und ihr Bitten fortsetzt, erneuert Jesus seine Ablehnung: „Es ist nicht gut, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden vorzuwerfen“ (V.26). Trotz ihrer bereits bewiesenen Beharrlichkeit wird die Frau noch zurückgewiesen, wobei die Beharrlichkeit durch die Verwendung von iterativ bzw. durativ zu verstehenden Imperfektformen in V.22 (țȡĮȗİȞ) und V.25 (ʌȡȠıİțȞİȚ) noch unterstrichen wird. Wie zuvor in V.24 fehlt zudem auch in V.26 in der Einleitung zur Rede Jesu mit į ਕʌȠțȡȚșİȢ İੇʌİȞ ein Dativobjekt; Jesus spricht nach wie vor nicht direkt mit der Frau. Erst in V.28 ändert sich dies (IJંIJİ ਕʌȠțȡȚșİȢ ȘıȠ૨Ȣ İੇʌİȞ ĮރIJ߲). Diese Wende ist für Matthäus allein in dem Argument der Kanaanäerin in V.27 begründet. Matthäus lässt sie durch die Einfügung des ȞĮ vor țȡȚİ in V.27 zunächst ausdrücklich bestätigen, dass es nicht gut ist, den Kindern (= Israel61) das Brot, das hier für das Heil stehen dürfte62, zugunsten der Hunde63 (= der ‚Heiden‘) wegzunehmen. Ihrer Zustimmung zu Jesu Aussage, dass die Kinder zu versorgen sind, korrespondiert zu Beginn der Perikope, dass sie Jesus als den Sohn Davids um Erbarmen gebeten hat; sie wendet sich also
60 Zu diesem Verständnis von ਕʌંȜȣıȠȞ ĮIJȞ s. KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 66, Anm. 269 und die dort genannte Literatur. 61 Zu Israel als Gottes (erstgeborenem) Sohn s. Ex 4,22f; Hos 11,1; SapSal 18,13; Sir 36,11; Jub 2,20; 4Esra 6,58; LAB 32,16; 4Q504 Fragm. 1–2 3,5f u.ö. Entsprechend werden Israeliten als Kinder bzw. Söhne und Töchter Gottes bezeichnet (Dtn 14,1; 32,5.19; Jes 43,6; 45,11; Hos 2,1; Jdt 9,4; Est 8,12qLXX; SapSal 9,7; 12,7.19–21; 16,10.21.26; 18,4; 19,6; 3Makk 6,28; PsSal 17,27; Jub 1,24f; TestJuda 24,3; TestMos 10,3; Sib 3,702 u.ö.). 62 Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 26), 553; S. SCHREIBER, Cavete Canes! Zur wachsenden Ausgrenzungsvalenz einer neutestamentlichen Metapher, BZ 45 (2001), 170–192: 175; H. GIESEN, Jesu Sendung zu Israel und die Heiden im Matthäusevangelium, in: Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt (FS A. Fuchs), hg. v. C. Niemand, LPTB 7, Frankfurt a.M. – New York 2002, 123–156: 132. 63 Mit ‚Hunden‘ sind in alttestamentlich-frühjüdischer wie in frühchristlicher Literatur vorwiegend negative Assoziationen verbunden (s. den Überblick bei SCHREIBER, Cavete Canes [s. Anm. 62], 171–174). Dass es sich in Mt 15,26 um Haushunde – und nicht um die verachteten Straßenköter – handelt, wird, wenn nicht schon durch die Verwendung des Diminutivs (vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus II [s. Anm. 14], 435; SCHREIBER, Cavete Canes [s. Anm. 62], 175), spätestens durch V.27 evident.
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an Jesus als den zu Israel gesandten Messias.64 Warum sie dennoch von ihm die Heilung ihrer Tochter erhofft, geht aus ihrer Erweiterung des von Jesus in V.26 eingeführten Bildes hervor: „Und doch essen ja die Hunde von den Brocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Das Argument der Frau in V.27 bewegt sich im Rahmen der heilsgeschichtlichen Differenz von Israel und ‚Heiden‘65, legt aber das Augenmerk darauf, dass unbeschadet der Versorgung der Kinder etwas für die Hunde abfällt.66 Redaktionskritisch ist hier zu beachten, dass Matthäus die markinische Rede von den „Brocken der Kinder“ (Mk 7,29) durch „die Brocken, die vom Tisch ihrer Herren herabfallen“ ersetzt und damit den Akzent vom Brot als Besitz der Kinder auf Jesus als den țȡȚȠȢ67 verlagert hat, der dem Mahl vorsteht und das Brot gibt. Ohne Jesu Aufgabe, die „Kinder“ mit „Brot“ zu versorgen, in Frage zu stellen, weist die Kanaanäerin durch ihre kreative Weiterführung des von Jesus in V.26 verwendeten Bildwortes darauf hin, dass über Jesu Heilswirken in Israel das Heil auch zu den ‚Heiden‘ gelangt. Man kann hier geradezu in nuce einen Kernpunkt der matthäischen Erzählkonzeption abgebildet finden: Das in 1,21 vorgebrachte ‚Zentrum der Sendung Jesu‘, sein Volk (= Israel) von den Sünden zu retten68, findet seine finale Realisierung in der Lebenshingabe Jesu für die „Vielen“ (20,28; 26,28) „zur Vergebung der Sünden“ (26,28); Jesu Heilstod für die „Vielen“ (= für alle)69 bildet 64 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 14), 434; R.H. GUNDRY, Matthew. A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, Grand Rapids (MI) 2 1994, 311. 65 Vgl. exemplarisch GIESEN, Sendung (s. Anm. 62), 131: Mit der Anrede Jesu als Sohn Davids erkenne die Frau „die Vorrangstellung Israels“ an. 66 Zur Illustration lässt sich die Speisungsgeschichte in 14,13–21 heranziehen: Nach der Speisung der 5000 bleibt mit 12 Körben voll Brot reichlich übrig (vgl. J.M.C. SCOTT, Matthew 15.21-28: A Test-Case for Jesus‘ Manners, JSNT 63 [1996], 21–44: 40). Siehe auch 15,37 (dazu C.S. KEENER, A Commentary on the Gospel of Matthew, Grand Rapids [MI] – Cambridge [UK] 1999, 419). 67 ௗDer im Blick auf die ‚Sachebene‘ auffällige Plural țȣȡȦȞ ergibt sich aus der allgemeingültig gehaltenen Formulierung des Bildes: Hunde essen Brocken, die vom Tisch ihrer Herren (= ihres jeweiligen Herrn) herabfallen (vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew II [s. Anm. 26], 556: „The one plural, ‘dogs’, demands the other plural, ‘masters’.“). Es ist also nicht wegen des Plurals an Gott und Jesus als ‚Herren‘ zu denken (erwogen von C. BURCHARD, Zu Matthäus 8,5–13, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 65–76: 73) oder an Jesus und seine Jünger (anders F. WILK, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin – New York 2002, 146). 68 Vgl. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 4: Mt 26–28, EKK 1.4, Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 116: „Die Vergebung der Sünden ist für Matthäus das Zentrum der Sendung Jesu.“ 69 Zur universalistischen Interpretation von ʌİȡ ʌȠȜȜȞ in 26,28 vgl. für viele J.P. HEIL, The Death and Resurrection of Jesus. A Narrative-Critical Reading of Matthew 26–28, Minneapolis (MN) 1991, 38; J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 2, HThKNT 1.2, Freiburg – Basel – Wien 21992, 401; W. CARTER, Matthew. Storyteller, Interpreter, Evangelist,
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aber zusammen mit seiner Auferweckung und Einsetzung zum Weltenherrn (vgl. 28,18b) zugleich die christologische und soteriologische Voraussetzung für die nachösterliche Ausweitung der Heilszuwendung auf alle Völker. Eben darin nun, dass die Kanaanäerin in V.27 einen Glauben an Jesus zu erkennen gibt, dem zufolge die mit seinem Wirken verbundene Heilszuwendung über Israel hinaus auf die Völker überfließen wird, liegt begründet, warum Jesus ihr am Ende einen großen Glauben bescheinigt. Ihr Glaube antizipiert das letztendliche Ziel der Sendung Jesu, die Universalität des Heils, die Jesus selbst erst nach seiner Auferstehung und Erhöhung zum Weltenherrn kundtun wird (28,18–20). Deshalb gewährt Jesus ihr schon jetzt – in Anlehnung an 8,29 gesprochen: vor dem Kairos der mit Ostern anbrechenden Ausweitung der Heilszuwendung auf alle Völker70 – ihre Bitte. Kulminierten die Glaubensperikopen in Mt 9 in dem Glauben an Jesus als dem davidischen Messias, durch den Gott sich seines Volkes erbarmt, so wird der christologische und soteriologische Horizont des Glaubens durch Mt 15,21–28 dahingehend ausgeweitet, dass der Messias Israels, der Sohn Davids (V.22), zugleich der Heilsbringer für die Völker ist.71 3.2 Mt 8,5–13 Der Kanaanäerin steht der Hauptmann von Kafarnaum in 8,5–13 zur Seite. Nachdem er Jesus angesprochen und auf das Leiden seines Sohns aufmerksam gemacht hat (V.6), erfährt er – anders als in der lukanischen Parallele in Lk 7,1–10 (und in Joh 4,46–54) – zunächst Jesu Zurückweisung, denn V.7 ist schwerlich als Aussagesatz, sondern als Fragesatz zu lesen und damit nicht als eine Einwilligung, sondern als eine Zurückweisung zu verstehen: „Ich soll kommen und ihn heilen?“72 Durch diese anfängliche Zurückweisung erscheinen die Worte des Hauptmanns in V.8f – wiederum anders als in Lk 7 – weniger Peabody (MA) 1996, 215.219; H. FRANKEMÖLLE, Matthäus. Kommentar, Bd. 2, Düsseldorf 1997, 449f. Anders GUNDRY, Matthew (s. Anm. 64), 528 („‘the elect’“) und LUZ, Evangelium nach Matthäus IV (s. Anm. 68), 116: „Mit den aus dem einen Becher trinkenden Jüngern identifiziert sich die das Herrenmahl feiernde Gemeinde, die bei ʌİȡ ʌȠȜȜȞ in erster Linie an sich selbst denken wird. Der Sinn von ʌİȡ/ਫ਼ʌȡ ʌȠȜȜȞ (Mt/Mk) ist also wohl kein grundsätzlich anderer als der von ਫ਼ʌȡ ਫ਼ȝȞ (Lk/Pls).“ 70 Zur Deutung von ʌȡઁ țĮȚȡȠ૨ in Mt 8,29 s. KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 62f. 71 Dieser Konnex prägt bereits im Prolog die Erzählung von den Magiern aus dem Osten in 2,1–12: Sie suchen den „König der Juden“ auf, weil sie auf diesen ihre eigene Heilshoffnung richten. 72 Zur Begründung s. KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 71 (dort in Anm. 300 auch weitere Vertreter dieser Deutung). – Das Zurückweisungsmotiv entstammt m.E. nicht der Q-Vorlage, sondern geht auf Matthäus zurück. Im Zuge seiner Einfügung hat Matthäus zugleich, um die Schroffheit zu mildern, die Krankheitsangabe entschärft: Aus einer lebensbedrohlichen Krankheit (Lk 7,2, vgl. Joh 4,47) hat Matthäus eine Lähmung gemacht. Zu Details der matthäischen Bearbeitung in 8,5–7 s. KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 71–77.
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als Ausdruck von Demut, sondern sie erhalten analog zu Mt 15,27 einen stärker argumentativen Charakter. Zur damit aufgeworfenen Frage, wodurch Jesus bewegt wird, von seiner Ablehnung abzugehen, bzw. woran er den besonders großen Glauben des Hauptmanns festmacht, wird, wie oben angemerkt, in der Regel auf das außerordentliche Vertrauen verwiesen, das der Hauptmann in V.8c Jesus bzw. näherhin der Wirkmacht seines Wortes entgegenbringt: Ein bloßes Wort aus der Ferne genüge (ਕȜȜ ȝંȞȠȞ İੁʌ ȜંȖ), um den Sohn gesund werden zu lassen (țĮ ੁĮșıİIJĮȚ ʌĮȢ ȝȠȣ). Deutet man so, käme V.9 lediglich die Funktion zu, den Folgezusammenhang zwischen Wort und Wirkung zu illustrieren. Allerdings spricht Matthäus bereits in 8,16 redaktionell wiederum von Heilungen ȜંȖ, und hier sind es jüdische Volksmengen, die Kranke zu Jesus bringen. Im Lichte von V.16 ist es daher wenig plausibel, das, was den Glauben des Hauptmanns von dem anderer abhebt, allein darin zu erblicken, dass er Jesus eine Heilung ȜંȖ – und sei es eine Fernheilung – zutraut. Anders gesagt: Der Hauptmann unterscheidet sich an diesem Punkt nicht so von den in V.10 angeredeten Volksmengen73, dass V.10(–12) begründet erscheint.74 Den Vorzug verdient daher eine alternative Option: Mit V.8 gibt der Hauptmann zu verstehen, dass ihm die Differenz zwischen dem erwählten Volk und den ‚Heiden‘ bewusst ist und er um den konstitutiven Bezug des Wirkens Jesu auf Israel weiß: Als er Jesus ansprach, wollte er gar nicht, dass dieser sich der – ihn von seinem eigentlichen Auftrag, von seiner Sendung zu Israel, abbringenden – Mühe unterziehe, eigens zu ihm zu kommen; er hatte nicht mehr im Sinn, als dass Jesus quasi en passant durch sein Wort heilt.75 Erst mit V.9 folgt die eigentliche Erläuterung, wieso der Hauptmann trotz der Sendung Jesu zu Israel und entsprechend seiner eigenen ‚Unwürdigkeit‘ davon ausgeht, dass auch er bei Jesus ‚an der richtigen Adresse‘ ist. Das entscheidende Stichwort ist hier die ਥȟȠȣıĮ, von der, was Jesus angeht, unmittelbar zuvor in 7,29 noch die Rede war. Auch dann, wenn man dem Vorschlag, ਫ਼ʌઁ ਥȟȠȣıĮȞ mit ȤȦȞ zu verbinden76, nicht folgt und die Wendung, 73
Jesus bescheinigt in 8,10 den großen Glauben des Hauptmans nicht diesem selbst, sondern spricht zu IJȠȢ ਕțȠȜȠȣșȠ૨ıȚȞ. Dem Kontext nach sind damit an erster Stelle die Volksmengen aus 8,1 (vgl. 4,25) gemeint. Die Formulierung ist allerdings offen dafür, dass man auch die Jünger impliziert sehen kann. 74 Ähnlich BURCHARD, Matthäus 8,5–13 (s. Anm. 67), 72 sowie WILK, Jesus (s. Anm. 67), 114. 75 Zu beachten ist, dass ȝંȞȠȞ matthäische Redaktion ist. Vgl. U. WEGNER, Der Hauptmann von Kafarnaum (Mt 7,28a; 8,5-10.13 par Lk 7,1-10). Ein Beitrag zur Q-Forschung, WUNT II.14, Tübingen 1985, 206f. 76 So BURCHARD, Matthäus 8,5–13 (s. Anm. 67), 70f. – ਟȞșȡȦʌȠȢ wäre dann – anders als in Apg 10,26; 14,15 – tonlos im Sinne von ‚jemand‘ zu fassen (s. BURCHARD, Matthäus 8,5–13 [s. Anm. 67], 70). Gesagt wäre dann nicht, dass der Hauptmann unter einer Befehlsgewalt steht, sondern dass er jemand ist, der Soldaten unter der seinen hat.
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wie üblich, zum Voranstehenden zieht77, ergibt sich hier nicht dergestalt eine grundlegende Differenz zwischen dem Hauptmann und Jesus, dass Jesus ਥȟȠȣıĮ hat, während der Hauptmann unter ਥȟȠȣıĮ steht, da auch in diesem Fall die ਥȟȠȣıĮ des Hauptmanns impliziert wäre: Dass er Soldaten unter sich hat, ist Folge dessen, dass er selber unter einer Befehlsgewalt steht, die er seinen Soldaten gegenüber vertritt. Beachtet man dieses Implikat, ergibt sich von selbst, worin die durch țĮ Ȗȡ ਥȖઆ angezeigte Analogie besteht, die der Hauptmann zwischen sich und Jesus sieht: Beide haben ਥȟȠȣıĮ und können daher, wie der Hauptmann in V.9b aus seiner Lebenswelt illustriert, Befehle geben, die befolgt werden.78 Liest man nun V.8f im Zusammenhang, so bietet V.9 weit mehr als bloß eine Illustration von V.8c. Vielmehr wird hier mit der ਥȟȠȣıĮ das entscheidende Moment genannt, weshalb das gesprochene Wort Verwirklichung findet.79 Im Blick auf Jesus bedeutet dies, dass der Hauptmann davon ausgeht, dass Jesus eine Vollmacht besitzt, die nicht auf Israel beschränkt ist, sondern auch ihn als ‚Heiden‘ umgreift. Zu verbinden ist dies – analog zu 15,21–28 – damit, dass Jesus als Auferstandener seine universale ਥȟȠȣıĮ kundtun wird (28,18b) und diese im Fortgang als die Basis für die Aussendung der Jünger zu allen Völkern erscheint (28,19).80 Wenn in ਥįંșȘ in 28,18b ein konkreter Zeitpunkt im Blick ist, bietet sich prima vista der Geschehenszusammenhang von Jesu Tod, Auferweckung und Erhöhung (vgl. 26,64) als nahe liegende Option an. Die im Matthäusevangelium vorangehenden ਥȟȠȣıĮ-Belege zeigen freilich, dass die Aussage in 28,18b eher mit dem Irdischen verbindet als von ihm trennt. 11,27 ist geradezu eine Vorwegnahme von 28,18b; zudem lassen Texte wie 14,22–33 oder 26,52–54 bereits für den irdischen Herrn Partizipation an göttlicher Macht deutlich werden. In diesem Lichte ist das Neue in 28,18b nicht in der Vollmacht an sich bzw. in ihrem Vollmaß zu sehen81, sondern darin, dass
77
So auch die Interpunktion im Nestle-Aland26–28. Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 26), 23 sowie J.A. OVERMAN, Church and Community in Crisis. The Gospel According to Matthew, The New Testament in Context, Valley Forge (PA) 1996, 117, der die Aussage des Hauptmanns, dass er ਫ਼ʌઁ ਥȟȠȣıĮȞ ist, sogar positiv in die Analogie zwischen diesem und Jesus einbezieht: „The centurion understands how authority works. He understands that both he and Jesus receive their power and authority from somewhere or someone.“ Siehe auch HARRINGTON, Gospel (s. Anm. 26), 114; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 26), 355f. Wollte man hingegen aus V.9 einen grundlegenden Gegensatz zwischen dem Hauptmann und Jesus im Blick auf die ਥȟȠȣıĮ ableiten, würde die in țĮ Ȗȡ ਥȖઆ angezeigte Analogie zwischen Jesus und dem Hauptmann unverständlich. 79 Vgl. das begründende Ȗȡ zu Beginn von V.9! 80 Siehe das folgernde ȠȞ in 28,19. 81 ௗAnders z.B. A. VÖGTLE, Das christologische und ekklesiologische Anliegen von Mt 28,18–20, in: ders., Das Evangelium und die Evangelien. Beiträge zur Evangelienforschung, KBANT, Düsseldorf 1971, 253–272: 257; G. B ORNKAMM, Der Auferstandene und 78
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Jesus nun zur Rechten Gottes sitzt und seine ਥȟȠȣıĮ als eine universale kundtut.82 Besessen hat er – als der an der Macht Gottes partizipierende Sohn Gottes83 – sie schon vorher, aber erst mit seiner Inthronisation zum Weltenherrn ist er in die Position eingesetzt, sie auszuüben. Während seiner irdischen Sendung hingegen gilt sein Auftrag Israel. Christologisch gesprochen: Während seines irdischen Wirkens hat der Gottessohn Jesus der Aufgabe nachzukommen, die ihm als davidisch-messianischer Hirte Israels zugewiesen ist. 84 Der Hauptmann aber antizipiert bereits wie in 15,21–28 die Kanaanäerin, was Jesus erst als Auferstandener offenbart. Genauer: Er stellt zum einen das Vorrecht Israels und die entsprechende irdische Sendung Jesu nicht in Frage, zum anderen erkennt er aber die Universalität der ਥȟȠȣıĮ Jesu: Wie der Befehlsgewalt des Hauptmanns Soldaten (und ein Sklave) unterstehen und diese seine Befehle ausführen, so hat Jesus als der Kyrios (8,6), auch wenn dies im Rahmen seiner irdischen Sendung noch nicht vorgesehen ist, prinzipiell die Macht, auch außerhalb Israels Heil zu wirken. Der Hauptmann zeigt damit wie die Kanaanäerin einen Glauben, nach dem Jesus der Heilsbringer auch für die Menschen aus den Völkern ist. Eben dies hebt den Glauben des Hauptmanns von dem ab, was Jesus (bis dahin) in Israel an Glauben angetroffen hat.85 Auch die jüdischen Volksmengen haben zwar erkannt, dass Jesus Vollmacht besitzt (7,29) und erwarten Wunder von ihm, die er ȜંȖ ausführt (8,16), und „einzelnen bestätigt Jesus ihren Glauben (9,2.22.29). Aber an Jesu universale Sendung glauben sie nicht.“86 8,5–13 und 15,21–28 zeigen sich damit auch im Blick darauf, worin
der Irdische. Mt 28,16-20, in: ders., Studien zum Matthäus-Evangelium, hg. v. W. Zager, WMANT 125, Neukirchen-Vluyn 2009, 95–116: 99. 82 ௗVgl. A. SAND, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 1986, 599: Die Vollmacht ist dem Auferweckten „nicht als etwas völlig Neues hinzugegeben worden, sondern findet als immer schon vorhanden im Sieg über den Tod ihre Bestätigung“ (Hervorhebung von mir). Siehe auch NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 26), 1265: „Mt. 28:18 is most likely to represent a reaffirmation of authority after the rejection of Jesus by the Jerusalem authorities which led to his death. Through resurrection God has vindicated Jesus, who is now able to freshly affirm his authority.“ 83 Zu diesem Aspekt des matthäischen Verständnisses der Gottessohnschaft Jesu s. in diesem Band den Beitrag „Die Taufe des Gottessohnes. Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium“, 212–214. 84 Zum narrativen christologischen Konzept des ersten Evangelisten mit seiner doppelten Entfaltung der Messianität Jesu durch die Motive der David- und der Gottessohnschaft s. KONRADT, Israel (s. Anm. 30), bes. 329–334. 85 In diesem Sinn auch BURCHARD, Matthäus 8,5–13 (s. Anm. 67), 74: „Der große Glaube des Hauptmanns [...] besteht [...] nicht einfach im Vertrauen auf Jesu Macht [...], sondern genauer darauf, daß Jesus auch denen Heil bringt, die nicht zu Israel gehören und von Haus aus kein Recht darauf haben.“ Siehe ferner WILK, Jesus (s. Anm. 67), 114f.144. 86 BURCHARD, Matthäus 8,5–13 (s. Anm. 67), 74. Siehe auch WILK, Jesus (s. Anm. 67), 115. – Zur Funktion der Einfügung des Doppellogions in Mt 8,11f in diesem Zusammenhang s. KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 218–224.
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jeweils die besondere Größe des Glaubens besteht, als zwei parallele Erzählungen.
4. Resümee und Folgerungen: Die Rede vom Glauben in Heilungsgeschichten und der Glaube der Jünger Überblickt man den voranstehenden Durchgang durch die relevanten Texte, zeigt sich in mehrfacher Hinsicht ein gezielter Gestaltungswille des Evangelisten. Festzuhalten ist erstens, dass die matthäische Rede vom Glauben in den Heilungserzählungen von der in 18,6 (und 27,42) ansichtig werdenden Tendenz zur Betonung des personalen Bezugs des Glaubens nicht völlig unberührt ist. Zwar ist hier noch nicht, wie sich dies in 18,6 andeutet, im umfassenderen Sinn eine personale Bindung an Jesus im Blick, doch geht es auch hier insofern um Glauben an Jesus, als die Glaubenden ihr Vertrauen nicht auf eine abstrakte Wundermacht oder die Fähigkeit irgendeines Wunderheilers, sondern eben auf die Person Jesu richten und dabei das auf Jesus gerichtete Vertrauen mit dem Glauben einhergeht und von ihm getragen wird, dass Jesus aus einer ihm von Gott verliehenen Vollmacht heraus handelt. Das Glaubensmotiv in den Heilungsgeschichten kann daher nicht unabhängig von der christologischen Dimension verhandelt werden, die Matthäus dem heilenden Wirken Jesu beigemessen hat. Genauer: Glaube ist hier mit der christologischen Erkenntnis verbunden, dass Jesus der davidische Messias ist, in dem sich die Heilshoffnungen Israels erfüllen und der auch den Völkern das Heil bringt.87 Ersteres bildet den Kulminationspunkt der Glaubensperikopen in Mt 9; Letzteres ist das bestimmende Motiv in den beiden ‚Rahmentexten‘ in 8,5–13; 15,21–28. Auch Mat-
87 ௗDie These von HELD, Interpret (s. Anm. 2), 264 zur Rede vom Glauben im Zusammenhang der Wundergeschichten, dass der Glaube „nicht die Anerkennung der Christuswürde Jesu“ bedeute, lässt sich für das Matthäusevangelium nicht halten. Im Blick auf den historischen Jesus wird man zwar schwerlich mit der Kategorie der Messiaswürde operieren können (zu dieser Frage s. M. KONRADT, Stellt der Vollmachtsanspruch des historischen Jesus eine Gestalt „vorösterlicher Christologie“ dar?, ZThK 107 [2010], 139–166), doch gilt mutatis mutandis auch hier, dass der Glaube mehr meint als das Vertrauen in die Fähigkeiten eines Wunderheilers. Vielmehr ist für den historischen Jesus im Lichte seiner eigenen Interpretation seines heilenden Handelns in Q 11,20 zu folgern, „that faith is more specifically the confidence and conviction that God’s reign, and its salvific power, is made manifest in Jesus’ deeds“ (KONRADT, Faith [s. Anm. 18], 692, vgl. F. HAHN, Das Verständnis des Glaubens im Markusevangelium, in: Glaube im Neuen Testament [FS H. Binder], hg. v. F. Hahn – H. Klein, BThSt 7, Neukirchen-Vluyn 1982, 43–67: 55; SÖDING, Glaube [s. Anm. 2], 52 mit Anm. 74).
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thäus verbindet somit mit dem Glaubensthema das Motiv, dass nicht die Herkunft über die Heilszuwendung entscheidet (vgl. auch 3,9), sondern der Glaube.88 Zweitens ist auf den eingangs aufgeworfenen kompositorischen Befund zurückzukommen, dass Matthäus seine Quellen so bearbeitet (und kompositionell platziert) hat, dass alle Texte, in denen Jesus Menschen, die ihn um Hilfe ersuchen, Glauben bescheinigt, zwischen 4,17 und 16,20 stehen. Von 16,21 an kommt das Glaubensmotiv – vom Konflikt mit den Autoritäten (21,25.32; 27,42) abgesehen – nur noch in ekklesialer Ausrichtung bzw. mit Bezug auf die Jünger vor. Die Rede von „diesen Geringen, die an mich glauben (… IJȞ ȝȚțȡȞ IJȠIJȦȞ IJȞ ʌȚıIJİȣંȞIJȦȞ İੁȢ ਥȝ)“ in 18,6 bezieht sich auf in ihrer christlichen Lebensorientierung noch ungefestigte Gemeindeglieder.89 18,6 steht zur Seite, dass bei den beiden Versionen des Logions vom Berge versetzenden Glauben in 17,20 und 21,21f (wie im Übrigen auch bei den Warnungen in 24,23.26) jeweils die Jünger adressiert sind. 17,20 führt zugleich das Thema des Kleinglaubens der Jünger weiter, das zuvor in 6,30 eingeführt und durch 8,26; 14,31 und 16,8 verstärkt worden ist. Die Konzentration der Rede vom Glauben auf die Jünger ab 16,21 korrespondiert der Akzentverlagerung in der Erzählung im Ganzen. In 16,21 beginnt Jesus den Jüngern aufzuzeigen, dass er sterben und auferweckt werden wird. Damit tritt zugleich die Unterweisung spezifisch der Jünger für die Zeit nach dem Weggang Jesu in den Vordergrund. Auch in der Heilungsgeschichte in 17,14–20 liegt das Hauptaugenmerk nicht mehr auf Jesu heilendem Handeln selbst, sondern auf der Rolle der Jünger angesichts der Abwesenheit Jesu, genauer: auf ihrem Unvermögen. 90 Schon deshalb hat Matthäus kein Interesse an dem Gespräch zwischen Jesus und dem Vater über den Glauben, sondern rückt den Glauben der Jünger ins Zentrum (17,17.20).91 Liest man die Perikope im Lichte von 9,2, muss man für Matthäus annehmen, dass für ihn der Glaube des Vaters – gänzlich ohne die Ambivalenz von Mk 9,22–24 – in seinen Worten in V.15 impliziert ist92, aber er wird nicht
88 Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 26), 25: „Faith conquers the separation between Jew and Gentile“. 89 Zur Deutung der Wendung auf noch ungefestigte Gemeindeglieder s. in diesem Band den Beitrag „‘Whoever humbles himself like this child …’. The Ethical Instruction in Matthew’s Community Discourse (Matt 18) and its Narrative Setting“, 387–389 (dort auch zu anderen Deutungen). 90 Das Motiv des (Un-)Vermögens der Jünger bildet den roten Faden in 17,14–20. Siehe die Klage des Vaters in 17,16 (Ƞț įȣȞșȘıĮȞ ĮIJઁȞ șİȡĮʌİ૨ıĮȚ), die Frage der Jünger in 17,19 (įȚ IJ ਲȝİȢ Ƞț įȣȞșȘȝİȞ ਥțȕĮȜİȞ ĮIJં;) und schließlich das abschließende Wort Jesu in 17,20 (țĮ ȠįȞ ਕįȣȞĮIJıİȚ ਫ਼ȝȞ). Vgl. HELD, Interpret (s. Anm. 2), 178. 91 Zum Bezug von 17,17 auf die Jünger und zum Verhältnis der Rede vom Kleinglauben in 17,20 zum Vorwurf des Unglaubens in der Klage in 17,17 s. KONRADT, Israel (s. Anm. 30), 258–260 und POPLUTZ, Glaube (s. Anm. 3), 42. 92 Ebenso z.B. HELD, Interpret (s. Anm. 2), 180.
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mehr eigens zum Thema. In 20,29–34 schließlich, der einzigen weiteren ausgeführten Heilungsgeschichte in 16,21–28,10, liegt das Augenmerk darauf, im Vorblick auf 21,9 noch einmal das Motiv der Davidsohnschaft Jesu vorzubringen. Auch hier hat Matthäus das Motiv des Glaubens des Bittstellers (Mk 10,52) übergangen. Übernommen wird am Ende der Erzählung allein die Rede von der Nachfolge, was wiederum gut zum genannten Fokus auf die Jüngerschaft passt. Im Blick auf den Glauben von Bittstellern an Jesus als dem heilenden Messias ist mit den fünf im zweiten und dritten Abschnitt untersuchten Texten zwischen 8,5 und 15,28 alles gesagt, was Matthäus in diesem Zusammenhang zum Ausdruck bringen wollte. 15,21–28 kann man dabei als Gipfelpunkt der narrativen Entfaltung des Motivs des Glaubens von Bittstellern ansehen. 8,5–13 hat das mit der ʌıIJȚȢ verbundene Motiv der Universalität des Heils eingeführt. 9,27–31 exponierte als Klimax der Thematisierung des Glaubens in Mt 9 die christologische Dimension des Bezugs des Glaubens auf Jesus als den heilenden davidischen Messias. 15,21–28 bindet beide Aspekte zusammen. Der kompositorische Befund ist nun drittens damit zu vernetzen, dass die Vorkommen von ʌıIJȚȢ im Blick auf den Glauben von Bittstellern in den Heilungsgeschichten, die Rede vom Kleinglauben der Jünger und die ihnen gegebene Verheißung, dass Glaube sogar Berge versetzen kann, sachlich an der Wurzel miteinander verbunden sind: Je auf ihre Weise geht es in allen Belegen um das auf Gott und auf Jesus gerichtete Vertrauen in ihre Macht, bewahrend, helfend und rettend einzugreifen. In den Heilungsgeschichten ist dieses Moment, wie gesehen, darauf konzentriert, dass die Bittsteller darauf vertrauen, dass Jesus als der davidische Messias, auf den auch die Völker ihre Hoffnung richten, die Heilsverheißungen, die die Überwindung von das Leben mindernden bzw. beeinträchtigenden Krankheiten einschließen93, erfüllt und sie zu heilen vermag. Bei denen, die in die Nachfolge eingetreten sind, sind die Situationen, in denen sich ihr Vertrauen zu zeigen vermag und sich zu bewähren hat, vielfältiger, und damit ist zugleich der Glaube selbst umfassender bestimmt. So geht es hier etwa auch um das Vertrauen darauf, dass für das zum Leben Notwendige gesorgt sein wird (6,30; 16,8), oder um das Vertrauen in ihre Bewahrung und Rettung (8,26) angesichts der Bedrängnisse, der die Nachfolger Jesu ausgesetzt sind (5,10–12; 10,16–39 u.ö.). Schließlich gehört in Korrespondenz dazu, dass den Jüngern mit ihrer Sendung aufgetragen ist, das Wirken Jesu fortzusetzen, dass ihnen als Glaubenden zugesprochen ist, selbst „Berge versetzen“, also wirkmächtig handeln zu können (17,20; 21,21f). Auch hier liegt zugrunde, dass Glaube Vertrauen in die Wirkmacht Gottes bzw. Jesu meint, nur gewinnt der Glaubende hier nicht für sich „Anteil an Christus und
93 Siehe die Rezeption von Jes 29,18f; 35,5f; 61,1 in Mt 11,4f sowie ferner Ez 34,16 und 4Q521 Fragm. 2 2; 2Bar 29,7; 73,2.
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seinen Wohltaten“94, sondern wird selbst zum Vermittler der Wohltaten des Messias. Mit dem in 16,21 eingeführten neuen Schwerpunkt der matthäischen Jesusgeschichte wird die Thematisierung des Glaubens auf diesen Aspekt des Glaubens der Jünger konzentriert. Dem grundlegenden Aspekt des Vertrauens sowohl in der Rede vom Glauben der Jünger wie der Bittsteller steht zur Seite, dass hier wie dort zum Glauben auch das noetische Moment der Erkenntnis der Vollmacht Jesu und damit seiner messianischen Würde gehört. Daraus, dass den Jüngern Verstehen (ıȣȞȚȞĮȚ) zugeschrieben wird oder sie zum Verstehen geführt werden95, sie aber dennoch kleingläubig sind, ist keineswegs zu folgern, dass dem Glauben überhaupt kein noetisches Moment innewohnt. 96 Vielmehr ist der spezifische Bezug des durch ıȣȞȚȞĮȚ formulierten noetischen Aspekts auf Jesu Gleichnisrede und seine lehrhafte Unterweisung zu beachten. Gegen eine völlige Ausklammerung des Erkenntnisaspekts aus dem Glaubensbegriff spricht nicht nur, dass der Unglaube der Nazarener in 13,53–58 mit ihrem Unverständnis über das „Woher“ der Vollmacht Jesu (13,54.56) verbunden ist97, sondern ebenso, dass der Kleinglaube der Jünger in 16,8–11 überwunden werden soll, indem Jesus sie an ihre Erfahrungen bei den Speisungen erinnert, damit sie diese Ereignisse verstehen98, d.h. begreifen, welche Vollmacht sich darin dokumentierte.99 Verstehen sie dies, erübrigt sich ihr kleingläubiger Blick darauf, dass sie keine Brote mitgenommen haben. Zugleich ist aber umgekehrt festzuhalten: Sosehr Glaube Verstehen voraussetzt und impliziert, sosehr geht der Glaubensbegriff weit über dieses hinaus und schließt, wie ausgeführt, das existentielle Moment des Vertrauens ein, des Sich-Einlassens und Sich-Verlassens auf Gott und auf Jesus. Kurz gesagt: Glaube ist Vertrauen auf Gottes respektive Jesu vollmächtiges Handeln und ihre heilvolle Gegenwart als gelebte Konsequenz aus der theologischen bzw. christologischen Erkenntnis. 100 94
HELD, Interpret (s. Anm. 2), 262. Siehe 13,11 sowie 13,23.51; 16,12; 17,13. 96 Anders BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 3), 105–108, der Verstehen und Glauben je für sich fasst. Glaube setze zwar Verstehen voraus (vgl. a.a.O. 108: „das ʌȚıIJİİȚȞ hat bei Mt. stets das ıȣȞȚȞĮȚ zur Voraussetzung und ist ohne dieses nicht möglich“), doch sei „die Erkenntnis der ਥȟȠȣıĮ Jesu […] kein Strukturmoment der ʌıIJȚȢ“ (106). „Das noetische Moment […] wird bei Mt. aus dem ʌıIJȚȢ-Begriff ausgeklammert und an das ıȣȞȚȞĮȚ überwiesen“ (ebd., vgl. ferner U. LUZ, Die Jünger im Matthäusevangelium, in: Das MatthäusEvangelium, hg. v. J. Lange, WdF 525, Darmstadt 1980, 377–414: 384; ZUMSTEIN, Condition [s. Anm. 2], 234). Der analytische Blick reißt hier auseinander bzw. etabliert als separate Größen, was bei Matthäus eng zusammengehört, wie die Beispiele im Folgenden illustrieren. 97 Vgl. dazu D.J. VERSEPUT, The Faith of the Reader and the Narrative of Matthew 13.53–16.20, JSNT 46 (1992), 3–24: 13. 98 Siehe die beiden Fragen ȠʌȦ ȞȠİIJİ … in 16,9 und ʌȢ Ƞ ȞȠİIJİ … in 16,11! 99 Vgl. VERSEPUT, Faith (s. Anm. 97), 19–21; BROWN, Disciples (s. Anm. 3), 105f. 100 Die Frage, wie Glaube entsteht, wird von Matthäus nicht verhandelt (hingegen betont KLEIN, Glaubensverständnis [s. Anm. 2], 36f.41 den Gabecharakter des Glaubens). Man 95
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Analog zum eben Gesagten gilt dabei auch hier: Bei den Jüngern geht es um umfassendere theologische und christologische Erkenntnisse als bei den Bittstellern. Sie haben Jesus nicht nur als messianischen Davidsohn, sondern als den „Christus, den Sohn des lebendigen Gottes“ (16,16, vgl. 14,33) erkannt, der an göttlicher Macht partizipiert, und sehen in ihm den zu Gott erhöhten Weltenherrn, der ihnen sein Mit-Sein zugesagt hat (28,20). Darauf sollen sie in allem, was das Leben in seiner Nachfolge mit sich bringt, vertrauen.101 Die Erzählungen von Heilungen, in denen der Glaube der Menschen, die sich an Jesus gewandt haben, nicht enttäuscht wurde, fungieren im Gesamtkontext betrachtet für die Adressaten als ermutigende Beispiele für das Vertrauen, dass man Matthäus zufolge zu Recht in Jesus setzen kann. Für die Jünger selbst sind aber andere Bereiche relevant. Der beobachtete kompositorische Befund bildet dies ab. Dies marginalisiert nicht die Bedeutung der oben behandelten Texte. Wohl aber tritt ihre dienende Funktion im Blick auf die Ermutigung der Jünger hervor. Darüber hinaus bleibt ihre Bedeutung im Blick auf den Zugang von Menschen aus den Völkern zum Heil festzuhalten: Der Glaube wird zum entscheidenden Moment für den Empfang des Heils.
kann nur im Lichte von 16,5–12 sagen, dass Matthäus davon ausgeht, dass Erinnerung an die Selbstevidenz des Wirkens Jesu Glauben zu fördern vermag. 101 Einzubeziehen ist hier die Schlussszene des Evangeliums: Als Jesus den elf Jüngern erscheint, zweifeln einige von ihnen (28,17, zur Deutung von Ƞੂ į s. P. VAN DER HORST, Once More: The Translation of Ƞੂ į in Matthew 28:17, JSNT 27 [1986], 27–30). Der Gebrauch von įȚıIJȗİȚȞ verbindet den Vers mit 14,31, wo die Rede vom Zweifel mit dem Motiv des Kleinglaubens verknüpft ist, das damit hier mit anklingt. In 14,28–31 hat der kleingläubige Petrus beim Blick auf den starken Wind an seiner Bevollmächtigung durch Jesus gezweifelt. Angesichts des Rückverweises wird man für 28,17 einen analogen Sinnhorizont vorauszusetzen haben: Der Zweifel bezieht sich hier nicht darauf, ob es Jesus ist, der ihnen begegnet, sondern darauf, was Jesu Auferweckung im Blick auf seine Stellung und für ihre – durch ihr Versagen in der Passion belastete – Jüngerschaft bedeutet. Das in 28,18–20 folgende Wort Jesu hat im Kontext daher auch die Funktion, den Zweifel der Jünger zu überwinden. Ihm ist alle Vollmacht im Himmel und auf Erden gegeben; die Jünger dürfen auf sein Mit-Sein mit ihnen vertrauen.
Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium Die Frage nach dem Verhältnis Jesu und seiner Verkündigung zur Tora im Matthäusevangelium wirft ein zentrales, vielverhandeltes und nach wie vor kontrovers beurteiltes Problem der Matthäusexegese auf. In verdichteter Weise stellt sich die Problematik bei der Auslegung der Antithesen in Mt 5,21–48 in der Frage, ob diese torakritisch oder auslegungskritisch zu lesen sind, d.h. ob sich Jesu Antithesen gegen Toragebote selbst richten1 oder gegen deren Verständnis in bestimmten jüdischen Strömungen. 2 Diesem Diskurs stehen andere Kontroversen zur Seite, z.B. über die Bedeutung der Rede von der Erfüllung von Tora und Propheten in Mt 5,17, die Geltung bzw. Relevanz von Sabbat- (vgl. Mt 12,1–14; 24,20) und Reinheitsbestimmungen (vgl. 1
Die Annahme, dass Matthäus in den Thesen Toragebote anführt bzw. anführen will, ist – bei z.T. erheblich divergierenden Interpretationen – Mehrheitsmeinung. Siehe für viele I. BROER, Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes. Ein Beitrag zur Theologie des Evangelisten Matthäus, SBS 98, Stuttgart 1980, 75–81; U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1.: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 330; D.C. SIM, The Gospel of Matthew and Christian Judaism. The History and Social Setting of the Matthean Community, Studies of the New Testament and Its World, Edinburgh 1998, 129; H.-J. ECKSTEIN, Die Weisung Jesu Christi und die Tora des Mose nach dem Matthäusevangelium, in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, hg. v. dems. – C. Landmesser – H. Lichtenberger, BZNW 86, Berlin – New York 1997, 379–403: 396–403; K.W. NIEBUHR, Die Antithesen des Matthäus. Jesus als Toralehrer und die frühjüdische weisheitlich geprägte Torarezeption, in: Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler), hg. v. C. Kähler – C. Böttrich – M. Böhm, Leipzig 1999, 175–200: 176f. 2 In diesem Sinne C. BURCHARD, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 27–50: 40–44; C. DIETZFELBINGER, Die Antithesen der Bergpredigt im Verständnis des Matthäus, ZNW 70 (1979), 1–15: 3; H.-W. KUHN, Das Liebesgebot Jesu als Tora und als Evangelium. Zur Feindesliebe und zur christlichen und jüdischen Auslegung der Bergpredigt, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Frankemölle – K. Kertelge, Freiburg – Basel – Wien 1989, 194–230: 213–218; J.D. CHARLES, Garnishing with the “Greater Righteousness”: The Disciple’s Relationship to the Law (Matthew 5:17-20), BBR 12 (2002), 1–15: 8. Vgl. zur Interpretation der Antithesen ferner T.R. BLANTON, Saved by Obedience: Matthew 1:21 in Light of Jesus’ Teaching on the Torah, JBL 132 (2013), 393–413: 406–409.
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Mt 15,1–20; 23,25f) oder über den genauen Sinn der Herausstellung des Doppelgebots der Liebe als Summe von Tora und Propheten in 22,34–40. Und nicht zuletzt kann man fragen, ob dem Matthäusevangelium im Blick auf die Tora überhaupt eine kohärente Position zu entnehmen ist.3 Tatsächlich sind in unterschiedlichen Textsegmenten verschiedene Akzentsetzungen zu vermerken.4 Gleichwohl lässt sich zeigen, dass sich in der matthäischen Erörterung der Gesetzesthematik ein einheitlicher Gestaltungswille manifestiert, der wesentlich dadurch geformt ist, dass sich die matthäische Gemeinde in einem von ihr selbst noch als innerjüdisch wahrgenommenen intensiven Konflikt mit der örtlichen pharisäisch dominierten Synagoge oder Synagogengemeinschaft befand5 und darin den Anspruch erhob, die legitime Sachwalterin des theologischen Erbes Israels6 zu sein. Dazu sind im Folgenden zunächst grundlegende Aspekte des matthäischen Ansatzes in Mt 5,17– 48 zu erörtern, bevor dann einige Gesetzeskontroversen Jesu mit seinen Gegnern hinzugezogen werden. Schließlich sind die sich ergebenden Daten knapp mit der sozialen Situation der matthäischen Gemeinde in Beziehung zu setzen, wie sie sich aus einer Gesamtlektüre des Evangeliums und historischen Rahmendaten ergibt.
1. Die Erfüllung von Tora und Propheten und die matthäischen Antithesen (Mt 5,17–48) 1.1 Die Grundsatzerklärung über „Gesetz und Propheten“ in 5,17–20 Nach den einleitenden Passagen der Seligpreisungen in 5,3–12 und der grundlegenden Exposition des Auftrags der Jünger, Licht der Welt zu sein, in 5,13–16, beginnt das Korpus der Bergpredigt (5,17–7,12) in 5,17–20 mit einer Grundsatzerklärung über Tora und Propheten.7 Schon die kompositori3 So konstatiert H.-J. ECKSTEIN, Die ‚bessere Gerechtigkeit‘. Zur Ethik Jesu nach dem Matthäusevangelium, ThBeitr 32 (2001), 299–316: 301 eine „eigenartige Widersprüchlichkeit in der Entfaltung der Lehre Jesu durch Matthäus“. Während 5,18f in Aufnahme einer konservativen judenchristlichen Tradition die grundsätzliche Gültigkeit aller Gebote proklamiere, zeige sich anderorts, dass „Matthäus und seine Gemeinde faktisch im Widerspruch – nicht nur zu Jota und Häkchen, sondern – zu entscheidenden Bestimmungen der Tora“ stehen (ebd.). 4 Vgl. unten S. 309. 5 Ausführlicher zum jüdischen Kontext des Matthäusevangeliums in diesem Band auf S. 3–42 der Beitrag „Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum“. 6 Vgl. ECKSTEIN, Weisung (s. Anm. 1), 399; P. LUOMANEN, Entering the Kingdom of Heaven. A Study on the Structure of Matthew’s View of Salvation, WUNT II.101, Tübingen 1998, 88. 7 Zur Gliederung der Bergpredigt vgl. BURCHARD, Versuch (s. Anm. 2), 48–50.
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sche Stellung von 5,17–20 als Eröffnung des Korpus der Bergpredigt und mithin als erste Aussage im Evangelium über Tora und Propheten verweist auf die hohe, ja programmatische Bedeutung, die Matthäus diesen Versen beimisst.8 Was Erfüllung von Tora und Propheten (V.17) konkret heißen soll9, erhellt zum einen die Korrespondenz von „erfüllen“ und „tun und lehren“ (V.19) als Oppositum zu „auflösen“10 (V.17.19), wobei im Kontext von V.18 der Ton auf die Lehre fällt11, die freilich entsprechendes Handeln eröffnen soll. Zum anderen ist aber im Lichte des sonstigen – christologisch orientierten – Gebrauchs von ʌȜȘȡȠ૨Ȟ im Matthäusevangelium eine spezifisch christologische Sinndimension mitzuhören. Matthäus’ Anliegen, Jesus von der Schrift her als den verheißenen Messias auszuweisen, hat sich bekanntlich in einer Reihe von für das Matthäusevangelium typischen ‚Erfüllungszitaten‘ niedergeschlagen.12 Das sich darin artikulierende Kontinuitätsmotiv prägt nun auch Matthäus’ Verständnis der Unterweisung Jesu und wird in 5,17 durch ʌȜȘȡıĮȚ signalisiert:13 Es geht Matthäus darum, Jesus in Kontinuität zur Kundgabe des 8
Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 308; K. SNODGRASS, Matthew and Law, SBLSP 27, Atlanta (GA) 1988, 536–554: 546; H. FRANKEMÖLLE, Die Tora Gottes für Israel, die Jünger Jesu und die Völker, in: Schrift und Tradition (FS J. Ernst), hg. v. K. Backhaus – F.G. Untergaßmair, Paderborn u.a. 1996, 85–118: 97; SIM, Gospel (s. Anm. 1), 126f. 9 ȆȜȘȡȠ૨Ȟ mit ȞંȝȠȢ oder ähnlichem als Objekt ist nicht häufig, aber doch vereinzelt belegt. Siehe frühjüdisch besonders TestNaf 8,7 (țĮ Ȗȡ Įੂ ਥȞIJȠȜĮ IJȠ૨ ȞંȝȠȣ įȚʌȜĮ İੁıȚ țĮ ȝİIJ IJȤȞȘȢ ʌȜȘȡȠ૨ȞIJĮȚ), ferner Sib 3,246; Philo, Praem 83, frühchristlich Röm 8,4; 13,8; Gal 5,14; (6,2). Nächste Verwandte im Matthäusevangelium selbst ist bekanntlich Mt 3,15. – Zur Vielzahl der Deutungsoptionen für ʌȜȘȡıĮȚ in Mt 5,17 s. die Übersicht bei W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 485f. 10 Vgl. BURCHARD, Versuch (s. Anm. 2), 39, der freilich einen darüber hinausgehenden semantischen Gehalt ausdrücklich ablehnt (vgl. unten Anm. 13). 11 Vgl. BROER, Freiheit (s. Anm. 1), 28. 12 Siehe Mt 1,22f; 2,15.17f.23; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,35; 21,4f; 27,9. Auch bei der einzigen weiteren aktivischen Verwendung des Verbs in 3,15 ist ein christologischer Sinnaspekt mitzuhören (vgl. in diesem Band „Die Taufe des Gottessohnes. Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium [Mt 3,13–17]“, 217). 13 BURCHARD, Versuch (s. Anm. 2), 39, Anm. 44 verweist zu Recht auf die semantische Differenz zwischen aktivischer Formulierung in Mt 3,15; 5,17 und passivischer in den Reflexionszitaten. Dies hindert aber nicht die Annahme, dass Matthäus in 5,17 ʌȜȘȡıĮȚ benutzt, um eine assoziative Verbindung zu den Reflexionszitaten herzustellen, die durch das Kontinuitätsmotiv als gemeinsamen Nenner inhaltlich charakterisiert ist. Umgekehrt missachtet die aus dem Gebrauch von ʌȜȘȡıĮȚ in 5,17 abgeleitete These von É. CUVILLIER, Torah Observance and Radicalization in the First Gospel. Matthew and First-Century Judaism: A Contribution to the Debate, NTS 55 (2009), 144–159: 149, dass es hier primär nicht um das Gesetz „understood as commandments“ ginge, sondern um „the ‚law and the prophets‘ as an expression of the will of God and hope for Israel“ (Hervorhebung von mir), nicht nur die Differenz zwischen der aktivischen und passivischen Verwendung des
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Rechtswillens Gottes in Tora und Propheten zu setzen14, freilich nicht bloß in der Gestalt, dass Jesus von der Tora her als mit ihr übereinstimmend ausgewiesen und legitimiert wird, sondern so, dass allererst Jesu Lehre Inhalt und Intention dieser Willenskundgabe Gottes in vollgültiger Weise ans Licht gebracht und damit aufgerichtet hat.15 Jesus tut und lehrt die Tora also nicht wie andere vor und neben ihm auch, sondern Jesus ist aufgrund seines direkten, intimen Vertrautseins mit dem Willen des Vaters (11,27) für Matthäus der eine, der den Menschen den Willen Gottes auf der Basis von Tora und Propheten in rechter, letztgültiger Weise und mit höchster Autorität dargelegt (und vorgelebt) hat16 (vgl. 23,10). Die Tora ist damit nicht in Jesu Weisung – im doppelten Wortsinn – ‚aufgehoben‘17, wie schon die späteren Rekurse auf alttestamentliche Gebote im Matthäusevangelium belegen (s. 15,4; 19,18f; 22,37–40). Im Gegenteil: Es geht um das wahre Erschlossensein des Israel in der Schrift, in Tora und Propheten, verkündigten Willens Gottes in der Unterweisung Jesu. Mit anderen Worten: Jesus erfüllt Tora und Propheten, in-
Verbs, sondern auch den differenzierten matthäischen Gebrauch der Wendungen „Gesetz und Propheten“ einerseits (5,17; 7,12; 22,40) und „Propheten und Gesetz“ andererseits (11,13, vgl. dazu unten Anm. 22). 14 Vgl. A.J. MAYER-HAAS, „Geschenk aus Gottes Schatzkammer“ (bSchab 10b). Jesus und der Sabbat im Spiegel der neutestamentlichen Schriften, NTA NF 43, Münster 2003, 473.481 (zur Gegenposition s. unten S. 302). – Dass in 5,17 von der Erfüllung von Tora oder Propheten die Rede ist und die Wendung „Tora und Propheten“ noch zweimal im Matthäusevangelium im Kontext der Thematisierung des Willens Gottes wiederkehrt (7,12; 22,40), zeigt an, dass es nicht nur um die Gebote in der Tora, sondern umfassender um den in der Schrift laut werdenden Willen Gottes geht. 15 Vgl. G. BARTH, Das Gesetzesverständnis des Evangelisten Matthäus, in: G. Bornkamm – G. Barth – H.J. Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen-Vluyn 71975, 54–154: 64. 16 Vgl. MAYER-HAAS, Geschenk (s. Anm. 14), 471.480; SIM, Gospel (s. Anm. 1), 124. 17 Anders R. BANKS, Jesus and the Law in the Synoptic Tradition, MSSNTS 28, Cambridge – New York 1975, 218; F. THIELMAN, The Law and the New Testament. The Question of Continuity, New York 1999, 49.69–72 („Jesus’ own teaching is a replacement of the Mosaic law. Jesus’ own words, including his affirmation of the Mosaic law’s ultimate goal and many of its specific requirements, constitute not a new interpretation of the Mosaic law but a supersession of it“ [69]) und R. DEINES, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2005, 400.434 (Der Weg zur Gerechtigkeit führt „über Jesus und damit über Kreuz und Auferstehung [...] [3,15; 21,32]. Die Tora in ihrer alten Funktion kann zu dieser eschatologischen Gerechtigkeit nichts beitragen, sie bleibt aber erhalten und gültig in den ਥȞIJȠȜĮ Jesu [...]. Sie bleibt als erfüllte gegenwärtig, aber der Weg in die universale Basileia führt nicht über sie, sondern über Jesus“ [434, Hervorhebungen im Original].), auch wenn Deines die Rede von einer Aufhebung meidet bzw. – offenbar bezogen auf den einfachen Wortsinn – ausdrücklich verneint (z.B. a.a.O., 392).
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dem er die ‚Fülle‘ des Gebotenen aufweist und in seinem Leben selbst verwirklicht.18 Die grundsätzliche Aussage von 5,17 wird in V.18 und V.19 in doppelter Hinsicht konkretisiert. Zum einen wird durch V.18 die umfassende Geltung der Tora bekräftigt. Kontroversen entzünden sich in der Auslegung an der Deutung der beiden ਪȦȢ-Phrasen in Mt 5,18b.d und ihrem Verhältnis zueinander. V.18d auf die ‚Erfüllung‘ der Forderungen der Tora durch Jesus19 oder auf Wirken, Tod und Auferstehung Jesu zu beziehen20, hat V.18b dezidiert gegen sich und setzt ferner eine nicht haltbare Interpretation von ʌȜȘȡıĮȚ in Mt 5,17 voraus. Anders gesagt: Nach V.18b kann sich ਪȦȢ ਗȞ ʌȞIJĮ ȖȞȘIJĮȚ ebenfalls nur auf das Ende der Welt beziehen (vgl. Mt 24,34f). Die beiden ਪȦȢ-Phrasen in Mt 5,18b.d sind also sachlich identisch.21 Kein Iota oder Häkchen wird, solange diese Welt existiert, vergehen.22 Dabei liegt der Ton nicht auf der Beschränkung der Geltung bis zum Weltende, sondern auf der uneingeschränkten Gültigkeit bis dahin.23 Zum anderen aber wird mit der Rede von Iota und Häkchen und – darauf rückbezogen – von ਥȞIJȠȜĮ
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M. VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“. Matthäus im halachischen Diskurs, WMANT 95, Neukirchen-Vluyn 2002, 236–243 gelangt zu einem ähnlichen Verständnis, indem er den Bildgehalt des Wortes als Ausgangspunkt nimmt: „[Ȇ]ȜȘȡંȦ lässt vor dem Auge eines griechischsprachigen Lesers das Bild eines Gefäßes entstehen, das mit einem bestimmten Inhalt gefüllt wird.“ 19 So z.B. BANKS, Jesus (s. Anm. 17), 217. 20 In diesem Sinn z.B. J.P. MEIER, Law and History in Matthew’s Gospel. A Redactional Study of Mt 5:17–48, AnBib 71, Rom 1976, 63f. 21 Vgl. zur Deutung der ਪȦȢ-Phrasen in Mt 5,18 DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 9), 490.494f; SIM, Gospel (s. Anm. 1), 124–126. 22 Die Deutung von 5,17f, dass Jesu Weisung die Tora überbiete bzw. „aufhebe“, kann sich gerade nicht auf Mt 11,13 berufen, denn Matthäus kennzeichnet hier durch ਥʌȡȠijIJİȣıĮȞ ausdrücklich, in welcher Hinsicht „alle Propheten und das Gesetz“ (nur) bis Johannes reichen. Es geht hier gerade nicht wie in 5,17 um Gottes Rechtswillen. 11,13 trägt daher zum Verständnis von 5,17 nichts Wesentliches bei (gegen MEIER, Law [s. Anm. 20], 85–89; DEINES, Gerechtigkeit [s. Anm. 17], 277–279). ਫʌȡȠijIJİȣıĮȞ dürfte dabei ebenso wie die – von Mt 5,17; 7,12; 22,40 abweichende (!) – Reihenfolge von „alle Propheten und das Gesetz“ auf matthäischer Redaktion basieren (vgl. die Rekonstruktion des Q-Textes in: J.M. ROBINSON – P. HOFFMANN – J.S. KLOPPENBORG [Hg.],The Critical Edition of Q, Hermeneia, Minneapolis – Leuven 2000, 464). Das heißt: Matthäus meidet gerade die allgemeine Aussage „das Gesetz und die Propheten (sind) bis Johannes“, weil sie in einem mit Mt 5,17 unvereinbaren Sinn verstanden werden könnte (gegen R. BANKS, Matthew’s Understanding of the Law. Authenticity and Interpretation in Matthew 5:17-20, JBL 93 [1974], 226–242: 236f). 23 Ebenso VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“ (s. Anm. 18), 244: Matthäus nennt „hier keinen Endpunkt für die Geltung der Tora […], er betont vielmehr ihre gegenwärtige und zukünftige Gültigkeit.“
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ਥȜȤȚıIJĮȚ24 eine Gewichtung unter den Geboten deutlich: Es gibt kleine und große Gebote.25 Diese beiden Aussagen bilden, wie noch deutlich werden wird, einen Gesamtzusammenhang, der im Matthäusevangelium von dem Konflikt der Gemeinde mit dem pharisäischen Gegenüber her sein spezifisches Kolorit erhält. Nach 5,19 wird nun der, der eines der kleinen Gebote auflöst und die Menschen entsprechend lehrt, der Kleinste genannt werden im Himmelreich. Da Matthäus die gelegentlich in der frühjüdischen und später auch in der rabbinischen Literatur begegnende Vorstellung kennt, dass es im Himmelreich unterschiedliche Ehrengrade gibt26, ist ਥȜȤȚıIJȠȢ țȜȘșıİIJĮȚ ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ IJȞ ȠȡĮȞȞ schwerlich bloß rhetorische Finesse, die sich dem Versuch verdankt, den Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen durch Aufnahme eines Wortes aus dem Vordersatz im Nachsatz zu unterstreichen, und faktisch Ausschluss vom Heil besagt27, sondern tatsächlich beim Wort zu nehmen: Dem, der kleine Gebote außer Acht lässt bzw. sie gar in der Lehre für obsolet erklärt, bleibt der Zugang zum Himmelreich nicht versperrt, aber ihm wird in diesem weniger Ehre zuteil.28 Die Alternative von Heilsteilhabe und – ausschluss begegnet erst im Zusammenhang der Gegenüberstellung der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer einerseits mit der von den Jün24 Siehe das hinzugesetzte Demonstrativpronomen. „Iota und Häkchen“ wird also durch ਥȞIJȠȜĮ ਥȜȤȚıIJĮȚ epexegesiert. – Anders D. SCHELLONG, Christus fidus interpres Legis. Zur Auslegung von Mt 5,17-20, in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, hg. v. C. Landmesser – H. Lichtenberger – H.-J. Eckstein, BZNW 86, Berlin – New York 1997, 659–687: 670f: Iota und Häkchen meinten den genauen Sinn der Gebote. DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 17), 403 bezieht ਥȞIJȠȜĮ in Mt 5,19, wie einige andere vor ihm, auf „die den Jüngern anvertrauten Gebote Jesu, in denen kein Jota von der ‚Tora‘ versäumt worden ist“. Mit Recht gegen diesen Ansatz z.B. DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 9), 496. Im Übrigen spricht auch 28,20 nicht substantiviert von den Geboten Jesu. Vielmehr beziehen sich alle weiteren Belege von ਥȞIJȠȜ im Matthäusevangelium auf Toragebote (15,3; 19,17; 22,36.38.40). 25 Vgl. die redaktionelle Rede von der ȝİȖޠȜȘ ਥȞIJȠȜ in 22,(36).38 (vgl. LUOMANEN, Kingdom [s. Anm. 6], 84)! 26 Siehe Mt 5,12; 11,11; 10,41f; 18,1–4; 20,23. Jüdisch 4Esra 8,49; 10,57; 2Hen 44,5, Rabbinisches bei H.L. STRACK – P. BILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 1: Das Evangelium nach Matthäus, München 1922, 249f; Bd. 4.2: Exkurse zu einzelnen Stellen des neuen Testaments, München 1928, 1138–1143. 27 Gegen E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 4[16]1986, 62; M. GIELEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, BBB 115, Bodenheim 1998, 67f.81f; LUOMANEN, Kingdom (s. Anm. 6), 85; D. SIM, Are the least included in the kingdom of heaven? The meaning of Matthew 5:19, HTS 54 (1998), 573–587, bes. 583f. 28 Ist der Vers im dargelegten Sinn zu verstehen (vgl. exemplarisch BROER, Freiheit [s. Anm. 1], 52f), spricht sich hier eine gemäßigte judenchristliche Position aus (vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 [s. Anm. 1], 317f). Ähnliches findet sich dann etwas später in der Didache (Did 6,2f).
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gern erwarteten „besseren Gerechtigkeit“ andererseits in V.20. Der Toragehorsam der Schriftgelehrten und Pharisäer muss demnach größere Defizite aufweisen als im Fall der Auflösung von kleinen Geboten in V.19: Sie bleiben hinter der Forderung Gottes zurück, die in den ‚großen Geboten‘ an den Menschen ergeht.29 Explizit tritt der in 5,20 enthaltene Vorwurf zum Beispiel in 23,23 zutage: Die Schriftgelehrten und Pharisäer nehmen es zwar mit dem Verzehnten ganz genau – ein kleines Gebot –, vernachlässigen aber das Wichtigste im Gesetz30, nämlich Recht, Barmherzigkeit und Treue.31 Die Konsequenz eines solchen unzulänglichen Toraverständnisses ist eine Torapraxis, die zu einem unzureichenden Gerechtigkeitsniveau führt. Die Jünger müssen dies besser machen, d.h. ihre Gerechtigkeit muss die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übertreffen, wenn sie in das Himmelreich eingehen wollen. Dazu muss ihnen der in den ‚großen Geboten‘ laut werdende Gotteswille in seinem Vollsinn erschlossen werden. 5,21–48 führt dies aus. 1.2 Mt 5,17–20 und die Antithesen in 5,21–48 Mit den programmatischen Aussagen in 5,17–20 hat Matthäus den Antithesen eine Leseanweisung vorangestellt. Vertreten wird freilich vielfach, dass diese Leseanweisung mit der ursprünglichen Stoßrichtung der Antithesen in Spannung stehe32, denn hier stelle Jesus seine Autorität über die der Tora.33 Vorausgesetzt wird dabei, dass die Antithesenform nicht aus der Feder des
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Anders BROER, Freiheit (s. Anm. 1), 62, nach dem es „der Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten [...] in der Lehre am Festhalten an Jota und Häkchen und diesen kleinsten Geboten“ mangelt (ähnlich LUOMANEN, Kingdom [s. Anm. 6], 85, der in 5,20 die Kritik an den Schriftgelehrten und Pharisäern expliziert sieht, die in 5,19 impliziert sei). Solcher Mangel führt nach V.19 aber nicht zum Ausschluss vom Heil. 30 Die Rede von IJ ȕĮȡIJİȡĮ IJȠ૨ ȞંȝȠȣ geht, wie ihr Fehlen in der lukanischen Parallele (Lk 11,42) nahelegt, auf matthäische Redaktion zurück. Das diachrone Profil des Textes unterstreicht also die Relevanz der Unterscheidung von großen und kleinen Geboten für den ersten Evangelisten. 31 Missverstanden ist die matthäische Sicht der Tora m.E. bei DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 17), 269f, wenn er den im Evangelium erzählten Konflikt zwischen Jesus und den Schriftgelehrten und Pharisäern zur von ihm postulierten Spannung zwischen Jesus und der Tora analog setzt und die Schriftgelehrten und Pharisäer ohne Einschränkungen zu Vertretern der Tora macht. Matthäus wirft den Schriftgelehrten und Pharisäern gerade vor, die Tora nicht zu verstehen. Siehe dazu noch im Folgenden. 32 Pointiert D. ZELLER, Jesus als vollmächtiger Lehrer (Mt 5–7) und der hellenistische Gesetzgeber, in: Studien zum Matthäusevangelium (FS W. Pesch), hg. v. L. Schenke, SBS, Stuttgart 1988, 299–317: 303: Die Verse 5,17ff „stehen [...] in krassem Widerspruch zu 5,21–48“. 33 Vgl. exemplarisch J. YUEH-HAN YIEH, One Teacher. Jesus’ Teaching Role in Matthew’s Gospel Report, BZNW 124, Berlin – New York 2004, 34f.
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Evangelisten stammt. Folgt man der „Normalhypothese“34, hat Matthäus die erste, zweite und vierte Antithese als solche in seinem Sondergut vorgefunden und nach diesem Vorbild die übrigen drei, zu denen synoptische Parallelen ohne antithetische Einkleidung vorliegen, redaktionell gestaltet. Eine – m.E. zwingende – Modifikation erfährt diese These zuweilen durch die Beobachtung, dass das Schwurverbot in der vierten Antithese zwar keine synoptische Parallele besitzt, wohl aber eine enge Verwandte in Jak 5,12, wiederum nicht in Antithesenform, die vielmehr auch hier sekundär ist.35 Damit bleiben als möglicherweise genuine Antithesen nur die ersten beiden, in denen die ersten beiden Dekaloggebote der zweiten Tafel aufgenommen sind.36 Gerade in diesen wird in Jesu Position allerdings in keiner Weise ein Gegensatz zu den Dekaloggeboten laut. Es handelt sich hier vielmehr um extensive Auslegungen der Gebote nach dem Muster ‚nicht erst, sondern schon‘37, die deren Sinngehalt gegenüber einem bloß buchstäblichen Verständnis ausdehnen. Das Tötungsverbot umschließt demnach auch wesentlich harmlosere Manifestationen des Zorns wie die Benutzung von Verbalinjurien; das vom Ehebruchverbot inkriminierte Verhalten wird auf das bloße begehrliche Anblicken einer anderen Ehefrau hin ausgeweitet. 38 Jesu Weisungen schließen dabei an Tendenzen der frühjüdischen Toraparänese an39, die intensiv vor dem Zorn warnte40 und dem Problem des Ehebruchs an die Wurzel zu
34
Zur Bezeichnung s. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 326. Zu weiteren Hypothesen s. a.a.O., 326f. 35 Auf dieser Linie auch G. DAUTZENBERG, Ist das Schwurverbot Mt 5,33–37; Jak 5,12 ein Beispiel für die Torakritik Jesu?, BZ NF 25 (1981) 47–66: 52.61; B. KOLLMANN, Das Schwurverbot Mt 5,33–37/Jak 5,12 im Spiegel antiker Eidkritik, BZ NF 40 (1996), 179– 193: 189f u.a. Für die Ursprünglichkeit der Antithesenform dagegen G. STRECKER, Die Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21–48 par), ZNW 69 (1978), 36–72: 58.62. 36 Siehe dagegen das Postulat einer redaktionellen Herkunft aller Antithesen bei I. BROER, Die Antithesen und der Evangelist Matthäus. Versuch, eine alte These zu revidieren, BZ NF 19 (1975), 50–63; M.J. SUGGS, The Antitheses as Redactional Products, in: Essays on the Love Commandment, hg. v. L. Schottroff u.a., Philadelphia 1978, 93–107. Eine sichere Entscheidung ist nicht möglich, doch ist die These einer redaktionellen Herkunft der antithetischen Einkleidung auch in 5,21–30 eine mehr als nur bedenkenswerte Option. Siehe dazu M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 79f. 37 Vgl. R. HUMMEL, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium, BEvT 33, München 1963, 72; BROER, Antithesen (s. Anm. 36), 59. 38 Ausführlich zur Deutung von Mt 5,22 und 5,28 s. in diesem Band „Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium“, 319–337. 39 Vgl. dazu für die Antithesen im Ganzen NIEBUHR, Antithesen (s. Anm. 1), 181–198; KONRADT, Evangelium (s. Anm. 36), 80–99 sowie speziell zu 5,21–30 KONRADT, Rezeption (s. Anm. 38). 40 Siehe als Modellfall die TestXII, genauer: TestSim 4,8; TestJuda 14,1; TestDan passim (1,3: Der Zorn lehrt den Menschen alles Übel); TestGad 5,1. Ferner Sir 1,22f; 10,18; 27,30; 4Makk 2,16; PsSal 16,10; PseudPhok 57; Sib 3,377 u.ö.
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gehen suchte, indem sie den Blickkontakt ‚ins Visier nahm‘41 – natürlich in der Meinung, damit nichts anderes als Gottes Willen in der Tora zu vergegenwärtigen. Will man die ersten beiden Antithesen auf den historischen Jesus zurückführen, kann man sagen, dass Jesus hier im Blick auf das Verbot des Tötens und des Ehebrechens das, was in der – weisheitlich geprägten – frühjüdischen Toraparänese als Entfaltung der Tora erscheint, zum einen weiterführt und zuspitzt und zum anderen explizit einem bloß buchstäblichen Verständnis der Gebote entgegensetzt, welches das, was unterhalb der Schwelle des ausdrücklich Verbotenen liegt, nicht in den Blick nimmt und damit Gefahr läuft, dieses als einen ethischen Freiraum erscheinen zu lassen.42 Die Toragebote werden damit aber gerade nicht „aufgelöst“, sondern – im Horizont des Gottesreiches43 – neu in Geltung gesetzt. Für Matthäus bedeutet dies: 5,17–20 dient nicht einer judenchristlich-konservativen Domestizierung einer dezidiert torakritischen Position Jesu, im Gegenteil: Der in 5,17 laut werdende Anspruch, Tora und Propheten zu erfüllen, fügt sich der Autorität Jesu, wie sie in den ersten beiden, möglicherweise traditionellen Antithesen beansprucht wird, nahtlos ein. Entscheidend für das Verständnis von Mt 5,21–48 ist freilich nicht die diachron orientierte Frage, wie sich 5,17–20 zur Rolle der Tora in den möglicherweise dem Evangelisten überkommenen Antithesen verhält, sondern die, wie Matthäus die Thesen verstanden hat, konkret: ob Matthäus mit den Thesen Sätze der Tora vorbringen wollte? Fragt man, ob bzw. inwiefern die Thesen mit alttestamentlichen Geboten im Wortlaut übereinstimmen, ergibt sich, wie Christoph Burchard gezeigt hat44, ein komplexer Befund: Eine (nahezu) wörtliche Wiedergabe liegt nach dem Dekalogverbot des Ehebruchs nur noch in der fünften Antithese beim Vergeltungsverzicht vor, wo gleich mehrere alttestamentliche Passagen als Referenz in Frage kommen, es sich freilich nur um ein Satzfragment handelt. Alle anderen Thesen stehen so nicht in der Siehe vor allem TestIss 7,2 (ʌȜȞ IJોȢ ȖȣȞĮȚțંȢ ȝȠȣ Ƞț ȖȞȦȞ ਙȜȜȘȞ. Ƞț ਥʌંȡȞİȣıĮ ਥȞ ȝİIJİȦȡȚıȝ ੑijșĮȜȝȞ ȝȠȣ) sowie TestBenj 6,3; 8,2 sowie die ‚Reflexion‘ über die Unzuchtssünde Rubens in TestRub 3,10–6,4. 42 Vgl. R. FELDMEIER, Verpflichtende Gnade. Die Bergpredigt im Kontext des ersten Evangeliums, in: „Salz der Erde“. Zugänge zur Bergpredigt, hg. v. dems., BThS 14, Göttingen 1998, 15–107: 46f. – Dass eine solche Konsequenz zu ziehen, nicht frühjüdischer Torainterpretation entspricht, zeigt exemplarisch schon ein Blick auf die paränetische Form der Toravergegenwärtigung in den TestXII. Das schließt aber nicht aus, dass Matthäus den Schriftgelehrten und Pharisäern ein solches Missverständnis polemisch unterstellt. 43 Zum Reich Gottes als Horizont und Ermöglichungsgrund der Forderungen s. unten S. 301. 44 Siehe BURCHARD, Versuch (s. Anm. 2), 40f, ferner D. SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft. Die Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21–48) und die Verkündigung Jesu, in: Christlicher Glaube und religiöse Bildung (FS F. Kriechbaum), hg. v. H. Deuser – G. Schmalenberg, GSTR 11, Gießen 1995, 75–109: 84f. 41
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Tora. In der ersten Antithese wird zunächst das Tötungsverbot aus dem Dekalog zitiert und daran eine Strafbestimmung angefügt, die mit der Tora im Einklang, aber so nicht in ihr steht. Auf Mord steht nach Ex 21,12; Lev 24,17 die Todesstrafe45; eine engere Anlehnung von Mt 5,21 daran ist nicht zu verzeichnen. Die dritte These, man solle der Frau bei der Scheidung eine Scheidungsurkunde ausstellen, ist überhaupt kein alttestamentliches Gebot, basiert aber auf alttestamentlichem Material, nämlich auf Dtn 24,1–4, wo en passant die Ausstellung einer Scheidungsurkunde erwähnt ist. Auch die vierte These steht nicht annähernd so im AT, wieder gibt es aber Gebote, die als Hintergrund aufgerufen werden können.46 Besonders instruktiv ist die sechste These, in der das Liebesgebot Lev 19,18 zum einen unvollständig zitiert, zum anderen – wie das Tötungsverbot in Mt 5,21 – mit einem Zusatz versehen wird. Es wäre angesichts der guten Schriftkenntnisse des Evangelisten abwegig zu behaupten, er hätte nicht gewusst, dass das so nicht in der Tora steht, zumal er das Liebesgebot später noch zweimal korrekt zitiert. Kurzum: Matthäus geht sicher nicht davon aus, dass er in den Thesen durchgehend Toragebote im Wortlaut zitiert hat. 5,43 spricht zugleich dezidiert gegen die Option, dass die Thesen als Toraparaphrasen zu verstehen sind, mit denen Matthäus das in der Tora Gebotene mehr oder weniger frei wiederzugeben suchte. Andernfalls müsste man nämlich postulieren, dass Matthäus in 5,43f das Gebot kritisiert, dessen Befolgung 19,19 zufolge zu den Bedingungen der Erlangung des ewigen Lebens zählt und das in 22,34–40 zusammen mit dem Gebot der Gottesliebe zum Hauptgebot erklärt wird.47 Anders gesagt: Die Entgegensetzung von Nächstem und Feind ist für Matthäus nicht im Gebot selbst enthalten, sondern wird durch eine Fehlinterpretation in das Gebot eingetragen; Jesu Gegenthese dient entsprechend dazu, die Fehlinterpretation zurückzuweisen und die wahre Bedeutung des Gebots aufzuweisen: Das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ gilt auch und gerade gegenüber dem Feind. Dass es in 5,21–48 nicht um eine Kritik an den Geboten selbst gehen kann, tritt zudem auch im Blick auf die Dekaloggebote in 5,21.27 durch die erneuten Rekurse auf diese in 15,19 und 19,18 zutage. Ist vom Gesamtkontext des Matthäusevangeliums her auszuschließen, dass der Evangelist in den Thesen Torazitate oder Toraparaphrasen gesehen hat, so erschließt sich das matthäische Verständnis der Thesen von der Anbindung von 5,21–48 an 5,20 her. 5,20 fungiert, wie vielfach vermerkt wurde, als eine
45
Siehe auch Gen 9,6; Num 35,16–34; Dtn 19,11–13. Namentlich Ex 20,7; Lev 19,12; Sach 8,17 für Mt 5,33b sowie Num 30,3; Dtn 23,22; Ps 50,14 für Mt 5,33c. 47 Vgl. dazu W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 3, ICC, Edinburgh 1997, 243. 46
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Art Obersatz zum Folgenden.48 Dies gilt allerdings nicht nur insofern, als durch Jesu Gegenthesen die von den Jüngern erwartete „bessere Gerechtigkeit“ materialiter konkretisiert wird. Zugleich nämlich wird in den Thesen die unzulängliche Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer entfaltet, d.h. die kompositorische Funktion von 5,20 ist konsequenter zu fassen, als dies gemeinhin geschieht. Obersatz ist der Vers in beiden Gliedern, und die Antithesen als Ganze explizieren exemplarisch die Forderung von 5,20, indem sie in These und Gegenthese die den jeweiligen Gerechtigkeitsniveaus von 5,20 zugrundeliegenden Torainterpretationen einander gegenüberstellen. In den Thesen geht es also nicht einfach um die Tora, sondern um die Tora in ihrem Verständnis durch die Schriftgelehrten und Pharisäer49, wobei anzufügen ist, dass die Thesen damit nicht zu historisch verwertbaren Quellen für das Gesetzesverständnis der Pharisäer werden50; sie sind vielmehr Teil einer polemischen Auseinandersetzung. Dieser Interpretationsansatz wird dadurch untermauert, dass Matthäus in der letzten Antithese durch IJ ʌİȡȚııާȞ ʌȠȚİIJİ; (V.47) einen Rückverweis auf ʌİȡȚııİıૉ in 5,20 geschaffen hat. Jesu Gegenthese formuliert das, was die Jünger in ihrer Befolgung des Willens Gottes gegenüber den Schriftgelehrten und Pharisäern auszeichnen soll. Dem vorgeschlagenen Verständnis der Thesen fügt sich ferner ein, dass mit der Ausnahme von 5,31, die aber durch die unmittelbare Fortführung der zweiten Antithese zu erklären ist, die antithetische Formel nie ਥȡȡșȘ – ਥȖઅ į ȜȖȦ ਫ਼ȝȞ lautet, sondern stets ݗțȠުıĮIJİ IJȚ ਥȡȡșȘ (IJȠȢ ਕȡȤĮȠȚȢ) – ਥȖઅ į ȜȖȦ ਫ਼ȝȞ. ਫȡȡșȘ steht parallel zu IJઁ ૧ȘșȞ in den Erfüllungszitaten, verweist also auf die Schrift bzw. auf die hinter der Tora stehende Autorität Gottes51; mit den „Alten“ ist entsprechend die Sinaigeneration gemeint. In dem einleitenden țȠıĮIJİ steckt aber eine Relativierung, die am einfachsten so zu erklären ist, dass hier die sabbatliche syna-
48 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 319; SIM, Gospel (s. Anm. 1), 130f u.a. 49 Auf dieser Linie auch HUMMEL, Auseinandersetzung (s. Anm. 37), 50.70–75; BURCHARD, Versuch (s. Anm. 2), 40 (Matthäus wird „in den Thesen nicht alttestamentliche Zitate gesehen haben [...], sondern Sätze der ‚Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer‘“); SÄNGER, Schriftauslegung (s. Anm. 44), 91, s. auch J. KAMPEN, The Sectarian Form of the Antitheses within the Social World of the Matthean Community, DSD 1 (1994), 338–363. 50 Vgl. BURCHARD, Versuch (s. Anm. 2), 42; SUGGS, Antitheses (s. Anm. 36), 101. 51 Hingegen postuliert ECKSTEIN, Weisung (s. Anm. 1), 397–403 Moses als in ਥȡȡșȘ impliziertes Subjekt und grenzt dies gegen die Auffassung des ਥȡȡșȘ als eines passivum divinum ab. Die torakritische Lesart der Antithesen geht hier also mit einer zumindest tendenziellen Abwertung der göttlichen Dignität der Tora einher. Dagegen spricht aber schon die Ersetzung von Mose (Mk 7,10) durch Gott in der Einleitung zur Zitation des Gebots der Elternehre in Mt 15,4.
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gogale Toraauslegung im Blick ist52 (s. dazu z.B. Philo, SpecLeg 2,61–63; Hypoth 7,11–14; Josephus, Ap 2,175). In ihr wurde Tora aktualisiert, erläutert, erweitert, und solche Auslegung konnte wiederum ohne Umschweife als in der Tora selbst geboten ausgewiesen werden. Mit den Worten von Karlheinz Müller: Die Sinaioffenbarung wurde frühjüdisch „nicht als eine einmalige Vorgegebenheit mit ein für allemal fest umgrenzten Aussagen“ begriffen, „sondern man sah die Offenbarung der Tora zutiefst angewiesen auf den Vorgang menschlicher Vermittlung, der es erst zuwege bringen konnte, daß die Tora in den konkreten geschichtlichen Verhältnissen anwendbar wurde“53. In der Einleitungsformel zu den Thesen kann man diesen menschlichen Vermittlungsprozess reflektiert sehen. Die Sinaioffenbarung ist offen, in sie wird die halachische Vermittlung quasi hineingeschrieben. Die Einleitungsformel der Thesen nimmt dies auf. Die eben vermerkte gemischte Form der Thesen lässt sich auf diesem Hintergrund und auf der Basis der vorgeschlagenen Deutung der Thesen als Illustration des Toraverständnisses der Schriftgelehrten und Pharisäer problemlos verstehen. Wo, wie in der zweiten Antithese, in der These ein Torawort erscheint, geht es darum, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer das Gebot nur oberflächlich beim Buchstaben nehmen, nicht aber in die tiefere Intention des Gebotes eindringen, wie sie, wie oben ausgeführt, durch Jesu Gegenthese ans Licht gebracht wird. Im Falle des Liebesgebotes in der sechsten Antithese dagegen wird die „einschränkende Auslegung“54 durch die Anfügung an das Gebot zum Ausdruck gebracht, während Jesu Gegenthese den in dem Gebot artikulierten Willen Gottes in seinem Vollsinn aufweist: Das Liebesgebot ist nicht, wie dies den Schriftgelehrten und Pharisäern zur Last gelegt wird, nach dem vulgärethischen Prinzip der Gegenseitigkeit auf den eigenen Freundes52 Es geht hingegen nicht einfach, wie z.B. BANKS, Jesus (s. Anm. 17), 202 oder R.H. GUNDRY, Matthew. A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, Grand Rapids (MI) 21994, 84 postulieren, um die Toralesung (s. auch DAVIES/A LLISON, Matthew I [s. Anm. 9], 510). In die richtige Richtung weist hingegen W.R.G. LOADER, Jesus’ Attitude towards the Law. A Study of the Gospels, WUNT II.97, Tübingen 1997, 172: „The most plausible explanation is that Matthew sees Jesus citing commandments as they were being heard, ie. interpreted.“ Ganz ähnlich deutet H.D. BETZ, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3–7:27 and Luke 6:20–49), hg. v. A.Y. Collins, Hermeneia, Minneapolis (MN) 1995, 208: „the SM [sc. Sermon on the Mount, M.K.] introduces here a critical difference between what God has in fact said and what the tradition claims God has said“ (s. auch a.a.O., 217). BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 15), 87 deutet țȠıĮIJİ im Sinne von „ihr habt als Tradition empfangen“, nach J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 1, HThKNT 1.1, Freiburg – Basel – Wien 21988, 153 „weist ‚ihr habt gehört‘ in die Vermittlung ein, die in Gottesdienst und Lehre geschah.“ 53 K. MÜLLER, Gesetz und Gesetzeserfüllung im Frühjudentum, in: Das Gesetz im Neuen Testament, hg. v. K. Kertelge, QD 108, Freiburg – Basel – Wien 1986, 11–27: 24f. 54 Vgl. BURCHARD, Versuch (s. Anm. 2), 41.
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und Bekanntenkreis einzugrenzen55, sondern gilt universal – und damit auch und gerade gegenüber dem Feind. Ist in 5,20 impliziert, dass die Schriftgelehrten nicht bloß kleine Gebote auflösen, sondern hinter den gewichtigen Forderungen der Tora zurückbleiben, so wird ebendies durch die Antithesenreihe erläutert. Entsprechend kann man an den übrigen vier Antithesen entlanggehen: Das Tötungsverbot zielt demnach nicht bloß auf justiziable Fälle von Mord, sondern richtet sich, recht verstanden, gegen jedes zornig-aggressive Vorgehen gegen den Nächsten, das im schlimmsten 56 Fall zum Mord führt. In der dritten Antithese wird den Schriftgelehrten und Pharisäern vorgeworfen, aus der in Dtn 24 erwähnten Scheidungsmöglichkeit eine generelle Erlaubnis abzuleiten, während der matthäische Jesus die Scheidungserlaubnis auf den einzigen Fall der Unzucht der Frau bezieht. Die Einfügung der Unzuchtsklausel bewirkt dabei, dass die Regelung von Dtn 24 an sich durch Jesu Position zur Ehescheidung nicht aufgehoben wird. Fasst im Falle der vierten Antithese die These entsprechende Bestimmungen der Tora in einem knappen Verbot falschen Schwörens und in dem Gebot, Gott Eide zu halten, zusammen, so führt Jesu Gegenthese wiederum über das am Wortlaut haftende Verständnis der Schriftgelehrten und Pharisäer hinaus und legt – auch hier Tendenzen frühjüdischer Parä57 nese aufnehmend – die Wahrhaftigkeit allen menschlichen Redens als hinter diesen Weisungen stehende Intention Gottes frei – und bringt damit das Dekaloggebot, den Na58 men Gottes nicht zu missbrauchen, mit letzter Konsequenz zur Geltung. Ein Gegensatz zum alttestamentlichen Gebot selbst scheint bei der fünften Antithese vorzuliegen, wo Jesu Forderung des Widerstandsverzichts prima facie der in der These angeführten talio-Formel „Auge um Auge“ diametral entgegengesetzt ist. Nun bezeugt die spätere rabbinische Aus59 legung ein Verständnis der talio im Sinne des finanziellen Schadensausgleichs , und auch abgesehen von dieser Interpretation kann man die Pointe der talio gerade darin sehen, dass 60 hier eine Begrenzung der Vergeltung erfolgt. Jesu Gegenthese kann man vor diesem Hintergrund so verstehen, dass in ihr der vergeltungskritische Impetus des Toragebotes aufgenommen und radikalisiert wird und damit die hinter dem Wortlaut des Gebotes stehende eigentliche Intention Gottes aufgedeckt wird. „Entscheidend ist aber ein anderes Moment. Im Kontext der pentateuchischen Gesetzgebung geht es bei der talio nicht um ein Maß für Selbstjustiz, sondern um einen Grundsatz für die Strafzumessung im Rechtsverfahren. Die Gegenthese in Mt 5,39–42 macht hingegen deutlich, dass die talio als Regel des Alltagslebens zur Diskussion steht. Ist die These im Sinne von 5,20 als Beispiel für das 55
Vgl. dazu in diesem Band „... damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet“. Erwägungen zur ‚Logik‘ von Gewaltverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38–48, 369–371. 56 Ausführlicher dazu in diesem Band „Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium“, 320–330. 57 Siehe dazu die monographische Abhandlung von VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“ (s. Anm. 18) sowie in diesem Band „Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium“, 337–340. 58 Zum Zusammenhang des Schwurverbots mit Ex 20,7 s. DAUTZENBERG, Schwurverbot (s. Anm. 35), 53f. 59 Siehe die Diskussion in bBQ 83–84. Josephus, Ant 4,280 kennt die Schadensersatzleistung als eine – freilich von der Entscheidung des Geschädigten abhängige – Möglichkeit. 60 Vgl. dazu LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 391; THIELMAN, Law (s. Anm. 17), 55f.
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Gesetzesverständnis der Schriftgelehrten und Pharisäer zu lesen, das ihrem mangelhaften Gerechtigkeitsniveau zugrunde liegt, so wird hier kritisiert, dass diese die talio als Grundsatz für das persönliche Verhalten in Konflikten aufnehmen: Ein jeder habe das Recht, auf das erfahrene Unrecht mit ‚angemessener‘ Vergeltung zu reagieren: ‚Auge um Auge, Zahn 61 um Zahn.‘“
Bringen Jesu Gegenthesen den Willen Gottes in seinem Vollsinn ans Licht, so bringt die Schlussmahnung in 5,48 dies auf den Punkt. Es ist häufig und mit Recht herausgestellt worden, dass der Vers nicht nur die sechste Antithese abschließt, sondern die ganze Reihe summiert. 62 Die Vollkommenheitsforderung variiert dabei die Rede von der besseren Gerechtigkeit in 5,20, die durch die Antithesen inhaltlich umrissen wurde. Vollkommenheit ist möglich auf der Basis der vorangehenden Erschließung des in der Schrift artikulierten Willens Gottes durch die autoritative Weisung Jesu. Sachlicher Kontext dieser Torahermeneutik ist Jesu Botschaft von der Nähe des Reiches (vgl. Mt 4,17)63, d.h. die Antithesen legen die Tora im Angesicht des nahenden Gottesreiches aus, und dies bedeutet: ohne dass – mit Mt 19,8 gesprochen – Rücksicht auf die das Leben in dieser Welt kennzeichnende menschliche Hartherzigkeit die Entfaltung und Geltendmachung des Willens Gottes begrenzt.64 Wenn man in den Antithesen einen torakritischen Akzent finden möchte, dann höchstens insofern, dass die Formulierung des göttlichen Willens in der Tora des Mose die ethische Unzulänglichkeit des Menschen mit im Blick hat65 und von daher vielfach eher auf die Eindämmung des Bösen zielt.66 Freilich ist auch in dieser Hinsicht noch einmal auf die Offenheit frühjüdischer Toraparänese als religionsgeschichtlichen Kontext des Evangelisten zu verweisen: Ethische Unterweisung ist im Frühjudentum zum Teil nur recht frei an der Tora orientiert67, versteht sich gleichwohl 61
KONRADT, Evangelium (s. Anm. 36), 94. Siehe exemplarisch LUZ, Evangelium nach Matthäus I5 (s. Anm. 1), 408. 63 Vgl. dazu im Blick auf den ‚historischen‘ Jesus exemplarisch C. DIETZFELBINGER, Die Antithesen der Bergpredigt, TEH 186, München 1975, 70–76. 64 Im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Frage der Pharisäer nach der Ehescheidung in Mt 19,3–9 – bei Matthäus genauer mit der Frage, ob ein Mann seine Frau țĮIJ ʌ઼ıĮȞ ĮੁIJĮȞ entlassen dürfe – führt Jesus aus, dass der ursprüngliche, in der Schöpfungsgeschichte in Gen 2 laut werdende Gotteswille war, dass Mann und Frau ein Fleisch sind. Nur wegen der menschlichen Hartherzigkeit hat Mose später die Ehescheidung gestattet. Das nahende Gottesreich ist nun der Kairos, an dem der ursprüngliche Gotteswille zur Geltung gebracht wird. 65 Vgl. dazu DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 9), 494 sowie Y.-E. YANG, Jesus and the Sabbath in Matthew’s Gospel, JSNTS 139, Sheffield 1997, 128; THIELMAN, Law (s. Anm. 17), 51–58. 66 Vgl. FELDMEIER, Verpflichtende Gnade (s. Anm. 42), 46. 67 Siehe dazu K. MÜLLER, Anmerkungen zum Verhältnis von Tora und Halacha im Frühjudentum, in: Die Tora als Kanon für Juden und Christen, hg. v. E. Zenger, HBS 10, Freiburg u.a. 1996, 257–291. 62
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aber fraglos als deren Erläuterung und Entfaltung; der – im Prinzip auf der Tora basierende – lebendige Prozess der Aktualisierung und Erläuterung des Gotteswillens ist von der geschriebenen Tora nicht abzulösen. Dies gilt im Grundsatz auch für die Weisungen Jesu in Mt 5,21–48 in ihrem matthäischen Verständnis.68 Ihre spezifischen, ‚radikalen‘ Konturen sind dabei damit im Zusammenhang zu sehen, dass sie den in der Tora niedergelegten Willen Gottes im Lichte und unter der Voraussetzung des andringenden Gottesreiches erläutern und entfalten. Festzuhalten ist: Mt 5,21–48 steht in keiner Weise in Spannung zu 5,17– 20. Die Grundaussage der matthäischen Antithesen ist nicht, dass die Tora an sich insuffizient ist und (deshalb) Jesus mit seinen Forderungen über die Tora hinausgeht.69 Die Grundaussage ist vielmehr, dass Jesu Weisung den in der Tora artikulierten Willen Gottes angesichts des Kairos des nahen Gottesreiches in vollkommener Weise erschließt und dadurch die in 5,48 geforderte Vollkommenheit ermöglicht, während die in den Thesen anvisierte Gesetzesauslegung der Schriftgelehrten und Pharisäer deren Unverständnis bezeugt. Die in 7,28f geschilderte Reaktion der Volksmengen auf Jesu Bergpredigt nimmt denn auch eben diesen Kontrast auf: Die Volksmengen geraten über Jesu Lehre außer sich, „denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten“. Der in Mt 5,17–48 zutage tretende Zusammenhang zwischen der die wahre Intention des göttlichen Willens aufdeckenden Auslegung der sozialethischen Gebote durch Jesus und der Vollkommenheitsforderung kehrt an der zweiten Stelle, an der Matthäus den Voll70 kommenheitsgedanken eingefügt hat, wieder (19,21). Da es in Jesu Reaktion auf das Weggehen des Jünglings um den Zutritt zum Reich Gottes und damit nach wie vor um den Zugang zum ewigen Leben, also um die Ausgangsfrage von V.16 geht, ist zu folgern, dass der reiche Jüngling die in V.17 dazu formulierte Bedingung des Haltens der Gebote nicht erfüllt hat. Ist das richtig, dann ist Jesu Aufforderung zum Verkauf der Habe (V.21) als Auslegung bzw. Applikation der zuvor angeführten Gebote, näherhin des Liebesgebots, zu
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Davon ist zu unterscheiden, dass man aus heutiger analytischer Perspektive zu dem Schluss kommen kann, dass die Weisungen Jesu in Mt 5,21–48 den Aussagegehalt der zugrundeliegenden alttestamentlichen Gebote faktisch transzendieren (vgl. YANG, Jesus [s. Anm. 65], 120–129). Für Matthäus selbst geht es aber darum, dass Jesu Weisungen die Toragebote ihrer eigenen Intention nach entfalten, und dies ist religionsgeschichtlich im Kontext der lebendigen Auslegungsprozesse der Tora und ihrer damit gegebenen prinzipiellen Offenheit zu betrachten. 69 Hingegen sieht z. B. BANKS, Understanding (s. Anm. 22), 231 im Erfüllungsgedanken ein Diskontinuitätsmoment inbegriffen: „that which is more than the law has now been realized“. Vgl. BANKS, Jesus (s. Anm. 17), 210; YANG, Jesus (s. Anm. 65), 18.111 sowie vor allem THIELMAN, Law (s. Anm. 17), 47–72. 70 Ausführlicher zu Mt 19,16–22 in diesem Band „Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium“, 340–343.
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verstehen. Eine vollkommene Erfüllung des Liebesgebotes bedeutete für den reichen Jüngling in seiner spezifischen Situation, dass er seinen Besitz den Armen zur Verfügung 72 stellt – wie es zur vollkommenen Erfüllung des Liebesgebots nach 5,43–48 gehört, auch dem Feind mit Liebe zu begegnen. Und wie 5,43–48 – zumindest primär – an die Jünger gerichtet ist (s. 5,1f), so mündet die Applikation des Liebesgebots in 19,21 in die Aufforderung zur Nachfolge ein. Nachfolge und Befolgung der Tora im Sinne und auf der Basis ihres von Jesus eröffneten Verständnisses sind für Matthäus zwei Seiten derselben Medaille. Damit ergibt sich: Auch in 19,21 geht es bei der Einfügung des Vollkommenheitsgedankens um die Erfüllung der Tora in ihrer – die sozialethische Forderung zuspitzenden – Auslegung durch Jesus, ja in 5,48 wie 19,21 steht der Vollkommenheitsgedanke näherhin im Kontext der Auslegung des – in V.19 ebenfalls redaktionell an die Dekaloggebote angefügten – Liebesgebotes. Der reiche Jüngling erscheint damit als ein zu den Schriftgelehrten und Pharisäern in 5,20ff analoger Fall, nämlich als ein Exempel für ein den Vollsinn dieses ‚großen‘ Gebotes nicht erfassendes Verständnis und eine dementsprechend insuffiziente Torapraxis. Und wie den Schriftgelehrten und Pharisäern (s. 5,20) bleibt auch ihm der Zugang ins Himmelreich verwehrt (19,23).
Die These, dass die matthäischen Antithesen konsequent im Kontext des Konfliktes zwischen Jesus und den Pharisäern zu lesen sind, findet Bestätigung, wenn man weitere die Gesetzesthematik betreffende Texte des Matthäusevangeliums hinzuzieht. Es findet sich nämlich eine ganze Reihe von Konfliktszenen, in denen immer wieder die Pharisäer als Gegner Jesu in Torafragen erscheinen.
2. Die Auseinandersetzungen mit den Pharisäern um Tora und Propheten im Matthäusevangelium Fragt man nach Leitmotiven, die die matthäische Darstellung des Konflikts zwischen Jesus und den jüdischen Autoritäten prägen, so ist zum einen auf Jesu Würde als (davidischer) Messias Israels, dem die Autoritäten sich unter-
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Treffend DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 17), 391: „Indem er [sc. der reiche Jüngling, M.K.] seinen Besitz nicht zu verkaufen und zu verteilen vermag, gesteht er ein, dass er eben seinen Nächsten nicht so liebt wie sich selbst.“ Anders THIELMAN, Law (s. Anm. 17), 59f. 72 Die Vollkommenheitsforderung ist also auch hier auf die durch Jesus ermöglichte Befolgung des Willens Gottes bezogen, wie er in den Geboten der Heiligen Schrift grundsätzlich artikuliert ist (vgl. M. MEISER, Vollkommenheit in Qumran und im Matthäusevangelium, in: Kirche und Volk Gottes [FS J. Roloff], hg. v. M. Karrer – W. Kraus – O. Merk, Neukirchen-Vluyn 2000, 195–209: 198–204). Anders deuten E. LOHSE, „Vollkommen sein“. Zur Ethik des Matthäusevangeliums, in: Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium (FS A. Vögtle), hg. v. L. Oberlinner – P. Fiedler, Stuttgart 1991, 131–140: 138–140 sowie R. HOPPE, Vollkommenheit bei Matthäus als theologische Aussage, in: Salz der Erde ... (s.o.), 141–164.
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zuordnen hätten, zu verweisen73, zum anderen eben auf das Verständnis des Willens Gottes, auf die Auslegung der Tora oder umfassender: von Tora und Propheten. Zu einem ersten Konflikt kommt es bereits in Mt 9,9–13, wo die Pharisäer an Jesu Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern Anstoß nehmen. Indem Matthäus die Pharisäer redaktionell von Jesus als Lehrer sprechen lässt (9,11), lenkt er die Aufmerksamkeit darauf, dass es um eine Frage des Verständnisses des Willens Gottes geht. Dem korrespondiert die Einfügung von Hos 6,6 in die Reaktion Jesu (9,13).74 Das Zöllnermahl wird durch diese Einfügung zur Illustration der Erfüllung von Tora und Propheten durch Jesus (5,17).75 Die Pharisäer dagegen erscheinen als unverständig.76 Diese Konfiguration kehrt beim Protest der Pharisäer gegen das Ährenraufen der Jünger am Sabbat in Mt 12,1–8 wieder. Matthäus verweist hier eingangs ausdrücklich darauf, dass es die Jünger hungerte. Dies dient nicht nur der Analogisierung mit dem Rekurs auf David in V.3, sondern bereitet vor allem das von Matthäus in V.5–7 eingefügte Argument vor, dass die Priester im Tempel, da sie die nach Num 28,9f vorgeschriebenen Opfer darzubringen haben, den Sabbat faktisch entweihen, aber doch unschuldig sind. Der matthäische Jesus verweist damit darauf, dass die Tora selbst mit einer Hierarchie unter den Geboten operiert77, bzw. Matthäus nimmt mit V.5–7 die halachische Diskussion auf, was den Sabbat verdrängt78, und leistet dazu durch den erneuten Rekurs auf Hos 6,6 einen spezifischen Beitrag: Es gehe hier um Größeres als um den Tempel, nämlich um die Barmherzigkeit79, die nach dem Prophetenwort dem Opfer übergeordnet ist. Wenn schon der Tempeldienst 73
Siehe dazu G.N. STANTON, Matthew’s Christology and the Parting of the Ways, in: Jews and Christians. The Parting of the Ways A.D. 70 to 135, hg. v. J.D.G. Dunn, WUNT 66, Tübingen 1992, 99–116: 100.108–112; M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 146f sowie auch D.J. VERSEPUT, The Role and Meaning of the ‘Son of God’ Title in Matthew’s Gospel, NTS 33 (1987), 532– 556: 535f. 74 Vgl. B. REPSCHINSKI, The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form and Relevance for the Relationship Between the Matthean Community and Formative Judaism, FRLANT 189, Göttingen 2000, 78. 75 Vgl. HUMMEL, Auseinandersetzung (s. Anm. 37), 39. 76 Siehe die Einleitung des Hoseazitats durch ʌȠȡİȣșȞIJİȢ į ȝșİIJİ IJ ਥıIJȚȞ. 77 Vgl. MAYER-HAAS, Geschenk (s. Anm. 14), 443.487; DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 17), 485. 78 Siehe dazu VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“ (s. Anm. 18), 385– 389. 79 ȂİȗȠȞ wird im Kontext durch ȜİȠȢ näherbestimmt (vgl. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 2: Mt 8–17, EKK 1.2, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1990, 231). Ein Bezug auf Jesus selbst (für viele YANG, Jesus [s. Anm. 65], 176f.180f; C. TUCKETT, Matthew: The Social and Historical Context – Jewish Christian and/or Gentile, in: The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity, hg. v. D. Senior, BETL 243, Leuven – Paris – Walpole (MA) 2011, 99–129: 119f) ist aufgrund der neutrischen Form unwahrscheinlich.
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das Sabbatgebot verdrängen kann, um wieviel mehr dann die Barmherzigkeit.80 Jesus lässt also wieder die Schrift für seine Interpretation des Willens Gottes sprechen. Dass das Ährenraufen den Sabbat bricht (s. Ex 34,21, vgl. Jub 50,12; CD 10,20f; mShab 7,2), wird nicht bestritten.81 Aber da bei und vor Gott der Barmherzigkeit Priorität zukommt, sind die Jünger, da sie Hunger hatten, dennoch schuldlos. Anders gesagt: Wer den Willen Gottes recht versteht, nämlich die übergeordnete Bedeutung der Barmherzigkeitsforderung begreift, der erkennt, dass den hungernden Jüngern überhaupt kein Vorwurf zu machen ist.82 Die Pharisäer hingegen offenbaren mit ihrem Vorwurf ihre eigene Schriftunkenntnis. Sie müssen nicht nur an die Szenerie bei David erinnert werden; sie haben offenbar auch die Bestimmung im Gesetz83 über den Tempeldienst am Sabbat nicht gelesen, und schon gar nicht haben sie das Prophetenwort von Hos 6,6 verstanden. Im matthäischen Kontext bedeutet dies zugleich: Die Lektion, die Jesus ihnen in 9,13 aufgetragen hatte, haben sie nicht gelernt.84 Damit, dass Matthäus mit dem Hunger der Jünger einen Fall anführt, der ihr Verhalten legitimiert, deutet sich zugleich an, dass Matthäus den Text nicht so verstanden wissen will, dass damit das Sabbatgebot selbst prinzipiell außer Kraft gesetzt wird.85 Was hier ansichtig wird, ist vielmehr die Differenzierung zwischen kleinen und großen Geboten, wie sie in 5,17–19 zutage trat. Die Barmherzigkeit ist ein großes Gebot, die Sabbatheiligung ist dem untergeordnet. Im Konfliktfall ist dem wichtigeren Gebot der Vorrang einzuräumen. Der Streit um das Ährenraufen am Sabbat exemplifiziert also die in 5,17–19 enthaltene Gesetzeshermeneutik. Zugleich liest sich die Verurteilung der Pharisäer in 12,1–8 wie eine Illustration zum in 5,20 implizierten Vor80
Vgl. VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“ (s. Anm. 18), 383.388. Anders YANG, Jesus (s. Anm. 65), 174.175.185. 82 Vgl. L. DOERING, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum, TSAJ 78, Tübingen 1999, 435: „In der Perspektive der Barmherzigkeit können Sabbatverstöße gerechtfertigt werden, die von Menschen, die Mangel leiden, begangen werden.“ 83 ȅț ਕȞȖȞȦIJİ nimmt V.3 wieder auf, ਥȞ IJ Ȟંȝ ist ausdrücklich angefügt. 84 Vgl. REPSCHINSKI, Stories (s. Anm. 74), 100f.305; GIELEN, Konflikt (s. Anm. 27), 110. 85 Positiv gewendet: Mt 12,1–8 gibt – wie auch 12,9–14 – zu erkennen, dass der Sabbat in der matthäischen Gemeinde gehalten wird. Ebenso z.B. BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 15), 74.75; GIELEN, Konflikt (s. Anm. 27), 108.112; MAYER-HAAS, Geschenk (s. Anm. 14), 446.453.489f. Anders U. LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK, Zürich 1993, 144; YANG, Jesus (s. Anm. 65), 228f; C.M. TUCKETT, Matthew (s. Anm. 79), 116– 122. – Zur Deutung der Einfügung von ȝȘį ıĮȕȕIJ in 24,20 s. E. KUN-CHUN WONG, The Matthean Understanding of the Sabbath. A Response to G.N. Stanton, JSNT 44 (1991), 3–18; MAYER-HAAS, Geschenk (s. Anm. 14), 454–458; KONRADT, Evangelium (s. Anm. 36), 374. 81
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wurf: Sie bleiben hinter den großen Geboten zurück. Die Überordnung der Barmherzigkeit über den Sabbat wird dann durch die nachfolgende zweite Sabbatkontroverse in Mt 12,9–14 weiter illustriert und zugleich in einen Grundsatz gefasst: Es ist am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun (12,12).86 Dem Konflikt über den Sabbat steht in Mt 15 die Kontroverse um die Reinheitstora zur Seite, in der Pharisäer und Schriftgelehrte aus Jerusalem den Jüngern Jesu vorwerfen, die Satzung der Alten zu übertreten, da sie sich vor dem Essen nicht die Hände waschen. Durch die Umstellung von Mk 7,6f und die Umformulierung von Mk 7,8f nach dem Modell des Vorwurfs der Schriftgelehrten und Pharisäer in Mt 15,2 lässt Matthäus Jesus direkt mit einer Gegenfrage bzw. einem Gegenvorwurf kontern: „Warum übertretet auch ihr[, nämlich] das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen“ (15,3).87 Matthäus charakterisiert damit den Konflikt gleich zu Beginn so, dass hier Gottes Gebot und pharisäische Satzung (vgl. Josephus, Ant 13,297) einander gegenüberstehen. Die Illustration des Gegenvorwurfs in V.4–6 unterstreicht dies.88 In Jesu Position tritt hingegen wiederum eine kategorische Überordnung des sozialethischen Gebots hervor. Die Belehrung zunächst der Volksmengen in V.10f und dann der Jünger in V.15–20 unterstreicht dies: Ins Zentrum der Diskussion um Unreinheit wird lasterhaftes Verhalten gerückt, das in V.19 in Anlehnung an – nach dem Elternehregebot in V.4 weitere – Dekaloggebote exemplarisch benannt wird. Zugleich zeigt die matthäische Bearbeitung der Markusvorlage die Tendenz, Jesus nicht eine prinzipielle Abrogation der Reinheitstora vertreten zu lassen89, sondern allein die kategorische Verwerfung pharisäischer Halacha. So hat Matthäus den markinischen Kommentar, Jesus habe alle Speisen für rein erklärt (Mk 7,19c)90, übergangen91; stattdes-
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Vgl. dazu MAYER-HAAS, Geschenk (s. Anm. 14), 452. Matthäus’ rhetorische Gestaltung birgt hier die Gefahr des Missverständnisses, in dem ɈȽ in V.3 impliziert zu sehen, dass auch die Jünger Gottes Gebot übertreten. Matthäus kommt es aber darauf an, die Übertretung der Überlieferung der Väter auf der einen Seite und die Übertretung des Gebots Gottes um der Überlieferung der Väter willen einander gegenüberzustellen. Das ɈȽ ist also allein darauf zu beziehen, dass auch die Schriftgelehrten und Pharisäer „Übertreter“ sind, aber – im Unterschied zu den Jüngern – des Gebots Gottes. Sachlich ist also in V.3 nach ʌĮȡĮȕĮȞİIJİ eine Zäsur zu setzen, die in der obigen Übersetzung durch die Einfügung von „nämlich“ verdeutlicht ist. 88 Zu Details s. in diesem Band „Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium“, 343–346. 89 In diesem Sinne z.B. auch HUMMEL, Auseinandersetzung (s. Anm. 37), 48; MAYERHAAS, Geschenk (s. Anm. 14), 477f; LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 79), 422.428; W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 2, ICC, Edinburgh 1991, 517. 90 Dagegen hält I. BROER, Anmerkungen zum Gesetzesverständnis des Matthäus, in: Das Gesetz im Neuen Testament, hg. v. K. Kertelge, QD 108, Freiburg – Basel – Wien 87
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sen lässt er Jesus zum Abschluss seiner Belehrung als Bezugspunkt der Bestreitung der Verunreinigung ausdrücklich das Eingangsthema, das Essen mit ungewaschenen Händen, aufnehmen (Mt 15,20b). Für V.11a legt dies nahe, dass Matthäus auch diese Aussage allein auf den in V.2 aufgeworfenen Fall bezieht und bezogen wissen möchte. 92 Deshalb konnte er die pauschale Formulierung von Mk 7,15a nicht übernehmen.93 Der Sachverhalt ist hier also ähnlich wie beim Sabbat. 5,17–20 zeigt sich damit als ein programmatisches Wort, das Matthäus im Laufe seiner Erzählung der Jesusgeschichte konsequent zur Geltung gebracht hat.94 Die Weisungen von Tora und Propheten stehen in Kraft, doch ist unter ihnen zu differenzieren. Zugleich wird durch die angesprochenen Gesetzeskontroversen die Frontstellung von 5,17–19 deutlicher. In der Matthäusexegese konkurrieren zwei Hauptvarianten miteinander: Nach den einen richtet sich Matthäus hier gegen eine libertinistische christliche Gruppierung.95 Den anderen zufolge 1986, 128–145: 142 die Auslassung von Mk 7,19c für „sachlich bedeutungslos“ (Hervorhebung im Original). 91 Siehe auch die matthäischen Änderungen in Mt 15,11 par Mk 7,15 und in Mt 15,17 par Mk 7,18 und dazu die Deutung von LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 79), 424f.426 sowie im Folgenden. 92 Vgl. J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 2, HThKNT 1.2, Freiburg – Basel – Wien 21992, 24.26f; S. VON DOBBELER, Auf der Grenze. Ethos und Identität der matthäischen Gemeinde nach Mt 15,1-20, BZ NF 45 (2001), 55–78: 68. Anders z.B. BROER, Freiheit (s. Anm. 1), 121; THIELMAN, Law (s. Anm. 17), 67. 93 Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang, dass Matthäus in seiner Neufassung der Heilung des besessenen Geraseners aus Mk 5,1–20 die Schweineherde durch die Ersetzung von ਥțİ ʌȡઁȢ IJ ȡİȚ (Mk 5,11) durch ȝĮțȡȞ ਕʌૃ ĮIJȞ (Mt 8,30) weit von Jesus entfernt sein lässt, denn dieser redaktionelle Eingriff erklärt sich gut, wenn in der matthäischen Gemeinde der Verzicht auf Schweinefleisch gängige Praxis war. Geht ਥıșȠȞIJİȢ țĮ ʌȞȠȞIJİȢ IJ ʌĮȡૃ ĮIJȞ und/oder ਥıșİIJİ IJ ʌĮȡĮIJȚșȝİȞĮ ਫ਼ȝȞ in Lk 10,7f auf Q zurück (vgl. J.M. ROBINSON u.a. [Hg.], The Critical Edition of Q [s. Anm. 22], 170), kann man in der matthäischen Auslassung ein weiteres Indiz sehen, dass Matthäus Aussagen meidet, die als grundsätzliche Abrogation der Reinheitsgebote verstanden werden können (vgl. DAVIES/A LLISON, Matthew II [s. Anm. 89], 174). Auf der anderen Seite ist aus Mt 15 m.E. nicht, wie SIM, Gospel (s. Anm. 1), 132 postuliert, herauszulesen, „that Matthew’s group strictly kept the dietary and purity laws of Judaism“ (Hervorhebung M.K.). Schon gar nicht ist Mt 15,1–20 zu entnehmen, dass Matthäus die halachische Bestimmung des Händewaschens als verpflichtend ansieht (gegen GIELEN, Konflikt [s. Anm. 27], 165f). Zu beachten ist dabei, dass Händewaschen vor dem Essen als allgemeine Forderung in der Tora gar nicht erhoben wird (s. dazu in diesem Band den Beitrag „Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium“, S. 344, Anm. 104). 94 GIELEN, Konflikt (s. Anm. 27), 164 vermerkt zu Recht, dass sich die Streichung von Mk 7,19c „in die grundsätzliche Akzeptanz aller Häkchen und Jota des Gesetzes (Mt 5,18f)“ einfügt. 95 Siehe exemplarisch BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 15), 62–70.149–154; J.L. HOULDEN, The Puzzle of Matthew and the Law, in: Crossing the Boundaries (FS M.D. Goulder), hg. v. S. E. Porter – D. Joyce – P. Orton, BiInS 8, Leiden – New York 1994,
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geht es hingegen um die Zurückweisung des pharisäischen Vorwurfs, dass die Christusgläubigen sich nicht torakonform verhalten.96 Für Letzteres spricht dezidiert die im Voranstehenden skizzierte Art und Weise, wie Matthäus die Gesetzeskontroversen mit den Pharisäern darstellt (s. neben 12,1–14; 15,1–20 noch 19,3–9; 22,34–40 [dazu gleich]); zudem ist, wie gesehen, auch die Antithesenreihe in 5,21–48 in diesem Konfliktkontext zu lesen. Allerdings gibt es auch Indizien, die für die erste Option sprechen. So lässt sich die Einleitung mit ȝ ȞȠȝıȘIJİ, sofern damit auf eine vorgebrachte Position Bezug genommen wird, am plausibelsten als ein Verweis auf eine potentielle Fehleinschätzung Jesu im Kreis der Nachfolger Jesu verstehen. Zu bedenken ist ferner, dass Matthäus spätestens durch das Markusevangelium innerchristlich mit einem Gesetzesverständnis konfrontiert wurde, das er nicht teilte und dessen Einfluss er zu wehren suchte.97 5,17 könnte Teil dieser ‚antimarkinischen‘ Stoßrichtung sein, zu der – als Präzisierung – auch V.19 passt, da Mk 7,19 die prinzipielle Außerkraftsetzung der Speisegebote vertritt. Die beiden genannten ‚Fronten‘ schließen einander nicht aus: Matthäus sucht zum einen innerchristlich der Abwertung der Tora entgegenzuwirken98 und erwidert zum anderen im Konflikt mit den Pharisäern deren Kritik mit einer Gegendarstellung, in der Jesus und seine Nachfolger fest auf dem Boden der Tora stehen. 115–131: 118f. Eine antipaulinische Frontstellung postulieren z.B. C. HEUBÜLT, Mt 5,17– 20. Ein Beitrag zur Theologie des Evangelisten Matthäus, ZNW 71 (1980) 143–149: 145; SIM, Gospel (s. Anm. 1), 199–211, bes. 207–209; G. THEISSEN, Kritik an Paulus im Matthäusevangelium? Von der Kunst verdeckter Polemik im Urchristentum, in: Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte, hg. v. O. Wischmeyer – L. Scornaienchi, BZNW 170, Berlin – New York 2011, 465–490: 471–475. 96 Siehe J.A. OVERMAN, Matthew’s Gospel and Formative Judaism. The Social World of the Matthean Community, Minneapolis (MN) 1990, 88f; G.N. STANTON, A Gospel for a New People. Studies in Matthew, Edinburgh 1992, 49; GIELEN, Konflikt (s. Anm. 27), 78f.284; ECKSTEIN, Gerechtigkeit (s. Anm. 3), 306, s. auch ECKSTEIN, Weisung (s. Anm. 1), 395 (mit Einbezug konservativer Judenchristen in der Gemeinde) sowie LUOMANEN, Kingdom, 90f. – M. THIESSEN, Abolishers of the Law in Early Judaism and Matthew 5,1720, Bib. 93 (2012), 543–556 hat versucht, den Vorwurf der Pharisäer konkreter zu fassen: Er verweist darauf, dass der Vorwurf, das Gesetz aufzulösen, in den zeitgenössischen jüdischen Texten zum einen im Kontext der Hellenistischen Reformer und der Verfolgung unter Antiochus IV. sowie in Josephus’ Bellum ferner als Vorwurf an die Zeloten begegne und dort mit der Tempelzerstörung verbunden wird. Auf diesem Hintergrund bringt Thiessen die Option vor, dass die matthäische Gemeinde mit dem Vorwurf konfrontiert war, „that they were law-abolishers who were responsible for the Temple’s destruction“ (552). 97 Siehe dazu in diesem Band auf S. 43–68 den Beitrag „Das Matthäusevangelium als judenchristlicher Gegenentwurf zum Markusevangelium“. 98 Ganz unwahrscheinlich ist in dieser Hinsicht aber die Untervariante, dass V.17 spezifisch gegen Paulus gerichtet sei (s. oben Anm. 95), denn eine solche Front ist sonst nirgends im Matthäusevangelium erkennbar (s. dazu in diesem Band auf S. 69–94 den Beitrag „Matthäus als Zeuge eines unpaulinischen Christentums. Anmerkungen zur These einer antipaulinischen Ausrichtung des Matthäusevangeliums“).
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Für die Auseinandersetzung mit dem pharisäischen Gegenüber ist dabei charakteristisch, dass die grundsätzliche Bejahung der Geltung der ganzen Tora in 5,17–19 damit einhergeht, dass der Evangelist eben konsequent zwischen kleinen und großen Geboten unterscheidet. Diese Gesetzeshermeneutik erlaubt Matthäus eine faktische Marginalisierung bestimmter rituell-kultischer Gebote, ohne ihre prinzipielle Abrogation zu vertreten und dem pharisäischen Vorwurf Recht geben zu müssen, wobei die Berufung auf Hos 6,6 für die matthäische Apologie von zentraler Bedeutung ist. Ja mehr noch: Auf der Basis dieser Gesetzeshermeneutik lässt sich der Gegenangriff führen, dass umgekehrt die Pharisäer dem Willen Gottes in Tora und Propheten blind gegenüber stehen (vgl. 15,14; 23,16.24).99 Die Stoßrichtungen sind zwar in 5,17–19 und in den angesprochenen Gesetzeskontroversen insofern unterschiedlich, als in 5,17–19 in Abwehr von Vorwürfen des Gegenübers die prinzipielle Gültigkeit aller Gebote – auch der kleinen – betont wird 100, während in den Gesetzeskontroversen die Praxis des Gewichtens zwischen großen und kleinen Geboten und damit die faktisch übergeordnete Bedeutung von Liebe und Barmherzigkeit bzw. überhaupt der sozialethischen Gebote in den Vordergrund tritt. Dies ändert aber nichts daran, dass im Matthäusevangelium eine in sich kohärente Gesetzeshermeneutik sichtbar wird. Und bereits in Mt 5 wird durch die Weiterführung der Einheit mit V.20 deutlich, dass der (soteriologisch) entscheidende Aspekt der Erfüllung von Tora und Propheten darin besteht, sich vom Gerechtigkeitsniveau der Pharisäer und Schriftgelehrten positiv abzuheben, die „Größeres“ (vgl. 12,6) bzw. „Gewichtigeres“ (vgl. 23,23) als ‚bloß‘ die kleinen Gebote außer Acht lassen. 101 In die Entfaltung der Konfliktgeschichte eingebunden hat Matthäus, man möchte sagen: konsequenterweise, schließlich auch Jesu Hervorhebung der Liebe zu Gott und zum Nächsten als Summe der Tora in 22,34–40. Die markinische Fassung bietet ein freundliches Gespräch zwischen Jesus und einem verständigen Schriftgelehrten, der Jesu Antwort auf seine Frage nach dem höchsten Gebot durch die Wiederholung des monotheistischen Bekenntnisses (V.32) und des Doppelgebots der Liebe (V.33) positiv affirmiert und für seine 99 Basis dieser Gegenkritik ist, dass Matthäus an ȜİȠȢ und șȣıĮ die verschiedenen Programme von Jesus und Pharisäern festmacht (vgl. GIELEN, Konflikt [s. Anm. 27], 98f). 100 Anders gesagt: Der Akzent liegt in 5,17–19 nicht darauf, dass bestimmte Gebote weniger bedeutsam sind, sondern dass auch sie grundsätzlich zu halten sind. Gleichwohl schwingt auch hier durch die soteriologische Aussage in 5,19 (das Nichttun kleiner Gebote entscheidet nicht über die Heilsteilhabe, sondern ‚nur‘ über den Ehrengrad) bereits ihre faktisch nachgeordnete Bedeutung mit. 101 Nur am Rande sei auf die Kontroverse über die Ehescheidung in Mt 19,3–9 verwiesen, wo Matthäus (wiederum) durch verschiedene Eingriffe in die markinische Vorlage den sich in dieser nahelegenden Eindruck eines Konflikts zwischen Jesu Position und der Tora zu vermeiden sucht. Siehe dazu exemplarisch REPSCHINSKI, Stories (s. Anm. 74), 172– 183; KONRADT, Evangelium (s. Anm. 36), 297–299.
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verständige Antwort wiederum von Jesus gelobt wird (V.34). In der lukanischen Version, die vermutlich auf einer anderen Version fußt, die auch Matthäus neben der markinischen Fassung kannte102, haben die Worte des verständigen markinischen Schriftgelehrten darin ein Pendant, dass hier nicht Jesus, sondern der Gesetzeskundige selber das Doppelgebot der Liebe anführt. Matthäus geht hier bezeichnenderweise einen anderen Weg: Es passt nicht in sein Konzept, einen nicht zu den Jüngern gehörenden Gesetzeslehrer die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe als Hauptsätze der Tora vorbringen zu lassen. Diese Einsicht wird exklusiv für die eigene Gruppe reklamiert. Aus dem freundlichen, einen ethischen Konsens signalisierenden Dialog der markinischen Version ist bei Matthäus ein von Feindseligkeit geprägtes Gespräch zwischen einem als Pharisäer gekennzeichneten Gesetzeslehrer und Jesus geworden. Der Gesetzeskundige versucht Jesus. Die Frage nach dem größten Gebot ist in der matthäischen Komposition der letzte von drei Anläufen der Jesus feindlich gesonnenen Autoritäten, Jesus mit einem Wort zu fangen, um etwas gegen ihn in der Hand zu haben (22,15).103 Die Pointe des matthäischen Wortlauts der Antwort Jesu liegt darin, dass er zum einen dem als erstes zitierten Gottesliebegebot als größtes Gebot das Nächstenliebegebot ausdrücklich gleichordnet (V.39a) und zum anderen dann „diese beiden“ zum „Inbegriff des Gesetzes“104 erklärt (V.40). In jüdischen Schriften erscheint die Gottesliebe bzw. die Verehrung des einen Gottes wie102
Dafür sprechen nicht nur auffällige minor agreements, vor allem die Rede vom ȞȠȝȚțંȢ (Mt 22,35; Lk 10,25) und vom (ਥț)ʌİȚȡȗİȚȞ (Mt 22,35; Lk 10,25), sondern auch die andere Situierung dieser Perikope durch Lukas, der Perikopenumstellungen bekanntlich nicht allzu häufig vornimmt. Beides zusammengenommen macht die These einer zweiten Fassung zu einer plausiblen Annahme (anders z.B. J. KIILUNEN, Das Doppelgebot der Liebe in synoptischer Sicht. Ein redaktionskritischer Versuch über Mk 12,28–34 und die Parallelen, STAT.H 250, Helsinki 1989). Ob Matthäus und Lukas diese zweite Fassung in der Logienquelle vorgefunden haben (so z.B. J. LAMBRECHT, The Great Commandment Pericope and Q, in: The Gospel behind the Gospels. Current Studies on Q, hg. v. R.A. Piper, NT.S 75, Leiden – New York 1995, 73–96: 78–88.95), ist dabei nur eine Option. 103 Während bei Markus der Schriftgelehrte Jesus anspricht, weil Jesus den Sadduzäern gut geantwortet hatte (Mk 12,28), korrespondiert der matthäischen Rede vom ʌİȚȡȗİȚȞ, dass in der matthäischen Einleitung die Pharisäer für die zuvor abgefertigten Sadduzäer einspringen, um einen weiteren Versuch zu unternehmen, Jesus in eine Falle zu locken (Mt 22,15). Zur Komposition in Mt 22,15–40 bzw. 21,28–22,46 s. KONRADT, Evangelium (s. Anm. 36), 327.343. 104 BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 15), 73. – Eine faktische Reduktion der Tora auf das Doppelgebot (vgl. zuletzt wieder den Ansatz von DEINES, Gerechtigkeit [s. Anm. 17], 400) ist mit Mt 22,40 in keiner Weise das Wort geredet, wie schon 19,18f beweist. Die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe fungieren vielmehr – ähnlich wie bei Philo die Tugenden der İıȕİȚĮ țĮ ıȚંIJȘȢ sowie der ijȚȜĮȞșȡȦʌĮ țĮ įȚțĮȚȠıȞȘ (SpecLeg 2,63) – als Obersätze der Tora, die zugleich deren hermeneutische Mitte bestimmen.
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derholt als das Oberste und Wichtigste im Gesetz.105 Jesu Antwort stimmt in diesen Konsens ein, um dann aber sogleich als zweites auch das Nächstenliebegebot mit auf den ersten Platz zu setzen.106 Im Gesamtkontext des Evangeliums betrachtet nimmt dies die vorangehende Betonung der sozialen Gebote, insbesondere der Barmherzigkeit auf.107 Im Lichte der vorangehenden Gesetzeskontroversen ergibt sich auch ein Zugang zu dem schwierigen Problem, wieso Matthäus die Frage des Gesetzeslehrers als eine versucherische ausweisen konnte108, denn nach dem größten Gebot zu fragen hat an sich nichts Unjüdisches109, und die Auskunft, dass nur die Böswilligkeit des Fragestellers markiert werden sollte110, ist eine Verlegenheitslösung, die nur als ultima ratio in Frage kommt. Der matthäische Jesus hatte in den vorangehenden Kontroversen, wie gesehen, zweimal auf Hos 6,6 rekurriert. Aus der Überordnung der Barmherzigkeit über den Tempel und damit über die Gottesverehrung im Tempel ließe sich nun auf Seiten der Gegner der Vorwurf ableiten, hier werde die Zuwendung zum Menschen auf Kosten der Gottesliebe betont und damit die Gottesverehrung marginalisiert (s. auch Mt 5,23f). Zu verweisen ist ferner auf Jesu dezidierte Kritik an einer Überordnung von – Gott geleisteten – Gelübden über das Elternehregebot, wie Jesus sie in 15,4–6 der pharisäischen Halacha anlastet. Liest man die Frage des pharisäischen Gesetzeslehrers in 22,35 vor diesem Hintergrund, eröffnet sich eine Verstehensmöglichkeit, warum Matthäus die Frage als eine Fangfrage präsentiert: Die Pharisäer versuchen, Jesus eine ausdrückliche Stellungnahme zur Tora zu entlocken, die zeigt, dass er Gott nicht die ihm gebührende Ehre erweist111, 105
Siehe EpArist 132; PseudPhok 8; Philo, Decal 65; Josephus, Ap 2,190. C. BURCHARD, Das doppelte Liebesgebot in der frühen christlichen Überlieferung, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 25 spricht treffend von „Gleichordnung trotz Differenz“. 107 Zur Barmherzigkeit als Interpretament der Nächstenliebe vgl. exemplarisch TestIss 5,2, wo ʌȞȘIJĮ țĮ ਕıșİȞો ਥȜİ઼IJİ in 5,2b Epexegese zur vorangehenden Mahnung zur Nächstenliebe ist (s. dazu M. KONRADT, Menschen- oder Bruderliebe? Beobachtungen zum Liebesgebot in den Testamenten der Zwölf Patriarchen, ZNW 88 [1997], 296–310: 305–307). 108 Vgl. die Feststellung bei U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 3: Mt 18–25, EKK 1.3, Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1997, 277: „Worin das Böswillige seiner [sc. des Gesetzeslehrers, M.K.] Frage bestehen soll, ist allerdings für die Leser/innen kaum erkennbar“. Ganz ähnlich z.B. HUMMEL, Auseinandersetzung (s. Anm. 37), 52. – Im Kontext von Lk 10,25 kann man ਥțʌİȚȡȗİȚȞ durchaus im Sinne von „prüfen, auf die Probe stellen“ verstehen. Im Rahmen der matthäischen Komposition in Mt 21–23 hat ʌİȚȡȗİȚȞ aber eindeutig den negativen Sinn von „versuchen“. 109 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 108), 278. 110 So DAVIES/ALLISON, Matthew III (s. Anm. 47), 239. 111 Anders BARTH, Gesetzesverständnis (s. Anm. 15), 71. – Die Stoßrichtung ist damit eine ganz ähnliche wie die der ersten Fangfrage in 22,15–22, ob es erlaubt sei, dem Kaiser 106
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dass die Verehrung Gottes bei ihm nicht die oberste Priorität genießt. Antwortet Jesus aber im Sinne der Zentralstellung der Verehrung des einen Gottes, könnten die Pharisäer dies zum Anlass nehmen, Jesu vorangehendes Handeln zu hinterfragen. Mit seiner Replik gelingt es Jesus, seine Betonung der barmherzigen Zuwendung zum Nächsten mit der Stellung der Gottesliebe als Hauptgebot zusammenzubinden. Er reiht sich zunächst in den jüdischen Konsens ein112 und unterläuft damit das Anliegen der Pharisäer, ihm eine Falle zu stellen113; er interpretiert diesen Konsens dann aber durch die Gleichordnung der Nächstenliebe im Sinne seiner Hervorhebung der barmherzigen Zuwendung zum Mitmenschen. Aus dem weiteren Kontext ist dabei evident: Die Liebe zu Gott realisiert sich nicht in der Verschärfung der Reinheitsregeln, der rigorosen Observanz von Sabbatbestimmungen oder der Extensivierung der Verzehntung114, sondern im Tun des göttlichen Willens, der zentral in der Barmherzigkeitsforderung besteht, so dass Gottes- und Nächstenliebe, sowenig sie einfach identisch sind, nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Und da die Gleichordnung der Nächstenliebe eben die vorangehende Betonung der Barmherzigkeit aufnimmt, schwingt in Jesu Antwort auf die Frage des pharisäischen Gesetzeslehrers zugleich der Vorwurf mit, dass die Pharisäer der Nächstenliebe nicht den ihr gebührenden Rang einräumen, wie ja schon die letzte Antithese in Mt 5 den Vorwurf enthielt, dass sie der radikalen Forderung der Nächstenliebe durch ihre vulgärethische Interpretation die Spitze abbrechen. Überblickt man die vorangehenden Ausführungen, so wird als ein Grundcharakteristikum der Entfaltung des in Tora und Propheten zum Ausdruck kommenden göttlichen Willens durch Jesus im Matthäusevangelium deutlich, dass diese wesentlich im Rahmen des Konfliktes mit den Pharisäern und in Abgrenzung von der pharisäischen Gesetzesinterpretation erfolgt. Dem stehen nun noch zwei weitere Texte zur Seite, in denen sich Jesus als der eine wahre Lehrer präsentiert. Zum einen schärft Jesus seinen Jüngern in 23,8–12, also kompositorisch inmitten der Rede wider die Schriftgelehrten und Pharisäer, ein, sie sollten sich nicht Rabbi oder Lehrer nennen lassen, weil nur einer ihr Meister und Lehrer sei, nämlich Jesus selbst. Zum anderen ist auf Mt 11,25– Steuer zu zahlen. Denn dahinter steht die Kontroverse, ob die Steuerzahlung mit der Verehrung des einen Gottes kompatibel ist. 112 Vgl. GIELEN, Konflikt (s. Anm. 27), 262: Mit Mt 22,37f „ist die Frage des pharisäischen Gesetzeskundigen zunächst beantwortet, und zwar in einer Weise, von der der fiktive Adressat vermuten darf, daß sie konsensfähig ist.“ 113 Bezieht man die mit Mt 22,40 verwandte Aussage über die „Summe“ der Tora in Mt 7,12 hinzu, so ist es in 22,34–40 die Gottesliebe, die im Vergleich zu 7,12 hinzutritt! 114 Gartenkräuter bzw. Gewürze wie Minze, Dill und Kümmel (Mt 23,23) kommen in Lev 27,30; Dtn 14,22f nicht (explizit) vor. Vgl. auch Neh 13,12: „Und ganz Juda brachte den Zehnten vom Getreide und Most und Öl zu den Vorratskammern.“
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30 zu verweisen. Jesu mildes Joch (11,29f) ist metaphorische Bezeichnung für seine menschenfreundliche Auslegung der Tora, wie sie durch die unmittelbar nachfolgenden Sabbatkontroversen exemplarisch illustriert wird.115 Zugleich zählen die in 12,1–14 als Kontrahenten auftretenden Pharisäer zu den ‚Weisen‘, denen Gott das Verständnis des Wirkens Jesu als IJ ȡȖĮ IJȠࠎ ȋȡȚıIJȠࠎ (11,2, vgl. 11,19)116 verborgen hat. Ferner ergeht die Einladung Jesu in 11,28–30 an Menschen, die sich abmühen und belastet sind. Im weiteren Verlauf erhält dies eine Erläuterung wiederum in der Weherede gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer, denn nach 23,4 schnüren diese schwere und unerträgliche Lasten und legen sie auf die Schultern der Menschen. Jesu Einladung, zu ihm zu kommen und sein mildes Joch auf sich zu nehmen, ist also wiederum durch eine antipharisäische Polemik profiliert. Weist Jesus in 5,21– 48 durch die Entfaltung des Sinns der göttlichen Gebote auf dem Kontrasthintergrund des Unverständnisses der Schriftgelehrten und Pharisäer den Weg zu einer vollkommenen Erfüllung der Tora, so wendet sich Jesus in 11,28–30 denen zu, denen die Schriftgelehrten und Pharisäer Lasten aufbürden, die nicht nur schwer (23,4), sondern auch unnütz sind, denn mit ihrer Toraauslegung verschließen sie den Menschen das Himmelreich (23,13, vgl. 5,20).
3. Die Kontroversen um die Tora im Matthäusevangelium und die Situation der matthäischen Gemeinde Der bei den Antithesen entwickelte Interpretationsansatz hat durch die Hinzuziehung der Gesetzesdebatten des Matthäusevangeliums Bestätigung gefunden. Nicht Jesu Weisung und die Tora stehen in Matthäus’ Perspektive einander – spannungsvoll – gegenüber, sondern Matthäus profiliert Jesu wahre Entfaltung des in Tora und Propheten zum Ausdruck kommenden göttlichen Willens auf der Kontrastfolie des seines Erachtens unzulänglichen Verständnisses der Schriftgelehrten und Pharisäer. Das hier zutage tretende Anliegen des Evangelisten spiegelt zweifelsohne zentrale Identitätsbelange der matthäischen Gemeinde und verweist auf eine aktuelle Konfliktlage. Die verzweigte Diskussion über die Situation der Gemeinde, insbesondere im Blick auf ihr Verhältnis zum zeitgenössischen Judentum (bzw. zu anderen jüdischen Gruppierungen)117, ist hier nicht im Ein115 Zum Zusammenhang von Mt 11,25–30 und 12,1–14 s. YANG, Jesus (s. Anm. 65), 143–146.160f sowie vor allem MAYER-HAAS, Geschenk (s. Anm. 14), 421–439. 116 Zu diesem Bezug von IJĮ૨IJĮ in 11,25 s. exemplarisch L. NOVAKOVIC, Messiah, the Healer of the Sick. A Study of Jesus as the Son of David in the Gospel of Matthew, WUNT II.170, Tübingen 2003, 94. 117 Zur intra/extra muros-Debatte s. den Forschungsbericht bei REPSCHINSKI, Stories (s. Anm. 74), 13–61, zu Repschinskis eigener Position (intra muros) a.a.O., 343–349.
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zelnen zu verhandeln.118 Die richtige Richtung haben m.E. Anthony Saldarini und J. Andrew Overman gewiesen119, die den im Matthäusevangelium ansichtig werdenden Konflikt in den Kontext der Neuformierungsprozesse des Judentums nach der Katastrophe des Jahres 70 einstellen. Im Rahmen dieser offenen Situation haben die Pharisäer einerseits und die christusgläubige matthäische Gruppierung andererseits miteinander konkurrierende Führungsansprüche erhoben. Während sich die Pharisäer in der Synagoge als dominierende Gruppe zu etablieren vermochten, formierten sich die Christusgläubigen als unterlegene und offenbar auch schikanierte Minderheit in der ecclesia und verstanden sich selbst als die wahren und von Gott legitimierten Vertreter des eschatologisch erneuerten (und noch zu erneuernden!) Gottesvolkes. Die das Evangelium durchziehende Kontroverse um die Tora samt ausdrücklicher Präsentation Jesu als des einen Lehrers erschließt sich in ihren klar gezeichneten Konturen von diesem situativen Kontext her. Es bedarf keiner langen Begründung, dass im frühjüdischen Selbstverständnis dem auf die Tora bezogenen Ethos eine einzigartige Bedeutung zukam und darin Sabbat und Reinheitsgebote als jüdische ‚identity markers‘ von erheblichem Gewicht waren, es hier also um für jüdische Identität in der hellenistischrömischen Welt sensible Punkte ging. Die Christusgläubigen werden sich hier den Vorwurf haben gefallen lassen müssen, dass ihre halachische Position zentrale jüdische Identitätsmerkmale aufgibt und nicht auf dem Boden der Tora steht. Der Evangelist weist dies zurück und erhebt im Gegenzug den Anspruch, dass gerade die Gemeinde den in Tora und Propheten niedergelegten Willen Gottes in rechter Weise zur Geltung bringt. Dieser Anspruch schlägt sich darin nieder, dass nicht nur die grundsätzliche Torakonformität Jesu und ihm nachfolgend seiner Jünger vorausgesetzt wird, sondern weit darüber hinausgehend Jesus als der eine wahre Lehrer des in Tora und Propheten zum Ausdruck kommenden göttlichen Willens präsentiert wird, dessen Lehre seinen Jüngern die vollkommene Erfüllung des Willens Gottes in Tora und Propheten ermöglicht. Zugleich kontert Matthäus die pharisäische Kritik mit dem dargelegten Gegenvorwurf des völligen Unverständnisses und totaler Blindheit gegenüber dem tatsächlichen Willen Gottes. In dieser Konfliktkonstellation hat eine differenzierte Zeichnung der Position des Gegenübers keinen Platz, sondern diese wird zum genauen negativen Gegenstück der Toraauslegung Jesu stilisiert.120 Tatsächlich wird das pharisäische Gegenüber keineswegs sozialethisch so blind gewesen sein, wie das Matthäusevangelium dies suggeriert. Es geht hier, kurz gesagt, um eine um118
Siehe dazu in diesem Band auf S. 3–42 den Beitrag „Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum“. 119 Siehe vor allem A.J. SALDARINI, Matthew’s Christian-Jewish Community, CSHJ, Chicago – London 1994; OVERMAN, Gospel (s Anm. 96). Anders z.B. P. FOSTER, Community, Law and Mission in Matthew’s Gospel, WUNT II.177, Tübingen 2004. 120 Vgl. oben Anm. 99.
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fassende Delegitimation des Gegenübers121, und dies umso mehr, als man zum einen unentschlossene jüdische Zeitgenossen noch an sich zu binden hoffte und zum anderen Zweifler in den eigenen Reihen zu halten suchte. Funktional betrachtet erscheint das Postulat der vollkommenen Erfüllung der Tora, wie sie auf diesem Hintergrund in den Antithesen beschrieben wird, als matthäisches Pendant zur identitätsstiftenden Funktion der pharisäischen ‚boundary markers‘. Das doppelt ausgerichtete Abhebungsmotiv beim Feindesliebegebot, gegenüber den Zöllnern und Heiden zum einen, gegenüber den Pharisäern zum anderen (5,46f), macht dies exemplarisch deutlich. Überblickt man das erhaltene frühjüdische Schrifttum, fällt auf, dass sich Rekurse auf die Vollkommenheitsthematik in den Qumranschriften massieren122, in denen sich die Gemeinde selbst als „ein Haus der Vollkommenheit und der Wahrheit in Israel“ (1QS 8,9) bezeichnet.123 Soziologisch handelt es sich auch hier um eine deviante Gruppe; auch hier stehen Ansprüche auf die rechte Erfüllung des Willens Gottes im Kontext konflikthafter Abgrenzungen von anderen jüdischen Gruppierungen (vgl. 4QMMT). Im Unterschied zu Qumran ist der Vollkommenheitsgedanke als ein Abhebungsmotiv im Matthäusevangelium durch die gleichzeitige Intensivierung des Vergebungsethos (s. nur Mt 6,14f; 9,8; 18,21–35) nach innen ausbalanciert bzw. abgefedert.124 Gemeinsam ist aber die abgrenzende identitätsstiftende Funktion des Vollkommenheitsdiskurses im Kontext von Gruppenkonflikten. Weiter beleuchten lässt sich dieses Phänomen, wenn man zum Vergleich die Verwendung des Vollkommenheitsgedankens in der wohl aus dem Umfeld des Matthäusevangeliums stammenden Didache heranzieht, wo es am Ende der Zwei-Wege-Lehre heißt: „Wenn du das ganze Joch des Herrn“, womit das alttestamentliche Gesetz im Blick ist 125, „auf dich nehmen kannst, wirst du vollkommen sein; wenn du es aber nicht kannst, tu das, was du kannst“ (Did 6,2). Seiner Gemeinde eine solche Option offenzuhalten, wäre Matthäus angesichts des aktuellen Konflikts mit der Synagoge um das rechte Verständnis der Tora schwerlich möglich gewesen. Bei Matthäus ist es die durch Jesus ermöglichte vollkommene Erfüllung des Willens Gottes, die die Gemeinde gegenüber der pharisäischen Variante jüdischen Lebens als die wahre Sachwalterin des theologischen Erbes Israels auszeichnen soll. 121 Speziell zu Mt 23 in diesem Zusammenhang A.J. SALDARINI, Delegitimation of Leaders in Matthew 23, CBQ 54 (1992), 659–680. 122 Vgl. MEISER, Vollkommenheit (s. Anm. 72), 204–206 123 Siehe ferner 1QS 1,8; 2,2; 3,3.9f; 4,22; 8,10.18.20.21.25; 9,2.6.8.9.19; 10,21; 11,2.17; 1QSa 1,17.28; 1QSb 1,2; 5,22; CD 1,20f; 2,15f; 20,2.5.7; 1QH 9[1*],36; 12[4*],30–32; 4Q403 Fragm. 1 1,22; 4Q510 Fragm. 1 1,9; 4Q511 Fragm. 63 3,3 u.ö. 124 In den Qumrantexten geht die Forderung vollkommenen Wandels hingegen mit drastischen Strafbestimmungen (s. 1QS 6,24–7,25) einher. 125 Siehe dazu Didache (Apostellehre), Barnabasbrief, Zweiter Klemensbrief, Schrift an Diognet, eingel., hg., übertr. und erl. v. K. WENGST, SUC 2, Darmstadt 1984, 95f.
Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium Neben dem Nächstenliebegebot, das Matthäus nicht weniger als dreimal explizit aufgreift (Mt 5,43[–48]; 19,19; 22,39), sind Bezugnahmen auf Gebote der Tora im Matthäusevangelium stark auf den Dekalog konzentriert, und zwar des Näheren auf solche Dekaloggebote, die den zwischenmenschlichen Bereich betreffen.1 Dekaloggebote begegnen in prominenter Stellung zu Beginn der Antithesenreihe in Mt 5,21.27, werden ausführlich im Rahmen der Begegnung Jesu mit einem reichen Jüngling zitiert (19,18f) und spielen ferner im Zusammenhang der Auseinandersetzung Jesu mit Schriftgelehrten und Pharisäern um die Frage des Händewaschens vor dem Essen (15,1–20) eine zentrale Rolle. Da sich die Frage nach der Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium adäquat nur dann beantworten lässt, wenn diese in den Rahmen des matthäischen Gesetzesverständnisses insgesamt eingestellt wird, seien der Analyse der genannten Textpassagen knappe Anmerkungen zur matthäischen Gesetzeshermeneutik vorangestellt.2
1 Auch sonst gilt für die Rezeption des Dekalogs im Neuen Testament eine Konzentration auf die das zwischenmenschliche Verhalten thematisierenden Gebote. Vgl. exemplarisch H. LÖHR, Der Dekalog im frühesten Christentum und seiner jüdischen Umwelt, in: Judentum und Christentum zwischen Konfrontation und Faszination, hg. v. W. Kinzig – C. Kück, JuChr 11, Stuttgart 2002, 29–43: 35f. – Das matthäische Verständnis des Gebots der Sabbatheiligung in Ex 20,8–11; Dtn 5,12–15 (vgl. Mt 12,1–14 im Verbund mit 11,28–30 sowie 24,20) muss ich hier aus Raumgründen ausklammern. Siehe dazu die Untersuchung von A.J. MAYER-HAAS, „Geschenk aus Gottes Schatzkammer“ (bSchab 10b). Jesus und der Sabbat im Spiegel der neutestamentlichen Schriften, NTA NF 43, Münster 2003, 411–493. Die möglichen Bezüge auf den Dekalog in Mt 5,33–37 werden unten auf S. 337–340 kurz thematisiert. 2 Auf eine Darstellung der Dekalogrezeption im Frühjudentum (s. dazu vor allem K. BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu. Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im Alten Testament, Teil I: Markus und Parallelen, WMANT 40, Neukirchen-Vluyn 1972, 258–361; G. STEMBERGER, Der Dekalog im frühen Judentum, JBTh 4 [1989], 91–103; U. KELLERMANN, Der Dekalog in den Schriften des Frühjudentums. Ein Überblick, in: Weisheit, Ethos und Gebot. Weisheits- und Dekalogtraditionen in der Bibel und im frühen Judentum, hg. v. H. Graf Reventlow, BThSt 43, Neukirchen-Vluyn 2001, 147–226) muss ich hier aus Raumgründen verzichten. Auf instruktive Analogien zur matthäischen Rezeption gehe ich an Ort und Stelle ein.
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1. Matthäus’ Gesetzeshermeneutik Ein magnus consensus zum matthäischen Gesetzesverständnis ist nicht zu verzeichnen. Ich markiere meine Position hier nur thetisch und skizzenhaft:3 (1) Matthäus beginnt die Erörterung der Tora in seinem Evangelium in 5,17–20 mit einem programmatischen Statement über die prinzipielle Gültigkeit der Tora ohne Wenn und Aber. Die christologische Sinndimension der Rede von der Erfüllung4 von Tora und Propheten (5,17) weist dabei darauf hin, dass Jesus die Tora nicht bloß wie andere vor und neben ihm auch „tut und lehrt“ (5,19); vielmehr bringt erst seine Lehre Inhalt und Intention der Willenskundgabe Gottes in Tora und Propheten in vollgültiger Weise ans Licht. Wenn der Auferstandene seinen Jüngern in 28,20 aufträgt, sie sollen die Völker lehren, alles zu halten, was er ihnen geboten hat, dann ist damit nicht eine neue, die Sinaitora überbietende bzw. im doppelten Wortsinn „aufhebende“ Tora im Blick.5 Vielmehr wird Jesu Lehre vom ersten Evangelisten als vollgültige Entfaltung des tieferen Sinns der Tora begriffen. 6 (2) 5,17 ist nicht bloß innerchristlich als Abwehr einer gesetzeskritischen Position, wie Matthäus sie in seiner Markusvorlage vorfand, zu lesen7, sondern darüber hinaus, wenn nicht in erster Linie, im Rahmen des das Matthäusevangelium wie ein roter Faden durchziehenden Konfliktes zwischen Jesus und den jüdischen Autoritäten8 als Zurückweisung des vom pharisäischen Gegenüber erhobenen Vorwurfs, die matthäische Gemeinde9 würde 3 Zur näheren Begründung s. in diesem Band auf S. 288–315 den Beitrag „Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“. 4 Zu verweisen ist zum einen auf die Einleitungsformel der Reflexionszitate (s. Mt 1,22f; 2,15.17f.23; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,35; 21,4f; 27,9). Zum anderen hat die aktivische Formulierung in Mt 5,17 ein Pendant in 3,15. 5 Zur Gegenposition s. in diesem Band „Erfüllung“ (s. Anm. 3), S. 291, Anm. 17. 6 Damit ist nicht gesagt, dass die matthäische Ethik sich erschöpfend als vollgültige Explikation des tieferen Sinns von Tora und Propheten bestimmen ließe, denn anderweitige christologische Begründungszusammenhänge, wie sie z.B. in der Rede über das Gemeinschaftsleben in der Gemeinde in Mt 18 manifest werden, werden dadurch nicht erfasst (s. dazu in diesem Band auf S. 381–412 „‚Whoever humbles himself like this child …‘. The Ethical Instruction in Matthew’s Community Discourse [Matt 18] and its Narrative Setting“. 7 Siehe dazu in diesem Band „Erfüllung“ (s. Anm. 3), 308. 8 Siehe dazu M. GIELEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, BBB 115, Bodenheim 1998; B. REPSCHINSKI, The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form und [sic!] Relevance for the Relationship Between the Matthean Community and Formative Judaism, FRLANT 189, Göttingen 2000; M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 95–180. 9 Wenn hier – vereinfachend – im Singular von der matthäischen Gemeinde die Rede ist, so ist anzufügen, dass es sich eher um einen Kreis von mehreren (Haus-)Gemeinden als um eine einzelne Gemeinde handeln dürfte.
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mit ihrer Lehre und Praxis gegen die Tora verstoßen. Im Gegenzug dazu reklamiert der Evangelist, dass die Tora in der Gemeinde im Grundsatz umfassend (5,18!) in Geltung steht. 10 (3) Zugleich – und dies ist das für die matthäische Gesetzeshermeneutik zentrale Moment – nimmt Matthäus unter den Geboten eine deutliche Gewichtung zugunsten sozialethischer Weisungen vor, die zu einer faktischen Marginalisierung von Teilbereichen wie Sabbatheiligung und Reinheitsgeboten führt. Das in Mt 9,13 und 12,7 zitierte Prophetenwort aus Hos 6,6 lässt sich geradezu als Leitmotiv der matthäischen Gesetzeshermeneutik verstehen: „Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.“11 Im Falle eines Konflikts zwischen zwei Geboten ist dem Gewichtigeren zu folgen.12 (4) In der Komposition der Bergpredigt dient die Reihe der sechs Antithesen in 5,21–48 dazu, die programmatische Aussage von 5,17–20 materialiter exemplarisch zu entfalten. Genauer: Mt 5,21–48 expliziert auf der Basis von 5,17 die Aussage von 5,20, indem in These und Gegenthese die Torainterpretationen einander gegenübergestellt werden, die dem Gerechtigkeitsniveau der Schriftgelehrten und Pharisäer auf der einen Seite und der von den Jüngern erwarteten „besseren“ Gerechtigkeit auf der anderen zugrunde liegen. Entsprechend geht es in den Thesen nicht einfach um die Tora, sondern um
10 Diese Konstellation manifestiert sich als durchgehender Zug in den Kontroversen zwischen Jesus und den Pharisäern. Sucht der Evangelist das Ährenraufen der – Mt 12,1 zufolge hungernden (!) – Jünger am Sabbat durch die sich auf Hos 6,6 berufende Überordnung der Barmherzigkeit über das Sabbatgebot auf dem Boden von Tora und Propheten zu legitimieren (zu Einzelheiten der hier vorausgesetzten Deutung von Mt 12,1–8 s. M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 191–194, vgl. ferner z.B. MAYERHAAS, „Geschenk“ [s. Anm. 1], 439–448), so spitzt er die in Mk 7,1–23 vorgefundene Thematisierung der Speisegebote auf die Frage des Händewaschens vor dem Essen zu (Mt 15,20) und transformiert die markinische Abrogation der Speisetora (Mk 7,19) zu einer Verwerfung pharisäischer Halacha (vgl. KONRADT, Evangelium, 240–246 und unten 343–346). 11 Die Hierarchisierung von Geboten deutet sich bereits in dem programmatischen Passus 5,17–20 in V.19 an, wenn dort von einem dieser kleinsten Gebote die Rede ist. Materialiter konkretisieren lässt sich dies exemplarisch durch das Logion in Mt 23,23: Die hier angegriffenen Schriftgelehrten und Pharisäer nehmen es zwar mit dem Verzehnten – einem kleinen Gebot – ganz genau, vernachlässigen aber das Wichtigste im Gesetz, nämlich Recht, Barmherzigkeit und Treue. Der Vorwurf, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer hinter der Anforderung der bedeutenden Gebote in gravierender, nämlich das Heil versperrender Weise zurückbleiben, ist auch in Mt 5,19f impliziert. Nach 5,19 wird der, der eines der kleinsten Gebote auflöst, der Kleinste im Himmelreich genannt werden, d.h. er bekommt zwar geringere Ehre, wird aber immerhin in das Heil eingehen (zu dieser Deutung KONRADT, Erfüllung [s. Anm. 3], 293f; zur Gegenposition s. v.a. D.C. SIM, Are the least included in the kingdom of heaven? The meaning of Matthew 5:19, HTS 54 [1998], 573–587, bes. 583f). Bleibt hingegen den Schriftgelehrten und Pharisäern nach 5,20 der Zutritt zum Himmelreich verwehrt, muss ihr Defizit gravierender sein: Sie missachten das Wichtige im Gesetz. 12 Vgl. dazu Mt 12,5–7 (s. KONRADT, Evangelium [s. Anm. 10], 192–194).
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die Tora in ihrem Verständnis durch die Schriftgelehrten und Pharisäer.13 Jesu Weisung in den Gegenthesen führt nach matthäischem Verständnis nicht über die Toragebote hinaus, sondern befreit sie von ihren unzureichenden Auslegungen und expliziert die Tora in ihrem wahren und vollen Sinn. Dieser Ansatz wird durch den Wortlaut der Einleitung zu den Thesen untermauert. Denn dem mit ਥȡȡșȘ(IJȠȢਕȡȤĮȠȚȢ) gesetzten Verweis auf die Kundgabe des Gotteswillens am Sinai steht țȠıĮIJİ voran, was am naheliegendsten auf die sabbatliche synagogale Auslegung der Tora zu beziehen ist. Kurzum: In den Thesen führt Jesus an, was seine Zuhörer von den Schriftgelehrten und Pharisäern als Tora dargelegt bekommen, von ihnen „gehört“ haben. Dem stellt er in den Gegenthesen gegenüber, was die Willenskundgabe Gottes in der Tora ihrem tieferen Sinn und ihrer eigentlichen Intention nach bedeutet. Mit dieser Skizze zur matthäischen Gesetzeshermeneutik ist der Boden für die Analyse der matthäischen Rezeption und Interpretation des Dekalogs bereitet.
2. Der Dekalog im Matthäusevangelium 2.1 Der Dekalog in der Antithesenreihe in Mt 5,21–48 Die beiden prominentesten Aufnahmen von Dekaloggeboten im Matthäusevangelium begegnen im Rahmen der ersten beiden Antithesen. Für das Verständnis des Textpassus ist mit der voranstehenden Skizze zur matthäischen 13
Auf dieser Linie auch R. HUMMEL, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium, BEvT 33, München 1963, 50.70–75; W. TRILLING, Die neue und wahre „Gerechtigkeit“ (Mt 5,20–22), in: Christusverkündigung in den synoptischen Evangelien. Beispiele gattungsgemäßer Auslegung, BiH 4, München 1969, 86–107: 90f; H.D. BETZ, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3–7:27 and Luke 6:20–49), Hermeneia, Minneapolis (MN) 1995, 205.207–210; C. BURCHARD, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 27–50: 40 (Matthäus wird „in den Thesen nicht alttestamentliche Zitate gesehen haben [...], sondern Sätze der ‚Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer‘“); D. SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft. Die Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21–48) und die Verkündigung Jesu, in: Christlicher Glaube und religiöse Bildung, hg. v. H. Deuser – G. Schmalenberg, GSTR 11, Gießen 1995, 75– 109: 91; W.R.G. LOADER, Jesus’ Attitude towards the Law. A Study of the Gospels, WUNT II.97, Tübingen 1997, 172f; B. SCHALLER, The Character and Function of the Antitheses in Matt 5:21–48 in the Light of Rabbinical Exegetic Disputes, in: The Sermon on the Mount and Its Jewish Setting, hg. v. H.-J. Becker – S. Ruzer, CRB 60, Paris 2005, 70–88, s. auch J. KAMPEN, The Sectarian Form of the Antitheses within the Social World of the Matthean Community, DSD 1 (1994), 338–363. – Der obigen These fügt sich der Befund zum Wortlaut der Thesen ein. Siehe dazu BURCHARD, Versuch (s. oben), 40; KONRADT, Erfüllung (s. Anm. 3), 296f.
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Gesetzeshermeneutik bereits ein erstes weichenstellendes Ergebnis gewonnen: Matthäus versteht die Dekaloggebote nicht als Ausdruck einer unteren Stufe allgemeiner ethischer Orientierung im Sinne von basalen Mindestnormen, über die er durch seine Weisung hinausführen will. Vielmehr bilden die beiden Dekaloggebote, wie die prominente Stellung ihrer Aufnahme zu Beginn der Antithesenreihe zeigt und ohnehin im frühjüdischen Kontext zu erwarten ist, für ihn Hauptpunkte der Tora, um deren rechtes Verständnis es in Mt 5,17–48 geht. Einzubeziehen ist ferner die Frage eines möglichen Bezugs auf den Dekalog in der vierten Antithese. a) Die Interpretation des Tötungsverbots Die These verbindet die Zitation des Dekalogverbots des Tötens (V.21b) mit einem Rechtssatz (V.21c), der die juristische Konsequenz im Falle eines Verstoßes gegen das Gebot darlegt.14 Fungieren die Thesen, wie ausgeführt, als Kennzeichnung der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer, dann dient die Anfügung des Rechtssatzes in V.21c dazu, eine restriktive Deutung des Tötungsverbots anzuzeigen15, die den Schriftgelehrten und Pharisäern zur Last gelegt wird: Sie verstehen das Dekaloggebot so, dass erst und nur der, der mordet, dem Gericht verfällt.16 Dem korrespondiert, dass Jesu Gegenthese in V.22 nicht direkt das Dekaloggebot aufgreift, sondern sich auf dessen Erläuterung in V.21c bezieht. Im Blick auf das Verhältnis der drei Glieder in V.22b–d zueinander wurde verschiedentlich postuliert, dass es sich um eine klimaktische Reihe handle, die von einem lokalen Gericht – so sei țȡıȚȢzu deuten – über das Synedrium zum 14 S. RUZER, Antitheses in Matthew 5: Midrashic Aspects of Exegetical Techniques, in: The Sermon on the Mount and Its Jewish Setting, hg. v. H.-J. Becker – S. Ruzer, CRB 60, Paris 2005, 89–116: 91–96 postuliert, dass Mt 5,21 eine auf der Verbindung von Ex 20,13 mit Gen 9,6 beruhende Auslegung (vgl. zu dieser Auslegungstradition BERGER, Gesetzesauslegung [s. Anm. 2], 301f) aufnimmt. 15 In diesem Sinn auch BETZ, Sermon (s. Anm. 13), 218; J. NOLLAND, The Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids (MI) – Bletchley 2005, 229. Nach J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 1, HThKNT 1.1, Freiburg – Basel – Wien 21988, 153 macht der angefügte Rechtssatz „bewußt, daß der Traditions- und Auslegungsvorgang mitreflektiert ist“. 16 Auffallend ist, dass in dem Rechtssatz in V.21c nicht das Strafmaß ausgeführt (auf Mord steht nach Ex 21,12; Lev 24,17 die Todesstrafe, s. auch Gen 9,6; Num 35,16–34; Dtn 19,11–13), sondern nur allgemein auf die gerichtliche Konsequenz verwiesen wird. Angesichts des angesprochenen Kapitalverbrechens Mord ist mitȞȠȤȠȢıIJĮȚɒᚪɈɏᚶɐɂɇnicht mehr als eine Selbstverständlichkeit ausgesagt. Der Grund für diese Formulierung des Rechtssatzes ergibt sich aus dem Gegenüber zur Gegenthese in V.22, in der ȞȠȤȠȢ aus V.21c in allen drei Gliedern wiederkehrt: Es geht darum, die Tatbestände, die dem Gericht verfallen sein lassen, weiter zu fassen. Dazu bedarf es als Widerpart der allgemeinen Feststellung: der verfällt dem Gericht. – Hingegen bezieht J. JEREMIAS, ૧Įț, ThWNT VI, Stuttgart – Berlin – Köln 1990, 973–976: 975f alle ȞȠȤȠȢ-Sätze in V.22 auf die Verhängung der Todesstrafe.
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göttlichen Gericht fortschreite.17 Deutet man so, liegt es nahe, auch für die Vordersätze eine entsprechende klimaktische Reihe zu konstruieren: Im ersten Fall gehe es um die innere Regung allein, ohne dass diese sich sozial artikuliert, während das zweite und dritte Glied Fälle von verbaler Aggression behandeln. Wirklich überzeugen kann diese Deutung aber m.E. nicht. Zwischen den beiden Schimpfwörtern in V.22c.d ist zumindest keine signifikante inhaltliche Steigerung zu verzeichnen. 18 Zudem lässt das Verhältnis der drei Gerichtstermini in V.22 nicht an eine Klimax denken. „Zwischen ıȣȞįȡȚȠȞund ȖİȞȞĮ IJȠ૨ ʌȣȡંȢliegt nicht eine Steigerung, sondern eine qualitative Verschiebung vom menschlich-irdischen zum göttlichen Gericht“19. ȀȡıȚȢ ist in V.22b wie auch in der These in V.21 daher eher als Oberbegriff zu fassen, der durch ıȣȞįȡȚȠȞals menschliches Gericht20 und ȖİȞȞĮ IJȠ૨ ʌȣȡંȢals eschatologisches Strafgericht nach zwei Seiten entfaltet wird. Die Gerichtsaussagen in 5,22c.d sind dabei nicht alternativ, sondern additiv zu verstehen: Wer einen anderen beschimpft – ob als Hohlkopf (Raka) oder Dummkopf –, wird dem irdischen Gericht wie der Feuerhölle verfallen. Nicht zuletzt spricht ferner die formale Differenz zwischen V.22b auf der einen Seite und V.22c.d auf der anderen gegen eine klimaktische Auffassung von V.22. V.22b ist als Grundsatz formuliert (ʌ઼Ȣ ...). V.22c und d nennen exemplarische Einzelfälle („wer x macht ...“). Syntaktisch entsprechen sie genau V.21c (vgl. die nachfolgende graphische Textdarstellung). Aus diesem Befund folgt m.E.: V.22b fungiert als Obersatz zu V.22c.d. Und umgekehrt: V.22c und d veranschaulichen V.22b.
17 So unter anderen G. STRECKER, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 21985, 69f; R.H. GUNDRY, Matthew. A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, Grand Rapids (MI) 21994, 85; W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 515; U. LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK.NT 1, Zürich 1993, 67.68; P. WICK, Die erste Antithese (Mt 5,21–26): Eine Pilgerpredigt, ThZ 52 (1996), 236–242: 237. 18 Auf das aramäische Schimpfwort ʠ ʕʷʩʸʒ (zu ૧Įț als Transkription des aramäischen Wortes ʠ ʕʷʩʸʒ s. JEREMIAS, ૧Įț [s. Anm. 15], 973f), das soviel wie ‚Hohlkopf‘ bedeutet, folgt im Schlussglied das griechische ȝȦȡંȢ, das nichts wesentlich Anderes bedeutet und wie ʠ ʕʷʩʸʒ ein gebräuchliches Schimpfwort ist. – Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 15), 154f. 19 U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neu bearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 337. 20 ȈȣȞįȡȚȠȞ ist im Übrigen bei Matthäus in keiner Weise zwingend auf das oberste (jüdische) Gericht in Jerusalem zu beziehen. In 10,17 warnt Jesus seine Jünger vor den Menschen, „denn sie werden euch an ıȣȞįȡȚĮ ausliefern“; hier ist also im Plural von lokalen Synedria die Rede. Für 5,22 eröffnet dies die Option, dass auch dort nicht mehr als ein lokales Gericht gemeint ist.
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ਹțȠıĮIJİ IJȚ ਥȡȡșȘ IJȠȢ ਕȡȤĮȠȚȢ· Ƞ ijȠȞİıİȚȢ· Ȣ įૃ ਗȞ ijȠȞİıૉ, ਥȖઅ į ȜȖȦ ਫ਼ȝȞ IJȚ ʌ઼Ȣ ੑȡȖȚȗંȝİȞȠȢ IJ ਕįİȜij ĮIJȠ૨ Ȣ įૃ ਗȞ İʌૉ IJ ਕįİȜij ĮIJȠ૨· ૧Įț, Ȣ įૃ ਗȞ İʌૉ· ȝȦȡ,
ȞȠȤȠȢ ıIJĮȚ IJૌ țȡıİȚ. ȞȠȤȠȢ ıIJĮȚ IJૌ țȡıİȚ· ȞȠȤȠȢ ıIJĮȚ IJ ıȣȞİįȡ ȞȠȤȠȢ ıIJĮȚ İੁȢ IJȞ ȖİȞȞĮȞ IJȠ૨ʌȣȡંȢ
Sind V.22c.d exemplarische Entfaltungen von V.22b, dann ist weiter zu folgern, dass auch V.21c als Unterfall des Grundsatzes von V.22b zu lesen ist. Mord und Beschimpfungen werden als Artikulationen des Zorns verstanden.21 In V.22b ist dann nicht zu betonen: „jeder, der zürnt“ (d.h. und nicht erst jeder, der tötet), sondern: „jeder, der zürnt“, d.h. der Zürnende, der (bloß) Beschimpfungen äußert, wird genauso dem Gericht verfallen wie der Zürnende, der tötet. Zorn meint dabei die von Aggression bestimmte Grundhaltung der Ablehnung eines anderen.22 Die Gegenthese legt in diesem Sinne zunächst die dem Mord zugrunde liegende Haltung frei und stellt von da aus auch unter der Schwelle des Mordes liegende Artikulationen ebendieser Haltung unter das Verdikt der Gerichtsverfallenheit. V.22.c.d ist dabei – schon ausweislich von ʌ઼Ȣ ੑȡȖȚȗંȝİȞȠȢ in V.22b – nicht erschöpfend, sondern exemplarisch gemeint.23 Genauer: Die Nennung gebräuchlicher Schimpfwörter als relativ harmloser Äußerungen des Zorns dient dazu, im Verbund mit dem Mord den Rahmen vom ganz leichten bis hin zum schwerwiegendsten zornigen Verhalten abzustecken. Anzufügen ist: Gerät mit der Rede vom Zorn, wie vielfach betont wurde, über die äußere Handlung hinaus die (innere) Haltung und damit der ganze Mensch in den Blick24, so ist zugleich festzuhalten, dass auch in V.22 konkretes Verhalten in Form von beleidigenden Äußerungen angesprochen ist; vom Zorn bloß als einer inneren Regung, die sich nicht in einem konkreten sozialen Verhalten äußert, spricht Matthäus
21 Ist dies richtig, ist es unpräzise, davon zu sprechen, dass hier „Mord und Zorn auf die gleiche Stufe“ (P. VON GEMÜNDEN, Die Wertung des Zorns im Jakobusbrief auf dem Hintergrund des antiken Kontexts und seine Einordnung, in: P. Von Gemünden – M. Konradt – G. Theißen, Der Jakobusbrief. Beiträge zur Rehabilitierung der „strohernen Epistel“, Beiträge zum Verstehen der Bibel 3, Münster 2003, 97–119: 114) gestellt würden. 22 Vgl. TRILLING, „Gerechtigkeit“ (s. Anm. 13), 95: Mit Zorn könne hier „nicht eine plötzliche Aufwallung […] gemeint sein. Es geht um die Grundhaltung dem Bruder gegenüber, die eben Zorn ist. Wir könnten auch sagen: die grundsätzliche Ablehnung“. 23 Von Kasuistik ist hier daher nicht zu reden (mit LUZ, Evangelium nach Matthäus I [s. Anm. 19], 338, anders z.B. STRECKER, Bergpredigt [s. Anm. 17], 70). 24 Vgl. für viele LUCK, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 17), 68; LOADER, Attitude (s. Anm. 13), 173f.
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hier nicht.25 Oder anders: Der Zorn wird in seiner sozialen Dimension verhandelt.26 Es ist dabei evident, dass in Mt 5,22 kein realistisches Programm für den Aufbau eines irdischen Gerichtswesens formuliert werden soll – offenkundig würde jedes Rechtssystem kollabieren, wenn jede kleine Beschimpfung sogleich vor Gericht verhandelt würde –, sondern hyperbolische Redeweise vorliegt. Jesus versieht das Ethische mit der Verbindlichkeit des Rechts. Die Explikation von V.22b in V.22c.d setzt dabei in V.22c zwar beim irdischen, menschlichen Gericht ein, transzendiert dies aber mit der variierenden Wiederholung von V.22c in V.22d und bringt damit das Gerichtsforum vor, auf das es im Blick auf Gottes Gebote eigentlich ankommt: Die zentrale ‚Gerichtsinstanz‘ ist das Gericht Gottes27 (vgl. 2Hen 44,3a). Die in V.21 angeführte Position der Schriftgelehrten und Pharisäer hingegen bedenkt das Gebot im Horizont menschlicher Rechtsprechung, was dann ihr bloß buchstäbliches Verständnis des Gebots geradezu notwendig nach sich zieht: Das Tötungsverbot bezieht sich allein auf den Straftatbestand des Mordes; ein Mörder aber ist vor Gericht zu stellen. Als im göttlichen Gericht gültiger Rechtssatz ist das Dekalogwort hingegen nicht auf Mord eingrenzbar; vor Gott wird der Mensch vielmehr für jede Aggression gegen andere Menschen als Verstoß gegen den Willen Gottes zur Rechenschaft gezogen. Im Blick auf die Interpretation des Tötungsverbots in 5,21f ist damit festzuhalten: Als Maßstab des göttlichen Gerichts ist das von Gott im Tötungsverbot gesetzte Recht umfassend auf alle Formen eines vom Zorn gesteuerten aggressiven Vorgehens gegen Mitmenschen zu beziehen. Das Dekaloggebot fungiert also in der Auslegung Jesu als eine Art Obersatz, der mit dem Verweis auf den Mord als schlimmsten Ausdruck des Zorns jegliche Art von Aggression gegen andere Menschen umfasst, die bei verbalen Attacken in Form gebräuchlicher 25 Vgl. NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 15), 230: „The introduction of anger here is not specifically to bring inner attitudes to the fore: the assumption is that this anger will find its expression and so will be manifest to those involved in the situation”. Anders P. VON GEMÜNDEN, Umgang mit Zorn und Aggression in der Antike und der Bergpredigt, in: Affekt und Glaube. Studien zur Historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums, NTOA/StUNT 73, Göttingen 2009, 163–189: 176: „Nicht nur der, der seinen Zorn zum Ausdruck bringt, sondern auch der, der in seinem Innersten zürnt, ist des Gerichts – des irdischen wie des himmlischen – schuldig. Folglich sind alle schuldig.“ – Vgl. 2Hen 44,3a: „Wer gegen irgendeinen Menschen Zorn übt ohne [vorausgegangene] Kränkung, den wird der große Zorn des Herrn dahinmähen“ (Übers. C. BÖTTRICH, Das slavische Henochbuch, JSHRZ V/7, Gütersloh 1995, 960; zur Interpretation vgl. VON GEMÜNDEN, Wertung [s. Anm. 21], 114f, Anm. 105). Seneca, De ira 1,1,5 verweist darauf, dass Zorn nicht verborgen bleiben kann („Die übrigen Leidenschaften kann man verstecken und im Verborgenen nähren: Zorn bringt sich selber ans Licht und zeichnet sich im Gesicht ab“), doch ist damit noch nicht zwingend eine aggressive Handlung gegen einen anderen Menschen verbunden. 26 Vgl. VON GEMÜNDEN, Wertung (s. Anm. 21), 118f. 27 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 19), 338.
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Schimpfwörter, bei „tötenden Worten“28, beginnt. Ein enges, bloß buchstäbliches Verständnis, das das Gebot lediglich als irdischen Rechtssatz bedenkt und nur den Mord angesprochen sieht, erfasst nicht die tiefere Intention des Gebots und geht entsprechend an dem Anspruch des im Gebot formulierten Willens Gottes vorbei. Die dargelegte Extensivierung des Bedeutungsumfangs des Gebots ist in ihrer konkreten Zuspitzung auffällig, aber vom Ansatz her im Kontext des Frühjudentums keineswegs völlig analogielos. Philo hat in seinem großen Kommentarwerk der Expositio legis systematisch den Gedanken zur Geltung gebracht, dass die Zehn Gebote die gesamte Tora beinhalten: Sie sind nicht nur selbst Gesetze, sondern zugleich auch die Grundprinzipien der gesamten Sinaigesetzgebung (Decal 19). Unter das Hauptgebot, nicht zu töten, fallen nach Philo dabei „alle die Bestimmungen über Gewalttat, tätliche Beleidigung, Misshandlung, Verwundung, Verstümmelung“ (Decal 170). Diese Aufzählung umschließt nicht wie Mt 5,22 auch die bloße Beleidigung, bedeutet aber doch eine nicht unerhebliche Bedeutungsausweitung. Beachtung verdient darüber hinaus, dass Philo bei der Entfaltung der Zuordnung von Einzelgesetzen zum Tötungsverbot in SpecLeg 3,83–209 auch das Verbot der Pfändung des unteren und oberen Mühlsteins nach Dtn 24,6 einstellt: „Denn wer die Werkzeuge zum Leben wegnimmt, hat es auf Mord abgesehen und richtet seine tückischen Anschläge auch auf die Seele (des andern)“ (204). Das Dekaloggebot erfährt damit eine weit ausgreifende, wenngleich konsequente Applikation29, der sich die extensiven Deutungen des Tötens in 2Hen 10,530 und Sir 34,25–2731 auf unterlassene Hilfeleistung oder gar Vorenthaltung von Lohn etc. zur Seite stellen
28
LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 19), 344. Nur nebenbei sei ferner darauf hingewiesen, dass Philo sogar den Fall, dass eine Frau ihrem sich mit einem anderen streitenden Mann zu Hilfe eilt und den anderen „bei der Scham ergreift“ (Dtn 25,11f), unter der Rubrik des Tötungsverbots behandelt (SpecLeg 3,169–177). Darin, dass Philo in diesem Zusammenhang auch auf Beschimpfungen eingeht (174), ist freilich kein Zusammenhang mit der Deutung des Tötungsverbots analog zu Mt 5,21f zu erkennen. 30 2Hen 10,5f nennt in der Auflistung derer, für die der Strafort bereitet ist, unter anderem „die, obgleich zu sättigen in der Lage, den Hungrigen durch Hunger töteten“. 31 „Kärgliches Brot ist der Lebensunterhalt der Armen, wer es ihnen vorenthält, ist ein Blutsauger. Den Nächsten mordet (ijȠȞİȦȞ IJઁȞ ʌȜȘıȠȞ), wer ihm den Unterhalt nimmt, Blut vergießt, wer dem Arbeiter den Lohn vorenthält.“ 29
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lassen. Zwar wird in diesen Texten nicht explizit auf den Dekalog Bezug genommen32, doch zeigen die Texte die semantische Weitung, die der Begriff des Tötens in der ethischen Reflexion des frühen Judentums durchlaufen hat. 33 32 Man kann freilich fragen, wie sinnvoll es ist, das Fehlen eines solchen expliziten Bezugs zu notieren. Oder anders: Ist nicht davon auszugehen, dass der Dekalog im frühen Judentum (durch regelmäßigen liturgischen Gebrauch, s. dazu LÖHR, Dekalog [s. Anm. 1], 30– 33, zum Vorkommen des Dekalogs in Tefillin und Mezuzot vor 70 n. Chr. s. STEMBERGER, Dekalog [s. Anm. 2], 95–99) in einer Weise präsent war, dass sich ein ausdrücklicher Verweis erübrigte? 33 Hinzuweisen ist ferner auf PseudPhok 4, wo im Kontext der das Lehrgedicht eröffnenden Dekalogrezeption in V.3–8 der auf das Tötungsverbot Bezug nehmenden Mahnung ȝșૃ ĮȝĮIJȚ ȤİȡĮ ȝȚĮȞİȚȞ die Weisung ȝIJİ įંȜȠȣȢ ૧ʌIJİȚȞ vorangestellt ist (vgl. Sib 2,119). Für įંȜȠȢ im Zusammenhang mit einem Tötungsdelikt wird häufig auf Ex 21,14 und Dtn 27,24 verwiesen (s. P. VAN DER HORST, The Sentences of Pseudo-Phocylides. With Introduction and Commentary, SVTP 4, Leiden 1978, 112; K.-W. NIEBUHR, Gesetz und Paränese. Katechismusartige Weisungsreihen in der frühjüdischen Literatur, WUNT II.28, Tübingen 1987, 17). Zu erwägen ist freilich, ob hier Einfluss von Lev 19,16 vorliegt, woran das Nebeneinander von ĮੈȝĮ und įંȜȠȢ denken lässt. PseudPhok 4a könnte dann speziell auf gezielte Falschaussage im Gericht zu beziehen sein, die die Todesstrafe für den Beschuldigten nach sich zieht. Ein solcher Bezug schließt das Einwirken homerischer Phrasen wie ijંȞȠȞ ૧ʌIJİȚȞ (Od 16,379), țĮț ૧ʌIJİȚȞ (Od 3,118f [İੁȞİIJİȢ Ȗȡ ıijȚȞ țĮț ૧ʌIJȠȝİȞ ਕȝijȚʌȠȞIJİȢ ʌĮȞIJȠȠȚıȚ įંȜȠȚıȚ]; 16,423) oder įંȜȠȞ ਫ਼ijĮȞİȚȞ (Il 6,187) auf die Formulierung nicht aus (vgl. VAN DER HORST, Sentences [s.o.], 111; J. THOMAS, Der jüdische Phokylides. Formgeschichtliche Zugänge zu Pseudo-Phokylides und Vergleich mit der neutestamentlichen Paränese, NTOA 23, Freiburg – Göttingen 1992, 98f, Anm. 115; W.T. WILSON, The Sentences of Pseudo-Phocylides, CEJL, Berlin – New York 2005, 80). Ferner ist es auch durchaus möglich, ȝIJİ įંȜȠȣȢ ૧ʌIJİȚȞ nicht nur von V.4b her bzw. auf V.4b hin auf Ränke zu beziehen, die auf den Tod eines anderen zielen, sondern weiter zu fassen und auch unter dieser Schwelle liegende Formen unlauteren Vorgehens gegen andere angesprochen zu sehen. In diesem Fall könnte man PseudPhok 4 in die Reihe der Bedeutungsextensionen des Tötungsverbots einstellen. Dafür könnte sprechen, dass der Rekurs auf das Verbot des Ehebruchs in V.3 um die Warnung vor Männerliebe (vgl. PseudPhok 190f.213f) ergänzt ist (vgl. – ebenfalls im Rahmen einer Rezeption des Dekalogs – ApkAbr 24,5.7 sowie Philo, Decal 168; SpecLeg 3,37–42 und Did 2,2, vgl. ferner Sib 3,764; 4,33f; 5,166.430 [s. auch 3,594–600]; Philo, SpecLeg 2,50; Josephus, Ap 2,199; SapSal 14,26; 2Hen 34,2, vgl. ferner aber auch z.B. Musonius, Frg. 12: „Was aber andere Arten der Umarmung betrifft, so sind die durch Ehebruch die unsittlichsten, und nicht weniger abscheulich ist sexueller Verkehr von Männern mit Männern, weil dies ein Vergehen wider die Natur ist“ [p. 64, ed. Hense]), was darauf hindeutet, dass ähnlich wie bei Philo (Decal 168f u.ö.) das Dekaloggebot als Hauptsatz eines ganzen Themenbereichs begriffen ist. Zu erwägen ist zudem unabhängig von der Frage nach dem Verhältnis von V.4a und V.4b, dass die sich auf Dekaloggebote beziehende Einheit in V.3–8 eine das ganze Gedicht einleitende und summierende Funktion besitzt (vgl. WILSON , Sentences [s.o.], 76f, s. auch D. SÄNGER, Tora für die Völker – Weisungen der Liebe. Zur Rezeption des Dekalogs im frühen Judentum und Neuen Testament, in: Weisheit, Ethos und Gebot, hg. v. Graf Reventlow, 97–146: 107f). V.4 könnte man dann unter anderem in V.57f weitergeführt finden (vgl. unten Anm. 35).
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Philo thematisiert zudem unter der Rubrik des Tötungsverbots auch den Fall von Körperverletzung im Affekt mit und ohne Todesfolge (SpecLeg 3,104– 107) und beschreibt diesen Fall so, dass jemand plötzlich vom Zorn weggerissen wird.34 Zorn und Mord sind auch anderorts miteinander verbunden.35 Eine besondere Nähe ist hier zwischen Mt 5,21f und Did 3,2 zu verzeichnen. Did 3,2 ist Teil einer durchkomponierten Reihe von IJțȞȠȞ-Sprüchen, die deutliche Bezüge auf den Dekalog aufweist36 und wohl durch eine judenchristliche Bearbeitungsschicht37, zu der das Matthäusevangelium auch anderorts Affinität
Zieht man die rabbinische Literatur hinzu, ist insbesondere auf die Gleichstellung von Beschimpfung mit Blutvergießen in bBM 58b zu verweisen: „Wenn jemand seinen Nächsten öffentlich beschämt, so ist es ebenso, als würde er Blut vergießen“ (Übers. L. GOLDSCHMIDT, Der Babylonische Talmud, Bd. 7, Berlin 1933, 634). Eine ähnliche Radikalität begegnet in Derekh ’Eretz Rabbah 11,15 im Blick auf den hassenden Menschen: „One who hates his fellow, such a person belongs to the shedders of blood“ (Übers. M. VAN LOOPIK, The Ways of the Sages and the Way of the World. The Minor Tractates of the Babylonian Talmud: Derekh ’Eretz Rabbah – Derekh ’Eretz Zuta – Pereq ha-Shalom, TSAJ 26, Tübingen 1991, 164). Vgl. dazu 1Joh 3,15. 34 ૃǼȟĮʌȚȞĮȦȢ ਖȡʌĮıșİȢ ਫ਼ʌૃ ੑȡȖોȢ (SpecLeg 3,104). Vgl. mit șȣȝંȢ Philo, SpecLeg 3,92. 35 PseudPhok 57 mahnt zur Zügelung des Zorns mit der Begründung: „denn oft schon hat einer, der (zu schnell) zuschlug, ungewollt einen Mord vollbracht“. Zur Verbindung von Zorn und Mord in der frühjüdischen Toraparänese s. ferner TestDan 1,3f.7f (mit șȣȝંȢ); TestSeb 4,11 (vgl. TestSim 2,6–11). Vgl. auch die Aussagen über den Hass in TestGad 4,1– 7. 36 In Did 3,3 folgt (analog zu Mt 5,27f) eine Reflexion über den Ehebruch, Did 3,5 spricht den Diebstahl an. Zudem lassen sich auch die übrigen beiden Glieder in Did 3,2–6 an den Dekalog anbinden: Die Warnung vor Götzendienst in 3,4 korrespondiert dem Fremdgötterverbot (Ex 20,3–6; Dtn 5,7–10); die Warnung vor Blasphemie lässt sich an das Gebot, den Namen Gottes nicht zu missbrauchen (Ex 20,7; Dtn 5,11, so J.S. KLOPPENBORG, Didache 1.1–6.1, James, Matthew, and Torah, in: Trajectories through the New Testament and the Apostolic Fathers, hg. v. A.F. Gregory – C.M. Tuckett, Oxford 2005, 193–221: 209), bzw. an das neunte Gebot (Ex 20,16; Dtn 5,20, so C.N. JEFFORD, The Sayings of Jesus in the Teachings of the Twelve Apostles, SVigChr 11, Leiden 1989, 66) anschließen. Die Reihe deckt sich zugleich auffallend mit der in bYoma 67b („Die Rabbanan lehrten: Nach meinen Rechten sollt ihr handeln, das sind diejenigen [Gesetze], die, wenn sie nicht geschrieben worden wären, geschrieben werden müßten und zwar: über Götzendienst, Unzucht, Blutvergießen, Raub und Lästerung des [göttlichen] Namens“ [Übers. L. GOLDSCHMIDT, Der Babylonische Talmud, Bd. 3, Berlin 1930, 185]). – Zum Bezug von Did 3,2–6 auf den Dekalog vgl. JEFFORD, Sayings (s.o.), 64f; H. VAN DE SANDT, Didache 3,1–6: A Transformation of an Existing Jewish Hortatory Pattern, JSJ 23 (1992), 21–41: 25; KLOPPENBORG, Didache 1.1–6.1 (s.o.), 201.208.209. Einfluss des Dekalogs ist ferner für Did 2,2f sowie auch für 5,1 zu notieren (vgl. KLOPPENBORG, Didache 1.1–6.1 [s.o.], 207f). 37 Mit K. NIEDERWIMMER, Die Didache, KAV 1, Göttingen 21993, 59–63 bezeichne ich diese Schicht als Rezension C. Siehe zur Genealogie des Zwei-Wege-Traktats auch KLOPPENBORG, Didache 1.1–6.1 (s. Anm. 36), 195–197. – Der Interpolator muss allerdings nicht der Verfasser der Reihe der IJțȞȠȞ-Sprüche sein; vielmehr ist die Aufnahme eines
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zeigt38, in das Zwei-Wege-Traktat eingefügt wurde. Gibt Mt 5,21f den Mord als schlimmsten Ausdruck des ੑȡȖȗİȚȞ zu verstehen, so führt Did 3,2 den Mord auf den Zorn zurück.39 Die Stoßrichtungen der Texte konvergieren darin, eben nicht erst den Mord, sondern bereits den Zorn bzw. jegliche Artikulation des Zorns zu unterbinden.40 Einen gerechten bzw. gerechtfertigten Zorn41 kennt Did 3,2 sowenig wie Mt 5,22; Zorn wird prinzipiell negativ bewertet.42 Formal unterscheidet sich jedoch die Rezeption des Dekaloggebots in den beiden Texten. Die Reihe der IJțȞȠȞ-Sprüche warnt nach dem Motto‚wehret
(jüdischen) Traditionsstücks nicht nur möglich, sondern angesichts der Nähe zu frühjüdischer Weisheitstradition (s. v.a. TestXII) und der besonderen formalen Gestalt der Reihe sogar wahrscheinlich (vgl. z.B. JEFFORD, Sayings [s. Anm. 36], 63.68; VAN DE SANDT, Didache 3,1–6 [s. Anm. 36], ferner auch KLOPPENBORG, Didache 1.1–6.1 [s. Anm. 36], 196). Hingegen sieht A. VÖGTLE, Die Tugend- und Lasterkataloge im Neuen Testament. Exegetisch, religions- und formgeschichtlich untersucht, NTA 16, Münster 1936, 197 in Did 3,1–6 eine „Komposition des christlichen Autors“. 38 In der Rezension C (s. Anm. 37) wurde das Grundgebot der Gottesliebe (vgl. Barn 19,2) zum Doppelgebot ausgebaut. Die Bezeichnung der Gebote als ʌȡIJȠȞ und įİIJİȡȠȞ(Did 1,2, vgl. Mk 12,29.31; Mt 22,38f) dürfte dabei auf eine „christliche“ Hand verweisen (vgl. J. DRAPER, The Jesus Tradition in the Didache, in: Gospel Perspectives. The Jesus Tradition Outside the Gospels, Bd. 5, hg. v. D. Wenham, Sheffield 1985, 269–287: 272; J.S. KLOPPENBORG, The Transformation of the Moral Exhortation in Didache 1–5, in: The Didache in Context. Essays on Its Text, History and Transmission, hg. v. C.N. JEFFORD, NT.S 78, Leiden 1995, 88–109: 98; NIEDERWIMMER, Didache [s. Anm. 37], 91, anders H. VAN DE SANDT – D. FLUSSER, The Didache: Its Jewish Sources and its Place in Early Judaism and Christianity, CRINT III.5, Assen [MN] 2002, 158, Anm. 58). Affinität zum Matthäusevangelium besteht nun darin, dass in Did 1,3 die Goldene Regel an das Doppelgebot der Liebe angefügt ist und wie in Mt 7,12 als summarische Formulierung des Willens Gottes fungiert (vgl. dazu in diesem Band „The Love Command in Matthew, James, and the Didache“, 107). 39 Did 3,2 besteht aus zwei parallel gestalteten Gliedern, die jeweils eine Mahnung und einen Begründungssatz umfassen: Ȃ ȖȞȠȣ ੑȡȖȜȠȢ in 3,2a wird durch ȝȘį ȗȘȜȦIJȢ ȝȘį ਥȡȚıIJȚțઁȢ ȝȘį șȣȝȚțંȢ in 3,2b aufgenommen (vgl. NIEDERWIMMER, Didache [s. Anm. 37], 127, der in ȗȘȜȦIJȢ usw. eine Variation zu ੑȡȖȜȠȢ in 3,2a sieht); dem Begründungssatz įȘȖİ Ȗȡ ਲ ੑȡȖ ʌȡઁȢ IJઁȞ ijંȞȠȞ steht in 3,2b ਥț Ȗȡ IJȠIJȦȞ ਖʌȞIJȦȞ ijંȞȠȚ ȖİȞȞȞIJĮȚ zur Seite. – Zur Reflexion über den Zorn (ੑȡȖ/șȣȝંȢ) und dessen Folgen vgl. ferner z.B. Prov 15,18 (ਕȞȡ șȣȝઆįȘȢ ʌĮȡĮıțİȣȗİȚ ȝȤĮȢ); 29,22 (ਕȞȡ șȣȝઆįȘȢ ੑȡııİȚ ȞİțȠȢ ਕȞȡ į ੑȡȖȜȠȢ ਥȟઆȡȣȟİȞ ਖȝĮȡIJĮȢ); Sir 28,8–12. 40 In der Komposition von Did 3,1–6 wird dies durch die Eingangsmahnung, vor allem Bösen und allem ihm Ähnlichen zu fliehen, untermauert (3,1). Damit zu vergleichen ist, dass in Mt 15,19 der am Dekalog orientierten Aufzählung von Lastern die Rede von įȚĮȜȠȖȚıȝȠ ʌȠȞȘȡȠ vorangeht. 41 Siehe z.B. 1Makk 2,44; 2Makk 10,35; Sir 26,28LXX, ferner auch Sir 1,22 (zur Deutung vgl. VON GEMÜNDEN, Wertung [s. Anm. 21], 101 mit Anm. 29). 42 Vgl. Sir 27,30LXX; 28,3. Did 3,2 und Mt 5,22 stehen damit zugleich der stoischen Tradition nahe. Siehe dazu VON GEMÜNDEN, Wertung (s. Anm. 21), 99f.
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den Anfängen‘ vor vermeintlich lässlichen Sünden, indem gravierende Vergehen, nämlich die Übertretung von Dekaloggeboten der zweiten Tafel (3,2f.5) sowie Götzendienst (3,4) und Blasphemie (3,6), als Endresultat aufgewiesen werden.43 Die Warnung vor dem Zorn expliziert hier also nicht den Gehalt des Gebots selbst, sondern erscheint als eine Art Schutzmaßnahme, um nicht in die Gefahr einer Verletzung des Gebots zu kommen. 44 Für den matthäischen Jesus hingegen ist das Verbot des Zorns im Dekaloggebot selbst inbegriffen; hier geht es, wie ausgeführt, um ein extensives Verständnis des Gebots selbst. Dass der matthäische Jesus den vom Tötungsverbot inkriminierten Zorn mit dem Sprachverhalten (als Anfangsstufe) verbindet, fügt sich dabei dem Befund ein, dass Zorn und Reden auch anderorts miteinander verknüpft sind.45 Zieht man zusammen, so zeigt sich, dass in Mt 5,21f verschiedene Traditionslinien kreativ zusammengeführt werden, nämlich a) die Ausweitung des Begriffs des Tötens (Sir, 2Hen) bzw. die extensive Auslegung des Dekalogverbots des Tötens als Obersatz der Tora46, b) die Verbindung von Mord und Zorn (PseudPhok 57f; TestDan 1,3f.7f; Did 3,2) und c) der Konnex von Zorn und Sprachverhalten. Indem der Zorn als gemeinsamer Nenner von Mord und beleidigendem Sprachverhalten aufgedeckt wird, ergibt sich eine neue radikale Deutung des Tötungsverbots. Es tritt damit also zum einen ein vielfältiges Eingebundensein von Mt 5,21f in Traditionskomplexe frühjüdischer Unterweisung zutage47; zum anderen zeigt sich in der Inklusion jeglicher zwischenmenschlicher Aggression und Herabwürdigung eines anderen in das Tötungsverbot aber auch deutlich ein eigenes Profil von Mt 5,21f, das durch die Formulierung von V.22 in Form von Rechtsätzen noch eine besondere Prägnanz erhält. Die Ebene des irdisch praktikablen Rechtssatzes ist damit allerdings, wie oben angemerkt, gezielt verlassen. Ist V.23–26 dem Kontext nach als weitere Entfaltung der Bedeutung des Dekaloggebots zu lesen, dann wird hier dessen radikale Deutung insofern noch 43
Zu Parallelen zur Form der Mahnung in Did 3,2–6 in rabbinischer Literatur sowie den TestXII s. VAN DE SANDT, Didache 3,1–6 (s. Anm. 36), 27–30. 44 NIEDERWIMMER, Didache (s. Anm. 37), 125, Anm. 7 schreibt der Jesusüberlieferung eine größere Radikalität zu, denn in dieser werde konstatiert: „Zorn ist bereits Mord“, während Did 3,2 lediglich sage: „Zorn führt zum Mord“ (Hervorhebung im Original). Die Aussage von Mt 5,21f ist hier jedoch schwerlich adäquat getroffen (s. oben). 45 Siehe Platon, Phaedros 254C; Seneca, De ira 1,4,3; 3,6,1f; 14,5; Plutarch, Mor 90B– C; PsSal 16,10; 1QS 5,25; Josephus, Bell 3,438f; Kol 3,8; Jak 1,19f. 46 In Philos Expositio legis und wohl auch in PseudPhok 4 bildet dabei freilich das Moment einer (möglichen) Todesfolge des Verhaltens den gemeinsamen Nenner. 47 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Sir 22,24LXX Schmähungen als Vorstufe des Mordes anführt („Vor dem Feuer [gibt es] Dampf im Kamin und Rauch; so [kommen] vor dem Blut[vergießen] Schmähungen“ [Übers. Septuaginta Deutsch. Bd. 1: Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. v. M. Karrer u.a., Stuttgart 2009]). Zur Gleichstellung von Beschimpfung mit Blutvergießen in bBM 58b und zur Einstellung des Hassenden in die Reihe der Blutvergießer in Derekh ’Eretz Rabbah 11,15 s. oben Anm. 33).
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weiter zugespitzt, als der Evangelist das Tötungsverbot über die Inklusion aller Artikulationsformen des Zorns hinaus auch noch in das positive Gebot überführt, entstandene Störungen auszuräumen und Versöhnung anzustreben. V.23f kleidet dieses Anliegen in die Schilderung eines Falls, der zugleich die kategorische Überordnung des sozialethischen Bereichs über den Kult im Matthäusevangelium deutlich werden lässt.48 Wenn jemand gerade das Opfer darbringen möchte und ihm dann einfällt, dass jemand etwas gegen ihn hat, soll er – selbst dann noch – das Opfer liegen lassen und sich zuerst mit dem „Bruder“ versöhnen.49 Prägnant wird damit die Bedeutung der friedlichen Gestaltung des zwischenmenschlichen Miteinanders herausgestellt und der unlösliche Konnex zwischen sozialem Verhalten und Gottesverehrung markiert.50 Anders als in V.21f geht es nun in V.23f um die negative Haltung, die ein anderer gegen den Gemahnten hegt. Nicht angesprochen wird dabei der Grund der Beziehungsstörung; nicht ausgeführt ist damit zugleich, ob bzw. inwiefern der Groll des anderen berechtigt, also etwa Ergebnis einer Beschimpfung durch den Angesprochenen ist oder nicht. Die Mahnung „versöhne dich mit deinem Bruder!“ erscheint damit als ein grundsätzlich geltendes Prinzip. Der in V.25f angefügte kurze Passus aus der Logienquelle (Q 12,58f) setzt die Thematisierung der Überwindung einer Konfliktbeziehung fort. Im Blick ist nun aber die Situation eines Schuldprozesses. Jesu Mahnung klingt hier zunächst nach einem von Nützlichkeitserwägungen inspirierten weisheitlichen Ratschlag: Der Schuldner hat ein vitales Interesse, eine außergerichtliche Einigung zu erzielen.51 Die Mahnung dürfte freilich ‚doppelbödig‘ sein52: Es geht um die kurze Zeit bis zum Gericht Gottes, die die Menschen nutzen sollen, um aus Gegnern Freunde zu machen.53
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Vgl. dazu vor allem die oben erwähnte zweifache Zitation von Hos 6,6 in Mt 9,13; 12,7. Dass diese Vorordnung im Kontext alttestamentlich-frühjüdischer Tradition keine matthäische Sondermeinung ist, zeigt sich nicht nur durch Hos 6,6. Siehe vielmehr auch z.B. Jes 58,1–8; Jer 6,20; 7,3–11; Prov 15,8; 21,3.27; Sir 34,21–24; 35,1–12. 49 Eine Zurückweisung des Kultus liegt in Mt 5,23f indes nicht vor: Nach der Versöhnung soll man gehen und die Opfergabe darbringen (V.24). Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 17), 518. 50 Matthäus reiht sich damit wiederum in ein Basismotiv jüdischen Denkens ein. Gott zu verehren und seine Geschöpfe zu missachten, ist ein Widerspruch in sich (vgl. Prov 14,31; 17,5; 2Hen 44,1f; 52,1–6). Vielmehr: Wer Gott verehrt, sucht die Versöhnung und den Frieden mit seinen Geschöpfen. 51 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 19), 345. 52 Mit LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 19), 345. 53 Vgl. STRECKER, Bergpredigt (s. Anm. 17), 71; LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 19), 345f; GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 15), 151.157; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 15), 234.
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Festzuhalten ist damit: Mt 5,21–26 geht über den ursprünglichen Sinn des Dekaloggebots faktisch weit hinaus54, doch will Matthäus die Unterweisung Jesu nicht als Überbietung des Gebots, sondern als Entfaltung seines Sinns verstanden wissen. Der matthäische Jesus bietet dabei nicht nur ein äußerst extensives Verständnis des vom Tötungsverbot inkriminierten Verhaltens, sondern wendet darüber hinaus das Verbot auch ins Positive, indem er zur Überwindung von Störungen sozialer Beziehungen durch Versöhnung mahnt. Das Feindesliebegebot wird diesen Gedanken später ausführlicher aufnehmen (vgl. 5,43–48). Mit anderen Worten: Das Tötungsverbot wird im Horizont des Liebesgebots ins Positive gewendet55; Letzteres fungiert damit in der Antithesenreihe als Klammer.56 b) Die Interpretation des Ehebruchverbots Anders als in V.21 wird in V.27 in der These nur das Dekaloggebot zitiert. Auch hier geht es aber in der Gegenthese nicht darum, das Gebot zu überbieten, sondern darum, es gegenüber einer einschränkenden Auslegung in seinem Vollsinn zu erfassen. Wurde in V.21 die einschränkende Auslegung durch die Anfügung des Rechtssatzes in V.21c signalisiert, so geht diese in V.27f aus der Gegenthese hervor. Anders nämlich als in V.21f wird in Jesu Weisung das Verb des Dekaloggebots (ȝȠȚȤİİȚȞ) aufgenommen und definiert, was darin eingeschlossen ist. Der formalen Differenz zwischen den Thesen in V.21 und V.27 korrespondiert also eine unterschiedliche Weise des Bezugs auf die zitierten Dekaloggebote in den Gegenthesen. Als kritisiertes Gegenüber zur Tatbestandsdefinition in V.28, wann bereits Ehebruch vorliegt, ist für V.27 die Deutung impliziert, dass Ehebruch erst mit dem Vollzug des Geschlechtsverkehrs mit einer anderen (Ehe-)Frau gegeben sei.57 Bei diesem Verständnis ist alles, was unter dieser Schwelle liegt, außerhalb des Blickfeldes; es würde jedenfalls nicht vom siebten Gebot erfasst.
54 Insofern, aber auch nur insofern ist die Anmerkung von DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 17), 511 im Recht: „Jesus now goes beyond the teaching of the sixth commandment to demand an end to anger and hateful speech“. 55 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 19), 344; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 15), 228.231f. 56 Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 15), 157. 57 Ebenso W. LOADER, Sexuality and the Jesus Tradition, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) 2005, 14; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 15), 236: „The implied interpretation that is opposed is the limitation of the adultery command to the physical act of adultery“.
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Der matthäische Jesus legt das Gebot dagegen dahingehend aus, dass mit ihm bereits das Anblicken der Ehefrau eines anderen58 verboten ist, das sexuelle Absichten im Sinn hat. Man wird kaum fehlgehen, dass mit ʌȡઁȢ IJઁ ਥʌȚșȣȝોıĮȚ ĮIJȞ das zehnte Gebot in die Interpretation des Ehebruchverbots einfließt.59 Zentral für das Verständnis ist, dass die genannte Infinitivkonstruktion – schon aufgrund der Analogien zu dieser Konstruktion im Matthäusevangelium (6,1; 13,30; 23,5; 26,12) – nicht konsekutiv, sondern final aufzufassen ist.60 Vom Begehren ist hier also nicht als Folge des Anblicks einer Frau die Rede, d.h. es geht nicht darum, dass der Anblick einer Frau ein inneres Begehren auslöst.61 Das Thema ist vielmehr, dass der Ehefrau eines anderen ein begehrlicher Blick zugeworfen wird62, dass sie in einer konkreten interpersonalen Handlung „begehrt“ wird. Details wie z.B. die Frage, ob bzw. in welcher Weise gegenseitiger Blickkontakt besteht – je nachdem könnte konkreter an einen gezielten Blick, der verführen will, zu denken sein – werden nicht ausgeführt. Matthäus konzentriert sich auf die Feststellung, dass – unabhängig davon, ob der Blick ‚Erfolg‘ hat, ob die begehrte Frau ihn zur Kenntnis nimmt und darauf positiv reagiert – schon mit dem begehrlichen Blick der Tatbestand des Ehebruchs gegeben ist, denn der Mann hat im Herzen die Ehe bereits gebrochen. Das Herz ist hier im Sinne biblischer Anthropologie als das Personzentrum des Menschen gedacht, als Sitz seines Denkens und Wollens.63 ਫȞ IJૌ țĮȡį ĮIJȠ૨ macht deutlich, dass hier der ganze Mensch samt seiner inneren Disposition in den Blick genommen wird. Zugleich ist aber zu betonen, dass analog zu V.22 das Augenmerk auch in V.28 auf konkretes Verhalten gerichtet ist: Dass im Herzen die Ehe bereits gebrochen wurde, zeigt sich eben an dem begehrlichen 58 Da es nach der Themenangabe in der These von V.27 nicht allgemein um Unzucht (ʌȠȡȞİĮ), sondern um Ehebruch geht, ist in V.28 mit ȖȣȞ die Ehefrau eines anderen gemeint. Es geht hier also weder um Beziehungsanbahnung unter Verliebten noch um eine Reflexion über das Sexualleben in der Ehe (vgl. dazu unten Anm. 66), sondern darum, eine fremde Ehefrau zu begehren. Über Sexualität an sich wird hier nichts gesagt. – Zur Deutung von ȖȣȞin Mt 5,28 vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 19), 350; NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 15), 236; LOADER, Sexuality (s. Anm. 57), 14. Anders D.A. HAGNER, Matthew 1–13, WBC 33A, Dallas (TX) 1993, 120: „any ‘woman’ and not simply the wife of another”. 59 Siehe dazu W. LOADER, The Septuagint, Sexuality and the New Testament. Case Studies on the Impact of the LXX in Philo and the New Testament, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) 2004, 20f. 60 Ebenso z.B. LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 19), 350f; LOADER, Sexuality (s. Anm. 57), 15. 61 Siehe dazu z.B. Sus 7f (LXX: ȠIJȠȚ ੁįંȞIJİȢ ȖȣȞĮțĮ ਕıIJİĮȞ IJ İįİȚ … țĮ ਥʌȚșȣȝıĮȞIJİȢ ĮIJોȢ, Theod.: țĮ ਥșİઆȡȠȣȞ ĮIJȞ Ƞੂ įȠ ʌȡİıȕIJİȡȠȚ țĮșૃ ਲȝȡĮȞ İੁıʌȠȡİȣȠȝȞȘȞ țĮ ʌİȡȚʌĮIJȠ૨ıĮȞ țĮ ਥȖȞȠȞIJȠ ਥȞ ਥʌȚșȣȝ ĮIJોȢ). Vgl. auch Prov 6,25LXX sowie der Sache nach auch TestRub 3,9–12. 62 ǺȜʌȦȞmeint entsprechend nicht den zufälligen, sondern den gezielten Blick. 63 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 19), 285.
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Blick bzw. wird aus diesem erschlossen. Wie in 15,19 lasterhaftes Verhalten, darunter Ehebruch, „aus dem Herzen“ kommt, so verweist hier also in umgekehrter Aussagerichtung der begehrliche Blick auf die auf Ehebruch gerichtete Disposition des Herzens. Zieht man noch einmal das oben zu ʌȡઁȢIJઁਥʌȚșȣȝોıĮȚĮIJȞ(V.28) Gesagte hinzu, lässt sich die Bedeutung von ਵįȘ ਥȝȠȤİȣıİȞ ĮIJȞ ਥȞ IJૌ țĮȡį ĮIJȠ૨ noch präziser fassen, indem sie gegen eine vom Text nicht gedeckte Deutung abgegrenzt wird: Mit der Aussage, dass die Ehe im Herzen bereits gebrochen wurde, wird festgestellt, dass eine Person sich zum Ehebruch schon innerlich entschlossen hatte; der begehrliche Blick geht aus dem zum Ehebruch entschlossenen Herzen hervor. In dieser Erweiterung des ‚Tatbestands‘ des Ehebruchs ist aber nicht zugleich auch inbegriffen, dass ebenso in dem – in V.28, wie ausgeführt, nicht thematisierten – Fall, dass der Anblick einer Frau ein Begehren entfacht, Ehebruch vorliegt. Denn in diesem Fall besteht noch die Option, dass der Betreffende seinem „Begehren“ Herr wird, so dass dieses sich nicht zu einer Disposition des Herzens auswächst, es also nicht zu einem auf Ehebruch gerichteten ‚Herzensentschluss‘ kommt, dem dann – bei nächster Gelegenheit – ein entsprechendes Handeln folgt.64 Der von Jesus als Ehebruch gewertete begehrliche Blick hingegen ist Ausweis davon, dass dem Begehren in einer Weise Raum gegeben wurde, dass es vom „Herzen“ Besitz ergriffen hat und das Personzentrum bestimmt. Beachtet man den zu V.22 analogen Einsatz der Gegenthese in V.28 mit ʌ઼Ȣ und Partizip, ist zu erwägen, dass der Ton wie in V.22 auf ʌ઼Ȣ liegt. Zu deuten ist dann: Nicht nur und erst der, dessen begehrlicher Blick erwidert wird, ist für den Fall, dass es schließlich zum Geschlechtsakt kommt, des Ehebruchs schuldig, sondern jeder, der eine andere Frau in begehrlicher Absicht anblickt, ist ein Ehebrecher. Fragt man wieder, wie sich die Gebotsauslegung des matthäischen Jesus zu Tendenzen frühjüdischer ethischer Reflexion verhält, tritt erneut eine signifikante Nähe zutage. Analog zum Tötungsverbot ist auch hier darauf zu verweisen, dass das Ehebruchverbot bei Philo im Zuge seiner Auffassung der Dekaloggebote als Summe der ganzen Tora eine erhebliche Bedeutungsausweitung
64 Anders akzentuiert GUNDRY, Matthew (s. Anm. 17), 88: „The phrase ‘in his heart’ precludes a toning down of Jesus’ statement by limiting it to lust that has begun to take steps toward its satisfaction.“ – Streng genommen ist in V.28 zudem auch der Fall, dass jemand zwar (in seiner Phantasie) eine andere Frau begehrt, sich dies aber nicht anmerken lässt (vgl. z.B. Epiktet, Diss 2,18,15f), nicht inbegriffen. Anders z.B. P. FOSTER, Community, Law and Mission in Matthew’s Gospel, WUNT II.177, Tübingen 2004, 103 („Jesus’ pronouncement broadens the understanding of what constitutes adultery, by encapsulating not only physical acts but also inward thought.“) und NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 15), 235 („the adultery commandment is expanded to include indulgence in illicit sexual activity in the realm of the imagination“ [Hervorhebung M.K.]).
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erfahren hat: Es erscheint als Obersatz über alle sexualethischen Weisungen. 65 Diese Funktion ist damit verbunden, dass Philo sexuelle Vergehen insgesamt als Ausdruck mangelnder Lustkontrolle erachtet.66 Auch anderorts richtet sich der Blick nicht bloß auf den vollzogenen Geschlechtsverkehr, sondern die ethische Reflexion bezieht Vorstufen dazu ein und zielt umfassend auf die sexualethische Gesinnung. Von besonderem Gewicht ist auch hier Did 3. V.3a führt die ʌȠȡȞİĮ auf die ਥʌȚșȣȝĮ zurück (vgl. ʌȡઁȢ IJઁ ਥʌȚșȣȝોıĮȚ ĮIJȞ in Mt 5,28); V.3b nennt neben dem ĮੁıȤȡȠȜંȖȠȢ den ਫ਼ȥȘȜંijșĮȜȝȠȢ, von dem Ehebrüche (ȝȠȚȤİĮȚ) hervorgebracht werden. Im Blick auf Mt 5,28 ist hier insbesondere die Verbindung von Ehebruch und lüsternem Blick zu vermerken.67 Der lüsterne Blick ist
65 Siehe vor allem Philo, Decal 168f: „Von der zweiten Reihe ist das erste Hauptstück das gegen Ehebrecher, unter welches sehr viele Gesetze fallen, wie die gegen Verführer, gegen Knabenschänder, gegen die, die ein ausschweifendes Leben führen und gesetzwidrigen und unzüchtigen Geschlechtsverkehr pflegen. Alle diese Arten hat das Gesetz nicht aufgeführt, um die große Mannigfaltigkeit der Zügellosigkeit zu zeigen, sondern um den ein unanständiges Leben Führenden das Beschämende ihres Tuns recht klar zu machen und ihre Ohren mit allem Schimpf zu erfüllen, sodass sie erröten müssen“. Zur Ausführung des Programms s. SpecLeg 3,8–82. – Dem systematischen Ansatz Philos steht zur Seite, dass sich anderorts an die Aufnahme des Ehebruchverbots weitere sexualethische Mahnungen angelagert haben. So ist in PseudPhok 3 wie auch in Sib 3,764 die Anspielung auf das Ehebruchverbot um die Ablehnung homoerotischen Verkehrs erweitert (s. auch ApkAbr 24,5.7). 66 Philo beginnt in Decal 121–131 die Begründung, warum der Ehebruch unter den durch die zweite Tafel der Zehn Gebote verbotenen Handlungen „das größte der Verbrechen“ sei (121) und deshalb das Ehebruchverbot die zweite Tafel eröffne, mit dem Argument, dass der Ehebruch die ijȚȜȘįȠȞĮ zur Quelle hat (122). Dem steht in der Entfaltung des Ehebruchverbots in SpecLeg 3,8–82 zur Seite, dass die Voranstellung des Ehebruchverbots damit erklärt wird, dass die ਲįȠȞ überall auf der bewohnten Welt verbreitet ist (3,8). Philo kann auf dieser Basis sogar allzu leidenschaftlichen ehelichen Verkehr tadeln (3,9, vgl. 3,34– 36.113; vgl. zu dieser Tendenz Musonios, Fragm. 12 [p. 64, ed. Hense ]; Tob 8,7LXX; TestIss 3,5; PseudPhok 193f; PseudPhiloJona 148; Josephus, Bell 2,161 sowie auch 1Thess 4,3–5). 67 Beim ਫ਼ȥȘȜંijșĮȜȝȠȢ speziell an den Voyeur zu denken (s. die Übersetzung in A. LINDEMANN – H. PAULSEN, Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von Franz Xaver Funk/Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker, Tübingen 1992, 7 sowie K. WENGST, Didache [Apostellehre] – Barnabasbrief – Zweiter Klemensbrief – Schrift an Diognet, SUC 2, Darmstadt 1984, 71, Anm. 16), ist nicht zwingend. Mindestens ebenso gut kann der lüstern verführerische Blickkontakt (mit einer Frau) gemeint sein. G. SCHÖLLGEN, Didache – Zwölf-Apostel-Lehre, in: Didache - ZwölfApostel-Lehre/Traditio Apostolica – Apostolische Überlieferung, hg. v. dems. – W. Geerlings, FC 1, Freiburg u.a. 1991, 23–139: 107 übersetzt ȝȘįਫ਼ȥȘȜંijșĮȜȝȠȢmit „habe keine lüsternen Augen“; B.D. EHRMAN, The Apostolic Fathers. I Clement, II Clement, Ignatius, Polycarp, Didache, LCL 24, Cambridge 2003, 421 mit „nor be […] lecherous“. – Zur Sache vgl. TestIss 7,2 (dazu oben im Folgenden) und die Belege in Anm. 70.
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auch sonst mehrfach Thema in frühjüdischer Literatur.68 Eine besonders enge Affinität zu Mt 5,28 zeigt sich dabei in den TestXII. Nach TestBenj 8,2 sieht jemand, „der eine reine Gesinnung in Liebe hat, nicht eine (Ehe-[?])Frau69 zur Unzucht an (ȠȤȡઽȖȣȞĮțĮİੁȢʌȠȡȞİĮȞ), denn er hat keine Befleckung im Herzen (ਥȞ țĮȡį֖“ (vgl. ਥȞ IJૌ țĮȡį ĮIJȠ૨ in Mt 5,28). Ähnlich führt der lautere Landmann Issachar im Rahmen seines Unschuldsbekenntnisses (TestIss 7,1–6) gleich zu Beginn aus: „Außer meiner Frau wohnte ich keiner anderen bei, ich trieb nicht Unzucht durch Erheben meiner Augen (Ƞț ਥʌંȡȞİȣıĮ ਥȞ ȝİIJİȦȡȚıȝ ੑijșĮȜȝȞ ȝȠȣ)“ (7,2).70 Während man TestBenj 8,2 so verstehen kann, dass der Blick zur Unzucht (İੁȢʌȠȡȞİĮȞ) hinführt, ist bei TestIss 7,2 deutlich, dass das begehrliche Anblicken einer anderen
68 In der Weisheitsliteratur wird der lüsterne bzw. verführerische Blick verschiedentlich Frauen angelastet (Prov 6,25; Sir 26,9.11LXX; 4Q184 Fragm. 1 13f). In besonderer Schärfe tritt ein negatives Frauenbild in TestRub 5,1–6,4 zutage (s. gleich zu Beginn in 5,1 die pauschale Aussage: „Böse sind die Frauen“, vgl. dazu M. KÜCHLER, Schweigen, Schmuck und Schleier. Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der Frauen auf dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Exegese des Alten Testaments im antiken Judentum, NTOA 1, Göttingen – Freiburg (Schweiz) 1986, 158–162.441–445). Nach TestRub 5,3 wurde Ruben durch den Engel Gottes belehrt, „dass die Frauen dem Geist der Hurerei eher unterliegen als der Mann. Im Herzen schmieden sie Pläne gegen die Männer, und durch den Schmuck verwirren sie zuerst deren Gedanken, und durch den Blick säen sie das Gift (țĮ įȚ IJȠ૨ ȕȜȝȝĮIJȠȢ IJઁȞੁઁȞਥȞıʌİȡȠȣıȚ), und dann nehmen sie (sie) durch die Tat gefangen“ (vgl. dazu M. KONRADT, „Fliehet die Unzucht!“ (TestRub 5,5). Sexualethische Perspektiven in den Testamenten der zwölf Patriarchen, in: Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament – Wechselseitige Wahrnehmungen. Internationales Symposium in Verbindung mit dem Projekt Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti (CJHNT), 17.– 20. Mai 2012, Heidelberg, hg. v. M. Konradt – E. Schläpfer, WUNT 322, Tübingen 2014, 249–281: 269–274, bes. 271f). Philo bietet in Virt 34–41 eine haggadische Ausmalung von Num 25,1f, in der er die – allerdings von den midianitischen Männern ersonnene – gezielte Verführung der Israeliten durch die Schönheit der Frauen (in Anknüpfung an Num 31,16 als Rat Bileams hingegen in Philo, VitMos 1,294–301; Josephus, Ant 4,129–132; LAB 18,13f) als warnendes Beispiel aufführt und darin unter anderem ausführt, dass die Frauen die Israeliten durch dirnenhafte Blicke (ȕȜȝȝĮıȚȞਦIJĮȚȡȚțȠȢ) köderten (40). Hingegen steht in PsSal 4,4a der Mann in der Kritik: „Seine Augen sind ohne Unterschied auf jede Frau (gerichtet)“. Siehe auch Hiob 31,1 sowie 1QS 1,6; CD 2,16. – Geläufig ist daneben die Mahnung, nicht auf die Schönheit einer Frau zu achten (s. z.B. Sir 9,8; 25,21LXX; TestRub 3,10– 12; TestJuda 17,1, vgl. auch TestIss 4,4). 69 Da TestBenj 8,2 nicht von ȝȠȚȤİĮ, sondern umfassender von ʌȠȡȞİĮ spricht, kann man fragen, ob ȖȣȞ hier weiter zu fassen ist als in Mt 5,28. 70 Vgl. zur Formulierung die Aussage über den „guten Mann“ in TestBenj 6,3 (Ƞ ʌȜĮȞ઼IJĮȚ ȝİIJİȦȡȚıȝȠȢ ੑijșĮȜȝȞ) sowie ferner Sir 23,4LXX. In einem eindeutig sexuellen Kontext begegnet das Motiv des Erhebens der Augen in Jub 39,5: „Und Joseph war schön in seinem Aussehen und sehr wohlgestaltet in seinem Aussehen. Und die Frau seines Herrn erhob ihre Augen, und sie sah Joseph, und sie gewann ihn lieb. Und sie bat ihn, dass er mit ihr liege“.
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Frau71 selbst schon als ʌȠȡȞİİȚȞ gewertet wird. Ob dabei Blickkontakt eingedacht ist oder Hinterherschauen gemeint ist, ist nicht sicher zu entscheiden. Mt 5,28 lässt sich in diese Traditionsspur sexualethischer Reflexion einstellen72, nur wird in Mt 5,28 mit der Aufnahme von ȝȠȚȤİİȚȞaus V.27 – anstelle des semantisch offeneren ʌȠȡȞİİȚȞ von TestIss 7,2 – speziell das Anblicken einer verheirateten Frau thematisiert73 und konkret die Übertretung des Dekaloggebots74 konstatiert: Das Dekalogverbot des Ehebruchs richtet sich nicht nur gegen die vollendete Tat, sondern ein adäquates Verständnis muss bei dem Versuch zum Ehebruch ansetzen und die Disposition in den Blick nehmen. Nur so wird man der tieferen und eigentlichen Intention des Gebotenen gerecht.75 Nun war Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau eines anderen in der (jüdischen) Antike nicht nur ein moralisches, sondern ein justiziables Vergehen.76 Anders als in V.21f wird die juristische Konsequenz in V.27f allerdings nicht angeführt. In der Erweiterung der eigentlichen Gegenthese (V.28) in V.29f, in 71
TestIss 7,2b dürfte sich im Kontext auf die am Ende von 7,2a genannte „andere“ Frau beziehen, also nicht den Blickkontakt auch zur eigenen Frau umfassen, wenngleich ein umfassenderes Verständnis im Lichte von Texten wie TestIss 2,3; 3,5 oder Tob 8,7 (vgl. dazu oben Anm. 66) nicht auszuschließen ist. 72 Es ist zugleich festzuhalten, dass Mt 5,28 zu einer frauenfeindlichen Traditionsspur in der frühjüdischen Weisheitstradition quer steht. Das verführerische Verhalten wird in Mt 5,28 nämlich nicht der Frau zugeschrieben (s. oben Anm. 68); vielmehr wird der Mann belastet. 73 Die frühjüdische ethische Unterweisung steht dem Gang zur Prostituierten strikt ablehnend gegenüber. Ehebruch wird aber als noch gravierender gewertet als der Umgang mit Prostituierten (vgl. z.B. Prov 6,26–35; Sir 26,22LXX und vor allem Philo, Jos 43f; nach Philo, SpecLeg 3,64 ist auch die Entehrung einer alleinstehenden Frau „ein leichteres Vergehen als Ehebruch, etwa ein halb so schweres“). Das heißt aber nicht, dass ȝȠȚȤİİȚȞ in Mt 5,28 im Vergleich zu ʌȠȡȞİİȚȞ in TestIss 7,2 zwingend ein schlimmeres Vergehen meint. Die Rede vom ʌȠȡȞİİȚȞ bzw. von der ʌȠȡȞİĮ umfasst nach frühjüdischem Verständnis jede Form von außerehelichem Geschlechtsverkehr, also etwa den Gang zur Prostituierten ebenso wie die ȝȠȚȤİĮ im Sinne des geschlechtlichen Umgangs mit der Frau eines anderen. 74 Vgl. dazu LevR 23 (122b): „Auch der, welcher mit seinen Augen die Ehe bricht, wird Ehebrecher genannt“. Für das Unschuldsbekenntnis Issachars in TestIss 7,2–6 ist Einfluss des Dekalogs postuliert worden (s. M. EBERSOHN, Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition, MThSt 37, Marburg 1993, 76 sowie auch SÄNGER, Tora [s. Anm. 33], 102f). 75 Das Eingebundensein von Mt 5,28 in Tendenzen frühjüdischer Toraunterweisung unterstreicht dabei noch einmal von traditionsgeschichtlicher Seite, dass Jesu Gegenthese nicht im Sinne einer Überbietung des Toragebots, sondern als dessen Interpretation zu verstehen ist. Dass dem matthäischen Kontext nach den Schriftgelehrten und Pharisäern ein bloß buchstäbliches Verständnis des Gebots untergeschoben wird, gehört zum Konfliktsetting des ersten Evangeliums. 76 Lev 20,10 und Dtn 22,22 sehen die Todesstrafe für den Ehebrecher wie für die Frau vor (s. ferner z.B. Philo, SpecLeg 3,11; Hypoth 7,1; Josephus, Ant 3,274f; Ap 2,215), doch lässt sich dies nicht (pauschal) auf die frühjüdische Rechtspraxis übertragen (s. dazu exemplarisch W. LOADER, The New Testament on Sexuality, Grand Rapids [MI] – Cambridge [UK] 2012, 6–9).
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der sich Jesu Unterweisung der Frage zuwendet, wie Ehebruch (im Sinne von V.28) zu vermeiden ist77, wird hingegen erneut auf das (Straf-)Gericht Gottes, auf die „Gehenna“, rekurriert. Analog zur ersten Antithese ist damit auch hier festzuhalten: Als im göttlichen Gericht gültiger Rechtssatz ist das Verbot des Ehebruchs nicht auf den vollzogenen Geschlechtsakt eingrenzbar; vor Gott wird der Mensch vielmehr bereits für jede Handlung, die gegenüber einer verheirateten Frau sexuelle Absichten verfolgt, als Verstoß gegen den Willen Gottes zur Rechenschaft gezogen. Damit es soweit nicht kommt, gibt 5,29f drastisch formulierte Anweisungen. Der in V.29a angeführte Fall (İੁ į ݷ ݸijșĮȜȝިȢ ıȠȣ įİȟȚઁȢ ıțĮȞįĮȜȗİȚ ıİ) knüpft mit der Rede vom Auge als dem zur Sünde verführenden Organ direkt an ʌ઼Ȣ ȕȜʌȦȞ in V.28 an78 und spricht nun genau den Aspekt an, um den es nach der obigen Interpretation in V.28 (noch) nicht ging: Mit dem Fall, dass das Auge zur Sünde veranlasst, wird jetzt das durch den Anblick einer Frau ausgelöste Begehren zum Thema. Die Apodosis führt aus, wie dann zu reagieren ist, um den Fehltritt zu verhindern. Die Mahnung, das Auge auszureißen (bzw. die Hand abzuhauen, V.30), ist dabei schwerlich wörtlich zu nehmen 79, als empfehle Jesus hier partielle Selbstverstümmelung, damit nicht der ganze Mensch im Gericht Gottes ruiniert wird, sondern ist im Sinne einer hyperbolischen, metaphorischen Sprechweise zu verstehen.80 Gemeint ist schlicht, dass man, wenn man an der Frau eines anderen Gefallen findet, den Blick abwenden bzw. weggehen soll81, bevor das Begehren von der Disposition des Herzens Besitz ergreift und aus dem bloßen Anblick das Zuwerfen eines begehrlichen bzw. verführerischen Blicks wird. „Der Differenz zu V.28 entspricht, dass der Vorwurf des Ehebruchs nicht wiederholt wird, was wiederum die Deutung von V.28 bestätigt. V.29 thematisiert die Vorstufe zu V.28.“82 77 Vgl. NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 15), 239: In 5,29f geht es um „the avoidance of (any repetition of) the sin of adultery (in the extended sense that has been insisted on).“ 78 Im Unterschied zur innermatthäischen Parallele von 5,29f in 18,8f (par Mk 9,43–47) ist hier das Wort vom Auge um des direkten Anschlusses an 5,28 vorangestellt. 79 Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium I (s. Anm. 15), 162; LUCK, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 17), 70; P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1, Stuttgart 2006, 138 et al. 80 Vgl. exemplarisch DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 17), 524. 81 Das Motiv der Kontaktvermeidung ist in frühjüdischer Tradition mehrfach bezeugt. Siehe z.B. Sir 9,8f: „Bedecke dein Auge vor der anmutigen Frau, und nicht sollst du auf Schönheit schauen, die dir nicht gehört. Wegen einer Frau sind viele zugrunde gegangen, ja ihre Liebhaber wird sie im Feuer verbrennen. Mit einer Ehefrau zusammen sollst du nicht speisen, und nicht sollst du mit ihr zusammen trinken, damit du dich ihr mit deinem Herzen nicht zuneigst und durch (die Erregung) des Blutes dich hinneigst zum Verderben“ (vgl. ferner Sir 41,22fLXX; TestRub 3,10–12; 6,1–3). Einer prinzipiellen Kontaktvermeidung redet Jesus aber gerade nicht das Wort (vgl. LUCK, Evangelium nach Matthäus [s. Anm. 17], 70). 82 KONRADT, Evangelium (s. Anm. 10), 88.
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Analog dazu ist V.30 zu verstehen: Bei der Rede von der Hand, die zur Sünde veranlasst, ist daran zu denken, dass das Verlangen aufkommt, die Ehefrau eines anderen zu berühren. Das Abhauen der Hand ist wiederum hyperbolischer Ausdruck dafür, dass man sich in einem solchen Fall konsequent abwenden muss, damit es nicht zu einer entsprechenden Handlung kommt, mit der dann der Tatbestand des Ehebruchs vorliegen würde. Kurzum: Die drastische Metaphorik des Ausreißens des Auges und des Abhauens der Hand schärft die Bedeutung der Anweisung ein: Ist der Tatbestand des Ehebruchs bereits gegeben, wenn man einer Ehefrau einen begehrlichen Blick zuwirft, muss man Acht geben, ein entstehendes Verlangen sofort zu unterbinden. Ich ziehe ein Zwischenfazit: Matthäus präsentiert Jesus in 5,21–30 am Beispiel zweier gewichtiger Dekaloggebote als wahren Ausleger des in der Tora laut werdenden Gotteswillens auf der Kontrastfolie eines bloß buchstäblichen Verständnisses der Gebote, wie es die Adressaten von den Schriftgelehrten und Pharisäern (V.20) zu hören (țȠıĮIJİ) bekommen haben. Jesu Position wird in der Forschung häufig als Verschärfung oder Radikalisierung der Gebote bezeichnet.83 Wenn man damit eine Überbietung der Gebote verbindet, trifft dies m.E. die matthäische Position nicht exakt. Adäquater erscheint mir, von einer radikalen oder extensiven Auslegung der Gebote zu sprechen, die deren tiefere Intention auslotet. c) Das Schwurverbot in Mt 5,33–37 und sein möglicher Bezug auf den Dekalog Neben dem eindeutigen Befund in Mt 5,21–26.27–30 ist ein Bezug auf den Dekalog im Rahmen der Antithesenreihe für das Schwurverbot in Mt 5,33–37 erwogen worden. In der These in V.33 wird kein Gebot wörtlich zitiert. Die These hat aber mit Stellen wie Lev 19,12 (zu V.33b) und Num 30,3; Dtn 23,22 (zu V.33c) eine pentateuchische Basis (vgl. zu V.33b ferner z.B. Sach 8,17). Zur Formulierung Ƞț ਥʌȚȠȡțıİȚȢ in V.33b ist zudem auf PseudPhok 16 (ȝ įૃਥʌȚȠȡțıૉȢ ȝIJૃ ਕȖȞઅȢ ȝIJİ ਦțȠȞIJ) und vor allem Did 2,3 (Ƞț ਥʌȚȠȡțıİȚȢ) als Parallelen zu verweisen, die auf die Beheimatung der Warnung vor dem Meineid in der frühjüdischen Toraparänese und damit auf diese als Kontext von Mt 5,33b verweisen. V.33c steht besonders Ps 49,14LXX nahe. Ungewöhnlich ist in V.33c die Konstruktion von ਕʌȠįȚįંȞĮȚ mit IJȠઃȢ ȡțȠȣȢ, weil hier vom geläufigen Sprachgebrauch her – wie z.B. in Ps 49,14LXX – IJȢ İȤȢ zu erwarten wäre84. Matthäus wollte die Aussage aber offenbar einheitlich unter den thematischen Aspekt des Eides stellen, was zu erkennen gibt, dass die These auf der Grundlage des Schwurverbots und also als Widerlager
83 Siehe für viele W. PRATSCHER, Die Bedeutung des Dekalogs im Neuen Testament, SNTU.A 26 (2001), 189–204: 194f und LÖHR, Dekalog (s. Anm. 1), 36. 84 Vgl. G. DAUTZENBERG, Ist das Schwurverbot Mt 5,33–37; Jak 5,12 ein Beispiel für die Torakritik Jesu?, BZ NF 25 (1981), 47–66: 52 mit Belegen.
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zur Gegenthese konstruiert wurde. Zugleich legt dies nahe, dass die antithetische Einkleidung des Schwurverbots sekundär ist.85 Die nicht-antithetische, paränetische Form in Jak 5,12 stellt also die ursprünglichere Fassung dar. Verfolgt man die Option eines Dekalogbezuges in Mt 5,33–37, ist – trotz des Nebeneinanders von Ƞț ਥʌȚȠȡțıİȚȢund Ƞ ȥİȣįȠȝĮȡIJȣȡıİȚȢ in Did 2,3 – schwerlich (primär) an das neunte Gebot in Ex 20,1686, sondern (an erster Stelle) an das dritte Gebot in Ex 20,7 zu denken.87 Denn Meineide und nicht gehaltene Eide bzw. Gelübde sind nicht nur in ihrer sozialen Dimension als Vergehen gegen Mitmenschen zu sehen, sondern zugleich, ja vor allem als Vergehen gegen Gott, weil Gottes Name entheiligt und missbraucht wird (Lev 19,12). Entsprechend verhandelt Philo die Schwurfrage prominent in Decal 82–95 im Zusammenhang des dritten Gebots, den Namen Gottes nicht zu missbrauchen (vgl. SpecLeg 2,2–38), und führt im Rahmen des Überblicks über die Zuweisung der Einzelgebote zu den Zehn Geboten in Decal 157 aus: „Unter das dritte Gebot fallen alle Bestimmungen über das Nichtschwören sowie darüber, wegen welcher Dinge und wann und wo zu schwören ist, ferner wer schwören soll und wie man an Seele und Leib dazu beschaffen sein muss, und was sonst noch über rechtes Schwören und das Gegenteil von Gott verordnet ist.“ Besonders instruktiv ist schließlich, dass Philo und Josephus eng verwandte Paraphrasen des dritten Gebots bieten. So bezeichnet Philo das dritte Gebot in einem Rückblick auf die ersten vier Gebote in SpecLeg 2,224 als „Verbot des Meineides und überhaupt leichtfertigen Schwörens (IJઁ ʌİȡ IJȠ૨ ȝ ȥİȣįȠȡțİȞ ਲ਼ ıȣȞંȜȦȢ ȝIJȘȞ ੑȝȞȞĮȚ)“, und Josephus gibt in seiner Paraphrase des Dekalogs in Ant 3,91f als Lehre des dritten Gebots an, bei Gott über nichts Unbedeutendes zu schwören (3,91: … ਥʌ ȝȘįİȞ ijĮȜ IJઁȞ șİઁȞ ੑȝȞȞĮȚ). Diese Konvergenz legt die Annahme nahe, dass es sich hier um eine weiter verbreitete Auslegungstradition handelt. Die entsprechenden Paraphasen im Targum Onkelos und im Targum Pseudo-Jonathan zu Ex 20,7 bestätigen dies.88 Im Blick auf Mt 5,33–37 ist zwar zu konzedieren, dass anders als in 5,21.27 nicht explizit auf das Dekaloggebot verwiesen wird. Angesichts des traditionsgeschichtlichen Befundes aber ist die Annahme plausibel, dass für 85
Ebenso z.B. DAUTZENBERG, Schwurverbot (s. Anm. 84), 50–52. Anders aber STRECKER, Bergpredigt (s. Anm. 17), 8. Gegen die Option eines Bezugs auf das neunte Gebot dagegen z.B. J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 2, HThKNT 1.2, Freiburg – Basel – Wien 21992, 173 und vor allem DAUTZENBERG, Schwurverbot (s. Anm. 84), 51, der treffend im Blick auf Mt 5,33 festhält: „Die Sprache des achten Gebots [nach lutherischer Zählung, M.K.] klingt nirgendwo an, und – das ist entscheidend – im Unterschied zu den griechischen und unseren gegenwärtigen Rechtsbräuchen kennen weder das Alte Testament noch das Judentum eine Zeugenaussage unter Eid“. 87 Siehe z.B. NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 15), 248. 88 Vgl. exemplarisch die Feststellung von DAUTZENBERG, Schwurverbot (s. Anm. 84), 53, dass das dritte Gebot „geradezu zum klassischen Ort für die Lehre vom Eid und für die Eidkritik“ wurde. 86
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Matthäus ein solcher Bezug gegeben war und seine Leser bzw. Hörer dies entsprechend rezipierten. Für eine implizite Bezugnahme von Mt 5,33–37 auf die Auslegung des dritten Gebots kann man verstärkend geltend machen, dass auch in den Schwurersatzformeln in Mt 5,34b.35 die Heiligung des Namens Gottes der zentrale Bezugspunkt ist, wie die drei Begründungssätze zeigen: Der Himmel ist „der Thron Gottes“ (Jes 66,1, vgl. Ps 11,4; 103,19), die Erde „der Schemel seiner Füße“ (Jes 66,1), Jerusalem ist „die Stadt des großen Königs“ (Ps 48,3). Gemeinsamer Referenzpunkt der drei Begründungssätze in V.34b.35a.b ist die Vorstellung vom Königtum Gottes.89 Im Kontext haben die Sätze die Funktion herauszustellen, dass die Ersatzformeln keinen Ausweg zum Problem der Entweihung des Namens Gottes bieten, weil der Bezug auf Gott auch in diesen Fällen gegeben ist. Dies bekräftigt, dass es beim Schwurverbot wesentlich um die Wahrung der Heiligkeit des Namens Gottes (vgl. Mt 6,9!) geht90, dessen sich Menschen nicht zur Beteuerung ihrer Rede bemächtigen sollen. Nebenbei sei bemerkt, dass Mt 5,34f und Jak 5,12 mit dem kategorischen Ausschluss von Himmel und Erde als Schwurersatzformeln einen Weg versperren, den Philo für gangbar hielt (SpecLeg 2,5). Geht man von einer impliziten Bezugnahme auf das dritte Gebot aus, kann man wieder von einer radikalisierenden bzw. konsequenten Auslegung sprechen, die an frühjüdische Tendenzen anknüpft. So geht Philo in SpecLeg 2,224 über den Gehalt von Lev 19,12 insofern hinaus, als nicht nur falsches, sondern auch bereits leichtfertiges Schwören als vom dritten Gebot untersagt erfasst wird. Letzteres kann man mit der von Philo anderorts dezidiert kritisierten Unsitte der ‚Vielschwörerei‘ verbinden: „Es gibt auch Menschen, die […] nur aus schlechter Gewohnheit allzuviel und ohne Überlegung bei jeder beliebigen Gelegenheit schwören, auch wenn gar nichts bestritten wird, indem sie die leeren Behauptungen in ihrer Rede noch mit Eiden bekräftigen wollen […]“ (Dec 92).91 Josephus, Ant 3,91 und die Targumim weisen in dieselbe Richtung. ਫʌ… ijĮȜ in Josephus, Ant 3,91 korrespondiert dabei dem ਥʌ ȝĮIJĮ in Ex 20,7LXX (Ƞ Ȝȝȥૉ IJઁ ȞȠȝĮ țȣȡȠȣ IJȠ૨ șİȠ૨ ıȠȣ ਥʌ ȝĮIJĮ). Mt 5,33–37 schreibt diese Ausdehnung des Verbots des falschen Schwörens auf das Verbot
89 Vgl. M. VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“. Matthäus im halachischen Diskurs, WMANT 95, Neukirchen-Vluyn 2002, 265. 90 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 19), 375.376; VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“ (s. Anm. 89), 262.275 sowie DAUTZENBERG, Schwurverbot (s. Anm. 84), 55: „Die Reihe ausgeschlossener Schwurzeugen Mt 5,34b–36; Jak 5,12b macht noch, wenn auch in gegenüber der jüdischen, am dritten Gebot orientierten Eidkritik verkürzter Form deutlich, daß das Schwurverbot jede Inanspruchnahme Gottes für menschliche Wahrheitsbeteuerungen verhindern sollte.“ 91 Vgl. zu diesem Problem Sir 23,9–11!
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des Schwörens bei unwichtigen Dingen konsequent fort und verneint die Bekräftigung der Rede durch einen Schwur überhaupt.92 Denn durch einen Schwur Gottes Namen zur Wahrhaftigkeitsbeteuerung zu gebrauchen, verweist immer schon auf ein bestehendes Wahrhaftigkeitsproblem und zieht insofern Gott in die sündhafte Realität menschlichen Mit- und Gegeneinanders; die Schwurersatzformeln bieten dazu, wie gesehen, keinen Ausweg. Umgekehrt sind dort, wo Gottes Name geheiligt wird, indem konsequent sein Wille das Handeln bestimmt, Schwüre und Eide obsolet. 2.2 Der Dekalog in Mt 19,18f Die ausführlichste Zitation von Dekaloggeboten begegnet im Neuen Testament in der Perikope vom reichen Jüngling, in der gleich fünf Gebote aufgeführt werden.93 Die matthäische Version der Perikope weist gegenüber der markinischen Vorlage signifikante Veränderungen auf. Indem Matthäus in V.16 ਕȖĮșંȢ in der Anrede Jesu streicht und dafür die Frage des Reichen zu IJ ਕȖĮșઁȞ ʌȠȚıȦ ergänzt, erhält der Verweis auf das Gutsein des einen Gottes in Jesu Replik in V.17 einen grundlegend veränderten Bezugspunkt und eine neue Funktion, denn er bereitet nun die Zitation der Dekaloggebote vor:94 Das zu tuende Gute bestimmt sich von dem guten Gott her, und das bedeutet, wie durch die weitere Antwort Jesu deutlich wird, von dem Gott her, der seinen Willen in der Gabe der Gebote kundgetan hat. Matthäus lässt Jesus nämlich mit einem ausdrücklichen Verweis auf das Halten der Gebote als Bedingung für den Eintritt ins ewige Leben fortfahren: „Wenn du ins Leben eingehen willst, halte die Gebote“. Zieht man die markinische Vorlage hinzu, zeigt sich hier exemplarisch die im Vergleich zu Markus grundlegend andere matthäische Auffassung über Stellung und Bedeutung der Tora – und hier insbesondere der Dekaloggebote. Der markinische Jesus formuliert in seiner ersten Replik auf den Reichen kein Kriterium für den Eintritt ins ewige Leben, sondern verweist diesen lediglich auf dessen Kenntnis der Gebote, für die er exemplarisch einige Dekaloggebote anführt. Auf die Antwort des Reichen, diese von Jugend auf gehalten zu haben, konstatiert der markinische Jesus, dass dem Reichen eines noch fehle. Die Erfüllung der Dekaloggebote erscheint damit bei Markus lediglich als eine Ba-
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Eine Tendenz in diese Richtung zeigt sich deutlich bei Philo, Decal 84, denn nach Philo wäre es „am besten, heilsamsten und vernunftgemäßesten, gar nicht zu schwören“. „Wahr zu schwören“ ist nur „die zweitbeste Fahrt“. Philo baut seine kritische Haltung zum Schwören aber nicht zu einem kategorischen Schwurverbot aus. 93 Röm 13,9 zitiert vier Gebote, Jak 2,11 nur zwei. 94 Als Grund für den matthäischen Eingriff ist daneben zu erwägen, dass Matthäus die Selbstdistanzierung des markinischen Jesus vom ਕȖĮșંȢ-Sein als christologisch problematisch empfunden hat.
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sisstufe, die für den Eingang in das ewige Leben um die Erfüllung der Forderung Jesu, alle Habe zugunsten der Armen zu verkaufen und in die Nachfolge einzutreten, ergänzt werden muss.95 Bei Matthäus ist die Eingangsfrage des Reichen hingegen mit den Worten „halte die Gebote“ bereits grundsätzlich beantwortet. Was noch folgt, erscheint bei Matthäus als eine Klärung, was mit der Eintrittsbedingung „halte die Gebote“ genau gemeint ist. Da die Frage des Reichen mit Jesu erster Replik an sich bereits suffizient beantwortet ist, muss der Dialog bei Matthäus durch die Nachfrage des Reichen, welche Gebote Jesus meine, neu angestoßen werden. Durch diese Nachfrage impliziert zugleich die nachfolgende, um das Nächstenliebegebot ergänzte Zitation von Dekaloggeboten96, die den zwischenmenschlichen Bereich betreffen97, eine klare Betonung sozialethischer Leitsätze der Tora, wie sie bereits in 5,17–48 zutage trat, sich in der zweifachen Zitation von Hos 6,6 (Mt 9,13; 12,7) und der ausdrücklichen Gleichordnung des Nächstenliebegebots mit dem obersten Gebot der Gottesliebe (22,39) spiegelt und schließlich durch die Anklage der Schriftgelehrten und Pharisäer in Mt 23,23 polemisch auf den Punkt gebracht wird: Der Verzehntung (vgl. Lev 27,30; Dtn 14,22f) auch von Gartenkräutern steht die Missachtung der ȕĮȡIJİȡĮ IJȠ૨ ȞંȝȠȣentgegen, nämlich von Recht, Barmherzigkeit und Treue. Kurzum: Im matthäischen Kontext tritt das besondere Gewicht der zitierten Gebote klar zutage; die Erfüllung dieser Gebote ist das Kriterium für den Eingang in das ewige Leben.98
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Vgl. H. LÖHR, Jesus und der Nomos aus der Sicht des entstehenden Christentums. Zum Jesus-Bild im ersten Jahrhundert n. Chr. und zu unserem Jesus-Bild, in: Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, hg. v. J. Schröter – R. Brucker, BZNW 114, Berlin 2002, 337–354: 346; B. REPSCHINSKI, Nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen. Das jüdische Gesetz in den synoptischen Jesuserzählungen, FzB 120, Würzburg 2009, 192f. 96 Matthäus hat dabei zum einen das nicht-dekalogische Gebot ȝ ਕʌȠıIJİȡıૉȢ (Mk 10,19) gestrichen, zum anderen die sprachliche Form an die der LXX angepasst (Ƞ ijȠȞİıİȚȢ statt ȝ ijȠȞİıૉȢ usw.). 97 Von Dekaloggeboten der zweiten Tafel zu sprechen, wäre hingegen unpräzise. Folgt man Philo, gehört das Elternehregebot zur ersten Tafel, genauer: Es hat „seine Stelle auf der Grenze zwischen den beiden Abteilungen von je fünf Geboten …; es ist nämlich das letzte der ersten Abteilung, in der die heiligsten Pflichten (gegen Gott) geboten werden, und schließt sich zugleich an die zweite Abteilung an, die die Pflichten gegen Menschen umfasst“ (Decal 106). Philo begründet dies damit, dass „die Natur der Eltern … gleichsam auf der Grenze zwischen unsterblichem und sterblichem Wesen [steht], sterblichem wegen der Verwandtschaft in leiblicher Vergänglichkeit mit Menschen und anderen lebenden Geschöpfen, unsterblichem wegen der Ähnlichkeit im Erzeugen mit Gott, dem Erzeuger des Alls“ (107). 98 Mt 5,19 bestätigt, dass es „kleine“ Gebote gibt, deren Missachtung nicht den Eintritt in das Himmelreich verbaut (zur Deutung vgl. oben Anm. 11).
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Da das Nächstenliebegebot in 22,34–40 durch die matthäische Anfügung von V.40 ausdrücklich als Summe der den zwischenmenschlichen Bereich betreffenden Weisungen herausgestellt wird, liegt es nahe, dass es auch in 19,19 diese Funktion hat, also die zitierten Dekaloggebote summiert99, die ihrerseits, wie gesehen, als soteriologisch relevante Hauptsätze der Tora erscheinen. Nun sind die zitierten dekalogischen Gebote mit Ausnahme der Elternehre Verbote. Indem Matthäus diesen das Liebesgebot als oberste Summe anfügt, werden die Verbote ins Positive gewendet, wie dies bereits in 5,21–26 beim Tötungsverbot zutage trat. Die Praxis der Dekaloggebote kann demnach nicht darin aufgehen, Fehlverhalten gegenüber anderen zu meiden, sondern sie vollzieht sich zugleich auch in der Zuwendung zum anderen unter dem Vorzeichen der Liebe. Ist das richtig, ist auch in Mt 19,18f ein weites Verständnis der Dekaloggebote impliziert. Dies lässt sich untermauern, wenn man den Fortgang des Dialogs verfolgt. Auch bei Matthäus behauptet der Reiche, die angeführten Gebote alle gehalten zu haben. Bei Matthäus ist es aber nicht Jesus, der ihn darauf verweist, dass ihm etwas fehle, sondern Matthäus transformiert die Aussage des markinischen Jesus ਪȞıİ ਫ਼ıIJİȡİ(Mk 10,21) zu einer Frage des Reichen, die dieser aus der Gewissheit seiner Gebotserfüllung formuliert: ȉ IJȚ ਫ਼ıIJİȡ; (Mt 19,20). In Jesu Replik hat Matthäus sodann die Forderung des Besitzverzichtes und der Nachfolge durch die Worte „wenn du vollkommen sein willst“ eingeleitet. Da nun Jesus das Weggehen des Reichen aufgrund dieser Forderung (V.22) nicht damit quittiert, dass diesem höhere soteriologische Weihen versagt bleiben, sondern es nach wie vor um die grundlegende Frage des Zugangs zum Himmelreich geht (V.23–25), ist im Lichte des in V.17 klar formulierten Kriteriums zu folgern, dass der Reiche entgegen seiner Behauptung in V.20 die Gebote nicht gehalten hat100 bzw. dass er jedenfalls die Nagelprobe auf seine Behauptung, mit der er durch Jesu Forderung in V.21 konfrontiert wurde, nicht bestanden hat. Ist das richtig, erschließt sich auch noch einmal von anderer Seite, warum Matthäus in V.19 das Liebesgebot angefügt hat. Matthäus wollte die Forderung Jesu aus Mk 10,21 nicht als eine die Gebote übersteigende höhere Stufe erscheinen lassen101, sondern als Entfaltung des Willens Gottes, wie er in der Tora niedergelegt ist. Anders gesagt: Die Forderung des Besitzverzichts zu-
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Vgl. für viele BERGER, Gesetzesauslegung (s. Anm. 2), 445f. Vgl. E. YARNOLD, ȉȜİȚȠȢin St. Matthew’s Gospel, in: StEv 4, hg. v. F.L. Cross, TU 102, Berlin 1968, 269–73: 271; W.J.C. WEREN, The Ideal Community According to Matthew, James, and the Didache, in: Matthew, James and Didache. Three Related Documents in Their Jewish and Christian Settings, hg. v. H. van de Sandt – J. Zangenberg, SBLSymS 45, Atlanta (GA) 2008, 177–200: 189. 101 Anders A. SAND, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 1986, 396 sowie auch LUCK, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 17), 215–217. 100
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gunsten der Armen legt aus, was es für den Reichen in seiner konkreten Situation bedeutet, die Tora im Sinne des Liebesgebots vollkommen zu erfüllen.102 Dieser Interpretation fügt sich ein, dass das Vollkommenheitsmotiv auch in 5,48 mit der Interpretation des Nächstenliebegebots verknüpft ist: Vollkommenheit basiert für Matthäus auf der vollkommenen Erfüllung der hermeneutisch im Liebesgebot zentrierten Tora nach der Auslegung Jesu. Nachfolge Jesu und Erfüllung der Gebote sind für Matthäus also nicht verschiedene Dinge, sondern Matthäus versteht die Erfüllung der Gebote in ihrem von Jesus vermittelten Verständnis als integralen Bestandteil der Nachfolge.103 Die von Matthäus grundlegend bearbeitete Perikope vom reichen Mann fügt sich damit nahtlos dem programmatischen Passus in 5,17–48 ein, d.h. die Perikope bietet bei Matthäus eine weitere Illustration, dass Jesus nicht gekommen ist, Tora und Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen, und sie illustriert, was Erfüllung der Tora konkret bedeutet. Anders als bei Markus erscheint das Halten der Gebote nicht als eine für sich genommen soteriologisch insuffiziente Vorstufe zur Erlangung des Heils, sondern Matthäus differenziert im Blick auf die Befolgung der Gebote zwischen verschiedenen Positionen. Der reiche Jüngling verkörpert – wie die Schriftgelehrten und Pharisäer in 5,20–48 – ein bloß oberflächliches Verständnis der Gebote, das anhand seines Scheiterns am Liebesgebot im Verständnis Jesu illustriert wird. Für die in 19,18f angeführten Dekaloggebote ist analog zu schließen, dass der matthäische Jesus bei ihrer Zitation das in den Antithesen dargelegte extensive Verständnis voraussetzt, während der aus trügerischer Gewissheit genährten Behauptung des Reichen, die Gebote gehalten zu haben, eben ein unzureichendes Verständnis ihres Sinngehalts zugrunde liegt.
2.3 Die Rekurse auf den Dekalog im Rahmen der Auseinandersetzung um das Händewaschen vor dem Essen in Mt 15,1–20 Auch in Mt 15,1–20 zeigt sich eine grundlegende Bearbeitung der Markusvorlage, mit der Matthäus den Text seiner Position zur Tora angepasst hat. 102 Vgl. H. MEISINGER, Liebesgebot und Altruismusforschung. Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft, NTOA 33, Göttingen 1996, 40f; M. MEISER, Vollkommenheit in Qumran und im Matthäusevangelium, in: Kirche und Volk Gottes (FS J. Roloff), hg. v. M. Karrer – W. Kraus – O. Merk, Neukirchen-Vluyn 2000, 195– 209: 198; DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 5), 391 und in diesem Band „The Love Command in Matthew, James, and the Didache“, 99f. 103 Für einen anderen Interpretationsansatz s. R.H. FULLER, The Decalogue in the New Testament, Interp. 43 (1989), 243–255: 246; R. HOPPE, Vollkommenheit bei Matthäus als theologische Aussage, in: Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium, hg. v. L. Oberlinner – P. Fiedler, Stuttgart 1991, 141–164: 159–164 sowie É. CUVILLIER, Torah Observance and Radicalization in the First Gospel. Matthew and First-Century Judaism: A Contribution to the Debate, NTS 55 (2009), 144–159: 156–157.
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Anders als Markus baut Matthäus die Kontroverse um das – in der Tora nicht gebotene104 (!) – Händewaschen vor dem Essen nicht zu einer prinzipiellen Abrogation der Speisegebote aus, die im matthäischen Kontext im Widerspruch zu 5,18 stehen würde. So hat Matthäus den markinischen Kommentar, Jesus habe alle Speisen für rein erklärt (Mk 7,19c), übergangen; stattdessen lässt er Jesus zum Abschluss seiner Belehrung als Bezugspunkt der Bestreitung der Verunreinigung ausdrücklich das Eingangsthema, das Essen mit ungewaschenen Händen, aufnehmen (Mt 15,20b). Für V.11a legt dies nahe, dass Matthäus entweder auch diese Aussage allein auf den in V.2 aufgeworfenen Fall bezieht und bezogen wissen möchte oder aber differenziert, dass Speisen nicht den Menschen als Ganzen, sondern nur seinen Bauch verunreinigen.105 Deshalb konnte er die kategorische und pauschale Formulierung von Mk 7,15a (ȠįȞ ਥıIJȚȞ ȟȦșİȞ IJȠ૨ ਕȞșȡઆʌȠȣ İੁıʌȠȡİȣંȝİȞȠȞ İੁȢ ĮIJઁȞ įȞĮIJĮȚ țȠȚȞıĮȚ ĮIJંȞ) nicht übernehmen. Dem korrespondiert, dass Matthäus auch in 15,17 gegenüber Mk 7,18f die kategorische Aussage, dass alles, was von außen in den Menschen hineingeht, ihn nicht zu verunreinigen vermag, gestrichen und nur die Bemerkung aufgenommen hat, dass alles, was in den Mund hineingeht, weiter in den Bauch geht und in den Abort ausgeworfen wird. Matthäus’ Kürzungen des markinischen Textes sind hier, wie Ulrich Luz treffend angemerkt hat, „inhaltlich zu einheitlich, als daß sie als bloße Straffungen erklärt werden können“106.
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Nach Ex 30,17–21 sollen sich die Priester die Hände in einem eigens dafür aufgestellten Kupferbecken waschen, bevor sie in die Stiftshütte oder zum Altar gehen (vgl. Josephus, Ant 8,86f). Aus Lev 15,11 wird ferner deutlich, dass das Waschen der Hände vor der Übertragung von Unreinheit schützt. Aber ein allgemeines Gebot zum Waschen der Hände für Laien beim Essen gibt es nicht. Daher berührt das Verhalten der Jünger nicht die Geltung der Iota und Häkchen der Tora (Mt 5,18), sondern allein, wie in der Konfliktexposition in Mt 15,2f richtig markiert wird, die „Überlieferung der Alten“. – Für eine bündige Orientierung über die rabbinische Diskussion über die Unreinheit der Hände s. VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“ (s. Anm. 89), 396–401. 105 So U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 2: Mt 8–17, EKK 1.2, Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1990, 425. 106 LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 105), 426. Vgl. zur dargelegten Position ferner a.a.O. 424f sowie z.B. GNILKA, Matthäusevangelium II (s. Anm. 86), 24.26f; W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 2, ICC, Edinburgh 1991, 517; S. VON DOBBELER, Auf der Grenze. Ethos und Identität der matthäischen Gemeinde nach Mt 15,1–20, BZ NF 45 (2001), 55–78: 68. Anders z.B. I. BROER, Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes. Ein Beitrag zur Theologie des Evangelisten Matthäus, SBS 98, Stuttgart 1980, 121; F. THIELMAN, The Law and the New Testament. The Question of Continuity, New York 1999, 67. – Allerdings ist umgekehrt aus Mt 15 m.E. nicht, wie D.C. SIM postuliert, herauszulesen, „that Matthew’s group strictly kept the dietary and purity laws of Judaism“ (The Gospel of Matthew and Christian Judaism. The History and Social Setting of the Matthean Community, Studies of the New Testament and Its World, Edinburgh 1998, 132; Hervorhebung M.K.). Schon gar nicht ist Mt 15,1–20 zu entnehmen, dass Matthäus die halachische Bestimmung des Händewaschens als verpflichtend ansieht (gegen GIELEN, Konflikt [s. Anm. 8], 165f). In diesem Sinne z.B. auch HUMMEL, Auseinandersetzung (s. Anm. 13), 48; MAYER-HAAS, „Geschenk“ (s. Anm. 1), 477f; LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s.o.), 422.428.
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Gleichwohl tritt auch in Mt 15,1–20 dezidiert die kategorische Überordnung sozialethischer Gebote über kultische und dabei die primäre Orientierung an den den zwischenmenschlichen Bereich betreffenden Geboten des Dekalogs zutage. Den Vorwurf der Schriftgelehrten und Pharisäer in Mt 15,2, dass Jesu Jünger die Überlieferung der Alten übertreten, lässt Matthäus Jesus direkt mit einer Gegenfrage bzw. einem Gegenvorwurf kontern: „Warum übertretet auch ihr[, nämlich] das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen?“ (15,3).107 Matthäus stellt damit gleich zu Beginn pointiert die halachische Überlieferung der Pharisäer (15,2, vgl. Josephus, Ant 8,297), die später durch das in V.7–9 angeführte Jesajazitat (Jes 29,13) als Menschensatzung abgewertet wird (V.9), und das Gebot Gottes einander gegenüber. Die nachfolgende Illustration des Gegenvorwurfs durch den Verweis auf den (möglichen) Konflikt zwischen Gelübde und Elternehregebot108 nimmt dies auf. In der Einleitung zur Zitation des Elternehregebots hat Matthäus ȂȦȨıોȢ İੇʌİȞ (Mk 7,10) durch șİઁȢ İੇʌİȞ (Mt 15,4) ersetzt und also direkt Gott als Geber des Gebots ausgewiesen, wie es der Darstellung in Ex 20,1.18– 22 entspricht.109 Vor allem aber hat Matthäus die von Jesus zitierte Halacha seiner Gegner in V.5–6a als direkten Widerspruch zum Dekaloggebot formuliert:110 ȅ ȝ IJȚȝıİȚ IJઁȞ ʌĮIJȡĮ ĮIJȠ૨ (V.6a); das Gelübde vermag also die Geltung des Elternehregebots aufzuheben. Den Pharisäern wird damit im Grunde in zweifacher Weise eine verfehlte Gesetzeshermeneutik zur Last gelegt, die sie als blinde Führer ausweist (15,14111): Sie gewichten innerhalb der Tora falsch, indem sie das Gebot, dass vor Gott abgelegte Gelübde zu halten
107 „Auch ihr (țĮ ޥਫ਼ȝİȢ)“ in V.3 impliziert nicht, dass auch die von den Pharisäern in V.2 kritisierten Jünger Übertreter des Gebots Gottes sind, sondern stellt allein heraus, dass auch die Pharisäer Übertreter sind, während sich der Referenzpunkt der Übertretung – bei den Jüngern die Überlieferung der Alten, bei den Pharisäern hingegen das Gebot Gottes – unterscheidet. Vgl. in diesem Band „Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“, 306, Anm. 87. 108 Zur jüdischen Diskussion s. exemplarisch LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 105), 422f. 109 Vgl. Josephus, Ant 3,89f; LAB 11,4–14; (44,6). Dass man daran eine Unterscheidung anhängen kann, wie Philo sie für den von Gott selbst geoffenbarten Dekalog auf der einen Seite und die von Mose vermittelten übrigen Gesetze vornimmt (Decal 18f [vgl. dazu Y. AMIR, Die Zehn Gebote bei Philon von Alexandrien, in: Die hellenistische Gestalt des Judentums bei Philon von Alexandrien, FJCD 5, Neukirchen-Vluyn 1983, 131–163: 133– 135]), ist damit allerdings noch nicht gesagt. Beachtet man, dass das Passivum ਥȡȡșȘ in der Antithesenreihe Mt 5,21–48 gleichermaßen Dekaloggebote wie auch etwa das Liebesgebot aus Lev 19,18 umfasst, ist eine solche Unterscheidung für Matthäus vielmehr unwahrscheinlich. 110 Vgl. BERGER, Gesetzesauslegung (s. Anm. 2), 499; GUNDRY, Matthew (s. Anm. 17), 304; DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm.106), 524. 111 Vgl. Mt 23,16.17.19.24.26.
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sind (Num 30,3; Dtn 23,22–24, s. auch Ps 50,14), dem Dekaloggebot, die Eltern zu ehren, überordnen, und sie haben in ihrer Halacha die Gelübdefrage in einer Weise ausgelegt, die sie zur offenen Missachtung der Elternehre führt. Die exponierte Stellung des Dekalogs in der matthäischen Gesetzeshermeneutik wird durch die sich an die Auseinandersetzung mit den Gegnern anschließende Belehrung zunächst der Volksmengen in V.10f und dann der Jünger in V.15–20 unterstrichen: Matthäus lässt Jesus zwar, wie angemerkt, nicht eine prinzipielle Abrogation der Reinheitstora vertreten; im Zentrum der Diskussion um Unreinheit steht aber lasterhaftes soziales Verhalten. Der matthäische Katalog in V.19112 zeigt dabei eine deutliche Anlehnung an den Dekalog, die sich durch den Vergleich mit der Markusvorlage profilieren lässt: Zum einen sind von den dreizehn markinischen Gliedern sieben gestrichen113, die sich nicht direkt auf den Dekalog beziehen; zum anderen hat Matthäus die Liste um ȥİȣįȠȝĮȡIJȣȡĮȚ erweitert und schließlich auch die Reihenfolge an den Dekalog angepasst. Kurzum: Der matthäische Katalog in 15,19 nimmt auf das sechste bis neunte Gebot Bezug. Zieht man die Zitation des Elternehregebots in V.4 hinzu, werden damit in Mt 15 genau dieselben Gebote aufgenommen, die Jesus in 19,18f herausstellt. ȆȠȡȞİĮȚ verstärkt (und verallgemeinert) dabei ȝȠȚȤİĮȚ114; ȕȜĮıijȘȝĮȚ ergänzt ȥİȣįȠȝĮȡIJȣȡĮȚ.115 Das – im Gefolge von Mk 7,21 – voranstehende Glied įȚĮȜȠȖȚıȝȠ ʌȠȞȘȡȠ dient als allgemeine Einleitung zur nachfolgenden Spezifizierung anhand des Dekalogs und signalisiert als solche mit der Einbeziehung der Ebene der Gedanken zugleich das weite Verständnis des durch die Dekaloggebote inkriminierten Verhaltens, wie sich dies in 5,21–30 anhand von Mord und Ehebruch ausgeführt findet.
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Matthäus hat zuvor in der Belehrung der Volksmengen und der Jünger – anders als Markus, der allgemein von dem redet, was in den Menschen hineingeht bzw. aus dem Menschen herauskommt (Mk 7,15.18.20) – konkret IJઁ İੁıİȡȤંȝİȞȠȞ İੁȢ IJઁ ıIJંȝĮ und IJઁ ਥțʌȠȡİȣંȝİȞȠȞ ਥț IJȠ૨ ıIJંȝĮIJȠȢ einander gegenüber gestellt (V.11.17f [der Wechsel in den Plural IJ ਥțʌȠȡİȣંȝİȞĮ ਥț IJȠ૨ ıIJંȝĮIJȠȢ in V.18 bereitet die diversifizierende Auflistung in V.19 vor]). Dies ließe für den Lasterkatalog eine Konzentration auf Zungensünden erwarten (eine solche konstatiert BERGER, Gesetzesauslegung [s. Anm. 2], 503), doch wird durch IJ į ਥțʌȠȡİȣંȝİȞĮ ਥț IJȠ૨ ıIJંȝĮIJȠȢ ਥț IJોȢ țĮȡįĮȢ ਥȟȡȤİIJĮȚ (V.18) der Horizont geweitet. ਫț IJોȢ țĮȡįĮȢ ist dabei durch Mk 7,(19).21 inspiriert, wird im Kontext aber auch durch das Zitat von Jes 29,13 (s. Mk 7,6 par. Mt 15,8) vorbereitet. 113 Vgl. als Analogie die oben in Anm. 96 angesprochene Auslassung des nicht-dekalogischen Gebots ɊਕʌȠıIJİȡıૉȢaus Mk 10,19 in Mt 19,18f. 114 Vgl. das Nebeneinander in Did 3,3. 115 Im Kontext liegt es nahe, ȕȜĮıijȘȝĮȚ hier – wie dies als Option auch für Did 3,6 zu erwägen ist (dazu H. MERKEL, Gotteslästerung, RAC 11 [1981], 1185–1201: 1195) – nicht auf Gotteslästerung, sondern auf Verleumdung anderer Menschen zu beziehen.
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3. Schluss Nächst dem Liebesgebot sind dem zwischenmenschlichen Bereich zugeordnete Dekaloggebote in der matthäischen, mit dem hermeneutischen Grundsatz einer Gebotshierarchie operierenden Torarezeption von herausragender Bedeutung, wie die Eröffnung der Toraauslegung Jesu in den sog. Antithesen durch zwei Dekaloggebote, die Argumentation mit dem Elternehregebot in 15,1–6, der am Dekalog orientierte Lasterkatalog in 15,19 sowie schließlich das Gespräch Jesu mit dem reichen Mann in 19,16–22 zeigen. Matthäus konnte dabei sowohl im Blick auf die prominente Stellung des Dekalogs als auch hinsichtlich des inhaltlich extensiven Verständnisses der Dekaloggebote an frühjüdische Ansätze anknüpfen, die er konsequent fortschreibt, indem er in den Antithesen frühjüdische Tendenzen in der sexualethischen Unterweisung und bezüglich der Ablehnung des Zorns explizit mit der Auslegung der Dekaloggebote verknüpft. Mit anderen Worten: Die Dekaloggebote besitzen infolge ihrer exponierten Bedeutung bei Matthäus gewissermaßen eine Sogwirkung auf Traditionen der frühjüdischen Toraunterweisung; sie ziehen diese an sich. Umgekehrt formuliert: Traditionen der frühjüdischen Toraunterweisung fungieren als Interpretamente der Dekaloggebote. Das Ergebnis dieses Prozesses ist, dass der Dekalog im matthäischen Verständnis nicht bloß einen ethischen Minimalkonsens formuliert; er fordert den Menschen vielmehr in radikaler Weise im Blick auf sein Verhalten und seine Haltung in seinen zentralen sozialethischen Handlungsfeldern. Charakteristisch ist für Matthäus ferner, dass unter dem Vorzeichen des Liebesgebotes der Gehalt der im Dekalog ausgesprochenen Verbote ins Positive gewendet wird. Der in den Antithesen ausformulierte Interpretationsansatz prägt dabei auch die weiteren Bezugnahmen auf den Dekalog in 15,19 und 19,18f. Wenn Martin Luther ca. eineinhalb Jahrtausende später in seinem Kleinen Katechismus das nach ihm fünfte Dekaloggebot „Du sollst nicht töten“ positiv wendet und damit erläutert, „daß wir unserm Nähisten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und fodern in allen Leibesnöten“116, hätte Matthäus ihm wohl nicht widersprochen.
116 Zitiert nach: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 101986, 508.
„... damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet“ Erwägungen zur ‚Logik‘ von Gewaltverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38–481 1. Einführung Angesichts der Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre des 20 Jahrhunderts, in der Christen ihre pazifistische Grundhaltung unter anderem mit einem Verweis auf die Bergpredigt unterbauten, äußerte der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt in einem Interview mit der Monatszeitschrift „Evangelische Kommentare“ folgende Überlegungen: „Die Idee, die Bergpredigt unmittelbar auf die Außenpolitik unseres Staates zu übertragen, kann man leicht bewerten, indem man sie auf den extremen Fall anwendet: Was hätte es dem Frieden genützt, wenn ein ausländischer Staat Hitler oder Stalin auch noch die andere Backe hingehalten hätte? Das sind in ihrer Naivität absurde Vorstellungen, die völlig abstrahieren von der konkreten geschichtlichen Erfahrung.“ 2 Schmidt bemüht ein traditionelles Argument: Das Böse lässt sich durch demonstrativen Gewaltverzicht nicht aufhalten; vom Gegenteil auszugehen ist Ausdruck von Naivität, und daher handelt verantwortungslos gegenüber den Opfern von Gewalttätern, wer diesen nicht Einhalt gebietet. Wenig später heißt es dann in dem Interview mit Schmidt auf die Frage, ob er denn mit Bismarck sagen würde, dass „man mit der Bergpredigt nicht regieren kann“: „Ich war und bin allerdings der Meinung, dass es ein Irrtum wäre, die Bergpredigt als einen Kanon für staatliches Handeln aufzufassen. So ist sie nicht gemeint gewesen; sie war in einer anderen Zeit für eine andere Gemeinde in einer anderen Lage gesprochen.“3
1 Der folgende Beitrag basiert auf einem Vortrag, den ich am 29.4.2003 im Rahmen der von der Theologischen Fakultät Universität Bern veranstalteten Ringvorlesung „(K)ein Ende der Gewalt? – Theologische Perspektiven“ gehalten habe. Die hier vorliegende Fassung ist gegenüber der Erstveröffentlichung (in: Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, hg. v. W. Dietrich – W. Lienemann, Stuttgart 2004, 70–92), insbesondere bei der Auslegung von Mt 5,38–42, erweitert und überarbeitet. 2 Politik und Geist. Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, EK 14 (1981), 209– 216: 214. 3 Ebd.
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Schmidt wendet sich also, seiner Ansicht nach, gar nicht gegen die Bergpredigt selbst, sondern sucht den Pazifisten das Recht ihrer Berufung auf die Bergpredigt streitig zu machen, indem er auf die Eingebundenheit der Bergpredigt in einen bestimmten situativen Kontext verweist. Denen, die sich auf die Bergpredigt zur Begründung ihrer pazifistischen Grundhaltung berufen, wird damit implizit vorgehalten, sie würden Jesu Worte illegitimerweise entkontextualisieren und auf Handlungsbereiche beziehen, die bei Jesus gar nicht im Blick waren. Der Verweis auf die situativen Kontexte ist allerdings von grundlegender Relevanz, wenn es um den Aspekt der ‚Logik‘ der Feindesliebe geht, also um den Fragekomplex, ob sie Sinn macht – und wenn ja: in welcher Hinsicht, ob bestimmte (Aus-)Wirkungen anvisiert sind. Die abstrakte Rede von der ‚Logik der Feindesliebe‘ bedarf hier der Präzisierung, in welchen Lebenskontexten Feindesliebe im Dienste welcher Ziele als sinnhaft erscheint, welchen Sinn sie für wen in welcher Situation macht. Inwiefern (und wann) vermag sie positive Konsequenzen für den zu zeitigen, der der Anweisung zu Gewaltverzicht und Feindesliebe Folge leistet? Oder eignet der Feindesliebe zumindest in bestimmten Konstellationen ein sozialpragmatischer Aspekt? Etwa weil sie auf Entfeindung zielt und darüber zukünftige soziale Harmonie und damit gedeihliches Leben verheißt? Und schließlich: Ist Feindesliebe in ein bestimmtes Weltverständnis eingebunden, von dem her sie Plausibilität gewinnt, in deren Rahmen sie als ‚logisch‘, als konsequent erscheint? Wenn es im Folgenden um Feindesliebe und Vergeltungsverzicht geht, werden damit, streng genommen, zwei unterschiedliche Verhaltensweisen thematisiert. Sie haben aber insofern einen gemeinsamen Nenner, als in beiden Fällen das Verhalten gegenüber einem „Feind“ thematisch ist. Diese Zusammengehörigkeit drückt sich in Lk 6,27–36, der Lukasparallele zu Mt 5,38–48, darin aus, dass die Logien vom Vergeltungsverzicht (6,29f) in eine durch das Feindesliebegebot gerahmte Komposition (6,27.35) eingestellt sind. Bei Matthäus erscheinen Vergeltungsverzicht und Feindesliebe zwar auf zwei Antithesen verteilt, so dass die Thematik des Gewalt- bzw. Vergeltungsverzichts stärker mit eigenem Gewicht zum Tragen kommt, doch lässt sich das Verhältnis zwischen der fünften und sechsten Antithese hier gut analogisieren zu dem zwischen der zweiten und dritten zu Ehebruch und Ehescheidung (Mt 5,27–30.31f). Matthäus hat also zwar die Einzelaspekte der Gesamtthematik des Verhaltens zum Feind deutlicher unterschieden, aber nicht deren innere Zusammengehörigkeit aufgelöst, sondern er schreitet vom Aspekt des (zugespitzten) Widerstandsund Gewaltverzichts in der Reaktion auf Handlungen eines Feindes (5,38–42) zum Gesichtspunkt aktiven Handelns zugunsten des Feindes (5,43–48) fort. Das Syntagma, den Feind zu lieben, ist nach bisheriger Quellenlage vor der Jesustradition nicht belegt, doch ist die Forderung der Feindesliebe sachlich in biblischer und frühjüdischer Tradition keineswegs völlig unvorbereitet. Dies gilt erst recht im Blick auf die Frage des Vergeltungsverzichts. Bevor daher
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der Bedeutung und dem Sinnzusammenhang von Mt 5,38–48 nachgegangen und der obige Fragekomplex auf die dortigen Forderungen bezogen werden soll, ist diesen zunächst in traditionsgeschichtlicher Hinsicht Tiefenschärfe zu geben. Dabei ist vor allem nach den Motiven zu fragen, die das jeweils angemahnte Verhalten begründen bzw. plausibel machen sollen.
2. „Feindesliebe“ und Vergeltungsverzicht im Alten Testament und antiken Judentum 2.1 Das Nächstenliebegebot in Lev 19,18 und die Zuwendung zum Feind im Alten Testament Folgt man Hans-Peter Mathys, ist bereits das alttestamentliche Liebesgebot in seinem ursprünglichen Kontext in der Sache ein „Gebot der Feindesliebe“4. Das Liebesgebot in Lev 19,18 ist Teil einer planvollen, V.11–18 umfassenden Komposition, deren vier Abschnitte jeweils einen speziellen Ausschnitt sozialen Verhaltens thematisieren. Unmittelbarer thematischer Kontext des Liebesgebots ist darin in V.17f der „Umgang mit dem schuldig gewordenen Bruder“5. Die durch das Vergehen des Bruders entstandene Störung der Sozialbeziehung soll nicht durch Hass, Rache und nachtragenden Groll dauerhaft werden oder gar eskalieren, sondern durch die Zurechtweisung des Bruders überwunden werden. Das sich anschließende Nächstenliebegebot hebt die vorangehenden Weisungen ins Grundsätzliche: Es weist grundlegend und allgemein zu einer Haltung gegenüber dem Nächsten an, die über die aktuelle Überwindung der Störung hinaus eine heilvolle Gestaltung des Gemeinschaftsverhältnisses ermöglicht, indem man sich das Leben und Wohlergehen des anderen so angelegen sein lässt, wie man am eigenen Wohlergehen interessiert ist. Die zu „Nächster“ im Kontext parallelen Wörter – wie „dein Stammesgenosse“ (V.15.16.17), „dein Bruder“ (V.17) oder „die Kinder deines Volkes“ (V.18) – machen dabei deutlich, dass der unter dieser Maßgabe zu gestaltende Lebensraum der der Gemeinschaft innerhalb des Bundesvolkes Israel ist. Näherhin wird der ursprüngliche soziale Kontext des Gebots in der Situation der
4 H.-P. MATHYS, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18), OBO 71, Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1986, 81. – In diesem Sinn bereits J. PIPER, ‘Love Your Enemies’. Jesus’ Love Command in the Synoptic Gospels and in the Early Christian Paraenesis. A History of the Tradition and Interpretation of its Uses, MSSNTS 38, Cambridge u.a. 1974, 32. 5 MATHYS, Liebe (s. Anm. 4), 67. Anders F. CRÜSEMANN, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992, 376. – In V.11f geht es um Eigentumsdelikte, in V.13f um den Schutz von sozial Schwachen und körperlich Behinderten; V.15f thematisiert das Verhalten vor Gericht.
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babylonischen Gola zu suchen sein, deren Zusammenhalt es zu stärken sucht.6 Das Verhältnis zu Nicht-Israeliten ist beim Nächstenliebegebot nicht im Blick, auch negativ nicht. Das heißt: „Das Liebesgebot will nicht exklusiv, sondern positiv die Pflichten gegenüber dem Mit-Israeliten einschärfen.“7 Die ‚Logik‘ des Feindesliebegebots liegt hier auf der Hand. Das Ausräumen von Störungen, von Hass und Groll gegeneinander formuliert ein vitales Interesse einer Diasporagemeinschaft, die langfristig nur dann überlebensfähig ist, wenn sie nach innen intakt ist und sich nicht durch Streit untereinander aufreibt. Mit einem Wort: Das Liebesgebot in dem Sinne, dem persönlichen Feind das Böse nicht nachzutragen, vielmehr ihm noch alles Gute zu erweisen, wie man es für sich selbst tut8, ist auf die Stärkung der Binnenkohäsion der Diasporagemeinde bezogen. Lev 19,18 lassen sich weitere Texte des Alten Testaments zur Seite stellen, die sachlich in den Kontext von Feindesliebe gehören, in denen aber nicht allgemein von Liebe die Rede ist, sondern konkretes Verhalten benannt wird. So fordert Ex 23,4f, das verirrte Rind oder den verirrten Esel des Feindes zu diesem zurückzuführen und dem Widersacher zur Hand zu gehen, um seinem unter seiner Last liegenden Esel wieder aufzuhelfen. Prov 25,21f mahnt, dem hungernden bzw. dürstenden Feind zu essen bzw. zu trinken zu geben (anders Sir 12,7!), und motiviert dies mit der Vergeltung der guten Tat durch Gott. 2.2 Die Rezeption des Liebesgebots in den Testamenten der Zwölf Patriarchen und das Wohlverhalten gegenüber dem Feind im sonstigen Frühjudentum Ist das Liebesgebot bereits in Lev 19,18 mit dem Gedanken des Vergeltungsverzichts verknüpft, so ist dieser thematische Bezug in frühjüdischer Tradition fortgeschrieben worden, wie die Testamente der Zwölf Patriarchen dokumentieren. Diese bieten fingierte Abschiedsreden der zwölf Söhne Jakobs, in denen diese ihren Nachkommen, ausgehend von ihren eigenen Lebenserfahrungen, den rechten Wandel im Sinne der Gebote einschärfen. Dabei dient vor allem Joseph als Modell der Tugendhaftigkeit, und zwar unter anderem als Vorbild der vergebenden Liebe.9 Das Liebesgebot und die Josephsgeschichte haben sich hier gegenseitig angezogen und einander interpretiert. 6
Siehe dazu wiederum MATHYS, Liebe (s. Anm. 4), 131–134. T. SÖDING, Das Liebesgebot bei Paulus. Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik, NTA NF 26, Münster 1995, 48. 8 Zur Paraphrase des Liebesgebots in diesem Sinn s. CRÜSEMANN, Tora (s. Anm. 5), 377. 9 Nach der Erzählung der Genesis (50,15–21) äußern die Brüder nach dem Tod ihres Vaters die Befürchtung, dass Joseph ihnen das erlittene Unrecht nachträgt (ȝȞȘıȚțĮțıૉ) und alles Böse, was ihm von seinen Brüdern angetan wurde, vergilt (50,15). Darum wenden sie sich an Joseph mit den Worten, ihr Vater hätte ihnen vor seinem Tod aufgetragen, Joseph anzuhalten, dass er ihnen vergeben möge. Joseph aber will sich gar nicht rächen: Sie hätten es böse gemeint, aber Gott hätte etwas Gutes daraus werden lassen, nämlich am Leben zu 7
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So rühmt Simeon, der nach den TestXII Joseph in seiner blinden Eifersucht zu töten trachtete, seinen Bruder Joseph auf dem Sterbebett als einen guten Mann, der Gottes Geist in sich hatte, denn „(er war) mitleidig und barmherzig (İıʌȜĮȖȤȞȠȢ țĮ ਥȜİȝȦȞ), nicht trug er mir das Böse nach (Ƞț ਥȝȞȘıȚțțȘı ȝȠȚ), sondern er liebte auch mich (ਕȜȜ țĮ ȖʌȘı ȝİ) – wie die anderen Brüder“ (TestSim 4,4). Ganz ähnlich heißt es in der Abschiedsrede Sebulons: „Als wir nach Ägypten herabkamen, trug Joseph uns das Böse nicht nach (Ƞț ਥȝȞȘıȚțțȘıİȞ İੁȢ ਲȝ઼Ȣ). Als er mich sah, erbarmte er sich (ਥıʌȜĮȖȤȞıșȘ). Auf ihn achtend, seid auch ihr nicht das Böse nachtragend (ਕȝȞȘıțĮțȠȚ ȖȞİıșİ), meine Kinder, und liebt einander (ਕȖĮʌ઼IJİ ਕȜȜȜȠȣȢ), und berechnet nicht ein jeder das Böse von seinem Bruder (ȝ ȜȠȖȗİıșİ ਪțĮıIJȠȢ IJȞ țĮțĮȞ IJȠ૨ ਕįİȜijȠ૨ ĮIJȠ૨)“ (TestSeb 8,4f). Beide Texte verbindet ein gemeinsames Wortfeld: Liebe erscheint als positive Formulierung des „NichtNachtragens des Bösen“, das vorbildhaft von Joseph geübt wurde, der sich damit als mitleidig und barmherzig erwies. Sehr breit ausgeführt ist die Liebe Josephs gegenüber den ihm feindlich gesonnenen Brüdern dann in seinem eigenen Testament. Gegenüber den Händlern, die Joseph verkaufen, es ihm aber vom Angesicht ablesen, dass er kein Sklave ist, verschweigt er beharrlich seine wahre Herkunft, um seine „Brüder nicht zu beschämen“ (TestJos 11,2) – und dies auch, nachdem die Händler seine wahre Herkunft in Erfahrung gebracht haben (15,3). Joseph nimmt sogar Schläge unter dem Oberen des Pharaos in Kauf – auch dieser durchschaut nämlich die Lüge und will Joseph zur Wahrheit zwingen. Aber Joseph bleibt beharrlich bei seiner Aussage, ein Sklave zu sein (13,5–14,6). Von all dem verlautet in der Erzählung der Genesis nichts. Es gehört zur haggadischen Ausschmückung, die an Joseph als Prototypen der vergebenden Liebe und des Vergeltungsverzichts im Sinne von Lev 19,17f orientiert ist. Josephs Rückblick mündet ein in die Ermahnung seiner Nachkommen: „Seht, Kinder, wie Schweres ich erduldete, damit ich meine Brüder nicht beschämte. Und ihr nun, liebt einander und verbergt in Langmut gegenseitig eure Verfehlungen. Denn Gott hat Gefallen an der Eintracht von Brüdern und an dem Vorsatz eines Herzens, das an Liebe Gefallen hat“ (17,1–3). Liebe konkretisiert sich schließlich nicht nur im Blick auf Josephs Umgang mit der feindseligen Tat seiner Brüder gegen ihn, sondern umschließt ferner Josephs großherzigen Einsatz für das Wohlergehen seiner Brüder nach der Versöhnung: „Alles, was in meiner Macht stand, gab ich ihnen. (...) Mein Land(besitz) war ihr Land, ihr Wille mein Wille“ (17,6f). Joseph wird hier also zum Modell eines lassen ein großes Volk. Joseph endet seine Worte mit dem Zuspruch und der Zusage: „So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen“ (50,21). Die TestXII gestalten dieses Moment der Erzählung breit aus (vgl. G.M. ZERBE, Non-Retaliation in Early Jewish and New Testament Texts. Ethical Themes in Social Contexts, JSPES 13, Sheffield 1993, 143f).
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Verhaltens, das Unrecht nicht durch Vergeltung, sondern mit Vergebung beantwortet, ja er erduldet Schläge und Versklavung, obwohl er ihnen entkommen könnte, um die, die sich ihm gegenüber feindlich verhalten haben, vor Beschämung zu schützen, und als sie wieder zusammenkommen, zeigt er seine Liebe zu ihnen, indem er auch noch für sie sorgt. Er macht das Wohlergehen derer, die ihn töten wollten, zu seiner eigenen Sache. Im Testament Benjamin ist diese Haltung auf den Punkt gebracht, wenn es wesentlich im Blick auf Joseph, aber allgemein formuliert vom „guten Mann“ heißt, dass „er sich aller erbarmt, auch wenn sie Sünder sind. Auch wenn sie über ihn zum Bösen planen, besiegt dieser, indem er das Gute tut, das Böse [vgl. Röm 12,21!], da er vom Guten beschirmt wird“ (TestBenj 4,2f). Aufmerksamkeit verdient zudem, dass in den TestXII ferner vom Gebet für den „Feind“ die Rede ist (vgl. Mt 5,44b). So schärft Joseph auf der Basis des Rückblicks auf sein Leben seinen Nachkommen ein: „Und wenn euch jemand Böses tun will, so betet ihr durch Gutestun für ihn, und ihr werdet von allem Bösen vom Herrn befreit werden“ (TestJos 18,2, vgl. TestBenj 3,6). Die TestXII sind aller Wahrscheinlichkeit nach eine diasporajüdische Schrift.10 Die Bruderschaft der zwölf Söhne Jakobs ist hier transparent für die jüdische Gemeinschaft. Die Aufnahme und Auslegung des Liebesgebotes zielt in den Testamenten wiederum auf die Stärkung der Einheit und der Binnenkohäsion der jüdischen Gemeinschaft, die für ihre Fortexistenz als Minderheit in einem paganen Umfeld als zwingend erscheint. In TestJos 17,3 wird ausdrücklich das Motiv der Eintracht der Brüder vorgebracht. Und im Anschluss an den eben zitierten Abschnitt aus dem TestSeb wird eben dies breiter entfaltet: Wo das Böse nachgetragen wird, „drängt (dies) die Einheit auseinander und zerreißt jede Verwandtschaft“ (TestSeb 8,6), was Sebulon sodann durch einen Vergleich anschaulich erläutert: „Gebt acht auf die Wasser: Wenn sie in derselben Richtung fließen, reißen sie Steine, Hölzer, Erde, Sand herab. Wenn sie sich nach vielen (Seiten) teilen, saugt die Erde sie auf, und sie werden unbedeutend. Wenn ihr euch zerteilt, werdet auch ihr ebenso“ (TestSeb 9,1–3). 10
Auf die Debatte, ob die TestXII eine von Anfang an christliche Schrift sind, die sich jüdischer Traditionsmaterialien bediente, oder, wie hier vertreten, eine ursprünglich jüdische Schrift, die im frühen Christentum weiter tradiert und redigiert wurde, ist hier nicht einzugehen. Vielmehr sei verwiesen auf die kritische Erörterung dieser Frage von D.A. DESILVA, The Testaments of the Twelve Patriarchs as Witnesses to Pre-Christian Judaism: A Re-Assessment, JSPE 22 (2013), 21–68, der als Ergebnis festhält: „There are sufficient text-critical and literary-critical grounds to certify the fact of Christian glossing and expanding, if not the precise extent. There are also sufficient traditional-critical grounds for affirming that the Testaments are best explained as a Jewish text that was later adapted to Christian interests than an original Christian composition“ (67). Die Frage, ob die TestXII diasporajüdischer oder palästinisch-jüdischer Herkunft sind, ist ebenfalls umstritten. Siehe dazu die knappe Übersicht bei J.J. COLLINS, Between Athens and Jerusalem. Jewish Identity in the Hellenistic Diaspora, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) – Livonia (MI) 22000, 176f.
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Festzuhalten ist also: Die Aufnahme des Liebesgebots birgt auch in den TestXII die Momente der Feindesliebe und des Vergeltungsverzichts. Konkret bezogen ist dies auf den persönlichen Feind innerhalb der Gemeinschaft, und die ‚Logik‘ der Feindesliebe steht im Kontext der Sorge um die Fortexistenz und das Gedeihen der Minderheitengruppe, die durch eskalierendes feindseliges Verhalten in ihrem Bestand gefährdet wäre. Wie zu Lev 19,17f gilt dabei auch hier: Das Verhalten gegenüber dem Bruder wird positiv eingeschärft, nicht exklusiv. Dies findet in den TestXII im Übrigen darin Bestätigung, dass als ein zweites Anwendungsfeld der Liebe die Barmherzigkeit gegenüber sozial Schwachen erscheint und die Aussagen hier universal ausgerichtet sind.11 Alle Menschen sind in diesem Sinne zu lieben, ja sogar die Tiere sind in die Barmherzigkeit einbezogen. 12 Der zu liebende Nächste ist in den Testamenten also nicht grundsätzlich allein der „Bruder“. Die unterschiedlichen Reichweiten bei den beiden genannten Anwendungsfeldern sind auch nicht als prinzipielle Festlegungen zu verstehen, sondern erklären sich aus dem Bedarf der Praxis, denn das Ausräumen von Konflikten ist faktisch im Privatleben vor allem im Blick auf sozial Nahestehende relevant.13 Schon die allgemeine Mahnung, „zu allen barmherzig zu sein, auch wenn sie Sünder sind“ (TestBenj 4,2), bekräftigt, dass es nicht um eine grundsätzliche Eingrenzung auf den „Bruder“ geht. Neben dem positiven sozialen Effekt der ‚Feindesliebe‘ für die Binnenkohäsion wird in den TestXII ferner ein zweites Motiv deutlich, nämlich das Wohlwollen, das die Überwindung des Bösen durch das Tun des Guten bei Gott findet und das sich in dem Schutz, der dem Gerechten durch Gott gewährt wird, niederschlägt.14 Positive Konsequenzen eines Wohlverhaltens gegenüber dem Feind werden auch in Philos Erläuterung von Ex 23,4f in De Virtutibus 116–118 ausdrücklich angeführt, um das angemahnte Verhalten plausibel zu machen und dazu zu motivieren. Philo postuliert einen personalen wie interpersonalen Gewinn: Zum einen gewinnt der, der sich des Tieres des Feindes annimmt, „das Größte und Wertvollste von allem auf Erden, eine edle Tat“ – und damit weit mehr als der
11 Siehe TestIss 5,2 („liebt den Herrn und den Nächsten, des Schwachen und Armen erbarmt euch“) zusammen mit TestIss 7,6 („jeden Menschen“). 12 Siehe TestSeb 5,1: „Und jetzt, meine Kinder, verkündige ich euch, die Gebote des Herrn zu bewahren und Barmherzigkeit zu üben gegenüber dem Nächsten und Erbarmen gegen alle zu haben, nicht nur gegenüber den Menschen, sondern auch gegenüber den unvernünftigen (Tieren).“ 13 Näheres dazu bei M. KONRADT, Menschen- oder Bruderliebe? Beobachtungen zum Liebesgebot in den Testamenten der Zwölf Patriarchen, ZNW 88 (1997), 296–310. 14 Siehe zum einen v.a. TestJos 17,3, zum anderen TestIss 7,7; TestNaf 6,4; TestJos 18,1f; TestBenj 3,3–5; 5,1f. Die TestXII kennzeichnet hier ein geradezu unerschütterlich wirkendes Grundvertrauen in Gottes gerechtes Walten über die Welt. Siehe neben den bereits genannten Texten z.B. noch TestIss 3,6f; TestSeb 5,2–4; 6,6; TestBenj 5,5b.
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„Feind“, der nur „ein vernunftloses Tier“ zurückerhält (117). Zum anderen verspricht solches Tun „die Lösung der Feindschaft“ (118). Philo fügt zu diesem Aspekt an, dass das Gebot von Ex 23,4f darin der Intention der gesamten Tora korrespondiert, denn diese zielt überhaupt auf „Eintracht, Gemeinschaftsgefühl, Gleichheit der Gesinnung und Harmonie der Charaktere“ (119). In der Erläuterung von Ex 23,4 in Philos Quaestiones in Exodum 2,11 liegt auf diesem zweiten Aspekt der Ton: Das Rückführen des Tieres dient dem Frieden; der Empfänger wird, „wenn er nicht völlig undankbar ist, seine auf Rache sinnende Boshaftigkeit ablegen“. Der soziale Bereich, der hier bei Philo im Blick ist, ist augenscheinlich der der persönlichen Beziehungen auf lokaler Ebene. Philo geht dabei im Blick auf die Frage einer positiven Folge der Tat nicht von einem Automatismus aus; es mag Feinde geben, bei denen selbst eine solch noble Tat nicht fruchtet. Aber er sieht es offenbar als Normalfall an, dass Streit auf diese Weise gelöst wird. Zu beachten ist dabei, dass das Rückführen des Tieres hier als ein „Liebeswerk“ bezeichnet ist. Zieht man hinzu, dass in Philos Erklärung ferner auch der Rachegedanke begegnet (vgl. Lev 19,18a), erscheint es durchaus plausibel, Philos Auslegung als von Lev 19,18 inspiriert anzusehen.15 Der Rezeption von Ex 23,4f bei Philo lässt sich schließlich Pseudo-Phokylides 140–142 anfügen. Die Rezeption von Ex 23,5 in PseudPhok 14016 ist hier verbunden mit der Maxime, dass es besser sei, statt eines Feindes einen wohlgesonnenen Freund zu bekommen.17 Das Freundschaftsmotiv ist auch im Aristeasbrief von Gewicht. Die Frage des Königs, wie er seine Feinde nicht zu fürchten brauche und unbeachtet lassen könne, wird in der Antwort des jüdischen Gelehrten im Grunde überwunden, wenn dieser ausführt, dass der König nicht besorgt zu sein brauche, wenn er gegen alle Menschen Wohlwollen gezeigt und Freunde erworben habe (225). Anvisiert ist hier faktisch, durch Wohltaten gegen alle aus Feinden Freunde zu machen. Dementsprechend verbindet ein anderer jüdischer Gelehrter, den der König gefragt hat, wem man dankbar sein müsse, seine Auskunft, dass dies nach dem Gebot Gottes in jedem Fall für die Eltern gelte und auf der nächsten Stufe die Freunde folgten, mit dem Lob: „Du aber tust allen Menschen
15
So ZERBE, Non-Retaliation (s. Anm. 9), 63f. Und eventuell von Ex 23,4 in PseudPhok 141 (vgl. ZERBE, Non-Retaliation [s. Anm. 9], 70f), doch ist der griechische Text hier „hopelessly corrupt“ (P. VAN DER HORST, The Sentences of Pseudo-Phocylides. With Introduction and Commentary, SVTP 4, Leiden 1978, 207). Auch Philo behandelt im Übrigen die beiden Fälle von Ex 23,4f in umgekehrter Reihenfolge. Zur Rezeption von Ex 23,4f s. noch 4Makk 2,14 (dort in der Abfolge des biblischen Textes). 17 Zum inneren Zusammenhang zwischen PseudPhok140 (141) und 142 s. J. THOMAS, Der jüdische Phokylides. Formgeschichtliche Zugänge zu Pseudo-Phokylides und Vergleich mit der neutestamentlichen Paränese, NTOA 23, Freiburg (Schweiz) – Göttingen1992, 176f. 16
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wohl und führst sie zur Freundschaft gegen dich“ (228).18 Bedeutsam ist nun im Blick auf Mt 5,45.48, dass das unterschiedslose Wohlwollen gegen Nahwie Fernstehende, gegen Freunde wie Gegner19, im Aristeasbrief mit dem Motiv der imitatio Dei in Verbindung gebracht wird. So sind z.B. nicht nur die anständigen Leute, sondern auch die Missetäter milde zurechtzuweisen, „da auch Gott alle Menschen mit Milde führt“ (207).20 2.3 Vergeltungsverzicht im Frühjudentum Blickt man noch gesondert auf den Aspekt des Vergeltungsverzichts, so lassen sich weitere Belege aus der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition vorbringen.21 So steht der lex talionis (Ex 21,24f; Lev 24,20; Dtn 19,21), die Matthäus in 5,38 als Widerlager für die Forderung Jesu verwendet, bereits inneralttestamentlich die weisheitliche Mahnung in Prov 24,29 gegenüber: „Sag nicht: Wie er mir getan hat, so will ich auch ihm tun, einem jedem will ich vergelten, wie es seine Taten verdienen“.22 In einigen frühjüdischen Schriften ist dies weiter ausformuliert, besonders eindrücklich in dem frühjüdischen Roman Joseph und Aseneth. Nachdem im ersten Teil (JosAs 1–21) die Konversion der ägyptischen Priestertochter Aseneth zum Judentum und die dadurch ermöglichte Vermählung mit Joseph dargestellt wurden, schildert der zweite Teil (JosAs 22–29) den Versuch des Erstgeborenen des Pharaos, mit Hilfe der Bilha- und Silpasöhne Dan, Gad, Naftali und Asser Aseneth gewaltsam zu nehmen sowie seinen Vater und Joseph zu töten, um selbst Herrscher über Ägypten zu werden. Der Plan scheitert; die zahlenmäßig weit überlegenen Truppen des Sohnes des 18
Dass hier direkter Einfluss von Lev 19,17f vorliegt (so S. RUZER, From “Love Your Neighbour” to “Love Your Enemy”: Trajectories in Early Jewish Exegesis, RB 109 [2002], 371–389: 385f), lässt sich am Text nicht hinreichend belegen. Für die Bemerkung, dass Gott „den Freund dem eigenen Leben gleich nennt“ (EpArist 228), genügt ein Verweis auf Dtn 13,7 als Hintergrund. 19 Siehe dazu besonders noch EpArist 227: Dem üblichen Verhaltensgrundsatz, (nur) gegenüber den Freunden freigebig zu sein, ist hier entgegengesetzt, man solle dies auch gegenüber denen sein, die anderer Meinung sind als man selbst. 20 Zum imitatio-Motiv im Aristeasbrief s. 188 (Nachahmung von Gottes immerwährender Milde).190.192.205.208.209.210.211 u.ö. 21 Aus Raumgründen ist hier nur am Rande und nur exemplarisch auf entsprechendes Gedankengut im nicht-biblischen Traditionsbereich zu verweisen. So wird Sokrates in Platos Kriton die Position zugeschrieben, dass Unrechttun auch dann schädlich und schändlich ist, wenn es Reaktion auf widerfahrenes Unrecht ist (Kriton 49A–E): „Weder wiederbeleidigen darf man noch irgendeinen Menschen misshandeln, und wenn man auch, was es immer sei, von ihm erleidet“ (49C). Nach Seneca, De Ira 2,32,1 „unterscheidet sich Vergeltung nicht viel von Unrecht außer durch die Reihenfolge“ (s. zu diesem Text noch unten Anm. 51). Und Epiktet führt zu den Kynikern aus, dass sie sich misshandeln lassen müssen wie ein Esel und die, die sie misshandeln, auch noch lieben müssen wie ein Vater aller, wie ein Bruder (Diss 3,22,54). 22 Vgl. ferner Prov 12,16; 17,9; 19,11; 20,22; 24,17f.
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Pharaos sowie der abtrünnigen Brüder erleiden eine vernichtende Niederlage durch die Leasöhne und Benjamin. Hier nun begegnet zweimal der erstmals bereits in 23,9 vorgebrachte Grundsatz, dass es gottverehrenden Menschen nicht geziemt, Böses mit Bösem zu vergelten:23 Zum einen schützt Aseneth die Bilha- und Silpasöhne mit Verweis auf diesen Grundsatz vor der Vergeltung der Leasöhne, insbesondere vor dem Zorn Simeons, der die „Feinde“ mit dem Schwert niederstrecken will (28,8b–17); zum anderen hält Levi Benjamin zurück, den verwundeten Sohn des Pharaos zu töten (29,1–33), denn „wir sind gottverehrende Männer, und nicht geziemt es einem gottverehrenden Mann, zu vergelten Böses mit Bösem und nicht einen, der gefallen ist, zu zertreten“ (29,3).24 Levi versorgt im Gegenzug noch die Wunde des Sohns des Pharaos und bringt ihn heim zu seinem Vater; der Vergeltungsverzicht geht hier also mit aktiver Feindesliebe einher. Die Motivation für dieses Verhalten ist dabei eine doppelte. Zum einen operiert der Text mit dem Moment der Status- und Identitätszuschreibung, indem die Vergeltung wiederholt als Verhalten gekennzeichnet wird, das einem gottverehrenden Menschen nicht geziemt. Vorausgesetzt ist natürlich, dass „gottverehrend“ ein erstrebenswertes Attribut ist, ja die für einen Menschen wichtigste Qualität bezeichnet. Zum anderen wird die Aussicht auf eine positive soziale, zwischenmenschliche Folge laut: Levi äußert die Hoffnung, dass der Sohn des Pharaos, so der Verwundete überlebt, zu einem Freund werden und der Pharao selbst zu ihnen wie ein Vater sein wird. Die noble Haltung 25 gegenüber dem geschlagenen Feind birgt hier also die Verheißung auf eine persönlich ‚nützliche‘ Verbesserung von sozialen Beziehungen, die für die Hebung des eigenen sozialen Standorts relevant sind. Die Motivationslage erscheint also als gut ‚weisheitlich‘: Es wird ein doppelter Gewinn für den anvisiert, der sich an dem genannten Grundsatz orientiert, nämlich im Blick auf seinen religiösen wie auch seinen sozialen Status. Neben dem Ausgeführten begegnet in JosAs noch ein drittes, auch anderorts belegtes Motiv: Der Verzicht auf die eigene Rache wird durch einen Verweis auf das Gott obliegende Gericht unterbaut (28,14, vgl. auch 28,7).26 Ähnlich wird im slavischen Henochbuch auf Gott als Rächer verwiesen: „Und, wenn ihr vermögt, hundertfach Vergeltung zu üben, so vergeltet nicht, weder dem Nahen noch dem Fernen. Denn der Herr ist es, der vergilt, (und) er wird euch ein Rächer sein am Tag des großen Gerichtes“ (50,4). Ähnlich mahnt 23
Der Sohn des Pharaos hatte zunächst versucht, Simeon und Levi für seinen Plan zu gewinnen. In 23,9 hält Levi seinen Bruder Simeon mit dem oben angeführten Grundsatz davon ab, gegen den Sohn des Pharaos mit dem Schwert vorzugehen. 24 Levi hatte bereits einmal Simeon von einem Vorgehen gegen den Sohn des Pharaos abgehalten. Siehe oben Anm. 23. 25 Vgl. C. BURCHARD, Joseph und Aseneth, JSHRZ Bd. 2/4, Gütersloh 1983, 720, Anm. b) zu 29,5. 26 Siehe neben den im Folgenden genannten Texten noch Prov 20,22.
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PseudPhok 77: „Erwidere nicht Schlechtigkeit (mit Gleichem); vielmehr überlass dem Recht die Vergeltung.“ In der Gemeinderegel von Qumran ist in diesem Zusammenhang der Verzicht auf Vergeltung sogar noch – analog zu Levis Fürsorge für den Sohn des Pharaos – durch das Tun des Guten ergänzt: „Nicht will ich jemandem seine böse Tat vergelten, mit Gutem will ich jeden verfolgen. Denn bei Gott ist das Gericht über alles Lebendige, und er vergilt dem Mann seine Tat“ (1QS 10,17f). In den Testamenten der Zwölf Patriarchen begegnet dieses Motiv im Kontext der Entfaltung des Liebesgebotes: So konkretisiert TestGad 6,3–7 die Mahnung, einander zu lieben (6,3a), wie auch sonst häufig in den TestXII im Blick auf das Verhalten gegenüber dem, der gegen einen selbst gesündigt hat. Dieser ist friedlich zur Rede zu stellen (vgl. Mt 18,15). Und selbst dann, wenn er nicht zur Einsicht kommt oder lediglich aus Scham abstreitet, sondern auf der Bosheit beharrt, ist ihm von Herzen zu vergeben und Gott die Vergeltung zu überlassen (TestGad 6,7). 2.4 Zwischenfazit Zieht man zusammen, ergibt sich in den angeführten Texten eine ganze Reihe von Aspekten, die – je nach situativem Kontext – Vergeltungsverzicht und Wohltun gegenüber dem Feind als sinnhaft erscheinen lassen. Sie bewegen sich sowohl auf einer personalen Ebene (die eigene sittliche Vervollkommnung) als auch auf einer sozialen (Festigung der Binnenkohäsion, Lösung von Feindschaft, Gewinnen von [nützlichen] Freunden); schließlich wird auch in unterschiedlicher Weise auf Gott verwiesen (imitatio-Gedanke, Gott als Richter, der die gute Tat vergelten wird bzw. dem die Vergeltung des Unrechts zu überlassen ist). – Wie verhalten sich nun dazu Jesu Forderungen des Gewaltverzichts und der Feindesliebe?
3. Gewaltverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38–48 Mt 5,38–48 hat eine Parallele in Lk 6,27–35, nicht aber bei Markus. Folgt man der Zweiquellentheorie, handelt es sich hier um Gut aus der Logienquelle (Q). Dass (zumindest) das Feindesliebegebot dabei auf Jesus zurückgeht, gilt in der Forschung als ausgemacht.27 In welchem Kontext und auf welchen Sinnzusammenhang hin Jesus von der Liebe zum Feind gesprochen hat, ist freilich
27
Siehe nur D. LÜHRMANN, Liebet eure Feinde (Lk 6,27–36; Mt 5,39–48), ZThK 69 (1972), 412–438: 412 („mit der größten Sicherheit, die Exegese zu behaupten fähig ist“); PIPER, Love (s. Anm. 4), 56; H.-W. KUHN, Das Liebesgebot Jesu als Tora und als Evangelium. Zur Feindesliebe und zur christlichen und jüdischen Auslegung der Bergpredigt, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Frankemölle – K. Kertelge, Freiburg
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schwierig zu beantworten. Bereits die Rekonstruktion von Q ist – insbesondere im Blick auf Mt 5,39b–42 par Lk 6,29f sowie die Abfolge der Logien in Q 28 – mit vielen Problemen behaftet. Aber selbst dann, wenn man sich – abseits textlicher Details – im Blick auf die Rekonstruktion des sachlichen Kontextes des Feindesliebesgebotes und der Forderung des Vergeltungsverzichts in Q zuversichtlich zeigt, ist damit noch keine aussagekräftige Basis für den ‚historischen‘ Jesus gefunden, sondern nur die Applikation der Forderungen in der Trägergruppe von Q aufgrund ihres sozialen Kontextes im Blick. Um über den möglichen Kontext des Feindesliebegebotes bei Jesus begründet mutmaßen zu können, bedarf es einer Gesamtsicht seines Wirkens und seiner Verkündigung, die hier nicht darzustellen ist. Dies legt im gegebenen Rahmen eine Beschränkung auf die Analyse der vorliegenden Texte nahe, wobei ich mich näherhin auf die matthäische Version konzentrieren werde. Das auffallendste Merkmal von Mt 5,38–48 im Vergleich zu Lk 6,27–36 ist neben der bereits angesprochenen anderen Abfolge der Logien, dass Matthäus das Material in Antithesenform gegossen29 und als Abschluss seiner Antithesenreihe platziert hat. Das von den Jüngern geforderte Verhalten erhält durch diese redaktionelle Einbindung einen neuen Charakter: Die Forderungen des Vergeltungsverzichts und der Feindesliebe erscheinen als Teil, ja als Spitzensätze der von Jesus in seiner Vollmacht (vgl. 7,28) als Gottessohn den Jüngern (vgl. 5,1f) gewährten, vollkommenen Wandel ermöglichenden (vgl. 5,48) Erschließung des Willens Gottes auf der Basis der Tora, die zu „erfüllen“ Jesus nach 5,17 gekommen ist.30 Die vom Evangelisten vorangestellten Thesen sollen im Kontext betrachtet die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer, wie sie sich aufgrund ihres unzureichenden Verständnisses der Intention des in der Tora Gebotenen ergibt, widerspiegeln, während das nun als Antithese dazu erscheinende Q-Material die bessere Gerechtigkeit der Jesusanhänger umschreibt (vgl. Mt 5,20).31
– Basel – Wien 1989, 194–230: 222–224. Anders immerhin J. SAUER, Traditionsgeschichtliche Erwägungen zu den synoptischen und paulinischen Aussagen über Feindesliebe und Wiedervergeltungsverzicht, ZNW 76 (1985), 1–28, bes. 26f. 28 Siehe dazu exemplarisch P. HOFFMANN, Tradition und Situation. Zur „Verbindlichkeit“ des Gebots der Feindesliebe in der synoptischen Überlieferung und in der gegenwärtigen Friedensdiskussion, in: Ethik im Neuen Testament, hg. v. K. Kertelge, QD 102, Freiburg – Basel – Wien 1984, 50–118: 57–63.64–71. 29 Die antithetische Einfassung geht auf matthäische Redaktion zurück (für viele LÜHRMANN, Liebet eure Feinde [s. Anm. 27], 412f). Hingegen hält P IPER, Love (s. Anm. 4), 53– 55 die Option für die Ursprünglichkeit der antithetischen Fassung offen. 30 Zum Verständnis von Mt 5,17–48 s. in diesem Band den Beitrag „Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“, 289–303. 31 Vgl. C. BURCHARD, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 27–50: 40–42.
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3.1 Die Antithese zum Vergeltungsverzicht in Mt 5,38–42 Durch die antithetische Einkleidung erscheinen die Mahnungen aus Q 6,29f bei Matthäus explizit als Alternative zur Orientierung am Grundsatz der talio, der in der Tora gleich mehrfach begegnet (Ex 21,24f; Lev 24,19f; Dtn 19,21, vgl. frühjüdisch z.B. 11QT 61,12). Im Kontext der pentateuchischen Gesetzgebung geht es bei der talio nicht um ein Maß für Selbstjustiz, sondern um einen Grundsatz für die Strafzumessung im Rechtsverfahren.32 Bezieht man sowohl die Kontexte der Talionsformel im Pentateuch als auch die von Matthäus im Verbund mit der Antithesenbildung formulierte Eröffnung der Gegenthese in V.39b (ȝ ਕȞIJȚıIJોȞĮȚ IJ ʌȠȞȘȡ) mit ein, sind auffällige Konvergenzen im Vokabular zwischen Mt 5,38f und Dtn 19,16–21 zu verzeichnen, die nahe legen, dass Matthäus besonders Dtn 19,16–21 vor Augen stand.33 Zum einen verwendet Matthäus in 5,39 dasselbe Verb, mit dem in Dtn 19,18LXX das Verhalten des betrügerischen Zeugen beschrieben wird: „Ein betrügerischer Zeuge hat Unrechtes bezeugt, er hat sich seinem Bruder entgegengestellt“ ([…] ਕȞIJıIJȘ țĮIJ IJȠ૨ ਕįİȜijȠ૨ ĮIJȠ૨). Zum anderen hat IJ ʌȠȞȘȡ(Mt 5,39) ein Pendant in Dtn 19,19LXX: „Und ihr sollt ihn so behandeln, wie er die Bosheit hatte (ਥʌȠȞȘȡİıĮIJȠ), seinen Bruder zu behandeln. Und du sollst den Bösen aus eurer Mitte entfernen (țĮ ਥȟĮȡİȢ IJާȞ ʌȠȞȘȡާȞ ਥȟ ਫ਼ȝȞ ĮIJȞ).“ Sowohl ਕȞIJȚıIJોȞĮȚ als auch das Dativobjekt IJ ʌȠȞȘȡ in Mt 5,39 haben also eine Entsprechung in Dtn 19,16–21. Die rabbinische Auslegung bezeugt ein Verständnis der talio im Sinne des finanziellen Schadensausgleichs.34 Josephus, Ant 4,280 kennt dies als eine – von der Entscheidung des Geschädigten abhängige – Möglichkeit. Aber auch wenn man diese Option für Mt 5 in Anschlag bringt, scheint die Gegenthese den alttestamentlichen Grundsatz hier nicht positiv aufzunehmen und weiterzuführen, sondern geradewegs aufzuheben. Allerdings kommt es bei einem solchen Verständnis zu einer empfindlichen Spannung zu 5,17–20. Zu erwägen ist daher die Option, dass die talio insofern einen vergeltungskritischen Impuls birgt, als die Vergeltung hier im Vergleich etwa zur Rede von der sieben- bzw. siebenundsiebzigfachen Vergeltung in Gen 4,2435 begrenzt wird.36 Die Ge-
32 Vgl. H.J. BOECKER, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, Neukirchen-Vluyn 21984, (149–)153. 33 Vgl. R.A. GUELICH, The Sermon on the Mount. A Foundation for Understanding, Waco (TX) 1982, 220. Erwogen auch von W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 540. 34 Siehe die Diskussion in bBQ 83–84. 35 Matthäus nimmt darauf in 18,21f mit der Forderung siebenundsiebzigfacher Vergebung kontrastiv Bezug. 36 Dagegen kann man allerdings geltend machen, dass die talio in Dtn 19,21 gerade mit der Aussage verbunden ist, dass man kein Mitleid walten lassen soll. Vgl. J. NOLLAND, The
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genthese würde dann den vergeltungskritischen Impuls des Toragebotes aufnehmen und konsequent weiterführen: „Ist die Intention der talio, Vergeltung einzudämmen bzw. durch den Gedanken eines finanziellen Ausgleichs abzufedern, so ist in letzter Konsequenz auf Vergeltung ganz zu verzichten.“37 Für das Verständnis entscheidend dürfte aber noch ein anderer Aspekt sein: Wie oben angemerkt, dient die talio in der alttestamentlichen Gesetzgebung als eine Regel, die Richter bei der Strafzumessung im Rechtsverfahren zugrunde legen sollen. Sie fungiert hier hingegen nicht als eine Maxime des Alltagsverhaltens. Die Gegenthese Jesu in Mt 5,39b–42 macht hingegen deutlich, dass sie im matthäischen Kontext eben als eine Regel des Alltagslebens zur Diskussion steht.38 Zieht man hinzu, dass die Thesen im Kontext von Mt 5 das Gesetzesverständnis illustrieren sollen, das nach 5,20 der unzureichenden Form der „Gerechtigkeit“ der Schriftgelehrten und Pharisäer zugrunde liegt, dann ergibt sich für V.38, dass den Schriftgelehrten und Pharisäern die Position zugeschrieben bzw. der Vorwurf gemacht wird, dass sie „die talio als Grundsatz für das persönliche Verhalten in Konflikten aufnehmen: Ein jeder habe das Recht, auf das erfahrene Unrecht mit ‚angemessener‘ Vergeltung zu reagieren: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘“39 In der Gegenthese des matthäischen Jesus in V.39–42 geht den vier aus Q stammenden Beispielfällen in V.39b–42 (vgl. Lk 6,29f)40 in V.39b ein Prohibitiv voran, den Matthäus im Verbund mit der antithetischen Einkleidung der Q-Tradition und also der Voranstellung der These in V.38 eingefügt hat: Dem Bösen soll man sich nicht entgegenstellen (ȝ ਕȞIJȚıIJોȞĮȚ IJ ʌȠȞȘȡ). Sprachlich fällt auf, dass in dem Verb ܻȞIJȚıIJોȞĮȚ das ਕȞIJ der Talionsformel nachklingt. Dies spricht dafür, dass die für sich genommene relativ offene Formulierung, sich dem Bösen nicht entgegenzustellen, hier konkret als Widerspruch zur Verwendung der talio als einer Maxime des Alltagsverhaltens zu verstehen ist. Gesagt ist also: Man soll sich dem Bösen nicht in der Weise entgegenstellen, dass man Gleiches mit Gleichem vergilt.41 Nahe liegt damit zugleich, dass
Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) – Bletchley 2005, 256; R.T. FRANCE, The Gospel of Matthew, NICNT, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) 2007, 219. 37 M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 94. 38 Vgl. J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Bd. 1, HThKNT 1.1, Freiburg – Basel – Wien 21988, 181: In Jesu Gegenthese „wird die Talionsformel über ihre richterliche Anwendung hinaus als Kategorie menschlichen Verhaltens entlarvt.“ Vgl. NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 36), 257f. 39 KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 37), 94. 40 Zu Mt 5,41 fehlt zwar eine Entsprechung in Lk 6,29f, doch dürfte dies damit zu erklären sein, dass Lukas dieses Beispiel ausgelassen hat. Vgl. die unten in Anm. 47 Genannten. 41 Vgl. NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 36), 257 sowie K.-S. KRIEGER, Fordert Mt 5,39b das passive Erdulden von Gewalt? Ein kleiner Beitrag zur Redaktionskritik der 5. Antithese, BN 54 (1990), 28–32: 30.
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das doppeldeutige Dativobjekt IJ ʌȠȞȘȡ hier nicht neutrisch42, sondern maskulinisch und also personal zu verstehen ist:43 Es geht nicht darum, sich nicht „dem Bösen“ zu widersetzen, sondern darum, dem Übeltäter nicht mit gleicher Münze zu vergelten. Traditionsgeschichtlich betrachtet, fügt sich der Einspruch gegen die talio in V.39b in die in Abschnitt 2.3 skizzierten frühjüdischen Mahnungen ein, auf Vergeltung zu verzichten (Prov 20,22; 24,29; 2Hen 50,4 usw.), nur wird dies in Mt 5 explizit gegen die talio bzw. gegen ihre Übertragung auf den Alltag vorgebracht. Vor allem aber folgen in V.39c–42 Mahnungen, die die Forderung des bloßen Vergeltungsverzichts zuspitzen. Dem dargelegten konkreten Verständnis des Prohibitivs in V.39b als Einspruch gegen ein an der talio orientiertes Verhalten korrespondiert im Blick auf das Verhältnis von V.39b zu V.39c–42, dass dieses nicht im Sinne von Grundsatz (V.39b) und exemplarischen Einzelfällen (V.39c–42) zu fassen ist44, sondern schlicht im Sinne von negativer und positiver Aussage:45 Die Negation der talio wird durch positive Anweisungen ergänzt, die exemplarisch ausführen, wie man sich statt dessen verhalten soll. Das Charakteristikum der ersten drei Beispielfälle in V.39b–41 besteht dabei darin, dass der Geschädigte sich dem anderen demonstrativ und provokativ für die Fortsetzung seiner Unrechtstat zur Verfügung stellt. In V.40 nimmt Matthäus – anders als Lukas – die Situation eines Pfändungsprozesses in den Blick:46 Dem, der vor Gericht das Untergewand zu pfänden sucht, ist freiwillig auch das Obergewand zu überlassen. V.41 fügt daran den in Lk 6,29f fehlenden, aber wohl auf Q zurückgehenden47 Fall einer erzwungenen Dienstleistung an, wobei näherhin an Zwangsleistungen für römische Soldaten zu denken ist.48 Gemeinsam ist beiden Fällen, dass 42 Anders KRIEGER, Mt 5,39b (s. Anm. 41), 30f. Für ein neutrisches Verständnis ferner z.B. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neubearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 390f; D.A. HAGNER, Matthew 1–13, WBC 33A, Dallas (TX) 1993, 130f. 43 Ebenso z.B. NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 36), 257 mit Anm. 229; P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1, Stuttgart 2006, 146; FRANCE, Gospel of Matthew (s. Anm. 36), 220. 44 Anders z.B. DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 33), 538; FRANCE, Gospel of Matthew (s. Anm. 36), 217.220. 45 Dies wird dadurch unterstrichen, dass im Falle der Interpretation von V.39b als Grundsatz, der im Folgenden exemplifiziert wird, Grundsatz und Einzelfälle nicht genau zueinander passen würden, weil V.39c–41 über den Verzicht auf Widerstand hinausgeht. 46 Vgl. exemplarisch LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 42), 386. 47 Vgl. SAUER, Erwägungen (s. Anm. 27), 9; GNILKA, Das Matthäusevangelium I (s. Anm. 38), 180; LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 42), 384. Anders z.B. LÜHRMANN, Liebet eure Feinde (s. Anm. 27), 418; KRIEGER, Mt 5,39b (s. Anm. 41), 31f; R.H. GUNDRY, Matthew. A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, Grand Rapids (MI) 21994, 94f. 48 Darauf weist die Verwendung des Verbs ਕȖȖĮȡİİȚȞ in Verbindung mit dem Fremdwort ȝȜȚȠȞ statt des geläufigen ıIJįȚȠȞ (vgl. HOFFMANN, Tradition [s. Anm. 28],
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jeweils die Lage von sozial Unterlegenen angesprochen ist. Auf diesem Hintergrund liegt es nahe, dass für Matthäus auch der erste Fall, der Schlag auf die rechte Backe, in diesem Sinne zu lesen ist. Kurz gesagt: Es geht, mit Ulrich Luz gesprochen, um „die Erfahrungswelt ‚kleiner Leute‘, die geprügelt werden, denen Pfändungsprozesse drohen und die unter fremden Besatzungen leiden.“49 Zwar kommt dann in V.42 die Thematik der Wohltätigkeit vor und damit der Besitzende in den Blick, was sich bei Matthäus zumal angesichts des vorangestellten Grundsatzes in V.39a nicht gut in den Kontext einfügt. Aber der Akzent liegt zunächst deutlich auf der Situation von sozial Deklassierten, und dabei ist, einschließlich V.41, nichts anderes im Blick als deren Alltagswelt.50 Der soziale Kontext und die konkrete Ausformung der Mahnung zum Vergeltungsverzicht sind damit in Mt 5 sichtlich von dem Sinnzusammenhang unterschieden, in den der Grundsatz, dass es gottesfürchtigen Menschen nicht geziemt, Böses mit Bösem zu vergelten, in Joseph und Aseneth eingestellt ist. Dort nämlich leisten die Leasöhne und Benjamin sehr wohl ‚militärischen‘ Widerstand gegen den Komplott des Sohnes des Pharaos. Hier deutet sich also nicht die Tendenz zu einem grundsätzlichen Gewalt- und Widerstandsverzicht an. Ferner erscheint die Maxime, nicht Böses mit Bösem zu vergelten, hier als Tugend der Überlegenen; es geht um die Verschonung des besiegten Feindes.51 In Mt 5,39b–41 ist, insbesondere beim zweiten und dritten Fall (V.40.41), die Situation, wie ausgeführt, sichtlich eine 61; G. THEISSEN, Gewaltverzicht und Feindesliebe [Mt 5,38–48/Lk 6,27–38] und deren sozialgeschichtlicher Hintergrund, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 31989, 160–197: 176f). Das Verb begegnet neutestamentlich ansonsten nur noch in Mk 15,21 par Mt 27,32, wo römische Soldaten den vom Feld kommenden Simon zwingen, Jesu Kreuz zu tragen. Vgl. ferner Epiktet, Diss 4,1,79: „Deinen ganzen Körper musst du so besitzen wie einen vollgepackten Esel, solange es möglich ist, solange es erlaubt ist. Aber wenn der Befehl gegeben wird (wörtl.: wenn ਕȖȖĮȡİĮ ist) und ein Soldat ihn nimmt, lass es geschehen, widersetze dich nicht und murre nicht. Andernfalls bekommst du Schläge und wirst trotzdem den Esel verlieren.“ Vgl. THEISSEN, Gewaltverzicht (s. oben), 176f. 49 LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 42), 386. 50 Vgl. die Bemerkung von G. LOHFINK, Der ekklesiale Sitz im Leben der Aufforderung Jesu zum Gewaltverzicht (Mt 5,39b–42/Lk 6,29f), ThQ 162 (1982), 236–253: 241, dass die in Mt 5,39b–42 genannten Fälle „dem realen Alltag der Hörer Jesu entnommen sind und eine ganze Skala von Möglichkeiten verschleierter oder offener Gewalt voraussetzen – von der Belästigung [so Lohfinks Interpretation von V.42, M.K.] bis zur direkten Gewalttat“. Ein etwaiger antizelotischer Impetus ist hier nicht zu betonen (ebenso z.B. R.A. HORSLEY, Ethics and Exegesis: „Love Your Enemies“ and the Doctrine of Nonviolence, in: The Love of Enemy and Nonretaliation in the New Testament, hg. v. W.M. Swartley, Louisville (KY) 1992, 72–101: 78f.81f; ZERBE, Non-Retaliation [s. Anm. 9], 194). Zwar ist es offenkundig, dass Mt 5,41 zum zelotischen Ansatz quersteht, aber es geht hier zunächst begrenzt darum, wie man sich individuell gegenüber den alltäglichen Drangsalierungen durch die römischen Besatzer verhält. 51 Vgl. ZERBE, Non-Retaliation (s. Anm. 9), 88. – Dem fügt sich der Befund im Aristeasbrief ein, denn dort ist die Milde als Tugend der Herrschenden im Blick (188.207 u.ö.). Für den pagan-hellenistischen Bereich sei exemplarisch auf Seneca, De ira 2,32,1 verwiesen:
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andere: Während die in JosAs vertretene Handlungsmaxime also konkret bedeutet, (erfahrenes) Böses nicht (in einem neuen Akt) mit Bösem zu vergelten, geht es in Mt 5 nicht darum, dass jemand, der zur Vergeltung der geschehenen Unrechtstat eines Aggressors in der Lage ist, auf Vergeltung verzichtet, sondern darum, wie man sich bei geschehendem Unrecht durch einen Überlegenen verhalten soll.52
Der soziale Kontext ist zu bedenken, wenn man nach der ‚Logik‘, nach der Sinnhaftigkeit des geforderten Verhaltens fragt. Matthäus wird hier nicht explizit. Schwerlich hinreichend ist die Auskunft, dass Jesus bzw. Matthäus Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung eben prinzipiell – und damit auch als Reaktion auf erfahrenes Unrecht – als dem sozialen Willen Gottes widersprechend ablehnen, denn die Pointe liegt ja noch nicht beim Vergeltungs- bzw. Gewaltverzicht an sich, sondern darin, dass ein „paradoxes Entgegenkommen“53 gefordert ist, das eine Art gewaltlose Gegenprovokation bedeutet. Die Frage nach der ‚Logik‘ des geforderten Verhaltens muss bei diesem Moment ansetzen. Man kann dabei zunächst allgemein darauf hinweisen, dass damit der Regelkreislauf der Gewalt durchbrochen, die Handlungslogik des Gegenübers in Frage gestellt und die Anwendung von Gewalt und Zwang ihrer Selbstverständlichkeit beraubt wird54, doch ist die Frage darüber hinaus konkreter auf die involvierten Personen zu beziehen. Blickt man zunächst auf die Rolle der Gedemütigten, so ist als erstes festzuhalten, dass ihnen, für die aufgrund ihres sozialen Status Vergeltung im Grunde gar keine ernsthafte Option darstellt, eben ihr „paradoxes Entgegenkommen“ die Möglichkeit bietet, ihre Erniedrigung durch die sozioökonomisch oder politisch/militärisch Mächtigen nicht einfach stillschweigend zu erdulden, vielmehr das Heft des Handelns in die
„nicht, wie es bei Wohltaten ehrenwert ist, Güte mit Güte aufzuwiegen, so auch, Unrecht mit Unrecht. Dort ist, sich besiegen zu lassen, schimpflich, hier, zu siegen. Ein unmenschliches Wort gibt es, freilich als gerecht aufgefasst – Rache. Und Vergeltung unterscheidet sich nicht viel von Unrecht außer durch die Reihenfolge ...“ (Übers. M. Rosenbach). Dass es hier beim Vergeltungsverzicht um die Tugend eines Überlegenen geht, macht der nachfolgende Kontext evident, denn dort wird – anknüpfend an das Beispiel Marcus Catos, der einen unbeabsichtigten Schlag beim Baden einfach ignorierte – ausgeführt, es sei „Eigenart eines großen Herzens, Beleidigungen mit Geringschätzung zu betrachten ...; jener ist groß und edel, der nach Art eines großen Tieres das Gekläffe winziger Hunde unbekümmert überhört“ (32,3). Vergeltungsverzicht erscheint hier als Ausweis von Überlegenheit, ja als Methode, das Gegenüber als unbedeutend darzustellen. Vgl. dazu PIPER, Love (s. Anm. 4), 21–25 mit weiteren Beispielen. 52 Das gilt im Grunde auch für das erste Beispiel, nämlich insofern, als hier die unmittelbare Reaktion innerhalb derselben Begegnung im Blick ist. 53 THEISSEN, Gewaltverzicht (s. Anm. 48), 177. 54 Vgl. KRIEGER, Mt 5,39b (s. Anm. 41), 30; LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 42), 388f.
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Hand zu nehmen und so zumindest ein Stück weit Würde und Handlungssouveränität zurückzugewinnen.55 Das Objekt der erniedrigenden Tat wird hier zum Handlungssubjekt. Selbst wenn nun das Gegenüber die Skrupellosigkeit besitzt, zum zweiten Mal zuzuschlagen, steht dieser zweite Schlag in einem grundlegend veränderten Zusammenhang. Und bei der zweiten Meile handelt es sich nicht mehr um etwas, zu dem man gezwungen wurde. Kurz gesagt: Es geht um Rollenwechsel und damit verbundene Statusveränderung. Auf dieses Moment wird in anderer Zuspitzung im Zusammenhang von 5,43–48 noch zurückzukommen sein. Nimmt man die Rolle des Bedrängers hinzu, stellt sich die Frage, inwiefern die Gegenprovokation darauf abzielen soll, diesen zur Erkenntnis der Fragwürdigkeit seines Verhaltens und damit zu einer Verhaltenskorrektur anzuleiten. 56 Natürlich wird in dem Text mit keinem Wort behauptet, dass diese Strategie immer aufgeht57, die Gegenprovokation stets in dem angedeuteten Sinn funktionieren wird. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass das Gegenüber noch ein zweites Mal zuschlägt und belustigt von dem Angebot einer zweiten Meile Gebrauch macht. 58 Aber wenn auch die Gewissheit, dass die Gegenprovokation den Täter zur Einsicht führen wird, nicht ausgesprochen ist und nicht ausgesprochen werden kann, so kann gleichwohl mit im Blick sein, dem Feind die Chance zu geben, sein Verhalten zu erkennen – ob er sie nutzt, ist eine andere Frage (vgl. oben zu Philo, QuaestEx 2,11). Insbesondere der zweite Fall weist m.E. deutlich in diese Richtung: Wer demonstrativ auch sein Obergewand hingibt, ist nackt und schutzlos vor Kälte. Er demonstriert damit provokativ, wie ihm das Verhalten des wirtschaftlich Mächtigen ‚ans Leben geht‘. „Stripping 55 Vgl. W. WINK, Neither Passivity nor Violence: Jesus’ Third Way (Matt. 5:38–42 par.), in: The Love of Enemy and Nonretaliation in the New Testament, hg. v. W.M. Swartley, Louisville (KY) 1992, 102–125: 105f.107f.111; ZERBE, Non-Retaliation (s. Anm. 9), 185f sowie auch D.J.WEAVER, Transforming Nonresistance: From Lex Talionis to “Do Not Resist the Evil One”, in: The Love of Enemy and Nonretaliation … (s. oben), 32–71: 56f. 56 Vgl. – mit Unterschieden im Detail – L. SCHOTTROFF, Gewaltverzicht und Feindesliebe in der urchristlichen Jesustradition Mt 5,38–48; Lk 6,27–36, in: Jesus Christus in Historie und Theologie (FS H. Conzelmann), hg. v. G. Strecker, Tübingen 1975, 197–221: 215f; LOHFINK, Sitz (s. Anm. 50), 241 („Vielleicht kannst du ihn auf diese Weise gewinnen“); J. BECKER, Feindesliebe – Nächstenliebe – Bruderliebe. Exegetische Beobachtungen als Anfrage an ein ethische Problemfeld, ZEE 25 (1981), 5–18: 9; WINK, Passivity (s. Anm. 55), 108; ZERBE, Non-Retaliation (s. Anm. 9), 185f; GNILKA, Das Matthäusevangelium I (s. Anm. 38), 181.182 sowie NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 36), 255: „the behaviour of the other is to be challenged by the moral strength of one who can provocatively signal a preference for suffering wrong over feeding the spiral of violence.“ – Zurückhaltend dagegen z.B. DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 33), 546: „The question of whether or not the world will be transformed by such actions is just not addressed [...]. That is, no pragmatic motive is invoked“. 57 Vgl. das „Vielleicht“ im Zitat von LOHFINK oben Anm. 56. 58 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 42), 388.
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naked the poor person graphically reveals the destruction of human dignity which the plaintiff is engaged in.“59 Zudem ist hier zu beachten, dass nach der Tora die Pfändung des Mantels über Nacht verboten ist (Ex 22,25f; Dtn 24,12f); das Gegenüber darf den Mantel nicht nehmen. Worum es hier geht, ist eine Art ‚Zeichenhandlung‘60, die Licht auf die vorangehende Pfändung wirft, nämlich das vermeintlich rechtmäßige Vorgehen des Mächtigen auf seine (moralische) Legitimität hin hinterfragen lässt. Kurzum: Verständlich wird das Szenarium nur, wenn der wirtschaftlich Mächtige(re) darüber angeleitet werden soll, sein Verhalten gegenüber den Armen überhaupt zu reflektieren, als unrechtmäßig zu erkennen und zu verändern. Fragt man als Stütze für die vorgetragenen Überlegungen nach einer Plausibilitätsbasis für die potentielle Erwartung positiver Effekte eines demonstrativen Gewalt- bzw. Widerstandsverzichts in der Erfahrungswelt des zeitgenössischen Judentums, kann man immerhin auf zwei Vorfälle verweisen, die dem Judenchristen Matthäus durchaus bekannt gewesen sein könnten: zum einen auf den gewaltlosen Protest gegen den Versuch des Pilatus in den 20er Jahren, Kaiserembleme in Jerusalem einzuführen, als die vor dem Richterstuhl des Pilatus versammelten Volksmengen von mit Schwertern bewaffneten römischen Soldaten umzingelt wurden, sich darauf demonstrativ ihren Nacken darbietend auf den Boden warfen und schrien, sie seien eher bereit zu sterben, als dass sie ihre väterlichen Gesetze überträten, worauf Pilatus die Feldzeichen sogleich aus Jerusalem entfernen ließ (Josephus, Bell 2,169– 174; Ant 18,55–59); zum anderen auf den ebenfalls gescheiterten Versuch des Gaius Caligula Ende der 30er Jahre, in Jerusalem Kaiserbilder aufstellen zu lassen. Der damit beauftragte Petronius sollte alle, die Widerstand wagten, töten und das übrige Volk in die Sklaverei verkaufen. ‚Widerstand‘ leistete das Volk aber wieder durch demonstrative Opferbereitschaft, was Petronius schließlich bewog, sich zurückzuziehen und lieber selbst die Gefahr auf sich zu nehmen, sich den Zorn des Caligula zuzuziehen (Josephus, Bell 2,184–203; Ant 18,261–309, s. auch Philo, LegGai 197–337). Gerd Theißen vermerkt hierzu mit Recht: „Solche Ereignisse sind Ausdruck einer vorhandenen ‚Mentalität‘ und gleichzeitig Indizien für objektive ‚Chancen‘ eines gewaltfreien Widerstands“61. Matthäus konnte auf der anderen Seite ferner den römisch-jüdischen Krieg vor Augen haben, in dem gewaltsamer Widerstand gegen Rom zur Katastrophe geführt hatte. Kurzum: Im Rahmen der Geschichte des jüdischen Volkes im 1. Jahrhundert n. Chr. eignet dem Gewaltverzicht durchaus auch eine gewisse politische Plausibilität. Freilich ist zu betonen, dass die sozialen Kontexte hier und in Mt 5,38–42 nicht identisch sind. In 5,39–41 ist allein die Alltagswelt ‚kleiner Leute‘ in einem lokalen Kontext im Blick; die politische Dimension der obigen Beispiele, bei denen es um Massenphänomene geht, liegt hier fern. Andererseits bedeutet die Differenz der sozialen Kontexte nicht, dass Erfahrungen in dem einen Bereich nicht zugleich die Plausibilität eines analogen Verhaltens in anderen Zusammenhängen fördern können. 59
NOLLAND, Gospel of Matthew (s. Anm. 36), 259. Es geht hingegen nicht darum, dass Jesus eine Forderung erhebt, die in Spannung zur Tora steht. Dies wäre streng genommen ohnehin nur dann der Fall, wenn Jesus dem Kläger die Pfändung auch des Obergewandes gestattete. 61 G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 22001, 105f, Anm. 7, vgl. THEISSEN, Gewaltverzicht (s. Anm. 48), 192–195. 60
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Neben dem Rückgewinn von Würde und Handlungssouveränität für den Gedemütigten und der Eröffnung einer Chance zur Verhaltensänderung für den Mächtigen, die in eine Neujustierung des sozialen Verhältnisses münden kann, ist schließlich ein dritter – und m.E. wesentlicher – Aspekt zu bedenken, der die ‚Logik‘ des geforderten Verhaltens definiert: Gewaltverzicht wurde durch Jesus vorgelebt, wurde von ihm selbst verkörpert. Bei seiner Gefangennahme (Mt 26,47–56) weist Jesus den Versuch gewaltsamer Gegenwehr eines Jüngers mit den Worten zurück: „Stecke dein Schwert zurück an seinen Platz! Denn alle, welche das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen!“ (26,52). Zu beachten ist zudem, dass Matthäus eine Querbeziehung zwischen V.39 und der Verspottungsszene in 26,67f geschaffen hat, denn dort findet ıIJȚȢ ıİ ૧ĮʌȗİȚ … (diff. Lk 6,29 [IJ IJʌIJȠȞIJ ıİ …]) in der von Matthäus eingefügten Wendung Ƞੂ į ਥȡʌȚıĮȞ 62 eine Entsprechung. Dass es sich dabei um die einzigen beiden Vorkommen des Verbs im Matthäusevangelium (wie überhaupt im Neuen Testament) handelt, unterstreicht, dass Matthäus hier gezielt einen Zusammenhang hergestellt hat. Dieser Befund gewinnt im hier verfolgten Kontext Kontur, wenn man die für das Matthäusevangelium charakteristische Zeichnung Jesu als davidischen Messias hinzunimmt, der nicht militärische Attribute aufweist, sondern als sanftmütiger König in Jerusalem einzieht (21,1–9) und sich als sich erbarmender Hirte um sein Volk sorgt (2,6; 9,36; 15,24).63 Bezieht man dies zum einen auf die anderorts bezeugte Erwartung eines kriegerischen Messias64 und zum andern auf das Scheitern des gewaltsamen Aufstandes gegen Rom im jüdischen Krieg 66–70 n. Chr., erscheint die matthäische Darstellung der – durch die vielen Erfüllungszitate belegten – Messianität Jesu als eine Art Gegenentwurf: Die Messiaserwartung ist durch den Ausgang des Krieges nicht ad absurdum geführt, sondern war hier von vornherein falsch orientiert.65 Das Scheitern des militärischen Weges (und der damit verbundenen Spielart der Messiaserwartung) ist die negative Hintergrundfolie für die matthäische Präsentation des Davididen Jesus als friedfertigen und sanftmütigen Messiaskönig. Sein Weg ist nicht gescheitert, sondern er wurde von Gott als Weltenherrscher eingesetzt
62 Als Anknüpfungspunkt ist auf den bei Matthäus fehlenden Schlusssatz der Verspottungsszene in Mk 14,65 zu verweisen: ȀĮ Ƞੂ ਫ਼ʌȘȡIJĮȚ ૧ĮʌıȝĮıȚȞ ĮIJઁȞ ȜĮȕȠȞ. 63 Vgl. dazu in diesem Band auf S. 146–170 den Beitrag „Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie“. 64 Siehe z.B. PsSal 17,21–23 und 4Q161 Fragm. 8–10 15–19, ferner auch 4Esr 14,32–34. 65 Siehe zu diesem Sachzusammenhang die Ausführungen von G. THEISSEN, Vom Davidssohn zum Weltenherrscher. Pagane und jüdische Endzeiterwartungen im Spiegel des Matthäusevangeliums, in: Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils. Begegnungen mit dem Neuen Testament und seiner Umwelt (FS H.-W. Kuhn), hg. v. M. Becker – W. Fenske, AGJU 44, Leiden – Boston 1999, 145–164, bes. 158–160.
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(28,18), der weiterhin nicht mit militärischer Macht, sondern durch seine Gebote regiert (28,20)66, die wesentlich in der Bergpredigt zusammengestellt sind. Festzuhalten ist also: Zur ‚Logik‘ der Forderungen in Mt 5,39–41 gehört wesentlich der Aspekt, mit einem Wandel auf dem Weg der Gewaltlosigkeit Jesus nachzufolgen. Anders gesagt: Die ‚Logik‘ der Forderungen ist nicht abgelöst von dem ‚Ich‘ des Sprechers zu verstehen, das durch die Einleitungswendung zu den Thesen autoritativ in den Vordergrund tritt. In dem Glauben an die Erhöhung Jesu zum Weltenherrscher ist ferner die Gewissheit begründet, dass der von Jesus eröffnete Weg der Gewaltlosigkeit – anders als ausweislich des römisch-jüdischen Krieges der Weg der Gewalt – nicht zum Scheitern verurteilt ist. Er führt vielmehr zum ‚eigentlichen‘ Ziel des Lebens: zur Teilhabe am ewigen Leben. Festzuhalten ist: Drei Aspekte der ‚Logik‘ der Forderungen Jesu von 5,39– 41 wurden herausgearbeitet. Die ersten beiden bleiben im Bereich einer weltimmanenten ‚Logik‘: Der Gedemütigte vermag Würde und Handlungssouveränität zurückzugewinnen, dem Täter ist die Chance eröffnet, innezuhalten, sein Tun zu überdenken, seinen Fehlweg zu erkennen und zu korrigieren. Das dritte und zentrale Moment bindet die Forderungen an den an, der sie vorbringt, ist damit an Glaubensüberzeugungen geknüpft und setzt also ein dezidiert christliches Wirklichkeitsverständnis voraus. Es geht um die Nachfolge auf dem von Jesus vorgezeichneten und vorgelebten Weg. Und diese Nachfolge führt nicht ins Nichts, sondern ins Reich Gottes. Zu fragen ist nun im nächsten Schritt, inwiefern diese Aspekte in 5,43–48 aufgenommen und fortgeschrieben werden. 3.2 Die Antithese zu Feindesliebe in Mt 5,43–48 Das Nächstenliebegebot ist, wie oben ausgeführt wurde, schon in Lev 19,17f faktisch ein Feindesliebegebot und in diesem Sinne in den Testamenten der Zwölf Patriarchen rezipiert worden. Ging es dort aber um die Liebe zum Nächsten als Feind und war dies, fragt man nach dem sozialen Kontext, faktisch innerjüdisch auf den sozialen Nahbereich und näherhin auf die Förderung der Binnenkohäsion der jüdischen Gemeinschaft bezogen, so ist durch die ausdrückliche Rede von der Feindesliebe in der Jesustradition ein neuer Akzent gesetzt, den Matthäus durch die Antithesenbildung deutlich herausgearbeitet hat: Nächster und Feind treten hier auseinander, und das bedeutet, dass hier eine bestimmte eingrenzende Definition des Nächsten im Kontext der Liebesforderung zur Kritik steht.67 Dass dies Konsequenzen im Blick auf die Frage nach der ‚Logik‘ der Feindesliebe nach sich zieht, liegt auf der Hand.
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Siehe dazu wiederum THEISSEN, Davidssohn (s. Anm. 65), 164. Dabei ist nochmals zu betonen, dass das Liebesgebot in Lev 19,18 positiv, nicht exklusiv eingeschärft wird und dies ebenso für die Testamente der Zwölf Patriarchen gilt. 67
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Dabei ist evident, dass sich die Kritik hier nicht gegen das alttestamentliche Gebot selbst richten kann. Nicht nur ist dem schriftkundigen Matthäus nicht zu unterstellen, dass er nicht wusste, dass die Aufforderung, den Feind zu hassen (5,43b), gar nicht in der Tora steht, sondern es ist auch zu beachten, dass Matthäus bekanntlich anderorts das Nächstenliebegebot ohne nähere Erläuterung als Hauptsatz der Tora anführt (19,19; 22,39f). Die Entgegensetzung von Nächstem und Feind ist für Matthäus also nicht in dem Toragebot selbst enthalten, sondern durch das Missverständnis anderer eingetragen und nur in diesem Sinn als Folge der Zitation dieser Fehlinterpretation in Mt 5,43f aufgenommen. Nicht das Toragebot selbst, sondern dessen verzerrende Auslegung wird in 5,43 zitiert, und für Matthäus geht es hier entsprechend um die Korrektur einer einschränkenden Interpretation des alttestamentlichen Liebesgebotes bzw., positiv gewendet, um die Herausstellung seines Vollsinns. Wie das hier kritisierte Verständnis des Liebesgebotes genau zu fassen ist, hängt davon ab, wer bei „Nächster“ und „Feind“ im Blick ist. Ulrich Luz stellt dazu zwei Varianten nebeneinander, ohne eine auszuschließen: Im Blick sei „ganz allgemein eine eingeschränkte Interpretation des Liebesgebotes im Sinne jüdischen Partikularismus oder im Sinne von vulgärethischem Common sense.“68 Allerdings kann man für die erste Option zwar darauf verweisen, dass sich frühjüdisch verschiedene Belege beibringen lassen, in denen Liebe innerjüdisch ausgerichtet ist69, doch spricht im matthäischen Text selbst nichts dafür, dass hier die Abgrenzung von Jude und Nicht-Jude eine Rolle spielt. Der Kontext weist vielmehr klar auf die zweite Option, denn V.46 zufolge geht es eindeutig um die Beschränkung der Liebe auf die, von denen man selbst geliebt wird, und also um Kritik am „vulgärethischen Common sense“ des Gegenseitigkeitsprinzips70, die in der lukanischen Fassung weiter profiliert ist (Lk 6,32– 34), aber nicht erst dort eingebracht wurde, sondern schon in Q angelegt war
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LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 42), 408. Siehe nur Tob 4,13; Jub 36,4.8; 46,1. Vgl. auch die Belege unten Anm. 74. – Definiert man die Frontstellung so, müsste man freilich zumindest differenzieren, da es frühjüdisch auch andere Tendenzen gegeben hat (s. nur die Rede von der Philanthropie bei Philo oder in der pseudophilonischen Homilie De Jona [deutsche Übersetzung: F. SIEGERT, Drei hellenistisch-jüdische Predigten, WUNT 20, Tübingen 1980] sowie EpArist 208.290; auch in den TestXII ist keine prinzipielle Eingrenzung auf den Volksgenossen anzutreffen und Gleiches gilt – im Blick auf den Vergeltungsverzicht – etwa für JosAs) und hier deshalb zumindest nicht pauschal von einem jüdischen Partikularismus als Gegenfolie zu reden wäre. Mt 5,43f würde also eine bestimmte Spielart der frühjüdischen Rezeption des Liebesgebotes kritisieren und dabei eine andere frühjüdisch bezeugte Tendenz aufnehmen und radikalisieren (vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I [s. Anm. 42], 404f). 70 Nach Xenophon, Mem 4,4,24 ist es ein überall gültiges Gesetz, seinem Wohltäter wieder Wohltaten zu erweisen. Und nach Pseudo-Aristoteles, RhetAlex I 1421b37–39 gehört das Prinzip, den Freunden Gutes zu tun und sich gegenüber den Wohltätern dankbar zu zeigen, zu den ungeschriebenen Gesetzen. Siehe ferner unten S. 371. 69
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und auch von Matthäus als Gegenfolie der – prinzipiellen – Entschränkung der Liebesforderung aufgenommen wurde. Das deutliche Indiz von Mt 5,46 wird dabei durch die exemplarische Konkretisierung der Feinde als Verfolger bestätigt. Konsens ist, dass damit die Verfolger der Gemeinde im Blick sind. Das Matthäusevangelium rechnet nun zwar auch mit Verfolgung durch ‚heidnische‘ Instanzen (s. Mt 10,18; 24,9); im Zentrum steht aber der Konflikt mit der Synagoge 71, in der sich die pharisäische Strömung als bestimmende Gruppe durchgesetzt hat.72 Das aber heißt: Die, für die hier nicht als „Nächste“, sondern als „Feinde“ zu beten ist, sind vornehmlich andere Juden! Dies untermauert, dass die Gegenfolie zur Feindesliebe hier nicht eine etwaige innerjüdische Beschränkung von Liebeserweisen ist. V.47 hilft, dem weiter Profil zu verleihen. Mit „was tut ihr Besonderes (ʌİȡȚııંȞ)“ setzt Matthäus einen Rückverweis auf 5,20: Die Gerechtigkeit der Jünger hat die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit zu übersteigen (ʌİȡȚııİıૉ). Dies erhärtet, dass die kritisierte Position von 5,43 im matthäischen Sinn (auch) den Standpunkt der Schriftgelehrten und Pharisäer wiedergibt. Die Kritik an ihnen umschließt nun im Matthäusevangelium deutlich die innerjüdische Distanzierung von den Zöllnern und Sündern.73 Auch von daher ist entsprechend für 5,43 zu folgern, dass hier nicht die Beschränkung der Liebe auf den Volksgenossen, sondern die auf die eigene Gruppierung bzw. auf die (nach eigener Einschätzung) Gerechten im Blick ist – auch dazu lassen sich aus frühjüdischer Tradition Texte beibringen.74 Festzuhalten ist also: Angegangen wird in Mt 5,46f die Beschränkung der Liebe auf den Kreis der Freunde und Bekannten bzw., bezieht man die These aufgrund von 5,20 speziell auf die Schriftgelehrten und Pharisäer, auf den eigenen Zirkel, auf die Mitglieder des eigenen ‚Gesinnungskonventikels‘, wenn man so will – unter Abgrenzung auch von anderen Juden. Die These in 5,43 ist damit faktisch nichts anderes als eine in biblischer Sprache formulierte Variante zur geläufigen vulgärethischen Maxime, „seinen Freunden wohlzutun,
71 Siehe vor allem Mt 10,17; 23,34–36, auch 5,11f (s. die Analogie zur Verfolgung der Propheten!). 72 Zum historischen Kontext des Matthäusevangeliums s. M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 379–391 und in diesem Band auf S. 3–42 den Beitrag „Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum“. 73 Siehe Mt 9,9–13; 11,19, auch 21,28–32. 74 Siehe Sir 13,15; 1QS 1,3f.9f (die Söhne des Lichtes sind zu lieben, die Söhne der Finsternis zu hassen); CD 6,20f, rabbinisch ARN (Version A) 16.
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aber den Feinden weh“ (Platon, Menon 71E75)76, der zu folgen „Zöllnern und Heiden“ wie Schriftgelehrten und Pharisäern gleichermaßen zur Last gelegt wird. Das Gegenüber von Juden und Nicht-Juden spielt hingegen für die matthäische Entgrenzung der Nächstenliebe keine konstitutive Rolle. Davon ist unbenommen, dass die Entgrenzung prinzipiell ist, also auch gegenüber einem nichtjüdischen Feind gilt. Zieht man die in V.39–41 genannten Beispiele hinzu, wird dies bestätigt, denn dort ist, wie gesehen, auch die römische Besatzungsmacht mit im Blick, nur fokussiert Matthäus den Blick auch dort nicht auf eine etwaige nationale bzw. ethnische Differenzierung, sondern es geht dort um verschiedene Beispiele der Demütigung kleiner Leute durch sozial Überlegene. Festzuhalten ist ferner, dass ausweislich 5,44b nicht allein persönliche Feinde im Blick sind (vgl. wiederum 5,41). Analog zu 5,39–41 wird freilich auch hier nicht deutlich, dass dabei mehr als ein lokaler Erfahrungshorizont vor Augen steht. Was ist hier nun als ‚Logik‘ dieser prinzipiell entgrenzten Feindesliebe zu erkennen? Anders als in 5,38–42 mündet die sechste Antithese in V.45–48 in eine Passage ein, in der verschiedene Motive explizit angeführt sind. Feindesliebe ist demnach mit einer Verheißung verbunden, nämlich Söhne des Vaters im Himmel zu werden (V.45a). Im Lichte der Seligpreisung von 5,9 ist dies als eine eschatologische Verheißung zu lesen.77 Die Sohnschaft ist der eschatologische Lohn (V.46f), der denen, die nur unter ihresgleichen Gutes tun, versagt bleibt. „Söhne Gottes“ sind dabei – dem Kontext von 5,45a nach – durch ihr ethisches Verhalten als solche qualifiziert.78 V.45b.c profiliert dies weiter, indem ausdrücklich gemacht wird, warum die, die ihre Feinde lieben, ihnen Gutes tun, Söhne Gottes sind: Gott selbst nämlich lässt seine Sonne aufgehen über
75 Siehe ferner Plato, Resp 332E; 336A („aber weißt du wohl, sprach ich, wem mir jener Spruch anzugehören scheint, welcher behauptet, gerecht sei, den Freunden zu nutzen und den Feinden zu schaden“); Epiktet, Diss 2,14,18 („du siehst dich in der Lage, dem, der wohltut, wieder wohlzutun, und gegenüber dem, der übel handelt, übel zu handeln“); Isokrates, Ad Dem. 29 („Erweise guten Menschen Wohltaten. ... Wenn du aber schlechten Menschen Gutes tust, wirst du die gleiche Erfahrung machen wie Leute, die fremde Hunde füttern: Denn diese bellen die, die ihnen etwas geben, genauso an wie Leute, denen sie zufällig begegnen“) sowie PseudPhok 80 („Solche, die Gutes tun, noch zu übertreffen, ist [immer] in Ordnung“) zum einen, 152 („[Verschwende dein] Gutestun nicht an einen Bösen – das ist, wie wenn man aufs Meer sät“) zum anderen (frühjüdisch ferner z.B. Tob 4,17). Siehe auch die Belege oben Anm. 70. 76 In diesem Sinne auch W. KLASSEN, Love of Enemies. The Way to Peace, Philadelphia 1984, 84; ZERBE, Non-Retaliation (s. Anm. 9), 206. 77 Mit LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 42), 405, Anm. 34. Anders gewichtet THEISSEN, Gewaltverzicht (s. Anm. 48), 161f. 78 Das ist kein neuer Gedanke, sondern Weiterführung des weisheitlichen Sohn-GottesBegriffs, wie er in Stellen wie Sir 4,10; SapSal 2,18; 5,5 zutage tritt. Vgl. dazu THEISSEN, Gewaltverzicht (s. Anm. 48), 161f.
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Böse und Gute79 und regnen über Gerechte und Ungerechte.80 Unterschiedslos den ‚gerechten Nächsten‘ wie den ‚bösen Feind‘ zu lieben, bedeutet also imitatio Dei.81 Feindesliebe erscheint damit als theo-logisch in der Menschenfreundlichkeit Gottes begründet.82 War im Blick auf die Forderungen in V.39– 41 auf die Anbindung an das Ich des Sprechers, also auf den Christusglauben als Plausibilitätsbasis hinzuweisen, so steht dem hier das imitatio-Motiv zur Seite. Der Schöpfer macht im Erweis seiner lebenserhaltenden Wohltaten keinen Unterschied, und wer ebenso unterschiedslos im Erweis seiner Liebe handelt, entspricht damit Gott. Der Sohn-Gottes-Begriff schließt hier dieses Entsprechungsmotiv ein.83 Die Zentralität des imitatio-Gedankens wird durch V.48 nachdrücklich unterstrichen. Während in der Lukasparallele (Lk 6,36) die Barmherzigkeitsforderung mit dem Verweis auf die Barmherzigkeit Gottes verbunden ist84, spricht Matthäus redaktionell von Vollkommenheit.85 Das imitatio-Dei-Motiv ist damit bei Matthäus gegenüber der Q-Vorlage grundsätzlicher gefasst und zugleich stärker gewichtet.86 5,48 erscheint dabei nicht nur als Schlusspunkt der sechsten Antithese, sondern als zusammenfassendes Fazit der Antithesenreihe überhaupt, deren Klimax 5,43–47 darstellt. Zur Vollkommenheit gehört also unter anderem auch die von Jesus dargelegte radikale Praxis der Dekaloggebote, nicht zu töten und nicht die Ehe zu brechen (5,21–32) – und eben die unterschiedslose Liebe gegenüber allen Menschen nach dem Vorbild der Schöpfergüte Gottes. Wer (auch) seinen Feind liebt, praktiziert das Gebot der Liebe vollkommen und ahmt damit Gott nach. 79
Zur ‚Parallele‘ bei Seneca, Ben 4,26,1 unten. Vgl. ferner Marc Aurel, 9,11.27. Lukas formuliert hier knapper, dass Gott „gütig ist gegen die Undankbaren und Bösen (ĮIJઁȢ ȤȡȘıIJંȢ ਥıIJȚȞ ਥʌ IJȠઃȢ ਕȤĮȡıIJȠȣȢ țĮ ʌȠȞȘȡȠȢ)“ (6,35), er bietet also unter anderem nicht die Gegenüberstellung von „Bösen und Guten“ bzw. „Gerechten und Ungerechten“. Vermutlich geht diese Gegenüberstellung auf Matthäus zurück, denn sie korrespondiert dem Gegenüber von „Nächstem“ und „Feind“ in Mt 5,43(f), während die einseitige‘ lukanische Formulierung ਕȤĮȡıIJȠȣȢ țĮ ʌȠȞȘȡȠȢ dem – ursprünglich nicht antithetisch eingekleideten – Gebot, den Feind zu lieben, entspricht. 81 Dieses Motiv ist geläufig. Besonders dicht begegnet es im Aristeasbrief (s. oben Anm. 20). Siehe auch den Text von Seneca unten S. 374. 82 Vgl. W. HUBER, Feindschaft und Feindesliebe. Notizen zum Problem des „Feindes“ in der Theologie, ZEE 26 (1982), 128–158: 141f. 83 Man kann hier insofern eine Verbindung zur christologischen Verwendung des Gottessohntitels im Matthäusevangelium entdecken, als in dieser der Aspekt des Gehorsams gegenüber dem Willen des Vaters von wesentlicher Bedeutung ist (dazu U. LUZ, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: Anfänge der Christologie [FS F. Hahn], hg. f2C. Breytenbach – H. Paulsen, Göttingen 1991, 221–235: 231–234). 84 Vgl. EpArist 208. 85 Da Matthäus den Vollkommenheitsgedanken in 19,21 redaktionell eingefügt hat, wird in der Regel – und m.E. zu Recht – angenommen, dass er auch in 5,48 der matthäischen Feder entstammt. 86 Vgl. THEISSEN, Gewaltverzicht (s. Anm. 48), 162f. 80
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Nun wird die Forderung der Feindesliebe häufig in den Zusammenhang des Erweises der grenzenlosen Güte Gottes im Anbruch seines Reiches eingestellt.87 Davon ist hier freilich ausdrücklich nicht die Rede, sondern Matthäus bemüht auffallenderweise ein schöpfungstheologisches Argument, das sich ähnlich auch bei Seneca findet (dazu gleich). Für die Einbindung der Liebesforderung in die Reich-Gottes-Verkündigung gilt aber dasselbe wie für die christologische Plausibilitätsbasis von 5,39–41: Sie wird deutlich, wenn man den Einzeltext in den Gesamtzusammenhang einstellt. Die Bergpredigt entfaltet, was es heißt, angesichts der Nähe des Reiches umzukehren (Mt 4,17); sie ist Rede an die, die sich von dieser Reich-Gottes-Botschaft haben affizieren lassen. Man überfrachtet allerdings den matthäischen Kontext, wenn man die Mahnung zur grenzüberschreitenden Liebe der Jünger Jesu darin eingebettet sieht, dass diese zuvor die grenzüberschreitende Liebe Gottes an sich erfahren haben, als Gott sie, als sie noch Feinde waren (Röm 5,10), angenommen hat. 88 Hier spiegelt sich eher ein reformatorischer Denkansatz als matthäische Theologie.89 Von Bedeutung ist der Zusammenhang mit der Reich-Gottes-Verkündigung aber zum einen insofern, als die Erwartung der Nähe des Reiches mit der Verkündigung der Hinwendung Gottes auch und gerade zu den Sündern einhergeht (vgl. Mt 9,12f). Auch und gerade ihnen ist mit dem Ruf „Kehret um, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ (Mt 4,17) die Möglichkeit zu einem Neuanfang gewährt. Feindesliebe lässt sich hier als Entsprechung zur unbedingten liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen in der eine
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Siehe nur U. LUZ, Jesu Gebot der Feindesliebe und die kirchliche Verantwortung für den Frieden, in: Christen im Streit um den Frieden. Beiträge zu einer neuen Friedensethik. Positionen und Dokumente, Zusammenstellung und Bearbeitung: W. Brinkel – B. Scheffler – M. Wächter, hg. v. Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Freiburg 1982, 119–134: 125– 127 (vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I [s. Anm. 42], 389.405); P.J. DU PLESSIS, Love and Perfection in Matt. 5:43–48, Neotest. 1 (1967), 28–34: 28; BECKER, Feindesliebe (s. Anm. 56), 7f; GNILKA, Das Matthäusevangelium I (s. Anm. 38), 197; H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze, SBS 111, Stuttgart 31989, 119f.122f. 88 Vgl. dagegen exemplarisch HUBER, Feindschaft (s. Anm. 82), 155 („Daß die Liebe Gottes zu der ihm feindlichen Welt wirklich geworden ist, ist der Grund aller Feindesliebe“), BECKER, Feindesliebe (s. Anm. 56), 7f („Liebe ist für ihn [sc. Jesus, M.K.] Folge von Heilserfahrung“ [8]) sowie MERKLEIN, Botschaft (s. Anm. 87), 119f. 89 Man kann allerdings immerhin traditionsgeschichtlich darauf verweisen, dass ein Konnex zwischen ‚Feindesliebe‘ und Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit in Sir 28,1–7 anvisiert ist (dazu THEISSEN, Gewaltverzicht [s. Anm. 48], 171). Es ist aber nicht erkennbar, dass Matthäus einen solchen Konnex im Sinn hatte.
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neue Zukunft eröffnenden Suche nach dem Verlorenen, in der Gewährung eines neuen Anfangs einstellen.90 Es geht also, kurz gesagt, darum, dem Geschehen des andringenden Reiches Gottes zu entsprechen.91 Die Liebe Gottes im Anbruch seines Reiches und die Liebesforderung an die Jünger so in Beziehung zu setzen, korrespondiert dabei der grundlegenden Bedeutung des imitatio-Gedankens in 5,43–48. Zum anderen ist nicht zu übergehen, dass die Perspektive der Nähe des Reiches eine Relativierung der Bedeutung der Lebenssicherung hier und jetzt nach sich zieht. Die Mahnung, zuerst das Reich Gottes zu suchen (6,33), statt sich um die Dinge des irdischen Lebens zu sorgen, wirft Licht auch auf die Rationalität der Forderungen in 5,38–48. Mit einem Wort: Seine Rationalität findet das Gebot der Feindesliebe letztlich im Kontext der Reich-Gottes-Erwartung. Neben dem zentralen Begründungszusammenhang der imitatio Dei – im Kontext der Reich-Gottes-Erwartung – lassen sich nun analog zu den Ausführungen zu 5,39–41 noch weitere, ergänzende Aspekte namhaft machen. Zwar spricht V.45a, streng genommen, die Verheißung eines zukünftigen Status aus, doch strahlt dies natürlich auf die Gegenwart aus. War im Blick auf 5,39–41 auf das Moment des Rückgewinns von Würde und Handlunsgssouveränität zu verweisen, so steht dem hier die Zuweisung des höchsten erdenklichen Status zur Seite. Zieht man wiederum hinzu, dass Mt 5,38–40 wesentlich sozial Untenstehende und in ihrem Umfeld Verfolgte anspricht, ist festzuhalten: Zur ‚Logik‘ von Vergeltungsverzicht und Feindesliebe gehört bei Matthäus, dass sie eine Inversion der Statuspositionen implizieren: Sozial Unterlegene erweisen ihre tatsächliche Überlegenheit; Angefeindete erweisen sich als mit höchster Würde ausgestattet, denn sie sind Söhne Gottes. Dem fügt sich ein, dass hier zu Verhaltensweisen gemahnt wird, die ansonsten in der Umwelt eher als Tugenden der Überlegenen, ja als Herrscherideal verhandelt werden.92 Gerade auch die häufig angeführte Parallele zum matthäischen Verweis auf die lebensfördernde Güte Gottes gegenüber allen Menschen (Mt 5,45) in Senecas De Beneficiis IV 26,1 („Wenn du die Götter ... nachahmst, dann erweise auch undankbaren Menschen Wohltaten; denn auch Verbrechern geht die Sonne auf, auch Seeräubern stehen die Meere offen“) ist im Zusammenhang der Herrscherideologie zu lesen.93 Der imitatio-Gedanke unterbaut dort das Ideal herrscherlicher Gnade; Gottes Walten über die Welt wird als Vorbild für das der irdisch Mächtigen vorgebracht. Zu beachten ist 90
Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 42), 405: „Die extreme Forderung der Feindesliebe entspricht der extremen Liebe Gottes im Anbruch seines Reiches gegenüber Sündern und Deklassierten.“ 91 Die Perspektive ist also hier weniger die der Antwort auf erfahrene Liebe, sondern eher die des Einstimmens in die Bewegung der liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen. 92 Siehe oben S. 363f und ferner SCHOTTROFF, Gewaltverzicht (s. Anm. 56), 210f; THEISSEN, Gewaltverzicht (s. Anm. 48), 161–164. 93 Vgl. SCHOTTROFF, Gewaltverzicht (s. Anm. 56), 210.
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dabei schließlich, dass der Sohn-Gottes-Begriff nicht nur alttestamentlich an wenigen, aber gewichtigen Stellen auf Herrscher bezogen wurde (2Sam 7,14; 1Chr 17,13; Ps 2,7), sondern vor allem in der hellenistischen und römischen Herrscherideologie rezipiert worden war.94 In Mt 5,44f ist dagegen eben das Verhalten ‚kleiner Leute‘ im Blick, und ihnen ist die Gottessohnschaft verheißen. Dieser Identitätszuschreibung steht in V.46f ein Abhebungsmotiv zur Seite. Die Abgrenzung ist bei Matthäus – im Unterschied zur lukanischen Version – eine doppelte. Auf der einen Seite sollen sich die Jesusanhänger von den Zöllnern und den ‚Heiden‘ unterscheiden.95 Zum anderen aber ist zu bedenken, dass die Frage in 5,47, wie ausgeführt, an 5,20 zurückdenken lässt, so dass zugleich innerjüdisch die ethische Abgrenzung von Pharisäern und Schriftgelehrten mitschwingt. Mit der Feindesliebe soll sich die Gemeinde von ihrer Umwelt, insbesondere von ihrer synagogalen ‚Konkurrenz‘ abheben. Sie definiert ein gruppenspezifisches Ethos, das die Identität derer, die Söhne Gottes heißen sollen, kennzeichnet.96 Feindesliebe zielt also bei Matthäus zwar nicht auf die Binnenkohäsion der Gemeinde über die Ausräumung interner Spannungen, sie hat aber im dargelegten Sinn gleichwohl eine ekklesiale Komponente. Die Zuschreibung einer exklusiven Identität, wie sie sich in der Verheißung der Gottessohnschaft verdichtet findet, ist dabei im Kontext bereits durch 5,13– 16 vorbereitet: Wer so lebt, wie 5,21–48 ausführt, ist „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“. Diese sachliche Verbindung wird durch eine Stichwortverbindung im Text substantiiert: Vom Vater im Himmel, dessen Söhne die, die ihre Feinde lieben, werden (5,45) und dessen Vollkommenheit nachgeahmt werden soll (5,48), war zuletzt eben in 5,16 die Rede: Die Jünger sollen ihr Licht vor den Menschen scheinen lassen, damit diese ihre guten Werke sehen und ihren Vater in den Himmeln preisen. Gebührt der Lobpreis hier allein Gott, nicht den Jüngern, so ist in 5,16 freilich die positive Einschätzung der Werke der Jünger als gut vorausgesetzt. Bezieht man dies speziell auf 5,43f, stellt sich angesichts der in 5,16 anvisierten Außenwirkung der Werke der Jünger die Frage, ob Matthäus von einer friedenstiftenden Wirkung der Feindesliebe ausgeht bzw. zumindest diese Möglichkeit im Blick hat – analog zur Chance, die dem Bedränger in 5,39–41 eröffnet
94
Siehe dazu M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998,
191f. 95 Dieses Moment hat in Lk 6,32–34 eine Entsprechung in der Abgrenzung gegenüber den Sündern. Matthäus hat hier mit der Rede von „Zöllnern und Heiden“ das jüdische Kolorit der Tradition bewahrt. 96 Treffend beschreibt SCHOTTROFF, Gewaltverzicht (s. Anm. 56), 218 den Gedanken von Mt 5,46f (Lk 6,32–35) wie folgt: „die christliche Identität in der Verpflichtung zur Feindesliebe steht der gesellschaftlichen Identität aller übrigen Menschen gegenüber.“
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ist.97 Ausdrücklich sagt Matthäus dazu zwar auch in 5,43–47 nichts98, doch hilft auch hier der Kontext weiter, denn die Verheißung der Gottessohnschaft in 5,45 lässt an 5,9 zurückdenken, wobei die Aussagekraft dieser Verbindungslinie noch dadurch unterstrichen wird, dass zum einen 5,9 und 5,45 die einzigen Stellen im Matthäusevangelium sind, an denen der Sohn-Gottes-Begriff auf die Nachfolger Jesu bezogen ist, und zum anderen die These einer Verzahnung zwischen dem Gebot der Feindesliebe und den Seligpreisungen durch den Rückbezug von 5,44b auf die Seligpreisung der verfolgten Jünger in 5,10.11f untermauert wird.99 Söhne Gottes genannt zu werden, ist nun in 5,9 Verheißung für die Friedensstifter! Wenn in 5,45 erneut die Verheißung der Gottessohnschaft laut wird, klingt 5,9 noch nach. Überlieferungsgeschichtlich betrachtet liegt es dabei sogar nahe, dass Mt 5,44f (= Q) die Bildung der Seligpreisung in 5,9 in der matthäischen Gemeinde inspiriert hat.100 Ist dies richtig, dürfte Mt 5,9 direkt deren Verständnis der Feindesliebe spiegeln: Feindesliebe ist ein Akt des Friedenstiftens.101 Dieses Verständnis ist dabei nicht mit einer Auffassung zu identifizieren, die Feindesliebe wesentlich als eine soziale Strategie und insofern als ein berechnendes Handeln betrachtet. Es geht nicht um ein soziales bzw. politisches Kalkül; Feindesliebe basiert nicht auf dem Abwägen ihrer sozialen Chancen. Wohl aber zeigt sie sich in Mt 5 als ein in der imitatio Dei fundiertes und also theozentrisch begründetes (und ein bestimmtes Gottesbild voraussetzendes) Verhalten, das auch eine soziale Hoffnungsperspektive einschließt, ohne dass seine Sinnhaftigkeit mit dem sozialen Erfolg steht oder fällt.102 Traditionsgeschichtlich ist die Einbindung einer sozialen Dimension im dargelegten Sinn ohnehin plausibel, denn in frühjüdischen Texten wird, wie
97 Gegen das Vorliegen einer Entfeindungsintention z.B. W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 21989, 83. Siehe auch DAVIES/ALLISON, Matthew I (s. Anm. 33), 552.556 („Jesus does not promise that love will turn enemies into friends“ [552]). 98 Anders ist dies dann in Did 1,3: An die Mahnung „Ihr aber: liebt die, die euch hassen!“ ist hier die Verheißung angefügt „und ihr werdet keinen Feind haben“. 99 Zum Zusammenhang mit den Seligpreisungen vgl. nur LÜHRMANN, Liebet eure Feinde (s. Anm. 27), 414f sowie R. SCHNACKENBURG, Die Seligpreisung der Friedensstifter (Mt 5,9) im matthäischen Kontext, BZ NF 26 (1982), 161–178: 167–170. 100 Vgl. LÜHRMANN, Liebet eure Feinde (s. Anm. 27), 425. 101 Ergänzend kann man auf 5,47 verweisen, wo nach der allgemeineren Rede von der Liebe zum Feind (5,46) als ein konkretes Beispiel vom Grüßen die Rede ist, denn im Blick ist damit die Eröffnung neuer Kommunikation. Es gibt natürlich auch hier keine Garantie, dass der Gruß – irgendwann einmal – erwidert wird, aber doch ist kaum daran vorbeizugehen, dass dies ein eröffnender Akt zur Überwindung von Feindschaft ist. 102 Anders gesagt: Auch wenn es richtig ist, dass „utilitaristische[] Erwägungen“ hier fern liegen (so LUZ, Gebot [s. Anm. 87], 124), heißt dies nicht, dass Matthäus die Möglichkeit einer positiven Veränderung der sozialen Situation überhaupt nicht im Blick hat. Zwischen letzterem und einem utilitaristischen Kalkül liegen Welten.
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ausgeführt, verschiedentlich die Erwartung ausgesprochen, dass Wohlverhalten gegenüber dem Feind die Chance der Versöhnung in sich birgt.103 Wer seinen Feind liebt, ist damit tatsächlich „Salz der Erde“. Denn seine Angebote der Erneuerung sozialer Beziehungen zum Frieden hin bilden das notwendige Gegengewicht zu misslungenen Gestaltungen des sozialen Klimas, in dem Leben nicht gedeihen kann. Zieht man zusammen, so kehren die drei Dimensionen der ‚Logik‘ des geforderten Verhaltens von 5,38–42 also in 5,43–48 mutatis mutandis wieder. Für die Adressaten der Forderungen bedeutet ihre Befolgung einen Rückgewinn von Würde bzw. die Auszeichnung als Söhne Gottes, die sich durch ihr Verhalten gegenüber den anderen als überlegen erweisen. Zweitens schwingt in beiden Fällen eine sozialpragmatische Dimension mit: Gewaltverzicht und Feindesliebe bergen Chancen für die Gestaltung des sozialen Miteinanders. Anders als in Lev 19,17f und in den TestXII ist dabei nicht speziell auf die Gestaltung der innergemeindlichen Beziehungen reflektiert, was mit der prinzipiellen Entgrenzung der Liebesforderung zusammenhängt. Und drittens gewinnt das geforderte Verhalten – und dies ist zentral – jeweils auf der Basis des christlichen Wirklichkeitsverständnisses Sinn: Es geht darum, Christus nachzufolgen bzw. Gott in seiner Menschenfreundlichkeit nachzuahmen, ihm in seiner liebenden Hinwendung zu den Menschen im Anbruch seines Reiches zu entsprechen. Die Verwendung des imitatio-Motivs im hier verfolgten Zusammenhang ist dabei an sich kein Novum der Jesustradition, erhält hier aber schon durch die Verbindung mit dem Abhebungsmotiv und auf dem Hintergrund der sozialen Lage der Adressaten ein spezifisches Gepräge. Schließlich gehört mit zur Plausibilitätsbasis der Forderungen, die durch die Einbindung in das christliche Wirklichkeitsverständnis gestiftet wird, die Zusage eschatologischen Heils, während auf der anderen Seite ein ausdrücklicher Verweis darauf, dass Gott die Vergeltung des Unrechts zu überlassen ist, fehlt.
4. Schlussüberlegungen Die Frage, welchen Sinn Feindesliebe und/oder Gewaltverzicht machen, kann – zumindest dann, wenn es um die soziale Dimension des Verhaltens geht – nur konkret im Blick auf eine bestimmte soziale Konstellation beantwortet werden. Im Vorangehenden ist deutlich geworden, dass diese soziale Dimension nicht nur – in unterschiedlicher Weise – in den angeführten alttestamentlich-frühjüdischen Texten eine Rolle spielt, sondern auch im Blick auf Mt 5,38–48 nicht gänzlich auszuklammern ist. Zugleich ist festzuhalten, dass die Mahnung, den Feind zu lieben, zwar eine prinzipielle Entgrenzung der 103 Siehe oben zu Philo, Virt 116–119; QuaestEx 2,11; PseudPhok 140–142, auch JosAs 29,3f. Siehe ferner TestGad, 6,6; TestBenj 5,4.
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Liebesforderung bedeutet, faktisch aber die Ebene lokaler Konflikte nicht transzendiert wird, auch wenn es, wie die Mahnung zum Gebet für die Verfolger zu erkennen gibt, nicht allein um private Alltagsfehden von einzelnen, sondern auch um die Bedrängnis der Christen als Gruppe geht. Auch durch 5,41 erscheint nicht die Bühne der großen Politik am Horizont, sondern es geht wie in den Beispielen zuvor um das, womit ‚kleine Leute‘ durch die Mächtigen zu rechnen haben. Ferner richten die Mahnungen zu Vergeltungsverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38–48 ihr Augenmerk allein auf zweiseitige Interaktionen (nämlich zwischen dem angeredeten Subjekt und seinem ‚Feind‘); komplexere Konstellationen, in denen die Relation dreistellig ist (oder mehr), also etwa Fälle, in denen ein Nachbar, ein Familienmitglied, eine andere Gruppe etc. von einem ‚Feind‘ bedrängt oder verfolgt wird und die Frage wirkungsvoller (Formen der) Intervention zur Abwehr von andere betreffendem Unheil aufgeworfen ist, werden in Mt 5,38–48 nicht eigenständig reflektiert. Es ist also durchaus richtig, darauf hinzuweisen, dass das Feindesliebegebot hier nicht als Element eines Programms einer Staatsregierung vorgebracht wird, und man kann fragen, ob der prinzipielle Verzicht eines Staates auf die Möglichkeit von Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung unter den Bedingungen dieser Welt nicht als Schwärmerei gelten muss. Schließlich kann man dies noch mit dem Hinweis bekräftigen, dass die Ethik Jesu unter dem Vorzeichen der Nähe des Gottesreiches steht, das Reich Gottes, wie Jesus es erwartet hat, aber nicht gekommen ist. Daraus auf die prinzipielle politische Irrelevanz der Bergpredigt bzw. speziell von Mt 5,38–48 zu schließen, erscheint freilich als ein Kurzschluss – abgesehen davon, dass Jesu Forderungen zweifelsohne auch für den Bereich des Privaten eine Herausforderung sondergleichen darstellen und sich mutatis mutandis die Fragen nach der Praktikabilität der Forderungen auch hier stellen. Die Frage, ob man mit der Bergpredigt regieren – oder umfassender gesprochen: leben – kann, führt dabei letztlich in eine unzureichende Alternative, die die ethisch relevanten ‚Grauzonen‘ überspielt und vorschnell die Erklärung ihrer (politischen) Irrelevanz an die Stelle eines handlungsinspirierenden Ringens mit dem (schwierigen) Text treten lässt. Hilfreich scheint mir zu sein, die Gegenfrage zu stellen, wie man denn ohne die Bergpredigt regieren (und leben) kann, wie dies Johannes Rau anlässlich der Verleihung des Ehrendoktortitels an ihn durch die Evangelisch-Theologische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum vorgebracht hat.104 Das meint wiederum nicht, die Bergpredigt als poli-
104
Siehe Ruhr-Universität Bochum, Universitätsreden – Neue Serie – Nr.1: Ehrenpromotion zum D. theol. Dr. h.c. mult. Johannes Rau. Eine Dokumentation des Festaktes vom 7. Februar 1997, hg. v. der Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, Bochum 1997, 29. Eine verkürzte Fassung der Rede von Johannes Rau ist unter dem Titel „Wer hofft, kann handeln. Warum man mit der Bergpredigt Politik machen kann“ abgedruckt in: EK 30 (1997), 399f.
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tisches Rezeptbuch zu behandeln. Aber es bedeutet, Jesu Mahnungen zum Gewaltverzicht und zur Feindesliebe als Zielvorgabe zu entdecken, um das Handeln (nicht nur das politische!) auf Gewaltreduktion und – ausgehend vom Glauben an die Menschenliebe Gottes – auf das Wohl aller Menschen, also auch der Feinde, hin zu orientieren. Auszuformulieren, wie dies im Einzelnen durchzubuchstabieren sein mag, übersteigt den Rahmen dieses Beitrags. Einige Perspektiven seien aber wenigstens angedeutet. Ihre Verankerung im christlichen Wirklichkeitsverständnis erhebt Feindesliebe und Gewaltverzicht zu ethischen Grundperspektiven, die nicht auf der Basis eines utilitaristischen Kalküls kurzerhand suspendierbar sind. Zugleich kommt es in der konkreten ethischen Entscheidungsfindung darauf an, diese Perspektiven im Blick auf die Herausforderung der jeweiligen Situation situationsgerecht auszulegen – die Bergpredigt ist kein ‚Rezeptbuch‘! Im Blick auf die vorangehenden exegetischen Analysen lässt sich dabei darauf rekurrieren, dass mögliche soziale Effekte von Gewaltverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38–48 keineswegs völlig ausgeblendet sind. Feindesliebe erschien vielmehr als ein Akt des Friedenstiftens. In der ethischen Reflexion sind deontologische und teleologische oder gesinnungs- und verantwortungsethische Perspektiven nicht als diametral entgegengesetzte Alternativen zu stabilisieren und je zu verabsolutieren, sondern sie müssen konstitutiv aufeinander bezogen und in ihrer jeweiligen Verflechtung gesehen werden.105 Im Blick auf die gegenüber Mt 5,38–48 – zumal im Zuge des Transfers der dortigen Forderungen in weitere Lebenskontexte – für die ethische Praxis notwendige stärkere Beachtung sozialer Effekte eines von den Prinzipien des Gewaltverzichts und der Feindesliebe getragenen Handelns lässt sich dabei der alttestamentlich-frühjüdische Kontext aufnehmen, in den die Forderungen Jesu eingebettet sind, und damit also die facettenreiche Reflexion über Feindesliebe und Vergeltungsverzicht in biblischer und frühjüdischer Tradition. Denn hier zeichnet sich eine Spannung ab, die sich – typisiert und vereinfacht – als Differenz zwischen einer idealen Orientierung an den Prinzipien von Gewaltlosigkeit und Feindesliebe einerseits und einer von Menschenfreundlichkeit bestimmten situationsbezogenen Klugheit andererseits charakterisieren lässt. Zu bedenken ist hier ferner, dass die konkrete ethische Situation im Einzelfall von einem grundsätzlichen Konflikt ethischer Basisperspektiven gekennzeichnet sein kann, nämlich dann etwa, wenn die Mahnung zur Liebe des ‚Feindes‘ bzw. zum Verzicht darauf, dem Bösen zu widerstehen, mit dem Gebot der Liebe zum (anvertrauten) Nächsten und der Verantwortung für ihn, aber auch 105 Vgl. W. HUBER, Sozialethik als Verantwortungsethik, in: ders., Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung, München 1990, 135–157: 138f. – Huber selbst erhebt „zum entscheidenden Maßstab [...] die Frage, ob gegenwärtiges Handeln in die Zukunft hinein lebensermöglichend oder lebensverhindernd, lebensfördernd oder lebensgefährlich wirkt. Die Orientierung an diesem Maßstab unterscheidet Verantwortungsethik von einer normativen Ethik ebenso wie von der Gesinnungsethik.“
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mit der Wahrung grundsätzlicher eigener Lebensinteressen fundamental konfligiert – oder anders: wenn es zum Extremfall kommt, von dem her Helmut Schmidt das Postulat einer politischen Bedeutung der Bergpredigt ad absurdum führen wollte. Bonhoeffer hat im Kontext seiner verantwortungsethischen Reflexion den Gedanken der Schuldübernahme vorgetragen.106 Ohne dies hier im Einzelnen ausführen zu können, scheint es mir hilfreich zu sein zu erwägen, inwiefern dieser Ansatz für die Diskussion der Forderungen von Mt 5,38–48 im ‚Grenzfall‘ fruchtbar zu machen ist. Im Extremfall kann die ethische Entscheidung auf ein grundlegendes Scheitern an den Forderungen Jesu in Mt 5,38–48 hinauslaufen und, insofern man sie als für einen Christenmenschen nicht einfach suspendierbare ethische Grundprinzipien akzeptiert, damit auf die Übernahme von Schuld in Wahrnehmung seiner Verantwortung – von Schuld, die im Glauben an den Gott, der den Sünder rechtfertigt, getragen werden kann. Sowenig aber, wie die Forderungen von Mt 5,38–48 situationsungebunden als abstrakte Prinzipien, als ‚Rezeptbuch‘ zu behandeln sind, sowenig lässt sich ihr Geltungsanspruch durch einen Verweis auf den möglichen Extremfall grundsätzlich in Abrede stellen.107 Sie sind vielmehr gerade als ‚ideale Normen‘ in ihrer utopischen Kraft zielgebend für konkretes Handeln. Oder anders: Die kurzschlüssige Zurückweisung der Relevanz der Bergpredigt beraubt das soziale Handeln einer auch für kleine Schritte der Gewaltreduktion und des Friedenstiftens notwendigen orientierenden Vision. Daher und in diesem Sinn ist die Gegenfrage von elementarer Bedeutung: Wie kann man denn ohne die Bergpredigt regieren?
106
Siehe D. BONHOEFFER, Ethik, hg. v. Ilse Tödt u.a., DBW 6, München 1992, 275–283. Verwiesen sei noch einmal auf eine Notiz bei BONHOEFFER, Ethik (s. Anm. 106), 273: „Alles wird im tiefsten Grunde verkehrt, wenn die ultima ratio selbst wieder zu einem rationalen Gesetz gemacht wird, wenn aus dem Grenzfall das Normale [...] gemacht wird.“ 107
“Whoever humbles himself like this child …” The Ethical Instruction in Matthew’s Community Discourse (Matt 18) and its Narrative Setting To a large extent, Matthew’s gospel is an ethical gospel. As is well-known, one of its characteristic features is the composition of five large discourses which include a significant range of ethical material. To this, a series of shorter pieces of instructions (like e.g. 16.24–28; 20.25–28; 23.8–12) and of ethically relevant controversy stories can be added, e.g. the Sabbath controversies (12.1–8, 9– 14), the dispute on divorce (19.3–12) or on the greatest commandment in 22.34–40. However, it would be more than insufficient to try to extract Matthew’s ethics just by juxtaposing the ethically relevant admonitions from these sections.1 Matthew conveys his ethics by constructing and unfolding a narrative world, of which the discourses are an integral part. Matthew does not just offer a catechetical handbook, but he narrates a story in which he articulates the foundation of his view of the world. His ethical convictions are embedded in this world view, and they gain their plausibility within it. I would like to illustrate this through an analysis of the ethical teaching in Matt 18 by reading it as an integral part of the communication process of the entire gospel. My thesis is that the ethical reasoning in Matt 18 cannot be sufficiently comprehended, if the discourse is read as a ‘closed’ section by itself, but only if the embeddedness into the narrative thread of the gospel is taken into account. The narration informs the ethical admonition.
1. The discourse in its narrative context Together with other scholars, I define 16.21–20.34 as the narrative section of which Matt 18 is a part. The new thematic focus or christological perspective which is introduced into the story in this section manifests itself in the triple announcement of Jesus’ passion (16.21; 17.22–23; 20.17–19). In Matt 16.21 the Matthean Jesus begins “to show his disciples that he must go to Jerusalem and suffer many things … and be killed …”. In Matthew, Jerusalem is already explicitly mentioned at this point. In 17.22, Matthew has introduced the second 1 See R.A. BURRIDGE, Imitating Jesus: An Inclusive Approach to New Testament Ethics, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) 2007, 188.191.
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announcement of the passion with the words that Jesus and his disciples had gathered in Galilee. The signal toward the impending pilgrimage to Jerusalem, given by the explicit mention of the gathering, is underlined by the insertion of the temple tax pericope in 17.24–27, since the temple tax is collected before the feast.2 In 19.1, the stereotypic note about the completion of the discourse is directly followed by the remark that Jesus has left Galilee and has gone into the region of Judea. Thus, Matthew presents Matt 18 as the discourse of Jesus in the face of his path to Jerusalem to suffer and die. The designation of the composition in Matt 18 as “Gemeinderede”3 or even “Gemeindeordnung”4 could be misleading insofar as it might evoke the expec-
2
See D.J. VERSEPUT, Jesus’ Pilgrimage to Jerusalem and Encounter in the Temple: A Geographical Motif in Matthew’s Gospel, NT 36 (1994), 105–121: 111–112. For ıȣıIJȡİijȠȝȞȦȞ į ĮIJȞ ਥȞ IJૌ īĮȜȚȜĮ in 17.22 as a signal toward the impending pilgrimage to Jerusalem see also M. HANNAN, The Nature and Demands of the Sovereign Rule of God in the Gospel of Matthew, LNTS 308, London – New York 2006, 154–155. 3 So e.g. A. SAND, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 1986, 363; R. SCHNACKENBURG, Matthäusevangelium, Vol. 2, NEB 1.2, Würzburg 1987, 167; U. LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK.NT 1, Zürich 1993, 199. See J. DUPONT, La parabole de la brebis perdue (Mt 18,12–14; Lc 15,4–7), in: idem, Études sur les Évangiles Synoptiques, ed. by F. Neirynck, Vol. 2, BETL 70.B, Leuven 1985, 624–646: 625: “Discours communautaire”. 4 So M. DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums, 6th ed., Tübingen 1971, 259; R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 10th ed., FRLANT 29, Göttingen 1995, 160–161; E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Matthäus, 4th ed., NTD 2, Göttingen 1986, 233–234 (page header); W. GRUNDMANN, Das Evangelium nach Matthäus, 6th ed., ThHK 1, Berlin 1986, 411 (“Ordnung der Gemeinde”); H. KLEIN, Bewährung im Glauben: Studien zum Sondergut des Evangelisten Matthäus, BThSt 26, Neukirchen-Vluyn 1996, 51; W. WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK 1, Leipzig 1998, 318, see also J.A. OVERMAN, Church and Community in Crisis: The Gospel According to Matthew, The New Testament in Context, Valley Forge (PA) 1996, 262: “Discipline and Order in the Church”. There is no lack of further designations: “Rede über brüderliches Verhalten” (E. LOHMEYER, Das Evangelium des Matthäus: Nachgelassene Ausarbeitungen und Entwürfe zur Übersetzung und Erklärung, ed. by W. Schmauch, 3rd ed., KEK.S, Göttingen 1962, 276); “Rede vom praktischen Verhalten der Söhne der Basileia” (H. FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund und Kirche Christi: Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des „Evangeliums“ nach Matthäus, 2nd ed., NTAbh 10, Münster 1984, 36); “Rede von den Kleinen und den Brüdern” (J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Vol. 2, 2nd ed., HThKNT 1.2, Freiburg – Basel – Wien 1992, 119); “Brotherhood in the Church” (R.H. GUNDRY, Matthew: A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, 2nd ed., Grand Rapids [MI] 1994, 358); “Rede über die Gemeinschaft” (U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus: Bd. 3.: Mt 18–25, EKK 1.3, Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1997, 5; in the English translation of Luz’ commentary, the common title “community discourse” appears, see U. LUZ, Matthew 8–20: A commentary, ed. by H. Koester, trans. by J.E. Crouch, Hermeneia – A Critical and Historical Commentary on the Bible, Minneapolis [MN] 2001, 423); “Life in the Community of the Kingdom” (D.A. HAGNER, Matthew 14–28, WBC 33B, Dallas [TX]
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tation that, among other things, the discourse includes passages on certain functions or duties in the community. Matt 18, however, solely deals with community life among the disciples, who are addressed as a whole.5 This occurs from a quite distinct perspective. The Matthean Jesus impresses an ethos of humility or lowliness on his disciples; and he concretizes this primarily with reference to the topic of forgiveness. As will be shown, both aspects directly relate to the Matthean understanding of Jesus’ death. In other words: Matt 18 is closely linked to the narrative context thematically.6 The ethical (and ecclesiological) orientation developed in Matt 18 is, to put it succinctly, applied christology. Or in a different manner: the christological story, or more precisely, the thematic focus of the christological story in the direct context of Matt 18 lays the foundation for, substantiates and informs the ethical statements in this chapter. The following is an attempt to outline this.
1995, 514); “discourse on true greatness” (D.W. ULRICH, True Greatness: Matthew 18 in Its Literary Context, Ph.D. diss., Union Theological Seminary Richmond [VA], 1996, 3); “Vom geschwisterlichen Verhalten in der Basileia” (H. FRANKEMÖLLE, Matthäus: Kommentar, Vol. 2, Düsseldorf 1997, 248); “Das Zusammenleben in der Gemeinde” (P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1, Stuttgart 2006, 302); “Living Together as Disciples: The Discourse on Relationships” (R.T. FRANCE, The Gospel of Matthew, NICNT, Grand Rapids [MI] – Cambridge [UK] 2007, 672 [italics in the original]). In short: in contrast to Matt 5–7, there is no fixed designation for Matt 18. 5 The discourse is not directed to the leaders of the community in particular, but to the disciples in general. See W. PESCH, Matthäus der Seelsorger: Das neue Verständnis der Evangelien dargestellt am Beispiel von Matthäus 18, SBS 2, Stuttgart 1966, 68–71; W.G. THOMPSON, Matthew’s Advice to a Divided Community (Matthew 17,22-18,35), AnBib 44, Rome 1970, 71–72; I. GOLDHAHN -MÜLLER, Die Grenze der Gemeinde: Studien zum Problem der Zweiten Buße im Neuen Testament unter Berücksichtigung der Entwicklung im 2. Jh. bis Tertullian, GTA 39, Göttingen 1989, 191; I. MAISCH, Christsein in der Gemeinschaft (Mt 18), in: Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium (FS A. Vögtle), ed. by L. Oberlinner – P. Fiedler, Stuttgart 1991, 239–266: 251; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see above, n. 4), 423; FRANCE, Gospel of Matthew (see n. 4), 672–673 et.al. Differently G.D. KILPATRICK, The Origins of the Gospel According to St. Matthew, Oxford 1946, 79; J. JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, 10th ed., Göttingen 1984, 36 (“Anweisung für die Führer der Gemeinden”); J. LAMBRECHT, Out of the Treasure: The Parables in the Gospel of Matthew, LThPM 10, Leuven 1998, 37–38.41.51–52; A.J. HULTGREN, The Parables of Jesus: A Commentary, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) 2000, 54; J. LIEBENBERG, The Language of the Kingdom and Jesus: Parable, Aphorism, and Metaphor in the Sayings Material Common to the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, BZNW 102, Berlin – New York 2001, 422–424. 6 Differently LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 5, according to whom the discourse in Matt 18 is, in contrast to the other discourses, “kompositionell nicht deutlich mit der sie umgebenden Erzählung verklammert”.
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2. Humbling oneself. Matt 18.1–4 as the fundamental statement of the entire discourse The discourse begins with a question put to Jesus by his disciples: “Who is the greatest in the kingdom of heaven7?” This question not only defines the theme of 18.1–4, but it gives the whole discourse its thematic direction. In other words: the introductory pericope Matt 18.1–4, in which Matthew has significantly reworked his Markan source (Mark 9.33–36), has fundamental significance.8 In Matthew, Jesus’ reaction begins with a symbolic act. Jesus calls a child and puts him/her in their midst. The child shall serve as a model for the disciples, as it is shown by the two-part explanation following in vv.3–4 which Matthew has introduced in the Markan text and to which he has given significance by the solemn introduction “Amen, I say to you”. Matthew first inserts a logion about entering the Basileia in the form of a conditional clause (see 5.209). Instead of speaking about a certain position in the kingdom of heaven, the main concern is attaining entrance at all, which requires a fundamental change in orientation (“if you do not turn”). On the story level, the phrase “if you do not turn” seems to imply the assumption that the disciples have not asked their question solely out of intellectual curiosity, but because they themselves are striving to be great. “And become like the children” explains the intended turn, however, without defining what “to become like the children” exactly means.10 V.4 elucidates that it is not naivety, innocence, obedience to parents, openness for novelties or other qualities sometimes attributed to children which constitute the point of comparison, but their generally low status in ancient In Matt 18.1, ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ IJȞ ȠȡĮȞȞ is a Matthean addition. In the immediate context, the addition of ਥȞ IJૌ ȕĮıȚȜİ IJȞ ȠȡĮȞȞ in Matt 18.1 refers back to 17.25: Jesus and his disciples are sons of the heavenly king and as such they are free. Now, the disciples ask about the ranking in the heavenly kingdom (see GUNDRY, Matthew [see n. 4], 359). Jesus’ response in 18.3–4 suggests that despite the present tense ਥıIJȞ, Matthew thinks – at least primarily – of the eschatological future in 18.1 (see 20.21) (likewise e.g. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 12 contra e.g. W. TRILLING, Das wahre Israel: Studien zur Theologie des Matthäus-Evangeliums, 3rd ed., StANT 10, Munich 1964, 107). However, this does not mean that a reference to the present social structure of the community can be ruled out. Rather, with the topic of greatness in the kingdom of heaven, the earthly assignment of status positions is implied. One can easily illustrate this connection by Jesus’ response to the question of the Zebedees’ mother (Matt 20.20–21) in 20.25–28. Similarly, the question about the greatest in the kingdom of heaven in Matt 18.1 induces the Matthean Jesus to a discourse that deals with the behavior within the community hic et nunc. 8 See e.g. SAND, Matthäus (see n. 3), 365 (“das Fundament der Gemeinderede”); LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 16 (“Grundforderung”). 9 See further Matt 7.21; 19.23, 24; 23.13, see also 7.13; 18.8, 9; 19.17; 22.12. 10 Matt 18.3 provides an alternative to the logion in Mark 10.15 which Matthew omitted in Matt 19.13–15. 7
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societies.11 “To humble oneself” comprises the inner attitude of humility as well as social lowliness, or the concrete renunciation of status.12 Thus, instead of striving for greatness (v.1, see 20.26–27), the disciples should “humble themselves”13; and instead of aiming at seats of honour and prestige (see negatively 23.6–7), they should orient themselves downwards. The succeeding context concretizes this general attitude. V.4b explicitly refers to the opening question of the disciples – and results in a paradox: those who orient themselves downwards will be the greatest in the kingdom of heaven. Thus, at the beginning of the discourse, Matthew lets Jesus propound a fundamental reorientation of values, an inversion of the accepted scale of values, as a sign of discipleship.14 Instead of seeking greatness and prestige, Christians ought to orient themselves downwards and humble themselves. This admonition serves as a guiding principle or fundamental statement for the rest of the discourse, which exemplifies the ethos of humility with regard to the question of how the disciples should treat the little ones and the sinners in the community. The narrative embedding of the discourse on community life in the context of the announcements of Jesus’ passion indicates that for Matthew, humility and the renunciation of one’s status are ethical implications of the path which Jesus took in his passion. This becomes evident in the thematically related instruction in 20.25–28 where Jesus contrasts the ethos which he expects from his disciples with the common demeanor of the mighty. Among the disciples, the one who desires to be great or the first shall be the servant and slave of the others. This instruction culminates in Jesus’ reference to his own way in v.28. For he has come to serve and – now Jesus’ passion is mentioned – to give his live as a ransom for the many. Moreover, Jesus’ path of suffering up to his despicable death on the cross is characterized by a deliberate renunciation of using and demonstrating his power.15 To illustrate this, I confine myself to one example from Matthew’s special material in the Passion narrative. In Matthew, Jesus explicitly resists the sword stroke of a disciple in Gethsemane (26.52) 11
See LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 14–15; W.D. DAVIES – D.C. ALLIThe Gospel According to Saint Matthew, Vol. 2, ICC, Edinburgh 1991, 757; FRANCE, Gospel of Matthew (see n. 4), 676 as well as GUNDRY, Matthew (see n. 4), 361. 12 See R. SCHNACKENBURG, Großsein im Gottesreich: Zu Mt 18,1–5, in: Studien zum Matthäusevangelium (FS W. Pesch), ed. by L. Schenke, SBS, Stuttgart 1988, 269–282: 279– 280; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 15. 13 See GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 122: “Es ist das Gegenteil jener Haltung gemeint, die die Größe für sich in Anspruch nehmen möchte.” 14 See HANNAN, Nature (see n. 2), 157. 15 For this see in this volume on p. 201–218 the essay “Die Taufe des Gottessohnes: Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium (Mt 3,13–17)”, esp. 210–218 (originally published in: Neutestamentliche Exegese im Dialog: Hermeneutik – Wirkungsgeschichte – Matthäusevangelium (FS U. Luz), ed. by P. Lampe – M. Mayordomo – M. Sato, Neukirchen-Vluyn 2008, 257–273). SON,
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and comments on this with the words: “Do you think that I cannot appeal to my Father, and he will at once send me more than twelve legions of angels?” (26.53). The crucified, however, will be exalted and enthroned as the lord of the world (28.18). By analogy, Christians have the promise: “Whoever humbles himself like this child, is the greatest in the kingdom of heaven” (18.4).
3. The concretization of the ethos of humility in Matt 18.5–35 3.1 Receiving a child (Matt 18.5) With v.5 Matthew turns back to his Markan text. Whereas the child served as a model for behavior in vv.2–4, the focus now shifts to the attitude toward a child.16 However, vv.3–4 and v.5 are not thematically unrelated, but closely linked. V.5 portrays a kind of behavior which results from the orientation required in vv.3–4. In other words: in the Matthean context, receiving a child is to be read as a first concretization of self-humiliation. Whoever humbles himself like a child and, thus, encounters him at ‘eye level’, does not treat him contemptuously in his low social status, but “receives him”. This includes a friendly-respectful attitude, and might also have concrete support in view. One may thereby think of (temporary) hospitality (see 10.40–42) and also, more comprehensively, of (continued) support of children – probably orphaned17 – who are in need of help. V.5 clearly implies an admonition for certain behavior, but does not directly pronounce it. Rather, the Matthean Jesus explains to his disciples that receiving a child means receiving himself.18 Thus, the leading idea is that no one less than Jesus himself is encountered in the child. Furthermore, the reception of a 16 In Matt 18.5, “child” does not change its meaning to a metaphor for the disciple who has humbled himself like a child, but Matthew continues to speak about a child in a literal sense. A literal understanding is also suggested by LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 15; DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 754 et al. Differently THOMPSON, Advice (see n. 5), 105; G. FORKMAN, The Limits of the Religious Community: Expulsion from the Religious Community within the Qumran Sect, within Rabbinic Judaism, and within Primitive Christianity, CB.NT 5, Lund 1972, 119; SCHNACKENBURG, Großsein (see n. 12), 273.280f; GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 125f; HAGNER, Matthew II (see n. 4), 514.520.521. 17 So e.g. FIEDLER, Matthäusevangelium (see n. 4), 303. 18 The phrase ਥȞ ȝı ĮIJȞ from 18.2 recurs in v.20: Jesus promises his disciples to be ਥȞ ȝı ĮIJȞ where two or three are gathered in his name. It is remarkable that Matthew does not use the formulation analogous to 28.20 that Jesus is “with them”. One might consider that in v.20, Matthew intentionally refers back to 18.2. If this is correct, the idea of v.5 would be emphasized. GUNDRY, Matthew (see n. 4), 370 interprets the connection between 18.2 and 18.20 differently by qualifying the statement of 18.20 by 18.2: “Matthew is making Jesus himself like a child, a model of humility in the midst of his disciples”.
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child is already christologically oriented in the relative clause by the expression “in my name”.19 Thus, 18.5 is a close parallel to Matt 25.40, 45, where Jesus declares his solidarity toward “the least of his brothers”. The intended change in behavioral orientation in v.3 is linked to a new interpretation of the situation or, to put it more broadly, of the order of the world, and this provides the basis of plausibility for the admonished behavior. In addition to the eschatological motivation of behavior by means of the motif of entering the kingdom of heaven, there is a christological argument which makes the behavior plausible through a christologically oriented perspective of the world, in which the small ones are ennobled by the solidarity of Jesus toward them (for Jesus’ behavior toward children, see 19.13–15). Jesus, who – being IJĮʌİȚȞંȢ himself (see 11.29) – trod the path to the despicable lowliness of the cross, is encountered in the lowly ones. Concerning the linguistic form, imperatives appear neither in v.5 nor in vv.3–4. Nevertheless, these verses also contain an implicit appeal to behave in a certain manner, namely by explaining the order of the world to the disciples, of which the entrance requirements for the kingdom of heaven are a constitutive part. In short: Matt 18.1–5 is a good example for conveying strong ethical ‘imperatives’ by means of descriptive language. 3.2 Behavior toward the little ones (Matt 18.6–20) 3.2.1 Matt 18.6–9 The linguistic form of the instruction in v.5 continues in v.6.20 Analogous to v.5a, v.6a formulates a certain behavior in a relative clause which is placed at the beginning of the sentence: someone causes one of these little ones to stumble. Matthew defines the little ones as Christ-believers by the attached participle. Further matters are discussed controversially, especially whether the phrase relates – at least potentially – to all the disciples of Jesus in a positively qualifying sense21, to disciples who are in danger or not yet steadfast in their 19 See GUNDRY, Matthew (see n. 4), 361; DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 760 (“‘In my name’ is the key to this line. To receive a child in Christ’s name […] is to perceive Christ in that child and act accordingly”); J. NOLLAND, The Gospel of Matthew: A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids (MI) 2005, 733 (“The challenge is to treat the lowly figure of the child with the respect that would come naturally in relating to Jesus himself.”). 20 Matthew has omitted the toleration of a miracle worker exorcising in the name of Jesus who does not belong to the community, which follows in the Markan thread in 9.38–41. The Markan pericope does not fit into the Matthean concept of community and, above all, not into the thematic spectrum of the Matthean community discourse. Following the Markan text, Matthew continues in 18.6–9 with a warning against the ıțȞįĮȜĮ (see Mark 9.42–48). In v.7, he has inserted a logion from a thematically related passage of the sayings source (see Luke 17.1[–2]). 21 So e.g. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 21 (“«Kleine» sind alle matthäischen Christ/innen, sofern sie diese Bedeutungslosigkeit bejahen und sie als Demut und
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fellowship22, or to a group of Christians defined by their social position.23 Furthermore, the question who causes the ıțȞįĮȜĮ is also a point of controversy.24 If the “little ones” mean Christian believers in general, it suggests itself that outsiders are the subject of the ıțȞįĮȜĮ; the logion would then provide consolation for the disciples. Those who endanger them will receive punishment.25 However, if the little ones constitute a subgroup of the community, community members are also possible subjects. Taken by itself, v.6 does not provide any criterion for a decision. This is different, however, in the editorial verse 10, in which the disciples are addressed imperatively not to disdain the Liebe praktizieren.”); HAGNER, Matthew II (see n. 4), 522; J. PARK, Sündenvergebung: Ihre religiöse und soziale Dimension im MtEv, Ph.D. diss., Heidelberg 2001, 184. 22 So G. KÜNZEL, Studien zum Gemeindeverständnis des Matthäus-Evangeliums, CThM.BW, Vol. 10, Stuttgart 1978, 159–162 (“Chiffre für den in seinem Christsein angefochtenen Jünger” [162]); G. BORNKAMM, Die Binde- und Lösegewalt in der Kirche des Matthäus, in: Geschichte und Glaube, Vol. 2 (Vol. 4 of Gesammelte Aufsätze), BEvT 53, Munich 1971, 37–50: 41; G. BARTH, Auseinandersetzungen um die Kirchenzucht im Umkreis des Matthäusevangeliums, ZNW 69 (1978), 158–177: 174–175; S. LÉGASSE, ȝȚțȡંȢ, EWNT II, 2nd ed., Stuttgart – Berlin – Köln 1992, 1051–1052; SAND, Matthäus (see n. 3), 368; LAMBRECHT, Treasure (see n. 5), 37–38.52; P. LUOMANEN, Entering the Kingdom of Heaven: A Study on the Structure of Matthew’s View of Salvation, WUNT II.101, Tübingen 1998, 23 (“Matthew was not thinking just of the disciples in general but especially of those who are in danger of being incited to sin”). NOLLAND, Gospel of Matthew (see n. 19), 735 speaks about “a disciple whose discipleship operates at a modest level”. Ambivalently GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze (see n. 5), 187: the little ones are “die Jünger Jesu, denen in der Nachfolge Selbstlosigkeit, Verzicht auf menschliche Größe und Demut eignet und die im Kontext speziell in ihrer Glaubensgefährdung, Schwachheit, Hilflosigkeit und Verirrung gesehen werden.” 23 See J. SCHNIEWIND, Das Evangelium nach Matthäus, 10th ed., NTD 2, Göttingen 1962, 199 (“die Geringen im weitesten Sinn, die Armen”); E. KLOSTERMANN, Das Matthäusevangelium, 2nd ed., HNT 4, Tübingen 1927, 147; GRUNDMANN, Matthäus (see n. 4), 415–416 (die “schlichten und geringen Christen innerhalb der Gemeinden”); GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 131 (the little ones are linked with the notion “daß sie in sozialer Hinsicht verunsichert, gesellschaftlich schwach sind”). See also TRILLING, Israel (see n. 7), 113. – Some authors combine the social dimension with a religious aspect. See e.g. W. P ESCH, Die sogenannte Gemeindeordnung Mt 18, BZ NF 7 (1963), 220–235: 226 (a “soziologisch und religiös verstandene Schicht seiner [sc. Matthew’s, M.K.] Gemeinden”); J. ROLOFF, Das Kirchenverständnis des Matthäus im Spiegel seiner Gleichnisse, NTS 38 (1992), 337–356: 342 (the little ones are “die schlichten ortsansässigen Gemeindeglieder […], die nicht den rigorosen Anforderungen radikal verstandener Nachfolge zu genügen vermögen”); G. SCHEUERMANN, Gemeinde im Umbruch: Eine sozialgeschichtliche Studie zum Matthäusevangelium, FB 77, Würzburg 1996, 190–191 (“die religiös und sozial Bedeutungslosen in der christlichen Gemeinde” [190]). 24 Some think (primarily) of outsiders (so e.g. GNILKA, Matthäusevangelium II [see n. 4], 126), others explicitly include community members (so e.g. FRANKEMÖLLE, Matthäus II [see n. 4], 253). 25 See LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 21.
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little ones. Thus, we may suggest viewing them as a subgroup.26 Furthermore, 18.10–14 helps to define them, since the search for the sheep gone astray, which is linked with the hope that this one will not get lost (18.14), appears as a positively formulated counterpart to the admonition not to disdain the little ones. The little ones, thus, appear as endangered Christ-believers who are (still) instable in their new life orientation. On the basis of this interpretation, a continuous thread can be detected in Matt 18.6–35: the discourse deals with the attitude toward Christ-believers who are still labile in their orientation, who sin or are in danger of going astray. In the light of 18.1–4 as the fundamental opening statement, the proper attitude toward these Christ-believers appears as a further concretization of humbling oneself like a child. One detail should be explicitly mentioned: Matthew added İੁȢ ਥȝ to IJȞ ʌȚıIJİȣંȞIJȦȞ in v.6, which takes up ਥȝ įȤİIJĮȚ in v.5. Thus, v.6 is not only linked to v.5 by the analogous syntax, but also by the christological focus in both verses. According to v.5, Jesus himself is encountered in a child; in v.6, the reference to the relationship of the little ones to Jesus underlines the warning not to cause them to stumble. In this context, Matthew’s omission not only of Mark 9.38–4127, but also of Mark 9.37b, has to be taken into account, since only this paves the way for the direct christological connection in vv.5.6. This explicit christological perspective of the instruction supports the proposal that the discourse is to be read in the light of christological orientation of the story in the context, i.e., Jesus’ way serves as a main element of the plausibility structure of the expected attitude toward a child or the little ones. V.6 does not specify any details about how the little ones are caused to stumble. The interpretation of the “little ones” presented above implies that community members are also possible subjects of ıțĮȞįĮȜȗİȚȞ. With regard to the analogy of the sentence structure in v.6 with v.5, where the disciples’ behavior is in view, it even seems to be preferable to primarily think of disciples as those who cause others to stumble. ȈțĮȞįĮȜȗİȚȞ does not exclusively refer to the seduction to moral wrongdoing, but might also refer to the problem that instable Christ-believers do not receive the necessary attention in the community, but are treated disrespectfully and, thus, driven out of it.28 Understood in this manner, 18.6 would connect very well with the preceding verses. Additionally, 26 This fits well with 10.40–42, where “you” in v.40, directed to the disciples in general, is followed by the more specific designations a “prophet”, a “righteous person” and “one of these little ones” (vv.41–42). 27 See above n. 20. 28 FRANKEMÖLLE, Matthäus II (see n. 4), 253 suggests that community members “durch ihr Reden und Tun anderen Christen Anlaß gaben, an ihrem Glauben irre zu werden und dadurch zu Fall zu kommen”. See also FRANCE, Gospel of Matthew (see n. 4), 682: “To lead a person into sin is one means of causing them to ‘stumble,’ but their life and development as disciples may equally be damaged by discouragement or unfair criticism, by a lack of pastoral care, or by the failure to forgive”.
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17.24–27 can be taken into account, since the verb ıțĮȞįĮȜȗİȚȞ already occurs here in v.27. 17.24–27 has paradigmatic significance: a behavior to which one does not feel obliged (as here to the payment of the temple tax) is nevertheless practised out of consideration or in order to avoid a conflict. In this light, 18.6 can be understood in the manner that conservative Christ-believing Jews who have turned away from the synagogue dominated by the Pharisees and joined the community29 should not unnecessarily be irritated by ostentatious demonstrations of a liberal treatment of food taboos or Sabbath regulations and be brought away from their adherence to the community (see Rom 14.13; 1Cor 8.13).30 Considering the social situation of the community and its continuous effort to win other Jews over, it is obvious that conflicts could emerge here. The threat for the one who causes others to stumble is massive: in the light of the eschatological punishment which such a person has to expect, even brutal death by drowning, weighted with a millstone, would be better for him. With a double cry of woe, v.7 puts the ıțȞįĮȜĮ into an apocalyptic context. Thereby, it is important that those who cause ıțȞįĮȜĮ are not discharged and excused by the fact that the coming of ıțȞįĮȜĮ is inevitable as such. Vv.8–9 turn the perspective toward one’s own susceptibility to stumble. The logia, which Matthew has already similarly used in 5.29–30, are adopted from Mark, whereby Mark 9.43 (hand, see Matt 5.30) and 9.45 (foot) are combined in one logion in Matt 18.8. As in 5.29–30, actual self-mutilation is not meant31; rather, hyperbolic metaphoric speech is utilized. Some exegetes relate hand, foot and eye to community members so that 18.8–9 would be about gaining distance from those or excommunication.32 For this, one can refer to Quintilian 8.3.75, who attests to the comparison of the separation from corruptive people with the amputation of invalid limbs by a doctor as a common metaphor in antiquity.33 However, the Matthean application of the
29
For the situational background of the gospel of Matthew see the considerations in M. KONRADT, Israel, Church, and the Gentiles in the Gospel of Matthew, BMSEC 2, Waco (TX) 2014, 355–367. 30 See E. SCHWEIZER, Matthäus und seine Gemeinde, SBS 71, Stuttgart 1974, 110. 31 Likewise e.g. DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 766. 32 PESCH, Seelsorger (see n. 5), 27–28; FORKMAN, Limits (see n. 16), 122–124; H. GIESEN, Zum Problem der Exkommunikation nach dem Matthäus-Evangelium, in: Glaube und Handeln, Vol. 1: Beiträge zur Exegese und Theologie des Matthäus- und Markus-Evangeliums, ed. by H. Giesen, EHS.T 205, Frankfurt a.M. 1983, 17–83: 61–66; GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 127–128; SCHEUERMANN, Gemeinde (see n. 23), 173.185; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 24. 33 Quintilian, 8.3.75: The following examples may seem too ordinary, and useful only for winning credibility: … “As doctors amputate limbs which disease has alienated from the body, so wicked and dangerous men, even if they are related to us by blood, must be cut off.” / Illa vulgaria videri possunt et utilia tantum ad conciliandum fidem: … ut medici abalienata morbis membra praecidant, ita turpes ac perniciosos, etiam si nobis sanguine
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metaphors in 5.29–30 speaks against this interpretation. To put it positively: Matt 5.29–30 suggests that seduction to misbehavior by one’s own limbs is meant in 18.8–9.34 The link with vv.6–7 can be seen in the fact that one’s own susceptibility to stumble could also lead others astray.35 When one additionally takes 18.1–4 into account, another option also emerges: those who are in danger of treating the little ones contemptuously (18.10) or of endangering them by their behavior (18.6) are confronted with their own endangerment in vv.8–9; not considering oneself to be secure, however, belongs to the attitude of humility that is demanded in 18.3–4. 3.2.2 Matt 18.10–14 Whereas individuals were addressed in vv.8–9, v.10, which changes to the second person plural, is again directed to the disciples on the whole in order to continue the teaching about the behavior toward the little ones begun in 18.6. The addressees should pay attention not to treat one36 of these little ones contemptuously.37 V.10b, therefore, provides a first argument by referring to the heavenly order, in which the personal angels of the little ones hold the privileged position of continuously seeing the face of God. Thereby, it is stated: God assigns particular value to the little ones. Accordingly, they are not to be disregarded or to be treated contemptuously in the community. In a positive sense, this means caring for the little ones. The parable following in vv.12–13 carries this out in a specific regard, namely considering the case that a little one has gone astray, and offers at the same time a further argument against the disdain of the little ones. The parable has a parallel in Luke 15.3–7. Presumably, it originates, despite the minor conformity of words between Matt 18.12–14 and Luke 15.3–7, from the sayings source since the cohaereant, amputandos. (Quintilian, The Orator’s Education, Books 6–8, ed. and trans. by D.A. Russell, LCL 126, Cambridge [MA] – London 2001, 382–383). 34 In this sense also GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze (see n. 5), 188; DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 765; ULRICH, Greatness (see n. 4), 218–219; NOLLAND, Gospel of Matthew (see n. 19), 738–739 and MAISCH, Christsein (see n. 5), 255: “Die leiblichen Glieder stehen stellvertretend für alles, was zum Einfallstor des Bösen werden und sich in jeder Situation neu und anders konkretisieren kann“. 35 See DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 765: “Perhaps the connexion with vv. 6–7 is to be found in this, that occasions of sin in oneself lead to the stumbling of others; thus in order to avoid offending one’s brother, one must first take care of oneself”. 36 GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 129 understands ਦȞંȢ in 18.10 in the light of 18.14 in a neutral sense. However, this is hardly correct since ਦȞઁȢ IJȞ ȝȚțȡȞ IJȠIJȦȞ picks up ਪȞĮ IJȞ ȝȚțȡȞ IJȠIJȦȞ from 18.6. The change to the neuter ਨȞ IJȞ ȝȚțȡȞ IJȠIJȦȞ in 18.14 can be explained by the influence of ʌȡંȕĮIJȠȞin the parable in vv.12–13. 37 To illustrate the community problem behind 18.6, one can refer to Matt 20.1–16, since the parable of the laborers in the vineyard suggests that there were tensions between different groups in the community (see LUOMANEN, Kingdom [see n. 22], 150–151.256).
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differences between Matthew and Luke can be plausibly explained as different developments from a common basis.38 Whereas the Lukan version focuses on the actual finding of the sheep and emphasizes the joy about it, Matthew speaks about the searching, while the actual finding appears in v.13 as only one possible option. V.14 underlines that the main emphasis is not on the joy mentioned in v.13, but on the admonition to the searching.39 Above all, Matthew does not speak about the lost sheep, but about the one which has gone astray, which generally and correctly is considered to be secondary.40 In Matthew, the parable of the lost sheep has, thus, become the parable of the stray sheep. A sheep gone astray can get lost – v.14 refers to this –, but it has not yet.41 This new orientation is connected with the placement of the parable into the community discourse. Matthew himself speaks of lost sheep in the context of the mission of Jesus and his disciples to Israel (10.6; 15.24). In Matt 18, however, the situation of those is addressed, who have turned toward the congregation of the disciples, but then stray from the pursued path and are in danger of getting lost again (v.14, see Matt 13.19–22), if one does not follow and “find” them, or if they do not allow themselves to be “found”. In short: while the parable originally dealt with the devotion of Jesus to the lost ones, Matthew
38 Ascription to Q e.g. by BORNKAMM, Binde- und Lösegewalt (see n. 22), 38; GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 130; DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 753.768; HAGNER, Matthew II (see n. 4), 525; SCHEUERMANN, Gemeinde (see n. 23), 158–159; LAMBRECHT, Treasure (see n. 5), 39.42–44; LUOMANEN, Kingdom (see n. 22), 241–242. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 26, however, argues for oral tradition. – Presumably, the parable of the lost drachma, which follows after the parable of the lost sheep in Luke 15.8–10, but is missing in Matthew, was extant in the sayings source as well. The omission by Matthew can be sufficiently explained by the fact that Matthew could not revise this parable in analogy with the parable of the sheep, since one can hardly speak about a stray drachma (see DAVIES/ALLISON, Matthew II [see n. 11], 769). 39 See TRILLING, Israel (see n. 7), 112f; D. HILL, The Gospel of Matthew, NCeB, London 1972, 274; F. SCHNIDER, Das Gleichnis vom verlorenen Schaf und seine Redaktoren, Kairos 19 (1977), 146–154: 149; SCHEUERMANN, Gemeinde (see n. 23), 159–160; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 28; Y.S. CHAE, Jesus as the Eschatological Davidic Shepherd: Studies in the Old Testament, Second Temple Judaism, and in the Gospel of Matthew, WUNT II.216, Tübingen 2006, 241. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 25 correctly notes: “V 14 scheint mehr auf das in V 12 geschilderte Verhalten des Hirten als auf seine Freude abzuheben.” Differently, A. OVEJA, Neunundneunzig sind nicht genug! (Vom verlorenen Schaf): Q 15,4-5a.7 (Mt 18,12-14 / Lk 15,3-7 / EvThom 107), in: Kompendium der Gleichnisse Jesu, ed. by R. Zimmermann, Gütersloh 2007, 205–219: 214: “Die Freude über den Fund wird bei Matthäus als Wille des Vaters interpretiert”. 40 See e.g. DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 773; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 26; LAMBRECHT, Treasure (see n. 5), 43. 41 DUPONT, Parabole (see n. 3), 634 points to the fact that “au plan de l’image, il n’y a pas de différence entre une brebis ‘perdue’ et une brebis ‘égarée’, tandis que la différence est très importante au plan de l’application”. Likewise THOMPSON, Advice (see n. 5), 157.
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offers a paraenetically oriented adaptation related to intracongregational concerns. Matthew does not actually narrate a parable, but rather, he describes a case in metaphorical language by means of a conditional clause whose apodosis is formulated as a rhetorical question which, as it is prepared by the introduction “what do you think?”, intends to provoke the recipients to an affirmative reaction.42 In v.13, a second conditional clause follows which introduces a possible sub-case (the sheep is found) and offers a ‘hypothesis’ solemnly pronounced as an amen saying in the apodosis.43 This linguistic style provides the parable with a strong argumentative character.44 The rhetorical achievement of the parable consists in the fact that the behavior toward the little ones is made accessible in a new manner by comparing it with the care of a shepherd for a sheep gone astray. Simultaneously, the situation of the little ones is made accessible in a new manner. Their straying off is no reason for condemnation (see Matt 7.1), but can only be a cause to devote oneself to them graciously. This gains profile in the Matthean context if one notes the major importance of the shepherd imagery in the Matthean story: Matthew presents Jesus as the messianic shepherd of Israel (Matt 2.6) who devotes himself to the neglected and lost sheep (9.36; 15.24) and, according to the mission discourse in Matt 10, lets his disciples participate in his shepherding (9.36; 10.6).45 Thus, for those who follow him and participate in his shepherding, who let themselves be determined by him in their life orientation, it should be self-evident that one ought not disdain community members who are instable or have gone astray, but should meet them with the same mercy and care which is characteristic of the activity of the messianic shepherd.46 This can be underlined further by taking the Old Testament background of the Matthean reception of the shepherd’s imagery into account, in which Ezek 34 possesses major significance, not only for the entire gospel, but especially for Matt 18.12–13 as well.47 The admonition to devote oneself to the 42 See LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 25: “Die Parabel ist im Unterschied zur Parallele in Lk 15,4-7 keine erzählte Geschichte, sondern ein Argumentatorium.” 43 See LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 25: “eine in der Form eines autoritativen Amenwortes gegebene These.” 44 See GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 129f; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 25. 45 See for this KONRADT, Israel (see n. 29), 81–83. 46 See LUOMANEN, Kingdom (see n. 22), 248: “The care for straying members of the congregation is seen in direct continuance with Jesus’ own activity.” 47 For references to Ezek 34 in Matt 18.10–14, see THOMPSON, Advice (see n. 5), 159– 160; DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 769; HAGNER, Matthew II (see n. 4), 527; NOLLAND, Gospel of Matthew (see n. 19), 743; CHAE, Jesus (see n. 39), 240–243. In this context, it is worth mentioning that the discourse about searching (ȗȘIJİȞ) for the sheep (Matt 18.12, see Ezek 34.11–12, 16) as well as the one about the ʌȜĮȞ઼Ȟ (Matt 18.12–13, see Ezek 34.4, 16, but also Isa 53.6; Jer 27.17LXX) and the localisation of the ninety-nine
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ones gone astray coincides with the saving action of God as the shepherd of his people (Ezek 34.11–22) through the divinely appointed Davidic-messianic shepherd (Ezek 34.34; 37.24), which was promised in Scripture. Thus, the admonition is supported by the authority of Scripture. Accordingly, Matthew refers to the (saving) will of God in v.14: the little ones shall not get lost (in the final judgement). In short: the evidence suggested by the question in v.12 is underlined by the intratextual references to the presentation of Jesus as the messianic shepherd and its intertextual references to Scripture. The disciples who believe in God, who searches for the lost and turns the ones gone astray (Ezek 34.16LXX), shall prove themselves as good shepherds in the succession of Jesus by seeking those gone astray.48 3.2.3 Matt 18.15–20 The regulations about the practice of admonition following in 18.15–17 continue not only the style of conditional clauses, which originated from the evangelist’s hand in 18.12–1349, but also the theme of the parable of the sheep.50 If the shorter reading without İੁȢ ı is to be preferred in 18.15a51, so that 18.15 sheep ਥʌ IJ ȡȘ (Matt 18.12, see Ezek 34.13, [14], but also Jer 27.6LXX) are peculiar to the Matthean version (ȗȘIJİȞ occurs, however, in Luke 15.8 in the parable about the lost drachma omitted by Matthew [see above, n. 38]). 48 With regard to the link to Ezek 34, NOLLAND, Gospel of Matthew (see n. 19), 743 considers the option that “the rescue effort is perhaps to be thought of as a participation in that of God himself as the good shepherd”. On the theological overtones linked with the reference to Ezek 34, see LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 32–33. 49 However, with the exception of 18.15b, there are now imperatives in the apodosis in 18.15–17. 50 To place the main break in Matt 18 between Matt 18.14 and 18.15 (so e.g. PESCH, Seelsorger [see n. 5], 32–33; FORKMAN, Limits [see n. 16], 118–119; GIESEN, Problem [see n. 32], 19–20; GNILKA, Matthäusevangelium II [see n. 4], 119–120; HANNAN, Nature [see n. 2], 153–154) ignores this connection which is to be further developed in the following. Aptly THOMPSON, Advice (see n. 5), 188: “This division cannot be reconciled with the sequence of thought.” 51 The phrase is reliably evidenced by manuscripts, but it is missing in very important manuscripts like the Vaticanus and the Sinaiticus. For the hypothesis of a secondary omission, some scholars argue that this can be explained by the influence of the parallel in Luke 17.3. However, it is at least equally plausible that İੁȢ ı in Matt 18.15 is “a backinfluence from v.21” (NOLLAND, Gospel of Matthew [see n. 19], 744). The tradition-historical evidence does not help to come to a clear decision. As will be shown below, Matt 18.15– 17 is influenced by the Early Jewish exegesis of Lev 19.17–18. Lev 19.17–18 itself refers to the case that someone is personally wronged. This constellation reappears in TestGad 6.3– 7, a close parallel to Matt 18.15–17 (see below). However, this does not apply to the passage in 1QS V,24–VI,1 to which Matt 18.15–17 also displays some affinity, especially since both passages share the reference to the community. In the context of Matt 18, the shorter reading fits better. If İੁȢ ıwere original, one would have to explain the participation of the com-
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speaks about sinning in general52 and not particularly about the case that someone is personally wronged, then, the protasis takes up what was metaphorically described as a sheep’s straying-off in vv.12–13. In v.15, the sinner is explicitly designated as “your brother”, bringing up the aspect of closeness and mutual responsibility within the familia Dei (see 12.46–50). Thus, whereas ਖȝĮȡIJȞİȚȞin v.15a takes up the image of ‘a sheep’s straying-off’, the new aspect follows only in the apodosis. 18.12 does not mention how the search for the one gone astray should proceed. 18.15 discloses precisely this: if someone notices that a “brother” goes astray, he should admonish him53, namely – this is important – in a conversation in private. The affinity of munity in the vv.16–17 by the fact that in a rather small group, a conflict between two community members affects the community as a whole as well. However, it is remarkable that the reconciliation between the sinner and the one who admonishes does not play a role in 18.15–18, not even in 18.15b, where the focus is on the salvation of the sinner (see below). While this already suggests that 18.15 does not deal with the special case of someone being personally wronged, the expansion of the simple personal admonition in Q 17.3–4 to a procedure, which amounts to three steps from individual admonition to involvement of the community in the worst case of the sinner’s continuous lack of insight, points into the same direction. Moreover, if 18.12–14 is taken into account, one can add that the shorter reading without İੁȢ ı better fits the Matthean joining of 18.15–17 with the sheep parable, since with the shorter reading, as will be shown, a smooth connection of 18.12–14 with 18.15–17 emerges. Finally, the sequence from the absolute ਖȝĮȡIJȞİȚȞ to ਖȝĮȡIJȞİȚȞ İੁȢ ı corresponds to Luke 17.3–4. If this is also to be favored in Matt 18.15, 21, one may suppose that this sequence was already extant in Q 17.3–4 – However, there is no consensus concerning the text critical problem in 18.15a. For the shorter reading without İੁȢ ı, see PESCH, Seelsorger (see n. 5), 37, n. 1; BARTH, Kirchenzucht (see n. 22), 168, n. 32; THOMPSON, Advice (see n. 5), 176, n. 1; GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze (see n. 5), 180, n. 253; GIESEN, Problem (see n. 32), 23; MAISCH, Christsein (see n. 5), 248–249; A. SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna im Neuen Testament. Die „brüderliche Zurechtweisung“ in biblischen, frühjüdischen und hellenistischen Schriften, FB 84, Würzburg 1997, 301; GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 136; NOLLAND, Gospel of Matthew (see n. 19), 744.745; FRANCE, Gospel of Matthew (see n. 4), 689, n. 3. For the reading with İੁȢ ı see GUNDRY, Matthew (see n. 4), 367; DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 782, n. 3; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 38, n. 1; PARK, Sündenvergebung (see n. 21), 189. 52 Contrary to C. KÄHLER, Kirchenleitung und Kirchenzucht nach Matthäus 18, in: Christus bezeugen (FS W. Trilling), ed. by K. Kertelge – T. Holtz – C.-P. März, Freiburg 1990, 136–145: 140, there is no indication that the meaning of ਖȝĮȡIJȞİȚȞ can be constrained to cases, “daß ein Christ dem anderen nach dem Leben trachtet oder ihn zum Abfall vom Glauben verleitet”. 53 Similarly, A. WOUTERS, „… wer den Willen meines Vaters tut“. Eine Untersuchung zum Verständnis vom Handeln im Matthäusevangelium, BU 23, Regensburg 1992, 350–351 argues that the care for those gone astray is put in concrete terms in 18.15–17. See further LUOMANEN, Kingdom (see n. 22), 255: “the rules concerning the reproving of one’s brother are to be seen as a concrete example how one should go after his brother. The care for one’s brother materializes in reproving him.” Nevertheless, Luomanen inadequately designates 18.15–17 as “excommunication rules” (see below, n. 86). According to THOMPSON, Advice
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the pastoral imagery and the admonition can be well illustrated by Sir 18.13 wherfe both issues are directly linked in the context of a statement about God’s mercy(!): God “admonishes (ਥȜȖȤȦȞ) and disciplines and teaches and brings back, as a shepherd his flock”. With ȜİȖȟȠȞ ĮIJંȞthe evangelist54 refers to Lev 19.1755 and, thus, to the immediate context of the love command which is part of a thematic unit in Lev 19.17–18 revolving around the problem how to deal with a sinner.56 If this intertextual horizon is taken into account, the admonition is to be read as an expression of love.57 This can be substantiated by including the reception history of Lev 19.17– 1858 as it is documented by CD IX,2–8; 1QS V,24–VI,1 on the one hand59, and (see n. 5), 187, the regulations in 18.15–17 “apply the parable to a concrete situation in the Matthean community”. 54 Thereby, it is not relevant whether ȜİȖȟȠȞ is to be attributed to Matthean redaction (so e.g. GUNDRY, Matthew [see n. 4], 367) or whether it was already found in the tradition underlying 18.15–17 (to this see below, n. 89) by the evangelist, since one can assume for the latter case as well that the evangelist was conscious of the reference to Lev 19.17. 55 See FORKMAN, Limits (see n. 16), 124f; SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna (see n. 51), 298; GUNDRY, Matthew (see n. 4) 367; GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 137; DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 782f; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 43; ULRICH, Greatness (see n. 4), 230f; D.C. DULING, Matthew 18:15-17: Conflict, Confrontation, and Conflict Resolution in a “Fictive Kin” Association, SBLSP 37/1 (1998), 253– 295: (268–)273 et.al. 56 H.-P. MATHYS, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18), OBO 71, Göttingen 1986, 67. 57 Apart from the early Jewish reception history of Lev 19.17–18 outlined in the following see also Prov 27.5 where ȜİȖȤȠȚ and ijȚȜĮ are connected: țȡİııȠȣȢ ȜİȖȤȠȚ ਕʌȠțİțĮȜȣȝȝȞȠȚțȡȣʌIJȠȝȞȘȢijȚȜĮȢ. 58 For the early reception history of Lev 19.17, see J.L. KUGEL, On Hidden Hatred and Open Reproach: Early Exegesis of Leviticus 19:17, HTR 80 (1987), 43–61. For the love command in particular see M. EBERSOHN, Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition, MThSt 37, Marburg 1993, 56–142; T. SÖDING, Das Liebesgebot bei Paulus: Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik, NTA NF 26, Münster 1995, 56–66. 59 In CD IX,2–8, passages from Lev 19.17–18 are explicitly cited. To bring a charge against one’s neighbor without having previously admonished him before witnesses is regarded as an offence against the commandment in Lev 19.18 not to take vengeance and not to keep a grudge (CD IX,2–4). And whoever is silent at first, but then, in “burning wrath”, brings a charge against another person, violates the obligation to admonish (CD IX,6–8). According to 1QS V,24–VI,1, admonition (ʧʩʫʥʤʬ see ʧʩʫʥʺ ʧʫʥʤ in Lev 19.17) of one’s neighbor has to take place “in truth, humility and merciful love (ʣʱʧ ʺʡʤʠ)“ (1QS V,24–25, shorter version in 4Q258 II,4, where only the last part of the triad ʣʱʧ ʺʡʤʠ appears). As in Matt 18, admonition is considered as a task of everyone (ʥʤʲʸ ʺʠ ʹʩʠ) (see CD VII,2). The introductory admonition is then – with clear references to Lev 19.17 – further elaborated in 1QS V,25–VI,1: hate is explicitly rejected, and the warning is pronounced not to incur guilt on oneself because of the sinner. Concerning the connection of admonition and love in 1QS V,24–25, one can, furthermore, refer to the commandments for the maskil in
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by the Testaments of the Twelve Patriarchs, especially by TestGad 4.2–3; 6.3– 7, on the other. The Qumran texts offer an analogy to the sequence in Matt 18.16–17.60 According to 1QS VI,1, an issue is to be brought before the community only after an interlocution has taken place in front of witnesses61 (see CD IX,3)62. This suggests that Matt 18.16–17 is based on an early Jewish 1QS IX,12–14, since in 1QS IX,16–19, admonition is confined to members of the community, whereas the admonition of the “men of the pit”, i.e. of outsiders, is prohibited. The latter corresponds to the hate which has to be directed against the “men of the pit” (IX,21–22, see I,10), whereas, accordingly, admonition appears to be an expression of love toward the “sons of light” (I,9; IX,21). See H. LICHTENBERGER, Studien zum Menschenbild in Texten der Qumrangemeinde, StUNT 15, Göttingen 1980, 213–214. – For the reception of Lev 19.17–18 see further 1QS VII,8–9; IX,16–19; CD VII,2–3; XIV,18. 60 M.A. KNIBB, The Qumran Community, CCWJCW 2, Cambridge 1987, 115 detects three steps in 1QS V,24–VI,1, in analogy to Matt 18.15–17, which implies that he understands 1QS V,24–25 in the sense of a private admonition as a first step before the admonition in the presence of witnesses (so also J. VANDERKAM – P. FLINT, The Meaning of the Dead Sea Scrolls: Their Significance for Understanding the Bible, Judaism, Jesus, and Christianity, London 2002, 339, see also GIESEN, Problem [see n. 32], 74 and T.R. CARMODY, Matt 18:15–17 in Relation to Three Texts from Qumran Literature [CD 9:2–8, 16– 22; 1QS 5:25–6:1], in: To Touch the Text [FS J. Fitzmyer], ed. by M.P. Horgan – P.J. Kobelski, New York 1989, 141–158: 147–150). However, it is not clear how a possible individual admonition and the admonition in front of witnesses are related to each other, not to mention the problem that lines 24–25 do not make a precise statement about the personal constellation. SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna (see n. 51), 133–134 argues for a twostep procedure in 1QS V,24–VI,1. 61 See the rendering of 1QS VI,1 by G. VERMES, The Dead Sea Scrolls in English, 3rd ed., London 1987, 69: „let no man accuse his companion before the Congregation without having first admonished him in the presence of witnesses.“ 62 It is not sufficiently evident from 1QS VI,1 which function the admonition before witnesses exactly has (see SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna [see n. 51], 133); and thus, whether here, as in Matt 18.15–17, different steps of a procedure, in which moving on to the next step is dependent on the sinner’s reaction to the admonition, are in view or not. Neither 1QS V,24–VI,1 nor CD IX,2–8 reflect on the reaction of the sinner or deal with the question of what will happen to him (accordingly, excommunication from the community is also not mentioned here). The admonition before witnesses could also have the function to clarify whether the accusation is justified, before someone is accused of misconduct in front of the community. The texts under discussion present “halachische[] Schriftinterpretation” (SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna [see n. 51], 144 with reference to CD IX,2–5) which aims at precisely defining the correct observance of the commandments from Lev 19.17–18: whoever disregards the prescribed procedure violates Lev 19.17–18 and is thus guilty of an infringement of the law (see the reception of Lev 19.17 in 1QS V,25–VI,1: “but he should not incur guilt because of him”). Furthermore, it is noteworthy that the admonition in 1QS VI,1; CD IX,3 appears as a part of a judicial procedure (see L.H. SCHIFFMAN, Sectarian Law in the Dead Sea Scrolls: Courts, Testimony and the Penal Code, BJSt 33, Chico [CA] 1983, 94–96; KUGEL, Hatred [see n. 58], 54; SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna [see n. 51], 143–145 [with reference to CD IX,2b–5]). However, the formulation in 1QS VI,1 does not exclude that there was also
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exegetical tradition of Lev 19.17–18.63 Even more important, however, is the fact that TestGad 4.2–3 exemplifies the disregard of the love command by means of the public display of someone else’s sin: a hating person who does not want to listen to the words of God’s commandments about neighborly love (v.2) strives, in the case of a brother’s misconduct, to make it public to everyone immediately (v.3). Positively, this means that whoever follows the love command does not publicly expose others.64 Rather, he will confront the person concerned and admonish or rebuke him – as is to be added on the basis of the instructions in Lev 19.17–18 which are in the background here as well.65 TestGad 6.3–7 elaborates this. Here, the command to love one another from the heart (v.3a) is linked with the reflection on conduct toward the sinner, which is – presumably different from Matt 18.15 – focused on the case that someone is personally wronged: “If a man sins against you, speak to him in private admonition and that the introductory admonition in 1QS V,24–25 includes this one as well. Perhaps, the members of the Qumran community differentiated according to the gravity of the sin. Individual admonition was sufficient for minor sins, whereas more severe ones had to be reported (so H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 1993, 276) and could lead to penalties such as a (temporary) exclusion from the community (see the penal code in 1QS VI,24–VII,25). In this regard, one can further refer to CD IX,16–23: someone who observes, without any other witness, that someone else is committing a capital offence, has to admonish the sinner and has to report him to the “examiner” who has to write it down (see the list of reproofs in 4Q477!). If the sinner is then reported by two other witnesses for the same sin, he is to be excluded on the basis of the triple testimony. By contrast, two witnesses are sufficient in cases concerning property according to CD IX,22–23 (for this differentiation see SCHIFFMAN, Law [see above], 73–75 and CARMODY, Matt 18:15-17 [see n. 60], 144–145). The admonition is here “Teil einer juridischen Verfahrensordnung, die auf die Bestrafung dessen, der eine schwere Verfehlung begangen hat, ausgerichtet ist” (SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna [see n. 51], 149). It is noteworthy that forgiveness is not explicitly mentioned in any of the texts above. – It has to be added that 1QS V,24–VI,1 and CD IX,2–8 do not deal with the specific case that someone has been personally wronged, but with sins of others in general. 63 Matt 18.15–17 or the tradition adapted in Matt 18.15–17 (see for this below, n. 89) is hardly directly influenced by the Qumran texts (likewise e.g. TRILLING, Israel [see n. 7], 120; GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze [see n. 5], 185; SCHEUERMANN, Gemeinde [see n. 23], 167; S. VON DOBBELER, Die Versammlung ‘auf meinen Namen hin’ [Mt 18:20] als Identitäts- und Differenzkriterium, NT 44 [2002], 209–230: 220; differently LUOMANEN, Kingdom [see n. 22], 243). The Qumran texts are important for Matt 18.15–17 as a testimony of an obviously broader early Jewish adoption of Lev 19.17–18 which is also testified by the TestXII (to this below) and into which one has to insert Matthew as well. 64 In an extreme form, the TestXII illustrate this by the figure of Joseph who appears as the model of neighborly love (as well as generally of virtuous conduct). Joseph showed love to his brothers not only by not bearing malice against them (TestSim 4.4; TestSeb 8.4–6), but out of love for them, he also kept their misconduct secret from outsiders, in order not to shame them (TestJos 11.2; 15.3; 17.1). To love one another is linked with the mutual and patient hiding of sins (TestJos 17.2). 65 See KUGEL, Hatred (see n. 58), 50.
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peace66 after having cast away the poison of the hate. And do not hold deceit in your soul!” (TestGad 6.3b). Here, the constellation of a conversation in private is assumed (see TestGad 6.5!). Thus, according to the TestXII, love manifests itself (among other things) by not exposing the sinner in front of other people. If one reads Matt 18.15 in this light, the instruction that one should first have a conversation in private, gains contours. In the background, there is the motif that the sin of the brother is not to be made public immediately67, in order not to cast a poor light on him in the community.68 “Es soll mit dem Bruder gesprochen werden und nicht über ihn.”69 The positive case that the sinner accepts the admonition is commented on in Matt 18.15 by the words that the brother is gained. Different from TestGad 6.3– 7, the personal relationship between the one who admonishes and the sinner is not treated here, but rather the salvation of the sinner. “To gain people” is an uncommon phrase in non-Christian antiquity70, but occurs in 1Cor 9.19–22 and 1Pet 3.1 as a term of early Christian mission language. In the context of Matt 18, the phrase “you have gained your brother” emphasizes the connection with 18.12–14 since it resumes the soteriological dimension of 18.14.71 The admonition or reproof serves the positive goal of winning back the brother so that he does not get lost72 (see Jas 5.19–20). Whereas TestGad 6.3 mentions the alternative whether a sinner confesses or denies his deed73, Matthew differentiates whether the sinner listens to the per-
66 See Did. 15,3a: ਫȜȖȤİIJİįਕȜȜȜȠȣȢȝਥȞੑȡȖૌਕȜȜૃਥȞİੁȡȞૉ੪ȢȤİIJİਥȞIJ İĮȖȖİȜ. 67 One might refer to Matt 1.19 to illustrate this: Joseph displays his righteousness by not exposing Mary to public disgrace. 68 See DAVIES/ALLISON, Gospel According to Matthew II (see n. 11), 786 as well as NOLLAND, Gospel of Matthew (see n. 19), 746: “The privacy of the initial contact allows the sin to be dealt with without any need for wider awareness or of public shaming.” 69 WOUTERS, Willen (see n. 53), 351–352. – Likewise GRUNDMANN, Matthäus (see n. 4), 419. 70 See LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 43. 71 See GUNDRY, Matthew (see n. 4), 367–368. The focus of the text is not that the initiator of the admonition has “einen Erfolg zu verbuchen” (differently SAND, Matthäus [see n. 3], 372). 72 Accordingly, this is not in tension with Matt 7.1–5. Matt 7.1 is directed against the unloving condemnation of the brother, but not, as 7.3–5 shows, against addressing the misconduct of the other in general (see rather 7.5b). 73 According to TestGad 6.4, one should not be contentious with the sinner, if he denies. This is motivated by the warning that one should not sin twice. Already in Lev 19.17, admonition is linked with the idea that one should not incur sin on oneself because of the other. As with the explicit mention of “hate” in 6.3, Lev 19.17 is in the background here as well (likewise e.g. KUGEL, Hatred [see n. 58], 50–52; SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna [see n. 51], 169.170). “To sin twice” (TestGad 6.4) may refer to violating the command previously mentioned (one should speak to the other in peace) on the one hand and on causing
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son who admonishes him or not. The possibility that the sinner denies the misconduct which he is charged with obviously does not play a role. Rather, one can consider that the reason for the disregard of the admonition is a disagreement about the norms of judgement and, thus, about the acceptance of Jesus’ interpretation of the law which is valid in the community. In short: the controversial issue is not the conduct as such, but its assessment. If the admonition particularly intends to explain to the sinner that his conduct is incongruent with the norms of the group and to present and impress the group norms as the will of God, the next steps of the procedure become plausible. If the conversation in private has no effect, then, the limited number of one to two other community members should be involved. Matthew justifies this step by a quotation of Deut 19.15 whose sense, however, appears to be significantly shifted in the Matthean context. It is, as was repeatedly noted74, not evident that the persons were themselves witnesses of the deed and could, accordingly, contribute the reliable statements of the facts necessary in court.75 That the admonition is justified (and necessary) is, as already in 18.15a, not at issue.76 The function of the second admonition seems to be to emphasize the vote of the one who admonished him first77 and, thus, to motivate him to change
the other to affirm his denial of his sins by a false oath on the other. Already here, the focus is on one’s own well-being, and this remains the main perspective in the following. In a digressio (often considered as a secondary insertion), v.5 reflects on the possible escalation of the conflict: if one does not pay attention that the issue remains among the persons involved, so that others hear about the accusation, one is in danger of being exposed to further and heavier attacks from the conflict partner (the subject of the ȞĮ-phrase in TestGad 6.5 is hardly the ਕȜȜંIJȡȚȠȢ, but rather the conflict partner, i.e. the sinner from 6.3–4). This would be, as the end of 6.5 shows, one’s own fault insofar as the other has received the poison (of the hate) which one should have removed according to v.3. The option that the sinner denies is detailed by a sub-case in v.6: the sinner denies because he is ashamed of being convicted or admonished – here, the verb ਥȜȖȤİȚȞ, which occurs also in Matt 18.15, appears. In this case, one should not pursue the issue any longer because it can be assumed that the sinner tacitly repents and will be peaceful from now on. Thus, the consequences for oneself are in view here as well: one can live in peace from then on. Finally, TestGad 6.7 deals with the ‘worst case’ that the sinner is not insightful at all and insists on his wickedness. As already in v.3, the admonition “forgive him” follows in the apodosis, now, however, supplemented by the words: “leave vengeance to God!” (see to this also below, n. 91). 74 See e.g. GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 137; GUNDRY, Matthew (see n. 4), 368; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 43. 75 By contrast, CD IX,16–23 is concerned with the reliable verification of the facts. 76 See GIESEN, Problem (see n. 32), 24: “es steht von vornherein fest, daß derjenige, der zurechtgewiesen wird, im Unrecht ist”. 77 See J. GNILKA, Die Kirche des Matthäus und die Gemeinde von Qumrân, BZ NF 7 (1963), 43–63: 54; THOMPSON, Advice (see n. 5), 183 (“They witness to the truth of his fraternal correction and encourage their brother to accept the fact that his conduct has been
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his conduct. This, however, conforms well with the thesis just presented that not the deed as such, but its judgement is controversial.78 The issue should only be brought before the community, if this second attempt does not show any success as well. Now, the sinner is not only confronted with his conduct by individuals, but by the whole community which shows him that his behavior is considered as a disregard of the will of God as it was revealed by Jesus. If the Qumran texts are taken into account again, a significant difference can be recognized: whereas the function of the community meeting in 1QS VI,1 and CD IX,3 seems to be to deliver a verdict on the basis of the reliably ascertained facts, the first obligation of the congregation in Matthew 18.17 is to undertake another attempt to admonish and regain the sinner.79 If this attempt remains unfruitful as well, one has to state the failure of the admonition. To the initiator of the admonition – and accordingly also to the other members of the community – he shall be “as the Gentile and the taxcollector” from now on, that means, he shall not be considered as a “brother” (18.15) any longer, but as an outsider.80 The sinner has shown that he does not share the community’s understanding of the will of God based on the teaching of Jesus and, thereby, he has expressed his extraneousness. The exclusion from the community81 implied in 18.17 draws the formal consequence of it.82
sinful.”); GUNDRY, Matthew (see n. 4), 368; SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna (see n. 51), 306. 78 Deut 19.15 is interpreted by Matthew in the way that two or three testify that a certain behavior is not in accordance with the will of God. 79 See CARMODY, Matt 18:15-17 (see n. 60), 155–156. 80 This can be compared with the refusal of the disciples’ message in Matt 10.14 (țĮȢ ਗȞȝįȟȘIJĮȚਫ਼ȝ઼ȢȝȘįਕțȠıૉIJȠઃȢȜંȖȠȣȢਫ਼ȝȞ). Here as well, the result is that those who do not want to listen to the words of the disciples exclude themselves from salvation (see 10.15!). 81 One cannot evade the insight that exclusion from the community is implied in Matt 18.17 by referring to the fact that, according to Matt 9.9–13, Jesus, the “friend of taxcollectors and sinners” (11.19), particularly turned to the tax-collectors (differently J. GALOT, Qu’il soit pour toi comme le païen et le publicain, NRTh 106 [1974], 1009–1030: 1023f). The two other occurrences of ਥșȞȚțંȢin the gospel of Matthew (5.47; 6.7) point to a clearly negative connotation in Matthew’s use of the word, and in 5.46–47, as in 18.17, IJİȜઆȞȘȢand ਥșȞȚțંȢconstitute a pair. However, Matt 18.17b does not imply an irrevocable condemnation. See further n. 94. 82 See SAND, Matthäus (see n. 3), 372: “Durch seine Verweigerung, Einsicht zu üben und zu bereuen, steht der Sünder bereits außerhalb der Gemeinde und wird nun von dieser ausdrücklich als ‚Draußenstehender’ angesehen”. See further GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze (see n. 5), 180; GIESEN, Problem (see n. 32), 23; MAISCH, Christsein (see n. 5), 258–259; SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna (see n. 51), 307.
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With the logion about binding and loosing in v.18, which here refers to the forgiveness or the keeping of sins83, the decisions of the community receive the promise of validity in heaven and, thus, are credited with an unsurpassable authority.84 For the sinner, Matt 18.18 means that his lack of insight not only has social consequences, such as the exclusion from the community, but also soteriological ones. Inversely, this is also valid for forgiveness which is not only an interpersonal act renewing social cooperation, but implies that God has forgiven the sinner as well. For the general understanding it is fundamentally important that the exclusion from the community is by no means the aim of the admonition, but only the worst-case-scenario. One misses the Matthean intention in 18.15–17, if one places the weight one-sidedly on 18.17b85 and only looks at the first half of v.18 mentioning the binding of sins. Accordingly, it is misleading to speak of “excommunication rules”86 in Matt 18.15–17. The goal of the admonition is,
83 “Binding and loosing” was already mentioned in 16.19, there in the sense of the authorisation of Peter for halakhic decisions, which, in the general context of the gospel, is linked to Jesus’ interpretation of the Torah (see for this in this volume on p. 288–315 the essay “Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium”, [originally published in: Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament (FS C. Burchard), ed. by D. Sänger – M. Konradt, NTOA/StUNT 57, Göttingen 2006, 129–152]). Thus, Peter is presented as the guarantor for the correct interpretation of the Torah which goes back to Jesus as the one and true teacher (see 23.8). In 18.18, however, the context suggests that “binding and loosing” refers to forgiveness and keeping of sins (likewise e.g. LUZ, Evangelium nach Matthäus III [see n. 4], 46–47, but differently DAVIES/ALLISON, Matthew II [see n. 11], 787, who interpret 18.18 in line with 16.19: “the halakhic decisions of the community have the authority of heaven itself”). The latter presupposes, however, a communal consensus about the ethical guidelines. Independent of the controversial question about the traditio-historical priority of Matt 16.19 or 18.18, it should be noted that the sequence of the logia in the Matthean composition makes sense, since the halakhic authority of 16.19 is the presupposition for 18.18 (see BORNKAMM, Binde- und Lösegewalt [see n. 22], 49). The connection of both verses is further underlined by the fact that in the verses directly preceding (16.18; 18.17) the only evidences of ਥțțȜȘıĮ in the gospel of Matthew appear. The authority of the community to forgive sins was already implied in 9.8. By mentioning the “binding” of sins, 18.18 adds the negative counterpart to forgiveness. 84 It is noteworthy that the motif implied in Matt 18.17, that the sinner should listen to the community, already pointed to the authority of the community (see VON DOBBELER, Versammlung [see n. 63], 216–217). 85 GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze (see n. 5), 181 postulates for the pre-Matthean tradition that the emphasis of the text is on 18.17b: “Bei der Bestimmung einer festgezogenen Grenze der Gemeindezugehörigkeit liegt der Schwerpunkt der halachischen Regel” (see to this below, n. 89). See further BORNKAMM, Binde- und Lösegewalt (see n. 22), 41–42; BARTH, Kirchenzucht (see n. 22), 175. 86 LUOMANEN, Kingdom (see n. 22), 232.233.253.258. Elsewhere, Luomanen speaks about “excommunication procedure” (ibid., 242.248) and about a “process of expulsion”
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as was mentioned before, to gain the sinner back.87 And it is exactly this focus which Matthew has emphasized throughout his composition. He related 18.15– 17 to the admonition to “search for those astray” as concretizing guidelines. And, vice versa, he placed the poimenic care for the sinner as a guiding principle in front of 18.15–17:88 the admonition and the search for those gone astray belong to the pastoral duties of the disciples who are in the fellowship of the messianic shepherd.89
(251). See further LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 43.56 (“Exkommunikationsregel”); VON DOBBELER, Versammlung (see n. 63), 216.220 (“Ausschlussverfahren”). To speak of a “Disziplinarverfahren” (GNILKA, Kirche [see n. 77], 54), also sets an inadequate emphasis. 87 See e.g. WOUTERS, Willen (see n. 53), 354; OVERMAN, Church (see n. 4), 268. 88 See GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze (see n. 5), 190, according to whom the focus is on the “intensive[] Bemühung um Wiedergewinnung des einzelnen sündigen Bruders” in the Matthean composition. In a contrasting manner, Goldhahn-Müller sets the Matthean emphasis apart from the – postulated – rigorism of the underlying community tradition (see to this below, n. 89). BARTH, Kirchenzucht (see n. 22), 176 sees the “Kirchenzuchtsregel 18 15–17 gewissermaßen gegen den Strich gebürstet” by embedding it into Matt 18. According to GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 139 Matthew has shifted the emphasis by means of the composition “vom Rechtsdenken auf ein pastoral-ekklesiologisches Anliegen”. 89 Since Matt 18.15–17 is based on community tradition (see for many J. ZUMSTEIN, La condition du croyant dans l’Évangile selon Matthieu, OBO 16, Freiburg 1977, 387–388; GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze [see n. 5], 170–172; GNILKA, Matthäusevangelium II [see n. 4], 135; SCHEUERMANN, Gemeinde [see n. 32], 167; SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna [see n. 51], 297; LUOMANEN, Kingdom [see n. 22], 242–243, differently, however, S.H. BROOKS, Matthew’s Community: The Evidence of His Special Sayings Material, JSNTS 16, Sheffield 1987, 103), one may consider that Matthew opposes a group in the community which gave priority to the community’s holiness instead to their mercy to sinners through the placement of the tradition in the context of Matt 18 (see SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna [see n. 51], 298 as well as GNILKA, Matthäusevangelium II [see n. 4], 140: Matthew has “das den VV 15-17 zugrunde liegende Bild einer heilig und rein zu erhaltenden Kirche dahingehend korrigiert, daß das Bemühen um den irrenden oder sich verfehlenden Bruder im Vordergrund zu stehen hat”; see also SCHEUERMANN, Gemeinde [see n. 23], 193–194). But this can be no more than speculation. In any case, it is not at all compelling that the tradition underlying 18.15–17, taken by itself, mirrors “eine in der Gemeinde geübte, relativ rigorose Praxis” (GNILKA, Matthäusevangelium II [see n. 4], 141). Likewise, we cannot categorically claim for the pre-Matthean text that “Umkehr und Wiederaufnahme nach der disziplinarischen Maßnahme der ‚Exkommunikation’ nicht mehr vorgesehen sind” (SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna [see n. 51], 298, see FORKMAN, Limits [see n. 16], 129; GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze [see n. 5], 181–182.194). The text, taken by itself, does not say anything about how one ought to proceed in the case of a late insight of the sinner. Above all, it is, to say the least, not at all impossible that the evangelist takes up the context, in which the admonition typically occurs in the community, and ‘only’ emphasizes it by means of his composition trying to substantiate it. SCHWEIZER, Matthäus und seine Gemeinde (see n. 30), 112–113 considers that 18.15–17 was already linked with the parable of the sheep in the pre-Matthean text.
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With regard to the ethical message of this section, one central aspect is that the sinner is protected by the rule that the admonition has to take place first of all apart from the public; he is not exposed before the forum of the community. This is an expression of love (see TestGad 4.2–3).90 Second, the obligation to a multistage procedure91 makes evident that the “search for those gone astray” is not already to be terminated after a first failure; it requires more patience. At the same time, a limit is set to it.92 If the sinner also disregards the admonition
90 It is noteworthy that in the epistle of James, which stands close to the gospel of Matthew, the same aspect occurs as an application of the love command (Jas 4.11–12, see also Jas 5.19–20). See for this M. KONRADT, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief: Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, StUNT 22, Göttingen 1998, 187–193. 91 Different from Matt 18.15–17, TestGad 6.3–7 does not develop a sequence of steps or the aspect of multiple attempts of admonition at all; it only deals with different options of possible reactions of the sinner. This difference documents the diverging social contexts. In contrast to TestGad 6, Matthew not only treats the admonition on the private level of the relationship between two persons (for TestGad 6.3–7 in this respect, see J. BECKER, Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte der Testamente der Zwölf Patriarchen, AGJU 8, Leiden 1970, 360f), but rather in the ecclesial horizon, whereby he comes closer to 1QS V,24– VI,1. It is noteworthy that 1QS and Matt 18 offer regulations for special communities in Israel. Differently, the Testaments of the Twelve Patriarchs reflect the synagogal practice of Torah paraenesis, which is influenced by sapiental motifs, with regard to everyday life. Accordingly, the instructions in TestGad 6.3–7 and Matt 18.15–17 are led by different aims of action: TestGad 6.3–7 deals with the problem of a disturbance of the social relationship between two persons under the perspective that afterwards a peaceful coexistence in everyday life becomes possible again. The soteriological prospects of the sinner are not in focus: it is not the central purpose to lead the sinner (back) to salvation. Rather, the text ends with the outlook that revenge is to be left to God, i.e. the sinner will receive his punishment. This perspective of the judgement of God should motivate not to pursue the issue any longer (see Prov 20.22; 1QS X,17f; 2Hen 50.4; PseudPhok 77; JosAs 28.14; Rom 12.19). In other words, the focus in TestGad 6 is one’s own situation – with the purpose to live in peace from now on. By contrast, Matt 18.15–17 asks, in an ecclesial horizon, how one should treat members of the community who stray from the way which is considered as right on the basis of Jesus’ interpretation of the Torah. Thereby, the view is particularly focused on the ‘winning back’ of the sinner, and thus, on his salvation (see 18.12–14). Furthermore, the difference between TestGad 6.3–7 and Matt 18.15–17 manifests itself in different understandings of forgiveness. When TestGad 6.7 commands to forgive the sinner even in the case that he persists in his wrongdoing, only the interpersonal relationship is in perspective, as the final sentence, that the revenge is to be left to God, makes evident. Thus, the interpersonal forgiveness does not effect that the sins are also cancelled before God. By contrast, Matt 18.18 explains that forgiveness pronounced by the community (or its members) is valid also in heaven. Therefore, it is understandable that Matthew does not know the option of silent repentance without a confession of sins, which is mentioned in TestGad 6.6. 92 WOUTERS, Willen (see n. 53), 353–354 understands the statement in 18.17–18 as follows: 18.17b says “im vorliegenden Kontext […], daß eine den mahnenden Bruder verpflichtende Gemeinschaft mit dem Sünder nicht mehr besteht. Das bedeutet, der Bruder ist
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of the community, one can only document the existent difference by the exclusion from the community.93 This does not necessarily mean that all communication with him in everyday life is strictly prohibited from now on.94 It ‘only’ means that he currently does not belong to the group anymore, and that there is no admonition anymore for him in the sense of caring for a ‘stray sheep’, because this is an intracommunal task. However, it is already implied in 18.19–20 and is underlined in 18.21–22 aus der Verantwortung für den Sünder entlassen, als Initiator des Verfahrens trägt er keine individuelle Verantwortung mehr für das weitere Geschehen.” 93 In contrast to the previous interpretation of 18.10–18 as a coherent, consistent line of thought, in which the textual parts interpret or complete each other, some exegetes postulate an irresolvable tension between the admonition to search for the lost in 18.10–14 and the unlimited forgiveness in 18.21–22 on the one hand, and the exclusion from the community in 18.15–18 on the other (see e.g. BORNKAMM, Binde- und Lösegewalt [see n. 22], 41–42; C.J.A HICKLING, Conflicting Motives in the Redaction of Matthew: Some Considerations on the Sermon on the Mount and Matthew 18:15–20, SE 7 / TU 126, ed. by E.A. Livingstone, Berlin 1982, 247–260: 259; SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna [see n. 51], 297.307; LUZ, Evangelium nach Matthäus III [see n. 4], 41.63–64). LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 57, explains the tension by means of the origins of the material: “Die in der frühen Gemeinde entstandene Regel V 15-17 und der sie bekräftigende Binde- und Lösespruch V 18 spiegeln die Situation der beginnenden Institutionalisierung der Jesusgemeinde, die sich selber von der Mehrheit des nicht an Jesus glaubenden Volkes unterscheiden musste. V 21f und auch V 12-14 gehen dabei auf Jesus selbst zurück und sind ursprünglich vom Problem der Institutionalisierung unberührt.” The evangelist would then not have balanced the tension between the different passages in the compilation of the material. However, this ignores that already in 18.12–14 the possibility is present that the “sheep gone astray” gets lost; this negative case appears to be more deeply reflected in 18.16–17. Moreover, 18.21 undoubtedly presupposes the repentance of the sinner. Inversely, 18.15–18 cannot be reduced to the aspect of the exclusion from the community. The case mentioned in v.13a, that the sheep is found, finds a counterpart in v.15b. With regard to 18.21–22 it is furthermore noteworthy that 18.17b limits the attempts of the admonition, but not of the willingness to forgive. If the sinner returns later on his own, a new situation emerges. Moreover, this means that 18.18 does not imply an anticipation of the judgement (differently e.g. GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze [see n. 5], 190–191; LUZ, Evangelium nach Matthäus III [see n. 4], 47) because late repentance is not principally excluded. At least in the light of 18.21–35 there is no doubt that the community would then have to receive the sinner again. 94 Similarly NOLLAND, Gospel of Matthew (see n. 19), 748. By contrast, SCHENK-ZIEGLER, Correctio fraterna (see n. 51), 307 argues for an interpretation of 18.17b in the sense of a cessation of communication (see Did. 15.3b as well as 1Cor 5.11, for early Judaism, see 1QS VII,24–25). But from Matt 18.17, it can only be inferred that the admonition does not have a continuation. It is not automatically stated therewith that from now on one has to change the side of the street if one meets the ‘sinner’. To talk of the cessation of communication in general, is thus undifferentiated. J.P. Heil reads 18.17 in the light of Matthew’s overall picture of Jesus’ attitude: “the community is still to extend to the sinner the same mercy, fellowship, and love Jesus demonstrated to pagans and tax collectors” ([W. CARTER– ]J.P. HEIL, Matthew’s Parables: Audience-Oriented Perspectives, CBQMS 30, Washington [DC] 1998, 123).
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that he needs not be a persona non grata for the community forever; a return is not principally ruled out. In v.19, Matthew has inserted a logion about praying which, when taken by itself, deals with the answering of prayers in general. Its insertion into the context of the community discourse after 18.15–18, however, poses the question about a specific point of reference for the prayers of the disciples, especially since a thematic connection with the preceding verses is supposed by various linguistic points of contact.95 The context suggests that the members of the community should include the sinner in their prayers to effect his repentance.96 This may refer to the admonition, or, to pick up vv.10–14, to the search for the one gone astray, but also to intercession after the failure of the procedure. If the admonition was unsuccessful, prayers for the sinner still remain for the disciples.97 The promise that their plea will be answered is grounded by the Matthean Jesus in v.20 by the fact that he himself is present (see 28.20) where two or three are gathered in his name. In other words: the presence of Jesus among his disciples guarantees the answering of prayers by the heavenly father of Jesus98 (see ʌĮȡIJȠ૨ʌĮIJȡંȢȝȠȣIJȠ૨ਥȞȠȡĮȞȠȢin Matt 18.19!). Furthermore, one can consider that the reference to Jesus’ presence shall evoke the christological foundation on which the entire discourse is based.99 According to 18.14, the saving will of God intends that no one should be lost. In 1.21, Matthew has programmatically centred the task of Jesus in salvation from the sins by means of an interpretation of Jesus’ name. This is realized in 95 The juxtaposition ਥʌIJોȢȖોȢ – ਥȞȠȡĮȞȠȢlinks 18.19 with 18.18. ǻȠrefers back to v.16. – See LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 51–52. 96 GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 140. P. POKORNÝ, ‘Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen …’ (Mt 18,20), in: Gemeinde ohne Tempel / Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, ed. by B. Ego – A. Lange – P. Pilhofer, WUNT 118, Tübingen 1999, 477–488: 480 refers to the plea “für die Verlorenen” and the possibility of solving “Konflikte im Lichte der Vergebung Gottes”. In contrast, BORNKAMM, Binde- und Lösegewalt (see n. 22), 43 assigns the function to Matt 18.19–20, “die unmittelbar zuvor der Gemeinde zugesprochene Binde- und Lösevollmacht zu begründen”. See also D.D. KUPP, Matthew’s Emmanuel: Divine Presence and God’s People in the First Gospel, MSSNTS 90, Cambridge 1996, 181–182: “The ‘agreement’ of v. 19 corresponds to and reinforces the decision ‘to bind’ or ‘to loose’ in v. 18 – and provides the corporate application for the binding and loosing authority promised initially to Peter alone in 16.19.” 97 LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 52 correctly refers to the fact that „die Gemeinde natürlich nicht für die Vernichtung, sondern für die Rettung und die Rückkehr irrender Geschwister betet.” In my opinion, one must emphasize more clearly than Luz, that the purpose that no “brother” gets lost is the leading principle of 18.15–20 on the whole. 98 See GUNDRY, Matthew (see n. 4), 370: “His dynamic presence provides the reason for the heavenly Father’s answering their prayers.” 99 LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 52 sees in v.20 “das christologische Zentrum des ganzen Kapitels”.
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Matthew by the concrete encounter with Jesus during his earthly mission (9.2– 8) on the one hand, and on the other hand, and primarily, by the death of Jesus, as 26.28100 makes clear, and as is also indicated by the insertion of Jesus’ name in the titulus crucis (27.37). The impending passion of Jesus is, as we have seen, the christological thematic focus in the narrative context of the community discourse. Interpreted within this frame of reference, gathering in the name of Jesus (18.20) means that the one is present whose blood has been shed for the many for the forgiveness of sins (26.28) and whose effort for the sinners obliges those who are gathered in his name to care for the sinners. 3.3 Unlimited Forgiveness (Matt 18.21–35) In v.21, Matthew further develops the topic of forgiveness which was implied in the positive case of regaining the brother in 18.15b101 and to which he also related in 18.18b. Thereby, a new aspect comes to the fore. Matthew takes up the Q-thread from 18.15, but rearranges the teaching of Jesus from Q 17.4 to a dialogue. Whereas the disciples have come to Jesus in 18.1 to confront him with a question, now, Peter comes forward with a question. He has understood that he has to forgive the brother who has taken the admonition to heart102, but now, he raises the still open question about the limits of forgiveness, and thereby shifts the focus to the case that someone is personally wronged. Both aspects are connected with each other insofar as the question of the limit of forgiveness becomes even more pressing when one is affected by the sin of the other. Peter’s subsequent question “as many as seven times?”, following “Lord, how often shall my brother sin against me, and I forgive him?”, may be meant as a generous offer.103 Yet this is even surpassed by Jesus with seventy-seven Matthew has inserted İੁȢਙijİıȚȞਖȝĮȡIJȚȞ in 26.28, and at the same time he has not adopted the Markan designation of John’s baptism as ȕʌIJȚıȝĮ ȝİIJĮȞȠĮȢ İݧȢ ܿijİıȚȞ ܼȝĮȡIJȚࠛȞ(Mark 1.4). In Matthew those who want to be baptized confess their sins as well (Matt 3.6), but actual forgiveness of sins is not mentioned here (see e.g. J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, Vol. 1, 2nd ed., HThKNT 1.1, Freiburg– Basel – Wien 1988, 68). 101 In the parallel text in Luke 17.3, which may come very close to the Q-version (see J.M. ROBINSON – P. HOFFMANN – J.S. KLOPPENBORG (Eds.), The Critical Edition of Q, Hermeneia, Minneapolis – Leuven 2000, 488f), forgiveness of sins is explicitly mentioned. 102 The repentance which is explicitly mentioned in Luke 17.3–4 (The Critical Edition of Q [see n. 101] presupposes this motif also for Q 17.3) is implied in Matt 18.21 (likewise e.g. HAGNER, Matthew II [see n. 4], 537.541; ULRICH, Greatness [see n. 4], 251; E.L. RAMSHAW, Power and Forgiveness in Matthew 18, WorWor 18 [1998], 397–404: 400). ȆȠıțȚȢ ਖȝĮȡIJıİȚİੁȢਥȝਕįİȜijંȢȝȠȣpicks up ਥȞįਖȝĮȡIJıૉਕįİȜijંȢıȠȣfrom v.15. In 18.15, ਥȞ ıȠȣ ਕțȠıૉ implies repentance. Now, the case is treated that one and the same brother is repeatedly guilty, but accepts the admonition (or comes to the conclusion by himself that he committed a sin). 103 See NOLLAND, Gospel of Matthew (see n. 19), 754. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 62 points out that “«[s]ieben» ist die traditionelle Zahl der Vollkommenheit.” Thus, “Petrus fragt bereits sinngemäß: Wird von mir vollkommene Vergebung erwartet?”. 100
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times104, which actually means that forgiveness does not know any limits. 105 The possibility of receiving forgiveness is never lost, and this undoubtedly applies also for the one who has ignored the threefold admonition in 18.15–17, but then sees reason. For the one who ought to forgive, Jesus’ answer in 18.22 means a radical challenge, especially since now, as we have seen, the focus is on the case that someone is personally wronged. In his answer, however, Jesus does not confine himself to this radical demand, but adds a parable whose main features are quickly summarized. A servant owes his lord a huge amount of 10.000 talents.106 On the day of payment he supplicates his lord for extension of payment, but then, he gets much more than that by his merciful lord who cancels his entire debt. Along the way, he meets a fellow servant, who owes him a comparatively small amount107, and claims the money back from him. Now, the fellow slave falls to the ground before him108 and begs with the words which he himself used before in addressing his lord: “Have patience with me, and I will pay you.” But the slave does not show compassion and casts the fellow slave into prison until he could pay the debt. When the lord hears about this, he immediately summons the slave and rebukes him: “You wicked slave! I forgave you that entire debt because you pleaded with me; should you not have had mercy on your fellow slave even as I had on you?” (18.32–33). With this pitilessness, the slave has forfeited the mercy which has been shown to him. He is now judged according to the measure with which he himself had measured (Matt 7.2b)109, and is delivered to the torturers (v.34). 104 The meaning of ਦȕįȠȝȘțȠȞIJțȚȢ ਦʌIJ is – just as in the reference text in Gen 4.24 (see below, n. 105) – not evident. As an alternative to the reading presented above, one can also read 7x70. Arguing for the above interpretation, LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 62 refers to the Hebrew source of the LXX in Gen 4.24. 105 Matt 18.22 alludes to the Lamech-song in Gen 4.24 („If Cain is avenged sevenfold, truly Lamech seventy-sevenfold“; see for many DAVIES/ALLISON, Matthew II [see n. 11], 793). The reader or the hearer of the gospel may hardly not have heard this. Unlimited forgiveness substitutes revenge. 106 With the selling advised in 18.25, only a fraction of this sum could be covered (see NOLLAND, Gospel of Matthew [see n. 19], 757). With regard to the narrative logic, one can assume that originally, the amount was smaller, although still high (so e.g. DAVIES/ALLISON, Matthew II [see n. 11], 795f; NOLLAND, Gospel of Matthew [see n. 19], 756–757), so that it could realistically have been raised by the selling of the slave, the wife, the children and the possession (M.C. DE BOER, Ten Thousands Talents? Matthew’s Interpretation and Redaction of the Parable of the Unforgiving Servant [Matt 18:23-35], CBQ 50 [1988], 214–232: 228 supposes 10.000 denarii). Matthew would then drastically have augmented the sum in order to emphasize God’s mercy toward the sinners. 107 Here, “it is about one six hundred thousandth of the figure that has just been forgiven him [sc. the servant]” (LUZ, Matthew II [see n. 4], 473). 108 ȆİıઅȞȠȞıȞįȠȣȜȠȢĮIJȠ૨(v.29) takes up ʌİıઅȞȠȞįȠ૨ȜȠȢin v.26, but ʌȡȠıİțȞİȚis missing now, of course. 109 See LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 72.
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The function of the parable could be seen in the fact that Jesus substantiates his radical demand with a massive threat. Stating this is not wrong, but it is nevertheless insufficient. In the context of Matt 18, the central function of the parable is that it subtly involves Peter in a change of roles with its metaphorical language. The form of the parable allows Peter to view his question in the mirror of a story without being coerced to directly identify himself with one of the personae dramatis. In the parable, the question of Peter corresponds to the relationship between the slave and the fellow slave. Taken by itself, it appears to be an everyday and absolutely legitimate issue to claim the payment of the debt from the fellow slave, that is, to insist on one’s rights. But in the parable, this aspect is preceded by another scene. Thereby, the slave is presented as someone whose immense debt has been cancelled. His conduct, thus, appears in an absolutely different light.110 It appears grotesque, absurd and in fact highly unmerciful.111 If one relates this to Peter’s question, how often one has to forgive the sinner after having been personally wronged, it becomes evident that the question cannot be adequately answered in the context of an isolated consideration of the relationship between the sinner and the one who should forgive. The central function of the parable is to define the role of the one who ought to forgive anew.112 He is not only the one who should forgive, but he is at the same time someone who himself lives by virtue of the forgiveness of God.113 Because of this, it would be absurd to withhold forgiveness from one’s neighbor. At the same time, the motif of the imitatio Dei (see 5.48) comes to the
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See GNILKA, Matthäusevangelium II (see n. 4), 146; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 71 (“Die Vorgeschichte verfremdet die übliche Brutalität des Alltags; sie wird nun als etwas in Wahrheit Empörendes ansichtig.”); J. HESS, Zwischenmenschliche Vergebung und Versöhnung im Neuen Testament, in: Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, ed. by W. Dietrich – M. Mayordomo, Zürich 2005, 243–250: 248; H. ROOSE, Das Aufheben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses (Vom unbarmherzigen Knecht): Mt 18,23-35, in: Kompendium der Gleichnisse Jesu, ed. by R. Zimmermann, Gütersloh 2007, 445–460: 447. 111 Further, the servant breaks the Golden Rule (see DAVIES/ALLISON, Matthew II [see n. 11], 801; NOLLAND, Gospel of Matthew [see n. 19], 758): he withholds from his fellow slave what he himself has asked for. 112 It has often been postulated that the parable does not fit exactly into the present context, since it does not deal with the aspect of repeated forgiveness (see, e.g., W.R. HERZOG II, What If the Messiah Came and Nothing Changed? The Parable of the Unmerciful Servant [Matt. 18:23–35], in: idem, Parables as Subversive Speech: Jesus as Pedagogue of the Oppressed, Louisville [KY] 1994, 131–149: 132). While this difference is obvious, the parable nonetheless fits into the context quite well, since it takes up the question posed in v.21 in a more fundamental way by reflecting on the person who shall forgive. 113 This holds, even if it has to be conceded that the concrete debt sum cannot be generalized, particularly as the 10.000 talents are to be read as an intentionally exaggerated information.
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fore.114 Whereas in 18.12–14, the motif of orienting oneself in accordance with God’s action was suggested by the intertextual references, this motif becomes explicit in 18.23–35: “Gottes Handeln […] wirkt normbildend für das Miteinander in der Gemeinde”115. As has been mentioned already, Matthew has reshaped the Q-text into a dialogue in 18.21–22 and introduced Peter. Of course, one can simply point to the fact that Peter functions as the spokesman of the disciples elsewhere in the gospel of Matthew.116 Quite often, however, all the disciples are involved in the dialogue with Jesus. 117 In particular, it should be mentioned that Peter does not appear as the speaker in any of the other four discourses. In the parable discourse, elements of dialogue appear, but here, the disciples in general are the interlocutors (13.10, 36). The introduction of Peter in Matt 18.21 gains profile when one considers this in the context of the rest of the story. For here, it is Peter who has indeed incurred a great debt upon himself.118 He is the one who has denied Jesus, but nevertheless belongs to the disciples again after Jesus’ resurrection, and, even more, he is ennobled as the rock on which Jesus builds his church (16.18). Peter, thus, can serve excellently as a symbol for forgiveness as a basic principle of the church, as a nota ecclesiae.119 In this context, one can furthermore point to a sideline of the parable. In v.31, fellow slaves appear complaining about the mercilessness of the slave. In this context, one can surmise that the group of slaves is transparent for the community.120 V.31 would then emphasize that the refusal to forgive constitutes a violation of the group ethos. The ending of the parable in v.34 and the application of the parable in v.35 show that community members who behave unmercifully in this manner exclude themselves from salvation121 (see Jas 2.13). 114
See DAVIES/ALLISON, Matthew II (see n. 11), 802.804; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 73. 115 ROLOFF, Kirchenverständnis (see n. 23), 343. 116 See Matt 15.15; 16.16; 17.4; 19.27, see further 17.24–27. – See e.g. SCHEUERMANN, Gemeinde (see n. 23), 187–188. 117 See Matt 13.10, 36; 14.15; 15.12, 23, 33; 17.(10), 19; 19.10, 25; 21.20; 24.3. 118 See ULRICH, Greatness (see n. 4), 249–250.254–255. 119 It is noteworthy that the prediction of the denial of Peter in Matt 26.34–35 directly follows on the announcement of Jesus, quoting Zech 13.7, that the shepherd will be beaten and the sheep be scattered (26.31). Therefore, the pastoral imagery, which is also used in the community discourse in 18.12–13, appears in direct connection with the prediction of the denial of Peter. 120 See M. LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, Schuldenerlaß und Sündenvergebung. Zum Verständnis des Gleichnisses Mt 18,23-35, in: Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten, ed. by M. Crüsemann – W. Schottroff, Munich 1992, 104–131: 107; LUZ, Evangelium nach Matthäus III (see n. 4), 67. 121 It would be hardly according to Matthew’s intention to draw the conclusion from the judgment scene in v.34(–35) that withholding forgiveness once is a trespass that cannot be forgiven and thus excludes from salvation in an unrevisable manner (for this problem, see
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In short: the role of the slave in the parable fits brilliantly in illuminating the situation of Peter for whom a big debt has been cancelled as well, but who should behave differently toward others than the figure in the parable. Conversely, Peter was outstandingly qualified to pose the question in 18.21, in order to make the radical demand for unlimited forgiveness plausible by means of the parable. Interpersonal forgiveness is nothing else than a consequence of the forgiveness that one has received oneself.122 The question raised by Peter in v.21 is to be viewed in the light of the forgiveness granted by God. The person, who has been wronged and is asked for forgiveness by the sinner, ought not meet the sinner in arrogant self-righteousness. Rather, he should bear in mind that he himself lives from God’s mercy and is dependent upon it. In other words: he does not have a reason to meet the other by looking down on him (see 7.1–5). If 18.1–4 is included, the ethos of humility presented there is concretized here.123 In view of the acquittance which one has received it is absurd to disdain the little ones.
4. Conclusion I would like to summarize the findings in three points: (1) In the course of the preceding analysis, Matt 18 presented itself as a thematically coherent discourse. At its beginning, Jesus establishes an ethos of humility and lowliness as the ethical guideline (18.1–4). The rest of the discourse exemplifies this fundamental orientation.124 Humility and lowliness manifest themselves in receiving children at ‘eye level’ (18.5), in caring for the “little ones”, as a shepherd takes care of a sheep gone astray, instead of despising them (18.6–20), in an unlimited willingness to forgive, even if one was personally wronged (18.21–22), bearing in mind that everyone lives by virtue of the forgiveness of God (18.23–35) and is himself in danger of stumbling (18.8–9) so that there is no reason for any pride or arrogance. (2) Matthew’s Gospel is well-known for its radical ethical demands. The disciples shall love their enemies (5.44). If any one strikes them on the right cheek, they shall turn to him the other as well (5.39). Someone who calls his brother “fool” is liable to the hell of fire (5.22); and someone who looks at another’s wife lustfully, has already committed adultery with her (5.28), and B.B. SCOTT, The King’s Accounting: Matthew 18:23–34, JBL 104 [1985], 429–442: 430– 431). Matthew uses the judgment scene to impress the importance and necessity (see Ƞț įİȚ in v.33) of granting forgiveness on his readers/hearers. 122 See NOLLAND, Gospel of Matthew (see n. 19), 753. 123 See ULRICH, Greatness (see n. 4), 203: “the people whom God considers great are humble to the point that they are like slaves before the divine Master, completely dependent on God’s mercy and grace”. 124 See LUZ, Evangelium nach Matthäus (see n. 4), 15–16.
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so on. In short: the disciples shall be perfect (5.48, see 19.21). Furthermore, there is also a radical demand to forgive the sinner. This, however, also means that the radical demands are counterbalanced by the realistic assessment that sins and failures are a matter of fact also among the followers of Jesus and by an exceedingly merciful attitude toward sinners. Matthew does not conceive of the congregation as an unblemished holy community in which the strife to reach the summit of highest virtuousness does not leave any space for the ethically weak, for the little ones. Matthew calls for a perfect fulfillment of the will of God, but he also knows that Christ-believers are sinners who may trust in God’s mercy which at the same time obligates them to show mercy toward others as well. In modern terms, one could say that Matthew’s approach is oscillating between a sect-like rigorism and the openness of a ‘Volkskirche’, a people’s church. (3) Matthew’s ethics cannot be sufficiently understood without considering the relation between ethical admonitions and the story. His ethical convictions form an integral part of his view of the world which he unfolds by narrating a story. In Matt 18, this can be illustrated by several intra- (and also inter-) textual links. – The discourse is part of the narrative section of the Gospel in which Jesus’ passion emerges as the dominant christological perspective. If this context is taken into account, the ethos of humility and lowliness, which is unfolded in the discourse, appears as applied christology. Jesus, the humble king (21.5, see 11.29), takes the cross upon himself and takes the path of lowliness to save the “many” (26.28) from their sins. Matt 18 draws the ethical consequences from believing that this Jesus is the Messiah. – Moreover, the demand to search for the ‘stray sheep’ is linked to Matthew’s presentation of Jesus as the merciful messianic shepherd and, to include the intertextual dimension, to the presentation of God as the shepherd of his people and the promise of the Davidic messianic shepherd in Scripture (Ezek 34.23; 37.24). – Finally, the anthropological presupposition of the discourse that human beings are not immune against weakness and sin and are dependent on God’s mercy, gains contours in the context of the story by introducing the figure of Peter, since Peter symbolizes that it would be absurd and presumptuous to withhold forgiveness from one’s neighbor.
„Glückselig sind die Barmherzigen“ (Mt 5,7) Mitleid und Barmherzigkeit als ethische Haltung im Matthäusevangelium Während Lukas das Gebot der Feindesliebe (Lk 6,27–35) – wohl im Gefolge von Q – in eine auf die Barmherzigkeit Gottes bezogene Aufforderung zur imitatio Dei einmünden lässt (Lk 6,36), mahnt der matthäische Jesus seine Jünger in Mt 5,48, vollkommen zu sein, wie ihr himmlischer Vater vollkommen ist. Aus dieser Änderung ein Desinteresse des ersten Evangelisten an der Barmherzigkeitsthematik abzuleiten, wäre allerdings eine mehr als nur voreilige Schlussfolgerung. Abgesehen davon, dass das auf die Barmherzigkeit bezogene Motiv der Nachahmung Gottes in Mt 18,33 anklingt, braucht Matthäus in 5,48 den umfassenderen und inhaltlich nicht konkreten Begriff der Vollkommenheit, damit 5,48 als der die gesamte Antithesenreihe summierende Gipfelpunkt1 und zugleich zusammen mit dem Motiv der „besseren Gerechtigkeit“ in 5,20 als Rahmung um diese fungieren kann.2 Matthäus hat auf das Barmherzigkeitsmotiv in der Bergpredigt, genauer: in Mt 5, aber nicht einfach verzichtet, sondern die Änderung in 5,48 durch die fünfte, ihm eigene Seligpreisung in 5,7 ‚kompensiert‘: „Glückselig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Anders als Lk/Q 6,36 verwendet Matthäus im Vordersatz nicht ȠੁțIJȡȝȦȞ, sondern ਥȜİȝȦȞ.3 Er bewirkt damit nicht nur einen Gleichklang zum Verb im begründenden Verheißungssatz (ਥȜİȘșıȠȞIJĮȚ) und unterstreicht so die Korrespondenz zwischen Tun und Ergehen4, sondern 5,7a entspricht damit zugleich auch dem sonst üblichen Sprachgebrauch des Evangelisten, der mehrfach ȜİȠȢ und ਥȜİİȞ, aber auch sonst nie ȠੁțIJȡȝȦȞ verwendet. 1
In der Antithesenreihe in Mt 5,21–48 wird z.B. auch die vollkommene Erfüllung des sechsten und siebten Gebots des Dekalogs, nicht zu töten und nicht die Ehe zu brechen, verhandelt (5,21–32). Die Barmherzigkeitsforderung aus Q 6,36 eignete sich hier nicht als eine das Ganze summierende Schlussmahnung. – Für Rat und Hilfe danke ich Johanna Körner. 2 Zur Funktion von 5,48 nicht nur als Schlussmahnung der sechsten Antithese, sondern als Gipfelpunkt der gesamten Reihe vgl. exemplarisch U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1: Mt 1–7, EKK 1.1, 5., völlig neubearbeitete Aufl., Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 408. 3 Beide Adjektive stehen in der LXX als Attribute Gottes häufig zusammen (Ex 34,6; 2Chr 30,9; Neh 9,17.31; Ps 85,15LXX; 102,8LXX; 110,4LXX; 111,4LXX; 144,8LXX; Sir 2,11; Joel 2,13; Jona 4,2). Siehe ferner z.B. TestJuda 19,3; JosAs 11,10. 4 Zu verwandten Aussagen s. unten Anm. 20.
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Blickt man auf den wortstatistischen Befund der Verwendung von ȜİȠȢ und ਥȜİİȞ und dessen diachrones Profil, so ergibt sich bereits ein erstes Indiz für die Bedeutung, die Matthäus der Barmherzigkeitsthematik beigemessen hat, wenngleich deren Relevanz in der matthäischen Theologie und Ethik natürlich erst dann adäquat ermessen ist, wenn über die bloße Wortstatistik hinaus das inhaltliche Gewicht einzelner Passagen für das Gesamtverständnis des Matthäusevangeliums beachtet wird. Der Gebrauch von ȜİȠȢ in 23,23 könnte auf die Logienquelle zurückgehen5, doch ist diese Frage letztlich nicht sicher zu entscheiden. Sicher redaktionell sind hingegen die beiden Einfügungen von Hos 6,6 „Barmherzigkeit (ȜİȠȢ) will ich und nicht Opfer“ in 9,13 und 12,7, mit denen Matthäus die Barmherzigkeit als ein Leitmotiv seiner Jesusgeschichte herausstellt. Das zugehörige Verb ਥȜİİȞ fehlt, soweit erkennbar, in Q. Bei Markus begegnet es abgesehen von Mk 5,196 nur im doppelten Ruf des blinden Bartimäus um Erbarmen in Mk 10,47.48. Bei Matthäus wird Jesus hingegen wiederholt um Erbarmen gebeten (9,27; 15,22; 17,15; 20,30.31). Zudem wird mit dem Verb die zentrale Aussage des Sondergutgleichnisses in 18,23– 35 gebündelt: Der Knecht hätte die selbst erfahrene Barmherzigkeit auch seinem Mitknecht gegenüber praktizieren müssen (18,33). Der Wortgruppe ȜİȠȢ, ਥȜİİȞ, ਥȜİȝȦȞ7 zur Seite tritt noch der fünfmalige Gebrauch von ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ, mit Ausnahme von 18,27 immer mit Bezug auf Jesus (9,36; 14,14; 15,32; 20,34). Die sachliche Zusammengehörigkeit der Rede vom ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ mit der Verwendung der Wortgruppe ȜİȠȢ, ਥȜİİȞ, ਥȜİȝȦȞ tritt durch ihr gemeinsames Vorkommen in 18,23–35 (18,27.33) und 20,29–34 (20,30.31.34) direkt hervor.8 Bieten die Vorkommen von ȜİȠȢ, ਥȜİİȞ, ਥȜİȝȦȞ sowie von ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ eine methodisch kontrollierte und zugleich substantielle Grundlage für die Frage nach der Bedeutung und thematischen Entfaltung von Barmherzigkeit und Mitleid im Matthäusevangelium,
5
So z.B. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 3: Mt 18–25, EKK 1.3, Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1997, 329. 6 Matthäus hat diesen Passus im Zuge seiner Streichung von Mk 5,18–20 ausgelassen. 7 Siehe ferner noch den Gebrauch von ਥȜİȘȝȠıȞȘ in Mt 6,2–4. 8 Die Verbindung der Wörter begegnet auch anderorts. Dabei fällt in den frühjüdischen Belegen auf, dass dort, wo ਥȜİİȞ und ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ direkt zusammenstehen, entweder ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ als Partizip begegnet, das dem Hauptverb ਥȜİİȞ zugeordnet ist und dieses qualifiziert (s. TestHiob 26,5: țȡȚȠȢ ıʌȜĮȖȤȞȚıșİȢ ਥȜİıૉ ਲȝ઼Ȣ; TestSeb 7,2: … ਕįȚĮțȡIJȦȢ ʌȞIJĮȢ ıʌȜĮȖȤȞȚȗંȝİȞȠȚ ਥȜİ઼IJİ; TestSeb 8,1: … ȞĮ țĮ țȡȚȠȢ İੁȢ ਫ਼ȝ઼Ȣ ıʌȜĮȖȤȞȚıșİȢ ਥȜİıૉ ਫ਼ȝ઼Ȣ), oder jedenfalls das ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ dem ਥȜİİȞ vorangeht (ApkMos 27,2: ʌȦȢ ʌĮȡĮțĮȜıȦ IJઁȞ șİંȞ, țĮ ıʌȜĮȖȤȞȚıșૌ țĮ ਥȜİıૉ ȝİ). ਫȜİİȞ bezeichnet also die Haupthandlung, ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ eher den die Handlung auslösenden ‚Affekt‘. Neutestamentlich ist neben den matthäischen Belegen noch auf das Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner in Lk 10,29–37 zu verweisen: In V.33 heißt es vom Samaritaner, dass er Mitleid hatte (ਥıʌȜĮȖȤȞıșȘ), als er den unter die Räuber Gefallenen sah; sein darauf folgendes Handeln wird dann in V.37 als ʌȠȚİȞ IJઁ ȜİȠȢ bezeichnet.
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so ist gleichwohl anzufügen, dass die thematisch relevanten Texte mit den Vorkommen der genannten Lexeme noch nicht erschöpfend erschlossen sind. Denn von barmherzigem Verhalten kann in konkreter Form auch dort die Rede sein, wo keines dieser Lexeme begegnet. Evident ist dies für Matthäus’ Schilderung des Endgerichts in 25,31–46, die daher im Folgenden einzubeziehen ist. Ist Barmherzigkeit, ganz allgemein gefasst, die – auf eine positive Veränderung der Notlage zielende – Zuwendung zum bedürftigen Menschen, die damit einsetzt, dass man sich von der Notlage des anderen berühren und bewegen lässt, so konkretisiert sich das barmherzige Handeln je nach Art der Bedürftigkeit bzw. der Notlage in spezifischer Weise.9 Auf welche Problemlagen bezogen Matthäus die Barmherzigkeitsthematik zur Sprache bringt, wird im Folgenden im Einzelnen zu erörtern sein. Die voranstehende Übersicht hat zudem schon angedeutet, dass Barmherzigkeit nicht nur als ethische Forderung erscheint, sondern auch von der Barmherzigkeit Gottes und insbesondere vom mitleidvollen Erbarmen Jesu die Rede ist. Ich gehe daher im Folgenden in zwei Hauptschritten vor. Zunächst wird im ersten Abschnitt die theologische und christologische Einbettung des matthäischen Barmherzigkeitsethos erörtert, ohne die dieses nicht adäquat zu verstehen ist. Auf dieser Basis rückt dann im zweiten Schritt die von Menschen geforderte Barmherzigkeit ins Zentrum. Gewisse Überschneidungen sind dabei angesichts der Verknüpfung der Aspekte in den matthäischen Texten selbst unvermeidbar. Dort etwa, wo Gottes Barmherzigkeit zur Sprache kommt (5,7; 18,23–35), ist dies direkt mit der Forderung an Menschen zur Barmherzigkeit untereinander verknüpft.
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Ein instruktives Panorama mitleidvollen, barmherzigen Verhaltens bietet das Testament Sebulon, dessen Hauptthema die Barmherzigkeit ist: Sebulon hat Mitleid mit Joseph, als die Brüder ihn töten wollen (TestSeb 2; 4,2; 5,4). Er steht ferner erbarmungsvoll Menschen in sozialen Notlagen zur Seite (6,1–7,4). Nicht nur gibt er Bedürftigen, namentlich Fremden, Kranken oder Greisen (6,5), vom Ertrag seiner Arbeit als Fischer (6,4–8), sondern er kleidet auch einen im Winter Notleidenden (7,1). 7,3f verhandelt ferner den Fall des Erbarmens bei temporärer eigener Mittellosigkeit: „Wenn meine Hand zur Zeit nichts fand, dem Bedürftigen zu geben, da ging ich sieben Stadien weinend mit ihm. Und mein Inneres kehrte sich zu ihm aus Mitleid“ (7,4). Im TestSeb ist zudem Joseph Vorbild des Erbarmens mit denen, die ihm zuvor Unrecht zugefügt haben (8,4); wer hingegen das Böse nachträgt, hat keine ıʌȜȖȤȞĮ ਥȜȠȣȢ (8,6).
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1. Die theologische und christologische Fundierung des Barmherzigkeitsethos im Matthäusevangelium 1.1 Der Kreislauf der Barmherzigkeit. Die Barmherzigkeit Gottes und die Barmherzigkeit unter Menschen Der Haupttext, in dem Matthäus die Verknüpfung von göttlicher und menschlicher Barmherzigkeit zur Sprache bringt, ist das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht in Mt 18,23–35. Das Gleichnis ist Teil der Antwort Jesu auf die von Petrus in V.21 aufgeworfene Frage: „Herr, wie oft wird mein Bruder gegen mich sündigen, und ich soll ihm vergeben?“10 Petrus ist hier keineswegs anzulasten, dass seine Frage von einer kleingeistigen Haltung bestimmt sei. Jesus hat zuvor gemahnt, die Geringen nicht zu verachten, sondern denen, die sich verirren, nachzugehen und die Sünder zurechtzuweisen. Impliziert ist dabei, dass ihnen, sofern sie die Zurechtweisung annehmen, zu vergeben ist (vgl. V.18b).11 Petrus stellt nun Jesu vorangehende Unterweisung in keiner Weise infrage, sondern geht vielmehr von vornherein sogar davon aus, dass die Vergebung der Sünden nicht nur einmal zu gewähren ist. „Bis zu siebenmal“ ist als eine durchaus weitherzige Option zu würdigen.12 Jesu Position geht aber noch darüber hinaus; „bis zu siebenundsiebzigmal“ bedeutet faktisch, dass es gar keine Grenze für die Vergebung gibt. Das nachfolgende Gleichnis zeigt, warum es diese nicht geben kann. Die Option einer verweigerten Vergebung wird darin durch das Verhalten des Knechts gegenüber seinem Mitknecht narrativ in Szene gesetzt (V.28–30). In der Erzählung erscheint sein Verhalten allerdings als schlechthin absurd, da ihm zuvor von seinem Gläubiger, dem König, eine Geldschuld in einer Höhe erlassen wurde, die das 600.000-fache der ihm von seinem Mitknecht geschuldeten Summe beträgt.13 Anders gesagt: Seine Schuld war so astronomisch hoch, dass auch die in V.25 vom König in den Raum gestellte Schuldknechtschaft nur einen geringen Teil der Gesamtschuld hätte aufbringen können und mithin niemals eine Aussicht auf vollständige Rückzahlung bestanden hat.14 Insofern ist auch die 10
Diachron betrachtet führt Matthäus in V.21f (par Lk 17,4) den Q-Passus weiter, der bereits in V.15 (par Lk 17,3) rezipiert wurde. Dabei hat Matthäus den unterweisenden Monolog Jesu in Q 17,3f dialogisch umgestaltet, indem er Petrus die Frage aufwerfen lässt, wie oft dem anderen zu vergeben sei. 11 Näheres zum vorangehenden Kontext von Mt 18,21–35 unten S. 429–432. 12 Ähnlich LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 5), 62: „Die siebenmalige Vergebung, die Petrus vorschlägt, ist nichts Geringes: ‚Sieben‘ ist die traditionelle Zahl der Vollkommenheit.“ 13 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 5), 71. 14 Vermuten kann man, dass das ursprüngliche Gleichnis an dieser Stelle mit einer deutlich geringeren (wenngleich immer noch hohen) Schuldsumme operierte (vielleicht 10.000 Denare), die durch die in V.25 angeführten Maßnahmen (weithin) aufzubringen gewesen wäre, und Matthäus den Betrag im Zuge seiner Gleichsetzung des ersten Gläubigers mit Gott
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Ankündigung, alles zurückzahlen zu wollen, mit der der Schuldner seine Bitte um Aufschub unterbaut (V.26), von vornherein kaum anders denn als eine illusionsbehaftete Ausflucht zu lesen. Der Knecht wird seine Schuld nie begleichen können. Der König gewährt seinem Schuldner denn auch weit mehr, als dieser erbeten hat. Er erlässt ihm einfach die gesamte Schuld. Verankert ist diese Wende darin, dass der König mit dem ihn anflehenden Knecht Mitleid hatte (ıʌȜĮȖȤȞȚıșİȢ, V.27). V.33 nimmt dieses Moment auf, spricht aber, V.27 variierend, vom ਥȜİİȞ des Königs. Die Bedeutungen gehen ineinander über, doch richtet ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ den Blick stärker auf das (die nachfolgende Handlung auslösende) innere Berührtsein von der Notsituation des Knechts und ਥȜİİȞ umgekehrt auf das aus diesem erwachsende Handeln, also hier konkret auf den Erlass der Schulden. Das Erbarmen ist hier radikal gefasst. Die bloße Gewährung der Bitte um Aufschub hätte an der grundsätzlichen Lage nichts geändert und keinen gangbaren Ausweg aus dieser eröffnet; entsprechend wäre sie für Matthäus wohl noch nicht als ein mitleidvolles Erbarmen zu klassifizieren gewesen. Die erbarmungsvolle Tat zielt auf die tatsächliche Behebung der Notlage. Es ist offenkundig, dass das Moment, dass die Schuldsumme vom Schuldner gar nicht beglichen werden kann, auf die in der Gleichniserzählung verhandelte ‚Sache‘ hin konstruiert ist. Mit dem Schuldner wird die Situation des Menschen vor Gott entworfen. Seiner schuldbehafteten Lage vermag er aus eigenen Kräften nicht zu entkommen. Der Mensch ist, mit anderen Worten, auf das Erbarmen Gottes angewiesen. Dass Matthäus in V.21 Petrus als Fragesteller eingefügt hat, gibt dieser Einsicht im Lichte der Gesamterzählung gewissermaßen ein Gesicht: Petrus wird wenig später Jesus verleugnen (26,69–75), was 10,33 zufolge schwere Konsequenzen nach sich ziehen müsste. Darin aber, dass er in 28,10 von Jesus ganz selbstverständlich zu „seinen Brüdern“ gerechnet wird, die ihn in Galiläa sehen werden (28,16–20), ist impliziert, dass seine schwere Schuld vergeben ist. Er symbolisiert damit paradigmatisch die fundamentale Erfahrung, dass Menschen allein aufgrund der ihnen zugutekommenden Barmherzigkeit Gottes eine heilvolle Zukunft offensteht. Die fünfte Bitte des Vaterunsers (6,12) unterstreicht, dass auch Jesu Jünger bleibend auf die Vergebung der Sünden angewiesen sind. Wie in dem Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht in 18,23–35 wird dabei im Vaterunser die eigene Vergebungsbereitschaft mit dem Empfang der Vergebung der Sünden durch Gott verknüpft (s. auch 6,14f). Während dabei das Gleichnis die Erwartung vermittelt, dass der vom König gewährte Schuldenerlass ein entsprechendes
hinaufgesetzt hat (vgl. M.C. DE BOER, Ten Thousand Talents? Matthew’s Interpretation and Redaction of the Parable of the Unforgiving Servant [Matt 18:23-35], CBQ 50 [1988], 214– 232).
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Handeln gegenüber dem Mitknecht aus sich heraussetzt, wird in 6,12.14f umgekehrt Gottes Vergebung davon abhängig gemacht, wie sich jemand seinem Mitmenschen gegenüber verhalten hat. Ein logischer Widerspruch zwischen den Texten ist daraus aber nicht abzuleiten. In 18,23–35 nimmt der König den gewährten Schuldenerlass wieder zurück, nachdem der Knecht sich selbst als unbarmherzig erwiesen hat, und umgekehrt schließt 6,12.14f das in 18,23–27 vorgebrachte Moment der zuvorkommenden Gnade Gottes nicht aus. Es ergibt sich also in der Zusammenschau der Texte eine mehrdimensionale Verknüpfung von göttlicher Vergebung und zwischenmenschlichem Vergebungshandeln. Der eingangs vorgebrachte Verweis darauf, dass in der vorwurfsvollen Frage des Königs in V.33: „Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?“ theologisch „die imitatio Dei im Hintergrund“15 steht, kann nun auf der Basis der vorangehenden Ausführungen präzisiert werden. Denn das Mimesismotiv findet hier insofern noch eine Zuspitzung, als es nicht bloß allgemein darum geht, mit den Mitmenschen barmherzig zu sein, wie Gott mit den Mitmenschen barmherzig ist (vgl. Lk 6,36)16, sondern darum, das Erbarmen, das man selbst von Gott empfangen hat, analog auch anderen gegenüber walten zu lassen. Zudem übersteigt im Gleichnis das Maß des Erbarmens, das der Knecht empfangen hat, eben bei weitem das Maß der Barmherzigkeit, um das er gebeten wurde. Auf die Frage des Petrus in 18,21 rückbezogen folgt aus dem Gleichnis in V.23–35, dass die Frage, wie oft dem Mitmenschen zu vergeben ist, aus dem Blickwinkel der eigenen Situation coram Deo zu betrachten ist. Daraus folgt dann, dass die Verweigerung zwischenmenschlicher Vergebung stets so absurd wäre, wie das Verhalten des Knechtes gegenüber seinem Mitknecht in dem Gleichnis als eine groteske Hartherzigkeit erscheint. Das Verhältnis der Schuldsummen in den beiden Szenen in V.23–27.28–30 insinuiert dabei, dass das, was ein Mensch bei einem anderen an Schuld einzutreiben hätte, gegenüber dem, was er selbst bei Gott an Schuld(en) aufgehäuft hat, (im Regelfall) geradezu eine Quantité négligeable ist. Positiv gewendet: Aus der Erkenntnis der eigenen Bedürftigkeit coram Deo erwächst Matthäus zufolge organisch als zwischenmenschliches Handlungsprinzip, das Verhalten gegenüber dem anderen nicht am eigenen Recht, sondern an dessen Bedürftigkeit auszurichten. Es 15
LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 5), 73. Zum auf die Barmherzigkeit bezogenen Motiv der imitatio Dei s. z.B. EpArist 208; bShab 133b; jBer 5,9c; MekhEx zu 15,2; Sifre Dtn § 49 zu 11,22; TPsJ zu Lev 22,28. – Zur vorrabbinischen Literatur vgl. M. WITTE, Begründungen der Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen in jüdischen Weisheitsschriften aus hellenistisch-römischer Zeit, in: Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament – Wechselseitige Wahrnehmungen. Internationales Symposium in Verbindung mit dem Projekt Corpus JudaeoHellenisticum Novi Testamenti (CJHNT), 17.–20. Mai 2012, Heidelberg, hg. v. M. Konradt – E. Schläpfer, WUNT 322, Tübingen 2014, 387–412: 397f. 16
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kommt also grundlegend darauf an, die eigene Angewiesenheit auf Gottes Barmherzigkeit nicht zu verdrängen, sondern dieser gewahr zu sein. Gleichwohl ist die Größe der hier formulierten ethischen Herausforderung nicht zu übersehen. Petrus spitzt die Thematik gegenüber V.15 auf den Fall eines persönlich vom Gegenüber erlittenen Unrechts zu.17 Bei der von Petrus aufgeworfenen Frage geht es also des Näheren darum, dem anderen trotz des persönlich von ihm erlittenen Unrechts barmherzig entgegenzukommen und das Verhalten unter Absehung von eigenen ‚Befindlichkeiten‘, die durch das Fehlverhalten des anderen verursacht sind, an seiner Bedürftigkeit auszurichten. Sobald sich der Blick auf die in Frage stehende zwischenmenschliche Beziehung verengt, drängt sich die Frage nach der zumutbaren Quantität wiederholter Vergebung geradezu auf, denn es erschiene als geradezu ‚natürlich‘, wenn die Bereitschaft, ein und demselben Menschen immer wieder zu vergeben, mit jedem Mal mehr erlahmt. Durch die Einbeziehung der eigenen Situation Gott gegenüber verändert sich aber die Konstellation – so wie im Gleichnis das Verhalten des Knechtes gegenüber seinem Mitknecht nicht schon für sich genommen, sondern erst im Lichte der vorangehenden Szene als völlig absurd erscheint. Die Angewiesenheit des Menschen auf Gottes Barmherzigkeit ist in anderer Weise auch in der Seligpreisung in Mt 5,7 vorausgesetzt. Die begründenden Nachsätze in der Makarismenreihe blicken durchgehend auf das eschatologische Heil. Die matthäische Tendenz zur Ethisierung der Makarismenreihe in den Vordersätzen18 fügt sich dabei nahtlos der Bedeutung ein, die der Evangelist insgesamt dem menschlichen Handeln für den Ausgang des Endgerichts einräumt.19 Wenn aber in 5,7 davon die Rede ist, dass die Barmherzigen (im Gericht) Barmherzigkeit erfahren werden, und die Hervorhebung der Entsprechung von Tun und Ergehen in V.7 mehr als ein bloßes Sprachspiel ist, dann ist hier impliziert, dass auch ‚die Gerechten‘ erst dadurch vor Gott bestehen können, dass Gott diejenigen, die sein Reich und seine Gerechtigkeit suchen (6,33), barmherzig ansieht.20 17 In V.15a gebührt m.E. der Textvariante ohne İੁȢ ı textkritisch der Vorrang (zur Begründung s. in diesem Band den Beitrag „‚Whoever humbles himself like this child …‘. The Ethical Instruction in Matthew’s Community Discourse [Matt 18] and its Narrative Setting“, Anm. 51). Es wird hier also zunächst allgemein der Fall verhandelt, dass ein Gemeindeglied sündigt (nicht: „wenn jemand gegen dich sündigt“). Erst V.21 spitzt das Thema auf den Fall des persönlich erlittenen Unrechts zu. 18 Zur ethisierenden Tendenz in Mt 5,3–10 s. exemplarisch LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 2), 276–290. 19 Siehe exemplarisch 7,21–27 oder 16,27. 20 Vgl. H.D. BETZ, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3–7:27 and Luke 6:20–49), Hermeneia, Minneapolis (MN) 1995, 134, dem zufolge hier die Einsicht zum Ausdruck kommt, „that no matter how many deeds of mercy they may have done those who appear before God’s throne will need mercy.“ – Instruktiv ist an dieser Stelle ein Vergleich mit dem
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Zieht man 5,7 und 18,23–35 zusammen, so erscheint das Leben der Jesusnachfolger als von Gottes Barmherzigkeit umschlossen. Soll nach 18,23–35 die Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes eigenes barmherziges Verhalten aus sich heraussetzen, so gilt Gottes Erbarmen in 5,7 eben jenen, die Barmherzigkeit geübt haben. Die Jünger kommen also von Gottes Barmherzigkeit her, der ihnen ihre Schulden erlassen hat und fortwährend erlässt (6,12), und sie gehen auf Gottes endgerichtliches Erbarmen zu. Man kann hier, kurz gesagt, von einem Kreislauf der Barmherzigkeit sprechen, der bei Gott seinen Anfang nimmt und auf Gott wieder zuläuft, der aber unterbrochen wird und abbricht, wenn der Mensch sich von der Erfahrung der ihm zuteilgewordenen und zuteilwerdenden Barmherzigkeit in seinem eigenen Handeln nicht grundlegend bestimmen lässt. Letzteres wird in Mt 18 in der Schlussszene des Gleichnisses in V.31–34 in drastischer Form vor Augen gestellt. Mit seiner eigenen Unbarmherzigkeit verwirkt der Knecht den ihm zuvor zugesprochenen Schuldenerlass. Sein Herr misst ihn nun „mit dem Maß […], mit dem er selbst gemessen hat (vgl. 7,1b)“21 und übergibt ihn „den Folterern, bis er alles Geschuldete zurückgezahlt hätte“ (V.34) – wie der Knecht zuvor seinen Mitknecht ins Gefängnis geworfen hat, „bis er das Geschuldete zurückgezahlt hätte“ (V.30).
Jakobusbrief, dem ähnlich wie dem Matthäusevangelium der – unzutreffende – Vorwurf der Werkgerechtigkeit gemacht wurde. Denn auch Jakobus klagt zwar wie Matthäus die Bedeutung des Handelns für das eschatologische Ergehen ein (Jak 1,22–25; 2,12.14–26, vgl. Mt 7,13–27; 16,27; 25,31–46 u.ö.), doch spricht auch Jakobus in diesem Zusammenhang vom Erbarmen Gottes. Jak 2,13 bietet zunächst ein negatives Pendant zu Mt 5,7: Wenn Menschen sich unbarmherzig verhalten haben, werden sie selbst im Gericht nicht auf Barmherzigkeit hoffen dürfen. Darin ist allerdings vorausgesetzt, dass der Richter barmherzig ist, wenn Menschen Barmherzigkeitstaten aufzuweisen haben. Der Schlusssatz in Jak 2,13 (țĮIJĮțĮȣȤ઼IJĮȚ ȜİȠȢ țȡıİȦȢ) dürfte denn auch in ebendiesem Sinn zu verstehen sein. Einzubeziehen ist sodann Jak 5,11: Das gute Ende, das Gott Hiob bereitet hat, wird nicht etwa monoperspektivisch an Hiobs Standhaftigkeit festgemacht, sondern Jakobus verweist darauf, dass „der Herr voll Mitleid und barmherzig ist (ʌȠȜıʌȜĮȖȤȞંȢ ਥıIJȚȞ țȡȚȠȢ țĮ ȠੁțIJȡȝȦȞ)“ (vgl. dazu M. KONRADT, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief. Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, StUNT 22, Göttingen 1998, 297). Alttestamentlich sei exemplarisch auf Ps 129LXX verwiesen: Die Rede von Gottes ȜİȠȢ in V.7 steht hier im Zusammenhang mit der Erkenntnis, dass niemand vor Gott bestehen könnte, wenn Gott nicht über Gesetzlosigkeiten der Menschen hinwegsehen würde (V.3). – Dass der Barmherzige Barmherzigkeit erfährt, ist im Übrigen eine im biblischen Traditionsraum durchaus geläufige Aussage. Siehe z.B. Prov 17,5LXX ( į ਥʌȚıʌȜĮȖȤȞȚȗંȝİȞȠȢ ਥȜİȘșıİIJĮȚ); TestSeb 5,3; 8,1–3 (8,1: … ȤİIJİ İıʌȜĮȖȤȞĮȞ țĮIJ ʌĮȞIJઁȢ ਕȞșȡઆʌȠȣ ਥȞ ਥȜİȚ, ȞĮ țĮ țȡȚȠȢ İੁȢ ਫ਼ȝ઼Ȣ ıʌȜĮȖȤȞȚıșİȢ ਥȜİıૉ ਫ਼ȝ઼Ȣ); bShab 151b; Sifre Dtn § 96 zu 13,18, ferner 1Klem 13,2; Polyk, Phil 2,3. In negativer Wendung (der Menschen, die kein Erbarmen zeigen, erbarmt sich Gott nicht) z.B. TestAbr B 10,4f; GenR zu 8,7. 21 LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 5), 72.
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Inhaltlich ist das Erbarmen Gottes in Mt 5,7 wie in 18,23–35 auf das Thema der Vergebung der Sünden bezogen.22 Die Bedürftigkeit des Menschen in seiner Beziehung zu Gott besteht darin, dass er als Sünder auf Gottes Erbarmen angewiesen ist. Andere Formen von Bedürftigkeit und Barmherzigkeit werden im Rahmen der Mensch-Gott-Relation im Matthäusevangelium nicht ausdrücklich thematisiert. 1.2 Mitleid und Erbarmen Jesu Die meisten Belege der eingangs genannten Lexeme stehen direkt oder indirekt mit der Darstellung des Wirkens Jesu in Zusammenhang. Der zur GottMensch-Relation vermerkte Bezug auf das Verhalten gegenüber dem Sünder ist auch hier von prominenter Bedeutung, stellt aber, wie im Folgenden deutlich werden wird, nicht das exklusive Applikationsfeld dar. 1.2.1 Die barmherzige Zuwendung Jesu zu den Sündern in Mt 9,9–13 Die Rettung der Menschen von ihren Sünden wird von Matthäus schon in 1,21 durch die Deutung des Namens „Jesus“ als „das Zentrum der Sendung Jesu“23 etabliert. Findet die in 1,21 eingeführte Aufgabe Jesu ihre finale Realisierung durch seinen – soteriologisch gedeuteten – Tod (26,28), so prägt sie zugleich auch sein irdisches Wirken: Jesus ist die Vollmacht gegeben, Menschen ihre Sünden zu vergeben (9,2–8), und er scheut nicht die Gemeinschaft mit Sündern, da er gekommen ist, die Sünder zu rufen (9,9–13). Mit Recht ist angemerkt worden, dass 9,9–13 die Thematik von 9,2–8 in variierender Weise fortsetzt. In der Berufung des Zöllners Matthäus (V.9) ist die Vergebung seiner Sünden impliziert24, und auch die sich in V.10 anschließende Tischgemeinschaft Jesu mit „vielen Zöllnern und Sündern“ illustriert, dass Jesus Menschen nicht auf ihre sündhafte Vergangenheit festlegt, sondern sie bei ihm die Vergebung ihrer Sünden empfangen können.25
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Vgl. z.B. Num 14,19; Jes 55,7; Jona 4,2; Ps 50,3LXX; Neh 9,17; SapSal 11,23; Sir 5,6; Bar 3,2; TestIss 6,3f; TestSeb 9,7; JosAs 11,10; 12,15. 23 U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 4: Mt 26–28, EKK I.4, Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 116. 24 Vgl. C. LANDMESSER, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott. Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluß an Mt 9,9–13, WUNT 133, Tübingen 2001, 76. 25 Nach M. GIELEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, BBB 115, Bodenheim 1998, 95 besitzt die von Jesus gewährte Tischgemeinschaft sogar „einen ähnlich sündenvergebenden Charakter […] wie das Wort, das er in 9,2c zu dem Gelähmten gesprochen hat.“ Vgl. auch LANDMESSER, Jüngerberufung (s. Anm. 24), 91f; J.A. SEEANNER, Die Barmherzigkeit (ȜİȠȢ) im Matthäusevangelium. Rettende Vergebung, Kleinhain 2009, 64.
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Der wichtigste Akzent, den Matthäus in 9,10–13 im Vergleich zur markinischen Version gesetzt hat, ist die Einfügung des Zitats von Hos 6,6 in der Antwort Jesu auf die vorwurfsvolle Frage der Pharisäer, warum er mit Zöllnern und Sündern speise. Jesu Replik vollzieht sich damit bei Matthäus in drei Schritten. Im ersten Schritt stellt Jesus der in der Frage der Pharisäer sich artikulierenden Ausgrenzungsmentalität der (vermeintlich) Gerechten, die die Zöllner allein nach ihrem bisherigen ungerechten Handeln bewerten, mit dem Bildwort vom Kranken und vom Arzt eine Interpretation der Situation entgegen, nach der die Zöllner und Sünder als Menschen zu sehen sind, die der Zuwendung bedürfen, so wie eben ein Kranker eines Arztes bedarf. Diese Interpretation ist eine zumindest einseitige, wenn nicht kühne Deutung der Situation. Die Verantwortung der Zöllner für das von ihnen begangene Unrecht tritt hinter dem Aspekt zurück, dass sie sich, recht betrachtet, in einer Notlage befinden. Jesus setzt auf die verändernde, ansteckende Kraft der von ihm gewährten Gemeinschaft und hofft darauf, dass sein Gegenüber sich vom Arzt heilen lassen will, d.h., ohne Bild gesprochen, die Möglichkeit ergreift, sein Leben zu verändern. Im zweiten, Matthäus eigentümlichen Schritt verknüpft Jesus sein Verhalten dann mit dem Prophetenwort von Hos 6,6. Dabei verdient Beachtung, dass auch im Hos 6,6 vorangehenden Kontext in der Schilderung der Konsequenzen von Gottes Gerichtshandeln Krankheitsmetaphorik begegnet (5,12f). 6,1–3 schildert die oberflächliche Umkehr des Volkes, die mit der Erwartung einhergeht, von Gott geheilt zu werden (V.2), doch erweist sich dies als Irrtum. Schon in V.4 ist hier vom ȜİȠȢ (MT: ʣ ʓʱ ʓʧ) von Ephraim und Juda die Rede, das so flüchtig und vergänglich ist „wie eine Wolke am Morgen und wie der Tau der Morgenfrühe, der dahingeht“. Insbesondere ist es mit der Darbringung von Opfern nicht getan. Gott verlangt vielmehr einen echten und dauerhaften Erweis von ʣ ʓʱ ʓʧ/ȜİȠȢ. „Denn ich will ȜİȠȢ (MT: ʣ ʓʱ ʓʧ) und nicht26 Opfer, Gotteserkenntnis eher als Rauchopfer.“ Matthäus’ Verwendung des Zitats knüpft an eine Sinnverschiebung in der LXX gegenüber dem Masoretischen Text an. Denn im hebräischen Text bezeichnet ʣ ʓʱ ʓʧ „in erster Linie das Bundesund Treueverhältnis zu Jahwe“27, so dass mit „Bundessinn“ übersetzt werden kann.28 Die griechische Übersetzung mit ȜİȠȢ ermöglicht es Matthäus, das geforderte Verhalten auf den zwischenmenschlichen Bereich zu fokussieren.29
Matthäus’ țĮ Ƞ im Zitat von Hos 6,6 entspricht LXX A (= MT), während LXX B analog zur zweiten Vershälfte ȜİȠȢ șȜȦ ਲ਼ Ƞ șȣıĮȞ bietet. 27 H.W. WOLFF, Dodekapropheton 1: Hosea, BKAT 14.1, Neukirchen-Vluyn 21965, 153. 28 WOLFF, Hosea (s. Anm. 27), 132. 29 Ebenso z.B. J. NOLLAND, The Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids (MI) – Cambridge (UK) – Bletchley 2005, 387: „In Hosea the Hebrew term is likely to have meant wholehearted covenant loyalty to God, but the move to Greek here shifts the emphasis clearly to human interaction […] Covenant loyalty to God is not at 26
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Eine Sinnverschiebung ergibt sich aber auch durch die Figurenkonstellation, da Jesus zum einen der Arzt ist, der zu heilen vermag, und darin die Rolle übernimmt, die in Hos 5,12–6,3 Gott zukommt, zum anderen aber auch – als der ideale Israelit, als der aus Ägypten gerufene Gottessohn (2,15), der sich in der Wüste in den Versuchungen bewährt hat (4,1–11)30 – derjenige ist, der die von Gott geforderte Barmherzigkeit praktiziert, die zur Erneuerung des daniederliegenden, geplagten Volkes (9,36) nötig ist. Die Pharisäer hingegen disqualifizieren sich mit ihrer Verweigerung der Barmherzigkeit gegenüber Sündern als Autoritäten des Volkes. Sie bleiben damit zugleich hinter Gottes Willen zurück und demonstrieren, dass sie – entgegen ihrer Selbsteinschätzung – keineswegs zu den Gerechten zu zählen sind; vielmehr schließen sie sich selbst aus der mit Jesu messianischem Wirken inaugurierten Erneuerung des Gottesvolkes aus. Im dritten Schritt appliziert Jesus das Voranstehende direkt auf seine Aufgabe. Nach 5,17 ist 9,13b das zweite Logion, in dem Jesus den Sinn seines Gekommenseins entfaltet. Die beiden Aussagen gehören für Matthäus sachlich aufs Engste zusammen. Zur Erfüllung von Tora und Propheten gehört eine Lebenspraxis, die sich im Sinne von Hos 6,6 an der Zentralität der Barmherzigkeitsforderung orientiert. Die Zuwendung zu den Sündern ist also für Matthäus alles andere als gelebte Torakritik, sondern gerade Erfüllung des in Tora und Propheten zum Ausdruck kommenden Gotteswillens. Zu bedenken ist dabei auch, dass Hos 6,6 nicht bloß den Anspruch formuliert, den Gott an Menschen stellt und der von Jesus in idealer Weise realisiert wird, sondern dass Matthäus in Jesus als dem Messias das Medium des Handelns Gottes sieht, Jesu Lebenspraxis also eine Manifestation von Gottes eigener Barmherzigkeit ist.31 Dass Jesus gekommen ist, um die Sünder zu rufen, ist gleichbedeutend damit, dass er von Gott dazu gesandt wurde (vgl. 15,24). Zu lernen, was das Prophetenwort bedeutet, heißt daher zu erkennen, dass Jesus als Medium des barmherzigen Gottes mit seiner Zuwendung zu den Sündern die Barmherzigkeit realisiert und all what springs to mind in the Matthean context“. Hingegen bestimmt LANDMESSER, Jüngerberufung (s. Anm. 27), 121–129 die Bedeutung von ȜİȠȢ in Mt 9,13 aus dem Kontext von Hos 6,6MT und postuliert, dass ȜİȠȢ in Mt 9,13 umfassend die Zuwendung zu Gott meine. Siehe auch D. HILL, On the Use and Meaning of Hosea VI. 6 in Matthew’s Gospel, NTS 24 (1978), 107–119: 110 („Jesus is made to affirm that in man’s relationship to God, what is desired is not sacrifice […] but the compassionate attitude and merciful action which give concrete expression to one’s faithful adherence to and love for God.“) sowie W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 2, ICC, Edinburgh 1991, 105. 30 Zur Israeltypologie in der Darstellung Jesu vgl. W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1, ICC, Edinburgh 1988, 263f.352–374 und J. KENNEDY, The Recapitulation of Israel. Use of Israel’s History in Matthew 1:1–4:11, WUNT II.257, Tübingen 2008. 31 Treffend NOLLAND, The Gospel of Matthew (s. Anm. 29), 387: „It is the compassion of God which comes to expression in Jesus’ ‘medical’ work.“
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verkörpert, an der Gott Wohlgefallen hat. Jesu Verhalten wird also nicht bloß als mit dem Prophetenwort in Übereinstimmung stehend dargelegt und insofern gerechtfertigt32, sondern an Jesu Zuwendung zu den Sündern wird allererst vollgültig ansichtig, was jenes meint: Barmherzigkeit bedeutet, die Sünder nicht auf ihr bisheriges Tun festzulegen, sondern sich ihrer anzunehmen, um sie in ein neues Leben zu führen. Nur wenn man diesen Sinnzusammenhang beachtet, wird auch die matthäische Einfügung der Partikel Ȗȡ in V.13 hinreichend verständlich, mit der Matthäus V.13b an das Vorangehende angeschlossen hat. Im dargelegten Verständnis entspricht 9,13 zugleich auch der Rede von der Erfüllung von Tora und Propheten in 5,17. Denn in 5,17 geht es ebenfalls nicht bloß darum auszuweisen, dass Jesus selbst sich torakonform verhalten hat; vielmehr schwingt hier für Matthäus mit, dass allererst Jesus den in Tora und Propheten zum Ausdruck kommenden Gotteswillen durch seine Lehre vollgültig ans Licht gebracht und durch seine Lebenspraxis vorgelebt hat.33 1.2.2 Die Barmherzigkeit Jesu gegenüber Hungernden und Kranken Verstärkt die Applikation von Hos 6,6 in Mt 9,9–13 die bereits zur GottMensch-Relation beobachtete Rede von Barmherzigkeit im Blick auf die Zuwendung zu Sündern, so fügt die zweite Aufnahme des Prophetenwortes in 12,7 eine andere thematische Facette hinzu. Wieder befindet Jesus sich in einer Kontroverse mit den Pharisäern, doch geht es nun darum, dass Jesus das Verhalten seiner Jünger verteidigt, die aufgrund ihres Hungers beim Gang durch die Saaten Ähren gerupft (V.1) und damit gegen das Arbeitsverbot am Sabbat verstoßen haben. Neben dem auch in Mk 2,25f begegnenden Verweis auf den analogen Fall bei David (V.3f, vgl. 1Sam 21,1–7) bietet Matthäus in V.5–7 noch ein von ihm eingefügtes halachisches Argument Jesu, das mit dem in Matthäus’ Gesetzeshermeneutik zentralen Prinzip einer Gebotshierarchie34 operiert: Das Sabbatgebot wird im Fall der diensthabenden Priester durch das Gebot, dass auch am Sabbat Opfer darzubringen sind (Num 28,9f), verdrängt. Nach dem Prophetenwort Hos 6,6 geht die Bedeutung der Barmherzigkeit aber über die der Opfer weit hinaus. Wenn also schon das Opfer im Tempel den Sabbat verdrängt, dann ist eine Übertretung des Sabbats erst recht legitim, 32 So wird in der Regel gedeutet. Siehe exemplarisch E. OTTENHEIJM, The Shared Meal – a Therapeutical Device. The Function and Meaning of Hos 6:6 in Matt 9:10-13, NT 53 (2011), 1–21: 16: „the citation offers a scriptural legitimation for his [sc. Jesus’, M.K.] behaviour“. 33 Zur Interpretation von Mt 5,17 vgl. in diesem Band den Beitrag „Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“, 290–292. Zum Zusammenhang von 9,13 und 5,17 s. auch SEEANNER, Barmherzigkeit (s. Anm. 25), 126f. 34 Siehe dazu in diesem Band den Beitrag „Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium“, 292–294.305f.309.
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wenn die Forderung einer strikten Befolgung der Sabbatgebote Unbarmherzigkeit gegen Menschen nach sich zöge. Da die hungernden Jünger in einer Notlage sind, ist ihnen, wenn im Sinne von Hos 6,6 die Barmherzigkeit als Leitkriterium fungiert, das Rupfen der Ähren also nicht zu verwehren.35 Entsprechend lässt Jesus, der der „Herr über den Sabbat“ ist (Mt 12,8), seine Jünger gewähren. Wird mit dem Bezug des erneuten Rekurses auf Hos 6,6 auf den Hunger der Jünger deutlich, dass das Erbarmen Jesu nicht nur dem Sünder, sondern auch dem Menschen in seinen physischen Notlagen gilt, so wird Letzteres in noch einmal anderer Hinsicht durch das von Matthäus signifikant ausgebaute Vorkommen der an Jesus herangetragenen Bitten um Erbarmen unterstrichen, die sämtlich im Kontext von Krankenheilungen verortet sind. In der Markusvorlage hat Matthäus den Ruf nach Erbarmen, wie eingangs angesprochen, nur in 10,47.48 vorgefunden. Er hat nicht nur diese Belege übernommen (Mt 20,30.31), sondern den Erbarmensruf auch in der von ihm geschaffenen freien Dublette zur Blindenheilung bei Jericho (20,29–34) in 9,27–31 aufgegriffen (9,27). In beiden Texten ist die Bitte um Erbarmen mit der Anrufung Jesu als Sohn Davids verbunden. Diesen Zusammenhang hat Matthäus ferner in seiner Version der Begegnung zwischen Jesus und einer für ihre kranke Tochter bittenden Kanaanäerin eingefügt (15,22). Allein in 17,15 begegnet die Bitte um Erbarmen ohne Verknüpfung mit der Anrufung Jesu als des davidischen Messias.36 Dabei ist zu beachten, dass Matthäus die davidische Messianität Jesu zu einem Leitmotiv seiner Präsentation des irdischen Wirkens Jesu ausgebaut hat: Jesus ist der davidisch-messianische Hirte Israels (2,6; 15,24), mit dessen Sendung zu Israel Gott die seinem Volk gegebenen Verheißungen erfüllt.37 Indem Matthäus, inspiriert durch Mk 10,47.48, das
35 Im Zusammenhang mit 11,28–30 betrachtet illustriert Jesu Sabbatverständnis (12,3– 8), das die Praxis seiner Jünger (V.1) bestimmt, dass sein Joch sanft ist. Vgl. A.J. MAYERHAAS, „Geschenk aus Gottes Schatzkammer“ (bSchab 10b). Jesus und der Sabbat im Spiegel der neutestamentlichen Schriften, NTA NF 43, Münster 2003, 430.438. 36 Das Fehlen der Anrede Jesu als Sohn Davids in 17,15 lässt sich als eine gezielte Variation des Evangelisten verständlich machen. Das Motiv der Davidsohnschaft Jesu ist im Matthäusevangelium mit seinem irdischen Wirken verbunden. Im Gefolge der Verklärungsszene in 17,1–13, in der drei Jüngern eine proleptische Schau der Auferstehungsherrlichkeit des Gottessohns gewährt wird, verhandelt 17,14–20 hingegen die Situation der Jünger angesichts der irdischen Abwesenheit Jesu. Die Jünger hätten in der Lage sein müssen, den „mondsüchtigen“ Jungen zu heilen, denn sie sind von Jesus nach 9,36–10,8 dazu eingesetzt und befähigt worden, seine erbarmungsvolle Zuwendung zu den Kranken fortzuführen, doch scheitern sie aufgrund ihres Kleinglaubens (17,20). 37 Ausführlich dazu M. KONRADT, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 18–52. Spezifisch zur Bedeutung der Anrufung Jesu als „Sohn Davids“ durch die Kanaanäerin in 15,22 s. a.a.O., 68.294.399f. Zum messianischen Davidsohn als Heiler im Matthäusevangelium s. ferner L. NOVAKOVIC, Messiah, the Healer of the
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heilende Handeln des davidischen Messias eng mit dem Motiv des Erbarmens verknüpft, tritt die Barmherzigkeit selbst als ein Hauptmotiv des Wirkens Jesu hervor. Beachtet man zudem intertextuell, dass der Bittruf ਥȜȘıȠȞ Gebetssprache der Psalmen aufnimmt, in denen die Bitten an Gott gerichtet sind38, so erscheint Jesus hier, indem der Bittruf an ihn als den Sohn Davids und Kyrios39 adressiert wird, als Medium der Barmherzigkeit Gottes: Mit dem Kommen Jesu erbarmt Gott sich seines Volkes, die Heilungen sind – neben der Vergebung von Sünden – wesentlicher Ausdruck dieser barmherzigen Zuwendung Gottes zu seinem Volk. Die Relevanz dieses Aspektes wird dadurch unterstrichen, dass Jesu heilendes Handeln für Matthäus insgesamt von zentraler Bedeutung ist, um das Heil, das den Menschen durch Jesu Wirken widerfährt, darzustellen. Neben den einzelnen Heilungsgeschichten verweist Matthäus immer wieder in Summarien auf Jesu umfassendes heilendes Wirken (4,23f; 12,15; 14,14 u.ö.40). Das Erbarmensmotiv ist auch an diesen Stellen mitzuhören: Wenn die Menschen ihre Kranken zu Jesus bringen und er sie alle41 heilt, ist dies Ausdruck seines Erbarmens.42 Vor diesem Hintergrund ist ferner auch noch einmal auf die Zitation Sick. A Study of Jesus as the Son of David in the Gospel of Matthew, WUNT II.170, Tübingen 2003. 38 Siehe Ps 6,3; 9,14; 24,16LXX; 25,11LXX; 26,7LXX; 29,11LXX; 30,10LXX; 40,5.11LXX; 50,3LXX u.ö. 39 Siehe Mt 15,22; 17,15; 20,30.31. 40 Im Einzelnen: In 4,23 und 9,35 wird Jesu Wirken summarisch durch Lehren, Verkündigen des Evangeliums vom Reich und Heilen aller Krankheiten und Gebrechen umschrieben. Bevor Matthäus mit der Bergpredigt die Lehre Jesu entfaltet, verstärkt er zudem in 4,24 zunächst einmal den Verweis auf Jesu heilendes Wirken. Weitere Summarien sind ganz auf das Heilen konzentriert (8,16; 12,15; 14,14.35f; 15,30; 19,2; 21,14; hingegen verweist Matthäus in 11,1 auf Jesu Lehren und Verkündigen); gleich zweimal wird dabei ein markinischer Verweis auf Jesu Lehre durch eine Notiz über sein heilendes Wirken im Volk ersetzt (Mt 14,14 par Mk 6,34; Mt 19,2 par Mk 10,1, zur redaktionellen Betonung der Heilungen als Ausdruck der Zuwendung Jesu zu den Volksmengen vgl. J.R.C. COUSLAND, The Crowds in the Gospel of Matthew, NT.S 102, Leiden – Boston – Köln 2002, 108–117). 41 Matthäus spricht mehrfach betont davon, dass Jesus alle heilte (s. Mt 8,16: ... țĮ ʌޠȞIJĮȢ IJȠઃȢ țĮțȢ ȤȠȞIJĮȢ ਥșİȡʌİȣıİȞ [diff. Mk 1,34: țĮ ਥșİȡʌİȣıİȞ ʌȠȜȜȠީȢ țĮțȢ ȤȠȞIJĮȢ ʌȠȚțȜĮȚȢ ȞંıȠȚȢ]; Mt 12,15: țĮ ਥșİȡʌİȣıİȞ ĮIJȠઃȢ ʌޠȞIJĮȢ [diff. Mk 3,10: ʌȠȜȜȠީȢ Ȗȡ ਥșİȡʌİȣıİȞ] sowie ferner șİȡĮʌİȦȞ ʌߢıĮȞ ȞંıȠȞ țĮ ʌߢıĮȞ ȝĮȜĮțĮȞ in 4,23; 9,35). 42 Das erste Vorkommen der Bitte um Erbarmen (9,27) begegnet notabene erst, nachdem Jesus selbst sein Wirken über die Zitation von Hos 6,6 als Manifestation der von Gott geforderten Barmherzigkeit zu verstehen gegeben hat. Ob dies kompositorisch beabsichtigt ist oder nicht, lässt sich aber kaum sicher entscheiden. Man kann allenfalls darauf verweisen, dass Matthäus Belege in markinischen Texten, deren matthäische Parallelen vor Mt 9,9–13 stehen, nicht übernommen hat. Das gilt zum einen für die markinische Verwendung von ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ in der Erzählung von der Heilung eines Aussätzigen (Mk 1,41), deren Parallele in Mt 8,1–4 zu finden ist (das markinische ıʌȜĮȖȤȞȚıșİȢ fehlt im Übrigen auch in
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von Hos 6,6 in Mt 12,7 zurückzukommen. Matthäus hat die beiden Sabbatepisoden in 12,1–8.9–14 durch die Neugestaltung der Überleitung in V.9 zu einem direkten Geschehenszusammenhang miteinander verbunden. Auch in der zweiten Episode geht es in der matthäischen Fassung wieder um die Frage, was am Sabbat zu tun erlaubt ist (V.10, vgl. V.2). Die Replik des matthäischen Jesus kulminiert in der Formulierung eines programmatischen Grundsatzes: „Es ist erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun“ (V.12). Im Kontext von 12,1–8 betrachtet wird damit die dortige Herausstellung der Barmherzigkeit als Leitprinzip aufgenommen und weitergeführt. Das Gute aber ist in 12,9–14 eben, dass Jesus sich eines Mannes mit einer „verdorrten“ Hand erbarmt und ihn heilt.43 1.2.3 Das ıʌȜĮȖȤȞަȗİıșĮȚ Jesu Zieht man die auf Jesus bezogenen Belege von ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ hinzu, wird der dargelegte Befund weiter untermauert. In 9,36 verankert Matthäus die Sendung der Jünger zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6) im Mitleid Jesu mit den Volksmengen, „denn sie waren geplagt und daniederliegend wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (9,36). Matthäus hat hier mit Mk 6,34 einen Vers aus der markinischen Erzählung von der Speisung der 5000 vorgezogen, doch bringt er das Motiv des ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ erneut auch an der zu Mk 6,34 parallelen Stelle in 14,14, was die Bedeutung des Motivs für den ersten Evangelisten exemplarisch deutlich macht. Im Kontext betrachtet ist das Sehen der Volksmengen, das nach 9,36 Jesu Mitleid hervorruft, im Sinne der Eindrücke zu verstehen, die Jesus zuvor gewonnen hat: Durch sein Wirken in allen Städten und Dörfern (9,36) sah er das ganze Ausmaß der Not des Volkes, die in 9,36 durch die Einfügung der beiden Partizipien ਥıțȣȜȝȞȠȚ und ਥȡȡȚȝȝȞȠȚ noch über das aus Mk 6,34 übernommene Motiv des Fehlens eines Hirten44 hinaus betont wird. Die Größe der Aufgabe bildet den Horizont für die Sendung der Jünger, die zuvor das Wirken Jesu in seinen verschiedenen Facetten kennengelernt haben und dieses nun fortsetzen sollen.45 Wie Jesus sollen sie
der lukanischen Parallele in Lk 5,13), zum anderen für den Gebrauch von ਥȜİİȞ in Mk 5,19 in der Erzählung von der Heilung des besessenen Geraseners; hier aber lässt sich die matthäische Auslassung auch dadurch erklären, dass Matthäus den gesamten Passus Mk 5,18– 20 in seiner Parallelversion in Mt 8,28–34 nicht übernommen hat. 43 Vgl. L. LYBÆCK, Matthew’s Use of Hosea 6,6 in the Context of the Sabbath Controversies, in: The Scriptures in the Gospels, hg. v. C. M. Tuckett, BETL 131, Leuven 1997, 491–499: 493f; M. HINKLE, Learning What Righteousness Means: Hosea 6:6 and the Ethic of Mercy in Matthew’s Gospel, Word and World 18 (1998), 355–363: 357. 44 Zu diesem Motiv vgl. Num 27,17; 1Kön 22,17/2Chr 18,16; Jes 13,14; Ez 34,5.8; Sach 10,2; Jdt 11,19. 45 Treffend LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 2), 34: „Die Aussendungsrede in Kap. 10 inauguriert […] gleichsam die ekklesiologische Verlängerung des Wirkens Jesu“.
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die Nähe des Himmelreiches verkündigen (10,7), und wie Jesus sollen sie heilen (10,8), wozu Jesus ihnen zuvor seine Vollmacht über die „unreinen Geister“ übertragen hat (10,1). Wie Jesus Medium des Erbarmens Gottes mit seinem Volk ist, so werden nun die Jünger in den Dienst der barmherzigen Zuwendung gestellt, und dabei spielen wiederum Heilungen eine prominente Rolle. Zugleich birgt die Notlage des Volkes, die Jesu Mitleid erregt, aber auch ein eminent soteriologisches Moment, das auch in der Rede von den „verlorenen Schafen“ (10,6; 15,24) hervortritt, wie 18,14 exemplarisch illustriert: Einem verirrten Schaf ist nachzugehen, damit dieses nicht wieder verloren geht. Die Rede vom ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ Jesu in 9,36 ist also auch in den in 9,13 vorliegenden Sachzusammenhang einzustellen: Es geht darum, sich den Sündern zuzuwenden und die „Verlorenen“ zu retten. Instruktiv für den matthäischen Gestaltungswillen ist sodann auch das zweite Vorkommen von ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ in 14,14: Im Vorfeld der ersten Speisungsgeschichte begründet das Mitleid Jesu mit der Volksmenge bei Matthäus nicht wie in Mk 6,34, dass Jesus anfing zu lehren; vielmehr hat Matthäus die Lehre durch Jesu Heilungen ersetzt (vgl. Mt 19,2 diff. Mk 10,1).46 Diese sind Ausdruck seines Erbarmens. In 15,32 bezieht sich Jesu Mitleid dann im Gefolge von Mk 8,2 auf den Hunger des bei ihm schon drei Tage lang ausharrenden Volkes, d.h. Jesu ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ erscheint hier als Auslöser der nachfolgenden wundersamen Speisung des Volkes. Im Blick auf das Erbarmensmotiv bildet 15,32–39 damit in gewisser Weise eine Analogie zu 12,1–8. Redaktionell eingefügt hat Matthäus die Rede vom ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ Jesu schließlich noch in die Erzählung von der Heilung der beiden Blinden bei Jericho in 20,34, in der zuvor bereits der an Jesus gerichtete Bittruf ਥȜȘıȠȞ ਲȝ઼Ȣ, țȡȚİ, ȣੂઁȢ ǻĮȣį begegnet (20,30.31). Während die Perikope in Mk 10,52 mit dem Zuspruch „dein Glaube hat dich gerettet“ schließt, hat Matthäus das Glaubensmotiv ausgelassen und stattdessen – in Korrespondenz zum vorangehenden Bittruf – noch einmal im Zusammenhang des heilenden Wirkens Jesu sein Mitleid und Erbarmen betont. Festzuhalten ist damit: Vor dem Hintergrund der desolaten Lage des geplagten Volkes stellt Matthäus Mitleid und Erbarmen als wesentliche Signaturen der Sendung und des Wirkens Jesu heraus. Jesus entspricht mit seiner Zuwendung dem in Hos 6,6 zum Ausdruck kommenden Gotteswillen, denn danach kommt der Barmherzigkeit der Rang eines Leitkriteriums zu, und er weist zugleich im Vollsinn auf, was das Prophetenwort bedeutet. Jesu mitleidvolles Erbarmen manifestiert sich konkret in seinem Umgang mit Sündern (9,13 sowie auch 9,36) und seinem heilenden Handeln (9,27; 14,14; 15,22; 17,15; 20,30.31.34), aber auch Hunger wird als physische Not zum Thema (12,1–8; 15,32–39). Die Barmherzigkeitsthematik ist hier also keineswegs auf die Vergebung von Sünden begrenzt, sondern nimmt den Menschen auch in 46
Vgl. dazu oben Anm. 40.
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seinen physischen Notlagen in den Blick. Gleiches gilt nun auch für die von Menschen untereinander zu praktizierende Barmherzigkeit.
2. Mitleid und Barmherzigkeit als ethisches Leitmotiv im Matthäusevangelium 2.1 Thematische Kontexte des matthäischen Barmherzigkeitsethos 2.1.1 Der barmherzige Umgang mit Sündern Im Voranstehenden ist neben dem Bezug der Vorstellung von der Barmherzigkeit Gottes auf die Vergebung der Sünden insbesondere die zentrale Bedeutung deutlich geworden, die der Zuwendung zu den Sündern im Rahmen der matthäischen Darstellung des mitleidvollen Erbarmens Jesu zukommt. Im Gefolge dieser theologischen und christologischen Aspekte ist der Umgang mit Sündern auch für die ethische Dimension der Barmherzigkeitsthematik von großer Bedeutung. Mit 9,9–13 und 18,21–35 sind dabei zwei – auch in ethischer Hinsicht – einschlägige Texte bereits im Voranstehenden ausführlich zur Sprache gekommen, so dass zu diesen an dieser Stelle ein kurzes Resümee genügt. Einzubeziehen ist aber noch die in Mt 18 vorangehende ethische Unterweisung, in der die Frage des Umgangs mit Sündern, die durch V.33 mit der Barmherzigkeitsthematik verbunden wird, von leitender Bedeutung ist. 47 Ausgelöst durch die verfehlte Frage der Jünger, wer der Größte im Himmelreich sei (V.1), beginnt die Rede über das Gemeinschaftsleben in Mt 18 mit einer durch eine Zeichenhandlung (V.2) unterstrichenen Mahnung zur Selbsterniedrigung (V.3–4). Das in V.1–4 als Basis der gesamten Rede eingeführte Niedrigkeitsethos wird dann im Folgenden konkretisiert48, in V.5 zunächst, in direkter Anknüpfung an die Eingangsszene, durch die Mahnung, ein Kind aufzunehmen, während ab V.6 die hier zu verfolgende Thematik in den Vordergrund tritt. Das in V.1–4 eingeführte Niedrigkeitsethos wird also wesentlich anhand des barmherzigen Umgangs mit Sündern exemplifiziert. In ihrer Nachfolge noch ungefestigten Gemeindegliedern49 darf kein Anstoß bereitet werden (V.6), sie dürfen nicht Verachtung erfahren (V.10), sondern wie ein Hirte ein verirrtes Schaf sucht, ist für sie Sorge zu tragen, damit sie nicht verloren gehen
47 Für eine ausführlichere Analyse von Mt 18 s. in diesem Band auf S. 381–412 den Beitrag “Whoever humbles himself like this child …”. 48 Zur Struktur bzw. Gliederung der Rede in Mt 18 s. M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 282. 49 Zu dieser Deutung der Reden von den „Kleinen“ (ȝȚțȡȠ) in 18,6.10.14 s. in diesem Band den Beitrag “Whoever humbles himself like this child …”, 387–389.
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(V.12–14). Die in V.15–17 folgende Zurechtweisungsregel führt dann im Einzelnen aus, wie die Suche erfolgen soll: Es ist nicht gleich die gemeindliche Öffentlichkeit, sondern das zurechtweisende Gespräch unter vier Augen zu suchen.50 Bleibt dieses erfolglos, ist die ‚poimenische‘ Aufgabe gegenüber dem Sünder damit nicht erledigt; es sind – mit einem sukzessive erweiterten Forum, das der Zurechtweisung Nachdruck verleihen soll – noch zwei weitere Anläufe zu unternehmen (V.16f). Beachtung verdient hier, dass die Mahnung in V.15 auf Lev 19,17, also den ursprünglichen Kontext des Liebesgebots, anspielt und Mt 18,15 im Lichte eben des ursprünglichen Kontextes des Nächstenliebegebots in Lev 19,17f und seiner frühjüdischen Rezeptionsgeschichte, wie sie zum einen durch CD 9,2–8; 1QS 5,24–6,1, zum anderen durch die TestXII (s. z.B. TestGad 6,3–7!) dokumentiert ist51, mithin als Applikation des Liebesgebots zu verstehen ist.52 Kehrt der Sünder um, so wird mit der zwischenmenschlichen Vergebung die Schuld auch vor Gott getilgt (V.18). Ist die Zurechtweisung bis zum Ende erfolglos, so dass der Betreffende aus der Gemeinschaft auszuschließen ist, bleibt der Gemeinde noch das Gebet für den Sünder, worauf V.19, im Kontext gelesen, zu beziehen sein dürfte. Der abschließende Verweis auf das Mit-Sein Jesu mit den auf seinen Namen hin Versammelten in V.20 bringt die christologische Basis der vorangehenden Weisungen zur Geltung: Die Jünger sind auf den Namen dessen hin versammelt, dessen eigene Sendung, wie 1,21 im Rahmen einer Deutung des Namens Jesu vorbringt, darauf zielte, sein Volk von den Sünden zu retten. Die Fortsetzung der Rede in V.22–35 wird, wie gesehen, durch eine Nachfrage von Petrus angestoßen: „Wie oft wird mein Bruder gegen mich sündigen, und ich soll ihm vergeben?“ In Abschnitt 1.1 wurde aufgewiesen, dass das die Rede abschließende Gleichnis in V.23–35 in diesem Zusammenhang dazu dient, deutlich zu machen, dass sich die von Petrus gestellte Frage nicht adäquat im Rahmen einer isolierten Betrachtung der Beziehung zwischen den beiden beteiligten Personen erörtern lässt. Denn das Gleichnis lenkt das Augenmerk darauf, dass der, den ein Mitmensch um Vergebung bittet, zugleich selbst jemand ist, der aus der (ungleich größeren) barmherzigen Vergebung Gottes heraus lebt. Angesichts dessen muss es als ‚unmögliche Möglichkeit‘ erscheinen, seinem Mitmenschen Vergebung zu verweigern. Kurzum: Die an 50 Sir 18,13 illustriert, dass solches ‚pastorales‘ Suchen und Zurechtweisen als Ausdruck der Barmherzigkeit verstanden werden kann: „Das Erbarmen des Menschen (ȜİȠȢ ਕȞșȡઆʌȠȣ) (richtet sich) auf seinen Nächsten, das Erbarmen des Herrn (ȜİȠȢ țȣȡȠȣ) aber auf alles Fleisch; er weist zurecht (ਥȜȖȤȦȞ, vgl. Mt 18,15!) und züchtigt und lehrt und führt zurück wie ein Hirt seine Herde.“ 51 Siehe dazu J.L. KUGEL, On Hidden Hatred and Open Reproach: Early Exegesis of Leviticus 19:17, HTR 80 (1987), 43–61 und in diesem Band den Beitrag “Whoever humbles himself like this child …”, 396–399. 52 Eine mit Mt 18,15 verwandte Applikation des Nächstenliebegebots begegnet im Neuen Testament in Jak 4,11f. Siehe dazu KONRADT, Existenz (s. Anm. 20), 187–192.
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die Jünger ergehende Forderung zur Barmherzigkeit mit Sündern wird theologisch durch eine Reflexion über die eigene Stellung vor Gott fundiert. Dieser theologischen Einbettung der Forderung nach Erbarmen mit dem Sünder steht die christologische Basis von Mt 18 zur Seite, die sich aus der kompositorischen Stellung der Rede erschließt und in der Rede selbst, wie oben ausgeführt, in V.20 zur Geltung kommt: Mt 18 ist Jesu Rede an die Jünger auf dem Weg zur Passion.53 In Jerusalem wird Jesus den Tod auf sich nehmen, er geht den Weg in die Niedrigkeit, damit den „Vielen“ Vergebung der Sünden zuteilwird (20,28; 26,28). Mt 18 liest sich in diesem Horizont betrachtet als ein Stück angewandte Christologie: Das in der Rede entfaltete Ethos der Niedrigkeit (V.1–4), das, wie gesehen, wesentlich anhand des Umgangs mit Sündern illustriert wird, erscheint als ethisches Implikat des Weges, den Jesus selbst in seinem Leiden auf sich genommen hat, um seine Aufgabe zu erfüllen, die Menschen von ihren Sünden zu retten (1,21). Wer sich in seine Nachfolge begibt, ist selbst auf den Weg der Niedrigkeit gewiesen und zum Einsatz für die Sünder verpflichtet. Die Erinnerung an die eigene Stellung coram Deo (18,23–35) schärft dabei ein, dass bei einem nüchternen, realistischen Blick auf die eigene Situation ein anderer Standpunkt als der der Niedrigkeit im Grundsatz gar nicht möglich ist. Dem Gesagten fügt sich schließlich das Beispiel ein, das Jesus seinen Jüngern während seines irdischen Wirkens mit seiner barmherzigen Zuwendung zu den Sündern gegeben hat (9,9–13) und das ein sie verpflichtendes Modell für ihr eigenes Handeln in der Nachfolge darstellt. An der Figur des in 9,9 von Jesus berufenen Zöllners wird dabei deutlich, dass auch hier das in 18,23–35 im Zentrum stehende Moment, selbst Vergebung (durch Gott) empfangen zu haben, mit zu bedenken ist. Denn mit Matthäus (statt Levi, vgl. Mk 2,13) führt der Evangelist einen zum Zwölferkreis gehörenden Jünger an, der in 9,36–11,1 von Jesus ausgesandt wird, um sein Wirken fortzusetzen, wobei, wie gesehen, die Sendung in 9,36 im Erbarmen Jesu mit den Volksmengen festgemacht wird. Paradigmatisch wird hier ansichtig, dass die den Jüngern mit ihrer Aussendung zugewiesene Aufgabe grundlegend dadurch charakterisiert ist, dass sie auch anderen das Erbarmen Gottes zugutekommen lassen, das ihnen selbst durch Jesus zuteilgeworden ist, indem sie sich den (noch) Verlorenen – oder, mit 4,16 gesprochen, den im Land und Schatten des Todes Sitzenden – zuwenden, zu denen auch sie zuvor gehörten.54 Analog dazu ist die Praxis der Sündenvergebung innerhalb der auf Jesu Namen hin versammelten Gemeinde (18,20) damit im Zusammenhang zu sehen, dass die Gemeindeglieder in der Feier des Abendmahls die ihnen zugutegekommene und -kommende Sündenvergebung vergegenwärtigen. Die immense Bedeutung der Vergebungsthematik in der 53
Ausführlicher dazu in diesem Band der Beitrag “Whoever humbles himself like this child …”, 381–383. 54 Vgl. KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 48), 163.
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matthäischen Ethik kommt schließlich nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass von den Bitten des Vaterunsers allein die Bitte um Erlass der Schulden (6,12) im nachfolgenden Kontext aufgegriffen wird (6,14f): Wer selbst nicht zur zwischenmenschlichen Vergebung bereit ist, kann auch nicht von Gott die Vergebung seiner Sünden erwarten (vgl. Sir 28,2–5). 2.1.2 „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt …“. Die Taten der Barmherzigkeit in Mt 25,31–46 Sosehr der Umgang mit Sündern im Matthäusevangelium ein äußerst gewichtiges Applikationsfeld der Barmherzigkeitsforderung darstellt, sosehr ist diese, wie oben angedeutet, analog zur Darstellung des mitleidvollen Erbarmens Jesu nicht auf diesen thematischen Kontext beschränkt. Barmherzigkeit dient vielmehr im umfassenden Sinn als Leitperspektive für den Umgang mit Menschen, die – im Einzelnen in unterschiedlicher Weise – Hilfe benötigen. Deutlich wird dies insbesondere durch die Schilderung des Weltgerichts in Mt 25,31–46. Wie in Mt 18,23–35 kommt hier im Rahmen der matthäischen Gerichtsvorstellung dem von der Barmherzigkeit bestimmten Handeln eine über Heil und Unheil entscheidende Bedeutung zu, was deutlich das Gewicht der Barmherzigkeit unterstreicht. Komplementär zu 18,23–35 geht es aber nun eben nicht um die Vergebung von Sünden, sondern um die Zuwendung zu Menschen in sozialen Notlagen, die Hunger, Durst und keine bzw. nicht ausreichende Kleidung haben, sowie zu Fremden, Kranken und Gefangenen. Dass die verhandelten guten Taten als Werke der Barmherzigkeit zu klassifizieren sind, ist unstrittig55, auch wenn das Wort selbst in 25,31–46 nicht fällt; immerhin wurden von den hier genannten Werken zuvor die Sättigung von Hungernden (12,7, ferner auch – mit ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ – 15,32) und die Zuwendung zu den Kranken (9,27; 15,22 u.ö.) explizit mit der Rede vom Erbarmen verknüpft. Traditionsgeschichtlich ist die nach unterschiedlichen Notlagen differenzierte Auffächerung von Taten der Barmherzigkeit in Mt 25 in eine
So gehört z.B. zu Tobits vielen Barmherzigkeitstaten (ਥȜİȘȝȠıȞĮȢ ʌȠȜȜȢ, Tob 1,16) neben der Bestattung der Toten, dass er den Hungernden seine Speisen und den Nackten seine Kleider gab (IJȠઃȢ ਙȡIJȠȣȢ ȝȠȣ ਥįįȠȣȞ IJȠȢ ʌİȚȞıȚȞ țĮ IJ ੂȝIJȚ ȝȠȣ IJȠȢ ȖȣȝȞȠȢ, 1,17, vgl. dazu Tob [BA] 4,16). TestIss 5,2 spricht vom Erbarmen über die Armen und Schwachen/Kranken (ʌȞȘIJĮ țĮ ਕıșİȞો ਥȜİ઼IJİ, ähnlich TestBenj 4,4: IJઁȞ ʌȞȘIJĮ ਥȜİİ, IJ ਕıșİȞİ ıȣȝʌĮșİ). Zum Erbarmen über die Armen bzw. sozial Bedürftigen s. ferner z.B. Ps 36,26LXX; Prov 14,21.31; 17,5LXX; 19,17; 22,9LXX; 28,8; Tob (BA) 4,7f; Sir 29,1.8–10; TestAss 2,5–7; PseudPhok 23. Zur Zuwendung zum Fremden TestHiob 10,3 (zum ausführlichen Gemälde der Armenfürsorge Hiobs in TestHiob 9–15 s. K. BERGER, ‚Diakonie‘ im Frühjudentum. Die Armenfürsorge in der jüdischen Diasporagemeinde zur Zeit Jesu, in: Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch zur theologischen Verständigung über den diakonischen Auftrag, hg. v. G.K. Schäfer – T. Strohm, VDWI 2, Heidelberg 21994, 94–105: 94–98). Zum TestSeb s. oben Anm. 9. 55
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ganze Reihe ähnlicher Texte in der antiken Welt eingebettet56, die die Zuwendung zu bedürftigen Menschen einschärfen bzw. auch zum Gerichtskriterium machen.57 Ihre eigentümliche Zuspitzung erfährt die Einschärfung der Barmherzigkeitstaten in Mt 25 bekanntlich dadurch, dass der Menschensohnrichter als Urteilsbegründung anführt, diese seien ihm selbst erwiesen bzw. verweigert worden, was die „Gesegneten des Vaters“ (V.34) wie die „Verfluchten“ (V.41) zu einer erstaunten Rückfrage (V.37–39.44) und schließlich den Menschensohnrichter jeweils zu einer Auflösung des Rätsels veranlasst, auf der als Zielpunkt der beiden Gesprächsgänge (V.34–40.41–45) der Ton liegt: Was einem seiner geringsten Brüder getan oder nicht getan wurde, wurde ihm getan oder nicht getan (V.40.45). In der gegenwärtigen Forschung ist allerdings äußerst umstritten, was dieser Satz genau bedeutet, und damit bzw. im Verbund mit der Interpretation von ʌȞIJĮ IJ șȞȘ in V.32 auch, wie 25,31–46 im Ganzen zu verstehen ist.58 Ist die Rede von den „geringsten Brüdern“ des Menschensohnrichters (V.40) bzw. den „Geringsten“ (V.45) allein auf Christen59 bzw. noch spezieller auf christliche Wandermissionare60 oder aber auf alle notleidenden Menschen61 zu beziehen? Wenn unter den „geringsten Brüdern“ allein Christen zu verstehen wären und man ferner ʌȞIJĮ IJ șȞȘ auf die nichtchristusgläubige Menschheit (mit oder ohne Israel) bezieht, würde diese nach 25,31–46 im Endgericht danach beurteilt werden, wie sie sich gegenüber den Christen verhalten hat – der Passus wäre dann so etwas wie ein Trosttext für bedrängte Jünger.62 Für die 56 Zu ähnlichen Katalogen s. z.B. J. FRIEDRICH, Gott im Bruder? Eine methodenkritische Untersuchung von Redaktion, Überlieferung und Traditionen in Mt 25, 31–46, CThM A/7, Stuttgart 1977, 164–172. 57 Vgl. für Letzteres z.B. 2Hen 9,1 oder MidrPss zu Ps 118,17. – Für einen profunden Überblick über die Bedeutung der Barmherzigkeitsthematik in der frühjüdischen Weisheit s. WITTE, Begründungen (s. Anm. 16). 58 Für eine Übersicht über die Interpretationstypen zu Mt 25,31–46 s. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 5), 521–530. 59 Siehe z.B. D. GEWALT, Matthäus 25, 31-46 im Erwartungshorizont heutiger Exegese, LingBibl 25/26 (1973), 9–21: 15f; FRIEDRICH, Gott (s. Anm. 56), 238f.248f; D.J. HARRINGTON, The Gospel of Matthew, SaPaSe 1, Collegeville (MN) 1991, 357.358; G.N. STANTON, A Gospel for a New People. Studies in Matthew, Edinburgh 1992, 214–221. 60 Siehe dafür z.B. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 5), 537–539; J.S. SUH, Das Weltgericht und die matthäische Gemeinde, NT 48 (2006), 217–233: 226–233. 61 Für eine (erneute) ausführliche Begründung dieser Deutung samt Widerlegung der exklusiven Deutung der „geringsten Brüder“ s. C. NIEMAND, Matthäus 25,31-46 – universal oder exklusiv? Rekonstruktion der ursprünglichen Textintention im Spannungsfeld moderner Wertaxiome, in: Patrimonium Fidei. Traditionsgeschichtliches Verstehen am Ende? (FS M. Löhrer und P.-R. Tragan), hg. v. M. Perroni – E. Salmann, StAns 124, Rom 1997, 287– 326, ferner z.B. S. GRINDHEIM, Ignorance Is Bliss: Attitudinal Aspects of the Judgment according to Works in Matthew 25:31-46, NT 50 (2008), 313–331: 328–330. 62 Siehe für diese Deutung z.B. FRIEDRICH, Gott (s. Anm. 56), 266f; STANTON, Gospel (s. Anm. 59), 208.210f.229f.
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‚enge Lesart‘ der Rede von den „geringsten Brüdern“ kann man die innerekklesiale Ausrichtung des Bruderbegriffs in 18,15.21.35; 23,8 geltend machen; vor allem aber spricht Jesus in 12,48–50 und 28,10 von den Jüngern als seinen Brüdern. Ferner kann man als Analogie zur Inbeziehungsetzung Jesu mit den „geringsten (Brüdern)“ in 25,40.45 auf 10,40–42 verweisen, wo es um die Jünger geht. Keines dieser Indizien ist aber wirklich tragfähig. In 5,22–24 und 7,3–5 liegt eine nicht spezifisch auf die Jesusnachfolger bezogene Rede vom Mitmenschen als „Bruder“ vor, die jeweils als ein appellatives Signal fungiert, das den Gedanken zwischenmenschlicher Verbundenheit evozieren soll.63 10,40–42 hat ein Pendant in 18,5, wo sich die Aussage: „Wer ein einziges solches Kind in meinem Namen aufnimmt, nimmt mich auf“ nicht spezifisch auf ‚christliche‘ Kinder eingrenzen lässt. Traditionsgeschichtlich kommt hinzu, dass die engsten Parallelen zur Argumentationsfigur in V.40.45 in Prov 14,31; 19,17; 2Hen 44,1f allgemein die Bedürftigen im Blick haben. Nicht nachvollziehbar ist aber insbesondere, dass hier das Verhalten anderer gegenüber den Christen thematisiert sein soll. Dagegen spricht schon die kontextuelle Stellung von Mt 25,31–46. Matthäus hat zuvor in 24,32–25,30 eine ausführliche Wachsamkeitsparänese geboten, die den Adressaten deutlich und eindringlich die Notwendigkeit vor Augen gemalt hat, durch einen guten Lebenswandel stets für die Parusie des Herrn bereit zu sein. Ein Trosttext für (bedrängte) Jünger wäre nach 24,32–25,30 schlechthin dysfunktional. Anders gesagt: Im Anschluss an 24,32–25,30 kann man kaum etwas anderes erwarten als eine (zumindest auch) die Jünger betreffende Gerichtsschilderung64, zumal dies noch dadurch untermauert wird, dass Matthäus auch zuvor Gerichtsaussagen paränetisch auf die Gemeinde bezogen hat (z.B. 7,13–27; 18,23–35; 22,11–14). Nicht zuletzt wird auch nur ein paränetisches Verständnis des Textes dem Sachverhalt gerecht, dass der Schwerpunkt in 25,31–46 unverkennbar auf der vierfachen Schilderung der Barmherzigkeitstaten liegt. 65 Unter den „geringsten Brüdern“ sind also alle notleidenden Menschen zu verstehen; die Wendung ʌȞIJĮ IJ șȞȘ dient hier dazu, die Universalität des Gerichts anzuzeigen, gemeint ist die gesamte Menschheit unter Einschluss der Jesusnachfolger.66 Auch die Notleidenden sind, da sie keine statisch definierte 63
Treffend NIEMAND, Matthäus 25,31-46 (s. Anm. 61), 295: „Mt kennt in der Gemeinderede die Bruder-Terminologie und meint damit Christen; und er kennt in der Bergpredigt eine Bruder-Terminologie, die ethisch-motivierend ist und konkret-universal gilt.“ 64 Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 5), 531. 65 Vgl. NIEMAND, Mt 25,31-46 (s. Anm. 61), 306.321. 66 Vgl. z.B. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 5), 531 („ȆȞIJĮ IJ șȞȘ sind am ehesten ‚alle Völker‘ einschließlich der Gemeinde.“); GRINDHEIM, Ignorance (s. Anm. 61), 327f; M. EBNER, Plädoyer für die sozial Geringsten als «Brüder» in Mt 25,40. Eine exegetisch-hermeneutische Zwischenbemerkung, in: Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung (FS R. Hoppe), hg. v. U. Busse – M. Reichardt – M. Theobald (BBB 166), Bonn 2011, 215–229: 221–227.228.
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Gruppe bilden, nicht ausgenommen.67 Vielmehr können „Menschen, die in einer Hinsicht bzw. in einer bestimmten Lebenssituation bedürftig sind, in anderer Hinsicht oder einer anderen Lebenssituation zu denen gehören, die Hilfe leisten können. 25,31–46 entwirft also als Gerichtsszenarium, dass alle Menschen danach beurteilt werden, wie sie sich in Situationen, in denen sie dazu in der Lage waren, Hilfe zu leisten, denen gegenüber verhalten haben, die sich in einer Notsituation befanden.“68 In textpragmatischer Hinsicht wird man sogar zuspitzen müssen, dass es vornehmlich darum geht, den christlichen Lesern und Hörern des Matthäusevangeliums einzuschärfen, dass sie im Endgericht an ihrem Verhalten gegenüber den Bedürftigen gemessen werden. Dabei mag es so sein, dass sie es in ihrem Alltag faktisch vorrangig mit bedürftigen Gemeindegliedern zu tun haben; eine grundsätzliche Begrenzung auf Christen lässt sich aber, wie gesehen, über den Bruderbegriff in V.40 nicht begründen. Im Übrigen ließe sich die Verkürzung von ਦȞ IJȠIJȦȞ IJȞ ਕįİȜijȞ ȝȠȣ IJȞ ਥȜĮȤıIJȦȞ (V.40) um IJȞ ਕįİȜijȞ ȝȠȣ in V.45 schwerlich suffizient mit den „Raffungstendenzen im zweiten Dialogteil“69 (V.41–45) begründen, wenn der Brudertitel für die Identifizierung der gemeinten Gruppe von ausschlaggebender Bedeutung wäre. Der Ton liegt vielmehr darauf, dass es um das Verhalten gegenüber den „Geringsten“ geht, die durch die genannten Notlagen exemplarisch charakterisiert wurden; dass der Menschensohn sie darüber hinaus als „seine Brüder“ bezeichnet, dient dazu, seine Verbundenheit mit ihnen zu unterstreichen. Man wird die Aussage in V.40.45 dabei nicht in dem Sinne überstrapazieren dürfen, dass eine (mystische) Identifikation Jesu mit den Bedürftigen vollzogen wird; leitend ist vielmehr die Vorstellung, dass zwischen dem Menschensohn und den Notleidenden eine so enge Solidargemeinschaft besteht, dass das, was diesen getan wird oder versagt bleibt, gleichzeitig als dem Menschensohn Jesus getan oder nicht getan gilt.70 Dass der Menschensohn in V.34.40 als König bezeichnet wird, lässt dabei nicht nur in intertextueller Hinsicht anklingen, dass es dem König obliegt, für die Wahrung des Rechts der Armen Sorge zu tragen (vgl. Ps 72; Prov 29,14). Vielmehr ist zugleich und vor allem intratextuell „daran zu erinnern, dass der königliche Messias Jesus in seinem irdischen Wirken die barmherzige Zuwendung zu den Menschen ins Zentrum gestellt hat (9,13.27.36 u.ö.), unter anderem auch im Zusammenhang
67
Ebenso EBNER, Plädoyer (s. Anm. 66), 228. KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 48), 392f. 69 So LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 5), 541. 70 Vgl. E. BRANDENBURGER, Taten der Barmherzigkeit als Dienst gegenüber dem königlichen Herrn (Mt 25,31-46), in: Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch zur theologischen Verständigung über den diakonischen Auftrag, hg. v. G.K. Schäfer – T. Strohm, VDWI 2, Heidelberg 21994, 297–326: 315; NIEMAND, Mt 25,31-46 (s. Anm. 61), 315f. 68
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der Speisung von Hungrigen (15,32, vgl. 12,1–8). Als Richter urteilt er nach dem Kriterium, das er selbst vorgelebt hat.“71 2.2 Die Barmherzigkeit als zentrale Forderung der Tora: Mt 23,23 Mit 18,23–35 und 25,31–46 standen im Voranstehenden die Schlussabschnitte der letzten beiden großen Reden Jesu im Zentrum. In beiden Reden wird die wie üblich am Ende hervortretende Thematisierung des Endgerichts in einer im Blick auf das geforderte Handeln materialethisch konkreten Weise ausgeführt. Dass es hier in beiden Fällen – in einander ergänzender Weise – um die Barmherzigkeit geht, zum einen um das Erbarmen mit Sündern, zum anderen um die barmherzige Zuwendung zu Menschen in unterschiedlichen physischen Notlagen, spiegelt das Gewicht der Barmherzigkeit in der matthäischen Ethik: An den Taten der Barmherzigkeit entscheidet sich die Frage von Heil oder Unheil. Dass die Barmherzigkeit in der matthäischen Ethik nicht bloß eine Nebenrolle spielt, sondern im Zentrum des matthäischen Verständnisses des von den Jüngern zu praktizierenden Gotteswillens steht, wird durch die grundlegende Bedeutung des Prophetenwortes aus Hos 6,6 als hermeneutischen Schlüssels für das matthäische Verständnis des Willens Gottes, wie er in „Tora und Propheten“ (5,17; 7,12; 22,40) niedergelegt ist, nachdrücklich unterstrichen. Seinen wohl klarsten Ausdruck findet dieser Aspekt aber in 23,23. Wie in 12,7 geht es um die richtige Gewichtung unter den Geboten, und wie in 9,13 und 12,7 bilden die Pharisäer das Gegenüber, von dessen Interpretation Jesus sein Verständnis des Gotteswillens abhebt. Rekurrierte Jesus in 9,13; 12,7 auf ein prophetisches Zeugnis, so ist nun explizit von dem die Rede, was im Gesetz gewichtiger ist (IJ ȕĮȡIJİȡĮ IJȠࠎ ȞިȝȠȣ). Die Trias țȡıȚȢ, ȜİȠȢ und ʌıIJȚȢ dürfte allerdings mit Mi 6,8, wo Gottes Forderung an die Menschen ebenfalls in einer Trias zusammengefasst wird, von einem weiteren Prophetenwort beeinflusst sein72: Es gilt „Recht zu üben, Barmherzigkeit zu lieben und bereit zu sein, mit dem Herrn, deinem Gott zu wandeln“ (LXX: ʌȠȚİȞ țȡȝĮ țĮ ਕȖĮʌ઼Ȟ ȜİȠȞ țĮ ਪIJȠȚȝȠȞ İੇȞĮȚ IJȠ૨ ʌȠȡİİıșĮȚ ȝİIJ țȣȡȠȣ șİȠ૨ ıȠȣ). Geht es demnach bei der ʌıIJȚȢ in Mt 23,23 um die Glaubenstreue Gott gegenüber, so erscheint ȜİȠȢ mithin als Generalnenner für den zwischenmenschlichen Umgang. Besteht die im Blick auf das soziale Verhalten zentrale Forderung der Tora nach Mt 23,23 also darin, dem Mitmenschen erbarmungsvoll zu begegnen, so nimmt die Barmherzigkeit hier die Stellung ein, die nach 22,34–40 (und
71
KONRADT, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 48), 394. Vgl. W.D. DAVIES – D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew, Vol. 3, ICC, Edinburgh 1997, 293.294. 72
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19,1973) dem Nächstenliebegebot zukommt. Dieses Nebeneinander verweist in keiner Weise auf eine konzeptionelle Spannung in der matthäischen Ethik, sondern allein auf die enge Zusammengehörigkeit und weitgehende Schnittmenge von Liebe und Barmherzigkeit. Das Liebesgebot macht das Wohlergehen des Nächsten zur zentralen Handlungsperspektive; die Barmherzigkeitsforderung konkretisiert dies im Blick auf Menschen in Notlagen, seien sie sozialer oder anderer Natur. Überblickt man die drei Belege von ȜİȠȢ im Matthäusevangelium in 9,13; 12,7; 23,23, so wird die kräftige Rückbindung der Rede von Barmherzigkeit an die Schriften Israels im Matthäusevangelium deutlich: Barmherzigkeit wird als Leitmotiv des Handelns über ein Prophetenwort eingeführt und zudem als Hauptpunkt der Tora ausgewiesen. Dieser Befund wird noch dadurch unterstrichen, dass der mehrfach an Jesus adressierte Bittruf „Herr, erbarme dich“, wie gesehen, Psalmensprache aufnimmt. Für die Barmherzigkeitsthematik gilt damit im Besonderen, was für das Matthäusevangelium im Allgemeinen kennzeichnend ist: Die Jesusgeschichte wird aufs Engste an die Schriften Israels angebunden; sie ist, wie dies schon durch den Stammbaum in 1,2–17 angezeigt wird, das Geschehen, auf das die Geschichte Gottes mit seinem Volk seit Abraham zugelaufen ist. 2.3 Die Seligpreisung der Barmherzigen in Mt 5,7 Die Bedeutung des Barmherzigkeitsethos spiegelt sich ferner in der bereits erwähnten Seligpreisung in Mt 5,7. Gegenüber den Makarismen in Q, deren Bestand Lk 6,20–23 umfangsmäßig zutreffend wiedergeben dürfte, ist die planvoll komponierte Reihe in Mt 5,3–1274 bekanntlich nicht nur erheblich erweitert, sondern mit ihrer ethisierenden Tendenz in V.3–10, von der nur V.4 eine
73
Zur Anfügung des Nächstenliebegebots in 19,19 und seiner summarischen Funktion s. in diesem Band den Beitrag „The Love Command in Matthew, James and the Didache“, 98. 74 Wie in Q 6,20–23 hebt sich die letzte Seligpreisung von der Länge her deutlich von den vorangehenden ab. Bei Matthäus kommt als Differenzmerkmal hinzu, dass nur die letzte Seligpreisung in der 2. Pers. Pl. formuliert ist (Mt 5,11f). Die ersten acht Makarismen untergliedern sich in zwei Viererblöcke, in denen jeweils ein Makarismus den Abschluss bildet, in dem mit der Rede von der „Gerechtigkeit“ ein Leitwort der gesamten Bergpredigt begegnet (V.6.10). Die erste Gruppe ist ferner durch die durchgehende ʌ–Alliteration bei der Bezeichnung der Seliggepriesenen von der zweiten Gruppe abgehoben. Nicht zuletzt tritt die gezielte kompositorische Gestaltung auch darin hervor, dass der Evangelist durch die Wiederholung des Verheißungssatzes von V.3b in V.10b eine inclusio gebildet hat.
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Ausnahme bildet75, auch inhaltlich neu ausgerichtet worden.76 Von den sieben ‚ethischen‘ Makarismen in V.3–10 enthalten allerdings mit V.6.8.10 gleich drei keine materialethisch konkrete Bestimmung. Damit bleiben ‚nur‘ vier inhaltlich bestimmte ethische Charakterisierungen. Man geht kaum fehl, dass das, was hier zu Beginn der Bergpredigt angeführt wird, für den Evangelisten von kardinaler Bedeutung ist: Demut (V.3)77 und Sanftmut (V.5), Friedenstiften (V.9) und eben Barmherzigkeit (V.7). Friedenstiften verbindet Matthäus über den durch 5,45 (vgl. Q 6,35) inspirierten Verheißungssatz mit dem Gebot der Liebe zum Feind78, die den barmherzigen Umgang mit den Verfehlungen des anderen einschließt. Demut, wenngleich in anderer Wortwahl, und Sanftmut, begegnen in 11,29 als Charakterisierungen Jesu, der von sich selbst sagt: ʌȡĮȢ İੁȝȚ (vgl. noch 21,5) țĮ IJĮʌİȚȞઁȢ IJૌ țĮȡįĮ. Die ethischen Charakterisierungen in der Makarismenreihe fügen sich damit im Ganzen in das Motiv der Orientierung der Jünger am Modell Jesu ein. Die Rede von den ਥȜİȝȠȞİȢ in 5,7a wird man dabei im Lichte des Gesamtbefundes umfassend zu verstehen haben: Die Barmherzigen, die selig zu preisen sind, weil sie im Gericht Barmherzigkeit erfahren werden, sind diejenigen, die sich den Sündern zuwenden (9,10–13; 18,10–35), die Hungernde sättigen, Durstigen zu trinken geben, Fremde aufnehmen, Nackten etwas zum Anziehen geben, Kranke und Gefangene besuchen (25,35f) oder auch die den Bedürftigen Almosen (ਥȜİȘȝȠıȞȘ) geben (vgl. 6,2–4, ferner 6,19–21; 19,21).79 2.4 Mitleid und Empathie: Die innere Bejahung des Mitmenschen als Voraussetzung der Barmherzigkeit Voraussetzung für die liebende, erbarmungsvolle Zuwendung zum bedürftigen Nächsten ist, die Augen vor seiner Notlage nicht abzuwenden, sondern sich 75 Die Wendung „Armen im Geiste“ dürfte am ehesten im Sinne von „die Demütigen“ zu verstehen sein, wenngleich eine Deutung im Sinne von Menschen, die schwach an Lebensmut sind, nicht auszuschließen ist. Für ein ethisches Verständnis von V.3 im Sinne von „die Demütigen“ s. z.B. J. DUPONT, Les Béatitudes, Tome III: Les Évangélistes, EtB, Paris 1973, 457–471; G. STRECKER, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 21985, 33f. Differenziert LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 2), 277–279. 76 Im Blick auf die schwierige, in der Forschung kontrovers diskutierte Frage, ob die zusätzlichen Makarismen matthäisch sind, auf eine gegenüber Q 6,20–23 erweiterte Q-Rezension zurückgehen (QMt) oder dem Sondergut entstammen, ist m.E. die Annahme am plausibelsten, dass die Erweiterungen Bildungen des Evangelisten selbst und/oder seines gemeindlichen Umfelds sind, doch ist der Befund hier nicht im Detail zu diskutieren. 77 Siehe dazu oben Anm. 75. 78 Vgl. dazu z.B. R. SCHNACKENBURG, Die Seligpreisung der Friedensstifter (Mt 5,9) im matthäischen Kontext, BZ NF 26 (1982), 161–178: 167–169. 79 Nach H.B. GREEN, Matthew, Poet of the Beatitudes, JSNT.S 203, Sheffield 2001, 209 deckt der Barmherzigkeitsgedanke in Mt 5,7 „two distinct areas“ ab: „the relief of need and the forgiveness of sin“.
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von der Not anderer so betreffen zu lassen, dass ihre Behebung, unabhängig von der etwaigen Schuld des Gegenübers80, als Ziel der Begegnung mit ihm begriffen wird. In der Darstellung des Wirkens Jesu wird dafür, wie gesehen, mehrfach das Wort ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ verwendet: Jesus sieht die Not der Volksmengen und hat Mitleid mit ihnen (9,36; 14,14; 15,32). Im Kontrast dazu liegt das Fehlverhalten des Knechts in Mt 18,23–35 eben darin begründet, dass er kein Mitleid mit seinem Mitknecht hat. In der kunstvoll komponierten Erzählung gleichen sich die Bitten des Knechts gegenüber seinem Herrn in V.26b und die jenem von seinem Mitknecht entgegengebrachte Bitte in V.29b fast wörtlich; ebenso sind die Redeeinleitungen parallel gestaltet, nur ist die Proskynese, die sich dem König (= Gott) gegenüber gebührt (V.26a), in V.29a durch ʌĮȡĮțĮȜİȞ ersetzt. Vor dem Hintergrund des Gleichklangs von V.26.29 tritt der Kontrast zwischen V.27 und V.30 umso schärfer hervor: Dem Mitleid, das der Herr mit ihm aufgrund seiner Bitte hatte (V.27: ıʌȜĮȖȤȞȚıșİȢ) und das den Herrn zu einem überaus großzügigen Erweis von Barmherzigkeit führte, steht der Unwille des Knechts gegenüber seinem Mitknecht entgegen, der sich mit dem gewalttätigen Ergreifen des Mitknechts in V.28b bereits ankündigte. Der Knecht lässt sich von der Notlage des anderen nicht anrühren, sondern pocht auf sein (vermeintliches) Recht. Die Erfahrung der Barmherzigkeit hat ihn nicht verändert, er handelt ohne Mitleid. In einer besonders drastischen Form hat der Knecht mit seinem Verhalten gegen die in Mt 7,12 in positiver Formulierung81 vorliegende Goldene Regel82 verstoßen83, die durch die matthäische Anfügung, dass dies das Gesetz und die Propheten sei (V.12b), neben Mt 22,34–40 und 23,23 als eine dritte summarische Formulierung des Gotteswillens fungiert. Als solche gilt sie auch für den Fall asymmetrischer Beziehungen, wie er in 18,28–30 vorliegt. Die Goldene Regel erfordert dabei, eine Situation aus der Perspektive des Gegenübers zu betrachten und das eigene Handeln daran auszurichten, was man sich selbst als Verhalten des anderen wünschen würde, wenn man in der Lage des Gegenübers wäre. Der unbarmherzige Knecht hingegen hat dem anderen nicht zukommen lassen, was er für sich selbst nicht nur gewünscht, sondern sogar in ungleich größerer Weise empfangen hat. Sein mitleid- und erbarmungsloses Verhalten
80 Vgl. TestBenj 4,2: „Der gute Mensch hat kein finsteres Auge, denn er erbarmt sich aller, auch wenn sie Sünder sind.“ 81 Zur Differenz zwischen negativer und positiver Formulierung der Goldenen Regel s. G. THEISSEN, Die Goldene Regel (Matthäus 7:12//Lukas 6:31). Über den Sitz im Leben ihrer positiven und negativen Form, BibInt 11 (2003), 386–399. 82 Zum Verständnis der Goldenen Regel und ihren unterschiedlichen Varianten s. M. KONRADT, Golden Rule, in: The Oxford Encyclopedia of the Bible and Law, hg. v. B. Strawn, Vol. 1: Adm–Lit, New York 2015, 350–356. 83 Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 29), 801. Siehe auch NOLLAND, The Gospel of Matthew (s. Anm. 29), 758.
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gegenüber dem Mitknecht wird daher ex negativo zu einem plastischen Beispiel, dass die von der Goldenen Regel geforderte Empathiefähigkeit eigentlich durch Erfahrungen eigener Bedürftigkeit und zumal durch den nüchternen Blick auf die eigene Situation gegenüber Gott nachhaltig genährt werden müsste. Der pointiert am Ende des Gleichnisses stehende Gerichtsgedanke lässt die Erzählung für die Adressaten zur Warnung werden. Die Anwendung in V.35 bindet das Gleichnis des Näheren deutlich an die Frage von Petrus in V.21 zurück. Wenn sie ihren Mitmenschen Vergebung verweigern bzw. ihre Vergebungsbereitschaft begrenzen, werden auch sie im Gericht nicht bestehen können. Die Qualifizierung der von den Jüngern geforderten – und für einen positiven Ausgang des Gerichts notwendigen – Vergebung durch ਕʌઁ IJȞ țĮȡįȚȞ ਫ਼ȝȞ (V.35) stellt dabei klar, dass es nicht um eine durch die bloße Furcht vor dem Gericht erzwungene Vergebung gehen kann. „Herz“ meint in der matthäischen Anthropologie das – Denken und Willen umfassende – Zentrum der Person.84 Auf die Einstellung zum Mitmenschen in seiner Not kommt es also an, d.h. auf die innere, willentliche Bejahung der Zuwendung zu ihm. 85
3. Resümee Überblickt man das Ganze, wird deutlich, dass die Zentralstellung der Barmherzigkeit in der matthäischen Ethik organisch aus dem Gottesbild und der Christologie des Matthäusevangeliums hervorgeht. Die Barmherzigkeitsforderung ist darin eingebettet, dass die Jünger ihr Handeln von der von ihnen selbst erfahrenen Barmherzigkeit Gottes und dem ihre christliche Existenz begründenden barmherzigen Wirken Jesu Christi bestimmen lassen, indem sie diese Erfahrungen in ihrem eigenen Handeln weiterfließen lassen. Barmherzigkeit ist entsprechend keine in der matthäischen Jesusgeschichte isoliert für sich stehende Forderung, sondern im Sinne der imitatio Dei theologisch fundiert und elementarer Ausdruck der Nachfolge Christi. Sie ist, anders gesagt, essentielle Manifestation der durch die Beziehung zu Gott und zu Christus bestimmten christlichen Identität. In dieser Fundierung ist impliziert, dass mitleidvolles Erbarmen mit den Bedürftigen für Matthäus keine Handlung sein kann, zu der sich ein Christenmensch angesichts einer prinzipiell offenen Entscheidung zwischen Handlungsoptionen je und je neu entschließen müsste, sondern es um eine grundlegende ethische Haltung geht, die organisch aus der 84
Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 2), 285. Vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus III (s. Anm. 5), 75, der aus der Anfügung von ਕʌઁ IJȞ țĮȡįȚȞ ਫ਼ȝȞ folgert, dass „Sündenvergebung nicht nur eine äußerliche Begradigung des Verhältnisses zu den Geschwistern meint, sondern eine ganzheitliche Zuwendung zu ihnen.“ 85
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441
Glaubensüberzeugung von der Barmherzigkeit Gottes, wie er sie im messianischen Wirken Jesu erwiesen hat, erwächst. Dem steht zur Seite, dass Taten der Barmherzigkeit auf der inneren Bejahung des Mitmenschen aufruhen. 86 Bleiben solche Taten aus, hat dies im Endgericht soteriologische Konsequenzen. War Jesu irdisches Wirken als königlicher Messias zentral durch seine barmherzige Zuwendung zu den Menschen gekennzeichnet, so vollzieht er mit seiner königlichen Autorität (25,34.40) das Endgericht eben nach dem Kriterium der Barmherzigkeit. Letzteres wird noch dadurch profiliert, dass der matthäische Jesus die Barmherzigkeit als Hauptpunkt der Rechtsordnung der Tora herausgestellt hat (23,23). Es ist von daher auch in dieser Hinsicht nur konsequent, dass in 25,31–46 die Taten der Barmherzigkeit als Rechtsmaßstab im Gericht fungieren. Glückselig sind allein die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
86
In ekklesiologischer Hinsicht ist zu ergänzen, dass Barmherzigkeit, da Nachfolge für Matthäus in einen gemeindlichen Kontext eingebettet ist, zugleich auch ein Wesensmerkmal der Gemeinschaftsstruktur ist, die das Miteinander in der Kirche kennzeichnen soll.
Nachweis der Erstveröffentlichungen Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum Bisher unveröffentlicht
Das Matthäusevangelium als judenchristlicher Gegenentwurf zum Markusevangelium Erweiterte und wesentlich überarbeitete Fassung von: Matthäus und Markus. Überlegungen zur matthäischen Stellung zum Markusevangelium, in: Jesus – Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft (FS Gerd Theißen), hg. v. Petra von Gemünden – David G. Horrell – Max Küchler, NTOA 100, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 211–235
Matthäus als Zeuge eines unpaulinischen Christentums. Anmerkungen zur These einer antipaulinischen Ausrichtung des Matthäusevangeliums Bisher unveröffentlicht
The Love Command in Matthew, James and the Didache Matthew, James, and Didache. Three Related Documents in their Jewish and Christian Settings, hg. v. Huub van de Sandt – Jürgen K. Zangenberg, SBLSymS 45, Atlanta: SBL Press sowie Leiden: Brill 2008, 271–288
Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie ZThK 101 (2004), Mohr Siebeck, 397–425 (in diesem Band in überarbeiteter Fassung)
Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie Diasynchron. Beiträge zur Exegese, Theologie und Rezeption der Hebräischen Bibel (FS Walter Dietrich), hg. v. Thomas Naumann – Regine Hunziker-Rodewald, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2009, 249–277 (in diesem Band in leicht überarbeiteter Fassung)
„Ihr wisst nicht, was ihr erbittet“ (Mt 20,22). Die Zebedaidenbitte in Mt 20,20f und die königliche Messianologie im Matthäusevangelium Bisher unveröffentlicht
Die Taufe des Gottessohnes. Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium (Mt 3,13–17)
444
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik – Wirkungsgeschichte – Matthäusevangelium (FS Ulrich Luz), hg. v. Peter Lampe – Moisés Mayordomo – Migaku Sato, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2008, 257–273 (in diesem Band in leicht erweiterter und überarbeiteter Fassung)
Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Matthäusevangelium Josephus und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen, II. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum 25.–28. Mai 2006, Greifswald, hg. v. Christfried Böttrich – Jens Herzer, WUNT 209, Tübingen: Mohr Siebeck 2007, 195–232 (in diesem Band in leicht überarbeiteter Fassung)
Die Rede vom Glauben in Heilungsgeschichten und die Messianität Jesu im Matthäusevangelium Bisher unveröffentlicht (erscheint ferner in: Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt, hg. v. Jörg Frey – Benjamin Schließer – Nadine Ueberschaer, WUNT, Tübingen: Mohr Siebeck)
Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament (FS Christoph Burchard), hg. v. Dieter Sänger – Matthias Konradt, NTOA/StUNT 57, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 129–152 (in diesem Band in überarbeiteter Fassung)
Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity, hg. v. Donald Senior, BETL 243, Leuven: Peeters 2011, 131–158 (in diesem Band in erweiterter und wesentlich überarbeiteter Fassung)
„... damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet“. Erwägungen zur ‚Logik‘ von Gewaltverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38–48 Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, hg. v. Walter Dietrich – Wolfgang Lienemann, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2004, 70–92 (in diesem Band in erweiterter und überarbeiteter Fassung)
“Whoever humbles himself like this child …”. The Ethical Instruction in Matthew’s Community Discourse (Matt 18) and its Narrative Setting Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings, hg. v. Ruben Zimmermann – Jan G. van der Watt, WUNT II.296, Tübingen: Mohr Siebeck 2010, 105–138 (in diesem Band in überarbeiteter Fassung)
„Glückselig sind die Barmherzigen“ (Mt 5,7). Mitleid und Barmherzigkeit als ethische Haltung im Matthäusevangelium Bisher unveröffentlicht (erscheint ferner in: Mitleid und Mitleiden, JBTh 30 [2015], Neukirchener Verlag)
Stellenregister (in Auswahl) Vom Masoretischen Text abweichende Septuagintabelege sind im Register auf die Masoretische Zählung umgestellt; die Septuagintazählung ist in Klammern hinzugesetzt. Die Anordnung der biblischen Bücher folgt der Septuaginta. Um das Register übersichtlich zu halten, sind verschiedentlich Einträge zu größeren Einheiten zusammengefasst worden.
1. Biblische Schriften 1.1 Altes Testament (einschließlich Apokryphen) Genesis 2 4,24 9,6 10,22 12,3 17 18,18 22,18 22,21 26,4 38 49,10 50,15–21 50,15 50,21 Exodus 4,22f 16,29 17,6 20,1 20,3–6 20,7 20,8–11 20,16 20,18–22 21,12 21,14
301 360, 408 297, 320 135 34, 135 25 34 34 135 34 135 153 351 351 352
277 55 81 345 326 297, 300, 326, 338, 339 316 326 345 297, 320 325
21,24f 22,21 22,25f 23,4f 24,8 30,17–21 34,6 34,21 Levitikus 15,11 19 19,11–18 19,12
356, 360 26 366 351, 354, 355 249 344 413 305
20,10 24,17 24,19f 24,20 27,30
344 97f 108, 350 108, 297, 337, 338, 339 350 350 102, 108, 350 325, 350 100, 105, 108, 350, 352, 354, 356, 368, 377, 394, 396–398 350, 396, 399, 430 57, 96, 297, 345, 350f, 355, 368 335 297, 320 360 356 312, 341
Numeri 12,8
105
19,13f 19,15f 19,15 19,16 19,17f
19,17 19,18
Stellenregister
446 14,19 20,7–11 21,5 25,1f 27,17 28,9f 30,3 31,16 35,16–34 35,30
421 81 105 334 159, 427 304, 424 297, 337, 346 334 297, 320 240
Deuteronomium 2,14 5,7–10 5,11 5,12–15 5,20 6,5 13,7 14,1 14,22f 17,16 19,11–13 19,15 19,16–21 19,18 19,19 19,21 22,22 23,22–24 23,22 24 24,1–4 24,6 24,12f 25,11f 27,24 27,25 32,5 32,19
229 326 326 316 326 101, 107 356 277 312, 341 240 297, 320 240, 400, 401 360 360 360 356, 360 335 346 297, 337 300 297 324 366 324 325 244 277 277
Josua 2 3,10 6 24,11
135 163 135 163
Richter 1,1–3
163
Ruth 1,4 1Samuel (1Reg) 16,14–23 19,5 21,2–7 2Samuel (2Reg) 5,2
135 167 244 146, 424
5,6–8 7,8–17 7,14 8,14 12
128, 151, 153, 154, 155, 170, 176f, 274 169 147f 147, 149, 375 120 136
1Könige (3Reg) 1,15–21 2,5 2,46 9,1 9,3 9,8 11,14f 22,17
174 244 166 235 235 235 120 159, 427
2Könige (4Reg) 21,16 23,4–25 24,4
244 25 244
1Chronik 11,2 17,13 29,22
153 375 166
2Chronik 18,16 30,9 31,4 32,18 34,1–7 34,33 35,1–9 35,25 36,5 36,12 36,19–21
159, 427 413 247 247 25 25 25 242 244 241 241
Stellenregister Esra 9,1
163
Nehemia 9,17 9,31 13,12
413, 421 413 312
Esther 5,3 8,12q
173 277
Judith 2,28 9,4 11,19
122, 163 277 427
Tobit 1,16 1,17 4,7f (BA) 4,13 4,16 (BA) 4,17 8,7 14,4
432 432 432 369 432 97, 371 333, 335 245
1Makkabäer 1,37 2,44 5,15 7,17 10,7
244 327 122, 163 84 247
2Makkabäer 2,4–8 7,10f 10,35 14,46
250 188 327 188
3Makkabäer 6,28
277
4Makkabäer 2,14 2,16 6,6 10,8
355 295 84 84
Psalmen 2,7 2,9 6,3 6,9 8,3 9,14 11,14 12(11),8 14(13),5 24(23),3–5 24(23),6 25(24),16 26(25),11 27(26),7 30(29),11 31(30),10 37(36),26 41(40),5 41(40),11 48,3 50(49),14 51(50),3 62,13 72 78,15f 78(77),19 78,71f 86(85),15 89,27f 94(93),21 102(101),8 103,19 106,38 107(106),5 107(106),9 110,1 111(110),4 112(111),2 112(111),4 118,22f 118,26 119(118),176 130(129),3 130(129),7 132,17 145(144),8 146(145),8
447
147, 148, 375 166 426 75 131 426 339 229 229 229 228 426 426 426 426 426 432 426 426 339 297, 337, 346 421, 426 187 435 81 105 153, 155 413 147, 149 244 413 339 163 205 205 139, 140, 151, 184 413 229 413 82 146 130 420 420 165 413 162
448
Stellenregister
Proverbien 6,17 6,25 6,26–35 12,16 14,21 14,31 15,8 17,5 17,9 19,11 19,17 20,22 21,3 21,27 22,9 24,12 24,17f 24,29 25,21f 27,5 28,8 29,14 30,11–14
244 331, 334 335 356 432 329, 432, 434 329 329, 432 356 356 432, 434 356, 357, 362, 404 329 329 432 187 356 356, 362 351 396 432 435 229
Hiob 31,1
334
Weisheit Salomos 2,18 5,5 7,20 9,7 11,23 14,26 18,13
371 371 166 277 421 325 277
Jesus Sirach 1,22f 2,11 4,10 5,6 7,30 9,8 12,7 13,15 14,18 17,31 18,13
295, 327 413 371 421 107 334 351 370 84 84 396, 430
22,24 23,4 23,9–11 24,21 25,21 26,9 26,11 26,22 26,28 27,30 28,1–7 28,2–5 28,3 28,8–12 29,1 29,8–10 34,21–24 34,25–27 35,1–12 35,22 36,11 41,22f 47,11 49,6f Psalmen Salomos 4,4 16,10 17–18 17 17,4 17,20–23 17,24 17,27 17,35 17,36 17,40 Hosea 2,1 5,12–6,3 5,12f 6,1–3 6,2 6,4 6,6
328 334 339 205 334 334 334 335 327 327 373 432 327 327 432 432 329 324 329 187 277 336 147 241
334 295, 328 129 160, 165, 177, 181, 182f, 188, 199 147 160, 166, 367 166 277 166 166 130, 160, 177
277 432 422 422 422 422 31, 55, 57, 101, 239, 271, 304, 305, 309, 311, 318, 329, 341,
449
Stellenregister
11,1
414, 422f, 424f, 426, 427, 428, 436 149, 277
Amos 5,21–24 9,11f
76 147
Micha 5,1–3 6,6–8 6,8 Joel 2,13 4,19 Jona 1,14 4,2
128, 152f, 154, 160, 176, 177, 255, 274 76 262, 436
413 244 244 413, 421
Zefanja 1,17
84
Haggai 1,9
245
Sacharja 3,8 6,12 8,17 9,9 9,11 10,2f 11,4–13 11,13 13,7 14,2
165 165 297, 337 129, 169, 178, 224 249 130, 159, 168, 427 274 243f 158, 274, 410 247
Jesaja 1,11–17 5,1–7 6,9f 7,14 8,23 11 11,1 11,4 13,14
76 16 266 149 34, 136 166 152 166 159, 427
13,17 15,18 22,22 23,1–18 26,19 28,14 29,13 29,18f 29,22 34,5f 35,5f 42,1–4 42,7 43,6 53,4 53,6 53,11 55,7 56,7 58,1–8 60,6 61,1 62,11 66,1
274 327 147 122, 163 167, 188 247 76, 345, 346 167, 275, 285 327 120 167, 275, 285 34, 168 275 277 168 393 249 421 235, 238 329 34 275, 285 129, 178, 224 339
Jeremia 1,10 2,8 2,13 2,26f 2,30 3,11 3,15 4,9–14 4,9 5,1–14 5,21 5,31 6,1–8 6,13f 6,20 7 7,3–11 7,4 7,6 7,10 7,11 7,21–23 7,25f
246 245, 246 245 246 245 250 159 247 245 245 250 246 247 246 248, 329 248, 253 329 248 244 248 235, 238, 247f 248 245, 248
450 7,32–34 7,32 8,10 10,21 11,7 11,15 12,7 12,10f 14,14 18,1–12 19 19,1–13 19,1 19,4 19,11f 19,12 20,1–6 21–23 22,1 22,3 22,5 22,17 23,1–6 23,1–4 23,1f 23,3–6 23,3f 23,5f 23,7–10 23,10 23,11–31 24 24,6 25,9 25,22 25,34–36 26 26,2f 26,5 26(33),6 26(33),7–19 26(33),10 26(33),15 26(33),16 26(33),24 27,6f 27,15 29,7–23
Stellenregister 248 247 246 246 245 248 245 246 77 243 244–247 243 245 244 247 247 246 246 245 244 245 244 159, 160, 222 158f 158, 159 246 159, 246 159f, 165, 246, 250 159 160 160 247 246 250 122 246 246, 248, 254 249 249 235, 248, 249 246, 248 246 241, 244, 247, 248, 249 246 246 250 77 247
30,9 30,21 31,10 31(38),15 31(38),16–18 31,31–34 32(39) 32(39),7–9 32,23 33,14–17 33,15 35,17–19 36,26 37,5–10 37,15 38,1–13 38,17f 39,15–18 40,1–6 45,2–5 50(27),6 50(27),17
159, 246 246 159 243, 250, 251 251 249f 250 243 245 159 165, 246 247 246 254 246 246 254 247 250 247 130, 158f, 246, 394 393
Threni 1,7 1,11 2,14 4,13 4,21
247 247 245 244 120
Ezechiel 9–11 11,22f 25,12–14 32,5 34 34,2–10 34,2 34,4 34,5 34,8 34,11–31 34,11f 34,13f 34,16 34,23–31
235, 252 235 120 84 130, 158–160, 169f, 222, 246, 274f, 393 274 158 168, 246, 393 130, 159, 427 130, 159, 427 274, 394 393 394 130, 161 168, 246, 285, 393, 394 130, 160
Stellenregister 130, 160, 168, 274, 412 165 158 394 130, 160, 165, 394, 412
2,1–6 2,1 2,2
Susanna 7f
331
2,4
Daniel 7,13 9,27 11,31 12,11
184 244 244 244
34,23f 34,24 34,31 34,34 37,24f
1.2 Neues Testament Matthäus 1 1,1–17 1,1
1,2–17 1,2f 1,6 1,16 1,17 1,18–25 1,19 1,20 1,21
1,22f 1,22 1,23 1,25 2 2,1–12
150 150, 162 21, 34, 60, 127, 135, 142, 150, 152, 162, 163, 165, 175, 176, 273 151, 152, 176, 437 177 127, 176 127, 152, 176 142, 151, 152, 176 61, 127, 148f, 151, 152 122, 399 60, 62, 127, 138, 149, 273 14, 105, 142, 154f, 162, 180f, 200, 202, 278, 406, 421, 430, 431 67, 158, 241, 290, 317 73, 149 202, 235 149 153, 156f, 182, 223 127, 131, 136, 152, 176, 194, 222, 223, 225, 267, 268, 279
2,3–6 2,3
2,5f 2,6
2,7f 2,9 2,11 2,12 2,13–18 2,13–15 2,13f 2,13 2,15 2,16–18 2,16 2,17f 2,17 2,19–21 2,19 2,20 2,21 2,22f 2,22 2,23 3,1f 3,2 3,3 3,5 3,6 3,7–10 3,7 3,8 3,9 3,11 3,13–17 3,13
451 275 156, 177, 222 151, 156, 162, 172, 173, 176, 222, 223, 232, 274 9, 130, 226, 232 15, 127, 130, 133, 156, 177, 178, 222, 223, 224, 231 127, 150, 156, 162, 176, 222, 274 152, 157 9, 14, 119, 128, 151, 153, 154f, 169, 177, 222, 255, 274, 276, 367, 425 157, 177, 193 156, 222 34, 156, 172, 177 49, 121, 156, 177 177 223 49, 121, 156 177 73, 149, 156, 177, 223, 290, 317, 432 157 156, 177, 243 250, 290 73, 241, 242 120, 223 156, 177 120, 237 237 223 49, 121, 156, 177 73, 290 209 155, 209, 210 210 193, 223 209, 407 130, 210 229, 232 210 135 209, 210 202, 208, 210–218 140, 193
452 3,14f 3,14 3,15 3,16f 3,16 3,17 4 4,1–11 4,1 4,2–4 4,3 4,5–7 4,6 4,11 4,12–16 4,12 4,15 4,16 4,17 4,18–22 4,18 4,19 4,23–9,35 4,23–25 4,23
4,24f 4,24 4,25 5–7 5 5,1–20 5,1f 5,3–12 5,3 5,4 5,5 5,6 5,7 5,8–10 5,8 5,9 5,10–12
Stellenregister 210 140, 211f, 216 73, 193, 202, 208, 212, 216, 217, 290 149, 215f 118, 140 138, 140, 148 119, 214 141, 432 193 215 213 185 213 214 37, 223 49, 121 34, 136, 144 14, 119, 431 48, 155, 186, 209, 284, 301 23 50 137 120, 137, 138 48, 119, 426 5f, 14, 48, 79, 126, 128, 138, 154f, 161f, 207 126 120, 161, 267, 268 119, 123, 223, 272, 280 23, 155, 161 97f, 105 31 303, 359 289, 419, 437f 80, 204, 438 438 204, 438 203, 204, 205, 207, 438 413, 415, 419–421, 437f 204 438 97, 371, 376, 438 80, 196, 285
5,10
5,11f 5,12 5,13–16 5,14 5,16 5,17–48 5,17–20
5,17–19
5,17
5,18f 5,18 5,19
5,20–48 5,20
5,21–48
5,21–32 5,21–26 5,21f 5,21 5,22–24 5,22
44, 80, 203, 204, 205f, 207, 376, 437, 438 133, 206, 370, 376, 437 32, 76, 131, 226, 227, 293 137, 289, 375 137 44, 137, 207, 375 87, 109, 289–303, 320, 341, 343 30–32, 57, 289–294, 296, 302, 317, 318, 360 72, 73, 74, 75, 77, 78, 88, 305, 307, 309 58, 74, 217, 288, 290, 291, 292, 296, 304, 308, 317, 318, 359, 423f, 436 74, 307 24, 54, 58, 290, 292, 318, 344 31f, 59, 73, 74, 290, 292, 293, 294, 308, 309, 317, 341 57, 72, 77, 343 73, 96, 197, 203, 204, 207, 232, 294, 297–300, 302, 305, 309, 313, 318, 337, 359, 361, 370, 375, 384, 413 30, 40, 56, 58, 203, 288, 294–302, 308, 318, 319–340, 345, 375, 413 108, 337, 346, 372, 413 330, 337, 342 323, 324, 326–329, 335 297, 302, 316, 320, 321, 323, 330, 338 434 320–324, 327, 328, 331, 411
Stellenregister 5,23–26 5,23f 5,25f 5,27–30 5,27f 5,27 5,28 5,29f 5,31f 5,31 5,32 5,33–37 5,33 5,34 5,35 5,38–48 5,38–42 5,38 5,39–42
5,39 5,40 5,41 5,42 5,43–48
5,43f 5,43 5,44f 5,44 5,45–48 5,45 5,46f 5,46 5,47 5,48
6,1–18
328 239, 311, 329 329 337, 349 326 297, 316, 330f, 335, 338 330–337, 411 335f, 390f 349 122, 298 58 316, 337–340 337, 338 339 223, 339 348–380 349, 360–368, 371, 374, 377 356, 361 300, 359, 361f, 363, 368, 371, 372, 373f, 375 360–363, 411 101, 362, 363 361, 362, 363, 371, 378 363 100, 255, 303, 316, 330, 349, 365, 368– 377 369, 375 96f, 297, 369, 370, 372 375, 376 97, 196, 353, 371, 376, 411 371 97, 356, 371, 374, 375, 376, 438 315, 370, 371, 375, 401 97, 369, 376 21, 298, 370, 375, 376, 401 100, 301, 302, 303, 343, 356, 359, 372, 375, 409, 412, 413 108, 159
6,1 6,2–4 6,2 6,5 6,7 6,9 6,10 6,12 6,14f 6,16 6,24 6,30 6,32 6,33 7,1–5 7,1 7,2 7,3–5 7,5 7,12 7,13–27 7,13 7,15 7,21–27 7,21–23 7,21 7,22 7,28f 7,29 8 8,1–9,34 8,1–4 8,1 8,2 8,5–13 8,5 8,6 8,7 8,8f 8,8 8,9 8,10 8,11f 8,11
453 203, 207, 217, 331 414, 438 159 159 21, 401 339 264 417f, 420, 432 105, 315, 417f, 432 159 100, 104 262, 263, 284, 285 21, 207 100, 203, 207f, 374, 419 399f, 411 23, 104, 393, 399 408 434 399 31, 58, 87, 107, 291, 292, 312, 436, 439 420, 434 384 76 419 72, 75–78, 88 75, 197, 384 75–77 302, 359 6, 155, 280, 282 137 48, 155, 270 271, 426 280 75, 173, 271, 272 9, 35, 124, 126, 263, 266, 279–283, 285 285 75, 173, 266, 279, 282 121, 124, 279 124, 268, 279, 281 75, 173, 266, 280f 124, 280f 124, 262, 266, 268, 280 282 135
454 8,13 8,14 8,16f 8,16 8,21 8,23–27 8,25 8,26 8,27 8,28–34 8,28 8,29 8,30 9 9,1–17 9,2–13 9,2–8 9,2 9,8 9,9–13
9,9 9,10–13 9,10 9,11 9,12f 9,13
9,15 9,18f 9,18 9,20–22 9,21f 9,21 9,22 9,23–26 9,25 9,26 9,27–34
Stellenregister 124, 262, 264, 266, 268, 271 271 168 267, 280, 282, 426 75, 173 263 173 64, 262, 284 85 9, 35, 125, 126, 427 172 125, 126, 137, 279 307 269, 279, 283 48 275 154, 156, 263, 266, 267–270, 407, 421 154, 262, 267f, 271, 272, 282, 284 156, 315, 402 21, 304, 370, 401, 421–424, 426, 429, 431 271, 421, 431 271, 422, 438 271, 421 304 373 31, 40, 57, 101, 206, 239, 271, 304, 305, 318, 329, 341, 414, 423, 424, 428, 435, 436, 437 284 188, 271 6, 173, 270 263, 266, 269f 181 269 262, 269, 271, 273, 282 188, 271 188 271 128, 131
9,27–31
9,27f 9,27
9,28f 9,28 9,29 9,30f 9,32–34 9,32 9,33f 9,33 9,34 9,35 9,36–11,1 9,36–10,8 9,36
10 10,1 10,5–42 10,5f 10,5 10,6–8 10,6
10,7f 10,7 10,8 10,14 10,16–39 10,16–25 10,17 10,18
61, 128, 161, 263, 265, 266, 270–276, 285, 425 271 60, 120, 127, 128, 150, 161, 175, 214, 238, 271–274, 414, 425–428, 432, 435 265, 275 262, 272, 274f 262, 264, 271, 275, 282 271, 275 128, 221, 270, 275 161 14 60, 120, 126, 211, 270 130, 221, 232 5, 48, 79, 155, 161, 426 184, 431 425 129f, 150, 155, 158, 159, 163, 222, 246, 367, 393, 414, 432, 427f, 431, 435, 439 9, 12, 129, 134, 155, 393 76, 155, 161, 263, 428 156 9, 11, 116–118, 155 9, 12f, 137, 143 117 86, 118, 119, 129f, 134, 143, 155, 159, 196, 222, 238, 392, 393, 427, 428 156 155, 209, 428 76, 155, 188, 263, 428 401 80, 285 196 5, 6, 8, 11, 80, 111, 321, 370 370
Stellenregister 10,22 10,23 10,24f 10,28 10,33 10,38f 10,38 10,39 10,40–42 10,41f 11,1 11,2–6 11,2f 11,4f 11,5 11,11 11,13 11,19 11,25–30 11,25–27 11,25 11,27 11,28–30 11,29f 11,29 12,1–21 12,1–14 12,1–8 12,1 12,2 12,3–8 12,3f 12,3 12,5–7 12,5 12,6f 12,6 12,7
12,8 12,9–14
134 9, 134, 195, 233 197, 215, 228 154 417 215 198 154 386, 389, 434 32, 76, 293 426 48, 138, 167, 168, 181, 214, 273 138, 140, 150, 162, 175, 211, 275, 313 285 167, 169, 175, 188, 270, 275 32, 293 58, 291, 292 21, 313, 370, 401 312f 84f 313 281, 291 200, 313, 316, 425 313 200, 255, 387, 412, 438 37 31, 48, 55, 73, 288, 308, 313, 316 304, 305, 381, 427, 428, 436 46, 318, 424, 425 427 425 146, 424 206, 304, 305 51, 52, 304, 424 206 238 238, 239, 309 31, 57, 101, 206, 239, 318, 329, 341, 414, 424, 427, 432, 436, 437 425 305, 306, 381, 427
12,9 12,10 12,12 12,15 12,15–21 12,17–21 12,20 12,22–45 12,22–24 12,22f 12,23f 12,23
12,24 12,25–37 12,25–27 12,28 12,33 12,34 12,38–45 12,40 12,43–45 12,44 12,45 12,46–50 12,49f 13,1 13,3–9 13,10–17 13,10 13,11 13,12 13,13 13,15 13,16f 13,18–23 13,21 13,23 13,24–30 13,30 13,35 13,36–43 13,36 13,38
455 5, 6, 111, 427 427 306, 427 49, 121, 168, 426 168 34, 67, 123, 136, 144, 158, 168 168 11 128, 131, 221, 270 61, 161f, 175, 214, 273, 276 14, 157, 181, 275 60, 128, 138, 150, 162, 175, 211, 221, 273 80, 130, 221, 222, 232 79 221 17, 125 84 15, 80, 229 130, 221, 229 185 80 193 80, 193 395, 434 65 50, 271 184 85, 134 410 63, 84, 286 16f 63 266 84 184 80 63, 286 72, 78–80, 196 331 17 78–80, 196 271, 410 78f, 184
456 13,41
13,43 13,51 13,52 13,53–58 13,54 13,55f 13,56 13,57 13,58 14,2 14,13–21 14,13 14,14 14,15 14,22–33 14,33 15 15,1–28 15,1–20
15,1–6 15,2f 15,4–6 15,4 15,7–9 15,7 15,8f 15,8 15,10f 15,11 15,12–14 15,12 15,13f 15,13 15,14 15,15–20 15,15 15,17f 15,17
Stellenregister 78, 79, 171, 181, 183, 184, 185, 187, 190, 193, 199 185 63, 286 6 276, 286 5f, 268, 276, 286 276 286 231, 249 263, 268, 271 189 164, 278 49, 121 161, 238, 414, 426, 427, 428, 439 122, 410 62, 85, 212f, 214, 263, 281 63, 85, 138, 139, 173, 186, 287 120, 306, 346 37 31, 32, 55, 73, 121, 289, 307, 308, 316, 343–346 347 294, 306, 307, 344, 345 306, 311 291, 298, 306, 345, 346 345 159 76 346 306, 346 307, 344, 346 232 121 79, 121 246 159, 162, 274, 309, 345 306, 346 410 346 307, 344
15,18 15,19 15,20 15,21–39 15,21–28
15,21 15,22f 15,22
15,23 15,24
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346 56, 297, 306, 327, 332, 346, 347 307, 344 123 9, 22, 35, 120, 124, 126, 174, 263, 266, 275, 276–279, 281, 282, 283, 285 49, 121, 163 163, 164 60, 61, 123, 127, 150, 161, 163–165, 173, 175, 238, 272, 273, 274, 275, 277, 279, 414, 425, 426, 428, 432 122, 272, 277 9, 35, 50, 60, 116, 118, 119, 123, 128, 150, 151, 154, 155, 159, 196, 222, 238, 246, 268, 274, 275, 276, 277, 367, 392, 393, 423, 425, 428 173, 277 61 122, 277f 50, 122, 164, 275, 277–279, 280 124, 164, 262, 264, 266, 277, 285 123, 126 50 123, 161, 169 169 123, 428 122, 414, 428, 432, 436, 439 122 130, 229 185 63, 287 262, 263, 284, 285 232, 286 48, 139, 186 189, 241f, 249
16,16
16,17–19 16,17 16,18 16,18f 16,19 16,20 16,21–28 16,21–23 16,21
16,22f 16,22 16,23 16,24–28 16,27f 16,27 16,28
17,1–13 17,1–9 17,4 17,5 17,9 17,10–13 17,13 17,14–20 17,14 17,15 17,16 17,17 17,19 17,20 17,22f 17,22 17,23 17,24–27 17,25 17,27
Stellenregister
457
18
174, 317, 381–412, 431 32, 293, 384, 387 384–386, 389, 391, 411, 431 64, 384, 385, 407, 429 386, 391, 429 386, 429 384, 387 384, 385, 386 386–411 387, 389, 411, 429, 434 389 387–407, 411 391 74, 262, 264, 265, 275, 283, 284, 387– 391, 429 336, 390f, 411 384, 390 384 438 389, 391–394, 405, 406 388, 391, 429 156, 391, 395, 399, 404, 405, 410, 430 391, 393f, 410 394, 395 392, 393, 405 154, 389, 391, 392, 394, 399, 406, 428 394–407 78, 394, 395, 396, 397, 398, 402–404, 408, 430 105, 358, 394f, 398– 401, 405, 407, 419, 430, 434 6, 21, 111, 401f, 404, 405 195, 402, 404, 405, 406, 407, 416, 430 405, 406, 430 237, 386, 406, 407, 430, 431
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18,8f 18,8 18,9 18,10–35 18,10–14 18,10 18,12–14 18,12f 18,12 18,13 18,14 18,15–20 18,15–17
18,15
18,17 18,18 18,19f 18,20
458 18,21–35 18,21f 18,21
18,22–35
18,22 18,23–27 18,25 18,26 18,27 18,28–30 18,29 18,31 18,32f 18,33 18,34–35 18,34 18,35 19,1 19,2 19,3–9 19,3 19,4 19,7–9 19,7 19,8 19,13–15 19,16–22 19,16 19,17 19,18f
19,18 19,19
19,20 19,21 19,22
Stellenregister 315, 405, 407–411, 429 360, 405, 410, 411 395, 407, 409, 410, 411, 416, 417, 418, 419, 434, 440 410, 411, 414, 415, 416, 417f, 420f, 430, 431, 432, 434, 436, 439 408 418 408, 416 408, 417, 439 414, 417, 439 416, 418 408, 439 410 408 411, 413, 414, 417, 418, 429 410 408, 410 410, 434, 440 382 161, 426, 428 73, 301, 308, 309 122 206 122 293 301 384, 387 32, 100, 104, 105, 347 302, 340 56, 59, 293, 302, 340, 342, 384 98, 102, 291, 310, 316, 340–343, 346, 347 297 96, 100, 105, 297, 303, 316, 342, 369, 437 104, 342 100, 302, 303, 342, 412 342
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20,30f 20,30
20,31
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Stellenregister
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22,34–40
22,34 22,35 22,36 22,37–40 22,38 22,39 22,40
22,41–46 22,41 22,42 22,43 22,44 22,45 23 23,4 23,5 23,6f 23,8–12 23,8 23,10 23,13 23,15 23,16–26 23,16 23,17 23,19 23,21 23,23
23,24 23,25f 23,26 23,27 23,29–39 23,29–36 23,29
459 73, 101, 105, 289, 297, 308, 309, 312, 342, 436, 439 232 310, 311 293 98, 291 293 96, 107, 310, 316, 341, 369 58, 107, 291, 292, 293, 310, 312, 342, 436 139, 150, 175, 227 232 60, 150, 151, 175, 273 61, 146, 151 140, 151, 157, 184 195 60, 61, 146, 150, 151, 273 11, 227, 315 313 331 385 104, 312, 381 65, 118, 402, 434 59, 118, 291 159, 313, 384 74, 159 274 61, 159, 162, 309, 345 61, 162, 345 61, 162, 345 235, 239 31, 57, 58, 159, 262, 294, 309, 312, 318, 341, 414, 436f, 439, 441 61, 159, 162, 309, 345 289 61, 162, 345 159 234, 245, 248 227f, 231, 234, 248 159
460 23,30f 23,30 23,32f 23,32 23,33 23,34–36 23,34f 23,34 23,35f 23,35 23,36 23,37–39 23,37 23,38 23,39 24,1f 24,9–14 24,9f 24,9 24,13 24,14 24,15 24,16–20 24,20 24,23 24,26 24,30f 24,30 24,31 24,34f 24,35 24,45 25,21 25,23 25,29 25,31–46 25,31 25,32 25,34–40 25,34 25,35f 25,37–39 25,40
Stellenregister 131 244 227 207, 227, 229 228, 229, 235 131, 234, 370 207 5f, 8, 11, 76, 80, 227, 231 228, 234, 235, 244 207, 229, 234, 249 229 133, 227, 229, 234, 235 15, 131, 133, 226, 234, 249 235f, 240, 245, 249 184 235 22, 80, 134 134, 196, 370 21 134 185 236, 237, 239 236 288, 305, 316 263, 264, 284 263, 264, 284 185 237 237 292 237 263 263 263 17 200, 415, 420, 432– 436, 441 190f, 195 433 433 182, 197, 433, 435, 441 438 433 182, 387, 433, 435, 441
25,41–45 25,44 25,45 25,46 26f 26,3–5 26,3 26,4 26,5 26,12 26,14–16 26,25 26,28
26,29 26,31 26,33 26,34f 26,35 26,36–46 26,39 26,42 26,47–56 26,47 26,52–54 26,52 26,53 26,54 26,55 26,56 26,59–66 26,59 26,60 26,61 26,63–66 26,63f 26,63 26,64
26,67f 26,69–75 27 27,1f 27,3–10 27,3
433, 435 433 387, 433, 434, 435 200 214f 249 231 207 14, 231 331 274 179 35, 86, 141, 142, 180, 200, 209, 216, 237f, 249, 278, 407, 412, 421, 431 184 158, 222, 274, 410 197 410 197 213 180, 213, 367 141, 180, 213 213, 367 133, 231 281 367, 385 141, 180, 181, 185, 386 35, 142 133 35, 142 206f, 248 207, 239 239 213, 239f 179 214 139, 240 35, 140, 142, 157, 179, 182, 184f, 195, 237, 281 367 417 181f, 228 231, 232 244–246, 274 245
461
Stellenregister 27,4 27,9f 27,11–26 27,11 27,15 27,18 27,19 27,20 27,22 27,23 27,24f 27,24 27,25
27,27–31 27,29 27,32 27,35f 27,37 27,38 27,40 27,41–43 27,42
27,43 27,51–54 27,51 27,52f 27,52 27,53 27,54 27,56 27,62–66 27,62 27,64 28,2 28,9 28,10 28,11–15 28,16–20
28,16 28,17
207, 228, 244 241–247, 250, 255 131, 230 162, 179, 232 230 206, 232, 233 207, 228, 232 133, 230, 232 231 232 133, 244 10, 132, 228, 230, 232 13, 15, 131, 133, 228, 230, 231f, 234, 243, 247, 248, 249 179, 180 162, 172, 179, 232 363 180 162, 179, 180, 181, 232, 407 197f 141, 179f, 213 213 162, 180, 198, 200, 262, 265, 275, 283, 284 141, 179f 35, 140, 181, 185, 214 237, 239, 255 231 189 141, 189 141, 180, 214 172 228, 233 185, 232, 233 14, 133, 231, 233 189 172 417, 434 185, 228 12, 20, 34, 64, 65, 85–88, 157, 187, 195, 417 65, 86 172, 187, 287
28,18–20
28,18 28,18b 28,19f 28,19
28,20
Markus 1,2 1,4 1,5 1,9 1,10f 1,11 1,15 1,34 1,39 1,40–45 1,40 1,41 1,43 1,45 2,1–3,6 2,1–22 2,1–12 2,5 2,12 2,13 2,23–3,6 2,25f 3,7f 3,10 3,11 3,15 3,20 3,21 3,22 3,34f 4,13 4,40 5,1–20 5,2–6
4, 20, 23, 35, 36, 116, 126, 135, 137, 185, 287 79, 143, 157, 195, 368, 386 184, 195, 196, 279, 281 65, 79, 87, 184 9–13, 32, 41, 117f, 137, 143, 164, 215, 281 195, 237, 287, 293, 317, 368, 386, 406
209 209, 407 209, 223 201 149 140, 148, 273 264, 270 426 6 271 173 426 271 271 48 48 154, 267, 268 262, 265, 267 128 431 48, 53, 55 146, 424 119, 223 426 139 155 92 64 130, 221 65 63 64 307 172, 173
462 5,7 5,8 5,11 5,18–20 5,19 5,22f 5,22 5,24–34 5,34 5,35 5,36 5,43 6,5 6,6 6,7 6,13 6,34 6,52 7 7,1–8,9 7,1–23 7,6f 7,6 7,8f 7,10 7,15 7,18f 7,19 7,20 7,21 7,24–30 7,24 7,25 7,26 7,27 7,28 7,29 7,31–37 7,31 8,1–9 8,2 8,10 8,14–21 8,27–30 8,28 8,29 8,31 8,33
Stellenregister 138 125 307 125, 414 414 270 6, 173 269 262, 265 270 264–270 271 271 263, 268 155 155 129, 161, 426, 428 63, 212 120 49f 54f, 68, 318 306 346 306 298 307, 344, 346 307, 344, 346 53, 74f, 120, 306, 308, 318, 346 346 346 121 163 173 122, 163 122 122, 173 278 120, 123 50 120 428 49, 120 63 83 241 138, 139 186 62
8,34–38 8,34 9,1 9,7 9,10 9,19 9,22–24 9,22 9,23f 9,32 9,33–36 9,33f 9,35 9,37 9,38–41 9,42–48 9,42 9,43–47 9,43 9,45 10,1 10,3 10,14 10,15 10,17–22 10,19 10,21 10,32–34 10,33 10,35–45 10,35–37 10,35f 10,37 10,38 10,40 10,46–52 10,47f 10,47 10,48 10,51 10,52 11,9f 11,9 11,10 11,15–18
65 187 187, 196 273 64 263 284 270 269, 270 64 384 64 6 389 387, 389 387 74, 262, 264 336 390 390 161, 224, 426, 428 54 64 384 54, 56 341, 346 342 192 223 192 172, 174 64, 171, 172, 173 197f 216 197 60, 127f, 161, 166, 265, 270f, 272, 273 59, 146, 161 150, 175, 183, 272, 273, 414, 425 150, 175, 183, 272, 273, 414, 425 272, 275 262, 265, 269, 272, 285, 428 146, 178 161 60, 273 223
Stellenregister 11,15 11,17 11,22–24 11,22f 11,22 11,24 11,31 12,10 12,28–34 12,28 12,29 12,31 12,23f 12,35–37 12,35 12,36f 12,36 12,37 13,9–13 13,14 13,21 13,33 14,49 14,59 14,65 15 15,11 15,19 15,21 15,27 15,28 15,32 15,39
238 238, 247 263 262 64, 264, 270 262, 264 262, 265 82 54 310 106, 327 95, 106, 327 223 59, 61, 127, 139, 146, 150, 175 60, 150, 175, 273 150 146 60, 146, 150, 273 134 239 263 125 142 240 367 177 232 172 363 197 123 262, 265 180, 273
Lukas 1,27 1,32 1,68–79 1,68 1,69 1,77 2,4 2,11 2,32 3,23–38 4,7f 5,29 6,3f
147 147 147 132, 230 147 132 147, 153 147 132, 230 176 172 271 146
6,17 6,20–23 6,27–36 6,27 6,29f 6,29 6,32–34 6,35 6,36 6,37 7,1–10 7,1 7,2 7,9 7,29 9,1 9,12 10,7f 10,25 10,27 10,29–37 10,33 10,37 11,14 11,15 11,16–18 11,16 11,29–32 11,42 12,28 12,31 12,50 13,26 13,35 15,3–7 15,8 16,8 17,1f 17,3f 17,6 20,17 20,42 20,44 21,8 22,30 24,52
463 132, 230 437 98, 349, 358f, 413 349 349, 359, 361, 362 367 369, 375 349, 372 372, 413, 418 104 266, 279 132 279 266 132 155 230 307 310, 311 95 414 414 414 161 221 221 130 130, 221 58, 294 263 207 216 76 236 391, 393 394 229 387 394, 395, 407, 416 262 82 146 146 126 191 172
Logienquelle Q (Verszählung nach Lk) 3,7–9 209
464 4,1–13 6,20–23 6,27 6,29f 6,31 6,35 6,36 6,46 7,18–23 7,22 11,14 11,20 12,31 12,58f 16,16–18 17,3f 17,4 17,6 17,23
Stellenregister 57 437, 438 57 360 58 438 413 75 167f 167 161 283 207 329 57f 395, 416 407 264 262
Johannes 1,13 4,29 4,46–54 4,47 6,53–56 7,41f 13,34f
84 129, 221 279 279 84 147 95
Apostelgeschichte 1,16 2,25–31 2,34f 3,12 3,23 4,25f 7,45f 9,2 10,9–16 10,26 11,14f 11,25f 11,30 13–14 13,22f 13,32f 13,34–37 13,45 14,4
146 146 146 132, 230 132, 230 146 146 7 68 280 270 89 89 29 146, 147 143 146 132 132
14,12 14,15 15 15,1–29 15,12 15,16–18 15,20 15,25 15,29 15,36–41 16,16–18 19,11f 19,13–20 21,18–26 21,25 26,17 26,23
89 280 28, 89 86 89 147 33 89 33 90 76 76 76 91 33 132, 230 132, 230
Römer 1,3f 4,6 5,10 8,4 9–11 10,9–13 11,9 12,6 12,9 12,19 12,21 13,8 13,9 13,10 14,13 14,14 15,25–32
143, 147, 149 146 373 73, 290 115 75 146 76 95 404 353 73, 290 340 73 390 74 91
1Korinther 3,11 4,5 5,11 7,18 7,19 8,1–3 8,13 9,19–22 10,1–14 10,4 12,3
80f 126 405 25 33 95 390 399 81 80f 75
465
Stellenregister 12,9f 12,10 12,28f 12,30 13 14 15,9 15,50 2Korinther 11,3 12,12
76 76 76 76 95 76 74 84
79 76
Galater 1,6–9 1,12 1,15f 1,16 1,21 2,1–10 2,2 2,7 2,11–14 2,20 5,14 5,22 6,2
89 82, 83 82 83 89 28, 86, 89 89 86, 87, 90 28, 90, 92 110 73, 95, 290 75 290
Epheser 3,8 6,12
74 84
Kolosser 3,8 3,14
328 95
1Thessalonicher 4,3–5 4,5 4,9 5,20
333 21 95 76
2Timotheus 2,8
143, 147
Titus 3,5
191
1Petrus 1,22 2,12 3,1 3,13–17 3,14 5,13
95 44 399 206 44, 206 253
1Johannes 1,6
76
Hebräer 1,3–5 2,14 4,7 5,5 6,1f 11,32
143 84 146 143 23 146
Jakobus 1,12 1,19f 1,20 1,22–25 1,25 1,26f 1,27 2 2,1–13 2,1 2,2–4 2,2 2,5–7 2,5 2,8f 2,8 2,9–12 2,9 2,11 2,12 2,13 2,14–26 2,15f 2,21–23 4 4,2 4,4 4,7–10
103 328 208 420 102 101 103 104 104, 105 103 103 111 103 103, 104 108 95, 102, 103, 104, 105 102 103 102, 340 420 103, 410, 420 93, 420 103 93 105 108 104 105
466 4,11f 4,11 5,11 5,12 5,14 5,19f
Stellenregister 104, 105, 108, 404 102, 430 420 295, 338, 339 111 399, 404
Offenbarung 3,7 3,15f 5,5 11,3–13 14,8 22,16
147 76 147 197 253 147
2. Frühjüdische Schriften 2.1 Philo von Alexandrien De Josepho 43f 78
335 84
De vita Mosis 1,294–301 2,65
334 191
De Decalogo 18f 19 65 82–95 84 92 106f 121–131 157 168f 170
345 324 101, 311 338 340 339 341 333 338 325, 333 324
De specialibus legibus 1,204 244 2,2–38 338 2,5 339 2,50 325 2,61–63 299 2,63 106, 310 2,224 339 3,8–82 333 3,11 335 3,34–36 333 3,37–42 325 3,64 335
3,83–209 3,92 3,104–107 3,113 3,169–177 3,174 3,204
324 326 326 333 324 324 324
De virtutibus 34–41 58 116–119 219 220–222
334 159 354f, 377 165 136
De praemiis et poenis 83 73, 290 De cherubim 114
191
De posteritate Caini 124 191 172 205 De agricultura 44
159
De migratione Abrahami 89–93 8, 25 De fuga et inventione 139 205
467
Stellenregister Quaestiones in Exodum 2,2 25 2,11 365, 377 Legatio ad Gaium 132–138 156f 197–337 276–329
7 7 366 191
Hypothetica 7,1 7,11–14
335 299
Quod omnis probus liber sit 81 7 De aeternitate 9 47 76 85 93 99 103 107
191 191 191 191 191 191 191 191
2.2 Josephus
251–257
De Bello Judaico 2,161 2,169–174 2,184–203 2,422–424 2,425 2,441 2,443–445 2,466–480 2,539 3,438f 4,138–365 4,151 4,155–157 4,158–160 4,161–192 4,163–172 4,181–183 4,193–365 4,238–269
333 366 366 236 229, 247 236 236 119 235, 252 328 236 236 236 256 236 236 236 236 236
4,242 4,261f 4,312 4,313 4,323 4,326 4,378f 4,564f 5,5–38 5,10 5,14–19 5,19 5,29f 5,39 5,312 5,335 5,345 5,355 5,362–419 5,362f 5,391–393 5,391 5,406 5,411 5,412 5,416f 5,541–546 5,442 5,542 5,566 6,93–365 6,95 6,98 6,104 6,110 6,111–116 6,288–315 6,288–299 6,299 6,301–309 6,301 6,316 6,408
236 236 236 236 252 247 236 236 236 236 236 252 236 255 256 256 256 256 253, 254 254 254 254 254 254 252 254 254 229 254 229, 247, 255 254 254 254 254 255 254 256 255 252 253 247 237 229
Antiquitates Judaicae 3,89f 345 3,91 339 3,274f 335 4,129–132 334
468
Stellenregister
4,280 6,235 8,46–49 8,86f 8,297 10,79f 10,89–96 10,90–92 10,104–107 10,110–114 10,112–130 10,112f 10,114 10,126 10,128 10,141f 10,156–158 10,158 10,176–180 11,66 13,257f 13,297 18,55–59 18,261–309 20 20,34–36 20,41 20,44f 20,166
300, 360 173 166 344 345 252 252 246, 254 252 254 252 250 254 254 254 252 252 254 252 191 119 306 366 366 29 25 33 34 235, 252
Vita 419
254
Contra Apionem 2,175 2,190 2,199 2,215 2,218
299 101, 311 325 335 191
2.3 Jüdisch-hellenistische Literatur Apokalypse Abrahams 24,5 325, 333 24,7 325, 333 Apokryphon Ezechiel Fragm. 5 168
Aristeasbrief 118 132 139–142 139 142 188 190 207 208 225 227 228 290
356 101, 311 53 38, 120 120 363 356 356, 363 369, 372, 418 355 256 356 369
2Baruch/Syrische Baruchapokalypse 6,7–10 250 8,2 235 29,7 167, 285 32,2f 253 66,5 25 67,7 253 73,2 167, 285 4Baruch/Paraleipomena Jeremiae 1,1 247 1,7 247 2,2f 247 2,5 247 2,7 247 3,6 247 3,7f 250 3,18 250 4,2 132 5,18 132, 247 8,1–3 250 CPJ (Corpus Papyrorum Judaicarum, ed. Tcherikover/Fuks) 1,153,90–92 8 4Esra/Jüdische Apokalypse Esras 7,28f 188 7,123 167 8,49 32, 293 10,57 32, 293 12,31–34 166 13,25–38 166 13,49 166
469
Stellenregister 14,32–34
367
1Henoch 7,5 10,6 15,4 16,1 19,1 51,1–5 89,56 95,5 100,7
84 125 84 125 125 188 235 187 187
2Henoch 9,1 10,5f 34,2 44,1 44,3 44,5 50,4 52,1–6
433 324 325 329, 434 323 32, 293 357, 362, 404 329
Joseph und Aseneth 11,10 12,15 23,9 28,3 28,7 28,8–17 28,14 29,1–3 29,3f 29,5
413, 421 421 357 187 357 357 357, 404 357 357, 377 357
Jubiläenbuch 1,24f 15,33f 22,16 23,26–31 31,5–32 34,20 36,4 36,8 39,5 41,1 46,1 50,12
277 25 53 167 136 135 369 369 334 135 369 55, 305
Leben Adams und Evas (griechisch) 13,5 17 27,2 414 Liber Antiquitatum Biblicarum 3,10 188 9,2 84 11,4–14 345 18,13f 334 19,12f 188 44,46 345 51,5 188 60,2f 167f 62,6 84 PseudPhiloJona 148
333
Pseudo-Phokylides 3–8 3 4 8 16 23 57f 57 77 80 140–142 152 190f 193f 213f
325 333 325, 328 101, 311 337 432 328 295, 326 358, 404 97, 371 355, 377 97, 371 325 333 325
Sibyllinische Orakel 3,246 73, 290 3,377 295 3,697 84 3,702 277 3,764 325, 333 5,473 84 Testament Abrahams B 10,4f 420 13,7 84
470
Stellenregister
Testamente der Zwölf Patriarchen Ruben 3,9–12 331 3,10–12 334, 336 3,10–6,4 296 5,1 334 5,3 334 6,1–3 336 6,5–12 136 Simeon 2,6–11 4,4 4,8 6,6
326 352, 398 295 125
Levi 10,3 13,5 16,2–4 16,3 18,10–14
245 204 245 244 188
Juda 10,1 14,1 17,1 19,3 22,3 24,3 24,5 25,1–3
135 295 334 413 147 277 165 188
Issachar 2,3 3,4 3,5 3,6f 4,4 5,2 6,3f 7,1–6 7,2 7,6 7,7
335 105 333, 335 354 334 100, 106, 311, 354, 432 421 334, 335 296, 333, 334, 335 106, 354 354
Sebulon 2
415
4,2 4,11 5,1–8,3 5,1 5,2–4 5,3 5,4 6,1–7,4 6,4–8 6,6 7,1–4 8,1–3 8,1 8,4–6 8,4f 8,4 8,6 9,1–3 9,7
415 326 100 354 354 420 415 415 415 354 414, 415 420 414, 420 398 352 415 353, 415 353 421
Dan 1,3f 1,7f 5,3
295, 326, 328 326, 328 106
Naphtali 6,4 8,7
354 73, 290
Gad 4,2f 6,3–7 6,3f 6,5 6,6 6,7
105, 397, 398, 404 358, 394, 397, 398, 399, 404, 430 358, 398, 399, 400 399, 400 377, 400 358, 400
Asser 2,5–7
432
Joseph 11,1 11,2 13,5–14,6 15,3 17,1–3 17,1f 17,3
106 352, 398 352 352, 398 352 398 353, 354
471
Stellenregister 17,6f 18,1f
352 353, 354
Benjamin 3,3–5 3,3 3,6 4,2f 4,2 4,4 5,1f 5,4 5,5 6,3 8,2
354 106 353 353 354, 439 432 354 377 354 296, 334 296, 334
Testament Hiob 10,3 26,5
432 414
Testament Mose 8,3 10,3
25 277
Vitae Prophetarum 2,1 132 2,9 250 3,14 132
2.4 Qumran CD/Damaskusschrift 1,20f 315 2,16 334 6,20f 370 7,2f 396f 7,19–21 165f 9,2–8 396, 397, 398, 401, 430 9,16–23 398, 400 10,20f 55, 305 12,23–13,1 165 14,18 397 1Q28 (1QS)/Gemeinschaftsregel 1,3f 370 1,6 334 1,8 315 1,9f 370, 397
2,2 5,24–6,1 5,24f 5,25 6,1 6,24–7,25 7,8f 7,24f 8,9 9,11 9,12–21 10,17f
315 105, 394, 396, 397, 398, 404, 430 396, 397, 398 328 397, 401 315, 398 397 405 315 165 397 358, 404
1Q28a (1QSa)/Gemeinderegel 1,17 315 1,28 315 2,12 165 2,14 165 2,20 165 1Q28b (1Sb)/Segenssprüche 1,2 315 5,20f 165 5,24–29 166 1QH/Hodayot (Loblieder) 9,36 315 12,11 205 1Q33 (1QM)/Kriegsrolle 5,1f 166 4Q161 8–10.15–22
165, 177, 181, 188, 367
4Q246 2,1
148
4Q252 2–5 5,1–7 5,3
147 188 165
4Q258 1,2,4 2,4
105 396
472
Stellenregister
Baba Qamma 83–84
300, 360
166
Shabbat 133b 151b
418 420
4Q385b 16,1,5–7 2,2–8
250 188
Yoma 67b
326
4Q504 2,4,6–8
153
Talmud Yerushalmi Berakhot 5,9 418
4Q521 2,2
165, 167, 285
4Q550 35,5
162
4Q285 5,3f
165, 166
4Q376 1,3,1–3
11QT/Tempelrolle 61,6f 240
2.5 Rabbinisches Schrifttum Mischna Shabbat 7,2 Talmud Babli Baba Metsi’a 58b
Midrashim, Targumim und Sammelwerke Avot de Rabbi Natan 16 370 Derekh Erets Rabba 11,15 326, 328 GenR zu 8,7
420
LevR 23 (122b)
335
305 Sifre Deuteronomium §49 418 §96 420 326, 328 Targum Pseudo-Jonathan zu Lev 22,28 418
3. Griechische und römische Literatur Epiktet Dissertationes (Diatribai) 2,14,18 97, 371 2,18,15f 332 3,22,54 356 4,1,79 363 Homer Ilias 6,187
325
Odyssee 3,118f 16,379 16,423
325 325 325
Isocrates Demonicus 29
97, 371
473
Stellenregister 336a
97, 371
Plutarch Moralia 90B–C 379F 428D 722D 998C
328 191 191 191 191
Lukian MuscEnc 7
191
Philopseudes 13 15 30
264 264 264
Marc Aurel 9,11 9,27 11,1
372 372 191
Pseudo-Aristoteles Rhetorica ad Alexandrum 1 1421b37–39 369
Martial Epigrammata 7,28
25
Seneca De Beneficiis 4,26,1
372
Musonios Fragm. 12
325, 333
Platon Kriton 49A–E
356
De ira 1,1,5 1,4,3 2,32,1 2,32,3 3,6,1f 14,5
323 328 356, 364 363 328 328
Menon 71E 81B
97, 371 191
Sueton Vespasian 4,5
256
Tacitus Historiae 5,13,1f
235, 256
Xenophon Memorabilia 4,4,24
369
Phaidon 70C 72A
191 191
Phaidros 245C
328
Politeia 332e
97, 371
4. Antikes Christentum Barnabasbrief 3,2 19,2
421 107, 327
Didache 1–6
23
1–5 1,2 1,3–2,1 1,3 1,4 2,3
33 106, 107, 109, 327 108 108, 327, 376 109 108, 337, 338
474 2,5 2,7 3,1–6 3,2–6 3,2 3,3 3,4f 3,6 4,3 6,2f 6,3 7,1 8,1f 11,8 11,10 15,3 Euseb Historia Ecclesiae 3,23,19 5,1,63 10,4,46
Stellenregister 108 108 108, 327 326, 328 326f, 328 326, 333, 346 326, 328 328, 346 108 109, 110, 293, 315 33 23, 112 109 77 77 399, 405
191 191 191
Praeparatio Evangelica 9,33,1 122 10,39,2–5 242 15,19,1 191 Hirt des Hermas Similitudo 8,9,1
76
Ignatius An die Smyrnäer 1,1
143
1Klemens 9,4 49,1–50,7
191 95
Pseudoklementinen Homilie 17,18,1f 82 Testament Salomos 1,7 166 20,1 166
Autorinnen- und Autorenregister Abegg, M.G. 167 Allison, D.C. 14, 17, 18, 20, 22, 34, 58, 78, 82, 83, 119, 122, 125, 126, 130, 141, 149, 152, 156, 171, 173, 174, 176, 193, 197, 204, 209, 211, 213, 219, 226, 227, 229, 231, 232, 238, 239, 241, 242, 243, 256, 262, 267, 270, 273, 275, 277, 278, 281, 284, 290, 292, 293, 297, 299, 301, 306, 307, 311, 321, 329, 330, 336, 344, 345, 360, 362, 365, 376, 385, 386, 387, 390, 391, 392, 393, 395, 396, 399, 402, 408, 409, 410, 423, 436, 439 Amir, Y. 345 Anderson, J.C. 159 Anno, Y. 116 Backhaus, K. 38, 157 Balabanski, V. 22, 236 Banks, R., 291, 292, 299, 302 Barth, G. 58, 63, 204, 205, 208, 216, 261, 262, 263, 264, 286, 291, 299, 305, 307, 310, 311, 388, 395, 402, 403 Bauckham, R. 135 Bauer, D.R. 138, 156, 174, 177, 186, 222 Baxter, W. 156, 158, 159, 166, 168, 274 Beaton, R.C. 34, 46, 154 Beauchamp, P. 154 Becker, E.-M. 71 Becker, H.-J. 228 Becker, J. 188, 365, 373, 404 Becker, M. 167 Begg, C.T. 252, 253, 254 Berg, I.C. 180 Berg, W. 212 Berger, K. 316, 320, 342, 345, 346, 432 Bergmeier, R. 167 Betz, H.D. 299, 319, 320, 419 Bilde, P. 252, 256 Billerbeck, P. 32, 84 Blanton, T.R. 155, 288 Blaschke, A. 24 Block, D.I. 158
Boecker, H.J. 360 Böckler, A. 147 Böttrich, C. 323 Bonhoeffer, D. 380 Bornkamm, G. 281, 388, 392, 402, 405, 406 Brandenburger, E. 435 Brandenburger, S.H. 177 Brandon, S.G.F. 70 Breytenbach, C. 51, 150 Broer, I. 30, 32, 96, 132, 148, 166, 173, 201, 232, 288, 290, 293, 294, 295, 306, 307, 344 Boer, M.C. de 408, 417 Brooks, S.H. 403 Brown, J.K. 262, 286 Brown, R.E. 62, 148 Brown, S. 22, 134 Brueggemann, W. 153 Büchsel, F. 191 Bultmann, R. 83, 261, 264, 382 Burchard, C. 30, 56, 96, 101, 103, 111, 123, 124, 125, 207, 278, 280, 282, 288, 289, 290, 296, 298, 299, 311, 319, 357, 359 Burger, C. 59, 122, 131, 149, 223, 270 Burkill, T.A. 120 Burridge, R.A. 381 Byrskog, S. 52 Carmody, T.R. 397, 398, 401 Carter, W. 5, 27, 35, 278 Chae, Y.S. 156, 158, 159, 161, 166, 168, 175, 222, 392, 393 Charles, J.D. 30, 96, 288 Charlesworth, J.H. 59, 166, 188 Claussen, C. 7 Cohen, S. 253, 254 Collins, A.Y. 264 Collins, J.J. 26, 165, 167, 353
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Autorinnen- und Autorenregister
Cousland, J.R.C. 14, 117, 128, 129, 130, 131, 132, 160, 161, 166, 167, 175, 221, 226, 426 Crüsemann, F. 350, 351 Cullmann, O. 201 Cuvillier, É., 290, 343 Daube, D. 253 Dautzenberg, G. 295, 300, 337, 338, 339 Davenport, G.L. 177 Davies, W.D. 14, 17, 18, 20, 22, 34, 58, 70, 78, 82, 83, 119, 122, 125, 126, 130, 141, 149, 152, 156, 171, 173, 174, 176, 193, 197, 204, 209, 211, 213, 219, 226, 227, 229, 231, 232, 238, 239, 242, 243, 256, 262, 267, 270, 273, 275, 277, 278, 281, 284, 290, 292, 293, 297, 299, 301, 306, 307, 311, 321, 329, 330, 336, 344, 345, 360, 362, 365, 376, 385, 386, 387, 390, 391, 392, 393, 395, 396, 399, 402, 408, 409, 410, 423, 436, 439 Deines, R. 30, 40, 99, 101, 169, 176, 202, 204, 205, 206, 208, 217, 291, 292, 293, 294, 304, 310, 343 Denaux, A. 189 Denis, A.-M. 183 Derrett, J.D.M. 191 DeSilva, D.A. 353 Dettwiler, A. 262 Dey, J. 191 Dibelius, M. 102, 104, 382 Dietrich, W. 146, 147, 169 Dietzfelbinger, C. 30, 96, 288, 301 Dobbeler, A. von 12, 117, 118, 126 Dobbeler, S. von 307, 344, 398, 402, 403 Döpp, H.-M. 228, 233, 235, 245, 250, 255, 256 Doering, L. 242, 250, 305 Donaldson, T.L. 40 Doole, A. 47 Dormeyer, D. 135, 140, 143, 149 Draper, J. 106, 109, 327 Dschulnigg, P. 60 Duling, D.C. 127, 155, 161, 166, 167, 175, 396 Dunn, J.D.G. 51, 52 Dupont, J. 205, 382, 392, 438 Ebersohn, M. 335, 396
Ebner, M. 52, 434, 435 Eckstein, H.-J. 20, 30, 96, 288, 289, 298, 308 Ehrman, B.D. 333 Eissfeldt, O. 201 Elmer, I.J. 71 Engberg-Pedersen, T. 71 Evans, C.A. 167, 174, 190, 253 Feldmeier, R. 206, 296, 301 Feldtkeller, A. 27, 49 Feneberg, R. 17, 226 Fiedler, M.J. 204, 208, 217 Fiedler, P. 6, 17, 132, 152, 154, 194, 230, 236, 238, 239, 267, 336, 362, 383, 386 Fischer, U. 256 Fisher, L.R. 166 Flint, P. 397 Flusser, D. 107, 109, 327 Forkman, G. 386, 390, 394, 396, 403 Foster, P. 5, 19, 20, 21, 31, 42, 45, 58, 70, 87, 91, 93, 188, 332 France, R.T. 174, 189, 191, 194, 197, 211, 267, 361, 362, 383, 385, 389, 395 Frankemölle, H. 13, 21, 22, 23, 132, 133, 134, 135, 142, 163, 176, 190, 220, 226, 230, 279, 290, 382, 383, 388, 389 Friedrich, J. 433 Fuller, R.H. 343 Gale, A.M. 26 Galot, J. 401 Garbe, G. 219, 220, 230, 233, 234, 235, 243 García Martínez, F. 167 Garland, D.E. 229, 233 Garleff, G. 109, 110, 111 Garrow, A.J.P. 95 Gaston, L. 237, 239 Gemünden, P. von 322, 323, 327 Gewalt, D. 433 Gibbs, J.A. 185, 226, 233, 237 Gibbs, J.M. 129, 162 Gielen, M. 14, 31, 57, 132, 153, 156, 157, 221, 222, 223, 227, 230, 239, 293, 305, 308, 309, 312, 317, 344, 421 Giesen, H. 116, 122, 204, 208, 212, 217, 223, 233, 277, 278, 390, 394, 395, 397, 400, 401
Autorinnen- und Autorenregister
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Gnilka, J. 27, 58, 60, 83, 84, 116, 119, 120, 122, 125, 126, 130, 134, 135, 138, 140, 142, 148, 152, 173, 183, 193, 194, 205, 209, 211, 215, 227, 231, 238, 242, 264, 272, 278, 299, 307, 320, 321, 329, 330, 336, 338, 344, 361, 362, 365, 373, 382, 385, 386, 388, 390, 391, 392, 393, 394, 395, 396, 400, 403, 406, 407, 409 Goldhahn-Müller, I. 383, 388, 391, 395, 398, 401, 402, 403, 405 Goldschmidt, L. 326 Green, H.B. 438 Grindheim, S. 433, 434 Grundmann, W. 382, 388, 399 Guelich, R.A. 360 Gundry, R.H. 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 153, 158, 159, 173, 177, 204, 232, 235, 239, 240, 243, 244, 245, 246, 250, 278, 279, 299, 321, 332, 345, 362, 382, 384, 385, 386, 387, 395, 396, 399, 400, 401, 406 Gurtner, D.M. 209
Herzog, W.R. 409 Hess, J. 409 Heubült, C. 73, 308 Hickling, C.J.A. 405 Hieke, T. 263 Hill, D. 423 Hinkle, M. 427 Hoffmann, P. 231, 236, 359, 362 Hofius, O. 265 Holm-Nielsen, S. 182 Holtz, G. 40 Holtzmann, H.J. 50, 123 Hoppe, R. 100, 102, 303, 343 Horsley, R.A. 363 Horst, P. van der 287, 325, 355 Houlden J.L. 20, 307 Huber, W. 372, 373, 379 Hultgren, A.J. 383 Hummel, R. 132, 233, 295, 298, 304, 306, 311, 319, 344 Hunziker-Rodewald, R. 128, 153, 155, 158 Hunzinger, C.-H. 253
Haacker, K. 132, 219, 230, 261 Häfner, G. 179, 202, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 240 Hagner, D.A. 4, 22, 46, 125, 126, 171, 173, 179, 194, 203, 204, 211, 238, 239, 267, 331, 362, 382, 386, 388, 392, 393, 407 Hahn, F. 283 Hakola, R. 11 Ham, C.A. 159 Hampel, V. 134 Hannan, M. 382, 385, 394 Hare, D.R.A. 116, 228, 229, 230, 236 Harrington D.J. 20, 22, 26, 70, 93, 116, 171, 173, 190, 196, 197, 207, 238, 267, 281, 433 Hartin, P.J. 4 Hays, R.B. 158, 241, 251 Heater, H. 153 Heidegger, M. 18 Heil, J.P. 35, 130, 158, 181, 222, 274, 276, 278, 405 Held, H.J. 124, 125, 128, 261, 262, 264, 267, 270, 283, 284, 286 Hengel, M. 197 Hermisson, H.-J. 261 Herzer, J. 44, 181, 231
Iverson, K.R. 70, 83 Jacobi, C. 74 Jefford, C.N. 107, 108, 109, 326, 327 Jeremias, J. 320, 321, 383 Jöris, S. 228 Johnson, L.T. 79, 108 Jones, J.M. 129 Jones, K.R. 220 Joseph, S.J. 58 Kähler, C. 395 Kaiser, O. 263 Kampen, J. 298, 319 Karrer, M. 146, 148, 152, 166, 167, 175, 375 Kato, Z. 49 Keener, C.S. 164, 174, 190, 197, 278 Kellermann, U. 98, 316 Kennedy, J. 136, 423 Kessler, R. 152 Kiilunen, J. 310 Kilpatrick, G.D. 383 Kingsbury, J.D. 127, 131, 140, 150, 162, 182, 186, 201, 214, 221, 226, 239, 273 Klassen, W. 97, 371
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Autorinnen- und Autorenregister
Klein, H. 261, 262, 264, 266, 286, 382 Klein, M. 102 Kloppenborg, J.S. 106, 107, 108, 110, 236, 326, 327 Klostermann, E. 173, 267, 388 Knibb, M.A. 148, 165, 397 Knowles, M. 227, 230, 231, 232, 241, 242, 243, 244, 246, 248, 249, 250, 253 Kollmann, B. 295 Kosmala, H. 230 Kraus, H.-J. 149 Kraus, W. 14, 24, 26, 34, 35, 52, 116, 140, 141, 182, 214, 230 Krentz, E. 135 Kreyenbühl, J. 82 Krieger, K.-S. 119, 361, 362, 364 Küchler, M. 334 Künzel, G. 388 Kugel, J.L. 396, 397, 398, 399, 430 Kuhn, H.-W. 96, 288, 358 Kupp, D.D. 237, 406 Laato, A. 165, 176 Lambrecht, J. 186, 310, 383, 388, 392 Lampe, G.W.H. 236 Landmesser, C. 154, 421, 423 Légasse, S. 164, 388 Leon, H.J. 7 Leutzsch, M. 410 Levine, L.I. 7 Levine, A.-J. 14, 24, 130, 132 Lichtenberger, H. 397 Liebenberg, J. 383 Lindemann, A. 333 Lindner, H. 253 Loader, W.R.G. 168, 299, 319, 322, 330, 331, 335 Löhr, H. 54, 99, 316, 325, 337, 341 Lövestam, E. 146 Lohfink, G. 119, 363, 365 Lohfink, N. 178, 224 Lohmeyer, E. 194, 382 Lohmeyer, M. 22, 155, 233 Lohse, E. 261, 303 Loopik, M. van 326 Lovsky, F. 14 Luck, U. 99, 102, 124, 173, 215, 305, 321, 322, 336, 342, 382 Ludwig, M. 102
Lüdemann, G. 81 Lührmann, D. 97, 261, 263, 358, 359, 362, 376 Luomanen, P. 11, 32, 57, 78, 252, 289, 293, 294, 308, 388, 391, 392, 393, 395, 398, 402, 403 Luther, M. 347 Luz, U. 3, 4, 8, 9, 10, 12, 16, 22, 27, 30, 33, 44, 45, 46, 47, 48, 51, 58, 61, 69, 76, 77, 83, 88, 90, 93, 96, 101, 116, 118, 119, 121, 122, 124, 125, 126, 129, 130, 132, 135, 138, 139, 140, 141, 143, 149, 152, 155, 157, 158, 162, 164, 174, 175, 176, 179, 180, 185, 190, 191, 196, 197, 198, 201, 202, 204, 205, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 216, 217, 219, 227, 230, 231, 235, 236, 237, 238, 239, 241, 243, 244, 249, 262, 264, 266, 269, 272, 273, 277, 278, 279, 286, 288, 290, 293, 295, 298, 300, 301, 304, 306, 307, 311, 321, 322, 323, 324, 329, 330, 331, 339, 344, 345, 362, 363, 364, 365, 369, 371, 372, 373, 374, 376, 382, 383, 384, 385, 386, 387, 388, 390, 392, 393, 394, 395, 396, 399, 400, 402, 403, 405, 406, 407, 408, 409, 410, 411, 413, 414, 416, 418, 419, 420, 421, 427, 434, 435, 438, 440 Lybæck, L. 427 Maier, J. 153 Maisch, I. 141, 383, 391, 395, 401 Manning, G.T. 160 Marcus, J. 46 Marguerat, D. 10, 209 Marshall, C.D. 261 Martin, F. 158, 159 Martin, R.P. 104 Mason, S. 252 Mathys, H.-P. 98, 350, 351, 396 Mayer-Haas, A.J. 291, 304, 305, 306, 313, 316, 318, 344, 425 Mayordomo-Marín, M. 135, 136, 176, 273 McAfee Moss, C. 200, 274 McDermott, J.M. 233 McEleney, N.J. 26 McKnight, S. 156, 233 Meier, J.P. 9, 14, 23, 27, 47, 69, 141, 164, 187, 202, 204, 208, 276, 292
Autorinnen- und Autorenregister Meiser, M. 99, 222, 303, 315, 343 Meisinger, H. 99, 104, 343 Menken, M.J.J. 152, 153, 242, 243, 249 Menninger, R.E. 116, 117 Merkel, H. 346 Merklein, H. 373 Merz, A. 152 Metzner, R. 44, 206 Meyer, R. 132, 230 Milavec, A. 95, 107, 109 Minear, P.S. 155, 221 Moffitt, D.M. 241 Mohrlang, R. 24, 69 Moo, D.J. 243, 244 Morris, L. 194 Müller, K. 40, 299, 302 Müller, M. 71, 118 Mußner, F. 83 Neyrey, J.H. 164 Nickelsburg, G.W.E. 182 Niebuhr, K.-W. 30, 40, 96, 166, 167, 288, 295, 325 Niederwimmer, K. 106, 107, 108, 109, 326, 327, 328 Niemand, C. 433, 434, 435 Nolan, B.M. 156, 177 Nolland, J. 26, 84, 140, 148, 164, 180, 185, 191, 193, 194, 197, 210, 216, 267, 268, 270, 271, 281, 282, 320, 323, 329, 330, 331, 332, 336, 338, 360, 361, 362, 365, 366, 387, 388, 391, 393, 394, 395, 399, 405, 407, 408, 409, 411, 422, 423, 439, 439 Novakovic, L. 118, 127, 129, 131, 148, 149, 151, 154, 161, 162, 166, 167, 168, 175, 224, 273, 313, 425 Oberforcher, R. 152 Oberweis, M. 197 Öhler, M. 89 Olmstead, W.G. 35, 219, 231 O’Leary, A.M. 47, 54 Ottenheijm, E. 424 Oveja, A. 392 Overman, J.A. 4, 10, 11, 26, 38, 173, 281, 308, 314, 382, 403 Paesler, K. 240
479
Park, E.C. 10, 233 Park, J. 388, 395 Paschke, B. 137 Paul, D.J. 10, 152, 233, 246 Paulsen, H. 333 Pesch, R. 62, 148, 149 Pesch, W. 383, 388, 390, 394, 395 Pfaffenroth, K. 161, 169, 175 Pietsch, M. 148, 165 Piper, J. 98, 350, 358, 359, 364 Plessis, P.J. du 373 Pokorný, P. 406 Pomykala, K.E. 165, 176 Popkes, W. 102, 210, 217 Poplutz, U. 262, 263, 284 Powell, M.A. 226 Pratscher, W. 337 Preuss, H.D. 263 Przybylski, B. 6, 20, 204, 205, 208, 210, 217 Räisänen, H. 68, 74 Ramshaw, E.L. 407 Ratzinger, J./Benedikt XVI. 202, 216 Rau, E. 29, 33, 34 Reicke, B. 219 Rengstorf, K.H. 219 Repschinski, B. 4, 44, 54, 55, 123, 159, 179, 181, 221, 222, 231, 233, 304, 305, 309, 313, 317, 341 Riches, J.K. 46 Riedl, J. 148 Ritter, C. 251 Robinson, B.P. 83 Robinson, J.M. 47, 48, 236 Roloff, J. 79, 89, 147, 182, 184, 185, 187, 194, 196, 388, 410 Roose, H. 409 Rordorf, W. 109, 112 Rothfuchs, W. 153 Runesson, A. 4, 11, 24, 135 Ruzer, S. 320, 356 Sänger, D. 296, 298, 319, 325, 335 Saldarini, A.J. 4, 6, 10, 11, 22, 24, 26, 28, 38, 159, 227, 230, 314, 315 Sand, A. 58, 99, 122, 128, 132, 134, 173, 197, 282, 342, 382, 384, 388, 399, 401
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Autorinnen- und Autorenregister
Sandt, H. van de 23, 44, 107, 109, 111, 326, 327, 328 Sauer, J. 359, 362 Schäfer, P. 25 Schaller, B. 319 Schellong, D. 293 Schenk-Ziegler, A. 395, 396, 397, 398, 399, 401, 403, 405 Schermann, T. 106 Scheuermann, G. 388, 390, 392, 398, 403, 410 Schiffmann, L.H. 397, 398 Schlatter, A. 190 Schlecht, J. 106 Schmid, J. 173 Schnackenburg, R. 97, 376, 382, 385, 386, 438 Schneider, G. 146 Schnelle, U. 150 Schnider, F. 176, 392 Schniewind, J. 201, 388 Schöllgen, G. 333 Schottroff, L. 365, 374, 375 Schrage, W. 33, 81, 376 Schreiber, S. 148, 165, 176, 177, 188, 277 Schröter, J. 95, 120 Schweizer, E. 27, 31, 153, 173, 193, 293, 382, 390, 403 Schwemer, A.M. 250 Schwier, H. 220, 256 Scott, B.B. 411 Scott, J.M.C. 164, 278 Seeanner, J.A. 421, 424 Seebass, H. 152 Seelig, G. 251 Segal, A.F. 26 Senior, D.P. 3, 14, 20, 22, 36, 67, 132, 158, 181, 190, 213, 214, 230, 239, 243, 244, 250 Setzer, C. 188, 195 Siegert, F. 239 Sim, D.C. 4, 20, 21, 24, 28, 30, 31, 34, 38, 41, 44, 45, 46, 54, 64, 68, 69–94, 191, 288, 290, 292, 298, 318, 344 Slee, M. 21, 24, 27, 30 Snodgrass, K. 16, 290 Soares-Prabhu, G.M. 153 Söding, T. 98, 213, 215, 261, 283, 351, 396
Stanton, G.N. 6, 27, 93, 127, 131, 157, 178, 304, 308, 433 Steck, O.H. 131, 226 Stegemann, H. 136, 165, 398 Stemberger, G. 98, 188, 316, 325 Stenger, W. 176 Strack, H.L. 32, 84 Strathmann, H. 132, 230 Strauss, M.L. 165 Strecker, G. 10, 116, 205, 208, 210, 295, 321, 322, 329, 338, 438 Streeter, B.H. 27 Suggs, M.J. 295, 298 Suh, J.S. 433 Suhl, A. 122, 129, 131, 146, 149, 162, 226, 232 Svartvik, J. 45, 46, 54, 55, 71 Talbert, C.H. 190 Taylor, N.H. 239 Telford, W.R. 46, 60, 62, 64 Theißen, G. 44, 52, 68, 70, 72, 73, 74, 78, 89, 103, 104, 119, 120, 121, 136, 142, 143, 149, 152, 157, 170, 185, 236, 256, 308, 363, 364, 366, 367, 368, 371, 372, 373, 374, 439 Thielmann, F. 291, 300, 301, 302, 303, 307, 344 Thiessen, M. 308 Thomas, J. 325, 355 Thompson, W.G. 383, 386, 392, 393, 394, 395, 400 Tilborg, S. van 159, 244, 253, 255 Tisera, G. 276 Torijano, P.A. 166 Trebilco, P. 6 Trilling, W. 116, 119, 208, 219, 319, 322, 384, 388, 392, 398 Tuckett, C.M. 19, 107, 108, 109, 304, 305 Turner, D.L. 191 Ulrich, D.W. 383, 391, 396, 407, 410, 411 Vahrenhorst, M. 292, 300, 304, 305, 339, 344 VanderKam, J. 397 Vermes, G. 397
Autorinnen- und Autorenregister Verseput, D.J. 14, 128, 143, 148, 149, 157, 158, 174, 178, 183, 192, 222, 224, 226, 233, 273, 286, 304, 382 Vögtle, A. 152, 281, 327 Wainwright, E.M. 122, 123 Walck, L.W. 187 Walker, R. 116 Walter, N. 239 Wanke, G. 245 Weaver, D.J. 155, 156, 177, 180, 255, 365 Wegner, U. 124, 280 Weinert, F.D. 236 Wengst, K. 95, 108, 109, 315, 333 Weren, W.J.C. 16, 20, 26, 99, 178, 189, 224, 238, 342 White, B.L. 70, 82 White, L.M. 24 Whitters, M.F. 250 Wick, P. 321 Wiefel, W. 267, 382 Wilk, F. 34, 117, 118, 124, 164, 182, 187, 278, 280, 282 Willitts, J. 69, 70, 93, 153, 158, 159 Wilson, W.T. 325 Wink, W. 365
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Winkle, R.E. 241, 244, 248, 249 Wischmeyer, O. 71 Witte, M. 418, 433 Wolff, C. 242, 247, 250, 253 Wolff, H.W. 422 Wolter, M. 68 Wong, E.K.C. 20, 70, 73, 78, 88, 126, 134, 135, 143, 233, 305 Woschitz, K.M. 276 Wouters, A. 395, 399, 403, 404 Wucherpfennig, A. 136 Yang, Y.-E. 301, 302, 304, 305, 313 Yarnold, E.J. 99, 342 Yieh, J.Y.-H. 238, 294 Zacharias, D. 177 Zahn, T. 190, 248 Zangenberg, J.K. 23, 44, 70, 111, 189 Zeller, D. 294 Zerbe, G.M. 352, 355, 363, 365, 371 Zetterholm, M. 27 Ziesler, J.A. 208, 210, 217 Zimmermann, J. 148, 165, 166, 177, 188 Zumstein, J. 27, 261, 262, 263, 264, 286, 403
Personen- und Sachregister Abendmahl 431 Abraham 12, 36, 93, 135, 142, 144f, 151, 165, 437 siehe auch Jesus – Sohn Abrahams Älteste 133, 213, 227, 232, 240, 245, 265 Antiochia 86, 89–92 siehe auch Lokalisierung Antiochenischer Zwischenfall 28f, 92 Antithesen 30, 32, 36, 40, 56–58, 96, 203, 207, 288, 289–303, 312, 313, 315, 318, 319–340, 343, 345, 347, 349, 358–377, 413 Apokalyptik 390 Aposteltreffen 28f, 86–88, 89f Armut 365f – die Armen 56, 99f, 103f, 341 Aussendung siehe Jünger Autoritäten (jüdische) 14–16, 39, 43, 49, 61, 127f, 129, 130f, 133, 134, 139, 156– 159, 163 178f, 184f, 221–223, 226–234, 235–238, 243, 246, 249, 265, 274f, 284, 303, 310, 317 Babylon 247, 250, 253, 351 Bar-Kochba-Aufstand 25 Barmherzigkeit/Erbarmen 129, 238, 271f, 275, 277, 294, 304–306, 309, 311f, 318, 341, 352, 354, 372, 413–441 Barnabas 89f, 94 Batseba 136, 174 Beelzebul siehe Teufel Begierde 331–334 Bergpredigt 137, 161, 203, 207f, 270, 289f, 318, 348f, 368, 373, 378–380, 413, 426, 437f Beschneidung 23–37, 41, 74, 86f, 89, 90 Besitz siehe Reichtum Bethlehem 152f, 156, 157, 223, 243 Blut/Blutruf 228, 234, 243–245, 248f siehe auch Fleisch und Blut ‚boundary marker‘ 33, 120, 315
Bruder 98, 103, 104f, 106, 322, 329, 350, 351, 352, 354, 356, 360, 387, 395, 398f, 400, 401, 403, 404, 406, 407, 411, 433f, 435 Bund 249f Buße siehe Umkehr Christus siehe Jesus corpus mixtum 78f David 127, 136, 146–170, 174, 176f, 194, 223, 250, 304, 305, 424 siehe auch Jesus – Sohn Davids, Messias – königlich-davidisch Dekalog 316–347 siehe auch Gebote Demut 388, 396, 411, 438 siehe auch Niedrigkeitsethos – Selbsterniedrigung 384–386, 389 Diaspora 8, 26, 351, 353 Didache 106–112 ecclesia siehe Gemeinde Ehebruchverbot siehe Gebote Elternehregebot siehe Gebote Entstehungsgeschichte 48, 51f, 66f, 107, 111, 284, 295f, 310, 358f Erbarmen siehe Barmherzigkeit Erfüllung 35, 60, 130, 142, 149, 163, 242, 288–315, 317, 359, 423f, 425 Erfüllungszitate siehe Reflexionszitate Erhöhung siehe Jesus Ermahnung 105, 381, 389, 393, 395, 396, 397, 398–400, 402–406, 407f, 412, 430 Exorzismen 75–77, 125, 128, 166 familia dei 65, 395 Feindesliebegebot siehe Gebote Feldrede 58 Fleisch und Blut 82–84 Frieden/Friedensstifter 97, 355, 376, 379, 399, 438
Personen- und Sachregister Frühjudentum/frühjüdisch 24–26, 39–41, 106, 167, 177, 182, 188, 194, 199, 251, 253, 255, 295f, 314f, 324f, 327, 328, 332, 334, 336, 337, 339, 347, 351–358, 366, 369f, 376, 397, 430 Gaius Caligula 366 Galatische Gegner 24, 29 Gebet 263f, 406, 430 Gebote 31– 33, 54, 56, 98, 295–297, 303, 340f, 368, 398 siehe auch Tora – Dekaloggebote 32, 56, 98, 100–102, 105, 107f, 110, 295, 320, 342, 372 – Ehebruchverbot 295f, 330–337, 349, 372, 413 – Elternehregebot 306, 311, 342, 345f, 347 – Feindesliebegebot 97f, 105, 108f, 255, 303, 348–380, 411, 413, 438 – Liebesgebot 31f, 53, 56, 95–112, 289, 297, 299, 300, 303, 309–312, 316, 327, 330, 340–343, 345, 347, 351, 354, 368, 371f, 396, 398, 430, 436 – Reinheitsgebote 31, 55, 68, 121, 288, 306, 312, 314, 318, 346 – Sabbatheiligung 31, 33, 55f, 101, 288, 304–306, 312, 313, 314, 318, 381, 424f, 427 – Scheidungsverbot 297, 300, 301, 309, 349 – Schwurverbot 300, 311, 337–340, 345f – Speisegebote 33, 49, 53f, 62, 120, 308, 318, 344 – Tötungsverbot 295–297, 320–330, 332, 342, 372, 413 – Zehntgebot 31, 312, 318, 341 Gebotshierarchie 31f, 55, 58, 74, 262, 293f, 300, 303, 304–307, 309, 318, 341, 345, 347, 424, 435 Gehorsam 51, 141, 180, 217 Geist siehe Heiliger Geist Geißelung 8, 11 Gemeinde (matthäische) 6f, 18f, 19–22, 23f, 36, 37, 41, 43, 65, 66, 73, 78–80, 82, 85, 111, 116f, 160, 199, 217, 220, 235, 251, 284, 289, 293, 313–315, 317, 370, 375, 384, 390, 391, 395, 397, 400f, 404–406, 410, 412, 430, 431, 434, 441
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siehe auch Israel – Kirche und Israel, ਥțțȜȘıĮ Gemeinderede 381–412 Gerechtigkeit 201f, 204f, 294, 437 – ‚Bessere Gerechtigkeit‘ 32, 294, 298, 301, 318, 359, 370, 413 – Gerechtigkeit Gottes 100, 203, 207, 354, 419 – Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten 96, 203, 207, 293f, 298, 300, 309, 318, 319, 320, 359, 361, 370 Gericht 219, 221, 227f, 229, 230f, 233, 237, 248, 250, 320–323, 329, 336, 357, 358, 411, 434 – Endgericht 9, 125, 182, 186, 190f, 197, 234f, 420, 433, 435, 441 siehe auch Kairos, țĮȚȡંȢ Geschöpf 263 Gesetz siehe Tora Gewaltverzicht 296, 348–380 Glaube 123, 124, 261–287, 428, 441 – großer Glaube 266, 268, 276–283 – Kleinglaube 64, 262, 263, 284, 285f, 425 – Unglaube 64, 268, 284 Gnade 396, 408, 411, 412 Goldene Regel 31, 58, 106f, 327, 409, 439f Gottesfürchtige 25, 29, 33 Gottesknecht 168 Gottessöhne 97, 371, 374–377 siehe auch Jesus – Sohn Gottes Gottessohn 147, 149, 371f siehe auch Jesus – Sohn Gottes Gottesvolk siehe Israel Gotteswille 54, 62, 72, 106, 110, 154f, 180, 201f, 203, 204, 207, 213–217, 290, 291, 294, 296, 298, 299, 301f, 303, 304, 305, 309, 312, 313–317, 324, 327, 336, 340, 342, 359, 364, 400f, 423f, 428, 439 Halacha siehe Tora – Torahermeneutik Hass 96–98, 326, 328, 350, 396, 397, 398f, 400 ‚Heiden‘ 9f, 12, 21, 24, 34f, 49, 60, 74, 87, 112, 116, 118, 121, 122f, 126, 136, 139, 142, 164, 207, 238, 277f, 281, 315, 370, 375, 401 siehe auch Völkermission ‚Heidenchristentum‘ 20, 24, 28, 36, 37, 66, 89, 90, 145, 206
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Personen- und Sachregister
Heil 141, 163f, 175, 181, 251, 277, 282, 283f, 287, 294, 318, 377, 401, 432 – Universalität des Heils 118, 135, 136, 142, 145, 279, 282, 283, 285, 287 Heiliger Geist 62, 75, 149, 215 Heilung 49f, 59, 76f, 122, 124f, 128, 156, 161–168, 169f, 181, 183, 200, 211, 261–287, 425–427, 428 Hellenisten 6, 29, 33, 41 Hermeneutik 17–19, 145, 255, 379, 435 siehe auch Torahermeneutik Herodes 127, 151, 152, 156, 176–178, 222f, 226, 233 Herodes Antipas 189 Herrlichkeit/Verherrlichung 103 Herrschaft Gottes siehe Reich Gottes Herz 331f, 334, 398, 440 Himmelreich siehe Reich Gottes Hirte 396, 412, 427, 429 siehe auch Jesus Hohepriester 127, 131, 133f, 139, 151f, 156f, 176, 178f, 184, 213, 223, 226, 227, 232, 240, 265 Hunger/Hungernde 55, 204, 205, 215, 304f, 324, 351, 424–427, 428, 432, 438 ‚identity marker‘ 25, 314 imitatio Dei 356, 358, 372, 374, 376f, 409, 413, 418, 440 Immanuel 151, 235, 252 Intertextualität 15f, 220, 241–251, 274f, 393f, 426, 435 Israel/Gottesvolk 10, 12, 13–16, 39, 62, 66, 116–119, 119–126, 128, 129, 132, 136, 145, 153f, 157, 162–165, 168, 177, 220, 227, 229f, 231, 233, 234, 235, 247, 251, 257, 268, 271, 275, 276, 277f, 280, 281, 289, 291, 350, 367, 394, 412, 423, 426, 427, 428, 430 – Israelkonzentration/Sendung zu Israel 8f, 12, 50, 60, 115–145, 151, 154, 175, 196, 221, 270, 274, 282, 392, 425 – Israelmission 8–12, 19, 21–23, 86, 133f, 145, 233, 390 – Kirche und Israel 18, 115, 145 – ‚Kollektivschuld‘/kollektive Ablehnung 9f, 12f, 133, 143, 164, 219, 228, 233, 256 – ‚Land Israel‘ 26 – Verwerfung Israels 117, 135
Jakobus 28, 64, 92, 94, 197 Jakobusbrief 102–106, 110–112 Jeremia 241–254 Jerusalem 15, 24, 29, 127, 130f, 132, 133, 140, 146, 161, 172, 178, 189, 192f, 194, 195, 196, 198, 199, 219–257, 306, 339, 366, 367, 381f, 431 – Bewohner Jerusalems 132f, 178, 229, 231, 247, 248f Jesus, siehe auch Prophetie – Jesus als Prophet – Christus 60, 62, 82, 138, 139, 150f, 156, 162, 167, 175f, 179, 184, 263, 273, 274, 275, 287 – Erhöhung 185, 198, 237 – Hirte 128, 129, 130, 142, 144, 151–160, 163, 168, 170, 222, 238, 246, 250, 274, 367, 393f, 410, 412, 425 – Identität Jesu 12, 144, 180, 214, 221 – König (der Juden) 136, 151, 162, 173, 175–183, 186, 232, 255, 274, 279, 367, 412 – Kreuzigung Jesu 9, 15, 133, 141f, 179, 181, 197f, 213, 214, 215, 231, 233, 412 – Kyrios 426 – Lehre/Lehrer 59, 62, 65, 128, 154, 163, 227, 235, 239, 270, 290f, 307, 314, 317, 391, 402, 424, 426 – Menschensohn 179, 182, 183, 185, 186, 187, 192, 198, 237, 433, 435 siehe auch Reich des Menschensohns – Mitsein 195f, 237, 287 – Passion 15, 139, 192, 201f, 213f, 216, 223, 382, 385, 407, 431 – Prophet 15, 131, 225, 231, 249 – Sohn Abrahams 21, 34, 60, 135, 142, 152, 162f, 165 – Sohn Davids 12, 14, 21, 35, 59–62, 66, 120, 122, 123, 127, 129, 130f, 135, 138, 139, 142, 143, 146–170, 173, 175f, 178, 181, 202, 221, 223, 226, 235, 255, 271– 275, 277, 279, 285, 287, 425f – Sohn Gottes 12, 35, 51, 60–62, 63f, 83, 85, 135–144, 147–150, 169, 173, 175, 179, 180f, 184, 186, 201–218, 273, 282, 359, 372, 423 – Tod und Auferweckung 35f, 132, 140, 142f, 145, 180f, 185, 188f, 192, 195,
Personen- und Sachregister 197, 202, 214–216, 237f, 278f, 292, 383, 407, 410, 421, 431 – Wirken in Israel siehe Israel – Israelkonzentration Jesusforschung (historische) 68, 121, 296, 359 Johannes (Täufer) 130, 138, 189, 197, 201, 203, 209f, 211, 212, 215, 216, 217, 223, 227, 229, 249, 265, 292 Joseph (AT) 98, 351–353, 398, 399, 415 Joseph (NT) 60, 62, 127, 147, 151, 273 Judentum 6–8, 9, 11, 19, 24f, 33, 36, 37f, 39, 41, 43, 123, 164, 220, 370 Judenchristentum 20, 22, 28, 31, 33, 36, 43f, 64, 66, 94, 106, 112, 143, 149, 220, 296 Jüdisch-römischer Krieg 43, 170, 236, 253, 256, 314, 367f Jünger 8f, 11, 21, 23, 32, 49, 55, 63–65, 66, 84, 86, 118, 126, 133, 137, 138, 140, 161, 172, 173, 174, 184, 186–190, 192, 194, 196–198, 199, 207, 209, 212, 214, 217, 222, 227, 234, 237, 246, 263, 271, 277, 280, 283–287, 294, 298, 303, 304–306, 307, 310, 345, 346, 359, 373f, 375f, 384, 386, 387f, 391, 401, 403, 406, 407, 410, 411, 417, 420, 425, 429, 431, 433f, 436, 438, 440 – Aussendung 34, 36, 79, 116, 128, 130, 137, 155, 157, 196, 222, 427, 431, 440 Kairos 137, 143, 279, 301, 302 Kind/Kinder 384, 386f, 389, 411, 429, 434 Kirche 10 siehe Israel – Kirche und Israel, Gemeinde, ਥțțȜȘıĮ ‚Kleine‘ 387–407, 411 Kleinglaube siehe Glaube König 147, 149, 159, 169, 173, 174, 177, 178, 224, 339, 375 siehe auch Jesus, Messias Kontext siehe Verortung Krank/Kranke siehe Heilung Lehrer siehe Jesus Leidensankündigung 64, 186f, 196, 213, 223f, 381, 385 Liebe 75, 97, 351–353, 370, 373f, 398, 399, 404, 437 Liebesgebot siehe Gebote
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Lokalisierung 7f, 26f, 29, 38, 52, 88, 91, 111f Machttaten siehe Vollmacht Makarismen siehe Seligpreisungen Maria (Mutter Jesu) 147 Markusevangelium 43–68, 71, 74f, 78, 209, 340, 346 – markuskritisch/antimarkinisch 45, 65, 70, 308 Messias/Messianität 61, 84f, 123, 133, 136, 139f, 146f, 150, 155, 157, 158, 160, 161, 163, 167f, 176, 186, 201, 211, 212, 214, 221, 224, 227, 242, 246, 265, 276, 278, 285, 290, 367, 403, 412, 425, 441 – heilend 161–168, 273, 426 – königlich-davidisch 59–62, 84f, 127, 128, 129, 130, 131, 137f, 144, 151, 165f, 169, 175, 179, 181, 188, 194f, 199, 200, 222f, 255f, 273–275, 279, 282, 283, 287, 304, 367, 394, 425, 435, 441 Mission siehe Israelmission, Völkermission Missionsauftrag 134, 143, 317 Mitleid 352, 414, 427f, 438–440 siehe auch Barmherzigkeit Mose 54, 250, 298, 301, 345 muri-Debatte 5, 7f, 10, 37f, 39, 314 Nachfolge 54, 186f, 190, 196, 215, 265, 272, 285, 287, 303, 341, 343, 368, 377, 429, 431, 440, 441 Niedrigkeitsethos 383, 385, 391, 411, 412, 429, 431 Offenbarung 214 Opfer 101, 239, 304f, 318, 329, 414, 422, 424 Parusie 9, 79, 182, 185, 187f, 190, 191, 194, 195, 197, 233, 237, 434 Paulus 25, 26, 36, 41, 44, 69–94, 102, 203, 208 – antipaulinisch 70, 73–80, 87f, 92f, 308 Petrus 27–29, 62, 63–65, 80–87, 93, 94, 138, 139, 174, 186, 194, 212f, 263, 271, 287, 402, 406, 407, 409–411, 412, 416, 417–419, 430, 440
486
Personen- und Sachregister
Pharisäer 11, 22, 25, 26, 27, 29, 31, 36, 37f, 38–42, 54f, 61, 63, 72f, 74, 79, 88, 91, 101, 110, 117, 128, 134, 139, 144, 150f, 160, 182, 199, 220, 221, 222, 232f, 239, 251, 288–315, 317, 370, 422, 424, 436 siehe auch Schriftgelehrte und Pharisäer Pilatus 14, 133, 179, 228, 230, 232, 233, 240, 366 Prophetie 75–77, 246 siehe auch Jesus – Prophet, Schrift – Tora und Propheten – Propheten (AT) 76, 131, 142, 189, 226, 227f, 231, 234, 242, 245, 248–250, 252, 370 Proselyten 24f, 136 Proskynese 172f, 174, 176, 198 Qumrangemeinde 41, 398 Rahab 135f Rahel 243, 251 Reflexionszitate 73, 129, 149, 158, 241, 242, 290, 298, 317, 367 Reich des Menschensohns/Jesu Königreich 79f, 157, 173, 177, 181, 183, 184f, 188, 190, 193, 196f Reich Gottes 17, 32, 54, 56, 57, 59, 63, 74, 76, 79f, 84, 96, 99f, 103f, 117, 126, 156, 187, 197, 200, 203, 207, 209, 210, 293f, 301f, 313, 318, 341, 342, 368, 373f, 378, 385f, 387, 419, 428, 429 Reichtum 99, 103, 104, 303, 341–343 Reinheitsgebote siehe Gebote Rom/Römer 236, 237, 250, 253, 254, 255 siehe auch jüdisch-römischer Krieg Rut 135f Sabbatheiligung siehe Gebote Sadduzäer 229, 310 Salomo 59, 166, 174 Satan siehe Teufel Schaf/Schafmetaphorik 129, 130, 154f, 157, 159f, 168, 196, 222, 238, 246, 268, 389, 391, 392–394, 395, 403, 405, 410, 411f, 427f, 429 Scheidungsverbot siehe Gebote Schrift/Schriften Israels 34, 147, 149, 151, 158, 163, 165, 168, 169, 200, 241–243, 250, 274, 290f, 301, 305, 394, 436
– Tora und Propheten 31, 57, 58, 62, 72, 101, 107, 288, 289–291, 292, 296, 303– 313, 314, 317, 423, 424, 436, 439 Schriftgelehrte 47, 54, 59, 61, 127, 131, 139, 150, 151f, 156f, 176, 213, 221, 223, 226, 265, 310 – Schriftgelehrte und Pharisäer 6, 11, 32, 40, 49, 57, 73, 74, 80, 96, 162, 206, 207, 227–230, 235, 296, 299, 306, 312, 316, 323, 341, 375 Schuld 220, 329, 380, 416–418, 432, 439 siehe auch Israel – ‚Kollektivschuld‘ Schwurverbot siehe Gebote Seligpreisungen 63, 186, 204f, 376, 419, 437f Sexualethik 333, 335, 347 Soziale Dimension/Sozialgeschichte 38, 117, 206, 220, 363–365, 366, 371, 374, 377, 378, 379, 384 Speisegebote siehe Gebote story 14f, 57, 59, 381, 383, 384, 437, 440 Sünde/Sünder 105, 154f, 180, 202, 209, 271, 278, 304, 353, 354, 370, 373, 375, 385, 395–397, 398–407, 409, 412, 417, 421–424, 425, 428, 429–432, 436, 438 siehe auch Vergebung Synagoge 6, 7, 8, 11, 26, 37f, 110, 111, 117, 134, 144, 160, 182, 199, 233, 235, 251f, 289, 298, 314, 315, 370, 375, 390 Synedrium 227, 237, 239, 240, 320 talio 300f, 356f, 360, 361, 362, 363 Tamar 135f Taufe 23, 33, 118, 148, 191, 201–218 Tempel 131, 140, 161, 169, 178, 219–257, 304, 308, 311, 382, 390, 424 Teufel 79, 80, 139, 141, 213 Tora 11, 30f, 32, 34, 39, 40, 41, 53–58, 62, 66, 73, 75, 98, 100, 102, 103, 109, 110, 112, 203, 204, 206, 207, 288–315, 355, 359, 366, 369, 397, 423, 436, 437, 441 siehe auch Schrift – Tora und Propheten, Torahermeneutik – Toraauslegung (am Sabbat) 40, 298f, 319 Torahermeneutik/Aktualisierung 39, 301f, 305, 309, 314, 397, 404 – matthäische Torahermeneutik 29, 39, 41, 53–59, 66, 72, 298, 302, 309, 315,
Personen- und Sachregister 317–319, 320, 330, 343, 346, 400, 404, 436 – Torahermeneutik der Schriftgelehrten und Pharisäer 298, 301, 302, 311, 312, 314, 315, 318, 319, 337, 345, 346, 359, 361 Tötungsverbot siehe Gebote Umkehr 209f, 407 Unglaube siehe Glaube Universalismus siehe Heil Unzucht 326, 331, 334 Väter 227, 229, 248 Vaterunser 432 Verborgenheit 214, 215 Vergebung 105, 142, 154, 181, 209, 237, 249, 278, 315, 351, 352, 353, 360, 383, 398, 402, 404, 406, 407–411, 412, 412, 417f, 421, 428, 430, 431f, 440 Vergeltungsverzicht siehe Gewaltverzicht Verheißung 35, 36, 60, 151, 162f, 183, 242, 394 Verherrlichung siehe Herrlichkeit Verkündigung siehe Jesus – Lehre Verortung/Kontext 3–5, 9, 170, 182, 199, 233, 251–257, 313–315, 348, 349, 390 Vertrauen 263, 264, 268, 276, 280, 283, 285–287 siehe auch Glaube Verwerfung siehe Israel Verzehntung siehe Gebote
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Völkermission 9f, 12, 19–23, 26, 28, 33, 34, 35f, 37, 66, 85–88, 116–145, 196, 233 Völker siehe ‚Heiden‘, Völkermission Volksmengen (jüdische) 14, 15, 17, 39, 50, 60, 63, 65, 84f, 119, 125, 128f, 130f, 133, 137, 139, 140, 156, 160, 162, 178, 211, 221–223, 224, 225f, 227, 231, 270, 272, 276, 280, 282, 302, 306, 346, 428, 431, 439 Vollkommenheit 56, 100–102, 109, 110, 301, 302, 303, 315, 343, 359, 372, 375, 412, 413 Vollmacht 75f, 79, 138, 139, 141, 154, 156, 179, 181, 184, 186, 187, 196, 200, 212, 213, 215, 216, 240, 263, 268, 276, 281, 282, 283, 286, 287, 302, 359, 421, 428 siehe auch ਥȟȠȣıĮ Werkgerechtigkeit 203, 420 Wille Gottes siehe Gotteswille Zebedaidenbitte 171–200, 384 Zöllner 21, 210, 227, 271, 304, 315, 370, 375, 401, 422, 431 Zorn 295, 322f, 326–329, 347 Zwei-Quellen-Theorie 45, 48, 51, 57, 74 siehe auch Entstehungsgeschichte Zwei-Wege-Lehre 106f, 109, 112, 327 Zweistufenchristologie 143f
Register griechischer Begriffe ਕȖĮʌ઼Ȟ 107, 352 ĮੈȝĮ 82, 325 ਕțȠȜȠȣșİȞ 265, 271, 272, 280 ਖȝĮȡIJȞİȚȞ/ਖȝĮȡIJĮ395, 407 ਕʌȚıIJĮ 263 ਕʌȠțĮȜʌIJİȚȞ 82, 84 ਕʌȠıIJȜȜİȚȞ 8 ȕĮıȚȜİĮ 17, 79, 80, 171, 181, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 190, 192, 193, 195, 198, 199, 200, 207, 208, 293, 384 ȖİȞȞĮ IJȠ૨ ʌȣȡંȢ 321, 322 ȖİȞİ 228, 229 Ȗો 237 ȖȣȞ 331, 334 įોȝȠȢ 254 įȚțĮȚȠıȞȘ 201, 202, 203–208, 210, 217, 218, 311 įંȜȠȢ 325 įȞĮıșĮȚ/įȞĮȝȚȢ 33, 107, 196, 265, 270, 276, 284 ਥȖİȡİȚȞ 188, 189 ਥșȞȚțંȢ 401 șȞȠȢ 16, 35, 136 – ʌȞIJĮ IJ șȞȘ 9, 10, 116, 117, 119, 134, 433, 434 ਥțțȜȘıĮ 6, 8, 111, 402 ਥȜȖȤİȚȞ 396, 400 ਥȜİİȞ/ਥȜİȝȦȞ/ȜİȠȢ 271, 309, 352, 413f, 417, 420, 422, 423, 427, 430, 432, 436, 438 ਥȞIJȠȜ 290, 291, 292f ਥȟȠȣıĮ 124f, 280–282, 286 ਥʌȚșȣȝİȞ/ਥʌȚșȣȝĮ 331, 332, 333 ਥʌȚȠȡțİȞ 337f ȡȖȠȞ – IJ ȡȖĮ IJȠ૨ ȋȡȚıIJȠ૨ 138, 211, 273, 313 ȡȘȝȠȢ 236, 245 İıʌȜĮȖȤȞȠȢ 352 siehe auch ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ
ੁ઼ıșĮȚ 266, 280 țĮȚȡંȢ 125f, 137, 279 țĮȡįĮ 331, 332, 334, 346, 438, 440 țĮIJĮȜĮȜİȞ 104, 105 țȡȗİȚȞ 161, 164, 272, 277 țȡȞİȚȞ 104 țȡıȚȢ 320, 321, 322, 420, 435 țȡȚȠȢ 59, 75, 122f, 152, 164, 275, 278, 428, 430 ȜĮંȢ 119, 128, 131, 132, 133, 153f, 170, 229, 230, 233, 246, 247, 248 ȜંȖȠȢ 277, 280, 282 ȝİIJȞȠȚĮ 209f, 212 ȝȠȚȤİĮ/ȝȠȚȤİİȚȞ 330, 332, 333, 334, 335, 346 ȠੇțȠȢ 235 ȤȜȠȢ 128, 129, 131, 132, 178, 222, 230 ʌĮȢ 266, 280 ʌĮȜȚȖȖİȞİıĮ 191f, 195 ʌĮȡȖİȚȞ 271 ʌİȡȚııİİȚȞ/ʌİȡȚııંȢ 298, 370 ʌIJȡĮ 81 ʌȚıIJİİȚȞ/ʌıIJȚȢ 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 284, 285, 286, 389, 436 ʌȜȘȡȠ૨Ȟ 217, 290, 292 ʌȠȡȞİĮ/ʌȠȡȞİİȚȞ 331, 333–335, 346 ʌȡȠıțȣȞİȞ 164, 172f, 277 ıțĮȞįĮȜȗİȚȞ/ıțȞįĮȜȠȞ 387, 388, 389f ıʌȜĮȖȤȞȗİıșĮȚ 414, 417, 420, 426, 427– 429, 432, 439 ıȣȞįȡȚȠȞ 321, 322 ıȗİȚȞ 269, 273 IJĮʌİȚȞંȢ 387 ȥİȣįȠȝĮȡIJȣȡİȞ/ȥİȣįȠȝĮȡIJȣȡĮ 338, 346