Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht [1 ed.] 9783428482450, 9783428082452


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German Pages 483 Year 1995

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Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht [1 ed.]
 9783428482450, 9783428082452

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KARL KROESCHELL

Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht

Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Herausgegeben vom Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br.

Neue Folge · Band 20

Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht

Von

Karl Kroeschell

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Kroeschell, Karl: Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht I von Kar! Kroeschell. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen ; N. F., Bd. 20) ISBN 3-428-08245-1 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gerrnany ISSN 0720-6704 ISBN 3-428-08245-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken

Vorwort Die hier versanunelten siebzehn Arbeiten sind in einem Zeitraum von mehr als 30 Jahren entstanden. Ihnen ist gemeinsam, daß sie sich kritisch mit Grundvorstellungen der germanistischen Rechtsgeschichte auseinandersetzen: mit Sippe und Treue, mit Herrschaft und Gefolgschaft, und endlich mit dem Begriff des Rechts selbst, mit Rechtsfindung, Rechtsaufzeichnung und Rechtsgeltung. Stets geht es dabei um eine neue Sicht auf die Phänomene des frühen deutschen Rechts, unverstellt durch ein romantisches oder modernes Vorverständnis. Einige dieser Aufsätze haben zur Zeit ihres ersten Erscheinens Diskussionen ausgelöst und zu einer Relativierung überkonunener Ansichten geführt. Inuner häufiger kehrt jedoch dieneuere Literatur zu traditionellen Denkmustern wie der Sippe oder dem "guten alten Recht" zurück, ohne sich noch der Einwände zu erinnern, die dagegen vorgebracht worden waren. So habe ich die wiederholte kollegiale Anregung, meine kritischen Studien in einem Sanunelband zu vereinigen, endlich gerne aufgegriffen. Sechs von ihnen waren schon in der schönenjapanischen Sammlung meiner Aufsätze enthalten gewesen, die mein Freund und Kollege Takeshi Ishikawa 1989 unter dem Titel "Trugbild und Abbild des germanischen Rechts. Neue Wege der deutschen Rechtsgeschichte« herausgegeben hatte. Daß der vorliegende Band auch meine Studie über »Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht« enthält, ist dem Entgegenkonunen des Verlages Otto Schwarz in Göttingen zu danken, in dem die Schrift 1968 als Band 70 der Göttinger Rechtswissenschaftlichen Studien erschienen war. Der Wiederabdruck beschränkt sich allerdings auf die ursprüngliche Vortragsfassung des Textes. Der für die Buchveröffentlichung hinzugefügte Abschnitt über »Methode und Funktion der Rechtsgeschichte« ist hier dagegen weggelassen. Im übrigen werden die einzelnen Beiträge unverändert wiedergegeben. Wo in den Fußnoten frühere Arbeiten zitiert sind, die jetzt gleichfalls in diesem Bande

6

Vorwort

enthalten sind, wurde in eckigen Klammem ein entsprechender Hinweis eingefügt. Auch die wenigen anderen Ergänzungen stehen in eckigen Klammem. Auf eine Literaturnachlese zu den einzelnen Themen habe ich nach längerer Überlegung am Ende doch verzichtet. Meine heutige Sicht der Dinge und damit auch meine Stellungnahme zu den Argumenten meiner Kritiker bleibt dem Buche über das Recht im Mittelalter vorbehalten, an dem ich derzeit arbeite. Zum Schluß habe ich zu danken: Frau Heike HeUerich für die sorgfaltige und zuverlässige Textverarbeitung, Herrn Dr. Gerrit Tubbesing für die vorzügliche Einrichtung der Druckvorlagen, und dem Verlag Duncker und Humblot für seine verlegerische Betreuung. Freiburg, im Herbst 1994

Kar! Kroeschell

Inhalt Germanisches Recht Die Sippe im germanischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Erstdruck: ZRG, Germ. Abt. Bd. 77, 1960, S. 1-25.

Söhne und Töchter im germanischen Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Erstdruck: Studien zu den germanischen Volksrechten ; Gedächtnis.Khrift für W Ebel, 1982, S. 87-116.

Germanisches Recht als Forschungsproblem .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

65

Erstdruck: Festschriftfür H. Thieme, 1986. S. 3-19.

Die Germania in der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte

89

Erstdruck: Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus. Teil 1, Abhandl. d. Akad. d Wiss. in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge Nr. 175, 1989, S. 198-215.

Herrschaft, Gefolgschaft und Treue Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Erstdruck: Göuinger Rechtswissenschaftliche Studien, Band 70, 1968.

Die Treue in der deutschen Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Erstdruck: Studi Medievali X I, 1969, A Giuseppe Ermini, S. 465-489.

Führer, Gefolgschaft und Treue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Erstdruck: Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, 1994.

Inhaltsverzeichnis

8

»Germanisches« Eigentum Zur Lehre vom »germanischen« Eigentumsbegriff . . . .. . .. .. .. ...... . ... . ...... . 211 Erstdruck: Rechtshistorische Studien, Festschriftfür H. Thierne, 1977, S. 34-71.

Die nationalsozialistische Eigentumslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Erstdruck: Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, hrsg. v. M. Stolleis und D. Sirnon, 1989, S. 43-61 .

Recht im Mittelalter Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Erstdruck: Problerne des 12. Jahrhunderts, Vorträge u. Forschungen Bd. XII, 1968, S. 309-335.

»Rechtsfindung« - Die mittelalterlichen Grundlagen einer modernen Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 I I Erstdruck: Festschriftfür H. Heirnpel, 1972, Bd. 3, S. 498-51 7.

Ius omnium mercatorum, precipue autem Coloniensium

335

Erstdruck: Festschriftfür B. Schwinekiiper, 1982, S. 283-290.

Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Erstdruck: Gegenstand und Begriffe der Veifassungsgeschichtsschreibung, Der Staat, Beiheft 6, 1983, S. 47-77.

Bemerkungen zum »Kaufmannsrecht« in den ottonisch-salischen Markturkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 I Erstdruck: Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- undfrühgeschichtlichen

Zeit, Teil 111; Abhandl. der Akad. d. Wiss. in Giittingen, Phil. -hist. Klasse, 3. Folge

Nr. 150, 1985, S. 418-430.

Wahrheit und Recht im frühen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Erstdruck: Sprache und Recht, Festschriftfür R. Schrnidt-Wiegand, I. Band, 1986, S. 455-473.

Inhalt

9

Sachsenspiegel Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit Das Beispiel des Sachsenspiegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Erstdruck: Recht und Schrift im Mittelalter, Vorträge und Forschungen Bd. XXIII, !977, S. 349-380.

Der Sachsenspiegel in neuem Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Erstdruck: Rechtsgeschichte in beiden deutschen Staaten, hrsg. v. H. Mohnhaupt, 1991, S. 232-244.

Germanisches Recht

Die Sippe im germanischen Recht

1

An einem Tage des Jahres 1592 kam es in dem kleinen hessischen Städtchen Allendorf an der Werra zu einer blutigen Schlägerej2. Die beiden größten Streithähne waren einerseits der Tagelöhner Barthold Niege, andererseits Hermann Iring, Glied einer angesehenen Patrizierfamilie und Sohn des Bürgermeisters der Stadt. Das Getümmel endete damit, daß Barthold Niege von Iring niedergestochen wurde und tot liegenblieb. Die Angehörigen des Getöteten waren jedoch versöhnlich gestimmt: Nieges Leiche wies mehrere Stiche auf, und es war nicht nachzuweisen, daß der tödliche Stich von Iring stammte. Außerdem hielt man Iring zugute, daß er nicht mehr bei Sinnen gewesen sei, denn er hatte vorher einen Schlag mit einem Zinnkrug über den Schädel bekommen. Zwischen den beiderseitigen •Freundschaften« wurde daher ein Vergleich geschlossen. Hermann Iring sollte die Witwe und ihre Kinder mit 100 Gulden in bar, 1 1/2 Malter Korn, 4 Metzen Erbsen und 5 Pfund Speck entschädigen. Dafür verzichteten die Witwe und ihre •Freundschaft« auf die peinliche Klage. Auf beiden Seiten war offenbar ein größerer Verwandtenkreis an diesem Sühnevertrag beteiligt. Auf der Seite Irings erscheinen die Träger von vier Familiennamen, auf der des Tagelöhners die von zehn Namen3 • Ein solches Vorkommnis ist nun nicht nur für den Lokal- oder Familienhistoriker wichtig, sondern es wird auch das besondere Interesse des Rechtshistorikers finden. Uralte Rechtsgebilde scheinen hier fortzuleben. Die Sippen des Totschlägers und des Erschlagenen stehen einander gegenüber, und der Friede zwischen ihnen wird erst dadurch wiederhergestellt, daß der Täter eine Totschlagsbuße entrichtet, dem alten Wergeld vergleichbar. Nun erst sind die

1 Antrittsvorlesung, gehalten am 29. Januar 1959 an der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau. Die Form des Vortrags wurde hier beibehalten. Lediglich die Anmerkungen mit Hinweisen auf Quellen und Literatur wurden hinzugefügt. 2

A. Reccius, Geschichte der Stadt Allendorf in den Soden, 1930, S. 76 .

Unter ihnen befand sich auch ein Christian Kroeschell, ältester bekannter Vorfahre des Verfassers in männlicher Linie. 3

14

Germanisches Recht

feindlichen Sippen wieder miteinander versöhnt4 • So fügt sich dieser Bericht aus dem Jahre 1592 aufs beste zu der Vorstellung, die eine vorherrschende Lehre von der germanischen Sippe hat und die sich selbst inmitten der Wandlungen zu behaupten scheint, die unser Bild von der Frühzeit gegenwärtig durchmach~. Die Sippe gilt ihrem Ursprung nach als das von einem Stammvater in männlicher Linie abstammende Geschlecht6 • Zu diesem Kern, der ,.festen Sippe«, seien erst allmählich auch die übrigen väterlichen Verwandten, schließlich auch die Verwandten der Mutterseite hinzugetreten. So sei aus der agnatischen Sippe schließlich ein wechselnder, für jeden Menschen anders zu umschreibender Verwandtenkreis geworden7 • Gleichwohl bilde sie, wenigstens in ihrem Kern, einen festen Verband, geleitet von einem Sippenführer oder Sippenältesten als dem jeweiligen Inhaber des Sippengutes8 • Der Sippenälteste oder ein Sippenrat übe über die einzelnen Mitglieder ein Sippenstrafrecht aus9 • Die Sippe fiihrt die Vormundschaft über Unmündige10 , und das Erbe falle nur an die Sippegenossen 11 • Auch nach außen hin aber trete die Sippe als Rechtsverband in Erscheinung. Um das verletzte Recht eines Sippegenossen zu wahren, habe sie Fehden geführt und Blutrache genommen 12• Auch Bußgelder hätten die Gesippen fiireinander aufgebracht und sich im Prozeß Eidhilfe und Bürgschaft geleistet 13 • Zugleich

• In dieser naheliegenden Weise deutet offenbar auch Reccius den Vorgang.

' Als repräsentativ für den gegenwärtigen Stand der rechtshistorischen Meinungen seien hier genannt: H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte Bd.l, 1954, S. 23 f., 47 ff.; H. Mitreis, Deutsche Rechtsgeschichte, 6. Auf!., bearb. v . H. Lieberich, 1960, S. 10 f . 6 Conrad, S . 47; Mineis, S. 10; Cl. Frh. v. Schwerin, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 4. Auf!. besorgt v. H. 1hieme, 1950, S. 18. 7 Mitreis, S . 10; v. Schwerin, S. 18. Conrad, S. 50 f. zieht für die wechselnde Sippe die Bezeichnung •Blutsverwandtschaft« oder •Magschaft• vor.

• Diese Ansicht wird von Mineis und v. Schwerin offenbar nicht geteilt. Vgl. aber Conrad,

s. 49. 9

Conrad, S. 49, 65 f.; Mitteis, S. 11 ; v. Schwerin, S. 18.

10 Diese •Gesamtvonnundschaft«der Sippe bei v. Schwerin, S. 19, Conrad, S. 49, Mitreis, S. II (hier nur als Aufsicht über den Vormund). 11

Mineis, S . 11. Dagegen stellt Conrad, S. 49 wohl richtiger auf das Haus ab.

12

v. Schwerin, S. 19 f.; Conrad, S. 49; Mitreis, S. 11 .

" v. Schwerin, S. 19; Conrad, S. 49; Mitteis, S. II.

Die Sippe im germanischen Recht

15

sei die Sippe aber auch ein Siedlungsverband gewesen 14; um den Hof des Sippenältesten herum, der dem ganzen Orte dann den Namen gegeben habe, hätten sich schon bei der Landnahme die übrigen Glieder der Sippe niedergelassen13. In diesen Sippensiedlungen sei nach der Ausbildung des Einzeleigentums die Markgenossenschaft erwachsen, in der sich der ältere Wirtschaftsverband der Sippe fortsetze16. Schließlich gilt die Sippe auch als Heereseinheit, denn die germanischen Heere denkt man sich aus den geschlossen kämpfenden Sippen zusammengesetzt 11• So gibt es offenbar nichts, woran man außerhalb einer Sippe Anteil erlangen konnte. Die Sippe allein konnte dem einzelnen eine anerkannte und geschützte Rechtsstellung vermitteln. Ein sippenloser Mann konnte weder am Staatsleben noch am Rechte teilhaben18. Ein Verfassungshistoriker unserer Tage sagte das mit den Worten •Außerhalb der Sippe existiert man im Grunde nur als Unfreier, jedes politischen Rechtes bar, mehr einem Wolf als einem Menschen gleichend« 19. In dieser Gestalt besteht die Lehre von der Sippe nun schon seit Jahrzehnten'll>. Sie hat nur wenige Veränderungen erfahren und erfreut sich ,. So vor allem noch Conrad, S. 49. Dagegen nimmt v. Schwerin, S. 19 nur an, daß die Sippe Siedlungsverband sein konnte. Mineis haue in der I. Auflage, 1949, S. 8 die Sippe noch als Siedlungsverband und agrarische Produktionsgemeinschaft dargestellt; seit der 3. Auf!. (1954) erklärt jedoch der Bearbeiter H. lieberich (S. 11), in dieser Eigenschaft sei die Sippe •schon zur Zeit der germanischen Siedlung auf römischem Reichsboden durch den herrschaftlichen Gesellschaftsautbau verdrängt« gewesen. " Vgl. etwa R. v. Kienle, Gennanische Gesellschaftsfonnen, 1939, S. 108 ff.

Conrad, S. 19; Mineis, I. Auf!., S. 10. Auch hier hat H. lieberich in den späteren Auflagen durchgreifend modernisiert und die Lehre von der Markgenossenschaft aufgegeben. 16

17

v. Schwerin, S. 19, 25; Conrad, S. 33 f., 49; Miueis, S. 11.

Die Sippe wird deshalb in der Literatur als der grundlegendste und älteste •Friedensverband« angesehen; vgl. v. Schwerin, S. 19. Conrad, S. 47 schreibt: •Der Einzelne galt fiir sich allein nichts. Die Rechtsstellung des Einzelnen beruhte auf der Zugehörigkeit zu einer Sippe, einer blutgebundenen Gemeinschaft .. . Wer außerhalb einer Sippe stand, war rechtlos und schutzlos-Organische« Entwicklungsgedanke von dem neueren •biologischeil« im Darwillischen Sinne unterschieden wird. 19

H. Brunner, Abspaltung der Friedlosigkeit, in: ZRG.GA 11 (1890) S. 62 ff.

90 Vgl. etwa Cl. Frh. von Schwerin, Der Geist des germanischen Rechts, das Eindringen fremden Rechts, und die neuerliche Wiedererstarkung germanischer Rechtsgrundsätze, in: Germanische Wiedererstehung, hrsg. von H. Notlau (1926) S. 205 ff.

Die Gennania in der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte

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Ludwig von Maurer, mag an ihren Schriften zu spüren sein, bedeutet aber für ihr Bild vom germanischen Recht viel weniger als ihre Auseinandersetzung mit den Quellen und den Ansichten anderer Autoren. Der sogenannte ,.Wissenschaftsprozeß« vollzieht sich eben doch in viel größerem Ausmaß ,.von Buch zu Buch«, als die Wissenssoziologen und Ideologiekritiker früherer Jahre wahrhaben wollten. Für den Stellenwert der Gennania in den rechts- und verfassungsgeschichtlichen Darstellungen des 19. Jh. haben also die ,.zeitgebundenen Fragestellungen und Leitbilder« keine große Bedeutung9 t. Nicht einmal die von Böckenförde herausgearbeitete Hinwendung zu einer ,.juristischen« Rechtsgeschichte am Ende des 19. Jh. ist unter unserem Blickwinkel deutlich auszumachen. Die Rechtswissenschaft hörte damals auf, eine historische zu sein, und hat gerade dadurch die Rechtsgeschichte als selbständige Disziplin freigesetzt. Was dies für die historisch gewonnenen Rechtsbegriffe bedeutete, war zwar gelegentlich zu beobachten. Aus dem comitatus des Tacitus, dem Gefolge, wurde die Gefolgschaft, und an die Stelle der Verwandten oder des Hauses trat die Sippe- um nur zwei der eher idealtypischen als historischen Vorstellungen zu nennen, die seither ein von ihrer Quellenbasis zunehmend unabhängiges Eigenleben führen. Dies hängtjedoch zugleich mit einer anderen Veränderung zusammen, die wohl in erster Linie dafür verantwortlich zu machen ist, daß das Gewicht der Gerrnania gegen Ende des 19. Jh. so deutlich abnahm: mit der Durchsetzung der von Amira begründeten entwicklungsgeschichtlichen Sicht. Wie gezeigt, war es Amira darum gegangen, die Rechtsgeschichte aus ihrer dienenden Funktion gegenüber dem geltenden Recht zu lösen. Sein Ziel war es, eine sichere wissenschaftliche Methode für die Erschließung des ältesten germanischen Rechts zu entwickeln. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand die Vorstellung von einem Stammbaum der germanischen Sprachen und Rechte. Darauf beruhte das rückschließende Verfahren, mit dessen Hilfe man nicht nur aus den Leges und anderen Quellen des frühen und hohen Mittelalters, sondern sogar noch aus Weistümern und Stadtrechten des späten Mittelalters germanische

9 1 Dies bedeutet keineswegs, daß das rechtshistorische Gennanenbild keiner Kritik bedürfe. Im Gegenteil ist unverkennbar, daß hier oft ein zeitbedingtes Vorverständnis wirksam war (und ist). Vgl. dazu K. Kroeschell, Gennanisches Recht als Forschungsproblem, in: Festschrift für Hans Thieme (1986) S . 3 ff. [jetzt in diesem BandeS. 65 ff.); hier sind auch meine kritischen Einzelstudien zu Sippe, Gefolgschaft, Treue und Herrschaft genannt. Dennoch bleibt festzuhalten, daß der Stellenwert der Germania des Tacitus nicht durch solche Vorurteile, sondern durch andere Fragestellungen verändert worden ist.

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Gennanisches Recht

Zustände erschließen konnte. Franz Beyerle war mit seiner Studie über den Entwicklungsgedanken im deutschen Recht von 1938 bisher der erste und der letzte, der sich mit dieser Methode kritisch auseinandergesetzt hat. Es schiene mir wünschenswert, sie- womöglich auch fiir andere Fachdisziplinen- einmal näher zu untersuchen.

Herrschaft, Gefolgschaft und Treue

Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht I. Das Problem »Haus und Herrschaft•- mit diesen Worten überschrieb Otto Brunner im Jahre 1939 ein wesentliches Kapitel seines Buches über »Land und Herrschaft•'. Seitdem ist dieses Begriffspaar aus dem Sprachgebrauch der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte nicht mehr verschwunden; ja - es hat sogar immer größere Verbreitung und Bedeutung erlangt. Hatte Otto Brunner das »Haus« des hohen und späten Mittelalters untersucht, das als eigenwüchsige Herrschaftsform das wichtigste Bauelement des »Landes« in seinem Sinne bildete, so ging Walter Schlesinger um zwei Schritte weiter. In seinem Buche über »Die Entstehung der Landesherrschaft«2 schilderte er 1941 das Haus als ein Verfassungsgebilde der germanisch-deutschen Frühzeit und als Wurzelboden von Landesherrschaft wie königlicher Herrschaft. Sein großer Aufsatz »Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte«3 führte diese Lehre 1953 fort; hier wurde die aus dem bewaffneten Hausgesinde erwachsene germanische Gefolgschaft als die Brücke dargestellt, die von der früheren Hausherrschaft zur adligen und königlichen Herrschaft des Mittelalters hingeführt habe. Obgleich es an Widerspruch nicht gefehlt hat4 , ist die Lehre von Haus und Herrschaft in dieser Form zum Kernstück einer Anschauung von der frühen germanisch-deutschen Verfassung geworden, deren innere Geschlossenheit

1

Zuletzt 1965 in 5. Auflage erschienen.

1

Jetzt in zweiter, um eine Einleitung erweiterter Auflage (1964).

s Zitiert nach dem letzten Neudruck in: W.S., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. I (1963) S. 9-52, mit ergänzenden Bemerkungen und Nachträgen S. 335 ff. Auf Einwände gegen diesen Aufsalz antwortet die im gleichen Bande, S. 286-334 abgedruckte Studie: Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft und Treue. • Vgl. vor allem die Studie von H. Kuhn, Die Grenzen der germanischen Gefolgschaft, in: ZRG germ. Abt. 73 (1956) S. 1-83. X Kmcschcll

114

Herrschaft, Gefolgschaft und Treue

eindrucksvoll genug ist. Karl Bosl hat sie in einem Vortrag folgendermaßen zusammengefaßf: •Auf das Problem der Entstehung des Staates tällt dort helleres Licht, wo es gelingt, die Entstehung von Herrschaft über Freie zu erklären... kunigriche ist dem mittelalterlichen Menschen ganz anschaulich das, was lateinische Quellen mit res publica bezeichnen. Ist es aber einmal nötig, einen abstrakten Begriff zu verwenden, dann sagen die althochdeutschen Glossen für res publica und auch das konkrete regnum: thaz hertuom. Daraus geht eindeutig hervor, daß Staat und Herrschaft gleichgesetzt werden und somit nicht der populus, das Volk, sondern der •Herr« den Staat macht, trägt, erhält .. . Den deutschen wie lateinischen Wörtern für Herr ist das eine eigen, daß sie alle den König bezeichnen können; dem ist die Anwendung auf Gott und Christus gleichmachten. Im Althochdeutschen haben wir die drei Wortefro, truhJin und herro,· fro ist anscheinend am ältesten und bezeichnete ursprünglich wohl den Hausherrn ... Truhrin ist demgegenüber der Gefolgsherr. Fro und truhJin wurden aber schließlich verdrängt von herro (wohl ein Komparativ zu ahd. her = grau, alt) ... Die lateinische Entsprechung ist dominus; der König ist der dominus schlechthin; dominium aber die Königsherrschaft. Daneben wird der Lehnsherr als senior bezeichnet. Was wir dem philologischen Befund entnehmen dürfen, ist dies: Herrschaft ist das Wesen des Königtums; dies ist aber nicht singulär, absolut. Auch andere Herren üben Herrschaft; zwischen ihrer Herrschaft und der königlichen ist nur ein Grad-, kein Wesensunterschied ... Der populus der Quellen, der den König wählt, das sind nicht die sogenannten •Freien«, das Volk, sondern die adeligen Gefolgs- und Lehnsherren, die selber Träger von Herrschaften waren... Der Herr und die Freien, Herrschaft und Genossenschaft, treten zuerst gegenüber im germanischen Haus. Herrschaft ist die Wiege staatlicher Entwicklung; patria potestas, hausherrliche Gewalt ist im alten Rom wie bei den Germanen Urzelle der Staatsgewalt. Der Hausherr garantiert die häusliche Lebensordnung; er übt Gewalt über die rechtlich nicht handlungstähigen Hausgenossen (Frau, Kinder, Unfreie, freies Gesinde) ... Aus der Hausherrschaft entstand ganz früh die Grundherrschaft, deren Wurzel nicht die Bodenleihe, sondern die persönliche Unfreiheit ist ... (Die) leibeigenen, bodenbebauenden servi wohnen rings um den Herrensitz; wir würden das als Dorf bezeichnen. So erwächst die mittelalterliche Dorfherrschaft als Sproß der Hausherrschaft ebenfalls aus der Unfreiheit ... Hausherrengewalt ist vor allem Schutzgewalt Der Hausherr sichert den Lebensunterhalt der Hausgenossen, vertritt sie vor Gericht, schützt sie in ihrem Recht gegen Angriffe

' Die alte deutsche Freiheit, in: K.B., Fnihfonnen der Gesellschaft im ma. Europa (1964) S. 204-219; das Zitat beginnt aufS. 204. Wegen seiner ungebührlichen Länge sei um Nachsicht gebeten. Es soll eine Vielzahl von Einzelbelegen ersparen. Vgl. auch den weiteren Aufsatz dieses Autors: Herrschaft und Beherrschte im deutschen Reich des 10.-12. Jh., ebd. S. 135-155.

Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht

115

von außen und haftet für alles, was sie in seinem Auftrag tun. Die hausherrliehe Gewalt heißt munt ... Munt ist nicht nur Verwandtenschutzpflicht und erstreckt sich nicht nur auf die Sippe. Im Althochdeutschen entspricht dem lat. paler familias das Wortfater hiuuislres, Hausherr. Hiwisk bezeichnet wie lat. familia die Hausgemeinschaft im weitesten Sinn ... Nach dem ältesten Wortsinn aber heißt frei, wer zu den •Lieben«, zum Haus, zur Sippe, zum Stamm gehört. •Lieb« aber bedeutet soviel wie geschont, geschützt. Der Begriff •frei• gehört damit deutlich der häuslichen Sphäre und dem Sippenverband zu. Das Fundament der alten Freiheit ist die Sicherheit gegen die Willkür des und der Herren und gegen Angriff von außen. Sicherheit und Schutz aber kann nur gewähren, wer Macht hat, wer ein Schwert hat und über andere Schwerter gebietet, wer eine Gefolgschaft hat. Dies kann nur der Hausherr, der Leib-, Grund- und Dorfherr ist und darum eine Gefolgschaft adliger, freier und unfreier Krieger (karle, Kerle) unterhalten kann. (Auch Gefolgsherrschaft erwächst also aus der Hausherrschaft; germanische Herrengewalt aber ist in erster Linie Gefolgsherrschaft.) Herrschaft und Freiheit wohnen also in der Geburtsstunde eines germanischdeutschen Staates aufs engste beisammen«. Soweit die Ausführungen von Karl Bosl. Es mag hier unerörtert bleiben, wo Bosl auf Otto Brunner, auf Walter Schlesinger oder auf seinen eigenen Forschungen fußt. Es sei auch dahingestellt, ob er nicht bisweilen durch starke Vereinfachungen das Bild des gegenwärtigen Forschungsstandes ein wenig überzeichnet6 • Im ganzen sind die zitierten Sätze eine treffende Wiedergabe der heutigen verfassungsgeschichtlichen Lehre, deren Neigung zu wortgeschichtlicher Argumentation hier ebenso deutlich hervortritt wie ihre starke Betonung der germanischen Kontinuität. Es ist offenkundig, daß die Ansicht vom Haus als der Wurzel aller Herrschaft grundlegend ist auch für die verbreiteten Thesen über eine herrschaftlich geprägte Freiheit, etwa die Königsfreiheit1, und ebenso von der Lehre der anerkannten Rolle von Fehde und Selbsthilfe in der frühen GesellschaftS. Gerade dieser letzte Punkt scheint mir nun für die Rechtsgeschichte wichtig zu sein. Vor allem Otto Brunner gründete seine Ansichten auf eine scharfe 6 Vor allem ein Vergleich mit Schle.singen AufsalZ »Herrschaft und Gefolgschaft• ergibt, daß bei Bosl manche zeitlichen und sachlichen Differenzierungen eingeebnet werden.

7

Die Literatur zu diesem Gegenstand, vor allem die grundlegendenArbeiten von Th. Mayerund

H. D01111enbauer, ist zusammengestellt in der einzigen Arbeit, die bisher einen diskutablen Gegenentwurf bietet: Eckharrl Malle~Mertens, Kar! der Große, Ludwig der Fronune und die Freien (1963).

1 Vgl. hierzu vor allem F. Kem, Widerstandsrecht und Staatsgewalt (2. Aufl. 1954), S. 159 ff., und 0. B~W~~~er, Land und HerrschaftS. 17 ff.

K*

116

Herrschaft, Gefolgschaft und Treue

Kritik an der herkömmlichen rechtshistorischen Gleichsetzung von Recht und Frieden, die alle Fehde entweder als Unrecht und Friedensbruch oder als vom Recht erlaubte Selbsthilfe deuten müsse9 • Man erinnert sich der Diskussion über •Rechtsgeschichte oder Machtgeschichtec, die damals zwischen 0. Brunner und Heinrich Mitteis geführt wurde10• Angesichts der von Mitteis geprägten vieldeutigen Kompromißformel: •Die Rechtsgeschichte leugnet die Macht nicht, sie sucht sie vielmehr zu rechtfertigene11 , nimmt es kaum wunder, daß die Ansicht der Historiker das Feld behaupten konnte, Frieden herrsche nur im vertrauten Kreise von Sippe und Haus, und zwischen Fremden sei Feindschaft, Rache, Fehde die gebotene Form des Kampfes um das Recht12 • Der bedeutende tschechische Historiker Franti8ek Graus hat das Ergebnis mit der Feststellung beschrieben, Otto Brunner habe im Bilde von der frühen Verfassung das ,.Rechte durch die ,. Herrschafte ersetzt13 • Er billigt das offenbar weitgehend, denn er ist der Meinung, daß alles Recht damals nur aus der Stärke geflossen sei, daß es eine Vorstellung vom Recht als Richtschnur des Handeins noch gar nicht gegeben habe. Zwar beanstandet er, daß Otto Brunner dann doch nachträglich den Begriff des Rechts wieder bemühe, das als tkus a machina über allem schwebe. Im Grunde braucht ihn aber dieser Umstand nicht zu beunruhigen, denn Brunners auf Fritz Kern gestützte Vorstellung vom unveränder-

9 Vgl. 0. Brunner, Land und HerrschaftS. 27 ff., und dazu die Bespr. von H. Mitteis in: HZ 163 (1941) S. 255-281, hier zit. nach dem Neudruck in dem Sammelband •Herrschaft und Staat im Mittelalter«, hrsg. v . H. Kllmpj(1956) S. 2~5, hier bes. S. 27 ff. Hier zeigt sich, daß 0. Brunner in seinem Kampf gegen die Deutung der Fehde ganz au1 dem begrifflichen Horizont von allgemeinem Volksfrieden und Friedlosigkeit heraus selbllt nicht konsequent illt.

10 H. Mitteis, Rechtsgeschichte und Machtgeschichte, in: Wirtschaft und Kultur, Festgabetür Alpbons Dopsch (1938) S. 547-580,jetzt in: H.M., Die Rechtsidee in der Geschichte (1957) S. 269294; 0. Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: Felltschr. H. Hirsch (MIÖG-Ergbd. 14, 1939) S. 513-515; Neudruck in dem Sanunelband •Herrschaft und Staat im MA« (oben Arun. 9) S. 1019. 11 H. Mitteis, Rechtsgeschichte und Machtgeschichte S. 287 (des Neudruckes) zit. bei Frantiiek Graus, Die Gewalt bei den Anfängen des Feudalismus und die »Gefangenenbefreiung« der mero-

wing. Hagiogrsphie, in: Jahrb. f. Wirtachaftagesch. I (OIItberlin 1961) S. 61- 156, hier S. 63 Arun. 9. Freilich muß man sich den Zusanunenhang gegenwärtig halten, in dem Mitteis' Formulierung steht. 12 0 . Brunner, Land und Herrschaft, bes. S. 17-41; W. Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft (oben Arun. 3) S. 10 f.; auf gleichem Ausgangspunktberuhen die widersprüchlichen Ausrohrungen von K. Bosl, Art. Friede, in: Sachwörterbuch zur dtsch. Geschichte, hrsg. v. H. Rössler u. G. Franz (1958) s. 303-305 .

" F. Graus, Die Gewalt (oben Arun. 11) S. 63 Arun. 11.

Haus und Herrschaft im fnThen deolachen R~ht

117

liehen, ewigen Recht des germanischen und mittelalterlichen Denkens ist jedenfalls keine die soziale Wirklichkeit gestaltende Kraft, sondern dient nur der Legitimation von Rache und Fehde14• Den Widerspruch Otto Brunners erfuhr deshalb auch besonders eine Lehre, die selber von der Rechtsgeschichte niemals wirklich aufgenommen worden war. Ich meine Franz Beyeries Ansicht, daß Fehde und Blutrache vorrechtliche Erscheinungen seien, naturhaftem Haß- und Kampftrieb entsprungen, und daß Recht eben dort sich verwirkliche, wo in gerichtlichem Verfahren friedliche Sühne gelinge15 • Hier wird dem Recht gesellschaftliche Realität zuerkannt, und eben dies gilt für die mediävistische Verfassungsgeschichte unserer Tage nicht. Sie will geschichtliche Verfassungswirklichkeit darstellen; sie schildert daher Blutsfreundschaft und Herrschaft, weiß von Schutz und Schirm im Ionern dieser Verbände, von Feindschaft und Fehde nach außen. Das Recht, das für sie zu einer unwirklichen Größe geworden ist, hat in diesem Bilde keinen Platz mehr16 • •• Gnmdlegend hierfür Kern, Widerstands~ht S. 122 ff., und desselben Aulors berühmter Aufsatz über Recht und Verfassung im Mittelalter, in: HZ 120 (1919) S. 1-79 (selbständ. Neudruck 1952). Ferner 0 . BT111111er, Land und HerrschaftS. 133 ff.: Die Rechtsanschauungdes Mittelalters. Diese Anschauungen, gleichzeitig mit der juristischen Kritik am positivistischen Rcchtsbegriff, und bei 0. BT111111er nachdrücklich durch die Lehren von Carl Schmia geprägt, teilen mit denen ihrer juristischen Zeitgenossen die Unterschätzung der notwendigen Normativität allen Rechtes. Diese Zeitbedingtheit ihres Standpunktes wird von den Verfassungshislorikem bis heute nicht wahrgenommen. -Um eine kritische Überprüfung der Lehre vom guten alten R~ht bemühe ich mich in meiner Studie •Recht und Rechtsbegriffim 12. Jh.«, in: Vorträge und Forschungen Bel. Xß, 1968 [jetzt in diesem BandeS. 277 ff.]. u F. Beyerk, Daa EntwicklungsProblem im germ. Rechtsgang I (1915) I S. 21 ff. , 43 ff.; kritisch dazu 0. BT111111er, Land und HerrschaftS. 27 ff. Dem Standpunkt Beyerks nähert sich bis zu einem gewissen Grade H. Miueis in seiner BesPrechung des Buches von Brut~~~er (oben Anm. 9), in der er (S. 29) die Fehde als •vorstaatlich« bezeichnet. Im ganzen stellt seine Anschauung freilich mehr einen Kompromiß zwischen der alten Lehre von der relativen Friedlosigkeit und der Ansicht 0. Brut~~~ers dar. Gleiches gilt für Miueis' Besp~hung dea Buches von Julius Goebel, Felony and misdemeanor, I (New York 1937),jetzt in: H.M., Die Rechtaideein der Geschichte S. 318-338, bes. S. 320-326. Baut Goebel weitgehend auf den Thesen von F. Beyerk auf und stimmt ihm Mitteis hinsichtlich der Auffassung de• frühen Prozesse& als einea von den Parteien betriebenen Fehdesühneverfahrens und hinsichtlich der Ablehnung der alten Friedlosigkeitslehre zu, so wendet er doch das ganze Problem wieder auf die konventionelle Fragestellung von Volksfrieden, Sippefrieden usw. 16

Auf die Unterscheidung von R~htsbegriffund Verfassungswirklichkeit beruft sich Schlesin-

ger, Randbemerkungen (oben Anm. 3) S. 287 bei der Verteidigung seiner Auffassung von der

germanischen Sippe. Der Gebrauch der charakteristischen Vokabel,.Verfaaaungswirklichkeit« verrät dabei die latente Vorstellung, daß die normierende Kraft der ,.Wirklichkeit« der normierenden Kraft des •Rechts« von vomherein überlegen sei; vgl. dazu die knappen Bemerkungen von K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1967) S. 20. - Bei 0. BT111111er, Land und Herrschaft, spielt das Bemühen eine zentrale Rolle, eine von der R~htsgeschichte unabhängige Verfassungsgeschichte zu etablieren (S. 111 ff., bes. S. 117, 120 ff.; vgl. auch seinen

118

Herrschaft, Gefolgschaft und Treue

Der rechtshistorischen Wissenschaft kann dies alles um so weniger gleichgültig sein, als sie sich soeben anschickt, viele Ergebnisse dieser verfassungsgeschichtlichen Forschung zu übemehmen17• Freilich fehlt es andererseits auch nicht an kritischen Stimmen. Gerade diejenigen Vorstellungen, die die verfassungsgeschichtliche Auffassung von der älteren Rechtsgeschichte übernommen hat und mit der gegenwärtigen teilt, wie die Lehren von der Sippe, von der germanischen Gefolgschaft und von dem besonderen Treuebegriff des germanischen Rechts, sind nachdrücklich angefochten worden18 • Dabei läßt die innere Verwandtschaft dieser Begriffe aufmerken. Es ist deutlich, daß in ihnen die geistigen Positionen des 19. Jh. bis heute nachwirken. Die Kritik an den auf

oben Anm. 10 zitierten Aufaatz). Obgleich er in dieser Verfassungsgeschichte, die er neuestens mit Wemer Conz.e als •Struk:turgeschichtc« versteht (Land und Herrschaft S. 164 Anm. 1), das Recht einbeziehen will, entrückt er es doch in Wahrheit durch seine Deutung als altes, gerechtes, ewiges Recht der Wirklichkeit. E. W. BlickenflJrde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jh. (1961) kennzeichnetdieses Verfahren als •wiedergewonnenen RealismuS« (S. 211); man könnte freilich auch mit Fram. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1952) S. 332 ff. von einem »Positivismus des Außerrechtlichen« sprechen. 17 Als Beispiel dafür seien die Grundrisse von Mitteis!Lieberich, 10. Auß. (1966), und Planit'l) Eckhardl, 2 . Auß. (1961) genannt, die trotz ihre• Festballens an manchen heraebrachtcn Formulie-

rungen doch deutlich die Spuren der neucren Auffassungen über Adel und Herrschaft, Sippe, Friede und Fehde aufweisen. Zurückhaltender ist hier H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte I, 2. Auß. (1962). Besonders weit geht dagegen in seiner Aufgeschlossenheit für die verfassungsgeschichtlichen Lehren K.S. Bader, Volk-stamm-Territorium, in: Herrschaft und Staat im Mittelalter (oben Anm. 9) S. 243-283, und vor allem dus., Deutsches Recht, in: Deutsche Philologie im Aufriß, hrsg. v. W. Stammler, m (2. Auß. 1962) Sp. 1971-2024. Der gleiche Autor hat sich auch kritisch gegenüber der alten Vorstellung des •allgemeinen Volksfrieden&« geäußert und sich hier den anaichten von 0. Brunner und W. Schlesinger angeschlossen (Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes I, 1957, S. 217). - Die Aufnahme der von Fritz Kern begründeten Ansicht vom Wesen des germanischen und mittelalterlichen Rechts liegt dagegen schon länger zurück; vgl. etwa schon W. Merk, Wachstum und Schöpfung im germanischen Recht, in: Beitr. zur Neugestaltungdes deutschen Rechts. Festg. E. JU11g (1937) S. 127-175. Heute darf man sie geradezu als herrschend bezeichnen; H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. I, 2. Auß. (1962) S. 25 ff., 345 ff. vertritt sie ebenso wie Hermann Krause in seinen Einzelstudien zum mittelalterlichen Rechtabegriff, etwa: Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: ZRG germ. Abt. 75 (1958) S. 206-251. 11 F. Gem:mer, Die germanische Sippe als Rechtsgebilde, in: ZRG germ. Abt. 67 (1950) S. 3449; K. KroescheU, Die Sippe im gennaniachen Recht, ebd. 77 (1960) S. 1-25 [jetzt in diesem Bande S. 13 ff.); H. Kuhn, Die Grenzen der gennanischen Gefolgschaft (oben Anm. 4); F. Graus, Über die sogenannte germanische Treue, in: Historica I (Prag 1959) S. 71-121; K. von See, Altnordische Rechtswörter (1964) S. 150 ff. (Sippe), 204-221 (Treue). Auf die hier vorgebrachte Kritik mit Ausnahme des erst später erschienenen Buches von K. von See antwortet W. Schlesinger in seiner Abhandlung: Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft und Treue (oben Anm. 3). Die neuesie Studie von Graus über •Herrschaft und Treue« in: Historica XII (Prag 1966) S. 544, habe ich nicht mehr verwerten können, doch weisen seine Ergebnisse zu Ursprung und Wesen der Treue in die gleiche Richtung wie die hier vorgetragenen zum Begriff der Herrschaft.

Haua und Herrschaft im fiühen deullchen Recht

119

dieser Basis erwachsenen Lehren entspringt also aus einer Abwendung von zeitbedingten Leitbildern, wie sie gerade die verfassungsgeschichtliche Forschung, vor allem Otto Brunner selbst, zuerst vollzogen hat19• Wenn nun zunächst die Problematik von Haus und Herrschaft neu bedacht werden soll, so wird dabei gleichfalls die kritische Distanz gegenüber den Kategorien der bisherigen Deutung ein zentrales methodisches Prinzip sein müssen. II. Haus und Herrschaft in der Rechtssprache des Mittelalters

Es gilt zuerst einen Überblick über die Quellenaussagen zu unserem Thema zu gewinnen. Dabei muß die Feststellung am Anfang stehen, daß unsere frühesten rechtshistorischen Quellen ausdrückliche Angaben zum Verhältnis von Haus und Herrschaft nicht enthalten. Die Herrschaftsverhältnisse, die selten in den Leges:lD, häufiger in anderen Zeugnissen21 erscheinen, sind solche der Vasallität und des frühen Lehnwesens. Von der Gefolgschaft berichtet allein Tacitus22, und die Tragweite seiner Angaben ist umstritten23 • Was die Volksrechte über Erbrecht, Vormundschaft und Eherecht sagen, fügt sich nur schwer zu einem geschlossenen Bilde und läßt die Rechtsstruktur germanischer Herrschaft nicht leicht erkennen24•

19 Vgl. hierfür außer seinem Buche •Land und Herrschaft« vor allem seinen oben Aruo. 10 genannten Aufaatz.

211 Vgl. z.B. den lwnw ingenuu.s in obsequium allerius, L. Ribv. 31,1 (35,1 in der Zählung der Monurnenta-Ausgabe von F. Beyerle/R. Buchner) und den liber lwmo qui sub mula nobilis cuiuslibet erat, L. Su. 64. 21 Hier iat vor allem die bekannte Kommendatioosforme1 Form. Tur. Nr. 43 (MGH Form. I, hrsg. v. Karl Zeumer, 1882, S. 158) zu nennen. Vgl. weiter die Ausführungen von F.L. Ganslwf, Was iat das Lehnswesen? (1961), S. 1-11. 22

Tacitus, Germania c. 13, 14.

n Vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen Schlesinger und Kuhn in den oben Anm. 18 genannten Aufsätzen. "" Sowohl die Darstellung bei Conrad Bd. I S. 31 ff. als auch die Übersicht bei Bader, Deutsches Recht (oben Anm. 16) Sp. 1997 ff. lassen kaum deutlich werden, daß entscheidende Fragen heute umstritten sind: die Bedeutung von Sippe und Munt (vgl. hierzu unten bei Anm. 121 ff.), Wesen und Formen der Ehe (hierzu P. KosclwJcer, Die Eheformen bei den Indogermanen, in: Deutsche Landesreferate zum D. Jnt. Kongreß für Rechtsvergleichung (1937) S. 77-140; R. Köstler, Raub-, Kauf- und Friedelebe bei den Germanen, in: ZRG germ. Abt. 63 (1943) S. 92-136, sowie die einschlägigen Ameiten von Alfred Scludlze), die Vermögensverfassungen des germanischen Hauses (auch hierfür sind die genannten Arbeiten von A.. Scludlze von Bedeutung, insbea.: Zur Rechtsgeschichteder german. Brüdergemeinschaft, in: ZRG germ. Abt. 56, 1936, S. 264-348), oder

120

HeiTIIChaft, Gefolgschaft und Treue

So sind wir entscheidend darauf angewiesen, Rückschlüsse aus der frühen Rechtssprache zu ziehen. Die folgenden Überlegungen haben es darum in erster Linie mit den Rechtswörtern zu tun, weil man bei ihnen erwarten darf, daß das Selbstverständnis des frühen Rechts hier unmittelbaren Ausdruck findet. In dem Bemühen um eine • Wortgeschichte, die zugleich Bedeutungsgeschichte ... ist«25 , weiß ich mich dabei Walter Schlesinger verpflichtet, so sehr sich auch meine Ergebnisse von den seinigen unterscheiden mögen. In der Erschließung der frühen Rechtssprache auch aus den literarischen Texten und den althochdeutschen Glossen hat er die Maßstäbe gesetzt, die bis heute gelten. 1. Die Terminologie der Herrschaft

Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt zunächst den Bereich der Herrschaft und beginnen wir mit diesem Worte selbst, so ergibt sieb als erstes, daß dieser Begriff, der im hoben und späten Mittelalter so geläufig ist, in den frühen althochdeutschen Zeugnissen in dem uns bekannten Sinne nicht vorkommt26• Sprachlich ist das ahd. herscaj. herscaft ohnehin nicht zum •Herrn« zu stellen, sondern zu •hehr« im Sinne von •erhaben, durch Alter ehrwürdig, grau·27 •

das Vornandensein einer Adoption (H. Kuhn, Philologisches zur Adoption bei den Germanen, in: ZRG genn. Abt. 65 (1947) S. 1-14). Seit langem streitig ist die angebliche ursprüngliche Gesamtvormundschaft der Sippe; vgl. einerseits Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. I (2. Aufl. 1906), S. 124, andererseits S. Rietschel, Art. Vormundschaft, in: Reallexikon d. german. Altertumskunde, hrsg. v. J. Hoops, Bd. IV (1919) S. 468; für Rietschels Ansicht entscheidet sich H. Miueis, Der Rechtsschutz Mindeljähriger im Mittelalter, in: Die Rechtsidee in der Geschichte (oben Anrn. 10) S. 625 f. Selbst von einem so wesentlichen Dogma wie dem ursprünglichen Nebeneinander von Erben- und Magenbuße (H. Brunner, Dt. Rechtsgesch. I S. 326-328) ist man nicht mehr überzeugt, wenn man sieht, daß es hierfür an Belegen hinsichtlich der Bußenhaftung und ihres Empfangs bei den Ripuariern, Bayern und Alemannen, hinsichtlich des Empfangs allein auch bei den Thüringern und Langobarden fehlt. Iat die ganze Erscheinung also eine nordseegermanische Sonderentwick.lung? :u

Schlesinger, Randbemerkungen(oben Anrn. 3) S. 302.

26 Die Belege zur rechtssprachlichen Verwendung von der Frühzeit bis zur Gegenwart, in: DeutschesRechtswörterbuch (Dt. RWB) Bd. V S. 854 tT. Die althochdeutschenFormen mit den von ihnen glossierten lat. Wörtern bei E. G. Gra.ff, Althochdeutscher Sprachschatz Bd. IV (1838) Sp. 995 f. Beim langsamen Voranschreiten des (Leipziger) Althochdeutschen Wörterbuchs, hng. von EJisabeth Karg-Gasterstlidl und 'Jheodor Frings (seit 1952) ist daa Werk von Graf! noch jetzt der vollständigste Nachweis des Wortgebrauchs.

27 F. Kluge, Etymol. Handwörberbuchder dt. Sprache, bearb. v. W. Mitzlw (19. Aufl. 1963) S. 305; G. EhrisftUUin, Die Wörter für •Herr« im Althochdeutschen, in: Ztschr. f. dt. Wortforsch. 7 (1905106) S . 173-202, hier S. 192.

Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht

121

Folglich glossiert das Wort ebenso wie das as. herscepi lat. Begriffe wie serenitaSJB, meint auch beim römischen magistraJus oder consulatus mehr die Würde des Amts als seine Machtbefugnisse29 , und verliert diesen Akzent nicht einmal als Glosse für lat. principatus oder dominiun?J. Die sprachliche Verknüpfung des Wortes mit dem Begriff des •Herrn« und damit seine inhaltliche Wandlung zur heutigen Bedeutung kann nicht vor dem Hochmittelalter erfolgt sein; die ersten klaren Belege für herscaph als Herrenstellung über Sachen, Eigenleute oder größere Gebiete entstammen dem 13. Jh. 31 • Bis in das 19. Jh. bezeichnete das Wort aber nur konkrete Herrschaftsrechte, die dann auch zur Bildung zahlreicher Komposita führen, also die Dorfherrschaft, Dienstherrschaft, Erbherrschaft, Eigenherrschaft, Gerichtsherrschaft, Gutsherrschaft, Landesherrschaft und viele andere. Als allgemeine Kategorie ist der Begriff »Herrschaft« vielleicht gar erst ein Erzeugnis der soziologischen Wissenschaftl2• Nun stützt sich die moderne verfassungsgeschichtliche Lehre auch nicht auf herscaf, herscepi, sondern auf das verwandte Abstraktum hertuom33 , das gleichfalls die Bedeutung von •Herrschaft« gehabt hat>el". Das Wort hat jedoch

11 Gralf, a.a.O.- Vgl. auch: Die allhochdt. Glossen, hrsg. v. E. Steinmeyer/E. Sievers (18791922) ß 128, 135. 29

Ebd. I 665, ß 106.

"' Ebd. IV 292- Unklar bleibt das Verhältnis von herscajt, herscepi zu dem ähnlich lautenden heriscaf, herescephe (mit kurzem e). Dieses Wort, welcheslat. miütia glossiert (GraJ!IV 985) und in Königsurkunden des 10. Jh. für die sächsischen Teillandschaften Engem und Westfalen gebraucht wird (vgl. dazu J. Bauermann, Herescephe. Zur Frage der sächs. Stammesprovinzen, in: WZ 97, 1947, S. 38-68), gehört nach P. v. Polenz, Landschafts- und Bezirksnamen im frühma. Deutschland I (1961) S. 32, mit hiJrad, hund und.fylld zu den Begriffen, in denen politische Personenverbände greifbar sind. Sein Wortgebrauch nähert sich jedoch öftera sehr dem von herscajt; vgl. Otfrids Evangelienbuch, hrsg. v. 0. Erdnuu&n, S. Aufl. bearb. v. L Wo!ff(l965) IV 17, 15: IUIZ er selbo zimo sprach I ih mag giuuinnan heriscafI engilo giuuelti I ob ih iz du4n uuelti. In Ahd. GI. m 135 ist es sogar herschajt, das für miücia steht. ,. Dt. RWB V Sp. 855. n Woher bei Ouo Gierlee (Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, 1867) der Begriff der •Herrschaft« stammt, der in dialektischem Wechselspiel mit der •Genossenschaft« seine Sicht der Rechtsgeschichte bestimmt, vermag ich bisher nicht nachzuweisen. Gierlees Lehrer Beseler ist er jedenfalls unbekannt. Bei Hegel ist immerbin das Begriffspaar •Herrschaft und Knechtschaft« nachweisbar; vgl. H. Glockner, Heget-Lexikon Bd. I (2. Aufl. 1957) S. 991-995. Schopenhauerwie Ka111 scheinen •Herrschaft« als allgemeinen Begriff nicht verwendet zu haben. " Belege bei GraifiV 994. .. Schlesinger, Landesherrschaft S. 113, 114, 120; tkrs., Herrschaft und Gefolgschaft S. 12. Ebenso ihm folgend Bosl in den oben Anm. 5 zitierten Aufsätzen.

122

HeiTIChaft, Gefolgschaft und Treue

eher die allgemeine Bedeutung großen Ansehens, der altitudo, celsitudo oder sublimitas. Von dieser Grundbedeutung her kann es dann auch die dignitas oder auetorilas glossieren und in seltenen Fällen gar für dominatio oder dominium stehen. Gelegentlich hat hertuom sogar kollektive Bedeutung wie in der folgenden Stelle aus der ahd. Tatian-Übersetzung (um 825), die berichtet, wie Herodes die Hohenpriester und Schriftgelehrte befragt, wo Jesus geboren worden sei:

8, 2.

1h0 thaz gihorta Herodes ther cuning, uuard gitruobit inti al Hierusalern mit imo, inti gisamanota then herduom thero biscofo in thie gilertun thesfolkes, eisgota fon in, uuar Christ gibDran uuari.

Hier berührt sich hertuom mit dem von Otfried von Weißenburg (um 875) und Notker von St. Gallen (um 1000) noch häufiger in diesem Sinne gebrauchten heroli, das die Versammlung der Angesehensten, der principes bezeichnet35. Bei Otfried steht es mehrfach in Schilderungen, denen offenbar das Bild einer Thingversammlung vor Augen steht, wie in der folgenden Schilderung einer Beratung der Hohenpriester: III, 25. 1hie biscofa bi noti I joh al thaz heroti 1huruh thesa racha I datun eina spracha. 1hara zi themo ringe I joh zi themo selben thinge. Quam mihil woroltmenigi I then hereston ingegini. Man sieht: überallliegt hier die allgemeine Bedeutung hohen Ranges und Ansehens zugrunde. Selbstverständlich kommt dieses gerade den Vornehmen und Mächtigen zu, aber ihre Stellung wird nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Herrschaftsgewalt betrachtet, sondern unter dem ihrer Autorität, des Gewichts ihres Rates. Das entspricht nicht nur der sprachlichen Ableitung von hertuom und heroti von »hehre, sondern scheint auch in der Anschauung der geschichtlichen Realität begründet. Die Annäherung an den Begriff des •Herrn« ist auch hier etwas Sekundäres; im Gegensatz zum Worte •Herrschaft« haben hertuom und heroti diesen Bedeutungswandel nicht einmal überlebt. Schlesingers Übersetzung von hertuom als •Herrschaft« wird also vom Quellenbefund nicht gestützt36. Wie erklärt sich die Einseitigkeit seiner Deutung?

" Belege bei GraifiV 991. Zur Wortbedeutung vor allem Ehrismann S. 192, der darlegt, daß alle drei Substantivbildungen zu hir, also hirscaft, hirtuom und hirori geradezu synonym sein können und sich gerade in der abstrakten wie der kollektiven Bedeutung treffen. ,. Insbe110ndere seine wiederholte Berufung auf Ehrismann (LandesbeiTIChaft S. 112 ff.; Herrschaft und GefolgschaftS. 10) ist irreführend, da der von Ehrismann vorgelegte Befund wie auch die eigene Ansicht dieses Autors mit Schlesingers Auffassungen nicht übereinstimmen.

Haus und Herrschaft im frühen deutBeben Recht

123

Auf die Ursachen hat schon vor einem Jahrzehnt Plaßmann hingewiesen, ohne daß seine Kritik recht beachtet worden wäre37 • Das •Übersetzungsproblem«, wie Philipp Heck es genannt hat38, stellt sich bei den Glossen und Übersetzungen in ganz anderer Weise als bei denjenigen mittelalterlichen Texten, die in lateinischer Sprache deutsche Verhältnisse zu schildern suchen. Der Glossator versucht, •aus dem lateinischen Kultur- und Vorstellungskreis stammende, von Lateinern auf Lateinisch gedachte Texte ,.zu erläutern, indem er sie durch Hinzufügen von mehr oder weniger annähernden deutschen Analoga« interpretiert. Man kann die Glossen wie die Übersetzungen nur •vom Lateinischen zum Deutschen hin«, nicht umgekehrt lesen. Das bedeutet, daß die ahd. Glossen das lateinische Wort nur in seinem jeweiligen Zusammenhang notdürftig erläutern können, daß man aber keineswegs umgekehrt die deutschen Wörter der Glossen aus den lateinischen Lemmata erklären kann. Wendet man sich nun dem Worte herro, Herr39 selbst zu, so wird noch deutlicher, daß die verfassungsgeschichtliche Lehre nur auf unsicherem Grunde

n J.O. PlaßniQIIII, Princeps und populus (1954) S. 143 ff.; bes. S. 147 ff. Dazu wiederum Schlesinger, Herrschaft und GefolgschaftS. 12 Arun. 8, der die Einwände von PlaßniQIIII zwar

zun1ckweist, aber nicht widerlegt.

" Phitipp Heck., Übersetzungsprobleme im frühen Mittelalter (1931) - ein häufiger zitiertes als gelesenes Buch. Sein Ansatz wird von W. Stach, Wort und Bedeutung im mittelalterlichen Latein, in: DA 9 (1952) S. 332-352, auf neuartige Weise aufgegriffen und wesentlich modifiZiert. Statt an ein Übersetzen denkt Stach an eine Benutzulli eines lateinischen Wortschatzes, der bereits mittelalterliche Bedeutungen in sich aufgenommen hat, so daß die deutBebe Sprache •nicht unmittelbar, sondern seitlich vor der Verschriftung« lag (S. 339). ,. Kluge, Etym. Wb. S. 305; Belege bei GraifiV 991 ff., und im Dt. RWB V 781 ff. Im Schrifttum ist heute grundlegend das Werk von D.H. Grr:en, The Carolingian Lord (Cambridge 1965), das S. 541 f. die insgesamt 391 althochdeutschen Belegstellen wohl am vollständigsten verz.eichnet. Die ältere Literatur, vor allem die Studie von Ehrismann, wird durch das Buch von Green fast durchweg bestätigt und nur in Nuancen berichtigt. Andererseits führt Green methodisch über EhrisniQIIII und das sonstige Schrifttum nicht hinaus, soweit dies von unserer rechlßhistorischen Fragestellung aus feststellbar ist. So versucht er insbesondere nicht, die Einsicht fruchtbar zu machen, daß auch die philologische Erforschung von Vorstellungen wie •Herr« und •Herrschaft« selbst ein historisches Phänomen iat, obgleich sich diese Fe&tatellung schon älteren Autoren aufgedrängt hat. Ich nenne insbesondere F. Kaujfmann, Die Jünger, vornehmlich im Heliand, in: ZIBchr. f. dt. Philologie 32 (1900) S. 250-255, und K. Guntermann, Herrschaftliche und genossenschaftliche Termini in der geistl. Epik der Westgermanen (phil. Diss. Kiel 1910) S. 3 ff. (A. F. C. Vilmar als Begrunder der gefolgschaftliehen Deutung des Heliand!). Aus dem Schrifttum sind weiter von Bedeutung die Arbeiten von H. Beer, Führen und Folgen, Herrschen und Beherrschtwerden im Sprachgut der Angelsachsen (phil. DiBI. Berlin 1939), und A. Schirokauer, Die Wortgeschichte von •Herr«, in: A.S., Germanist. Studien (1957) S. 213-221, sowie H. Eggen;, DeutBebe Sprachgeschichte I (rde 185, 186) S. 113 ff.

124

Herrschaft, Gefolgschaft und Treue

steht. Das Wort ist, wie seit je bekannt, der Komparativ zu dem Positiv her, bedeutet also den heriro, den »Hehreren« oder »Angeseheneren«10• Bekannt ist auch seit langem, daß heriro, herro eine Lehnübersetzung des lateinischen senior ist41 • Dieses Wort wiederum ist einerseits kirchensprachliche Übersetzung des biblischen presbyteros 42 , andererseits schon in der Spätantike auch Rangbezeichnung für weltliche Große43 • Jüngst erst hat man darauf aufmerksam gemacht, daß die in diesen Wortbildungen zum Ausdruck kommende Wertschätzung des Greisenalters, seiner Weisheit und seiner Würde, durchaus ungermanisch ist. Dem antiken Mittelmeerraum zugehörig, entspricht sie zugleich den Vorstellungen, die im Christentum wirksam waren, wie etwa Gregors des Großen preisende Worte über den Hl. Benedikt von Nursia zeigen, in denen dem Vater des abendländischen Mönchtums nachgerühmt wird, daß »ihm das Herz von Jugend auf so stet wie einem Greise« geschlagen habe44• Daß es nicht möglich ist, die aus solcher Vorstellungswelt erwachsende Lehnübersetzung heriro, herro auf die germanische Frühzeit zu übertragen- noch dazu mit der

40 Ehrismann, bes. S. 190; SchiroknuerS. 214; Eggers S. 116; GreenS. 408. Dagegen schreibt SchJesinger, Herrschaft und Gefolgschaft S. 10, dem Worte hiTTo kurzerband die Bedeutung »Gefolgsherr« zu (ähnlich schon: Entstehung der Landesherrschaft S. 113 ff.), obgleich er eJWähnt, daß es sich bei dem Worte um einen Komparativ zu her, •alt, grau« handelt. Vgl. auch das eingangs gegebene wörtliche Zitat von Bosl.

41 Die Untersuchung von Green S. 411-448 erhebt Ehrismanns Ansicht von der Lehnsübersetzung senior-hCTTo gegen abweichende Ansichten von F. Kaufmann und W. S1aeh zur völligen Gewißheit. Zu datieren ist dieser Vorgang nach Ehrismann S. 190 und Eggers S. 115 etwa in das 7. Ih. - Zum Worte senior selbst vgl. Elise Richter, Senior- sire, in: Wörter und Sachen 12 (1929) S. 114-131; Stach, Wort und BedeutungS. 352; GreenS. 435. Die von Slaeh S. 352 Arun. 47 genannte, damals ungedruckte Studie Schlesingers von 1946 mit dem Titel: Herro - senior ist offenbar nie erschienen. 42 Zu presbyteros gehört auch die erfolglose Übersetzung got. sinista, burg. sinistus •Ältester«; vgl. S. Feist, Wörterbuch der gotischen Sprache, 3. Aufl. (1939) S. 423. Dazu neuestens R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (1961) S. 576 ff. und GreenS. 431 f .

., Senior als Rangbezeichnung für weltliche Große: E. RichterS. 127 ff. J.F. Niemuryer, Mediae Latinitatis Lexicon Minus (1957-1976) S. 957 s. v. senior Ziff. 9, entnimmt für die Bedeutung seigneur par rapport ii un vassal die typischsten Belege den Kapitularien. Vgl. MGH Cap., hrsg. v. A. Boretius/V. Krause Bd. U (1897) RegisterS. 702 s. v. senior. Hier treten die Bedeutungenmaior natu und dominus (besser: Herr) deutlich hervor. Der senior hominis liberi belegt die vasallitischfeudale Bedeutung, die dann vor allem in typischen Wendungen wie seniorem accipere oderjugere, seniorijidem promittere, ad seniorem se commendare usw. zutage tritt. Über das Aufkonuncn von senior für den König, das erst in den Kapitularien des 9. Ih. sichtbar wird, vgl. unten Arun. 46. 44 Schiroknuer S. 216 ff. ; dort auch das Zitat aus Gregors Vita des Hl. Benedikt nach J. Bühlers Übersetzung. Wie Schiroknuer auch IUUtn, Gefolgschaft S. 28. Zur Vorstellung des puer senex allgemein: E.R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 2. Aufl. (1954) S. 110.

Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht

125

mittelalterlich-neuzeitlichen Bedeutung des Wortes •Herr« - bedarf kaum des Beweises. Während nun senior in seiner allgemeinen Bedeutung, etwa bei geistlichen Oberen, mit dem Komperativ heriro übersetzt wurde4S, erhielt das daraus entwickelte Substantiv herro einen ganz spezifischen Inhalt. Als Übersetzung für den senior im weltlichen Sinne gehört es ganz zur Geisteswelt der Vasalität und des frühen Lehnswesens46• Wie das Gegenstück zum senior der vassus ist, so entspricht dem •Herrn« der •Mann«47• Erst mit der Ausdehnung lehnsrechtlieber Vorstellungen wird herro dann zur Bezeichnung für Herren aller Art und glossiert lateinische Begriffe wie possessores, magnates, proceres, magni, sena-

45 Die längere Form heriro, hererowird allerdings, wo sie (wie in der ahd. Benediktinerregel oder bei Otfrid) noch literarisch belegt ist, von Green S. 475 mit Ehrismann S. 181 für eine klösterliche Neuschöpfung gehalten, die dazu bestimmt war, das •weltlich« gewordene herro als Wiedergabe des geistlichen senior zu übersetzen .

.. Bezeichnend für diese feudale Vorstellungswelt sind die altdeutschen Gespräche des •Pariser Gesprächsbüchleins«aus dem 10. Jh. (Druck: Ahd. GI. V, 1922, S. 517 ff.). Vgl. etwa 43. Min erro guiUo lin esprachen .i. senior meus uullloqui recum, oder 93 . Guer es lin man .i. ubi tuus homo? Verderbt ist leider an einigen hier eingeklammerten Stellen das folgende drastische Gespräch: 60. Quandi nae garin za melina .i. quare nonfoisli ad maiUiinas? 61. En uaJde .i. ego nolui. 62. Ger enslephen bitte uip in ore bette .i. tu iacuisli adfeminam in tuo lec10. 63. Guez or erre az (pe de semauda) ger enslephen pe dez uip (sestrai rebulga) .i. si sciuerit hocsenior tuis iratus erit per meum caput. - Zur sozialgeschichtlichen Charakterisierung von herro vgl. Ehrismann S. 190 f.; Schirokauer S. 215 und Green, der sowohl in seiner Untersuchung dea Verhältnisses von senior zu seiner Lehnübersetzung herro (S. 411-448) wie in seiner Darstellung der Bedeutungserweiterung von herro (S. 449-487) das Wort als ein originaUy feudd renn erweist (vgl. auch die Zusammenfassung s. 512 ff.) . ., Vor allem im Tatian und bei Otfrid lautet die Entsprechung zu herro meist sca/c oder man; vgl. GreenS. 450 f. und 471 und schon Guntermann S. 95. Zwar sieht Green S. 93-98 in man neben seiner vasallitischen Bedeutung als Wiedergabe von lat. homo auch eine gefolgschaftliehheroische Wurzel (gegen Kuhn), aber für das Begriffspaar hirro-man kann diese außer Betracht bleiben. Wie Green am Beispiel des Sprachgebrauchs von Otfried zeigt (S. 470), ist hirro ein Wort nichtmilitärischen Charakters; selbst die bei Otfried einmal vorkommende Verbindung herro-thegan beweist dagegen nichts, da letzteres Wort in jener Zeit nur den Diener oder Knecht meint. Daß herro den Gefolgherm meine (Schksinger, Herrschaft und Gefolgschaft S. 10), ist also eine unbegründete Annahme. Ebensowenig trim es zu, daß unter der as. Entsprechung jungiro im Heliand der Gefolgsmann zu verstehen sei (Schksinger ebd. S. 19, der sich Anm. 27 weigert, die gegenteiligen ForschungsergebnissevonF. Kaujfmann, Die Jünger, zur Kenntnis zu nehmen). Green S. 440-443 hat aufs neue bestätigt, daß dieses Wort, das ursprünglich sowohl subdili oder inferiores als auch discipuü meinte und später auf diese letzte Bedeutung (die Jünger Christi) eingeschränkt wurde, anfangs wohl nur den Diener bedeutet hat. Vgl. auch Schirokauer S. 219; Kuhn, GefolgschaftS. 57.

126

Herrschaft, Gefolgschaft und Treue

tores48 • Auffällig ist, daß herro sehr lange Zeit weder auf den König noch auf Gott und Christus angewendet wird, was sich erst bei Notleer von St. Gallen (um 1000) ändert49; beide Bereiche sind terminologisch deutlich geschieden, so daß Schlesingers These von der inneren Gleichartigkeit von Königsherrschaft und Adelsherrschaft hier keine Stütze findef". Daß das Wort herro typisch der frühen feudalen Vorstellungswelt zugehört, ergibt sich schließlich auch aus dem Umstand, daß es den Angelsachsen bei ihrer Übersiedlung nach England noch fremd war; sie lernten es erst nachträglich als deutschen Import kennen51 • Rückschlüsse auf die germanische Frühzeit läßt das Wort also gewiß nicht zu. Fragt man abermals nach den Gründen, weshalb diese längst bekannte Wortgeschichte die moderne verfassungsgeschichtliche Lehre nicht zu beeinflussen vermochte, so ist die Antwort nicht schwer zu geben. Eine isolierte Betrachtung der althochdeutschen Terminologie, ohne Berücksichtigung ihrer vielfältigen Abhängigkeit vom mittelalterlichen Sprachgebrauch52, bewirkte eine künstliche Archaisierung, die zu der Vorstellung von einer kräftigen germanischen Kon-

.. Vgl. GrajJIV 991 f.; GreenS . 466 (mit GloaaenbelegenAnm. 1). 49 Auch hier werden die Feststellungen Ehrismanns durch Green S. 449-487 vollauf bestätigt. Für den König, der erst seit etwa 800 häufiger als senior bezeichnet wird (E. Richur S. 129; schief daher Schlesinger, Herrschaft u. GefolgschaftS. 11), wird auch 11217'0 nur gelegentlich gebraucht, so etwa in den Straßburger Eiden (W. Braune, Allhochdeutaches Lesebuch, 13. Auß. 1958, Nr. XXI): Karlus meos sendra ... I.Udhuuig min 11217'0. Erst bei Notker erscheint 11217'0 häufiger eng verbunden mit chuning (GreenS. 459). Entsprechendes gilt türGottund Christus: » .. . we find tJuu in lhe earliest OHG monumenlS 11217'0 is regularly employed to derwt.e eilher lhe seculor /Qrd or an ecclesiastic or monastic aulhorithy, but tJuu it is not rwnnally used of God or Oarist ... lhe seculor meaning with which lhe word jirst mokes its appearance in lhe earliest glosses and in lhe BildebrandsIied remains with it through to Notker. With Notker we are in a position actualiy to witness lhe gradual emergence of 11217'0 as a term applicable to God and Oarist as weU as to lhe secular Iord« (GreenS. 467, 468). Vgl. auch Ehrismann S. 182 ff. und Eggers S. 113-116.

"' Wenn Schlesinger, Herrschaft und GefolgschaftS. 10, ausführt, die Denkmäler gäben keine Anhaltspunkte dafür, d.ß.JrO, truhtin und hirro grundsäiZlich voneinanderverschiedene Herrschaftsgestaltungen bezeichneten, so ist das schlechthin falsch. Die Quellen zeigen das Gegenteil, und die philologische Literatur hat dies so gründlich als möglich herausgearbeitet. Schlesingers Folgerung, d4ß königliche und adlige Herrschaft ursprünglich nicht voneinander unterschieden gewesen sein, läßt sich auf den rechtssprachlichen Befund also jedenfalls nicht stützen. '' Vgl. Ehrismann S. 201, Eggers S. 114, 116, und sehreingehend GreenS. 417. Der skandinavische Norden hat das Wort erst durch angelsächsische Vermittlung kenncngelemt. " Vgl. dazu schon Gunt.ermann S. 9 und jetzt Eggers S . 40-55, bes. S. 50 ff., und S. 258/59. So erörtert z.B. Schlesinger Herrschaft und GefolgschaftS. 11 zwar auch die Isteinischen Termini, geht aber nicht auf ihre Zusammenhänge mit den deutschen Ausdrücken, besonders den Zusammenhang hirro-senior, ein. Die spezifischen Bedeutungsinhalte fließen ihm daher völlig ineinander.

Haua und Hernchaft im frühen deutachen Recht

127

tinuität aufs beste zu stimmen schien. Die an die Quellen herangetragenen methodischen Prinzipien waren es also, die zu einer in sich schlüssigen und daher zunächst überzeugenden, aber zu stark vereinfachenden Bedeutung führten. Bei differenzierender Betrachtung ergibt sich dagegen, daß der Sprachgebrauch des hohen und des frühen Mittelalters deutlich voneinander unterschieden sind, und daß Rückschlüsse auf die Frühzeit zunächst sogar ausgeschlossen scheinen. In diese Frühzeit scheint man nun freilich einzutreten, wenn man sich dem Wortedominus zuwendet, das im spätantiken Sprachgebrauch als ganz allgemeine Bezeichnung auf Herren aller Art angewendet werden konnte- vom Eigentümer eines Sklaven bis hin zum Kaiser53 • In den fränkisch-deutschen Rechtstexten begegnetdominusals beinahe, technischer Terminus in zwei deutlich getrennten Sphären. Einmal meint es den Herrn von Vieh, von Knechten, von Grundbesitz - so ausnahmslos in der Lex Salica, der der Begriff des senior dafür ganz unbekannt isP'. Andererseits aber ist es die prägnante Bezeichnung für den König wie für Gott und Christus: dominicus bedeutet sowohl •göttliche wie in Rechtsquellen •königlich..S5 • Was schon in der Vermeidung der Wörter herro und senior zu spüren war, ist hier positiv bezeugt: die Nähe der Königsauffassung zum Bilde von der Herrschaft Gottes, und zwar schon vor der Salbung

" PaulyiWISsowa, Realenzyklopädie d. klaaa. Alte11Umswiaa. Bd. 5, neue Bearoeitung (1903) Sp. 1302 ff., 1305 ff. a. v. dominium, dominus. Den Nachklang dieses Sprachgebrauchs im frühen Mittelalter belegt Niermeyer, Lexicon S. 353 s. v. dominus, Ziff. I.

,. Pactua Legia Salicae, hrsg. v. K.A. Eckhardl, (Gennanenrechte NF., Westgenn. Recht) Bd. D 2 (1956) RegisterS. 512 f. s. v . dominus. bn einzelnen eniCheinthier der dominus caballi, cervi domeslici, quadrupedis (cui pecusfuerir), weiter der dominus servi auf anciUae, libel1i, leli, endlich der dominus campi, casae, domi vel cunis. Nur in den späteren Ergänzungs-Kapitularien tinden sich dominus rex, dominus iudex (cap. 95 ÜbeniChrift) unddominusals Bezeichnungtür Christus. - Das Wort senior bedeutet im Pact. L. Sal. nur den Älteren (Bruder oder Sohn); vgl. die Belege a.a.O. S. 594 s. v. senior. Vgl. demgegenüberdie reiche Verwendungvonseniorin den Kapitularien, oben Anm. 43. " Niermeyer, Lexicon S. 352. Eindeutig ist hier wieder vor allem der Sprachgebrauch des Pactus Legis Salicae a.a.O. 572 s. v. dominicus, der neben der Bedeutung •königlich« nur dies dominicus als Sonntag und evisio dominica als Gottesurteil kennt. Die truslis dominica (Pact. L. Sal. 41 § 5; 42 §§ I, 2; 63 §§ I, 2) ist ebenso das königliche Gefolge, wie in den ahd. Glossen oratio dominica als Gebet des Herrn rhazjrono gapet heißt (Graff W Sp. 807).

128

Herrschaft, Gefolgschaft und Treue

des ersten Karolingers, die den König endgültig neben die ·Gesalbten des Herrn« im Sinne der Bibel rückte56 • Dieser präzise Sprachgebrauch erleichtert es, die deutsche Entsprechung zu finden; sie lautet fro, Herr, und im elliptischen Gen.pl. frono, zum Herrn gehörig57 • Hier haben wir offenbar die älteste Bezeichnung für den Herrn vor uns, die zum Ausgangspunkt einer reichen Rechtsterminologie wurde, vom Fronhof und Frondienst über den Fronboten bis zur Fronunt', wobei frono immer entschiedener die Bedeutung von publicus annimmf9. Die ursprüngliche Bedeutung von fro scheint sehr allgemein gewesen zu sein; es nur auf den Hausherrn zu beziehen, liegtangesichtsdes späteren Inhalts recht femw .

.!6 Dazu die Abhandlungvon E. Ewig, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Vorträge und Forschungen m (1963) S. 1-73. Womöglich müßte man darüber hinaus noch die weitere Frage stellen, wie weit das germanische Großkönigtum schon vor der Konveraion von antikchristlichen Vorstellungen beeinflußt war. Vgl. ferner R. Buchner, Das merowingische Königtum, ebd. S. 143-154, dessen Bild allerdings wohl die germanischen Züge zu stark betont.- Zu christlichen Komponenten der germanischen Königstreue Graus, Germanische Treue (oben Arun. 18) S. 101 ff., 113.

" Dazu vgl. Ehrismann, S. 193 ff.; GreenS. 19 ff., bes. S . 39 ff. Belege bei Graffm Sp. 804 ff. und Green S. 537. Auch dieses Vemältnis von dominicus und jrfmo wird von Schlesinger mißdeutet. Wenn er (Entstehung d. Landesherrschaft S. 113 f.) dominicus für die Wiedergabe von frono hält und dafür auf die Entsprechung von fronisc githigini (Ludwigslied v. 5, E. Steinmeyer, Kleinere althochdeutsche Sprachdenkmäler, 1915, N r. XVI S. 85) verweist, so kann ich ihm darin nicht folgen. Die Beziehungen zwischen Deutsch und Lateinisch waren viel verwickelter; sicherlich konnte umgekehrt frono Wiedergabe von lat. dominicus sein, wie etwa in der 2. Würzburger Markbeschreibung (Steinmeyer Nr. XXIV 2, S. 116): unte quedenl, do;z in dero marchu si ieguuedar, Joh chirichsaha sancti Kiüanes, iohfrono, iohfriero Franchono erbi. Die Deutung dieser Stelle durch Ehrismann S. 194 und GreenS. 39 ist allerdings insofern unzutreffend, als beide Autoren an grundherrliehen Besitz denken. Ich möchte hier mit Karl Bosl, Franken um 800, Strukturanalyse einer fränkischen Königsprovinz (1959) S. 25, eher an Königsgut denken. ,. Belege im Dt. RWB

m (1935-38) Sp. 966-1014.

'" Vgl. Ehrismann S. 197 mit den Belegen.frOnehofjiscus (Ahd. GI. 3, 238, 49), umbefrono;zins pubücis uectigaübus (Notker, Boethiua I 14) und vielen anderen. Weiter Schlesinger, Entstehungder Landesherrschaft S. 111 ff.; GreenS. 40. "' Schlesinger, Herrschaft und GefolgschaftS. 10, sieht im.frO den Hausherm. Gnen S. 21 (Iord of the household) scheint diese Ansicht zu teilen, zieht den Kreis aber in Wahmeit weiter. In der Tat wäre ja nicht einzusehen, warum das Goihisehe das Kompositum heiwa-Jrauja für den paterfamiüas hätte bilden sollen, wennfrauja allein schon die gleiche Bedeutung gehabt hätte; vgl. Feisl, Wb. d. got. Spr. S. 166 (s. v . frauja) und 253 (s. v. heiwa-frauja), der ebenso wie Ehrismann S. 189 an die allgemeine Bedeutung •Herr« denkt.

Haus und HeiTIIChaf\ im frühen deutachen Recht

129

Endlich wäre noch von dem Worte truhlin61 zu reden, das in der Beweisführung der Verfassungshistoriker deshalb eine Rolle spielt, weil es als Bezeichnung für den Gefolgsherrn die frühe Hausherrschaft mit dem späten weiten Herrschaftsbegriff zu verknüpfen scheint62 • Auch hier ist aber eine Reihe von Einschränkungen nötig. So ist vorweg daran zu erinnern, daß aus der mit truhJ, truhlin zusammenhängenden Wortgruppe die Wörter trustis und antrustiones auszuscheiden sind, weil sie zu •Troste im Sinne von solatium, auxilium gehören63. TruhJ und truhlin selbst auf die Gefolgschaft im Sinne des Tacitus zu deuten, sachlich also in älteste Zeiten zurückzuversetzen, ist eine petitio principii. Die Lex Salica kennt das Wort dructe, druchle im Text in der Bedeutung von •Hochzeitszuge64 , in den malbergischen Glossen als •Bande, bewaffnete Schare65 • Nach diesen ältesten Belegen muß man wohl annehmen, daß •Zug, ziehende Schare, vielleicht auch •kriegerische Schare die ursprüngliche Bedeutung ist66, und der truhlin wäre dann der Anführer einer solchen Scha~7 •

01

540.

Belege bei GraffV S. 517 ff.; neuestes Fundstellenverzeichnis wiederum bei Gnen S . 537-

02 Dies war die Auffassung von Ehrism41111 S. 188. Ebenso Schlesinger, Entstehung der LandesheiTIIChaf\ S. 114; HeiTIIChaf\ und GefolgschaftS. 10. Green, der in seinem Buche dem Wort truhlfn breiten Raum gibt (S. 59-401), bestätigt grundsätzlich KJ4hns Skepsis gegenüber den Versuchen, die alte deutache Tenninologie der frühen Feudalität (man, lhegan) aus dem Gefolgschaftswesen herzuleiten (S. 93-114).

" Anders unrichtig noch Ehrism41111 S. 88. Vgl. aber jetzt W. Kaspen, Wort- und Namensstudien zur Lex Salica, in: Ztachr. f. dt. Altertum u. dt. Philologie 82 (1948/50) S . 291-335, hier S. 316, und Rulh Schmidl-Wiegand, Bespr. des Handwörterbuchs zur dtach. Rechtsgeschichte, in: Ztschr. f. dtsch. Philologie 85 (1966) S. 149 f. Vgl. auch GreenS. 129. " Pactus L . Sal., ed. Eckharril 13 § 14. "' Vgl. im Glossar der Eckharrilschen Ausgabe (ß 2 S. 547) die Wörter druchleümici, Bandenmitglieder und druchteslidio Bandenbuße. Die Glossen beziehen sich in 42 § 3 und 43 § 3 auf ein contubemium. Eckharril übersetzt dies als •Zeltgenossenschaf\c; ich würde die allgemeine Übersetzung •Bande« vorziehen. .. Vgl. Kuhn, Gefolgschaft (oben Arun. 4) S. 23 ff., der jedoch die farblose Bedeutung .SChar, Trupp« für sekundär hält und als Grundbedeutung •Kriegszug« annimmt. Allerdings ist dructe Hochzeitszug im Pact. L. Sal. übernaupt der älteste Beleg des Wortes, und auch im übrigen ist, wie Kuhns eigene Ausführungen ergeben, nur die allgemeine Bedeutung .SChare belegt, was das Angelsächsische nötigt, dem Worte gedryhl erläuternde Zusätze beizugeben (englo gedryhl Engelschar). Schlesinger, RandbemerkungenS. 304 f. (oben Anm. 3) will offenbar KJ4hns Gedankengang nicht verstehen. 07

Kuhn, GefolgschaftS. 26.

9 KrocschcH

130

HeiTliChaft, Gefolgschaft und Treue

Schon den angelsächsischen Gesetzen König Wihtraeds von Kent (695)(/& ist dieser Sinn aber offenbar nicht mehr gegenwärtig, und wenn das Wort in der Folgezeit - im Heliand, Tatian, bei Otfried - fast nur noch auf Gott und Christus angewendet wird, so mag man zwar vermuten, daß dahinter anfangs die Vorstellung vom Herrn der Heerscharen gestanden habe; denn Verfassern ist sie aber in keinem Fall mehr gegenwärtig gewesen69• Daß trotz dieses mehrfach und gründlich geführten Nachweises die gefolgschaftliehe Deutung dieser Terminologie, die für den Heliand einst von dem Theologen Vilmar begründet worden war, sich zu behaupten vermochte, ist kaum begreiflich'lll. In Wahrheit ist truhtin nur eine formelhafte gehobene Gottesbezeichnung, die ihren langen Fortbestand wohl nur ihrer guten Reimbarkeit verdankf1• So bestätigt sich also auch bei den ältesten Wörtern fro und truhtin unser Eindruck, daß die rechtssprachliche Eigenart der einzelnen historischen Zeiträume viel größer ist, als die verfassungsgeschichtliche Lehre heute wahrhaben will. Selbst die Wörter, die als solche gewiß in frühe Zeit zurückreichen, haben im Frühmittelalter einen Inhalt, bei dem man zögert, ihn auch für ältere Perioden vorauszusetzen. Zu deutlich sind die christlichen Königsvorstellungen, zu blaß andererseits alte germanische Wortdeutungen, als daß sich hier ohne weiteres eine Brücke schlagen ließe. Unser erstes Teilergebnis formulieren wir daher vorsichtiger als Bosl oder Schlesinger es tun. Nach Ausweis der lateinischen und althochdeutschen Rechtswörter hat es im Frühmittelalter einen einheitlichen Begriff der •Herrschaft«, eine allgemeine Vorstellung vom •Herrn« nicht gegeben. Die Bedeutungsschwerpunkte der lateinischen Wörterdominus und senior liegen an ganz verschiedenen Stellen. Die deutschen Wörter herro, fro und truhtin sind nicht einfach Ausdruck überkommener Vorstellungen und Realitäten, sondern zeugen

61 Wihtraed S, 9, 10, 23, 24; ich zitiere nach der Ausgabe von K. A. Eckharrü, Leges AngloSaxonum 601-925 (GermanenrechteN. F ., Westgermanisches Recht Bd. 4, 1958). Zu diesen Stellen vgl. GunlertrUUIII S. 35. 69 GunlertrUUIII S. 35. Die gleiche Anschauungvertritt Eggen; S. 114 f., obgleich er als Urbedeutung von rruJuin •Herr der Gefolgschaft« anninunt; Folgerungen für die germanische •gefolgschaftliche« Vorstellung des Verhältnisses zu Christus lehnt er ab. 10 Daß sie in die Irre geht, hat nachdrücklich bereits GunlertrUUIII S. 81 ausgesprochen, der damit schon eine lange Tradition der Kritik an dieser •gefolgschaftlichen« Deutung fortsetzte (vgl. ebd. S. 5).

71 So Ehrismann S. 188; man konnte truhtfn mit mtn, dJn, sfn und vielen anderen Wörtern binden.

Haus und Herrschaft im frühen deutlichen Recht

131

in ihrer Entstehung, ihrem Deutungswandel und ihrer inhaltlichen Entleerung von der Auseinandersetzung mit einer neuen Wirklichkeit und einer neuen Gedankenwelt, die im lateinischen Sprachgewand an sie herangetragen wurde. Die Rechtssprache läßt also deutlich drei unterschiedliche Bereiche erkennen: den ländlichen germanischen Herrn von Grundbesitz, Sklaven und Vieh; den senior des frühen Lehnswesens mit seinen Vasallen; und schließlich den König, der sich am Bilde des alttestamentlichen Königtums wie der Königsherrschaft Christi legitimiert. Bei diesen drei Typen von Herrschaft muß man mit unterschiedlichen Rechtsstrukturen rechnen. In die germanische Frühzeit weist nur der erste von ihnen zurück. Daß es unmöglich ist, in der Vasallität alte gefolgschaftliehe Strukturen zu erkennen, haben die Untersuchungen von Hans Kuhn gezeigt. Allenfalls beim Königtum mag man versuchen, sein ursprüngliches Bild zu rekonstruieren - so schwierig das auch sein mag, seit die Lehre vom Sakralkönigtum durch Baetke, Kuhn und von See so gründlich erschüttert worden ist12 • In unserem Zusammenhang genügt die Feststellung, daß das frühe Königtum auf der Grundlage jener Kult- und Rechtsgemeinschaften erwächst, die man herkömmlich als Stämme bezeichnet hat; man mag es vorläufig als ein Thingkönigtum charakterisieren. Eines aber ist deutlich: Die Frage nach seiner Struktur und der der Rechtsgemeinschaft selbst wird sich nicht durch den Hinweis auf den altgermanischen Haus- und Grundherrn und noch weniger in Analogie zum he"o des frühen Lehnswesens erklären lassen. 2. Die Terminologie des Hauses

Nun hat freilich Schlesinger - und das führt uns zur Terminologie des Hauses - in seiner •Entstehung der Landesherrschafte einen althochdeutschen Satz zitiert, der doch eine Wesensgleichheit der königlichen und göttlichen Herrschaft mit der Hausherrschaft zu erweisen scheint. Er lautet: Christ, der dir rihlet alla,

n W. Baelke, Yngvi und die Ynglinger. Eine quellenkrit. Untersuch. über das nord. •Sakralkönigtum«, in: Sitzungsber. d. Sächs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig, phil.-hist. Kl. Bd. 109 H. 3 (1964); H. Kuhn, Das Fortleben des gennanischen Heidentums nach der Christianisierung, in: La conversione al Cristianesimo XN. Settirnana di studio (Spoleto 1967) S. 743-757; K. von See, Altnord. Rechtswörter S. 117 ff. y•

132

Herrachaft, Gefolgschaft und Treue

die er kiscuof, also der hfJ.sherro rihlet die inw undertanen13 , und nötigt uns zu einer Prüfung der Terminologie von Haus und Herrschaft, der hausherrliehen Muntgewalt und der Gerichtsbarkeit des Hausherrn. Das Wort hfJ.sherro selbst vermag allerdings den gezogenen Schluß nicht zu tragen, denn es ist vor dem 11. Jh. nicht belegt'\ wie denn die zitierte Stelle auch erst dem 12. Jh. angehört75• In den frühesten deutschen Texten und Glossen werden die zum Hause gehörenden Personen mit einer anderen Bezeichnung belegt; sie heißen hiwon, hiwun16 - mit einer Bildung aus einer Wurzel, die im got. heiwa - frauja, pateifamilias belegt ist und wie das verwandte griech. oikos das Haus bedeutet haben muß. Für die Verwendung des Wortes ein Beispiel. Im 1. Titel der Lex Salica heißt es über die mannitio: Ille autem qui alium mannit. cum testibus ad domum illius ambulet et sie eum maniat, aut uxorem illius, vel cuicumque de familia illius denuntiet, ut ei faciat notum, quomodo ab illo est mannitus. Das Trierer Bruchstück einer ahd. Übersetzung77 gibt das folgendermaßen wieder: Oer anoran menit, mit urcun&!om zi sinenw huuse cueme inti danne gibanne ino, eroo sina cuenun, erl>o sinero hiwono etteshwelihenw gisage, daz iz enw gicunoe, weo her gimenit ist.

,, Schleainger, Landeaherrachaft S. 116; das Zitat findet sich bei S~inmeyer, Kl. ahd. Spnchdkm. Nr. XXXD 2, S. 169. Schlesinger fügt hinzu: •···achoo die Tatsache, daß der Hausherr die ihm Untertanen 'richtet', zeigt, wie verschieden die hausherrliche von der 'privaten' Sphäre im neuerenSinne ist. Auch der fränkische König 'richtet' aein Reich. Es kann nicht verkannt werden, daß das fränkische Königtum auch hausherrliche Elemente in sich aufgenommen hat.« 74 So Schlesinger aelbst, Herrachalt und GefolgschaftS. 11. Vgl. dazu die Belege bei Gra.ffiV, 993 und Schlesinger, Landesherrschaft S. 116.

" Vgl. unten Arun. 113. 76

Belege bei Gnff IV Sp. 1066 f.; vgl. ferner Kluge, Etym, Wb. S. 300 s. v. Heint.

Zitiert nach Eckhardts Ausgabe der L. Sal. Karolina, in: Pactus Legis Salicae D 2 (GermanenrechteN. F., Westgerm. Recht 2, 1956) S. 470-474,472. Zu den hier sichtbar werdenden Unterschieden zwischen der alten fränkischen Rechtsspnche und dem Althochdeutschen vgl. S. Sonderegger, Die ältesten Schichten einer germanischen Rechtsspnche, in: Felllsehr. K.S. Bader (1965) S. 419-438, hier S. 431. Für die DatieNng s. jetzt den Aufaatz von S. Sonderegger, Die althochdeutsche Lex Salica-Überaetzung, in: Festg. f. W. Jungandreas (Schriftenreihe für trier. Landesgesch. u. Volkskunde Bd. 13, 1964) S. 113-122, der den Text in den Beginn des 9 . Jh. setzt und Fulda als Entstehungsort annimmt. Dem Aufsatz, der eine diplomatisch genaue Tnnakription enthält, sind auch Fotognfien der vier Handschriftenseiten beigegeben. 77

Haua und Hernchaft im frühen deut.chen Recht

133

Was im Lateinischen also schon mit dem abstrakten Begriffjamilia bezeichnet werden kann, ist im Deutschen noch ganz anschaulich eine An.zab1 von Menschen, die im Hause wohnen - von hiwon. Dazu hat man, was die spätere Bedeutungsentwicklung belegt, gewiß auch die Knechte und Mägde gerechnet78. Mittelpunkt eines solchen Hauses sind aber offenbar die Ehegatten19• Im Heliand heißt die Gattin hiwafiiJ; das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg nennt die Brautleute von Kana hiuun81 • und im ahd. Tatian82 wird der Satz filii huius saeculi nubent et traduntur ad nuptias übersetzt mit thiu kind therro uuerolti gihiuuenl inti uuerdent furselit zi bratloujti, was ja rechtssprachlich in mancher Hinsicht interessant isfll. Zu den hiwun in diesem Sinne der Kleinfamilie mit ihrem Gesinde stellen sich dann Komposita wie hieleich, niederländ. huwelijk HochzeifW, und hirede, unser heutiges •Heirate, das soviel wie Hausausstattung bedeutet und im Angelsächsischen zur Bezeichnung für das Hauswesen, die familia überhaupt wirGefolge< verzeichnet.

Führer, Gefolgschaft und Treue

187

und 14. cap. Germania berichtet« 18• Gerade in der rechtshistorischen Literatur läßt sich das Aufkommen des Wortes •Gefolgschaft< gut beobachten 19• Karl Friedrich Eichhorn und Georg Waitz, Paul Roth und Felix Dahn sprechen durchweg noch vom •GefolgeGefolgschaft< vorkommt, bezeichnet es das Verhältnis, in dem der Gefolgsmann zu seinem Gefolgsherrn steht. Otto Gierke dagegen spricht in seiner Rechtsgeschichte der Genossenschaft 1868 bereits von >GefolgschaftFürstFühren und Folgen< als Entsprechungen sab21 • Gerade die Unterscheidung zwischen Führung und Herrschaft legte dies nahe. Eine Herrschaft hat Untertanen, Führung dagegen findet Gefolgschaft. So lesen wir: •Zum Führer gehört die Gefolgschaft. Es handelt sich hier um dialektische Begriffe. Keiner kann ohne den andem gedacht werden. Es gibt keine Gefolgschaft ohne Führer, keinen Führer ohne Gefolgschaft.«22 Damit beginnt die kurze gemeinsame Karriere von •Führer< und >GefolgschaftFührer und

11

Deutsches Wörterbuch Bd. IV (oben Anm. 3) Sp. 2152.

K. Kroeschell, Die •Germania« in der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte, in: Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Teil I (Abhand. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phii.-Hist. Kl. 3 Folge Nr. 175, 1989) S. 198 ff. Oetzt in diesem BandeS. 89 ff.l. 19

20 Vgl. Cl. Frhr. von Schwerin, German. Rechtsgeschichte (1936) S. 32 ff.; H. Planitz, German. Rechtsgeschichte (1936) S. 21 f . Nur ganz allgemein sprach Schwerin S. 16 ff. von •Volk und Führung«. 21

Th. Geiger, Führen und Folgen (1928).

22

Triepel (oben Anm. 6) S. 22.

188

Herrschaft, Gefolgschaft und Treue

GefolgschaftHerrschaft und GefolgschaftVertrag, Waffenstillstand< verknüpft ist. Im langobardischen Recht heißt treuwa ein Vertrag, der die Fehde beendet und das Versprechen enthält, Buße zu leisten, wenn die Reinigung von dem erhobenen Schuldvorwurf mißlingt26. Es scheint sich hier um eben den Vertrag zu handeln, den die Lex Salica als fides facta bezeichnet27 • Im Hochmittelalter heißt die vereinbarte Waffenruhe treuwa, und bei den Gottesfrieden spricht man von trewa Dei, bis sich die daneben aufkommende lateinische Form treuga durchsetzt und behauptet. Aber auch für den bloßen Schuldvertrag bleibt das Wort gebräuchlich; von dem in trüwen geloven kommt unsere heutige Formel von •Treu und Glauben< her2'. Nach allem was wir wissen, war diese treuwa ein Formalvertrag durch Eidschwur oder zumindest durch Handschlag (•HandtreueBetriebsführers•, die anfangs in der juristischen Literatur viel beachtet wurde, trat im Laufe der Zeit immer mehr zurück47. Die starke Stellung des Betriebsführers war Ausdruck des auch im Betriebe geltenden Führerprinzips, während der im AOG beschworene Gedanke der Betriebsgemeinschaft angesichts der schwachen Position des Vertrauensrats nur legitimierende Funktion hatte48 • Immerhin konnte die neuartige >soziale Ehrengerichtsbarkeit< zur Aberkennung der Befähigung führen, Führer des Betriebes zu sein. Die mit dem Vierjahresplan 1936 einsetzende Kriegsvorbereitung stellte die Betriebe jedoch zunehmend unter eine zentrale Lenkung.

" Vgl. etwa R. Höhn, Führung und Verwaltung, in: Deutsches Verwaltungsrecht, hrsg. v. H. Frank (1937) S. 67 ff.; 0. KoeUreuter, Führung und Verwaltung, in: Festschrift für J. W. Hedemann (1938) S. 95 ff.; R. Höhn, Rechtstechnik oder Rechtswissenschaft, in: Deutsche Rechtswissenschaft 10 (1938) S. 327 ff. " E. R. Huber, Herschaft und Führung, in: Deutsches Recht 1941, S. 2017 ff. 46 E. Kern, Das Führerturn in der Rechtspflege (Freiburger Universitätsreden H. 18, 1935). Vgl. dazu ders. , Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts (1954) S. 256 ff.

" Material hierzu bei G. Waltknmaier, Der Betriebsführer in der Betriebsverfassung des Dritten Reiches (jur. Diss. Freiburg 1986). 41 Hierzu und zum Folgenden: A. Kranig, Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, in: Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte, hrsg. v. H. Steindl (lus Commune, Sonderheft 20, 1984) s. 441 ff.

Führer, Gefolgschaft und Treue

193

Die Lohngestaltungsverordnung von 1938 übertrug die Lohnregelung den staatlichen •Treuhändern der ArbeitArtgleichheit< eingeschränkt wurde, sodaß jüdische oder polnische Arbeitnehmer als ausgeschlossen galten und sich nicht auf eine Fürsorgepflicht des Betriebsführers berufen konnten63 • Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Lehre vom Arbeitsverhältnis als >personenrechtlichem Gemeinschaftsverhältnis< bis in die 60er Jahre hinein herrschend, und mit ihr auch die Vorstellung von einer Fürsorgepflicht des Arbeitgebers64. Der wachsenden Kritik an diesen Auffassungen suchten einige Autoren damit zu begegnen, daß sie die Fürsorgepflicht als notwendiges Korrelat der Unterordnung des Arbeitnehmers unter die Organisationsgewalt des Arbeitgebers zu begreifen suchten65 • Andere rekurrierten stattdessen auf den Grundsatz von Treu und Glauben, aus dem man auch im Zivilrecht Schutz- und Förderungspflichten herleite66 • In Rechtsprechung und Literatur erscheint das Argument der Fürsorgepflicht heute weithin als entbehrlich67 •

3. Treuepflichten im Arbeits- und Gesellschaftsrecht

Die Geschichte der Treuepflicht im Arbeitsrecht verlief seit dem 19. Jh. weithin parallel zu detjenigen der Fürsorgepflicht Eine Besonderheit bestand darin, daß in Gesindeordnungen ausdrücklich von der Pflicht der Knechte und Mägde die Rede war, ihrer Herrschaft treu zu dienen, und daß das Handelsrecht bei den

61 W. Sieben, Das Arbeitsverhältnis in der Ordnung der nationalen Arbeit (1935). Freilich hatte Sieben zuvor selbst auch die zurückhaltendere Ansicht vertreten, wie sein Aufsatz •Die Treue im Arbeitsrecht•, in: Deutsches Recht 1934, S. 537 ff., erkennen läßt.

61

Dazu Klau (oben Anm. 54) bes. S. 280 ff.

Vgl. 8 . Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus (1968, Taschenbuchausg. 1973) S. 393 ff. 63

64

Klatt (oben Anm. 54) S. 297 ff.

Klau (oben Anm. 54) S. 310 ff. fiihrt hier neben A. Söllner vor allem R. Richardi an: Entwicklungstendenzen der Treue- und Fürsorgepflicht in Deutschland, in: Treue- und Fürsorgepflicht im Arbeitsrecht, hrsg. v. Th. Tomandl, Bd. V (Wien 1975) S. 41 ff. 63

13*

66

Näheres bei Klau (oben Anm. 54) S. 317 ff.

67

Dies ist das Fazit von Klau (oben Anm. 54) S. 322 ff., 326 ff., 341 ff.

196

HeiTBChaft, Gefolgschaft und Treue

Handlungsgehilfen, die Gewerbeordnung seit 1891 bei den leitenden Angestellten die Untreue als Entlassungsgrund kannte1111• Freilich war damit wohl hauptsächlich die >Veruntreuung< im strafrechtlichen Sinne der Unterschlagung gemeint. Wie die Fürsorgepflicht wurde auch die Treuepflicht seit den bekannten Schriften Gierkes aus dem Charakter des Arbeitsverhältnisses als eines •personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses< hergeleitet. Die sozialistischen Arbeitsrechtler, die diese Vorstellung ablehnten, leugneten folgerichtig auch eine allgemeine Treuepflicht69• Das AOO von 1934 trug dazu bei, daß man konkrete Pflichten wie die Unterlassung von Wettbewerb aus der allgemeinen Treuepflicht herleitete10• Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr mit der Vorstellung des •personenrecbtlichen Gemeinschaftsverhältnisses< auch die von einer allgemeinen Treuepflicht zunehmende Kritik71 • Der 1977 erschienene Entwurf eines Arbeitsgesetzbuches, in dem sich das Wort •Fürsorge< überhaupt nicht fand, sprach auch nicht mehr von •Treue. v. E. Frhr. v. Kiinßberg, 1932) S. 36. Die jüngste Besprechung des Textes gibt Anne K. G. Kristensen, Tacitus' germanische Gefolgschaft (Det Kong. Danske Videnskabernes Selskab. Hist.-fil. Meddel. 50, 5, Kobenhavn 1983). 16

Sie geht bereits auf die Ausgabe von Justus lipsius 1574 zurück.

Man verweist hier gewöhnlich auf die im Beowulfbezeugte Unterscheidung von >Jugend< und •TugendGefolgschaft, im Sinne der herkömmlichen Lehre wenig gemein haben93 • Dagegen ist fiir eine Reihe späterer Phänomene der Zusammenhang mit dem comitatus des Tacitus recht ungewiß. Dies gilt sowohl für die Vasallität wie für die gleichfalls durch einen Eid gebundenen fränkischen Antrustionen, ebenso aber auch für die hirtJ der Wikingerzeit94 • Hier wird man mit neuen Formen sozialer Abhängigkeit rechnen müssen, und die eidlich begründete Treupflicht gegenüber einem christlichen König mag gleichfalls von neuen, nämlich christlichen Vorstellungen geprägt worden sein. Gegenüber den her-

11

Vgl. etwa Herodot V 6 über die Thraker.

19 Repräsentativ hierfiir R. Much, Die Germania des Tacitus (3. Auf! . hrsg. v. W. lAnge, 1967) S. 234 ff. Zustimmend auch Krisrensen (oben Anm. 85) S. 56 90 R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (1961) S. 346 ff. diskutiert ausfUhrtich die Möglichkeit keltischen Einflusses. 91 Caesar, Bell. Gall. 01 22 und VI 15. - Polybios, Hist. II 17.- Valerius Maximus, Facta II 6, II - Plutarch, Sertorius C. 14.

9%

Ammianus Marcellinus, Res gestae XVI 12, 60.

93

Tacitus, Ann. XII 30. Dazu H. Nehlsen, Art. clientes, in: HRG Bd. I (1971) Sp . 615 f.

Gegen den Zusammenhang dieser Erscheinung mit dem comitatus des Tacitus zuerst H. Kuhn, Die Grenzen der Gefolgschaft, in: ZRG.GA 73 (1956) S. I ff. 94

Führer, Gefolgschaft und Treue

201

kömmlichen Versuchen, dem Bilde von der >Gefolgschaft< mit Hilfe dieser Jnstitutionen95 , aber auch mit Hilfe von Heldendichtung und Sage klarere Konturen und kräftigere Farben zu geben96 , ist deshalb Skepsis geboten. Schließlich noch zur germanischen Treue: Die Schilderung der spielwütigen Germanen in c. 2497 endet mit der gleichsam kopfschüttelnden Feststellung: •ipsi fidem vocant«. Gewöhnlich übersetzt man: •sie selbst nennen es Treue«. Allerdings hat der vornehme Römer Tacitus, wenn er das Wortfides gebrauchte, gewiß an die römische Tugend der Verläßlichkeit gedacht, die vor allem bei angesehenen Leuten vorausgesetzt werden durfte98 • Die gebräuchliche Übersetzung suggeriert dagegen die Vorstellung, daß Tacitus hier das germanische Wort treuwa ins Lateinische übersetzt habe, was doch sehr fernliegt911 • Auffallend ist übrigens, daß Tacitus in seiner Schilderung der •Gefolgschaft< das Wort fides nicht verwendet, obwohl er sich hier sonst eng an die Terminologie der römischen Klientel anlehnt, in der die fides im Verhältnis des patronus zu seinen clientes eine große Rolle spielt.

2. Die Lehre von Gefolgschaft und Treue im 19. und 20. lh.

Die vor allem aus diesen Texten gewonnene Anschauung vom germanischen Gefolgschaftswesen hat das Geschichtsbild und das Rechtsdenken des 19. und 20. Jh. nachhaltig geprägt. Dabei treten bemerkenswerte Wandlungen hervor, deren eigentliche Epochen die geistigen Umwälzungen der Zeit zu sein scheinen100. Hatte noch 1808 Karl Friedrich Eichhom101 , der die principes im

., Vgl. dazu meinen oben Anm. 19 zitierten Aufsatz. 90 Zu nennen sind die Albeilen von Th. Meücher, Die germanische Gefolgschaft im Heliand, in: MIÖG 51 (1937) S. 431 ff.; H. Naumann, GermanischesGefolgschaftswesen(l939); R. von Kienle, Germanische Gemeinschaftsformen (Deutsches Ahnenerbe Reihe 8 , Abt. Albeilen zur Germanenkunde Bd. 4, 1939) S. 141 ff.; U. J. Mader, Sippe und Gefolgschaft bei Tacitus und in der westgermanischen Heldendichtung (phil. Diss. Kiel 1940). 97

XXIV. .. . Aleam, quod mirere, sobrii in~er seria exercent, tanta lucrandi pertkndive remerita-

re, ut, cum omnia defecerunt, extremo ac novissimo iactu de übenate ac de corpore contendanz. victus voluntariam servitutem adit; quamvis iuvenior, quamvis robustior alligari se ac venire patitur. ea est in re prava perviacia; ipsi fidem vocant. •• Dazu oben bei Anm. 30. 99 So aber ausdrücklich W. Kienast, Germanische Treue und •Königsheilgermanischen Freiheit< für das moderne Gemeinwesen verblaßte, begann man die Herrschaft und mit ihr die >Gefolgschaft< als eine der genossenschaftlichen Volksverfassung antagonistische Kraft zu empfinden. Otto Gierke103 sah 1868 die >Gefolgschaft< als ·Privatinstitut< aus dem Hause erwachsen und maß ihr für den Sieg der Herrschaft über die Genossenschaft in merowingischer Zeit beispielhafte Bedeutung zu. Für die in der positivistischen Rechtsgeschichte der Jahrhundertwende ausgebildete >klassische< Lehre von der Gefolgschaft, wie sie bei Heinrich Brunner und Richard Sehröder zum Ausdruck konunt104, war damit der Grund gelegt. Wie oben gezeigt, sprach man in dieser Zeit schon durchwegs nicht mehr von >GefolgeGefolgschaftdeutsche Treue< nur jene ,.fast naturwidrige Selbstentäußerung« anerkennen, die ihren Ursprung im Gefolgschaftswesen habe106. Allerdings hat Gierke in seinen Schriften zum Privatrecht, insbesondere zum Dienstvertragsrecht die

101

K. F. Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte Bd. I (1. Aufl. 1808) S. 52 ff.

102

G. Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd . I (1. Autl. 1844) S. !S6 ff.

103

Gierke (oben Anm. 34) S. 93 ff.

104 H. BfUIIMr, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. I (1887; 2 . Aufl. 1906) S. 186 ff., R. Schröder, Deutsche Rechtsgeschichte (1889; 7. Aufl. bearb. v. E. Fmr. v. Künßberg, 1932) S . 36 ff.

103

GierkL (oben Anm. 34) S. 96.

106

V. Ehrenberg, Die Treue als Rechtspflicht, in: Deutsche Rundschau 39 (1884) bes. S. 40 ff.

Führer, Gefolgschaft und Treue

203

Treue als Grundgedanken des germanisch-deutschen Rechts immer wieder hervorgehoben 107 und damit die spätere ideologische Überhöhung erleichtert. In den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts hat sich das Bild, das die Forschung von der >Gefolgschaft< gezeichnet hatte, kaum verändert; in den Neuauflagen der bekannten Lehrbücher und Grundrisse brauchten die betreffenden Kapitel nicht revidiert zu werden. Der Stellenwert dieses Phänomens verschob sich jedoch unmerklich. Hatte Gierke in der Bindung des Gefolgsmanns eine Einschränkung seiner Freiheit gesehen, so betonte nun Claudius Freiherr von Schwerin in seinem schon zitierten Vortrag über •Freiheit und Gebundenheit im germanischen StaatAdelsherrschaft im Mittelalter< von 1927 bezeichnet den Anfang, Otto Brunners berühmtes Werk >Land und Herrschaft< von 1939 den Höhepunkt dieser Entwicklung. Heinz Danneobauer wies in seiner Studie >Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen< herrschaftliche Strukturen bereits für die Frühzeit nach 114• Selbst Heinrich Mitteis, der seine eigene große Verfassungsgeschichte des Hochmittelalters noch mit der Überschrift >Der Staat des hohen Mittelalters< versehen hatte, blieb nach längeren Auseinandersetzungen mit Otto Brunner von den neuen verfassungsgeschichtlichen Thesen nicht unbeeindruckt115 • In dieses herrschaftlich bestimmte Geschichtsbild wurde endlich auch die Gefolgschaft eingeordnet, und zwar durch Walter Schlesingers großen Aufsatz >Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte< von 1953 116• Seine Sicht war jahrzehntelang maßgebend, und ihr Einfluß ist noch heute spürbar. Aus der (freilich vergröbernden) Zusammenfassung von Schlesingers Thesen durch Karl Bosl 117 zitiere ich einige Kernsätze:

•Nach dem ältesten Wortsinn ... heißt frei, wer ... zum Haus, zur Sippe, zum Stamm gehört... Der Begriff >frei< gehört damit deutlich der häuslichen Sphäre und dem Sippenverband zu. Das Fundament der alten Freiheit ist die Sicherheit gegen die Willkür des und der Herren und gegen Angriff von außen. Sicherheit und Schutz aber kann nur gewähren, wer Macht hat, wer ein Schwert hat und über andere Schwerter gebietet, wer eine Gefolgschaft hat. Dies kann nur der Hausherr, der Leib-, Grund- und Dorfherr ist und darum eine Gefolgschaft adliger und unfreier Krieger . . . unterhalten kann.

"' Vgl. hierzu K. KroescheU, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung(Der Staat, Beiheft 6, 1983) S. 47 ff. Uetzt in diesem BandeS. 347ft'.]. 114 H. Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen, in: Hist. Jb. 61 (1941) S. 1 ft'.; Neudruck in: ders., Grundlagen der ma. Welt (1958) S. 121 ft'.

m H. Miueis, Bespr. von 0 . Brunner in: HZ 163 (1941) S. 255 ff.; ders., Fonnen der Adelsherrschaft im Mittelalter, in: Festschrift Fritz Schulz Bd. D (1951) S. 226 ff. 116 W. Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in: HZ 176 (1953) S. 225 ff.; Neudruck in: ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. I (1963) S. 9 ff. 117

K. Bosl, Frühformen der Gesellschaft im ma. Europa. Gesamm. Aufsätze (1964) S. 204 ff.

Führer, Gefolgschaft und Treue

205

(Auch Gefolgsherrschaft erwächst also aus der Hausberrscbaft; germanische Herrengewalt aber ist in erster Linie Gefolgsberrscbaft.) Herrschaft und Freiheit wohnen also in der Geburtsstunde eines germanisch-deutschen Staates aufs engste beisammen.« Für manche Mediävisten ist diese Sicht noch beute maßgebend 118• 3. Die >Entmythologisierung< seit 1960

Die Vertreter der •herrschaftlichen< Sicht der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte haben den älteren, namentlich den rechtshistorischen Autoren vorgeworfen, sie hätten zu sehr im Banne der bürgerlich-liberalen Staatsvorstellungen des 19. Jh. gestanden119 • Freilich hielt ihnen schon 1959 der schweizerische Rechtshistoriker Peter Liver entgegen: •Auch die Vertreter der •neuen Lehre< ... müßten sieb ... die Frage gefallen lassen, in welchen Anschauungen ihrer Zeit die Wertvorstellungen wurzeln, welche sie in so scharfen Gegensatz zur klassischen deutseben Rechtsgeschichte treten Iassenc 1:!1l. Dabei geht es, wie ich hervorbeben möchte, um das bekannte Phänomen einer unbewußten Spiegelung politischer Realitäten im wissenschaftlieben Denken, nicht um vorschnelle politische Zuordnungen oder gar persönliche Verdächtigungen. So ist bekannt, daß der vorbin erwähnte Heinrieb Danneobauer in seiner Tübinger Antrittsvorlesung von 1935 entschieden für eine • voraussetzungslose Forschung« eintrat - sehr zum Mißvergnügen der Nationalsozialisten 121 , während andererseits Wilbelm Ebel, den man wohl doch den Nationalsozialisten zurechnen muß 122, die in der Hitlerzeit so beliebte Gierkescbe Ansicht vom Ursprung des

111 Vgl. etwa W. /(jenast (oben Arun. 99); H. K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter Bd. I (1985) S. 39 ff.: ·Die Gefolgschaft•. 119 0. 8TUIII!er, Land und HemGbaft (1939; 5. Auf!. 1965) S. 120 ff.; E. W. Böckenforde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jh. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (1961). 120 P. Liver, Bespr. von >Das Problem der Freiheit in der deutschen und schweizerischen Geschichte. Vorträge und Forschungen II, 1958Die sogenannte germanische Treue< von 1959 hinzugekommen war1215, sah sich Walter Schlesinger 1963 zu einer Entgegnung veranlaßt 127 , welche die Diskussion allerdings nicht beenden konnte. Ich erinnere nur an Klaus von See's Buch über >Altnordische Rechtswörter< von 19641211 , an die Studien von Graus über >Herrschaft und Treue< 1966 129, von mir über >Haus und Herrschaft< 1968 und >Die Treue< 1970, sowie an meine kleinen Handwörterbuch-Artikel über die Gefolgschaft 1969 und die Herrschaft 1972130• FrantiSek Graus hat in einem großen Aufsatz über >Verfassungsgeschichte des Mittelalters< 1986 Bilanz zu ziehen ver-

123 W. Ebel, Zum Ursprung des Arlleitsvertrages, in: Zeitschr. f. d. ges. Staatswiss. 96 (1936) S. 319 ff. (Wiederabdruck in: ders., Probleme der deutschen Rechtsgeschichte (1978) S. I ff.

I2A F. Genzmer, Die germanische Sippe als Rechtsbegriff, in: ZRG.GA 67 (1950) S. 34 ff.; K. Kroeschell, Die Sippe im germanischen Recht, in: ZRG.GA 77 (1960) S. I ff. {jetzt in diesem BandeS. 13 ff.] .

m H. Kuhn (oben Anrn. 94). 116

F. Graus, Über die sogenannte germanische Treue, in: Historica I (Prag 1959) S. 71 ff.

W. Schlesinger, Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft und Treue, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für 0. Brunner (1963) S. 41 ff. (Wiederabdruck in: ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters I (1963) S. 286 ff.) 127

111

K. von See, Altnordische Rechtswörter (1964), bes. S. 204 ff. •Recht und Treue«.

129

F. Graus, Herrschaft und Treue, in: Historica XD (Prag 1966) S. 5 tT.

130 K. Kroeschell, Haus und Herrschaft (1968); ders. , Die Treue in der deutschen Rechtsgeschichte (oben Anrn. 25) {jetzt beide in diesem Bande S. 113 ff. und S. 151 ff.); ders. , Art. Gefolgschaft, in: HRG I (1971) Sp. 1433 ff.; ders. , Art. Herrschaft, in: HRG II (1978) Sp. 104 ff.

Führer, Gefolgschaft und Treue

207

sucht 131 , und kam dabei zu dem Ergebnis, daß die Lehren von Otto Brunner, Walter Schlesinger und ihren Gefolgsleuten weithin nicht mehr aufrecht zu erhalten seien. Gleichwohl wirken sie noch vielfach nach.

Ausblick Der Versuch, aus alledem gewisse allgemeine, namentlich methodologische Folgerungen zu ziehen, tällt mir heute noch schwerer als früher. Man kann feststellen, daß sich Vorstellungen wie die von der Gefolgschaft oder Treue um die Mitte des 19. Jh. von den historischen Zuständen, die sie zu beschreiben suchten, abgelöst haben und ein seltsames Eigenleben annahmen. Ein weiteres, besonders folgenreiches Beispiel hierfür ist der •germanische< Eigentumsbegriff, über den ich hier vor vier Jahren gesprochen habe und der schon 1873 für Otto Gierke keiner Begründung aus den frühen und mittelalterlichen Rechtsquellen mehr bedurfte, sondern sich unmittelbar aus der >deutschen Rechtsidee< ergab. Auffallend ist das zeitliche Zusammentreffen dieses Vorgangs mit dem Durchbruch des wissenschaftlichen Positivismus. In seinem berühmten Einleitungsaufsatz zu den >Jahrbüchern< hatte Jhering geschrieben, die konstruktive Jurisprudenz lasse sich •nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit setzen« und künftige rechtshistorische Entdeckungen würden sich gerade durch ihre NichtQuellenmäßigkeit auszeichnen. Die von Franz Wieacker beschriebene Emanzipation der Rechtsgeschichte von der juristischen Dogmatik, welche die Kehrseite dieser Enthistorisierung bildete, führte offenbar zu einer inhaltlichen Entleerung wichtiger Typenbegriffe, die dadurch einer zunehmenden ideologischen Befrachtung zugänglich wurden. So konnten sie zu Waffen im rechtspolitischen Kampf werden, und zwar, wie das Beispiel des Eigentums zeigt, keineswegs nur für >faschistische6

MGH. D. K. II Nr. 140.

227

Srobbe, Rechtsquellen I S. 617.

228

MGH. Const. I Nr. 227.

229

Hierzu vor allem Folz S. 371 ff., 530 ff.; Krause, Kaiserrecht und RezeptionS . 86 ff.

308

Recht im Mittelalter

Suche nach einer Rechtsautorität das römische Recht in Deutschland auf Lotbar III., also auf das 12. Jahrhundert zurückfiih.rt:m. Daß die Zeit, die die echte geschichtliche Rechtskontinuität der ewa, der Iex im älteren Sinne aufzugeben begann, der Berufung auf historische Autoritäten bedurfte, erscheint begreiflich. Die Verfestigung der consuetudines et iura zu neuem objektivem Recht, zum iur, mochte ohne eine derartige Stütze unmöglich scheinen. Die gleiche Erscheinung findet sich in Europa auch andeJWärts, wo man, wie etwa in NoJWegen, bei der hochmittelalterlichen Kodifikation den großen Namen Olafs des Heiligen (1015-30) beschwörf3 1• So werden gerade die halb sagenhaften Gesetzgeber der Frühzeit auf ihre Weisen zu Zeugen fiir die tiefgreifende Erneuerung, die diese Periode der mittelalterlichen Rechtsgeschichte kennzeichnet.

IV.

Alle diese Beobachtungen sind zunächst noch unvollständig und tragen nur vorläufigen Charakter. Sollten sie sich als richtig eJWeisen lassen, so versprechen sie Ergebnisse nach zwei Richtungen hin. 1. Einmallegen sie eine Neubewertung der rechtsgeschichtlichen Bedeutung des 12. Jahrhunderts nahe. Bisher pflegte man vor allem zu betonen, daß in dieser Zeit eine neue und vertiefte Begegnung mit der Rechtskultur der späten Antike erfolgte. Ebenso wie dies fiir die eigentliche Rezeption längst erkennbar ist, wird man nun aber auch für diese sog. •Frührezeption« damit rechnen müssen, daß sie weniger in der Aufnahme fremden Rechtsstoffes als vielmehr in einer Wandlung des einheimischen Rechtsdenkens bestand. Wie sich zeigte, war die römisch-patristische Lehre von der antiqua et rationabilis consuetudo auch den früheren Jahrhunderten nicht unbekannt gewesen, stand aber nicht in einem inneren Zusammenhang mit den einheimischen Vorstellungen von der Iex oder ewa. So ist es auch nicht Fortsetzung einer vermeintlichen germanischen Kontinuität, wenn seit dem 12. Jahrhundert das aus Privileg oder Willkür eJWachsene ius consuetudinarium als objektives Recht mit den Merkmalen des Alters und der Güte bezeugt ist. Vielmehr drückt sich darin eine Wandlung des deutschen

"" Zur ,.Lotharischen l..egende• des 16. Jahrhunderts vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte S. 140 f. :m Von See, Altnord. Rechtswörter S. 99.

Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert

309

Rechtsdenkens selbst aus, die es zugleich verständlich macht, daß nun die römischen und kanonistischen Denkweisen größeren Einfluß gewinnen. Diese Deutung würde sich auch recht gut zu demjenigen fügen, was Calasso, Gagner und Buisson232 über die grundlegende Rolle der consuetudo für Rechtsbildung und Rechtsaufzeichnung im 12. und 13. Jahrhundert ermittelt haben. Die Ansicht von einer kontinuierlichen germanisch-deutschen Vorstellung vom ,.guten alten Recht« würde man also wohl aufgeben müssen. Dafür würde auch der deutschen Rechtsgeschichte ein engerer Zusammenhang mit der ,.Renaissance des 12. Jahrhunderts« zuzugestehen sein233 • 2. Damit würde zugleich diese von Kern so besonders erfolgreich formulierte Lehre selbst zum Gegenstand historischer Kritik werden. Es würde möglich sein, ihren Ursprung in den Überzeugungen der historischen Schule nicht nur als wissenschaftsgeschichtliches Faktum zu konstatieren, sondern die hier eröffnete Einsicht in das Rechtsverständnis dieser einflußreichen Bewegung für das Verständnis der Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts nutzbar zu machen. Auch die wirkungsvolle Erneuerung der Auffassung vom ,.guten alten Recht« zu Beginn unseres Jahrhunderts würde nicht so sehr als vertiefte wissenschaftliche Erkenntnis, sondern vielmehr als ein Ergebnis der neueren Geistesgeschichte zu würdigen sein. Die Jurisprudenz der Gegenwart endlich würde genötigt sein, ihr Geschichtsbild und damit ihr Selbstverständnis einer Kritik zu unterziehen. Sie würde eine Vokabel wie ,.Rechtsfindung« nicht länger in der Überzeugung verwenden können, daß sich damit die Entstehung objektiven Rechts im neuzeitlichen Sinne beschreiben lasse, sondern würde sich vor die Aufgabe gestellt sehen, die Voraussetzungen eines solchen Denkbildes in den geistigen und sozialen Zuständen der Gegenwart selbst aufzudecken. Doch mag es emer künftigen Studie vorbehalten bleiben, diesen Fragen weiter nachzugehen .

.n Cal.asso S. 181 ff., 409 ff., 469 ff.; L. Buisson, König Ludwig IX. der Heilige und das Recht (1954) bes. S. 45-84; Gagner S. 216 f., 295 ff. 233 Ch. H. Haskins, The Renaissance of the twelfth century (Cambridge/Mass. 1927) betrachtet die Erneuerung der Jurisprudenz noch vorwiegend als ein rornanistisch-kanonistischesPhänomen (S. 193 ff.).

••Rechtsfindung« Die mittelalterlichen Grundlagen einer modernen Vorstellung

Es gibt kaum einen Ausdruck aus dem Vokabular der juristischen Methodenlehre, der so populär wäre wie der Begriff der •Rechtsfmdung«. Nicht nur die Juristen fiihren ihn im Munde, sondern auch vielen Laien ist die Vorstellung von der »richterlichen Rechtsfindung« durchaus geläufig. Die klangvolle Formel, in strengem Stabreim dahinschreitend, scheint in unseren Tagen mehr als je zuvor die angemessene Bezeichnung dessen zu sein, was das königliche Amt des Richters eigentlich erst ausmacht: nicht die Entscheidung einzelner Prozesse durch schlichte Anwendung des Gesetzes, sondern das Finden und Verkünden des Rechtes selbst. Was eine vorsichtigere methodologische Betrachtung zu scheiden versuchen würde: die Auslegung des Gesetzes oder auch gegen das Gesetz - alles dies wird in der Vorstellung von der »richterlichen Rechtsfindung« zu einer Einheit. Dabei suggeriert das Wort ,.finden« ein Bewußtsein vom Vorbandensein, von der Vorfindlicbkeit des Rechtes, das man - so scheint es nur noch herauszuheben braucht, um es zu haben. Offenbar ist dieses Recht also nichts Geschaffenes, nichts Gemachtes, sondern etwas, das von selbst wird oder gar immer schon ist. Daß dieser Sprachgebrauch, der bei aller inhaltlieben Unklarheit doch eingängig ist, in der heutigen juristischen Methodendiskussion allenthalben begegnet, bedarf kaum der Belege'.

1 Das juristische Schrifttum zur Rechtsanwendung und richterlichen Rechtsschöpfung ist bis zum Jahre 1959 vollständig angegeben bei L. Enneccerw;, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Autl. bearb . von H. C. Nipperdey (1959) S. 311 ff.; zur »Rechtsfindung«vgl. don S. 336 ff. Der Gang der Diskussion über diese Fragen ist unter Angabe auch neuerer Literatur dargestellt, bei F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967) S. 574 ff.

312

Recht im Mittelalter

Er gehört jedoch nicht allein der Rechtsdogmatik und der Rechtstheorie an. Seit Fritz Kern die Lehre vom •guten alten Recht« formulierW, ist es allgemeine Ansicht, daß das germanische und ebenso das mittelalterliche Recht nicht gemacht, sondern nur gefunden werden könne3 • Selbst Historiker und Rechtshistoriker - sonst so oft verschiedener Meinung - sind sich in diesem Punkte ausnahmsweise einig4• Sucht man nun freilich nach der Herkunft dieser ebenso der Jurisprudenz wie der Historie und Rechtshistorie geläufigen Vorstellung, so macht man eine seltsame Feststellung: die klassischen Werke der deutschen Rechtsgeschichte wissen nichts von der •Rechtsfindung«! Sowohl bei Richard Sehröder wie bei Heinrich Brunner sucht man das Wort vergebens, und auch die einschlägigen Monographien wie Plancks Darstellung des deutschen Gerichtsverfahrens im Mittelalter und Siegels Geschichte des deutschen Gerichtsverfahrens sprechen mit den Worten des Sachsenspiegels nur vom Finden des Urteils, nicht des Rechts5• In deutlichem Gegensatz zu diesem Schweigen der rechtshistorischen Literatur steht die Tatsache, daß die Vorstellung von der •Rechtsfindung« in der Rechtssoziologie und in den Schriften der Freirechtsschule eine beträchtliche Rolle spielt. In der 1911-1913 niedergeschriebenen, aber posthum erst 1922 veröffentlichten •Rechtssoziologie« Max Webers sind Rechtsschöpfung und Rechtsfindung ein wichtiges Begriffspaar6 , und über Eugen Ehrliebs berühmten Wiener Vortrag von 1903 über ,.freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft«7 führt die Linie zurück bis zu Oskar Bülows folgenreicher kleiner Schrift von 1885 über •Gesetz und Richteramt«8 • Daß hier überall die mittel-

2 F. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter (Neudruck 1952); zum »Finden des Rechts« ebd. S. 14. Kerns Arbeit war 1919 als Aufsatz in der »Historischen Zeitschrift« erschienen. Vgl. weiter Kerns zuerst 1914 erschienenes Buch »Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter« (2. Aufl. 1954) S. 128 (mit Anm. 276, S. 266 ff.).

' Nachweise bei H. Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, ZRG GA 75 (1958) s. 207 Anm. 3. 4 Vgl. die ganz auf Kerns Lehre beruhenden Ausruhrungen bei H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte I (2. Aufl. 1962) S. 25 und 345 .

> J. W. Planck, Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter I (1879) S. 273 ff.; H. Siegel, Geschichte des deutschen Gerichtsverfahrens (1857) bes. S. 152 ff. 6

M. Weber, Rechtssoziologie, hg. von J. Winckelmann (1960) S. 180 ff., 191 ff.

7

E. Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903).

1

0 . Bülow, Gesetz und Richteramt (1885) bes. S. 46-48.

•Rechtsfindung«

313

alterliehen Schöffen als Prototyp des Rechtsfinders erscheinen, macht die Zurückhaltung der gleichzeitigen rechtshistorischen Literatur nur um so auffälliger. Dennoch läßt sich die Spur der Vorstellung von der ,.Rechtsfindung« in die Rechtsgeschichte hinein weiterverfolgen. Sie führt geraden Weges ins Zentrum der Historischen Rechtsschule-über Georg Friedrich Puchta9 und seinen Vater Wolfgang Heinrieb Puchta10 bis hin zu Friedrich Carl von Savigny 11 und Karl Friedrich Eichbom 12, ja sogar weiter bis zu Justus Möser 13• Von hier bat die ,.Rechtsfindung« also ihren wissenschaftsgeschichtlichen Ausgang genommen; erst der Kampf gegen den Gesetzespositivismus und seine Auswirkungen auf die Rechtsgeschichte wie auf die juristische Methodologie hat sie dann zu Anfang unseres Jahrhunderts auf die Höhe ihrer jetzigen Geltung geführt 14• Dieser merkwürdige Befund gibt Anlaß zu der Frage, welche Rolle die Anschauung vom ,.finden des Rechts« im älteren deutschen Recht selbst gespielt hat. Der Versuch einer Antwort hierauf ist freilich mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden, die in der unübersehbaren Menge und Vielfalt der mittelalterlichen Quellen begründet sind. Eine große Hilfe ist hier zwar das umfangreiche Archiv des ,.Deutschen Rechtswörterbuchse in Heidelberg, wo ich unter mehr als 16000 Belegen zu ,.recht« und ,.finden« ein paar hundert einschlägige Quellentexte ermitteln konnte15• Auch diese Sammlung - die größte, die uns zur Verfügung steht- ist jedoch weit davon entfernt, eine vollständige Über-

9

10 11

G. F. Puchta, Das Gewohnheitsrecht D (1837) S. 125. W. H. Puchta, Der Dienst der deutschen Justizämter und Einzelrichter I (1829) S. 50 ff.

F. C. von Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter I (2. Aufl. 1834)

s. 257 ff. 12

K. F. Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte D (2. Aufl. 1819) S. 626.

" J. Möser, Sämtliche Werke IV (Patriotische Phantasien I, 1943) Nr. 51 S. 246 ff.; X (Den Patriot. Phantasien verwandte Handschriften, 1968) Nr. 13 S. 33 . 14 Daß Kern und die Freirechtsschule gegen den gleichen Gegner, den Gesetzespositivismus, kämpften, hat jüngst mit Recht G. 1heuerko.uf betont (l..ex-speculum-compendium juris, 1968, S. 23 ff.).

" Herrn Dr. H. Blesken und den übrigen Mitarbeitern des Rechtswörterbuchs habe ich, nun schon zu wiederbollem Male, ffir die Einräumung eines Arbeitsplatzes und ffir die erwiesene Hilfsbereitschaft meinen Dank abzustatten. - Die dem Archiv des Rechtswörterbuchs entnommenen Belege sind im folgenden mit der Quellenangabe zitiert, die sich auf den Karteizenein fand; solche Zitate sind durch den Zusatz •RWB Arch.« kenntlich gemacht. Soweit die Quellenangaben nicht aus sich selbst heraus verständlich sind, werden sie sich mit Hilfe der Quellenhefte des Rechtswörterbuchs auflösen lassen.

314

Recht im Mittelalter

sieht oder auch nur einen repräsentativen Querschnitt zu bieten. Jeder flüchtige Blick in irgendeine Quellenedition liefert neue Belege und verändert das Gesamtbild. Die folgende Skizze des rechtshistorischen Befundes muß deshalb unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Lückenhaftigkeit und Vorläufigkeit stehen. Zunächst zum Wort ,.finden«: es ist den Quellen wohlvertraut, und zwar nicht nur in der allgemeinen Bedeutung des Findens oder Wiedertindeos von Tieren oder leblosen Gegenständen, sondern auch in dem Sinne, der hier interessiert16• Von den Urteilern im Gericht wird gesagt, daß sie •fmdenc. Dies gilt nicht nur für Schöffen, sondern auch für andere Urteiler, ja für alle Dinggenossen. Ebenso •finden« auch die Ratmannen im städtischen Ratsgericht oder die Schiedsleute im Schiedsgericht. So heißt es 1331 in den Regensburger Statuten: swelich pesserung der rat dar über vindet und den schuldigen anlegt11 , und 1350 haben in der Wetterauischen Reichsstadt Friedberg unsir vorgenanten burcgman uffiren eitfunden 18• Eine niedersächsische Schiedsurkunde von 1404 sagt: Konden de van Swartzborg unde de van Hornborg wat fruntlikes vinden twischen den heren van Brunswik und oren steden, dat wolden de heren liden19 , und die •Chronik der nordelbischen Sassen« berichtet von einer kaiserlichen Entscheidung: De keiser vant deme herlogen de horch af unde deme koninge tifl. Wegen dieser ihrer Tätigkeit heißen dieUrteilerauch •Finder«, •Findmannc, ,.findungsleutec oder ähnlich21 • Die Zeugnisse hierfür reichen von flämischen Urkunden des 13. Jahrhunderts bis zu norddeutschen Gerichtsordnungen aus neueren Jahrhunderten; so sagt noch das Lübische Stadtrecht von 1680: da entscheidung durch urtheil von nöhten ... , sollen sie dieselbige (sache) für die

16 Das »Deutsche Wörtcmuchc enthält freilich in Bd. ill (1862) Sp. 1641 ff. keine Belege fiir den hier interessierenden Gebrauch des Wortes •findenc. Vgl. nur ebd. Sp. 1649 s. v. •Findung« (ohne Belege) und »Findungsleutc« sowie Bd. Vill (1893) Sp. 380 »Recht findenc. Belege werden dagegen gegeben in Trübners Deutschem Wörtcmuch, hg. von A. Götze 0 (1940) S. 347, im Deutschen Rechtswörtcmuch ill (1935-38) Sp. 539 ff. und bei K. Schiller!A. LiJbben, Mittelniederdeutsches Wörtemuch 0 (1877) S. 254. 17

RWB ill Sp. 540.

II

Ebd.

19

H. Sudendorj, Urkundenbuch der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg IX (1877) Nr.

251

s. 341.

"' Schiller/LiJbben V S. 254. 21

510 f.

RWB ill Sp. 542 ff.; E. Verwijs/J. Verrlam, Middelnederlandsch Woordenboek IX (1929) Sp.

•Rechtsfindung«

315

finder weisen12• Besonders reich entwickelt ist die •Finder«-Terminologie im niederländischen Sprachbereich; hier gibt es den Findersboten, den Findersknappen, die •Finderei« (vinderie) als Gerichtsbezirk, die »Finderschaft« als schiedsgerichtliche Vermittlung, und anderes mehfD. Allerdings kommt hier auch eine andere Bedeutung des Findens ins Spiel; häufiger als den Urteiler bezeichnet das Wort in den Niederlanden und in Flandem einen Aufsichtsbeamten, vor allem in den Städten - einen Mann, der auf dem Markt oder anderswo etwas zu ordnen und zu regeln hat24• Die Tätigkeit der Finder wie ihr Ergebnis heißt öfters •Findung«- freilich, wie es scheint, erst im späteren Mittelalter und in der NeuzeitlS. Ditt is de rechticheit unn de vindinge, de de herende rathmanne van Stade eren borgheren, dede tho Ripe unde to Venemarken pleghen tho seghelnde, ghegheven- so heißt es in einer niederdeutschen Quelle26• Gelegentlich nimmt das Wort die Bedeutung von »Prozeßlist« an; so wird in einer westfriesischen Urkunde von 1470 ein Verhalten sunder al arch ende nye vindinghe versprochen27 • Viel älter als die Findung ist offenbar im niederländischen Bereich das Substantiv »Findnis«, das in der Form vonniss~ zur stehenden Bezeichnung für den Rechtsspruch wurde. Das Verbreitungsgebiet der Vorstellung vom »Finden« im hier behandelten Sinne ist vor allem ein norddeutsches. Einerseits fmdet sie sich im ganzen sächsischen Stammesgebiet samt dem vom sächsischen Recht geprägten kolonialen Osten, andererseits aber auch im niederfränkischen Raum am Niederrbein, in den Niederlanden und bis hin nach Flandern. Südlichere Belege sind eine große Seltenheit; den beiden genannten aus Friedberg und Regensburg wäre nur noch ein schweizerischer hinzuzufügen29 • Alle anderen bleiben innerhalb des Raumes, der im Westen durch die Städte Gent, Brügge und Leiden, im Süden

22

RWB DI Sp. 542.

25

VeTWijs/Verdam IX Sp . 511 f.

"" Vgl. schon RWB III Sp. 542 s. v. •Finder«, VI. Vor allem VeTWijs/Verdam IX Sp. 507 ff. " RWB III Sp. 543; Schiller!LiJbben V S. 254. "" Schiller/LiJbben a.a.O. n

RWB DI Sp. 543 s.v. •Findung«,ßl.

21

VeTWijs/Verdam IX Sp. 903-907.

29

Weistum von Hönng 1338; J. Grimm Weistümer I (1840, Neudruck 1957) S. 5.

316

Recht im Mittelalter

durch Hameln oder Duderstadt, im Osten durch Brünn, Glatz und Danzig, und im Norden durch Dithmarschen und Kiel begrenzt ist30• Was ist es denn nun aber, was die Urteiler finden? Hierzu geben unter anderem die spätmittelalterlichen Bauernweistümer Westfalens und Niedersachsens, also im Zentrum des Verbreitungsgebietes, reiche Auskunft. Sie werden beherrscht vom Zweitakt des Fragens und Findens: item ward gefraget - do ward gefunden heißt es dann in ständigem Wechsel31 • Bisweilen wird dann das Gefundene als Urteil bezeichnet: Vürder wort gefraget, wo stark dat ein iglik erve edder meiger waren mochte? wart gefunden, so stark he konde. dat ordel fand 1ilke Grove32• Wie man sieht, heißen »Urteil« also auch die abstrakten Rechtssprüche, die wir heute als •Weistum« zu bezeichnen gewohnt sind. In den Quellen ist das »Weistum« jedoch nur in der Pfalz und im Rheinland bezeugt und reicht im Norden kaum über Düsseldorf hinaus33 • Nur im Münsterlande ist statt vom •Finden« öfters vom »Weisen« des Urteils die Rede34 • Gefunden wird also in der Regel ein Urteil, und dieser Vorstellung wollen wir weiter nachgehen. Am bekanntesten ist die Redewendung vom Finden des Urteils aus dem Sachsenspiegel. Er enthält sie in grundlegenden Sätzen, in denen sie ihren Eindruck nicht verfehlen konnte, etwa in I 62,8: Swelkes ordeles men erst bedet, dat scal men erst vinden, oder in II 12,2: Scepenbare Iude moten ordele vinden over iewelken man usw., oder in der bekannten Anweisung an die Schöffen in III 69,2: Ordel scolen se vinden vastene over iewelken man, he si dudisch oder wendisch, egen oder vri; dar ne scal anderes neman ordel vinden wan se. Sittene scolen se ordel vinden. Die Weiterführung dieses Sprachgebrauchs in den mit dem Sachsenspiegel verwandten oder von ihm abhängigen Quellen hat ihn dann wie von selbst auch in die rechtshistorische Literatur übergehen lassen, die allenthalben vom Fragen und Finden des Urteils spricht35 • Der hierdurch nahe-

30

Hierzu vgl. Karte l.

" Urteile zu Hoheneggetsen und LafTerde, 1447-1496; Grimm, Weistümer ID S. 247 f. 32

Ebd.

s. 275 .

Vgl. hierzu die Verbreitungskarte von •Weistu!ll« bei R. Schmidl-Wiegand, Aus der Werkstatt Eberhard Frh. v. Künßbergs, Heidelberger Jahrbücher XD (1968) S. 97. 33

34 Vgl. das Hölting von Westerwald (1521 ff.), die Sandweller Urteile (1566 fT.), das Holting von Lette (1500 ff.), das Markrecht von Osterwald (1557), die Ordele vom Speiler Wald (1465), und andere; Grimm, Weistümer ID S. 123fT.

" Auf Einzelbelege darf wohl verzichtet werden. Eine wichtige Vermittlerrolle spielt die Plancksche Darstellung des mittelalterlichen Prozesses, bes. I S. 303 fT.

•Rechtsfindung«

317

gelegte Eindruck weiter Verbreitung des Begriffes in den Quellen ist freilich unzutreffend. Die Formel vom Finden des Urteils kommt nur in einem viel engeren Gebiet vor als die Vorstellung vom Finden überhaupt. Das ,.urteil finden« fehlt in Flandem und in den Niederlanden; es fehlt aber auch weithin im Westen des alten sächsischen Stammeslandes, nämlich in Westfalen. Hier ist ja, wie wir sahen, die Redewendung vom ,.weisen« eingedrungen; sofern man nicht vom bloßen Finden redet, spricht man hier vom Weisen des Urteils36• So reicht das ,.urteil finden« also nicht wesentlich über die Weser hinaus. Es erscheint in den Stadtrechten von Bremen, Harnburg und Lüneburg, von Braunschweig und Goslar, begegnet in den Bauernweistümern und Urkunden dieses Gebiets ebenso wie in Schleswig-Holstein, und ist im übrigen im Einflußbereich des Sachsenspiegels und des magdeburgischen Rechts zu Hause37. Im gleichen Gebiet finden sich auch Zeugnisse für den Begriff des UrteilfinderS'8, während die Urteilstindung anscheinend erst in der juristischen Literatur der Neuzeit auftritt39. Daß man das Urteil finde, war also keineswegs allgemeine Anschauung des deutschen Mittelalters. Sie war zwar in einem wichtigen Rechtsgebiet verbreitet; anderswo aber herrschten ganz andere Vorstellungen, in denen nicht für unsere heutigen Ohren der Unterton mitschwingt, es gehe hier um das Finden und Herausheben von etwas Vorgegebenem. Im fränkischen Bereich, im alemannischschwäbischen wie im bairischen und Österreichischen Gebiet sprach man vom

.. Oben Anm. 34; dazu Karte I. 37 Belege in RWB lU Sp. 540 f. sowie im Archiv des RWB. Von letzteren gebe ich nur zur Abgrenzung des Verbreitungsgebiets die folgenden Beispiele: Und were dat ... ordele vunden wurden, tk ieghen tÜrstad recht weren, tk mach men bescheiden vortkn rad. um 1360 (Brem. GQ Lappenb. 77). WeükLr hantk ordel dat men nicht kan vintkn in gherichlhe ... 14. Jh. (Herforder Rb. Nr. 22 S. 31, Normann S. 46). tky ordelle hebben ghewuntkn en tkyl borghere von DudersUll. 1388 (feistungenb. UB 64 Nr. 145). daz urfeil ist unrecht, daz wil ich slrafen untk wil uch ein rechlen vintkn untk leile also zu rechte ... 14. Jh. (Freiberger Stsdtr. 31, 36. Cod. dipl. Sax. reg. D 14 S. 121). wanne nymam u11eil vinden schol noch leylen wenne dy scheppen. 14. Jh. lglau (Tomaschek S. 100 Nr. 171). Slentk sal man u11eil scheldin, seczintk sal man is vindin untkr konigis banne. 13./14. Jh. (Meinardus, Neumarkter Rb. cap. 269) .... untk tk ralmanne dar en ordel up vindet. um 1300 (Napiersky, Rigaische Stat. I 2 S. 143).

,. Zum Beispiel: Eldagsen 1350 (Calenb. UB VIU Nr. 104); Richtst. Landr. 41 § 3 (Homeyer S. 266); Vechta 1571 (Westf. Landr. I S. 174); Lüb. Niederger. 0. 1639, V.; Hamb. Ges. Sammlung X 321 (1771). Alle Belege nach RWB Arch. "' Zuerst wohl bei C. U. Grupen, Disceptationes forenses (1777) S. 658 (RWB Arch.)

318

Recht im Mittelalter

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K arte 1. " Finden" und "Urteil finden" E ntwurf: K. Kroeschell

»Rechtsfindung«

319

Geben, vom Setzen oder einfach vom Sprechen des Urteils40 • Sogar der Ausdruck •ein Urteil teilen« kommt vor, und zwar auch im Gebiet des sächsischen Rechts41 • Hier wird also das Verbum irteili verwendet, aus welchem das Substantiv »Urteil« im frühen Mittelalter gebildet worden warA2 • Aus der Feststellung, daß »Urteil« selbst von einem Verbum irteili, erteilen, urteilen, abgeleitet ist, ergibt sich zugleich, daß alle Wendungen, in denen »Urteil« als Objekt mit einem anderen Verbum verknüpft ist, verhältnismäßig jung sein müssen. Urteil sprechen, geben oder setzen, Urteil teilen, weisen und finden - dies alles ist nicht Ausdruck ursprünglicher Rechtsvorstellungen. Die Zeit, in welcher solche sekundären Wendungen entstanden sein müssen, läßt sich sogar wenigstens in großen Zügen bestimmen. Um 1200 war das •Urteil finden« sicherlich schon ein gebräuchlicher Ausdruck, denn dem Sachsenspiegel (um 1230) ist diese Vorstellung wohlvertraut Andererseits kann sie aber erst nach dem Jahre 800 entstanden sein. Um diese Zeit beginnen nämlich die Worte irteili »Urteilen« und urteilda »Urteil« vom Mittel- und Niederrhein her nach Sachsen einzudringen - offenbar als Worte der fränkischen Rechtsund Gerichtssprache43 • Hier wie in anderen Gegenden Deutschlands verdrängten sie ältere Ausdrücke und Vorstellungen. So war im nördlichen wie im mittleren Deutschland noch der gemeingermanische Ausdruck tuom, dom üblich, abgeleitet von dem Verbum tuomjan, das soviel wie »meinen« bedeutet. Im alemannischen wie bairischen Gebiet war dieses Wort schon fast ganz verdrängt worden vom Begriff suona »Sühne«, der das Urteil als friedlichen Ausgleich eines Konfliktes charakterisiert44 • Auch hier wird infolge der karolingischen Unterwerfungspolitik etwa seit 770 der fränkische Begriff »Urteil« üblich, der sich so in ganz Deutschland durchsetzte. Erst in der Zeit zwischen 800 und 1200, und gewiß nicht an ihrem Anfang, können sich Wendungen wie die vom »Urteil weisen« und »Urteil finden« gebildet haben.

40

Vgl. Karte I.

Neben dem lglauer Beispiel oben Anm. 37 nenne ich: Auch haben sie beschrieben, daß ym landdynge k.mner unser barger ul1heil theylen noch vinden solle, noch ZJJ dem urteil 1reten solle (Weizsiicker, Zittau LG S. II; RWB Arch.) 41

42 Hier= K. F. Freudenlhal, Arnulfingisch-karolingische Rechtswörter (Göteborg 1949) S. 71 ff., bes. S. 76.

°

Freudenthai S. 100 ff., bes. 109 ff. , mit Karte aufS. 200 (vgl. hier Karte 2) .

.. Freudenthai S. 77 ff. In Bayern weist Freudenthai solche fränkischen Begriffe schon in den Neuehinger Dekreten (772), in Sachsen spätestens zur Entstehungszeit des Heliand (Anfang 9. Jh.) nach.

320

Recht im Mittelalter

JUDICIUM- JUDICARE- JUDEX Gemeingerm.: •doma -•domion B1>1r.-alemann. :

suc.~o -suonen

'Fränkisch':

urteili- irteilen

- - - - - - - Dialektgrenze

-

Karte 2. "Urteilen"

Nach K. F. Freudenthai

Verbreitungszentrum von

urteili-irteilen suono- suonen Gebiet

•Rechtsfindung«

321

Nun ist es freilich auch gar nicht der Ausdruck •Urteil finden«, der uns in erster Linie interessiert. Vielmehr geht es uns darum, zu erfahren, ob die Vorstellung vom •Recht finden« dem Mittelalter bekannt war. Die Antwort ist nach der Quellenlage leicht zu geben. Von ganz vereinzelten, zum Teil schon der Neuzeit zugehörigen Zeugnissen abgesehen45 , wissen die Rechtsquellen nichts vom •Finden des Rechts«. So merkwürdig dieser Befund scheinen mag, so leicht läßt er sich doch deuten. Zum Beispiel entfallen einige der Belege für das •Recht finden« auf Texte, die die Paarformel •Recht und Urteil«, ordel unde recht verwenden46 • Diese weit verbreitete Formel 47 ermöglichte es durch ihre Parallelisierung beider Begriffe, beide als Objekt mit dem Verbum •fmden« zu verknüpfen und etwa zu sagen, daß die dinglüde dar ordel unde recht to vanden48 • Auf diesem Hintergrund mag es dann am Ausgang des Mittelalters auch dazu gekommen sein, einfach vom •Recht finden« zu sprechen. Von den spärlichen Belegen hierfür, die noch dem Mittelalter angehören, weisen einige nach dem Osten, in die Lausitz oder nach Preußen, und erweisen sich schon dadurch als relativ

., Mir sind insgesamt elf Beispiele bekannt geworden, von denen sich fünf (zu den Jahren 1271 , 1338, 1346, 1386 und 1554) im RWB 11I Sp. 540 finden. Von ihnen enthalten zwei die Paarformel •Urteil und Recht«; dazu sogleich Anm. 46.- Die übrigen sechs Belege fanden sich im Archiv des Rechtswörterbuchs. Es sind die folgenden: Hir wert.frede gewerlcet mit hande und munde, dat ame an dussen rech~. dat hir gefunden, nemand enge ... 1330 (ZHV Nieders. 1886 S. 233); die ratluy~ \Iinden ufdem rathuse eyn recht nach clage. 1343 (Cod dipl. Pruss. 111 Nr. 43); Were eyn recht, dat capi~U, manschup unde s~de nicht \Iinden konden ... , dat recht schaU de enebischup \Iinden 1436 (Brem. LG. Prot. S.12); ... he.ft ein Sassisch Recht gefunden, dat de ... Darper ... de Hel.fte der Teringhe ... staen ... schalen 1537 (Dittmer, Sassen- u. Holstenr. S. 37); Ob er (der Richter) aber in im selbs~n kein rechtftJnden mec~, urteil zue geben ... 1540 (Württ. Länderl. RechtsquelL I S. 426); ... die gemeinenlandtlude uthgedreven tho vindene ein recht. 1581 (Hagen Landr. 1581, S. 13). Nicht hierher zu rechnen ist folgende Stelle: .. . die suln beidenthalben unvenagen recht finden. 1315 (Urk. Samml. v. Glarus I S. 135 Nr. 37 (RWB Arch.); sie bezieht sich auf die Parteien und meint, daß diese ihr Recht bekonunen sollen. - Über das »reht finden« bei Notker vgl. unten bei Anm. 57. 46 Es sind dies: ... arrkl noch recht \Iinden. 1271 (Gosl. UB D 218); ... de dinglade dar arrkl unde recht to vanden. 1386 (Calenb. UB I 143 Nr. 244); beide Belege finden sich im RWB 111 Sp. 540. 47 Das Archiv des Rechtswörterbuchs bietet hierfür außer den beiden in der vor. Anm. genannten noch 26 Belege aus der Zeit von 1294 bis 1662, die aus fast allen deutschen Landschaften konunen. Ältestes Zeugnis ist, soweit ich sehe, Ssp . III 30.

41

Oben Anm. 46.

21 Kmcschc!l

322

Recht im Mittelalter

spät49 • In einem fernen Außenposten deutschen Rechts, in Reval, findet sich auch der einzige mittelalterliche Beleg für den rechtvindere, und zwar in einer Stadtrechnung des Jahres 1406~. Die »Rechtsfindung« endlich ist offenbar ein Kunstwort des neuzeitlichen juristischen Schrifttumss 1• Freilich fehlt es neben dem seltenen »Finden von Urteil und Recht« oder gar »Recht finden« nicht an ähnlich klingenden Formulierungen, die unsere Aufmerksamkeit verdienen. Sie unterscheiden sich allerdings von den bisher besprochenen auf charakteristische Weise. In ihnen ist nämlich das Recht nicht das Objekt, welches man findet, so wie man ein Urteil fmdet. Vielmehr hat es das Recht nur mit der Art und Weise zu tun, wie man fmdet. Man fmdet nicht das Recht, sondern man fmdet für Recht, durch Recht, mit Recht, nach Recht"2 • Schon im 13. Jahrhundert sagen die Halleschen Schöffenbücher in einem Prozeß um die Verfügungsbefugnis über Gut: do wart eme torecht vunden, he mochtez geben, sweme her woldt?3 • Im spätmittelalterlichen Weistum einer Waldmark heißt es auf die Frage, wer dem Richter helfen soll, das Gericht zu besetzen: Do wardt dorch recht gefunden: de Grave von SchowenborchS4. Noch in einem Lehnsprozeß der Neuzeit, im 16. Jahrhundert, kommt eine entsprechende Formulierung vor: so findet man zu recht, das solch dorjf ... dem hern anheym gefallen s~s. Eine stattliche Anzahl ähnlicher Quellenzeugnisse belegt diesen Sprachgebrauch durch mehr als fünf Jahrhunderte hindurch. Es ist unverkennbar, daß aus diesen Wendungen ein ganz anderes Verständnis von Recht spricht, als wir es voraussetzen, wenn wir in der modernen Jurisprudenz von »Rechtsfindung«, vom »Finden« des Rechts reden. Hier ist das Recht

49

RWB

Das preußische Beispiel von 1343 ist oben Anm. 45 zitiert, eines aus Zittau von 1346 in:

m Sp. 540.

00 Frdl. Mitteilung von W. Ebel aus seinen handschriftlichen Exzerpten der Revaler Quellen. Zwei neuzeitliche Belege aus Livland (von 1821 und 1671) finden sich im RWB s. v. •Bauernaufseher« und •Hakenbauer«.

" Das älteste mir bekarmt gewordene Zeugnis ist die oben Anm. II nachgewiesene Stelle bei Savigny.

" Einzelne Beispiele schon in RWB m Sp. 540 f. Im Archiv des RWB fand sich ein gutes Dutzend weiterer Belege, die sich aber aus den niederdeutschen Rechtstexten und Urkunden leicht aufviele Hundert vermehren ließen. Im Sachsenspiegel ist besonders typisch die Stelle D 18. " 126611325; Hallesche Schöffenb. I S. 98 (RWB Arch.) " 1480; Frewknstein, Wald Schaumburg S. 74 (RWB Arch.). " 16. Jh.; ZRG 4 (1864) S. 199 (RWB Arch.) .

»Rechtsfindung«

323

das Objekt des Findens; es hat objektiven Charakter. Ohne uns stets darüber Rechenschaft zu geben, stellen wir uns das objektive Recht, die Rechtsnorm als dasjenige vor, was es zu finden gilt. So spricht denn die moderne Methodologie bisweilen statt von der •Rechtsfindung« von der »Normgewinnung~. Ganz anders dort, wo man im Mittelalter sagt, man finde •zu Rechte, nach Rechte, durch Rechte«! Das Recht, von dem hier die Rede ist, ist nicht objektiver Natur. Es bezeichnet vielmehr eine Modalität, eine Qualität des Urteilens. Wir stehen also vor der Frage nach dem Rechtsbegriff, der aus diesen Redewendungen spricht. Bevor wir uns ihr zuwenden, müssen freilich noch einige Quellenzeugnisse erörtert werden, die der Vorstellung vom Finden des Rechts sogar ein besonders hohes Alter zu sichern scheinen. Es handelt sich dabei um verschiedene Passagen aus den Schriften des Mönches Notker von St. Gallen, der um das Jahr 1000 als Übersetzer der Psalmen und antiker Philosophenschriften Bedeutendes für die Entwicklung der althochdeutschen Schriftsprache geleistet hat. Bei ihm ist einige Male vom reht finden die Rede57 • Die bezeichnendste Stelle ist wohl die folgende aus der kleinen Schrift »De syllogismis«, also vom logischen Schlußss. Als Entsprechung zu syllogismus wird zunächst eine Reihe von Begriffen angeführt, von der ratiocinatio über argurnenturn und iudicium bis zum experimentum. Sie werden dann nacheinander übersetzt und erklärt, und dabei wird zum iudicium gesagt:

ltem iudicare est ius dicere. reht finden. reht sprechen. Est autem iudicium facere reht frummin. ze urteildo uuerfen. lpsum autem iudicium dicimus gerihte. Sed si de syllogismo iudicium dicitur. pesuecheda unde chiesunga interpretatur. An diesem kleinen Text interessiert uns nicht das Bemühen, für iudicium neben der Übersetzung »Urteil« noch eine zweite für die philosophische Wortbedeutung zu finden. Notkers Vorschläge pesuecheda und chiesunga sind wie viele seiner Übersetzungen erfolglos geblieben. Bemerkenswert ist für uns vielmehr der Ausgangspunkt: iudicare est ius dicere, reht finden. reht sprechen. Er spiegelt, wie ich glaube, nicht einen festen juristischen Sprachgebrauch wider;

'" Vgl. etwa M. Kriek, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation ( 1967), passim. 57 Die Schriften Notl::ers und seiner Schule, hg. von P. Piper (1882/83) I S. 209, 616 f.; U S. 43, 340 f.; 41 c ; lU S. 51.

'" Ebd. I S . 616 f ., De syllogismis c . 15. Alia diffinilio syllogismi. 21*

324

Recht im Mittelalter

vielmehr wird hier, an antike Etymologie anknüpfend, lediglich eine wörtliche Übersetzung von iudicare versucht: iu-dicare - ius dicere - reht finden - reht sprechen59• Daß man um das Jahr 1000 den Vorgang des Urteilens schon mit »Sprechen« und •Finden« zu bezeichnen begann, wird hierdurch bewiesen. Um ein »Recht finden« in unserem heutigen Sinne aber würde es sich nur handeln, wenn reht bei Notker wie heute fiir uns objektive Qualität hätte. Abermals stehen wir also vor der Frage der mittelalterlichen Bedeutung von reht, mit der wir uns nun beschäftigen müssen. Uns ist heute geläufig, daß das Wort »Recht« eine doppelte Bedeutung hat. Es meint einmal das subjektive Recht, etwa eine Berechtigung, einen Anspruch, und zum anderen das objektive Recht, die geltende Rechtsnorm oder die ganze Rechtsordnung. Auf dieser Doppelbedeutung des Wortes beruht nicht zuletzt auch seine rechtssystematische Leistungsfähigkeit. Dies alles ist nicht von Anfang an so geweseneo. Zwar hatte schon im klassischen römischen Recht das Wort ius ganz die gleiche Doppelbedeutung erlangt. Es ist aber nicht so, daß das deutsche Wortrehtals Entsprechung zu ius in diese subjektiv-objektive Doppelbedeutung ohne weiteres eingetreten wäre. Erst seit dem Hochmittelalter, seit der sog. •Renaissance des 12. Jahrhunderts«, bildete sich der Doppelbegriffvon »Rechte aus, der uns heute beinahe selbstverständlich ist. Die Wiedergewinnung des alten römischen Rechtes durch die Schule von Bologna ließ das lateinische Wort ius seine alten Inhalte wiederfinden, und die beginnende Verwissenschaftlichung des Rechtes im deutschen Hoch- und Spätmittelalter ließ das deutsche Wortrehtin eine ganz entsprechende Rolle hineinwachsen61. Zuvor aber hatten sich tiefgreifende Wandlungen in der Rechtssprache vollzogen, über die wir vor allem durch die Arbeiten von Gerhard Köbler gründlich unterrichtet sind. Das lateinische Wort ius62 hatte sich nämlich schon in der Spätantike auf die Bedeutung eines subjektiven Rechts, insbesondere eines Herr-

"' Juridicus, quia legum iura dicit: lsidori Hispalensis Episcopi Etymologierum sive Originum libri XX, hg. von W. M. ündsay (1912), lib. X. 124. 60 Vgl. zum Folgenden vorläufig K. KroescheU, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, Vorträge und FonchungenXD (1968) S. 309-335 [jetzt in diesem BandeS. 277 ff.], und künftigvor allem G. Köhler, Das Recht im frühen Mittelalter (Fonch. z . dtsch. Rechtsgesch. 7, 1971). 61 Dies war die These von Kroesclu!ll S. 326 ff. [in diesem BandeS. 298 ff.], die durch die grundlegende Untersuchung von Köhler weitgehend bestätigt wurde. 62

KöhlerS . 140 ff., 43 ff.

»Rechtsfindung«

325

schaftsrechts, zurückgezogen, und im frühen Mittelalter war es dabei geblieben. Man sprach etwa von einer res mei iuris, einer •Sache, die mir gehört«, und bei frühmittelalterlichen Güterschenkungen an ein Kloster übertrug man den Besitz ex meo iure in ius et dominationem Sei. Nazarii oder wie sonst der heilige Schutzpatron des Klosters heißen mochte. Wollte man vom objektiven Recht sprechen, so mußte man das Wort Iex verwenden, das in der Spätantike insbesondere das Kaisergesetz, im Frühmittelalter vor allem das göttliche Gesetz des Evangelismus meinte. Eine terminologische Verbindung zwischen den Rechten des einzelnen und dem Gesetz gab es nicht - gewiß ein bemerkenswertes Symptom! Das deutsche Wort rehl63 nun, soweit man es in der Zeit des lateinisch schreibenden Früh- und Hochmittelalters überhaupt fassen kann, hatte zweifellos zunächst keinerlei Beziehung zur Iex, also zum objektiven Recht. Dagegen wurde es öfters zur Übersetzung von ius benutzt, obgleich man für ius im Sinne eines Herrschaftsrechtes im Deutschen zumeinst kiuualt sagte. Daraus ergibt sich jedenfalls eines: selbst wenn Notker von St. Gallen den Sprachgebrauch vom rehl finden bereits vorgefunden hätte, hätte dies damals gewiß nicht die Bedeutung der Rechtsfindung im Sinne der Normgewinnung gehabt. Die gelegentliche Gleichsetzung mit ius erschöpft nun allerdings den ursprünglichen Bedeutungsgehalt des Wortes rehl noch nicht. Zwei weitere Dinge sind hier noch von Bedeutung. Dies ist einmal der Umstand, daß reht oft die Entsprechung zu iustitia ist64 • Das Wort bedeutet also, ohne eine objektive Rechtsnorm zu bezeichnen, in irgendeinem Sinne •das Richtige«. Zum anderen aber ist festzuhalten, daß sehr häufig der Ablativ iure durch deutsche Wendungen wie mit rehte, pi rehte oder nah rehte wiedergegeben wirArnbiance< und seine Bestimmtheit durch sie sichtbar zu machen, also weder nur Institutionen von anderen Institutionen herzuleiten, noch sie einfach auf wirtschaftliche Vorgänge zu relativiere~~« (ebd., S. 25), war das Ziel meines Weichbild-Buches gewesen.

m K. KroescheU, Waldrecht und Landsiedelrecht im Kasseler Raum, in: Hess. Jb. f. Landesgesch. 4 (1954), S. 117-154. 134

Ebd.,

s.

147 ff.

"' Auf Einzelbelege, vor allem aus den zahlreichen Besprechungen meines Weichbild-Buches, möchte ich hier verzichten.

Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters

377

geschichte dagegen wurden sie bestätigt136 , was ich hier nicht als Beweis für ihre Richtigkeit ins Feld führe, sondern lediglich als Beleg dafür, daß Rechtsgeschichte als Rechtsgeschichte zur Erkenntnis vergangener sozialer und wirtschaftlicher Realitäten beitragen kann. Unsere Erörterung des Methodenhorizonts der Rechtsgeschichte unter den Gesichtspunkten der Wortgeschichte, der Begriffsgeschichte und der Strukturgeschichte fiihrt uns nun zwangsläufig zu der Frage, auf welche Weise denn das Recht in den geschichtlichen Sozialstrukturen anwesend ist. Diese Frage sprengt zugleich den methodologischen Gesichtskreis und konfrontiert die Rechtsgeschichte mit dem Problem ihres Gegenstandes. Was ist das Recht, mit dessen Geschichte es die Rechtsgeschichte doch offenbar zu tun hat? Eine überaus schwierige Frage- allerdings glücklicherweise nicht ganz so schwierig wie die Frage nach dem Gegenstand von Geschichte schlechthin! IV. Der Rechtsbegriff der Rechtsgeschichte Es kann kaum einen Zweifel daran geben, daß der moderne »normative« Rechtsbegriff der Rechtsgeschichte im Wege steht. Selbst ihre Kritiker, die ihr mangelnde Offenheit gegenüber der sozialen Realität vorwerfen, sind diesem Rechtsbegriff verhaftet. Sie verstehen das Recht als ein Gefüge von Normen, und ihre Aufwertung der Realität wies dieser keine andere Funktion zu als die, einerseits dem Recht seine Ordnungsprobleme zu stellen, und andererseits dessen Anwendungsfeld zu bildenm. Seit langem ist es deshalb für die Rechtsgeschichte ein Problem, ob eine solche Normenordnung überhaupt eine Geschichte haben kann. Die vielberufene •Geschichtlichkeit« des Rechts erweist sich am Ende gewöhnlich doch nur als die Wandelbarkeit seines sozialen Wirkungsfeldes138 • Es ist bemerkenswert, wie dieses Rechtsverständnis auch tiefgehende wissenschaftliche Richtungsgegensätze zu überdauern vermochte. So hat schon Savigny geschrieben: »Das Recht nämlich hat kein Daseyn, sein Wesen vielmehr ist das

,,. Zum Weichbild vgl. namentlich die Bespr. von H. Jäger, in: Berichte z. dtsch. Landesk. 37 (1967), S. 147 ff.; zum Landsiedelrecht /. Bog, Das Landsiedelrecht Hessens im Mittelalter, in: Wirtsch. u. soziale Strukturen im säkularen Wandel. Festschrift für W. Abell (1974), S. 66-76. "" D. Grimm, Rechtswissenschaft und Geschichte (Anm. 79), bes. S. 22 ff. Vgl. K. KroescheU, Haus und Herrschaft (Anm. 49), S. 58 mit Anm. 270 (in diesem Bande nicht abgedruckt]. 131

378

Recht im Mittelalter

Leben der Menschen selbst, von einer besonderen Seite angesehen 139 .« Karl Marx, der die historische Rechtsschule bekanntlich erbittert bekämpft bat, teilte erstaunlicherweise diese Auffassung. Er bat zuerst 1845/46 in der •Deutschen Ideologie« mit Entschiedenheit betont, daß alle Bewußtseinsphänomene von den Produktionsverhältnissen bestimmt würden: •Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein«. Sprache, Recht, Moral oder Religion seien daher nur •Nebenbildungen im Gehirn der Menschen«, nur Ideologie, und hätten allenfalls den Schein der Selbständigkeit. •Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens 140«. Gewissermaßen spiegelverkehrt findet sich diese Ansicht auch in der neuesten Literatur. Ein so eminenter Rechtshistoriker wie Franz Wieacker spricht den Rechtsinstituten geschichtliche Individualität ab und folgert: •Sie haben als solche so wenig Geschichte wie die Naturgesetze oder die logischen Sätze ... ihre Entwicklungen sind in Wahrheit nur Wandlungen im Bewußtsein, in den Überzeugungen und den Verhaltensregeln geschichtlicher Rechtsgemeinschaften 141 • « Solche Auffassungen, die erstaunlicherweise die Geschichtlichkeit des Rechts überhaupt bezweifeln, scheinen mir schon auf der Grundlage des herrschenden •normativen« Rechtsbegriffs nicht richtig zu sein 142• Vor allem ist ihnen aber entgegenzuhalten, daß für die mittelalterliche und namentlich für die frühe deutsche Rechtsgeschichte ein anderer Rechtsbegriff angenommen werden muß, der in ältere Zeit zurückreicht und eine ganz andersartige Struktur bat.

1,.

s. 30.

F. C. von Savigny, Vom Berufunserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814),

140 Die Zitate bei K. Marx!F. Engels, Werke UI (1958), S. 26 f. An anderer Stelle in der •Deutschen Ideologie« heißt es: •Nicht zu vergessen, daß Recht ebensowenig eine eigene Geschichte hat wie die Religion« (ebd., S. 60). Ähnlich die Formulierung in einer Randbemerkung: •Es gibt keine Geschichte der Politik, des Rechts, der Wissenschaft etc., der Kunst, der Religion etc.« (ebd., S. 539). Zur Interpretation vgl. P. I..aruhlu, K.arl Marx und die Rechtsgeschichte (Anm. 77). 141 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichteder Neuzeit (2. Aufl. 1967), S. 17 Anm. 14. Dazujetzt ders. , Zur Methodik der Rechtsgeschichte, in: Festschrift Fritz Schwind (1978), S. 355-375, bes. S. 372 mit Anm. 36 . 142 Wieackers Sicht scheint mir nur für Rechtssätze sowie für Rechtsinstitute im Sinne juristischer Denkfiguren zuzutreffen, in ähnlicher Weise wohl auch für Institutionen oder Typenbegriffe, die selbst schon ein historisch-politisches Deutungsschema bieten (die Grundherrschaft, das Eigenkirchenwesen). Für rechtliche Strukturen im oben erörterten Sinne dagegen, in denen die Wirklichkeit des geschichtlichen Soziallebens sich selbst begreift (der Träger, das Weichbild, der Landsiedel, der Mord), würde ich daran festhalten, daß sie selbst •Geschichte haben«.

Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters

379

Hier ist zunächst an zwei wesentliche Ergebnisse der neueren rechtshistorischen Forschung zu erinnern. Die Untersuchungen von Gerbard Köhler haben einmal bestätigt, daß sich der mittelalterliche Rechtsbegriff seiner Struktur nach vom modernen (und damit zugleich vom klassischen römischen) unterschied. Während das römische ius und das moderne •Recht« die Vorstellung vom subjektiven und vom objektiven Recht terminologisch miteinander verknüpfen, gehörten im Mittelalter sowohl lateinisch ius und Lex wie auch deutsch reht und ewa zwei getrennten Vorstellungsbereichen an, nicht anders als heute im englischen Sprachgebiet right und law143 • Außerdem hat Köhler nachweisen können, daß die anscheinend so archaische Vorstellung vom •guten alten Recht« nicht dem germanischen Rechtsdenken entstammt, sondern den Einfluß der mittelalterlichen romanistischen Doktrin vom Gewohnheitsrecht bezeugt 144 • Für das ältere deutsche Recht bat eine ganze Reihe von Forschungen wahrscheinlich gemacht, daß es - zugespitzt gesagt - keinen normativen Charakter hatte. Jedenfalls gab es hier- von den Regeln des Prozesses abgesehen - keine allgemein geltenden Normen, keine ungeschriebene Legalordnung. So befremdlich diese Denkvorstellung dem heutigen Juristen erscheinen mag, so zweifelsfrei ist sie doch durch Untersuchungen von Wilbelm Ebel, Hans Rudolf Hagemann oder Heinrich Demelius nachgewiesen worden 145 • Wie sie gezeigt haben, gab es zwar den festen Brauch rechtsgeschäftlicher Regelung, in Vertragstypen, die oft über Jahrhunderte konstant blieben. Rechtliche Verbindlichkeit hatten ihre Regeln aber jeweils nur im Einzelfall, und auch die gedankliche Alternative des sonst geltenden Rechts gab es nicht146• Die volle Tragweite dieser Feststellung haben sich auch die Rechtshistoriker freilich bisher noch nicht kJargemacht 147 •

143

G. Köhler, Das Recht im frilhen Mittelalter (Anm. 120), bes. S. 107 ff., 186 ff.

,.. G. Köhler, Zur Frilhrezeption der consuetudo in Deutschland (Anm. 61). '" W. Ehel, Über die Fonnel »für mich und meine Eroen« in minelalt. Schuldurlrunden, in: ZRG.GA 84 (1967), S. 236-274; H. R. Hagemann, Gedinge bricht Landrecht, ebd . 87 (1970), S. 114-189; H. Demelius, Eheliches Güterrecht im spätmittelalt. Wien, in: Sitzungsber. d. Österr. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl. Bd. 265, 4. Abh. (1971). ,.. Von Gewohnheitsrecht im Sinne ungeschriebener, aber allgemein geltender Rechtsnonnen kann man daher nicht reden. Ich habe vorgeschlagen, hier von »Rechtsgewohnheiten« zu sprechen; vgl. K. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte D (Anm. 96}, S. 84 ff. 141 Wenn G. Gudian, Ingelheirner Recht im 15. Jh. (1968}, S. 3 aus seiner Exegese der lngelheimer Sprilche den Eindruck einer folgerichtigen, über sechs Jahrzehnte hin so gut wie widerspruchsfreien Rechtsprechung gewinnt, so steht dies nicht im Gegensatz zum oben Gesagten. Ob man hieraus freilich schließen kann, die Schöffen hätten dabei einen Bestand ungeschriebener Regeln angewendet, scheint mir für das materielle Recht zweifelhaft.

380

Recht im Mittelalter

Hierzu würde sicherlich eine enge Kooperation mit Rechtstheorie, Rechtssoziologie und Anthropologie erforderlich sein. Jedenfalls wird sich also die Rechtsgeschichte, um ihre eigene Aufgabe richtig zu verstehen, um einen neuen - vielleicht veränderten, vielleicht erweiterten Begriff des Rechts als ihres eigentlichen Gegenstandes bemühen müssen. Doch gilt für die Verfassungsgeschichte nichts anderes. Gerade für eine Verfassungsgeschichte, die etwas anderes als Rechtsgeschichte sein will, scheint mir die Frage nach ihrem Verfassungsbegriff entscheidend zu sein. Auf diese Frage eine Antwort zu versuchen, kommt mir freilich nicht zu; ich gebe sie daher an die hier anwesenden Verfassungshistoriker zurück.

Bemerkungen zum »Kaufmannsrecht« in den ottonisch-salischen Markturkunden I.

Den Marktprivilegien des 10. und 11. Jahrhunderts, die von einem ius mercatorum berichten, gilt schon seit langem das besondere Interesse der Historiker und Rechtshistoriker. Nach Georg Waitz1 und Levin Goldschmidtl, Friedrich Keutgen3, Siegfried Rietschel4 und Paul Rehme5 waren es namentlich Hans Planitz6 und in neuerer Zeit Walter Schlesinger7 , die diesem Gegenstand gründliche Untersuchungen widmeten. So sehr sich diese Arbeiten nach Stil, Methode und Ergebnissen unterscheiden mögen - in einem Punkt weisen sie alle eine auffällige Gemeinsamkeit auf: in ihrem Vorverständnis des ius mercatorum als einer kaufmännischen Rechtsordnung. Das Wort »Recht« hat im heutigen Sprachgebrauch bekanntlich zwei Bedeutungen. Einerseits kann es ein Recht bedeuten, also eine Berechtigung oder (wie

1 G. Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. V (2. Aufl., bearb. v. K. Zeumer, 1893), S. 395 ff.

2

L. GoldschmidJ, Universalgeschichte des Handelsrechts Bd. I (1891), S. 126 ff.

F. Keutgen, Untersuchungenüber den Ursprung der deutschen Stadtverfassung (1895), bes. S. 203 ff. 3

• S. Rietschel, Markt und Stadt in ihrem rechtlichen Verhältnis (1897), S. 174 ff., 191 ff. ' P. Rehme, Geschichte des Handelsrechts, in: Handbuch des gesamten Handelsrechts, hrsg. v. V. Ehrenberg, Bd. I (1913), S. 121. 6 H. Planitz, Handelsverkehr und Kaufmannsrecht im fränkischen Reich, in: Festgabe für E. Heymann Bd. I (1940), S. 175-190; ders., Das Wiener Stadtrecht und seine Quellen, in: MIÖG 56 (1948), S. 287-327, bes. 297 ff.

7 W. Schlesinger, Vorstufen des Städtewesens im ottonischen Sachsen, in: Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift Edith Ennen (1972), S. 234-258; tkrs., Der Markt als Frühform der deutschen Stadt, in: Vor- und Frühformen der europäischen Stadt im Mittelalter, Teil I (1975), s. 262-293.

382

Recht im Mittelalter

wir Juristen sagen) ein subjektives Recht. Zum anderen kann es aber auch das Recht meinen, d.h. die Rechtsordnung oder (juristisch gesprochen) das Recht im objektiven Sinne8 • Beide Bedeutungen hängen offenbar miteinander zusammen; nach heutiger Vorstellung bildet das objektive Recht die Grundlage der subjektiven Rechte, die sich (um es mit anderen Bildern zu sagen) aus ihm herleiten lassen oder in ihm wurzeln. Auch die Beziehung auf die Vorstellung vom Richtigen und Gerechten ist beiden Bedeutungen von »Recht« gemeinsam. Dennoch macht es auch dem juristischen Laien keine Schwierigkeiten, sie voneinander zu unterscheiden. Vermutlich ist diese subjektiv-objektive Doppelbedeutung, die das Wort »Recht« gewissermaßen zur Gelenkstelle zwischen der Rechtsordnung im Ganzen und den Rechten der einzelnen Bürger werden läßt, auf den Einfluß des rezipierten römischen Rechts zurückzuführen. Unser heutiges »Recht« fmdet nämlich im ius des klassischen römischen Rechts seine genaue Entsprechung9 • Daß ius sowohl das subjektive als auch das objektive Recht bedeuten kann, war den an den Institutionen und den Digesten geschulten Juristen seit dem hohen Mittelalter selbstverständlich. In bezug auf den Rechtsbegriff gibt es daher im Verhältnis der Gegenwart zur klassischen römischen Jurisprudenz praktisch keine Übersetzungsprobleme. Wäre ius mercatorum also ein antiker Ausdruck (was es offensichtlich nicht ist 1 ~, so könnte man es in der Tat als ein Kaufmannsrecht im objektiven Sinne, also als eine kaufmännische Rechtsordnung, verstehen. Dies hat die Literatur bisher ausnahmelos getan, ohne die ebenso naheliegende Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen, daß mit dem ius mercatorum ein subjektives Recht, eine Berechtigung, gemeint sein könnte. Mehrfach hat man sich darum bemüht, den Inhalt dieses Kaufmannsrechts zu ermitteln und die Institutionen zu bezeichnen, die in ihm seine Regelung fanden 11 • Von der Freiheit unter Königsmunt und der Unterstellung unter die Billigkeitsrechtsprechung des königlichen Gerichts über den Schutz des Nachlasses, die Befreiung vom

1 Vgl. etwa L. Ennecceros, AllgemeinerTeil des Bürgerlichen Rechts, 15. Autl., bearb. v. H. C. Mpperdey, Bd. I (1959), S. 196 f., 428 f . 9 M. Kaser, Das Römische Privatrecht Bd. I (Handbuch der Altertumswissenschaft, hrsg. v. H. Bengtson, X 3.3.1 , 1955), S. 173. 10

Das Stichwort fehlt in den Handwörterbüchern von Heumann/Seckel und Georges.

11

Vgl. namentlich Planitz, Das Wiener Stadtrecht (oben Anm. 6), bes. S. 297 ff.

Bemerkungen zum •Kaufmannsrecht«

383

Standrecht, der Grundruhr und vom Kriegsdienst bis zu prozessualen Privilegien wie Beweiserleichterungen und der Befreiung vom Zweikampf sowie schließlieb einem freien Bodenbesitzrecht kam bisweilen ein ansehnlicher Katalog zustande. Bei der Gewährung von Kaufmannsrecht stellte man sieb folgerichtig die Frage, welche Institute dieser besonderen kaufmännischen Rechtsordnung denn im Einzelfall hiermit gemeint seien 12• Daß sich diese Gedankengänge dem Einwand aussetzen, die Möglichkeit einer Deutung des ius mercalorum als subjektiver Berechtigung nicht genügend zu berücksichtigen, wurde bereits gesagt. Noch gewichtiger ist aber der Einwand, daß es im frühen Mittelalter (aber auch schon in der Spätantike) einen •doppelseitigen« subjektiv-objektiven Rechtsbegriff wie im klassischen römischen Recht oder in der Gegenwart überhaupt nicht gab. Die Orientierung am subjektiven bzw. objektiven Bereich des Bedeutungsspektrums bleibt zwar als Verständigungsmittel unentbehrlich; die Rechtsvorstellungen des frühen Mittelalters selbst weisen jedoch eine ganz andere Struktur auf 3 • Der mittelalterliche Rechtsbegriff in der Periode vor der Rezeption des römischen Rechts (also bis zum 12. Jahrhundert) ist durch zwei auffällige Merkmale charakterisiert. Das eine besteht darin, daß das lateinische Wort ius seine ursprüngliche subjektiv-objektive Doppelbedeutung verloren hat und schon seit der Spätantike nahezu ausschließlich eine subjektive Berechtigung bezeichnet. Da das Wort ius an sich mehrdeutig ist, läßt sich seine Bedeutung im Einzelfall nur aus dem jeweiligen Kontext ermitteln - eine Aufgabe, der sich für die späte Antike Amold Steinwenter14 und für das frühe Mittelalter Gerhard Köbler 15 unterzogen haben, deren Ergebnisse vollkommen miteinander übereinstimmen. Die naheliegende Folge ist, daß die auch im spätantiken Vulgarrecht und im frühen Mittelalter unentbehrliche Vorstellung vom objektiven Recht

12 So etwa B. Schwineköper, Bonn, Köln und Freiburg im Breisgau, in: Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift Edith Ennen (1972), S. 471-489, bes. S. 484 f. 13 K. Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts (Vorträge und Forschungen Bd. XU, 1968), S. 309-335, bes. 313 ff. Getzt in diesem BandeS. 277 ff., bes. S. 282 IT.]. 14

A. Steinwenler, Bedeutungen von ius in den nachklassischen Quellen, in: JURA 4 (1953), S.

124 ff.

u G. Köhler, Das Recht im frühen Mittelalter. Untersuchungen zu Herkunft und Inhalt frühmittelalterlicher Rechtsbegriffe im deutschen Sprachgebiet (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 7, 1971), bes. S. 43 ff., 140 ff.

384

Recht im Mittelalter

durch ein anderes Wort ausgedrückt werden mußte, nämlich das Wort lex16• Es trat also eine ähnliche Situation ein, wie sie im englischen und amerikanischen Recht noch heute besteht, in dem die Bezeichnungen right für das subjektive und law für das objektive Recht zwei verschiedenen Vorstellungsbereichen entstammen. Etwas anderes kommt jedoch noch hinzu. Es ist nämlich nicht nur das Wort ius, das mr subjektiven Seite des Bedeutungsspektrums hinüberwandert. Selbst Worte wie Iex und iustitia, die von Haus aus zweifellos eher eine objektive Bedeutung hatten, erscheinen nämlich nicht selten als subjektive Gerechtsame oder persönlicher Rechtsstatus17 • Wie es im Übergang von der Antike rum Mittelalter auch sonst m beobachten ist, tritt das Konkrete und Individuelle immer mehr in den Vordergrund, während die Allgemeinbegriffe undeutlicher werden. Bei der Beschäftigung mit dem Kaufmannsrecht sind diese Feststellungen bisher kaum berücksichtigt worden. Es ist die Absicht der folgenden Ausführungen, dies nacbmholen und die einzelnen Belegstellen für das Kaufmannsrecht18 daraufhin m prüfen, ob sie wirklich das aussagen, was man bisher so unbedenklich aus ihnen herausgelesen hat.

II. 1. Eröffnet wird die Reihe der einschlägigen Quellenzeugnisse durch das Diplom, das Otto der Große im Jahre 965 dem Erzbischof von Harnburg für seinen Markt in Bremen erteilt hat19• In ihm heißt es von den Kaufleuten:

negotiatores eiusdem incolas ... in omnibus tale patrocinentur tutela et potiantur iure quali ceterarum regalium institores urbium.

•• Köhler, S. 76 ff., 153 ff. Kroesche/1, S. 319 f. [in diesem BandeS. 289 ff.], Köhler, S. 103 ff. Vgl. dazu die Belege ffir iustitia und Iex bei J. F. Mermeyer, Mediae Latinitatis Lexicon Minus (1976), S. 569 ff., 601 ff. 17

11 Im folgenden wird den Quellenangabengegebenenfalls auch die Fundstelle der Urkunde in den beiden bekannten stadtgeschichtlichen Quellensammlungen beigeffigt: F. Keutgen, Urkunden zur slidtischen Verfassungsgeschichte (1901, Nachdruck 1965); B. Diestelk.amp, QuellenSiömmlung zur Frühgeschichte der deutschen Stadt (bis 1250), in: Elenchus Fontium Historiae Urbanae, hrsg. v. C. van de /(jeft u. J. F. Mermeyer, Vol. I (Leiden 1967), S. 1-277. 19

MGH.D. 0 I Nr. 307 (Keulgen Nr. 7, Diestelk.amp Nr. 20).

Bemerkungen zum ,.Kaufmannsrecht«

385

Unlängst noch hat Walter Schlesinger den Inhalt dieser Bestimmung dahin zusammengefaßt, daß die in Bremen wohnhaften Händler •unter ein besonderes Recht gestellt« würden20• Demgegenüber muß freilich daran erinnert werden, daß das Wort ius im frühen Mittelalter nur ausnahmsweise das objektive Recht meint. Vielmehr bezeichnet es fast durchgängig ein Herrschafts- oder Besitzrecht oder eine andere Berechtigung21 • Gewiß wäre in einer Wendung wie iure potiri die Vorstellung von Recht im objektiven Sinne nicht unmöglich22• Allerdings scheint es, daß die Quellen, wenn sie dergleichen zum Ausdruck bringen wollen, die Doppelformel iure vel lege bevorzugen, also das Wort hinzufügen, das sehr viel mehr als ius die Bedeutung des objektiven Rechts festgehalten hat23 • Im übrigen aber liegt es viel näher, an ein subjektives Recht zu denken, das die Kaufleute erlangen oder genießen sollen24 - ein Recht, das durch den Verweis auf die Rechtsstellung der Händler in den übrigen königlieben Städten ebenso konkretisiert wird wie der vom König zugesicherte Schutz. 2. Auf eine verlorene Urkunde Ottos des Großen aus dem gleichen Jahre 965 bezieht sich das Privileg, in dem Otto II. den Magdeburger Kautleuten im Jahre 975 ihre Rechte bestätigfS. Die entscheidende Wendung lautet:

mercatoribus Magadeburg habitantibus ... tale ius concedimus quak noster pius genitor suis temporibus concessit habere. Auch dies versteht Walter Schlesinger dahin, daß die Kaufleute •unter besonderes Recht gestellt werden«216• Freilich legt die Wendung ius concedere zweifellos die Vorstellung von der Gewährung einer konkreten Berechtigung nahe, nicht anders als die vergleichbaren Wendungenius dare oder largirf-1. Was gemeint ist, wird in der Urkunde zudem ausdrücklich gesagt: Es handelt sich um die Verkehrsfreiheit im ganzen Reiche sowie um die Zollfreiheit außer in Mainz,

20

Schlesinger, Der Markt als Fnihform (oben Anm. 7), S. 278.

21

Köbler, S. 43 ff.

22

Zu Wendungen wie eo iure oder taü iure vgl. Köbler, S. 54 f.

23

Dazu Köbler, bes. S. 82 ff.

.. So mit Recht Friederun Harrh-Friederichs, Über die frühmittelalterlichen Kaufleute im ostfränkischen Reich bis zum Ende der Ottonen, in: Festschrift für H. F. Friederichs (1980), S. 95107, hier S. 102. 15

MGH.D. 0 ß Nr. 112 (Keurgen Nr. 71, Diestelkamp Nr. 24).

26

Wie oben Anm. 20.

27

Zu diesen geläufigen Vorstellungen vgl. Köbler, S. 58.

25 Krocschcll

386

Recht im Mittelalter

Köln, Tiel und Bardowick. Die Vorstellung von dem Kaufmannsrecht ist hier völlig entbehrlich. 3. Näher liegt die Deutung auf ein Kaufmannsrecht im objektiven Sinne bei dem Marktprivileg Ottos III. für Gandersheim vom Jahre 990211 • Über die Kaufleute heißt es hier: iubemus, ut negotiatores et habitatores eiusdem loci eadem lege utantur qua ceteri emptores Trotmannie aliorumque locorum utuntur. Tatsächlich bedeutet lex im frühen Mittelalter das Gesetz oder (im Unterschied zu ius) das objektive Recht29• Legern constituere meint den Vorgang der Gesetzgebung oder Rechtsetzung, und der Normcharakter der lex kommt in Wendungen wie secundum legem oder auch contra legem zum Ausdruck30• Ähnlich wie sich unser heutiges objektives Recht in Öffentliches Recht und Privatrecht, Strafrecht, Zivilrecht oder Handelsrecht gliedern läßt, so gibt es auch je nach Urheber und Geltungsbereich verschiedene Arten der Lex: die Lex divina oder humana, die Lex Romana, speziell die Theodosiana, oder andererseits die Lex Salica, Bavarica oder Saxonica31 • Wendungen wie vivere secundum legem oder auch legem haberebeziehen sich zweifellos auf solche Rechtsordnungen32• Die Parömie ecclesia vivit lege Romana ist hierfür ein bekanntes BeispieP3 • Es läge deshalb nicht fern, auch die Wendung lege uti auf das Recht im objektiven Sinne zu beziehen. Andererseits ist freilich nicht zu übersehen, daß das Mittelalter weithin zu einem konkreten Verständnis der lex neigt. Die Beispiele sind bekannt: legem suam componere heißt Buße zahlen, legem praestare den Eid leisten. Mit legem facere ist gemeint, daß man sich einem Gottesurteil unterzieht, und paratus esse ad legem heißt nichts anderes, als daß man zum gerichtlichen Zweikampf bereit ist34 • Soweit hier noch die Erinnerung an Gesetz oder objektives Recht durch-

21

MGH .D. 0 111 Nr. 66 (Keutgen Nr. 8, Diestelkamp, Nr. 28).

29

Köbler, S. 76 ff.

"' Köbler, S. 84 f. 31

Köbler, S . 86-102.

:12

Belege bei Köhler, S. 82, sowie bei Niermeyer, Lexicon, S. 602, linke Spalte.

" Dazu A. Erler, Art. Ecclesia vivit lege Romana, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. I (1971), Sp. 798 f. " Belege bei Niermeyer, Lexicon, S. 602 ff.

Bemerkungen zum •Kaufmannsrecht«

387

schimmert, handelt es sich durchweg um die Vorstellung, daß ein bestimmter Verfahrensschritt vom Recht geboten sei. Noch einen Schritt weiter weg vom objektiven Recht liegt die Vorstellung von der Lex als einem persönlichen Rechtsstatus innerhalb einer Gruppe. Auch hierfür sind die Belege vielfältig, vom uxorem ducere extra legem suam bis hin zum vivere lege et usu libertatiSJ5 • Daß man sich unter der Lex libertatis keine geschriebene oder ungeschriebene Rechtsordnung der Freiheit vorzustellen bat, sondern den Status des freien Mannes, ist gewiß nicht zu verkennen. Endlich kennt der mittelalterliebe Sprachgebrauch die Lex aber auch als konkrete Bedingung für die Gewährung oder Ausübung eines Rech~. In formelhaften Wendungen wird Lex austauschbar mit anderen Begriffen. Statt ea lege ut kann es auch beißeneo tenoreoder tali conditione. Von einer Lex (welchen Inhalts auch immer) ist in solchen verweisenden Anknüpfungen nichts mehr zu spüren. Dies alles muß man vor Augen haben, wenn man die Bestimmung zu verstehen versucht, daß die Händler in Gandersheim eadem lege utantur wie die Kaufleute in Dortmund und anderswo. Man wird es dann nicht mehr so selbstverständlich finden, daß hier von Gebrauch oder Anwendung ungeschriebener oder gar geschriebener Rechtssätze die Rede sei. Nicht anders als das lege vivere könnte auch das lege uti im konkreten Zusammenhang den Rechtsstatus meinen- hier den Rechtsstatus des Kaufmanns. Daß die Wendung lege uti die Lex hier in die Nähe von ius rückt, sei noch am Rande bemerkt. Hoc iure utimur ist in der klassischen römischen Jurisprudenz eine geläufige Feststellung, die besagen soll, eine bestimmte Auffassung sei die unter den Juristen herrschende und allgemein angewandte. 4. Als nächste Quelle ist das Marktprivileg Ottos Ill. für Quedlinburg vom Jahre 994 zu erörtem37 • Hier wird der Äbtissin des Stifts St. Servatius im Hinblick auf den vom Kaiser errichteten Markt das Recht verliehen,

in monetis, theloneis omnique in mercatorio iure, quod antecessorum nostrorum, regum scilicet et imperatorum, industria Coloniae, Moguntiae, Magadaburch similibusque nostrae dicionis in locis antea videbatur esse concessum, nach Belieben zu verfahren.

s' Memaeyer, uxicon, S. 603 , rechte Spalte. Weitere Belege bei Köhler, S. 104. 36 Köhler, S . 105 spricht von der •völlig individualisierten Iex«. Dort auch die Zeugnisse fiir eo tenore oder tali conditione. 37

25*

MGH.D. 0 111 Nr. 155 (Keutgen Nr. 48, Diestelkamp Nr. 29) .

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Recht im Mittelalter

Daß auch diese Stelle auf ein Kaufmannsrecht im objektiven Sinne gedeutet wurde, wird niemanden mehr verwundern. So wollte etwa Schlesinger in dem mercalorium ius die Zusammenfassung verschiedener iura und utilitates sehen, wie sie etwa für Halberstadt 989 nebeneinander genannt werden 38 • Freilich räumt er ein, daß mercalorium ius ebensogut von mercalum wie von mercalor hergeleitet werden könne39; freilich bliebe auch bei der Deutung als ,.Marktrecht« das objektive Verständnis erhalten. Demgegenüber ist wiederum daran zu erinnern, daß ius vorwiegend eine Berechtigung meint, hier also als Berechtigung des Marktherrn verstanden werden könnte. Ferner wäre dazu zu erwägen, ob nicht mercatorium hier substantivisch gebraucht wird und ebenso wie das häufigere mercatura das Handelsgut oder Kaufmannsgut meint«~. Das ius in mercalorio würde dann als Abgabe vom Handelsgut eine zwanglose Deutung finden.

5. Eine neue Vokabel erscheint in dem Marktprivileg Ottos III. für den Abt von Helmarshausen aus dem Jahre 100041 • Für die Kaufleute wird hier bestimmt:

omnes negotiatores ceterique mercalum excolentes commorantes euntes et redeuntes talem pacem talemque iustitiam obtineant qualem illi detinent qui Moguntiae, Coloniae et Trutmanniae negotium exercent. Die iustitia, die uns hier erstmals begegnet, weist ein besonders breites Bedeutungsspektrum auf- von der Gerechtigkeit im rechtsphilosophischen Sinne über einzelne Rechtstitel bis hin zum individuellen Rechtsstatus42 • Für das Verständnis des Wortes im vorliegenden Text dürfte die Parallele zur pax bedeutsam sein. Mit derpaxist hier sicherlich nicht allgemein der Idealzustand des Friedens gemeint, sondern der rechtlich garantierte befriedete Status von Örtlichkeiten und Personengruppen43 • Wenn daher von den Kaufleuten gesagt wird, sie sollten talem pacem talemque iustitiam haben, wird auch mit iustitia eine konkrete Gerechtigkeit gemeint sein. Dem steht nicht entgegen, daß das

31

Schlesinger, Vorstufen des Städtewesens (oben Anm. 7), S. 241.

"' Ebd., S. 239. Ähnlich wohl Köbler, S. 70. 40

Belege zu beiden Wörtem bei Menneyer, Lexicon, S. 671 .

41

MGH.D. 0 Ill Nr. 357 (Keulgen Nr. 50b, Diesleikamp Nr. 31).

42

Reiche Belege dazu bei Menneyer, Lexicon, S. 569 ff.

" Mermeyer, Lexicon, S. 777.

Bemerkungen zum • Kaufmannarechte

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Begriffspaar pax et iustitia, das schon in karolingischer Zeit das christliche Rechtsideal in gültiger Weise formuliert, von ferne spürbar bleibtM. 6. Sprach das Helmarshäuser Privileg von pax et iustitia, so findet sich in der Markturkunde, die Heinrich li. im Jahre 1003 dem Bischof von Cambrai für Cäteau Cambresis erteile4S, eine verwandte Doppelformel: omnes ibidem negotiantes tali pace et lege utantur quali Cameracenses utuntur negotiatores. Allerdings sind die beiden Glieder der Formelpax et Iex nicht so eng miteinander verbunden wie pax et iustitia. Dennoch weisen sie deutliche Gemeinsamkeiten auf. Entsprechend der Vorstellung vom Iegern constituere46 kann man auch von der pax sagen, sie sei eine pax constituta41 • Allerdings gehört die Vorstellung von derpaxals einer (objektiven) Friedensordnung in Deutschland doch wohl erst dem folgenden Jahrhundert an. Bei der Wendungpace et lege uti möchte man also zunächst an einen konkreten Friedens- und Rechtsstatus denken. 7. Besonderes Interesse hat seit jeher die in das Jahr 1033 zu datierende Urkunde des Bischofs Kadaloh von Naumburg gefunden- als Privaturkunde mit anhängendem königlichen Siegel schon äußerlich ein merkwürdiges Stück48! Den aus Groß-Jena nach Naumburg übersiedelnden Kaufleuten verleiht der Bischof die folgenden Rechte: mercatoribus ... id dono concessi, ut, que septa cum areis quisque insederit perpeti iure sine censu possideat ... , ea lege dumtaxat ut ius omnium mercatorum nostre regionis mihi profiteantur meisque postmodum successoribus ritu omnium mercantium liberaliter obsequantur. Hier begegnen uns gleich drei Begriffe aus dem Vorstellungsbereich von Recht und Gewohnheit, nämlich Iex, ius und ritus. Zunächst zur Iex! Walter Schlesinger hat die Frage gestellt: ,.Qb die Iex, von der gesprochen wird, der Iex fori in Halberstadt entspricht?«49 Man wird die Frage sicherlich verneinen

44 Die Zeugnisse aus den Kapitularien finden sich bei Nienneyer, Lexicon, S. 569, s. v. iustitia, Ziff. I.

0

MGH.D. H. U Nr. 49 .

46

Dazu Köbler, S. 78 f.

47

Belege für pacem ordinare, constit:uere, insrituere bei Nienneyer, Lexicon, S . 778 f .

.. MGH.D. K II Nr. 194 (Keutgen Nr. 76, Diestelkamp Nr. 36) . •• Schlesinger, Vorstufen des Städtewesens (oben Anm. 7), S. 253.

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Recht im Mittelalter

müssen. Die Anknüpfung durch ea lege ut könnte genausogut eo tenore lauten50; von einer Iex als Rechtsnorm ist hier überhaupt nicht die Rede. Interessant ist der Satz ius omnium mercatorum nostre regionis pro.fiteantur. Dies erinnert an die professionis iuris, wie man sie vor allem aus Italien kennt51 • Walter Schlesinger denkt deshalb an eine einmalige oder gar periodisch wiederkehrende Weisung des kaufmännischen Rechts. Daneben hält er allerdings auch die Deutung als Abgabe für möglich, und dies dürfte die richtige Lösung sein. Wenn man bei ius nicht sogleich an objektives Recht, sondern zunächst an eine konkrete Gerechtsame denkt, dann bedeutet ius pro.fiteri die Anerkennung einer Leistungs- oder Abgabepflichf2 • In das Bild des do ut des zwischen dem Bischof und seinen Kaufleuten würde sich dies zwanglos einfügen. Wenn die Urkunde schließlich bestimmt: ritu omnium mercantium liberaliter obsequantur, so wird auch hierin die Gegenleistung der Kaufleute für die ihnen gewährten Privilegien sichtbar. Liberoliter obsequi bedeutet dabei wohl nicht mehr als »bereitwillig gehorchen«; Schlesingers Übersetzung »in Freiheit gehorsam sein« ist zwar nicht unmöglich, aber doch wohl zu anspruchsvoll53 • Der ritus endlich, der in anderem Zusammenhang ein rechtsförmliches Verfahren meinen kann, ist hier nur unförmlich als die Weise oder Sitte zu verstehen54 • 8. Der gleiche Begriff erscheint auch in der Urkunde, die Bischof Burchard I. von Halberstadt (1036-1059) den Halberstädter Kaufleuten erteilt haf5 • Hierin bestätigt er

mercatoribus Halverestidensibus . . . rectum censum pro mercatorio usu solventibus quaedam prata, quae habuerunt ex traditione et concessione antecessorum nostrorum ... ad usum pascuae perpetualiter tenendum.

"' Zur Austauschbarkeil dieser Wendungen KöbJer, S. I 05 . " Dazu F. Szurm, Art. Personalititsprinzip, in: Handwörterlmch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd . 3 (1984), Sp. 1587 ff. mit Lit. zu denprofessiones iuris. Zu den deutschenprofessiones iuris vgl. unten Anm. 65. 32

Beispiele fiir diesen Wortgebrauch bei Mermeyer, Lexicon, S. 860, s. v. pro.fizeri, Ziff. 7.

" Schlesinger, wie oben Anm. 49. " Zu rilus als Sitte vgl. Köbler, S. 189 ff. " UB Stadt Halberstadt I Nr. 7 (Keulgen Nr. 77a, Diesleikamp Nr. 38).

Bemerkungen zum •Kaufmannsrecht«

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Sieht man zunächst davon ab, daß das Wort mercatorium auch hier ebensogut auf den Markt wie auf die Kaufleute bezogen werden könnt~, so ließe sich die entscheidende Wendung sowohl durch ,.für den kaufmännischen Gebrauch« als auch mit •gemäß der kaufmännischen Sitte« übersetzen. Friedeich Keutgen und Siegfried Rietschel hatten in diesem Zins einen Grundzins gesehen, der als Entgelt für die überlassene Nutzung der Wiesen entrichtet wurde57 • Walter Schlesinger dagegen denkt eher an eine kaufmännische Abgabe58 ; diese brauchte freilich nicht unbedingt eine Schutzabgabe zu sein, sondern könnte wie beim ius in mercatorio59 auch in einer Handelsabgabe bestehen, die ,.nach kaufmännischem Brauch« zu zahlen war. 9. Mancherlei Fragen wirft die nunmehr wieder einsetzende Überlieferung zum Kaufmannsrecht in Quedlinburg auf. Eine angebliche Urkunde Konrads II. zum Jahre 103860 , die über die Kaufleute bestimmt:

concedentes et firma lege statuentes, ut . . . tali deinceps lege ac iusticia vivant, quali mercatores de Goslario et de Magdeburgo ... usi sunt, ist eine Fälschung des späten 12. Jahrhunderts. Allerdings ist sie ihrer Vorlage so sorgfältig nachgezeichnet, daß man sogar deren Schreiber zu erkennen meint, der noch unter Heinrich III. tätig war, und zwar auch noch im Jahre 1042, in dem dessen Privileg für die Quedlinburger Kaufleute entstan